Kapitel 23

 

23

 

Janet Symonds erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Sie hatte das Gefühl, daß ihr irgendeine Gefahr drohte. Obwohl sie unter keinen Umständen hatte einschlafen wollen, hatten sie die aufregenden Ereignisse des Tages und die lange Fahrt doch müde gemacht.

 

Es fiel ihr auf, daß das Boot sich nach der einen Seite neigte, und als sie durch das kleine Fenster schaute, bemerkte sie, daß es mitten im Strom trieb. Schnell räumte sie die Möbel fort, die sie vor der Tür angehäuft hatte. Sie lief den Gang entlang und erwartete, daß sie die anderen treffen würde, aber sie konnte niemand entdecken. Das Licht im Salon brannte allerdings noch, aber es war niemand dort.

 

Nun wurde ihr plötzlich die gefährliche Lage klar, in der sie sich befand. Das Boot sank!

 

Sie lief wieder nach unten und rief nach Sir George. Aber sie bekam keine Antwort.

 

Die anderen hatten sie im Stich gelassen. Sie erinnerte sich daran, daß sie vorher ein kleines Ruderboot gesehen hatte, das hinten an dem Hausboot befestigt war. Aber auch das war verschwunden.

 

Langsam, mit leisem Knacken und Ächzen, sank das Boot tiefer und tiefer. In ihrer Verzweiflung suchte sie nach einem Rettungsring, konnte aber keinen finden. Sie war zu schwach, um ein paar Planken loszureißen, die sie hätten über Wasser halten können.

 

Aber plötzlich tauchten weiter stromaufwärts Lichter auf und näherten sich schnell. Janet hörte das Geräusch eines Motors und rief mit aller Kraft um Hilfe.

 

Eric Stanton, der vorn im Boot saß, hörte den Schrei und sah in der Fahrtrichtung die dunklen Umrisse des Hausbootes. Er rief etwas zurück, und der Motor stoppte sofort, gerade noch rechtzeitig. Milton, der am Steuer saß, brachte das Boot längsseits des sinkenden Fahrzeugs.

 

Ohne einen Augenblick zu zögern, sprang er an Bord. Als sein Fuß den Boden des Decks berührte, legte sich das Hausboot auf die Seite und versank in den Fluten. Aber er hatte Janet mit starken Armen gepackt. Beinahe hätte der Strudel des untergehenden Bootes sie in die Tiefe mitgerissen. Milton kämpfte verzweifelt, und endlich, nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, kam er wieder an die Oberfläche und atmete die frische Nachtluft.

 

Das Motorboot nahm beide auf.

 

»Janet ist ohnmächtig geworden«, sagte Eric. Er zog seinen Mantel aus und deckte damit die Bewußtlose zu. Zärtlich blickte er sie an. Endlich hatte er seine Schwester wiedergefunden.

 

*

 

Am nächsten Morgen ging die Sonne strahlend auf, und Janet öffnete schlaftrunken die Augen. Sie schaute sich um und bemerkte, daß Mary President neben ihrem Bett saß und ein Buch auf den Knien hatte. Sie lächelte schwach und schlief wieder ein. Als sie zum zweitenmal erwachte, war Mary President immer noch bei ihr, aber statt des Buches hielt sie eine Zeitung in der Hand, und auch der Boden war mit Zeitungen bedeckt.

 

»Wie geht es Ihnen jetzt?«

 

»Viel besser«, sagte Janet und richtete sich auf.

 

»Fühlen Sie sich wohl genug, all die vielen Bilder von Donavan zu sehen?« fragte Mary vergnügt. »Er hat das Derby gewonnen.«

 

»Das Derby?« fragte Janet verständnislos.

 

»Ja. Wir waren doch gestern zusammen beim Rennen in Epsom – haben Sie das denn ganz vergessen?«

 

Janet schüttelte den Kopf.

 

»War das erst gestern?« fragte sie verwundert. »Es kommt mir vor, als wären inzwischen viele Jahre vergangen.«

 

*

 

Monsieur Soltescu saß in Paris im Hotel und las in einer Zeitung den Bericht über den Tod Sir Georges in der Themse. Er las auch, daß Bud Kitson und seine Frau in den frühen Morgenstunden in der Nähe von Reading von der Polizei aufgegriffen worden waren.

 

»Ja, so geht’s«, sagte er in philosophischer Ruhe und machte auf dem schneeweißen Tischtuch mit seinem Bleistift eine ungefähre Kalkulation, wieviel Geld er bei dieser Geschichte verloren hatte.

 

 

Ende

 

Kapitel 3

 

3

 

Es gibt verrufene Gegenden in Nizza, von denen die Fremden, die auf der Promenade des Anglais im hellen Sonnenschein lustwandeln und sich an den Mimosen und den schönen Palmen erfreuen, für gewöhnlich gar nichts erfahren.

 

In einer kleinen Nebenstraße ließ Monsieur Soltescu sein Auto halten. Der Chauffeur hatte sich sehr gewundert, daß dieser gutgekleidete Herr zu einer so armseligen Straße fahren wollte.

 

Die Passage du Bue ist eng und von hohen, häßlichen Häusern eingefaßt, in denen kleine Handwerker, Arbeiter und Krämer wohnen. Nummer 27 war das baufälligste Gebäude der Reihe, aber Monsieur Soltescu kannte derartige Wohnungen. Sie waren immerhin noch besser als die Behausungen seiner Fabrikarbeiter. Er war nicht sentimental veranlagt und kümmerte sich wenig um das Elend seiner Mitmenschen.

 

»Sie wollen Monsieur Pentridge besuchen?« fragte der schlechtgekleidete Pförtner, denn selbst dieses erbärmliche Haus hatte einen Pförtner. Er hatte allerdings nur die Pflicht, wöchentlich die Mieten von den Bewohnern einzusammeln. »Ja, Monsieur Pentridge ist zu Haus. Vierter Stock, links die erste Tür von der Treppe aus.«

 

Soltescu stieg die wackligen Stufen schnell hinauf. Er lächelte bei dem Gedanken, daß er in größte Gefahr kommen könnte, wenn jemand die große Summe in seiner Brieftasche vermutete. Als er an die beschriebene Tür kam, klopfte er. Zuerst meldete sich niemand, und erst auf wiederholtes Pochen erhielt er Antwort.

 

»Herein!« rief eine unangenehme, heisere Stimme.

 

Der Rumäne öffnete die Tür und trat in ein kleines, schlecht möbliertes Zimmer. Außer, einem alten Feldbett, das in der einen Ecke des Zimmers stand, konnte er nur noch einen Tisch, einen gebrechlichen Stuhl und einen kleinen Wandschrank entdecken. Eine schmutzige Petroleumlampe beleuchtete den Raum nur spärlich.

 

John Pentridge, den er aufsuchen wollte, saß auf der Bettkante. Er trug ein Paar alte Hosen und ein unsauberes Hemd, das vorn offenstand. Auf dem Bett lag der armselige Smokinganzug, den er gerade ausgezogen haben mußte. Er war eben erst gekommen und hatte seinem Chauffeur eine Belohnung versprechen müssen, um zur verabredeten Zeit zu Hause sein zu können.

 

Mit einem verschlagenen Blick betrachtete er den Fremden und gab sich nicht einmal die Mühe, aufzustehen. Soltescu glaubte, noch niemals einen Mann von so abstoßendem Äußeren gesehen zu haben.

 

»Sind Sie Monsieur Soltescu?«

 

Pentridge hatte in Englisch gefragt, und der Rumäne nickte. Ohne weitere Aufförderung nahm er den Stuhl, rückte ihn an das Bett heran und setzte sich.

 

»Mr. Pentridge, ich bin bereit, das wichtige Geschäft sofort mit Ihnen abzuschließen. Heute abend noch muß ich nach Paris weiterfahren, wo ich verschiedene Konferenzen angesetzt habe. Sie werden also verstehen, daß ich keine Zeit zu weitschweifigen Verhandlungen habe.«

 

»Ich begreife vollkommen«, entgegnete der andere unliebenswürdig. »Haben Sie das Geld mitgebracht?«.

 

»Darüber wollen wir später sprechen«, meinte Soltescu diplomatisch. »Zuerst geben Sie mir einmal Ihre chemische Formel.« Er sprach etwas heiser, weil er in der Zwischenzeit noch mehr getrunken hatte. »Sie müssen wissen, daß ich in der Hauptsache Glasfabrikant bin, und als Fachmann kann ich Ihnen gleich sagen, ob die Formel etwas taugt oder nicht.«

 

»Sie haben doch aber die Glasproben gehabt«, entgegnete Pentridge und sah ihn feindselig an. »Ist Ihnen denn das nicht Beweis genug?«

 

»Die Proben habe ich geprüft. Sie sind gut und tadellos, das will ich nicht im geringsten bestreiten. Aber vor allem muß ich die Formel sehen.«

 

Pentridge erhob sich schwerfällig, ging zu dem kleinen Wandschrank, der über dem Bett hing, schloß ihn auf und nahm einen Briefumschlag heraus, den er fest in der Hand hielt.

 

»Ich muß Ihnen aber vorher noch etwas sagen. Sie werden viel Unannehmlichkeiten haben, wenn herauskommen sollte, woher Sie die Papiere haben. Ich will damit nicht gerade andeuten, daß ich die Formel auf unehrliche Weise erworben habe. Seit den letzten dreißig Jahren trage ich sie mit mir herum, und ich habe die Glasproben selbst hergestellt. Das glauben Sie kaum, wenn Sie mich so sehen, aber ich hatte einen guten Lehrmeister. Haben Sie jemals etwas von Granford Turner gehört?«

 

»Granford Turner? Der Name ist mir allerdings bekannt. Das war doch der berühmte Erfinder. Vor fünfzig Jahren wurde sein Name viel genannt. Ich entsinne mich jetzt an die Tragödie seines Lebens.

 

Pentridge nickte.

 

»Er hat seine Frau erschossen und wurde deshalb lebenslänglich nach Australien deportiert. Und dort kam ich mit ihm zusammen. Er ist einer der größten Erfinder, der jemals gelebt hat. Jetzt ist er gestorben«, fügte er schnell hinzu.

 

»Unter welchen Umständen sind Sie denn mit ihm zusammengekommen?« fragte Soltescu neugierig.

 

»Das kann Ihnen gleichgültig sein«, erwiderte Pentridge abweisend. »Hier ist die Formel und eine Beschreibung des Herstellungsprozesses mit sämtlichen Einzelheiten. Alle Wärmegrade, bei denen die verschiedenen Mischungen zum Fluß kommen, können Sie daraus entnehmen.«

 

»Den Erfinder selbst kann ich also nicht sprechen?«

 

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß er tot ist«, entgegnete Pentridge kurz. »Das muß Ihnen genügen. Diese Papiere habe ich die ganzen letzten Jahrzehnte mit mir herumgeschleppt. Ich wußte, daß ich früher oder später noch einmal ein Vermögen damit verdienen könnte. Ich hätte sie auch schon früher verkauft, aber –« Er sprach nicht weiter, denn er konnte doch nicht gut erklären, wie er in ihren Besitz gekommen war. Auch wollte er nicht sagen, daß er mit der Veräußerung aus Angst vor dem Mann gewartet, dessen Geheimnis er gestohlen hatte.

 

»Zeigen Sie einmal her«, verlangte Soltescu.

 

Pentridge reichte ihm die Schriftstücke widerwillig.

 

Der Rumäne zog seinen Stuhl nahe an den Tisch und las die engbeschriebenen Seiten, die den Herstellungsprozeß behandelten, aufmerksam durch. Ab und zu machte er eine Pause und äußerte einige zustimmende Bemerkungen.

 

»Ja, das ist der richtige Weg! Niemand von uns hat früher an eine solche Lösung gedacht.«

 

Die freudige Aufregung, die ihn beim Lesen packte, machte ihn beinahe nüchtern. Niemand konnte die Wichtigkeit dieser Entdeckung besser beurteilen als er. Aber er wollte noch weitere Beweise haben.

