20

 

Sergeant Lattimer wartete die Dunkelheit ab, ehe er seine Wohnung verließ. Er machte einen Umweg durch einsame Straßen und näherte sich langsam dem Haus des Amerikaners. Er ging nicht durch die Vordertür, sondern er benutzte eine kleine Öffnung in der Hecke, die er genau kannte. Nachdem er sich durch das Dickicht hindurchgezwängt hatte, kam er zu der kleinen grünen Pforte in der Mauer. Diesmal war Mr. Elson nicht anwesend, um ihn zu erwarten, noch war seine Gegenwart nötig. Lattimer steckte einen Schlüssel ins Schloß, trat ein, schloß wieder hinter sich zu, und nach einem kurzen Umhersehen eilte er vorsichtig über den Kiesweg zum Haupteingang. Er klopfte nicht. Er hatte etwas vor, das er schnell erledigen wollte. Aus seiner Tasche nahm er ein Stück weißes, auf der Rückseite gummiertes Papier, feuchtete es an und drückte es gegen, das mittlere Paneel der Eingangstür. Als das geschehen war, ging er halb um das Haus herum und kam zu zwei Türfenstern, die sich auf den Rasenplatz öffneten. Er klopfte leise. Eine Zeitlang kam keine Antwort. Als er wieder klopfte, hörte er das Rücken eines Stuhles und bemerkte, wie die schweren Vorhänge beiseite gezogen wurden. Elsons erschrockenes Gesicht sah ins Dunkle.

 

»Sie sind es?« grollte er.

 

»Ja, ich«, erwiderte Lattimer lakonisch. »Sie können Ihren Revolver einstecken, es will Ihnen niemand etwas tun.«

 

Er zog die Vorhänge dicht hinter sich zusammen, fiel in einen Stuhl und langte mechanisch nach der offenen Zigarrendose.

 

»Super ist in die Stadt gegangen«, sagte Lattimer.

 

»Meinetwegen kann er in die Hölle gehen«, knurrte Elson.

 

Die Anzeichen seiner schweren Trunkenheit waren deutlich sichtbar. Sein Gesicht war kaum wiederzuerkennen. Seine Hände und seine Lippen zitterten bei dem geringsten Anlaß.

 

»Ich darf wohl Sagen – Super geht überallhin, wenn es sich um einen interessanten Fall handelt.«

 

»Er sollte vorsichtiger sein«, begann der Mann laut; aber Lattimers erhobene Hand und sein erschrockener Gesichtsausdruck dämpften seine Stimme.

 

»Es ist nicht notwendig, deshalb ein Geschrei zu erheben.«

 

»Ich habe nichts damit zu tun.«

 

»Vielleicht denkt er das«, sagte Lattimer und biß das Ende der Zigarre mit seinen starken Zähnen ab. »Sie wissen nie, was Super denkt. Ich bin neugierig, ob er mich verdächtigt. Er gab mir heute morgen eine lange Lektion über den Vorteil des Bekehrens von Kronzeugen.«

 

Elson feuchtete seine Lippen an.

 

»Ich sehe nicht ein, was das mit Ihnen oder mit mir zu tun hat«, begann er.

 

»Wir wollen nicht ins Persönliche kommen«, sagte Lattimer nachlässig. »Ich werde einen kleinen Schluck Whisky nehmen, der ganze Rest bleibt Ihnen – haben Sie heute ein Freudenfeuer angezündet?«

 

»Wie? Was meinen Sie?«

 

»Ich sah Ihren Schornstein rauchen. Es ist doch wohl zu warm, um zu heizen.«

 

Elson antwortete nicht gleich.

 

»Ich habe eine Menge altes Zeug weggeschafft«, sagte er dann kurz.

 

Sie rauchten fünf Minuten lang schweigend.

 

»Sie waren heute morgen in der Stadt«, stellte Lattimer fest.

 

Der Mann sah ihn mißtrauisch an.

 

»Ich wollte einmal aus diesem verfluchten Nest heraus. Ich kann doch wohl noch in die Stadt gehen, nicht wahr?«

 

»Was für eine Kabine haben Sie bekommen?«

 

Elson sprang entsetzt auf.

 

»Vermutlich nahmen Sie nicht die direkte Linie nach New York?«

 

»Woher wissen Sie das?« keuchte Elson.

 

»Ich vermutete es. Ich habe schon lange das Gefühl. Und natürlich bedrückt es mich«, sagte Lattimer lässig, »wenn ich sehe, daß mir eine Einkommensquelle versiegt.«

 

»Ich dachte, Sie nannten mein Geld ›Darlehen‹«, grinste Elson. »Ich möchte wissen, warum ich Ihnen überhaupt etwas gab.«

 

»Ich bin nützlich. Ich mag am nächsten Sonnabend noch nützlicher sein. Natürlich können Sie niemand brauchen, der weiß, daß Sie das Land verlassen wollen. Ich vermute, Sie sind in Kanada sicherer …«

 

»Ich bin überall sicher«, rief Elson heftig. »Ich sage Ihnen, ich habe nichts mit der Polizei zu tun.«

 

»Das haben Sie mir schon so oft erzählt, daß ich es beinahe glaube. Nur heraus damit, Elson, warum so eilig?«

 

»Ich habe England satt«, sagte Elson mürrisch. »Seit Hanna tot ist, bin ich mit den Nerven fertig. Sagen Sie, Lattimer, was ist aus diesem Landstreicher geworden?«

 

»Dem Burschen, den Super aufgriff? Ach, der ist irgendwo in London. Warum?«

 