 

Pentridge beobachtete, daß sich Soltescu im Zimmer umsah, und ahnte, was der Mann sagen wollte. Er nahm einige kleine Päckchen, eine Spirituslampe, einige dünne Scheiben Glas, ein kleines Gebläse und zwei Schachteln mit weißlichem und rötlichem Pulver aus dem Wandschrank. »Der Inhalt ist genau nach dem Rezept gemischt«, erklärte er. »Sie brauchen nicht erst lange nach den Formeln zu suchen.«

 

In der nächsten halben Stunde saß Soltescu mit Pentridge zusammen und beobachtete eingehend und interessiert die blaue Flamme und das geschmolzene Glas. Pentridge gab ein wenig von dem weißen Pulver hinzu, dann auch eine geringe Quantität der rötlichen Substanz. Er schmolz die Masse und ließ sie abkühlen, um sie dann wieder zum Fluß zu bringen. Schließlich hatte er ein Stück farbloses Glas, das sich von den gewöhnlichen Sorten, wie sie im Handel vorkommen, kaum unterschied. Er wartete einige Zeit, bis es sich abgekühlt hatte, und löste es dann mit einem Messer von der Stahlplatte. Obgleich es noch ziemlich heiß war, nahm er es in seine bloßen Hände und bog es. Das Experiment gelang. Das Stück wies nicht die leisesten Bruchstellen auf und nahm seine frühere Gestalt wieder an, sobald der Druck nachließ.

 

»Ausgezeichnet – das Glas ist nicht nur biegsam, sondern auch elastisch«, sagte Soltescu halb zu sich selbst. Er zog seine Brieftasche heraus. »Was verlangen Sie für die Erfindung?«

 

Pentridge zögerte.

 

»Ich wollte zuerst zwanzigtausend Pfund dafür haben, aber sie ist viel mehr wert. Ich gebe die Formel nicht unter fünfzigtausend her.«

 

Er täuschte sich aber, wenn er glaubte, daß Soltescu mit sich handeln ließe. Der Rumäne war fest entschlossen, keinen Schilling mehr auszugeben, als abgemacht worden war.

 

»Mein lieber Freund«, erwiderte er mit einem breiten Grinsen. »Sie glauben wohl, daß ich zuviel getrunken hätte? In gewisser Weise haben Sie nicht unrecht. Aber deshalb weiß ich doch noch sehr genau, was ich tue. Der Preis war auf zwanzigtausend Pfund festgesetzt. Ich frage nicht einmal, wem Sie die Formel gestohlen haben, und bin bereit, Ihnen die ausgemachte Summe zu zahlen. Wenn Sie ein reicher, unabhängiger Mann sind und die Erfindung anderswo besser verkaufen können, so tun Sie es doch! Ich biete Ihnen jedenfalls zwanzigtausend Pfund dafür. Entweder nehmen Sie das Geld, und das Geschäft ist perfekt, oder ich habe kein weiteres Interesse an der Sache. Der Zug nach Paris geht in aller Kürze, und ich kann nicht länger warten.«

 

»Gut, dann geben Sie mir zwanzigtausend«, entgegnete Pentridge verbissen.

 

Er streckte begierig die Hand aus, und Soltescu zählte die einzelnen Scheine.

 

»Was wollen Sie denn nun mit all dem Geld machen?« fragte der Rumäne.

 

Die Augen des heruntergekommenen Mannes leuchteten merkwürdig auf.

 

»Sehen Sie«, sagte er eifrig. »Sie sind ein reicher Mann und haben schon immer ein großes Vermögen gehabt. Aber ich bin nur ein armer Teufel, der immer hin- und hergehetzt wurde. Sie können das Leben genießen und haben auch die Zeit dazu. Aber ich werde alt, und ich habe all diese Jahre ärmlich gelebt. Mein bißchen Verdienst habe ich im Kasino verspielt. Aber jetzt werde ich einmal das große Spiel machen, nach dem ich mich mein Leben lang gesehnt habe. Verstehen Sie, was ich meine?« Er sah Soltescu mit brennenden Blicken an, als ob er Zustimmung von ihm erwarte.

 

»Ich habe nicht mehr lang zu leben, und ich kaufe mir morgen die schönsten Anzüge. Weg mit diesem abscheulichen Plunder!« rief er und warf den alten Smoking auf den Boden. »Morgen gehe ich nach Monte Carlo, und zwar genauso elegant wie diese Snobs, die ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren gesehen habe. Im Kasino werden sie mich nicht wiedererkennen, wenn ich mich neu eingekleidet habe. Und ich setze jedesmal den Höchstsatz. Das ist die einzig vernünftige Art, Geld zu gewinnen.«

 

»Mein Lieber«, entgegnete Soltescu freundlich, als er die Schriftstücke sorgfältig in seine Brusttasche steckte, »ich möchte Ihnen nur eins sagen. Wenn ich tatsächlich Zeit hätte, dann würde ich mit Ihnen um das Geld spielen, das ich Ihnen eben ausgezahlt habe. Und ich würde gewinnen, weil ich das Geld nicht notwendig habe, und Sie würden verlieren, weil das Geld für Sie lebensnotwendig ist. Sie sind wirklich ein unverbesserlicher Narr.«

 

Nach diesen Worten verließ Soltescu in heiterer Stimmung das Zimmer und pfiff vergnügt, während er die Treppe hinunterstieg und zu seinem Wagen ging. Er war davon überzeugt, daß er noch nie in seinem Leben ein so großes und vorteilhaftes Geschäft abgeschlossen hätte.

 

Kapitel 4

 

4

 

»Ich fürchtete schon, daß Ihre Nachforschungen ergebnislos sein würden, Miss President«, sagte Lord Chanderson, der neben einer elegant gekleideten jungen Dame auf dem Bahnsteig in Marseille auf und ab ging.

 

Sie lächelte geduldig.

 

»Ich bin schon daran gewöhnt, daß diese Reisen nicht zum gewünschten Ziel führen«, erwiderte sie ruhig, »aber wir dürfen natürlich keine Chance ungenützt vorübergehen lassen. Es wäre immerhin einmal möglich, daß ich den Mann finden könnte, den mein Großvater seit so vielen Jahren sucht. Solange ich jung und gesund bin, kann ich ihn ja in seinen Bemühungen unterstützen. Er ist zwar noch rüstig und stark, aber das Reisen strengt ihn doch zu sehr an, und wenn er mit Leuten verhandeln muß, die nicht Englisch sprechen, wird er leicht verwirrt. Aber es war wirklich zu egoistisch von mir, daß ich Ihre Liebenswürdigkeit so sehr in Anspruch genommen habe.« Er schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Bitte, entschuldigen Sie sich doch nicht, Miss President. Sie wissen, daß ich mich selten vor zwei Uhr schlafen lege, und es hat mir das größte Vergnügen gemacht, Sie noch zum Zug zu bringen. Ich freue mich wirklich, daß ich gerade zufällig in Marseille war und Ihnen behilflich sein konnte.«

 

Sie sah ihn dankbar an.

 

»Ich war auch sehr froh. Es ist nicht gerade angenehm für eine junge Dame, in einer französischen Stadt nach einem Mann zu suchen und den Behörden klarzumachen, daß es sich um einen Verbrecher handelt. Ohne Ihre Hilfe wären mir die Nachforschungen in Marseille sehr schwergefallen. Und wenn Sie mich nicht überallhin begleitet hätten, wäre auch meine Reise nach Monte Carlo unmöglich gewesen.«

 

»Ich freue mich stets, wenn ich etwas für Ihren Großvater tun kann. Er ist ein so außergewöhnlicher Mann. Nur wenig Leute, mit denen ich zusammengekommen bin, haben so großen Eindruck auf mich gemacht wie er.«

 

»Er schätzt Sie ebenso und hat das größte Vertrauen zu Ihnen.« Sie lächelte freundlich. »Ich hätte niemals geglaubt, daß der Vorsitzende des Jockey-Klubs sich so für unsere Angelegenheiten interessieren würde.«

 

Lord Chanderson lachte ein wenig. Er war schon ein älterer Herr, aber er hatte immer noch einnehmende Züge. In England war er eine bekannte Persönlichkeit.

 

»Ihr Großvater gehört zu den kleinen Rennstallbesitzern, die wir sehr schätzen«, entgegnete er, höflich. »Sie wissen, daß wir alle Neulinge mit großer Vorsicht aufnehmen.«

 

»Meinen Sie, daß man diesen Leuten nicht trauen kann und daß sie unehrlich sind?

 

Er zuckte die Schultern.

 

»Das möchte ich gerade nicht behaupten. Aber sie arbeiten in neuerer Zeit mit allen Mitteln, und solche Gebräuche sollen bei den Rennen nicht einreißen. Es ist tatsächlich erstaunlich, daß Ihr Großvater mit nur einem Rennpferd –«

 

»Sie meinen zwei«, unterbrach sie ihn.

 

»Zwei?« sagte er erstaunt. »Ich dachte, er hätte nur das eine.«

 

»Sie vergessen das Pferd, das wir im Derby laufen lassen wollen«, sagte sie ernst. »Mein Großvater hält viel von Donavan.«

 

»Ich habe noch niemals von ihm gehört,« sagte Lord Chanderson lachend. »Man sieht doch, daß man selbst als Vorsitzender des Rennklubs um halb zwei Uhr nachts noch manches lernen kann, selbst auf dem Bahnsteig von Marseille. Ich glaube aber, wir gehen jetzt zu Ihrem Abteil zurück – in vier Minuten fährt der Zug ab.«

 

Ein Schaffner ging an ihnen vorbei.

 

»Bitte Platz nehmen!« rief er.

 

Miss President reichte Lord Chanderson herzlich die Hand und stieg dann ein. Sie ließ das Fenster herunter und plauderte noch mit ihm, bis sich der Zug in Bewegung setzte. Dann winkte sie, und er grüßte freundlich mit dem Hut.

 

Er war einer der englischen Sportsleute, die sie verehrte. Sie kannte viele, die sich für den Rennsport interessierten, aber nicht alle waren ihr sympathisch. Lord Chanderson gehörte zu der alten Generation, war ein Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle, ein Mann mit hervorragender Bildung und feinem Takt. Es war tatsächlich ein glücklicher Zufall gewesen, daß er sich gerade in Marseille aufgehalten hatte. Ihrem Großvater war ein Gerücht zu Ohren gekommen, daß der Mann, den er suchte, in der Nähe von Marseille gesehen worden war. Zweifellos stimmte die Nachricht, aber Nachforschungen nach einem Mann, von dem man nur eine zwanzig Jahre alte Fotografie besitzt, sind ziemlich aussichtslos. Ihre Erkundungsfahrt war ohne Erfolg geblieben, aber als sie von Marseille abfuhr, hatte sie eine angenehme Erinnerung an die liebenswürdige Fürsorge Lord Chandersons, der ihr mit größter Zuvorkommenheit geholfen hatte. Nur durch reinen Zufall hatte ihr Großvater von dem Aufenthalt Lord Chandersons in Marseille erfahren und ihr daher einen Empfehlungsbrief an den bekannten Sportsmann mitgeben können. Der Lord war John President stets in der freundschaftlichsten und liebenswürdigsten Weise begegnet, seitdem dieser sich wieder in England aufhielt.

 

Mary President ging in ihr Schlafwagenabteil und begann sich auszukleiden. Sie merkte aber bald, daß sie die Nacht nicht ungestört verbringen würde, denn der Herr im nächsten Abteil war anscheinend stark angetrunken. Er sang laut und unterhielt sich zwischendurch mit sich selbst. Die Worte konnte sie allerdings nicht verstehen, da ihr seine Sprache unbekannt war. Er mußte sehr vergnügt sein, denn ab Und zu hörte sie lautes Lachen. Sie hoffte, daß die Geräusche des Zuges den Lärm übertönen würden, aber der Mann besaß eine durchdringende Stimme, und Mary Presidents Hoffnung erfüllte sich nicht. Schließlich hörte sie, daß jemand den Gang entlangkam, an die Tür des nächsten Abteils klopfte und den Sänger in scharfem Ton zur Ruhe verwies.

 

Aber der Mann schien sich wenig daraus zu machen; er antwortete mit einem frechen Lachen und erkundigte sich, wie der andere dazu käme, an seine Tür zu klopfen.

 

Mary versuchte alles mögliche, um einzuschlafen. Sie dachte an den Zweck ihrer Reise, aber dadurch wurde sie nicht ruhiger. Sie hatte John Pentridge in Marseille gesucht, wie ihn ihr Großvater während der letzten fünf Jahre in ganz Europa und früher in Australien gesucht hatte. Ein Bekannter hatte ihn in Marseille gesehen und ihrem Großvater sofort Nachricht zukommen lassen. Daraufhin hatte sie sich gleich auf den Weg nach Südfrankreich gemacht. Das war nicht die erste Reise, die sie zu diesem Zweck unternommen hatte. Sie hatte schon fast alle großen Städte Europas besucht, um den Mann zu finden, der die Erfindung John Presidents gestohlen hatte.

 

Allmählich schlief sie doch ein, aber sie erwachte plötzlich wieder, als jemand versuchte, ihre Tür zu öffnen. Von außen konnte man nur mit dem Schlüssel des Kontrolleurs aufmachen. Zollbeamte waren es sicher nicht, denn sie fuhren durch Frankreich und hatten keine Grenze zu passieren. Sie drückte auf den Knopf ihrer kleinen Repetieruhr, und diese schlug vier. Sie hatte also höchstens eine Viertelstunde geschlafen. Langsam öffnete sich die Tür. Das Innere ihres Abteils war vollkommen dunkel, und als sie aufsah, bemerkte sie die Umrisse einer untersetzten Gestalt.

 

»Wer ist da?« fragte sie schnell und langte nach dem Lichtschalter. Aber bevor sie ihn umdrehen konnte, sprang der Mann zurück und warf die Tür ins Schloß. Sie erhob sich und klingelte dem Schaffner, der gleich darauf ziemlich verschlafen zu ihrer Tür kam.

 

Nein, er war nicht im Gang gewesen, und außer ihm hatte niemand einen Schlüssel zu den Schlafkabinen.

 

»Mademoiselle hat sicher geträumt«, sagte er höflich lächelnd, aber innerlich fluchte er, denn selbst der höflichste Schlafwagenschaffner läßt sich nicht gern in seiner Ruhe stören.

 

»Ich habe durchaus nicht geträumt«, entgegnete sie ernst. Aber sie sprach nicht weiter mit ihm darüber, da es doch keinen Zweck hatte.

 

Der Herr nebenan war anscheinend inzwischen eingeschlafen. Das konstatierte sie dankbar, als sie sich wieder niederlegte. Aber sie selbst kam nicht zur Ruhe. Sie drehte das Licht wieder aus. Der Zug fuhr verhältnismäßig ruhig durch das Rhonetal. In anderthalb Stunden würde der Morgen dämmern und ihr das Gefühl der Sicherheit wiedergeben. Es mochte ein Irrtum sein, aber sie hatte die Überzeugung, daß der Mann, der sie eben gestört hatte, etwas gegen sie im Schilde führte. Er mußte irgendeine böse Absicht haben. In letzter Zeit waren ja häufig Diebstähle auf dieser Strecke vorgekommen. Sie sagte sich selbst, daß sie sich nutzlos ängstigte, aber die Tatsache, daß sie mitten in der Nacht plötzlich aufgeweckt worden war, blieb trotzdem bestehen.

 

Der Fremde störte sie nicht mehr, aber ein neues, aufregendes Erlebnis wartete auf sie. Plötzlich gellten schrille Pfiffe der Lokomotive. Der Zug fuhr langsamer und hielt dann mit einem scharfen Ruck an, so daß sie beinahe aus dem Bett gefallen wäre: Glücklicherweise war das elektrische Licht intakt geblieben. Sie schaltete es wieder ein und hörte nun, daß überall die Türen aufgerissen wurden. Die aus dem Schlaf gerissenen Reisenden eilten auf den Gang hinaus und sprachen wild durcheinander. Mary warf schnell ihren Morgenrock über und öffnete auch ihre Tür.

 

Es mußte irgendein Unglück passiert sein … Als sie auf den Korridor trat, öffnete sich auch gerade die Tür des nächsten Abteils, und ein untersetzter Herr kam heraus. Mit blutunterlaufenen Augen starrte er um sich. Unter dem Arm trug er eine dicke, schwarze Ledermappe. Er fragte Mary etwas in einer fremden Sprache, die sie nicht verstand. Sie schüttelte nur den Kopf, denn selbst wenn sie ihn verstanden hätte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, ihm die Ursache des Aufenthalts anzugeben. Er eilte auf die Plattform hinaus, kam aber gleich wieder zurück. In seiner Hast machte er einen Fehltritt und wäre beinahe gefallen. Dabei entglitt ihm die Mappe. Selbst in dieser ungewissen Lage konnte sich Mary eines Lächelns nicht erwehren, als der fremde Herr sich bückte, um die Mappe wieder aufzuheben. Als er sie schnell an sich riß, sah er nicht, daß ein Brief herausgefallen war. Aber Mary hatte es bemerkt und nahm ihn auf. Der kleine, aufgeregte Mann mit dem kahlen Kopf und dem großen, schwarzen Spitzbart tat ihr leid, und sie wollte ihm helfen. Zufällig fiel ihr Blick auf die fast schon verblichene Aufschrift, und sie erkannte sofort die charakteristische Schrift ihres Großvaters.

 

» Das biegsame Glas.

Die Art seiner Herstellung.

Eine Erfindung von John President.«

 

Sie hielt das Dokument in Händen, nach dem ihr Großvater seit dreißig Jahren vergeblich suchte!

 

Bevor sie sich über die Tragweite ihrer Entdeckung klarwerden konnte, riß Monsieur Soltescu mit einer plötzlichen Bewegung den Brief aus ihrer Hand. Die vielen Worte, die er erregt sprach, sollten wohl einen Dank bedeuten. Im nächsten Augenblick war er in seinem Abteil verschwunden.

 

Ein paar Herren in Schlafanzügen kamen den Gang entlang. Zweifellos waren es Engländer. Einer sah sie lächelnd an und kam auf sie zu.

 

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte er höflich.

 

Konnte ihr überhaupt jemand helfen? Konnte sie in kurzen Worten sagen, was sie eben erlebt hatte, und ihr Recht auf den Briefumschlag geltend machen, der sich in dem Besitz des fremden Herrn befand? Nein, das war unmöglich. Sie mußte einen anderen Weg finden, um das Schriftstück wiederzuerlangen.

 

Sie schüttelte nur den Kopf, denn sie war noch zu erregt, um sprechen zu können.

 

»Es würde mir ein Vergnügen sein –«

 

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als es einen plötzlichen Zusammenstoß gab. Lautes Krachen ertönte und das Licht ging aus. Ein zweiter Zug war auf den Expreßzug aufgefahren, und im nächsten Augenblick war alles in größter Erregung. Schreckensschreie, Hilferufe und wildes Fluchen klangen wirr durcheinander.

 

Mary sah eine elektrische Taschenlampe aufblitzen und hörte ein Stöhnen, als ob jemand große Schmerzen hätte. Ein Mann eilte an ihr vorüber, und sie fühlte instinktiv, daß dieser Fremde versucht hatte, in ihr Abteil einzudringen. Drei Minuten später kletterte sie, an allen Gliedern zitternd, auf den Bahndamm hinunter, um zu sehen, was vorgefallen war.

 

Das Ende des Zuges hatte am meisten gelitten. Zwei Wagen waren ineinandergeschoben. Ein Reisender war getötet und mehrere schwer verletzt worden. Sie wartete draußen, bis sie erkannte, daß keine Gefahr mehr drohte. Der Zug war nicht in Brand geraten, und es waren auch sonst keine weiteren Komplikationen zu fürchten. Glücklicherweise befand sich ihr Wagen in der Mitte und stand noch auf den Schienen. Sie kletterte hinein und suchte ihr Abteil auf. Plötzlich ging auch das Licht wieder an. Der Schaffner hatte die schadhafte Stelle gefunden und sofort reparieren können. Er kam den Gang entlang und beruhigte die nervösen Fahrgäste. Es sei keine Gefahr vorhanden, sie sollten sich nur in aller Ruhe ankleiden.

 

Mary President hatte nicht bis zu dieser Aufforderung gewartet. Sie war schon fertig, als er an ihre Tür klopfte. Kurz darauf stand sie wieder unten auf dem Bahndamm zwischen den anderen Reisenden. Monsieur Soltescu rief, so laut er konnte, und gestikulierte heftig.

 

»Ich bin beraubt worden«, schrie er. »Man hat mich in der unverschämtesten Art und Weise bestohlen!«

 

»Aber beruhigen Sie sich doch, Monsieur«, erwiderte der Beamte, an den er sich gewandt hatte. »Sie werden in Ihrem Abteil alles an Ort und Stelle finden, wie Sie es verlassen haben.«

 

»Ich habe mich schon umgesehen und alles durchsucht, aber meine schwarze Ledermappe ist verschwunden! Und sie hat ungeheuren Wert für mich – mindestens drei Millionen …«

 

Mary President holte tief Atem. Sie hatte vorher den kühnen Gedanken gehabt, in das Abteil dieses Mannes einzudringen und nach dem Brief zu suchen. Einen Diebstahl hatte sie geplant, und nun war sie froh, daß sie doch aus Furcht davor zurückgeschreckt war.

 

Ein Herr kam den Bahndamm entlang und trat auf den Rumänen zu.

 

»Was, haben Sie Ihre Mappe verloren?« fragte er auf Englisch. »Das ist doch kaum möglich, Soltescu.«

 

»Doch, ich habe sie verloren. Es ist ein unersetzlicher Verlust«, klagte er. »Ich habe sie in meinem Abteil liegenlassen, und jetzt ist sie nicht mehr zu finden.«

 

Er ging in Begleitung des Schaffners in den Wagen zurück. Durch das Fenster konnte Mary von außen beobachten, wie genau sie alles untersuchten. Zwei Herren hinter ihr sprachen englisch, und sie fühlte sich erleichtert. Im Notfall konnte sie sich an sie wenden, und dieser Gedanke beruhigte sie und gab ihr ein Gefühl größerer Sicherheit.

 

»Wenn ich mich nicht sehr irre, ist das unser alter Freund Soltescu«, bemerkte der eine trocken.

 

»Natürlich. Seinetwegen haben wir die ganze Nacht nicht schlafen können. Ich möchte fast sagen, daß ihm recht geschehen ist.«

 

Sie wandte sich um und erkannte den Herrn, mit dem sie kurz vor dem Zusammenstoß gesprochen hatte.

 

»Das würde ich eigentlich nicht sagen«, entgegnete Milton Sands. »Man kann nie wissen, aus welchem Grund sich ein Mann dem Alkohol ergibt. Aber da er offenbar eine große Summe bei sich hatte, ist mir die Ursache nicht klar.«

 

Der Rumäne erschien wieder, trat auf die äußere Plattform hinaus und hielt eine erregte Ansprache an die Umstehenden.

 

»Meine verehrten Freunde, man hat mich bestohlen. Wer es war, weiß ich nicht, aber ich will Ihnen nur das eine sagen. Das Geld, das ich verloren habe, schmerzt mich durchaus nicht, aber es lag ein Schriftstück in der Mappe, das von größter Bedeutung für mich ist. Jedem, der mir die Mappe zurückgibt, will ich eine hohe Belohnung zahlen«.

 

Seine Worte wurden schweigend aufgenommen, und wenn der Dieb zugegen war, so kümmerte er sich allem Anschein nach nicht um dieses Angebot.

 

Kapitel 5

 

5

 

Sir George Frodmere hatte sich im Hotel Monsigny in Paris eingemietet und ging unruhig internem Wohnzimmer auf und ab. Seine beiden Verbündeten mußten jeden Augenblick kommen. Sie hatten in verschiedenen Hotels übernachtet, um nicht zusammen gesehen zu werden. Ja, sie waren in ihren Vorsichtsmaßregeln sogar so weit gegangen, daß sie nach dem Eisenbahnunglück in verschiedenen Zügen nach Paris reisten.

 

Schließlich trafen sie fast zur selben Zeit ein, und Sir George schloß die Tür sorgfältig hinter ihnen.

 

»Jetzt wollen wir einmal offen miteinander reden«, sagte er mit scharfer Stimme. »Wer hat das Geld?«

 

»Durchsuchen Sie mich«, erwiderte Kitson mürrisch.

 

Er rauchte am Rest einer Zigarre und betrachtete Sir George mit argwöhnischen Blicken.

 

»Wollen Sie mir vielleicht erzählen, daß Sie die Mappe nicht haben?« fragte Sir George ungläubig.

 

»Was soll ich haben?«

 

»Die Mappe!«

 

»Ich habe nichts«, erklärte Mr. Kitson entschieden. »Aber ich vermute, daß Sie das Geld haben!«

 

Der Baronet kniff die Augen zusammen.