»Ich weiß nicht – es interessierte mich nur«, sagte Elson heiser. »Ich sah ihn in meinem Garten an jenem Morgen, an dem er eingefangen wurde – mein Chauffeur war auf der Straße, als Minter ihn fing. Diese Sorte von Landstreichern ist mir unheimlich. Er ist doch verrückt, nicht wahr?«

 

»Verrückt? Ja, ich glaube – wenigstens Super glaubt es. Ich habe nicht die Erlaubnis, etwas zu denken, wenn Super in der Nähe ist.«

 

»Hören Sie, Lattimer« – Elson beugte sich vor und dämpfte seine Stimme zu einem heiseren Flüstern – »Sie kennen das Gesetz dieses Landes … niemand achtet darauf, was ein verrückter Bursche sagt, nicht wahr? Ich meine, die Richter? Gesetzt den Fall, er erzählt etwas – er verleumdet Menschen oder so etwas? Man würde doch nicht darauf achten, nicht wahr?«

 

Lattimer sah ihn durchdringend an. »Warum erschrecken Sie so?« fragte er.

 

»Ich erschrecke nicht«, keuchte Elson. »Ich bin nur neugierig. Ich habe eine Erinnerung, als ob ich diesen Burschen in Amerika irgendwo getroffen hätte. Mag sein in Arizona. Ich war Farmer und beschimpfte ihn – das habe ich mit vielen Leuten gemacht. Sie verstehen, was ich meine? Das ist das einzige, worüber ich besorgt bin.«

 

Er log, und Lattimer wußte, daß er log.

 

»Ich glaube nicht, daß sie groß Notiz von dem nehmen, was ein Verrückter sagt – ich hoffe, sie werden es nicht tun. Aber er wird nicht mehr lange verrückt sein. Super erzählt mir, daß er operiert werden soll und daß große Hoffnung auf seine Wiederherstellung besteht.«

 

Elson sprang auf, sein Gesicht zuckte.

 

»Das ist eine Lüge! Eine Lüge! Er kann nicht recht haben! Gott, wenn ich das gewußt hätte! Wenn ich das gewußt hätte!«

 

Lattimer beobachtete ihn unentwegt. Kein Muskel seines scharfen Gesichtes regte sich.

 

»Ich dachte es mir. Das ist der Mann, der Sie in der Hand hat. Sie können aber ruhig sein: Es wird Tage und Wochen dauern, bevor John Leigh reden kann – wenn er überhaupt jemals redet.«

 

Elson wurde ruhiger, und es fiel ihm etwas in Lattimers Ton auf, als er sich zu der halbleeren Whiskyflasche wandte.

 

»In welchem Verhältnis stehen Sie zueinander?«

 

Der Sergeant zuckte die Schultern.

 

»Ich habe nichts mit ihm zu tun.«

 

Elson bewegte sich nicht. Sein aufgedunsenes Gesicht war Lattimer zugekehrt.

 

»Nehmen wir an, daß er nicht so verrückt ist, wie Sie glauben. Man sagt, daß er in einer Höhle oder so etwas oben bei den Klippen in der Nähe von Beach Cottage gehaust hat. Es ist doch sehr leicht möglich, daß er nicht weit entfernt war, als Hanna dort hinausfuhr. Was denken Sie darüber?«

 

Lattimer lachte und blies eine Rauchwolke zur Decke empor.

 

»Was würden Sie dazu sagen?« fragte er dann eindringlich.

 

»Sie haben unrecht, wenn Sie glauben, daß ich irgend etwas mit Leigh zu tun habe. Natürlich habe ich von ihm gehört, aber ich habe ihn niemals gesehen, bis Super ihn verhaftete – ich wußte selbst nicht, daß er verhaftet war, als ich ihn sah. Er saß mit Super im Büro und trank Tee.«

 

Elson hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und lauschte angestrengt. Plötzlich zog er seine Uhr.

 

»Meine Dienerschaft kommt zurück«, sagte er.

 

»Kommt jemand hier herein?«

 

»Nein, nur wenn ich läute.«

 

Aber während er noch sprach, klopfte es schon an der Tür. Lattimer erhob sich schnell und schlüpfte hinter die Fenstervorhänge, als Elson zur Tür ging und aufschloß. Es war der Diener.

 

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte er, »ich wollte Sie nicht stören …«

 

»Nun ja, aber warum haben Sie mich dann gestört?« fragte Elson.

 

»Ich weiß nicht, Sir, ob Sie den Zettel an der Tür gesehen haben. Ich konnte ihn nicht abreißen, denn er ist mit der ganzen Fläche angeklebt.«

 

»Ein Zettel an der Tür?« fragte Elson mit veränderter Stimme. »Wovon sprechen Sie eigentlich?«

 

Er ging hinter dem Diener her und eilte quer durch die Halle. Die Lichter brannten bereits. Er sah das weiße, viereckige Papier auf der Türfüllung, las es langsam und traute seinen Augen kaum.

 

»Zuerst Hanna Shaw. Sie werden der nächste sein, der stirbt.«

 

Er faßte sich mit der Hand an die Kehle und versuchte zu sprechen, aber er konnte nur ein ängstliches Ächzen und Stöhnen hervorbringen. Er taumelte zu seinem Arbeitszimmer zurück, warf die Tür krachend hinter sich zu und schloß sie ab.

 

»Lattimer«, rief er keuchend. »Lattimer!«

 

Er sah hinter die Vorhänge, aber der Sergeant war bereits auf dem Weg verschwunden, auf dem er gekommen war.