 

»Ich habe es überhaupt nicht zu sehen bekommen«, sagte er kurz. »Wir wollen uns doch hier keinen Humbug vormachen. Wir stecken zu tief in unseren gemeinsamen Unternehmungen, um uns gegenseitig zu betrügen! Was wissen Sie davon, Wilton?«

 

»Ich?« fragte Toady wütend. »Wie kommen Sie darauf, derart unverschämte Fragen an mich zu stellen? Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß ich ein gemeiner Dieb bin? Es ist einfach unerhört. Ich weiß nur«, fuhr er vorsichtiger fort, »daß Sie sich etwas eingebildet haben. Bis jetzt hielt ich die Sache noch für einen Scherz. Ich habe niemals auch nur im Traum daran gedacht, daß Sie die Absicht hatten, das Geld zu stehlen.«

 

Sir George lachte verächtlich.

 

»Sie nehmen den Mund ein wenig zu voll, Toady Wilton. Ich lasse mir von Ihnen nichts vormachen. Sie wissen doch ganz genau, daß wir alle hinter dem Geld her waren. Wenn man Sie hört, sollte man annehmen, daß Sie noch niemals ein Wässerchen getrübt haben. Ich möchte dagegen fragen, ob Sie sich überhaupt schon jemals an einem anständigen Unternehmen beteiligt haben. Der Verdacht fällt auch auf Sie. Machen Sie bloß nicht dieses Sonntagsschulgesicht. Diese Verstellung kann ich nicht leiden. Also sagen Sie klar und deutlich: Haben Sie das Geld, oder haben Sie es nicht?«

 

»Nein, ich habe es nicht«, erwiderte Wilton düster.

 

Sie standen sich einen Augenblick schweigend gegenüber und maßen sich mit den Blicken. Jeder hatte die beiden anderen im Verdacht, daß sie sich gegen ihn verbündet hätten.

 

»Jemand muß es aber doch haben«, sagte Sir George schließlich wütend.

 

»Ich bin davon überzeugt, daß Sie es haben«, entgegnete Bud Kitson.

 

Sir George fuhr herum.

 

»Was, Sie verdammter Hund, mich haben Sie im Verdacht?« brüllte er.

 

»Ich habe gehört, daß hier in Europa die merkwürdigsten Dinge passieren sollen«, erklärte der Amerikaner ruhig. »Und ich würde auch kein Herzklopfen kriegen, wenn ich entdeckte, daß Sie das Geld genommen haben.«

 

Die Situation war gefährlich, und Sir George Frodmere wußte genau, daß er den Bogen nicht überspannen durfte. Er war auf die Hilfe dieser beiden Leute angewiesen, und selbst wenn einer von ihnen sich das Geld angeeignet haben sollte, konnte er nur durch Freundlichkeit und Ruhe zum Ziel kommen.

 

»Vielleicht hat Soltescu die Mappe überhaupt nicht verloren«, warf er in gleichgültigem Ton hin.

 

»Natürlich hat er sie verloren!« rief Kitson. »Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Ich habe noch kurz vorher gesehen, wie er sie in der Hand hatte. Als er den Gang entlangging, ließ er sie fallen, und eine junge Dame aus dem nächsten Abteil half ihm noch beim Aufheben.«

 

»Was war denn das für eine junge Dame?« fragte Sir George plötzlich.

 

Der Amerikaner schüttelte den Kopf.

 

»Weiß ich nicht«, erwiderte er kurz. »Ich kann doch unmöglich alle Mädels kennen, die von Nizza nach Paris reisen.«

 

»Es war eine Miss President«, erklärte Toady Wilton. »Die Enkelin des alten President.«

 

Sir George runzelte die Stirn.

 

»Der die Rennpferde hat?«

 

»Ja.«

 

Es blieb Sir George keine Zeit, über diesen merkwürdigen Zufall nachzudenken. Er hatte sich für den Vormittag mit Soltescu verabredet und war schon sehr ungehalten, daß seine beiden Komplicen so spät kamen. Aber er mußte sie unbedingt sprechen, bevor der Rumäne im Hotel erschien. Er erklärte ihnen nun in kurzen Worten, wie er mit Soltescu vorgehen wollte.

 

»Wahrscheinlich wird er jetzt nicht mehr mitmachen«, klagte Toady Wilton.

 

»Nein, so ist er nicht«, entgegnete Sir George überzeugt. »Er hat unendlich viel Geld und kann noch zehnmal soviel verlieren wie in der vorigen Nacht, ohne daß es ihm etwas ausmacht. Sie haben ja keine Ahnung, wie reich dieser Mann ist. Sie werden sehen, daß er noch ebenso scharf auf die Sache ist wie vorher.«

 

»Ich wundere mich nur, daß er Ihnen sein Vertrauen schenkt.« Wilton ging zum Kamin und nahm eine Zigarre aus dem Kasten, der dort stand.

 

»Er hat alle Ursache, mir zu trauen«, erwiderte der Baronet mit einem schlauen Lächeln. »Ich habe ihn im vorigen Jahr überall in London herumgeführt. Und wenn ich nicht gewesen wäre, hätte er zwölftausend Pfund verloren.«

 

Wilton sah ihn ungläubig an.

 

»Ich dachte mir schon, daß Sie das überraschen würde«, sagte Sir George ironisch. »Es kam durch diesen Millington. Sie kennen ihn doch? Er unterhält die Spielhölle in Pimlico. Durch irgendwelche Manipulationen hat er es verstanden, Soltescu in sein Lokal zu locken, und die Leute spielten damals sehr hoch. Man sollte allerdings kaum annehmen,, daß sich ein so gerissener Spieler wie Soltescu rupfen ließe, aber merkwürdigerweise waren ihm die anderen über. Als ich sah, wie der Hase lief, ging ich zu Millington, nahm ihn beiseite und fragte ihn, wieviel Kommission er mir einräumen würde. Aber der Mann war unvernünftig, wollte nicht mit sich reden lassen und lachte mich nur aus.«

 

»Daraufhin sind Sie wohl mit Soltescu fortgegangen?« fragte Wilton und nickte beifällig.

 

»Ganz recht.«

 

»Aber wie können Sie sagen, daß Sie ihm zwölftausend Pfund gerettet haben?«

 

»Soviel hatte er an dem Abend bei sich, und ich kenne die Millington-Bande. Die hätten ihn bis aufs Hemd ausgezogen.«

 

Es klopfte, und ein Kellner kündigte Monsieur. Soltescu an. Der Rumäne sah bleich und müde aus und war vollkommen nüchtern. Trotzdem schien ihn der Verlust kaum berührt zu haben.

 

In gewisser Weise war der kleine Mann wirklich bewunderungswürdig. Er besaß große Selbstbeherrschung, und er war weit und breit wegen seines Wagemuts bekannt. Fast alle anrüchigen Unternehmungen Europas finanzierte er, und wenn auch die Regierungen der verschiedenen Staaten seine Tätigkeit nicht schätzten, so galt sein Name doch viel bei den internationalen Abenteurern, die er gut für ihre Dienste bezahlte.

 

Er erwähnte seinen Verlust nur mit wenigen Worten.

 

»Es ist ein unglücklicher Zufall. Aber ich habe eine so hohe Belohnung ausgesetzt, daß ich mit Sicherheit auf die Rückgabe der Mappe rechnen kann.«

 

»Wieviel Geld hatten Sie denn eigentlich noch darin?«

 

»Die Summe war nicht so unbedeutend«, entgegnete Soltescu leichthin. »Vierzigtausend Pfund in englischen Banknoten. Aber nicht das verlorene Geld macht mir soviel Sorge. Der Verlust der Schriftstücke trifft mich am schwersten.«

 

Er sprach an diesem Morgen fließend Englisch.

 

»Aber Sie sind doch Fachmann, kennen die Formel und haben die ganze Beschreibung des Herstellungsprozesses gelesen, wie Sie sagten? Genügt das nicht? Könnten Sie nicht wieder alles aufschreiben? Vielleicht gelingt es Ihnen, die Formel noch einmal aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren«, meinte Sir George.

 

Soltescu schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Nein, ich war gestern nicht auf der Höhe«, gestand er offen ein. »Und ich habe mir schon angewöhnt, mich nicht auf die Dinge zu besinnen, die ich in solchen Fällen erlebe. Wenn ich über all meine dummen Streiche nachdächte, bekäme ich ein zu großes moralisches Minus.«

 

»Schreiben Sie die Belohnung öffentlich aus?«

 

»Ja. Die genauen Einzelheiten kann ich natürlich nicht in die Zeitung bringen. Ich hatte die Papiere aus dem Umschlag herausgenommen und das Kuvert zerrissen, denn es standen einige Worte darauf, die mir unangenehm waren: ›Das biegsame Glas. Die Art der Herstellung. Eine Erfindung von John President.‹«

 

»John President?« fragte Sir George atemlos. »Donnerwetter, ich glaube, ich weiß jetzt, wer Ihre Mappe hat!«

 

Soltescu sah ihn verblüfft an.

 

»Woher wissen Sie es denn?« fragte er ungläubig.

 

»Ich bin meiner Sache ganz sicher. Was für eine Belohnung haben Sie denn ausgesetzt?«

 

Der Rumäne drohte Sir George mit dem Finger.

 

»Mein Freund, Sie sind tatsächlich sehr schlau und gerissen«, sagte er bewundernd. »Ich habe eine Belohnung von vierzigtausend Pfund ausgesetzt, doppelt soviel, wie mich die Schriftstücke ursprünglich gekostet haben. Die Sache ist es mir wert.«

 

»Vierzigtausend Pfund!« wiederholte Sir George. »Wissen Sie denn, wer in dem Abteil neben Ihnen schlief?«

 

»Darum habe ich mich nicht gekümmert«, entgegnete Soltescu ironisch. »Ich schicke meine Visitenkarte nicht zu meinen Nachbarn, wenn ich den Schlafwagen benütze.«

 

»Nun, dann will ich es Ihnen sagen. Es war die Enkelin John Presidents«, entgegnete Sir George langsam und mit Nachdruck. »Wenn Sie die Papiere von ihm gekauft haben –«

 

»Ich habe sie nicht von ihm, sondern von einem Mann, der sie dem Erfinder wahrscheinlich gestohlen hat. Also das war John Presidents Enkelin?« fragte er und versuchte, sich an die Vorgänge der Nacht zu erinnern. »Ich möchte nur wissen – ja, es muß stimmen«, sagte er dann und fuhr erregt mit der Hand durch sein Haar. »Ich besinne mich jetzt genau. Ich habe die Mappe fallen lassen, und dabei flog der Umschlag mit den Schriftstücken heraus. Sie hob das Kuvert auf – ja, das muß sie gewesen sein.«

 

Aufgeregt ging er im Zimmer auf und ab.

 

»Wo ist sie jetzt?« fragte, er dann schnell. »Ist sie in Paris oder in London?«

 

»Sie kam mit meinem Zug nach Paris. Ich habe sie auch gesehen. Sie ist sehr hübsch. Dunkle Haare und dunkelbraune Augen, gut gewachsen – direkt mein Typ. Ich glaube allerdings kaum, daß sie noch in Paris ist. Sie wird nach London durchgefahren sein. Aber das können wir ja bald herausbringen. Ich werde meinen Diener in London anrufen; er soll sich erkundigen, ob sie angekommen ist.«

 

»Ich gehe zur Polizei und beantrage einen Haftbefehl gegen sie!« rief Soltescu erregt.

 

»Das wäre das Dümmste, was Sie tun könnten«, unterbrach ihn Sir George. »Was halten Sie denn von der Sache, Toady?«

 

Wilton hatte die Unterhaltung schweigend angehört. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß er von diesem Geschäft ausgeschlossen war. Er war nur Spezialist für Rennsachen. In allen Schiebungen, die darauf Bezug hatten, konnte man ihn einen Meister nennen.

 

Mr. Bud Kitson schwieg ebenfalls, hörte dem Gespräch aber interessiert zu und hielt den Augenblick jetzt für gekommen, sich einzumischen.

 

»Es würde doch nicht schwer sein, der jungen Dame die Mappe wieder abzujagen. Dazu braucht, man doch keine Polizei.«

 

»Das ist allerdings ein guter Gedanke.« Sir George sah den Amerikaner mit zusammengekniffenen Augen an. »Wirklich keine schlechte Idee. Glauben Sie, daß Sie die Sache machen können?«

 

»Wenn sie die Mappe tatsächlich hat, kann ich sie sicher besorgen.«

 

»Was halten Sie davon, Soltescu?«

 

Der Rumäne sah Bud argwöhnisch von der Seite an.

 

»Mir ist es schließlich gleich, wie ich wieder in ihren Besitz komme, wenn ich die Schriftstücke nur überhaupt wiedersehe. Ich bin bereit, eine große Summe zu zahlen. Das Geld in der Mappe können Sie als Belohnung behalten.«

 

Bud Kitsons Augen leuchteten auf.

 

»Natürlich wird das Geld unter uns allen reell verteilt, wenn der Plan gelingen sollte«, warf Sir George dazwischen.

 

Der Amerikaner grinste verständnisvoll.

 

»Es wird schon richtig verteilt werden«, sagte er zuversichtlich. Aus seinem Ton war zu entnehmen, daß er sich die Verteilung anders dachte als Sir George.

 

»Nun wollen wir aber auch noch einmal über die andere Sache sprechen«, erklärte der Baronet.

 

Ein paar Minuten später saßen sie um den Tisch und besprachen die große Schiebung, die alles bis jetzt Dagewesene in den Schatten stellen sollte.

 

Monsieur Soltescu war in ganz Europa bekannt. Obwohl er ein Großindustrieller war, kümmerte er sich eigentlich wenig um seine Fabriken. Er interessierte sich nur für die keramischen und die Glaswerkstätten, die die bedeutendsten in ganz Südeuropa waren. Hiermit hatte er den Grundstock seines ungeheuren Vermögens gelegt, und diese Fabriken warfen auch den größten Gewinn ab.

 

Aber im Grunde genommen war er ein Abenteurer und spekulierte in internationalen Unternehmungen. Und wenn er genügend dabei verdiente, kam es ihm auch nicht darauf an, sein eigenes Vaterland zu schädigen.

 

*

 

Milton Sands kannte fast alle Millionäre in Europa, und während der Fahrt von Dover nach London gab er Eric Stanton eine kurze Charakteristik von Soltescu. Sein Begleiter hörte ihm interessiert und belustigt zu.

 

»Jetzt haben wir aber immer noch keinen neuen Beruf für Sie ausfindig gemacht«, meinte Stanton, als der Zug durch Tonbridge fuhr.

 

»Ich habe schon ohne Ihren Rat einen Entschluß gefaßt. Der Diebstahl im Zug hat mich auf eine gute Idee gebracht. Ich werde Detektiv«, erklärte Milton selbstzufrieden.

 

Eric Stanton sah ihn überrascht an.

 

»Wie kommen Sie denn darauf?«

 

»Das ist der richtige Beruf für mich«, sagte Milton Sands überzeugt. »Damit kann man auf anständige, nette Weise, seinen Lebensunterhalt verdienen. Ich halte mich für ganz besonders geeignet dafür. Ein abenteuerlustiger, gewandter junger Mann kann in diesem Fach etwas leisten. Sehen Sie, der alte Soltescu hat eine Belohnung von vierzigtausend Pfund für die Wiederbeschaffung der Mappe ausgesetzt. Das ist doch gerade genug Geld, um einen zu fieberhafter Tätigkeit anzuspornen. Was sollte ich denn sonst auch noch werden? Ich könnte höchstens noch Straßenkehrer oder Taschendieb in London spielen. Denken Sie doch einmal, vierzigtausend Pfund! Die Sache lohnt sich. Ich bin großzügig und vorurteilslos genug, um den Beruf eines Detektivs erfolgreich zu gestalten.«

 

»Haben Sie sich denn schon früher einmal als Detektiv betätigt?« fragte Eric belustigt.

 

»In gewisser Weise, ja«, entgegnete Milton ernst. »Ich gehörte einige Jahre der berittenen Polizeitruppe in Australien an. Es war zwar nicht viel Detektivarbeit damit verbunden, besonders nicht im modernen Sinne, aber man hat doch allerhand kennengelernt, und man mußte seinen Verstand anstrengen, um etwas zu leisten.«

 

Es trat eine Pause in der Unterhaltung ein, bis der Zug durch die Außenbezirke Londons fuhr.

 

»Wollen Sie tatsächlich im Ernst ein Privatdetektiv werden?« fragte Eric dann.

 

Sands sah ihn ein wenig erstaunt an.

 

»Ja, gewiß. Haben Sie etwas dagegen?«

 

»Nein. Es ist mir nur etwas eingefallen. Wenn Sie wirklich diesen Beruf ergreifen, könnte ich Ihnen vielleicht in verschiedener Weise helfen. Ich habe Sie gern, Sands, und ich bewundere Ihren persönlichen Mut, Ihre Umsichtigkeit, Ihre Stärke und Ihre Entschlußkraft.«

 

»Das lasse ich mir gefallen. Sie scheinen mich ja genau geprüft zu haben, da Sie mich so gut kennen.«

 

»Ich erkenne Ihre Vorzüge gern an, und ich habe gefunden, daß Sie trotz all Ihrer Redensarten im Grunde sehr ehrlich sind und daß man sich auf Sie verlassen kann. Das sind Eigenschaften, die in unserer Zeit selten geworden sind.«

 

Milton Sands errötete ein wenig.

 

»Ich weiß Ihre Worte wohl zu würdigen, ja, Sie können sich darauf verlassen, daß ich meinen Freunden gegenüber zuverlässig bin.«

 

Eric Stanton nickte.

 

»Das weiß ich, und ich möchte Ihnen deshalb Ihren ersten Auftrag geben. Ich habe keine Ahnung, was Sie dazu gebracht hat, den Beruf eines Detektivs zu ergreifen, aber ich bin fest davon überzeugt, daß Sie sich dazu eignen und daß Sie Erfolg haben werden.«

 

»Einen Augenblick. Hören Sie bitte, erst, was ich Ihnen noch zu sagen habe. Ich möchte nicht ein Detektiv im gewöhnlichen Sinne des Wortes werden, sondern mich auf die Rennen spezialisieren. Der Rennsport ist bisher in England über jeden Zweifel erhaben gewesen, aber in der jetzigen Zeit drängen sich unsaubere Elemente ein. Es würde also ein Mann Beschäftigung finden, der seine Tätigkeit besonders dieser Sache widmet. Ich bin natürlich auch bereit, andere Aufträge anzunehmen, aber ich wollte Ihnen von vornherein sagen, daß ich mich möglichst auf Rennen beschränken will.«

 

»Der Auftrag, den ich Ihnen erteilen will, hat allerdings nichts mit Pferderennen zu tun«, meinte Eric lächelnd. »Ich hätte Sie gern gebeten, mich morgen in meiner Wohnung aufzusuchen, aber es kann sein, daß ich nicht in der Stadt bin. Vielleicht haben wir jetzt noch Zeit genug, die Sache zu besprechen. Ich will Sie ausreichend für Ihre Bemühungen bezahlen und Ihnen alle Auslagen und Reisespesen ersetzen.«

 

»Ich bin bereit, den Auftrag anzunehmen«, erwiderte Milton. »Bitte, erklären Sie mir das Nähere.«

 

Er nahm die Zigarre, die Eric ihm anbot, und steckte sie an.

 

»Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß meine Eltern einen schweren Konflikt miteinander hatten, als ich noch klein war. Mein Vater war sehr jähzornig und erhob eine falsche Beschuldigung gegen meine Mutter. Das hat ihm später sehr leid getan.« Stanton zögerte einen Augenblick. »Ich glaube, wir können nicht nur als Leute von Welt, sondern auch als Freunde über die Angelegenheit sprechen.«

 

Sands nickte.

 

»Sie dürfen mir ruhig vertrauen. Was auch immer der Inhalt dieser Unterredung sein wird, ich werde niemals Dritten mitteilen, was ich gehört habe.«

 

Stanton lächelte resigniert.

 

»Es ist leider schon so weit gekommen, daß ich diese Forderung nicht an Sie zu stellen brauche. Die Geschichte ist in den Kreisen der Gesellschaft allgemein bekannt, nur habe ich früher nicht mit Ihnen darüber gesprochen. Die Beschuldigung, die mein Vater gegen meine Mutter erhob, richtete sich gegen ihre Ehre. Er behauptete sogar, daß meine kleine Schwester nicht sein Kind sein könnte. Das ist der schwerste Vorwurf, den man einer empfindsamen, hochgebildeten Frau machen kann. Meine Mutter zog die Konsequenzen, verließ das Haus und nahm ihre Tochter mit sich. Von jenem Tag an hat man sie nicht mehr gesehen.« Erics Stimme zitterte leicht. »Wir wissen nur, daß sie vor einigen Jahren starb, lange nach dem Tode meines Vaters. Meine Schwester aber ist noch am Leben, und wahrscheinlich hat sie von ihrer Mutter Instruktionen erhalten, sich nicht um die Aufrufe zu kümmern, die ich von Zeit zu Zeit in die Zeitungen setzen lasse. Ich möchte Ihnen nun den Auftrag geben, den Aufenthaltsort meiner Schwester ausfindig zu machen.«

 

»Hat Ihr Vater denn feststellen können, daß seine Anschuldigungen nicht zu Recht bestanden?«

 

»Ja«, erwiderte Stanton leise. »Er bekam den Beweis, daß er sich geirrt hatte. Entweder war es eine Verkettung unglücklicher Umstände, oder man hat ihn absichtlich getäuscht. Er hatte den Verdacht, daß Lord Chanderson ein Verhältnis mit meiner Mutter hatte. Sie kennen ihn sicher dem Namen nach, er ist einer der angesehensten Sportsleute, der Vorsitzende des Jockey-Klubs und ein Mann von untadeligem Charakter. Er war mit meiner Mutter allerdings sehr eng befreundet. Die Fremdenliste eines Pariser Hotels, in dem meine Mutter einmal logierte, enthielt auch den Namen Lord Chandersons, der zur gleichen Zeit dort gewohnt haben soll. Auf Grund dieser Tatsache hat mein Vater voreilig die Anklage gegen meine Mutter erhoben und dabei diesen furchtbaren Irrtum begangen. Sie hat tatsächlich dort gewohnt, aber wie sich später herausstellte, war Lord Chanderson zu jener Zeit als Attaché bei der Gesandtschaft in Berlin tätig, und er konnte nachweisen, daß er sich damals auch wirklich in Berlin aufgehalten hatte. Es muß also ein anderer Lord Chandersons Namen fälschlicherweise in die Hotelliste eingetragen haben. Das ist die ganze Geschichte, die natürlich für mich sehr schmerzlich und peinlich ist, wie Sie wohl verstehen werden.«

 

»Welche Anhaltspunkte können Sie denn sonst noch geben?«

 

»Eigentlich keine. Ich habe schon so viele Leute beauftragt, dieses Rätsel zu lösen und den Aufenthalt meiner Schwester ausfindig zu machen. Auf die vielfachen Aufrufe in den Zeitungen hat sich niemand gemeldet. Von dem Tod meiner Mutter habe ich durch eine Zeitungsannonce erfahren. Als ich die Sache genauer untersuchte, stellte sich heraus, daß die Redaktion einen eingeschriebenen Brief mit dem nötigen Geld erhalten hatte. Er war zwei Jahre vorher datiert, und ich entnehme daraus, daß meine Mutter diese Anordnungen schon lange vor ihrem Tod getroffen hatte. Ich möchte meinen Vater nicht verurteilen. Ich habe ihm auch keine Vorwürfe gemacht, da er selbst schon schwer genug unter seinem Irrtum litt. Es ist eine schreckliche Tragödie, die mein Leben verdüstert.«

 

»Das sind allerdings sehr geringe Unterlagen«, entgegnete Sands nachdenklich. »Aber wenn Sie nichts dagegen haben, suche ich Sie sofort auf, wenn Sie nach London zurückkommen. Wir können dann die geschäftliche Seite der Sache arrangieren.«

 

Die beiden reichten sich die Hände, als sie sich auf dem Bahnhof trennten. Eric Stantons Wagen wartete, aber Sands lehnte die Einladung mitzufahren ab. Er rief eine Taxe und fuhr zu seiner bescheidenen Wohnung im Westen.

 

Kapitel 21

 

21

 

Östlich von Reading liegt ein uninteressanter, eintöniger Landstrich, der an die Themse grenzt. Es sind fast ausschließlich niedrig liegende Wiesen, die stets überschwemmt werden, wenn der Fluß aus den Ufern tritt. Seit langer Zeit hatte das Hausboot keine Fahrt mehr auf dem Strom unternommen, weil man allgemein der Ansicht war, daß ein derartiger Ausflug wahrscheinlich seinen Untergang bedeuten würde.

 

Janet Symonds wußte nicht, warum das Auto, in dem sie fuhr, in der Nähe von Reading von der Straße abbog und über einen holperigen Feldweg dem Ufer zusteuerte. Es war ihr klar, daß sie eine Gefangene war. Buncher hatte sie das fühlen lassen, als er bei einer Tankstelle halten mußte.

 

»Sie haben vor allem den Mund zu halten und ruhig zu sein«, sägte er drohend. »Ich habe den Auftrag bekommen, Sie zu Mr. Milton Sands zu bringen. Wenn Sie das nicht glauben wollen, dann lassen Sie es bleiben. Aber ich dulde unter keinen Umständen, daß Sie mir Scherereien machen.«

 

Als der Wagen am Ufer hielt, zog er sie aus dem Auto. Sie trat einen Schritt zurück, als sie das Hausboot sah, aber Bud Kitson und seine Frau waren sofort zur Stelle und redeten auf sie ein.

 

Sie führten Janet in den großen, geräumigen Salon, der hellerleuchtet und schön möbliert war.

 

»Wo ist denn Mr. Sands?« fragte sie.

 

Sie klammerte sich noch immer an diese Illusion.

 

»Sie müssen noch etwas warten«, entgegnete Kitson unfreundlich. »Nicht nur Sie wollen Mr. Sands sprechen. Ich will ihn mir auch kaufen. Er ist daran schuld, daß ich ins Kittchen gekommen bin. Drei Tage habe ich im Portland-Gefängnis gesessen, bis man herausfand, daß Mr. Sands mir nur einen Streich gespielt hatte. Glauben Sie mir, ich habe ebenso dringend den Wunsch, ihn zu sehen, wie Sie. Aber das hat noch Zeit.«

 

»Wer hat mich denn hierhergebracht?« fragte sie schwach.

 

»Sie sind aus einem guten Grund hierhergekommen. Wenn Sie vernünftig sind, können Sie das Boot sehr schnell wieder verlassen«, sagte die Frau. »Es gehört einem Herrn, der sich in Sie verliebt hat. Warum er sich soviel Umstände mit einer gewöhnlichen Stenotypistin macht, verstehe ich allerdings nicht«, fügte sie geringschätzig hinzu. »Es wäre besser, wenn Sie jetzt in Ihre Kabine gingen.«

 

Sie begleitete sie in einen Raum, der halb so groß war. wie der Salon. Auch dieses Zimmer war neu ausgestattet und für ihren Empfang vorbereitet.

 

Die Tür wurde hinter ihr verschlossen. Das einzige Fenster der Kabine lag nach dem Ufer zu, und sie sah sofort, daß ein dunkler Streifen Wasser sie vom Lande trennte. Sie hätte wohl die Aufmerksamkeit der Leute erregen können, die zufällig am Ufer vorbeigingen, aber sie wußte instinktiv, daß ein solches Verhalten gefährlich sein würde.

 

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als geduldig und ruhig die Entwicklung der Dinge abzuwarten. Erst gegen Mitternacht hörte sie, daß ein Auto sich dem Ufer näherte. Als der Wagen hielt, sprachen mehrere Männer leise miteinander. Sie sah einen großen Herrn über die Landungsbrücke an Bord gehen. Kurz darauf klopfte es an ihre Tür, und eine Frau, fragte, ob sie wach sei. Janet hatte sich nicht ausgezogen und folgte der Frau, die hier anscheinend als Dienstmädchen angestellt war, nach dem großen Salon.

 

Sie erkannte den Mann, der am Ende des langen Tisches stand, obwohl sie ihn bisher nur einmal gesehen hatte. Sir George Frodmere konnte man auch nicht leicht verkennen. Er verneigte sich vor ihr, und auf seinen Wink verließen die beiden anderen Herren, die zugegen waren, den Raum.

 

»Warum haben Sie mich hierhergebracht?« fragte sie ruhig und gefaßt.

 

Er sah sie nachdenklich an. Sie war tatsächlich schöner, als er erwartet hatte.

 

»Meine verehrte junge Dame«, begann er liebenswürdig, »ich bedaure unendlich, daß ich Sie hierherbringen mußte. Aber Sie sind jung und vielleicht romantisch veranlagt, und so hoffe ich, daß Sie meine Lage begreifen werden. Ich hoffe sogar, daß Sie die nötige Sympathie für mich haben, um mir zu helfen.«

 

Sie schwieg. Es hatte ja keinen Zweck, seine Erklärung zu unterbrechen. Und sie mußte vor allem erfahren, was er beabsichtigte.

 

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« sagte er verbindlich.

 

»Nein, danke, ich möchte lieber stehen.«

 

»Dann muß ich auch stehenbleiben«, entgegnete er lächelnd. »Nun, das ist ja auch nicht so wichtig. Wahrscheinlich wissen Sie, wer ich bin?«

 

»Ja.«

 

»Und Sie sind sicher auch über meine Familie orientiert?«

 

Er schaute sie fragend an, aber sie schüttelte den Kopf.

 

»Außer Ihrem Namen weiß ich nichts von Ihnen, Sir George.«

 

»Dann wissen Sie also nicht, daß ich der Erbe eines großen Vermögens bin, und zwar einer halben Million Pfund. An die Erbschaft ist aber die Bedingung geknüpft, daß ich bis zu einem gewissen Alter verheiratet sein muß. Bis jetzt habe ich es nicht für nötig gefunden, mich mit einer Frau zu belasten. Das klingt sehr unhöflich, aber Sie werden wahrscheinlich verstehen, was ich meine.«

 

Sie nickte. Sie hatte genug von Sir Georges Privatleben gehört, um die Bedeutung seiner Worte zu erfassen.

 

»Übermorgen werde ich nun achtunddreißig Jahre alt, und bis dahin muß ich verheiratet sein? Erst jetzt ist mir zum Bewußtsein gekommen, in welcher kritischen Lage ich mich befinde. Ich bin nicht im mindesten darauf vorbereitet gewesen, denn erst gestern haben mich meine Rechtsanwälte wieder an die Notwendigkeit erinnert, daß ich mich sofort verheiraten muß. Deshalb bin ich gezwungen, schnell eine Wahl zu treffen. Aber ich hoffe, daß sie glücklich ist, denn sie ist auf Sie gefallen.«

 

»Mich wollen Sie heiraten?«

 

»Ja. Ich weiß, daß Sie sehr hart zu kämpfen hatten … Und ich schätze und verehre Sie ganz besonders. Sie besitzen alle Eigenschaften, die mich glücklich machen könnten.«

 

Trotz der sonderbaren Situation mußte sie lachen.

 

»Aber das ist doch einfach unmöglich, Sir George! Ich kann Sie doch nicht so ohne weiteres heiraten.«

 

»Ich glaube, daß Sie die Möglichkeiten unterschätzen, die sich Ihnen durch meine Wahl bieten. Ich brauche eine Frau, die ich sofort nach der Trauung wieder verlassen kann.«

 

Er schaute sie durchdringend an, aber seine Worte schienen keinen Eindruck auf sie zu machen.

 

»Ich sage Ihnen, ich brauche eine Frau, von der ich mich direkt nach der Trauung wieder trennen kann«, wiederholte er mit besonderem Nachdruck. »Ich bin bereit, Ihnen als Hochzeitsgeschenk die Summe von hunderttausend Pfund zu überreichen.«

 

»Aber es gibt doch Hunderte von jungen Mädchen, die nur zu gern Ihren Vorschlag annehmen würden, Sir George«, entgegnete sie bestürzt und verwundert.

 

Er sah, daß sie errötete, und wußte, daß sie jetzt an Milton Sands dachte.

 

»Ja, es gibt Hunderte von jungen Mädchen«, wiederholte er, »aber es ist keine unter ihnen, die mir zusagt, keine, der ich trauen könnte. In Ihnen habe ich die Frau mit all den Eigenschaften gefunden, die ich schätze. Und ich wiederhole Ihnen in aller Form, daß Sie mich nach der Trauung sofort wieder verlassen können. Vorher überreiche ich Ihnen einen Scheck über hunderttausend Pfund.«

 

»Sie scheinen zu vergessen, Sir George, daß ich seit einigen Monaten mit Mr. Sands zusammenarbeite.«

 

»Ich wüßte nicht, was das zu sagen hätte.«

 

»Nun, dann will ich es Ihnen klarmachen. Mr. Sands hat mich in der letzten Zeit über vieles aufgeklärt, damit ich ihm beruflich helfen kann, und ich habe viele Dinge erfahren, von denen ich früher keine Ahnung hatte. Ich halte Ihr ganzes Benehmen mir gegenüber nur für ein Betrugsmanöver. Was Sie mir da eben erzählten, unterscheidet sich nicht wesentlich von den Geschichten, die andere berüchtigte Betrüger in solchen Fällen vorbringen.«

 

Der Baronet wurde dunkelrot vor Zorn, denn ihre Worte hatten ihn schwer getroffen.

 

»Wollen Sie mir denn nicht glauben, Miss Symonds?«

 

»Offen gestanden, nein.«

 

»Nun, Sie werden mir schon glauben müssen. Innerhalb zweier Tage heiraten Sie mich. Ich habe mir schon eine besondere Genehmigung besorgt.«

 

»Trotz alledem glaube ich es nicht«, entgegnete sie fest.

 

»Sie verlassen sich darauf, daß Milton Sands Ihnen zu Hilfe kommt und Sie aus dieser Situation befreit«, erwiderte er mit einem boshaften Lächeln. »An Ihrer Stelle würde ich mich nicht so sehr auf ihn verlassen. Sie können aber mir und auch Ihren Freunden einen guten Dienst erweisen, wenn Sie auf meinen Vorschlag eingehen. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß Ihre Heirat mit mir auch Mr. Sands einen großen pekuniären Vorteil bringen wird.«

 

»Ich möchte mich nicht weiter mit Ihnen über diese Sache unterhalten. Sie können eine Frau doch nicht gegen ihren Willen heiraten!«

 

Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging in ihre Kabine zurück.

 

Sir George machte keine Anstrengungen mehr, mit ihr zu sprechen, aber eine Stunde später klopfte Mrs. Kitson an ihre Tür und brachte ihr ein Tablett mit Speisen.

 

»Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Etwas müssen Sie ja schließlich essen.«

 

Janet hatte bis dahin alles abgelehnt, aber jetzt fühlte sie großen Hunger. Die Mahlzeit war ausgezeichnet zubereitet. Es stand auch eine kleine Porzellankanne mit Schokolade dabei, und gerade starke Schokolade eignet sich hervorragend dazu, den Geschmack von Morphiumpräparaten zu überdecken.

 

Janet fiel in einen schweren, traumlosen Schlaf, hatte aber trotzdem ein quälendes Gefühl. Schließlich tanzte ein großes, helles Licht vor ihren Augen. Sie versuchte, es mit der Hand abzublenden. Dabei kam ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß sie etwas am Finger hatte, das früher nicht dort gewesen war. Langsam kam sie zu sich und starrte auf den schmalen, goldenen Ring an dem vierten Finger ihrer rechten Hand. Sie sah sich verwundert und verstört um und entdeckte, daß sie sich zusammen mit mehreren Menschen im Salon befand. Sir George war zugegen und schaute sie merkwürdig an. Neben ihm standen Kitson und seine Frau, und außer ihnen bemerkte sie noch einen verhältnismäßig schlanken Mann von mittlerer Größe. Er hatte weiße Haare und trug die Kleidung eines Geistlichen.

 

»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie atemlos vor Entsetzen.

 

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Lady Frodmere?« fragte der Mann im schwarzen Talar.

 

»Lady Frodmere?« wiederholte sie dumpf.

 

»Sie sind jetzt Lady Frodmere, meine Frau«, erklärte Sir George.

 

»Aber ich habe Sie doch nicht geheiratet!«

 

Der Geistliche lächelte.

 

»Ich sehe, daß Sie noch etwas verwirrt sind, Mylady. Ich habe Sie selbst mit George Frodmere getraut, und Sie waren bei vollem Bewußtsein.«

 

»Aber das ist doch unmöglich!« rief sie. »Sie konnten mich doch nicht trauen. Ich habe nicht geantwortet!«

 

Der Geistliche schüttelte den Kopf.

 

»Sie haben alle Fragen richtig beantwortet, die ich an Sie stellte. Für gewöhnlich nehme ich ja Trauungen nicht gerade um Mitternacht vor, aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Sie jetzt Lady Frodmere sind.«

 

Sie sank in den Stuhl zurück und zitterte am ganzen Körper. Es war ein entsetzlicher Gedanke. Was hatten die Leute nur mit ihr gemacht? Ihre Vernunft sagte ihr, daß etwas nicht stimmen konnte. Aber der Geistliche stand doch vor ihr, und auf dem Tisch lag ein Dokument – eine Trauungsurkunde! Sie sprang auf und schaute sie an. Schwarz auf weiß stand ihre eigene Unterschrift darunter. Das war zuviel für sie. Mit einem Schrei floh sie den Gang entlang in ihre Kabine, schlug die Tür hinter sich zu und türmte alle Möbelstücke dagegen auf, die sie in dem Raum finden konnte.

 

»Also, die Sache wäre erledigt«, sagte Sir George im Salon.

 

»Kann ich die Nacht über hier an Bord bleiben?« fragte der Geistliche.

 

»Ich würde Ihnen den guten Rat geben, fortzugehen, Pentridge«, erwiderte Sir George. »Ihre Anwesenheit könnte auffallen.«

 

Der angebliche Geistliche zog seinen Talar aus und legte den weißen Kragen ab.

 

»Ich kann dieses Zeug nicht leiden. Es hat furchtbar eingeschnitten. Nun, wie habe ich die Trauung vollzogen?« fragte er lachend.

 

»Großartig haben Sie Ihre Sache gemacht«, entgegnete der Baronet und klopfte ihm befriedigt auf die Schulter. »An Ihnen ist direkt ein Schauspieler verlorengegangen, Penty. Haben Sie das Geld dabei?«

 

»Ja, ich habe es bei mir. Hier sind zweitausend Pfund. Das ist allerdings eine ziemlich hohe Anleihe für jemand, der erledigt ist.«

 

»Aber ich leihe es doch nur für ein paar Tage von Ihnen, Mr. Pentridge«, sagte Sir George lächelnd, als er die Scheine nahm und sie in seine Brieftasche legte. »Wir werden ja bald beweisen können, daß Sands gelogen hat, und dann schwimme ich in Geld.«

 

»Hoffentlich gelingt Ihnen das. Und wenn Sie keinen Erfolg haben sollten –«

 

»In diesem Fall werde ich durch meine Heirat ein Vermögen in die Hand bekommen. Für den Dienst, den Sie mir erwiesen haben, sollen Sie einen reichlichen Anteil erhalten. Übrigens sind die Papiere wiedergefunden worden, die Sie an Soltescu verkauft haben.«

 

Pentridge sah ihn schnell an.

 

»Hat er die Sache aufgegeben?«

 

»Wen meinen Sie denn?« fragte Sir George überrascht.

 

»Natürlich Milton Sands. War es Ihnen denn nicht von Anfang an klar, daß er sich die Papiere angeeignet hatte?«

 

»Milton Sands!« wiederholte Sir George ungläubig.

 

»Ja!« Bud Kitson schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das stimmt. Kein anderer konnte sie genommen haben. Mir ist jetzt alles klar. Er fuhr in demselben Zug wie wir nach Paris. In Monte Carlo hatte er sein ganzes Geld verspielt und mußte nun irgend etwas beginnen. Toady Wilton sah doch, wie er das Kasino verließ, und sprach mit ihm. Dann kommt er nach London zurück und hat plötzlich genügend Geld, um ein Detektivbüro in der Regent Street zu eröffnen –«

 

»Aber dann möchte ich nur wissen, warum er überhaupt ein Detektivbüro aufgemacht hat!« sagte Sir George.

 

»Das war doch die einzige Möglichkeit, sich die Belohnung für die Wiederbeschaffung der Papiere zu sichern, ohne Argwohn und Verdacht zu erregen. Die Sache ist vollkommen klar und durchsichtig!«

 

»Also so verhält es sich«, meinte Sir George und nickte. »Dann hätte ich ja eventuell noch eine Chance, mich mit Milton Sands zu vergleichen. Aber nach alledem wird es wohl sehr schwer sein.«

 

»Ich habe auch noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen!« rief Kitson wild. »Ich lasse mich nicht umsonst nach Portland ins Gefängnis schleppen!«

 

Sir George sah den wütenden Mann nachdenklich von der Seite an. Wahrscheinlich konnte er ihn noch bei der Durchführung seiner Pläne brauchen, bevor er ihn ganz fallenließ.

 

Er verabschiedete sich von Pentridge, der zur Stadt zurückkehrte.

 

»Ist das Fenster gesichert? Sie kann doch hoffentlich nicht durch das Kabinenfenster entkommen?«

 

»Nein, das ist, unmöglich«, entgegnete Bud. »Ich habe Eisenstangen daran befestigt.«

 

»Gut«, erwiderte Sir George befriedigt.

 

Kapitel 15

 

15

 

Mary President stand früh auf und ging durch den wundervollen kleinen Garten, der in tausend Farben strahlte. Die Sonne schien herrlich, und Mary freute sich über den schönen Frühlingstag. Später ging sie in die Küche, um den Tee zu bereiten. Aber dann beschloß sie, mit dem Frühstück noch auf ihren Großvater zu warten, den sie nicht stören wollte. Es war kurz vor sieben.

 

Sie seufzte, als sie an Eric Stanton dachte. Was mußte er von alledem denken? Wie würde er über John President urteilen? Und doch hatte er kein Recht, über ihn den Stab zu brechen. Gewiß hatte der Mann eine schreckliche Tat begangen, aber er hatte auch sehr darunter gelitten und sie bitter bereut. Und die Sache lag schon so weit zurück … Eric würde sicher milde urteilen. Aber sie wollte keine Gnade, sondern Recht.

 

Nachdenklich setzte sie sich ah den einfachen Küchentisch. Der Duft der Blumen zog vom Garten her zum Fenster herein. Eine kühne Drossel hüpfte auf das Fensterbrett, legte den Kopf auf die Seite, sah sie schief an und flog dann wieder weg. Mary sah ihr betrübt nach, aber dann senkte sie den Blick. Als gleich darauf ein Schatten auf den Tisch fiel, schaute sie schnell wieder auf. Erschreckt erhob sie sich, als sie plötzlich Mr. Stanton vor sich sah, mit dem sich ihre Gedanken dauernd beschäftigt hatten.

 

»Guten Morgen«, sagte sie verlegen.

 

»Darf ich vielleicht nähertreten?«

 

Sie zeigte lächelnd auf die Tür.

 

»Ja, bitte, kommen Sie nur herein.«

 

Er kam ins Zimmer und legte Peitsche, Hut und Handschuhe auf einen Stuhl.

 

»Zu einem großen Frühstück kann ich Sie allerdings nicht einladen, nur zu einer einfachen Tasse Tee.«

 

»Das genügt auch vollkommen«, entgegnete er vergnügt und rückte seinen Stuhl an den Tisch.

 

»Wir müssen ganz leise sein, damit mein Großvater nicht aufwacht. Er schläft noch.«

 

»Das wundert mich aber«, erwiderte er erstaunt und betrachtete sie aufs neue. Wie schön sie heute morgen wieder aussah! In dem duftigen Kleid kam ihre hübsche Figur in vorteilhaftester Weise zur Geltung.

 

»Wieviel Stück Zucker darf ich Ihnen geben?« fragte sie plötzlich.

 

»Sechs«, sagte er verwirrt. »Ich wollte sieben sagen«, erklärte er dann bestimmt. »Ich nehme mir immer sieben Stück Zucker«, behauptete er, um seine Verlegenheit zu verbergen.

 

»Ich werde Ihnen ein Stück geben, das genügt. Wenn Sie noch mehr wollen, müssen Sie es sich selbst nehmen.«

 

»Ich bin auf eine Einladung Mr. Presidents hergekommen. Auch ich habe hier in der Nähe ein Haus«, erzählte er ihr, während sie Tee tranken.

 

Sie atmete erleichtert auf.

 

»Denken Sie denn nicht schlecht über meinen Großvater?« fragte sie leise.

 

»Nein, durchaus nicht. Warum sollte ich denn schlecht von ihm denken? Er ist einer der besten Menschen, die mir jemals begegnet sind.«

 

Sie war ihm dankbar für diese Worte und sah ihn freudestrahlend an. Eine große Sorge war nun von ihr genommen.

 

»Sie sind wirklich sehr gut«, sagte sie mit ihrer klingenden, melodischen Stimme.

 

»Hoffentlich kann ich recht häufig zu Ihnen kommen. Ich möchte Mr. President einige meiner Pferde zur Verfügung stellen, damit sie zusammen mit Donavan trainieren können. – Es ist doch herrlich, wenn man morgens ausreitet.«

 

Er hatte schnell das Thema gewechselt, als er sah, daß Tränen in ihre Augen traten.

 

»Man fühlt sich so frisch und jung, wenn man schon in der Frühe im Sattel sitzt.«

 

Wieder traf ihn ein dankbarer Blick aus ihren Augen.

 

»Wir wollen in den Garten gehen«, sagte sie plötzlich und erhob sich.

 

Auch er stand langsam auf. Er war zwischen ihr und der Tür, und wenn sie ins Freie gehen wollte, mußte sie an ihm vorüber. Aus einem Grund, über den sie sich nicht klar wurde, scheute sie sich aber, sich ihm zu nähern.

 

»Gehen Sie bitte voraus.«

 

Aber er blieb stehen und sah sie so sonderbar an, daß sie in Verwirrung geriet und aufs neue errötete. Rasch trat er auf sie zu und schloß sie in die Arme. Sie ließ es geschehen und lehnte den Kopf glücklich an seine Brust.

 

*

 

»Mary!«

 

Sie löste sich schnell aus Erics Umarmung und strich in größter Eile ihr Haar zurecht.

 

»Ach, das ist mein Großvater«, sagte sie bestürzt. »Ich habe ihm den Tee nicht gebracht. Er ist schon im Garten! Und ich habe gar nicht gehört, daß er die Treppe heruntergekommen ist!«

 

»Das war auch wohl nicht möglich«, erklärte Eric fröhlich. »Ich habe ihn nämlich heute morgen schon draußen getroffen. Ich war sehr erstaunt, als du mir erzähltest, daß er noch schlafen würde …«

 

Sie warf ihm einen entrüsteten Blick zu und stürzte dann In den Garten hinaus. Aber im Vorbeigehen streichelte sie ihn.

 

»Hast du Mr. Stanton gesehen?« fragte John President besorgt. »Ich habe ihn doch hierhergeschickt. Ach, da ist er ja«, sagte er und sah Eric lächelnd an, als dieser ebenfalls in den Garten heraustrat. »Du bist wohl erstaunt, daß du mich hier siehst«, meinte der alte Herr lachend und klopfte sie auf die Wange. »Aber du siehst ja so erhitzt aus, Mary«, sagte er dann verwundert. »Hast du denn den ganzen Morgen am Herd gestanden?«

 

»Nein.« Sie wurde noch verlegener. »Ich habe – wir haben zusammen Tee getrunken – gefrühstückt.«

 

John President schüttelte den Kopf.

 

»Wer sorgt denn jetzt für mich?«

 

Er schaute Eric bedeutungsvoll an, dann nahm er ihn am Arm und ging mit ihm durch den Garten.

 

»Ich verstehe vollkommen«, sagte er nur.

 

Ein tiefes Schweigen folgte.

 

»Sie haben das Recht, Genaueres über mein Leben zu erfahren«, begann John President nach einiger Zeit. »Sie haben gehört, was Wilton neulich auf dem Rennplatz sagte … Es stimmt alles. Ich habe im Jähzorn meine, Frau erschossen. Aber was im allgemeinen nicht bekannt wurde, ist die Tatsache, daß ich auf ihren Bruder schoß und unglücklicherweise sie traf. Ich hatte mich furchtbar über ihn aufgeregt, und ich war damals noch jung und heißblütig. Bei dem Gerichtsverfahren wurden mir mildernde Umstände zuerkannt. Die Richter zogen in Betracht, wie schwer ich für mein Vergehen gestraft war, und verurteilten mich nicht zum Tode. Ich wurde nach Australien deportiert. Denken Sie sich, Mr. Stanton«, fuhr er mit bitterer Stimme fort, »ich stand damals am Beginn einer bedeutenden Laufbahn. Man hielt mich für einen großen Erfinder, der seiner Zeit viel nützen würde. Meine Frau war mir plötzlich genommen – ich hatte sie durch meine eigene Schuld verloren. Auch meine beiden Kinder hatte ich nicht mehr bei mir. Australien war damals noch ein verrufenes Land. Ich war fast von Sinnen, als ich dort anlangte. Niemals blieb ich lange in Gefangenenlagern, denn ich war ein sehr unruhiges Element und plante alle möglichen Anschläge gegen die Gefängnisleitung. Deshalb wurde ich schließlich zur Strafe an Bord des Dampfers ›President‹ gesandt. Sechs Jahre, mußte ich auf diesem, erbärmlichen Kasten aushalten. Ich war fast verzweifelt, aber dann bekam ich einen Brief von einem alten Freund aus England, der mir berichtete, daß er meine beiden Kinder zu sich genommen hätte und für sie sorgen wolle. Ihretwegen machte ich mir die schwersten Vorwürfe. Später schrieb er mir, daß sie nur auf den Tag warteten, an dem sie zu mir nach Australien kommen könnten. Das gab mir wieder Lebensmut. Ich hatte eine Unterredung mit Colonel Champ, der damals das Gefangenenlager beaufsichtigte und viel für die Leute tat, die seiner Obhut anvertraut waren. Ich sagte ihm, daß ich mich bessern wollte. Er glaubte mir auch und half mir. So wurde ich in einem wissenschaftlichen Institut beschäftigt und konnte dort in einem Laboratorium arbeiten. Ich machte wichtige Entdeckungen, die mich später zur Erfindung des biegsamen Glases brachten. Nachdem ich genügend Proben meiner Befähigung abgelegt hatte, kam ich in das Regierungslaboratorium und arbeitete unter dem jungen Dr. Lubbock.

 

Damals machte ich auch die Bekanntschaft eines gewissen John Cotton, der sich jetzt John Pentridge nennt. Wir waren zusammen in dem Laboratorium tätig, wo er die schweren Arbeiten zu verrichten hatte. Wir wurden gute Freunde. Er war so begabt, daß er den Sinn meiner Experimente verstand und auch ihren Wert beurteilen konnte. Ich arbeitete damals fieberhaft, um mir einen großen Erfolg zu sichern, denn ich hatte immer die Absicht, mit meinen Kindern in guten Verhältnissen zu leben, wenn ich freigelassen würde. Meine Freunde in England halfen, mir, und ich wurde schließlich am selben Tage wie John Pentridge entlassen. Wir logierten in einem kleinen Hotel in Melbourne und arbeiteten später in der gleichen Fabrik. Wenn wir abends zurückkamen, experimentierten wir noch zusammen. Ich fand eine neue Methode, Schafwolle zu färben, und nun brauchte ich nicht mehr in der Fabrik zu arbeiten. Meine Einnahmen wuchsen ständig, und ich konnte meine Studien in aller Muße betreiben. Meine beiden Kinder kamen zu mir nach Australien. Wir lebten glücklich zusammen, und die Jahre vergingen. Die beiden wuchsen auf, und meine Tochter heiratete. Mary ist ihr Kind. Mein Sohn fiel in den Kolonialkriegen in Afrika. Damals erfand ich das biegsame Glas und stellte die genaue Formel auf. Ich hatte für mich eine Scheibe Glas hergestellt, die so biegsam war wie Pappe. Aber ich hatte mich überarbeitet und wurde sehr schwer krank. Weil ich fürchtete, daß ich sterben müßte, schrieb ich den ganzen Herstellungsprozeß auf. Nachher packte mich das Fieber, und ich lag lange besinnungslos. Erst drei Wochen später kam ich wieder zum Bewußtsein, war aber noch sehr schwach und krank. In der Zwischenzeit war John Pentridge aus Australien verschwunden und hatte mir die Papiere gestohlen. Das ist in groben Umrissen die Geschichte meines Lebens.«

 

Eric hatte schweigend zugehört. Er empfand tiefes Mitgefühl für den alten Mann.

 

»Zehn Jahre lang habe ich in Australien nach John Pentridge gesucht«, fuhr John President fort. »Nun habe ich ihn hier gefunden, aber ich fühle, daß es vergeblich ist.«

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Stanton überrascht.

 

»Die Papiere sind nicht mehr in seinem Besitz. Das erkannte ich sofort, als er mir in Sandown so unverschämt entgegentrat. Er hat sie sicher veräußert.«

 

»Aber Sie können ihn doch zur Rechenschaft ziehen, und er muß Ihnen sagen, wo er sie gelassen hat!«

 

»Da kennen Sie John Pentridge schlecht«, erwiderte der alte Mann. »Aber jetzt wollen wir zu den Pferden gehen.«

 

Er änderte das Gesprächsthema, denn die Erinnerung an das schwere Leid seines Lebens nahm ihn zu sehr mit.

 

»Ich glaube, ich bin zu alt geworden, um noch zu hassen«, sagt er, während sie über das ebene Gelände gingen. »Ich habe verschiedene Detektive engagiert, um Pentridge ausfindig zu machen, und jetzt, da ich ihn gefunden habe, weiß ich nicht, was ich mit ihm machen soll.«

 

»Warum stellen Sie denn nicht jemand an, der Ihnen die Schriftstücke wieder beschafft?«

 

Eric war ein gutmütiger Mensch, der stets bereitwillig anderen helfen wollte, und seiner Meinung nach war das wieder eine Aufgabe für Milton Sands.

 

*

 

John Pentridge hatte eine Einladung nach Pennwaring erhalten, aber er zögerte, die Gastfreundschaft Sir Georges anzunehmen. Sein Auftreten hatte sich vollkommen geändert, nachdem er John President gesehen hatte. Er ging in seinem Hotelzimmer unruhig auf und ab, hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und den Kopf auf die Brust gesenkt. Er dachte darüber nach, ob es nicht besser wäre, wieder nach Frankreich zurückzukehren. Seine Stimmung war trüb, als Milton Sands in sein Zimmer trat.

 

Pentridge wandte sich sofort um, als sich die Tür öffnete.

 

»Wer sind Sie?« fragte er. »Wissen Sie nicht, daß dies mein Zimmer ist? Wie kommen Sie dazu, mich unangemeldet zu stören?«

 

»Beruhigen Sie sich, Penty«, erwiderte Sands leichthin.

 

Pentridge erkannte in ihm sofort einen Zeugen jenes Auftritts auf der Rennhahn, und es überkam ihn plötzlich eine ungewisse Furcht. Wahrscheinlich hatte dieser Besuch mehr zu bedeuten. Dieser Mann schien offenbar ein Freund John Presidents zu sein.

 

»Es hat keinen Zweck, daß Sie hierherkommen, um mich auszuholen«, sagte er ärgerlich. »Damit haben Sie kein Glück bei mir.«

 

»Ja, das ist mir klar«, entgegnete Milton und rückte einen Stuhl an den kleinen Tisch in der Mitte des Raums. »Trotzdem möchte ich einige Fragen an Sie richten, die Sie mir sicher gern beantworten werden. Sie sind doch der Mann, der Monsieur Soltescu die Formel des biegsamen Glases verkauft hat?«

 

»Ich lehne es ab, diese Frage zu beantworten«, erklärte Pentridge hartnäckig.

 

»Ich bin aber von Soltescu hierhergeschickt worden«, entgegnete Milton Sands lächelnd. »Er schrieb mir heute morgen einen Brief und bat mich darin, Sie aufzusuchen. Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen das Schreiben ja zeigen.«

 

Er griff in die Tasche und brachte den Brief zum Vorschein.

 

Pentridge betrachtete ihn argwöhnisch.

 

»Wie kann ich wissen, daß dieser Brief von Soltescu ist?«

 

»Beweise kann ich Ihnen dafür nicht geben. Sie müssen eben auf mein Wort glauben, daß der Brief von ihm ist.«

 

Pentridge las ziemlich lange, denn Soltescu hatte keine besonders leserliche Handschrift.

 

»Die Sache scheint in Ordnung zu sein«, brummte er. »Was wollen Sie denn von mir wissen?«

 

»Sie haben doch Soltescu die Beschreibung des Herstellungsprozesses verkauft?«

 

Pentridge nickte.

 

»Wie kamen die Papiere in Ihren Besitz?«

 

»Ich habe sie von einem Freund bekommen«, antwortete Pentridge ausweichend.

 

»Ich nehme an, daß Sie sie gestohlen haben, und zwar von eben diesem Freund. Aber ich möchte gern wissen, wer dieser Freund war, dem Sie die Papiere entwendeten, und unter welchen näheren Umständen Sie dies taten. Diese Einzelheiten sind für Monsieur Soltescu sehr wichtig. Ein Komitee auf der großen Ausstellung in Lyon hat nämlich eine Belohnung von hunderttausend Pfund für die Erfindung des biegsamen Glases ausgesetzt. Und dabei ist gar nicht einmal bekannt, daß ein solches Glas schon erfunden worden ist. Aber wenn Soltescu die Erfindung zur Prämiierung einreicht, muß er wissen, wer der Erfinder ist, und wir müssen noch viele. Details darüber in Erfahrung bringen.«

 

Pentridge ging in seinem Zimmer auf und ab und blickte düster vor sich hin.

 

»Wie lange dauert es, bis ein Diebstahl verjährt?«

 

Milton wußte sofort, worauf der Mann hinauswollte.

 

»Für den Staatsanwalt verjährt ein Verbrechen allerdings, aber nicht für den Bestohlenen und seine Schadenersatzansprüche. Aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Sie nicht angeklagt werden sollen.«

 

»Dann will ich Ihnen erzählen, wie die Geschichte kam«, erwiderte John Pentridge nach einer längeren Pause. »Ich hatte einen Freund in New South Wales, einen tüchtigen Erfinder. Er war der klügste Mensch, der mir jemals in meinem Leben begegnet ist. In Pentridge war er der älteste Gefangene, aber auch der schlaueste. Vor vielen Jahren wurde er deportiert, weil er seine Frau erschossen hatte. Er war ein schwer zugänglicher Mann, bis er sich plötzlich vollständig änderte. Er arbeitete die ganze Zeit an Erfindungen, und als er schließlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, half ich ihm, denn ich kannte seine Methoden und war an die Zusammenarbeit mit ihm gewöhnt.«

 

Wieder machte er eine Pause.

 

»Dieser Mann hat auch die Herstellung von biegsamem Glas erfunden. Ich glaubte, daß er sterben würde – und –«

 

»Und da haben Sie sich mit den Aufzeichnungen über den Herstellungsprozeß aus dem Staube gemacht!«

 

»Aus dem Staube gemacht habe ich mich nicht. Ich bin von Australien abgereist. Das ist die ganze Geschichte.« »Wer war denn der Mann, den Sie bestohlen haben?«

 

Pentridge hatte die Überzeugung, daß Sands nicht für John President arbeitete.

 

»Das werde ich Ihnen nicht erzählen«, sagte er nach einer kleinen Weile. »Das müssen Sie selbst herausbringen. Der Mann ist tot.« Bei diesen Worten sah er Sands prüfend an.

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz gewiß?«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte Pentridge laut. »Glauben Sie, ich lüge Ihnen etwas vor?«

 

»Ich habe mir die Sache noch nicht genau überlegt. Aber wenn mir jemand das sagte, wäre ich nicht sehr erstaunt.«

 

»Monsieur Soltescu kann Ihnen verraten, wer es war. Der Name stand auf dem Briefumschlag.«

 

»Unglücklicherweise hat Soltescu den Briefumschlag vernichtet und kann sich nicht mehr auf den Namen besinnen.«

 

Milton sah, daß Pentridge erleichtert aufatmete.

 

»Nun, ich kann es Ihnen auch nicht sagen«, erklärte er kurz.

 

»Dann wäre noch etwas zu besprechen. Sie hatten einen alten Freund, mit dem Sie in früheren Jahren häufig zusammen gesehen worden sind. Sie kannten ihn schon in Australien, und er kam mit Ihnen nach Europa. Vor einiger Zeit fand man ihn in Monte Carlo ermordet auf.«

 

»Ermordet?« rief Pentridge bestürzt. Er war bleich geworden, und seine Hände zitterten. »Was wollen Sie damit sagen?«

 

»Nichts Besonderes. Er wurde mit zertrümmertem Schädel im Garten einer leerstehenden Villa aufgefunden. Und er wurde an dem Abend ermordet, an dem ich und Sie Monte Carlo verließen.«

 

»An dem Abend war ich nicht in Monte Carlo«, sagte Pentridge schnell.

 

»Selbstverständlich waren Sie dort. Sie spielten an demselben Tisch mit mir und wurden später aus dem Kasino gewiesen, weil Sie durch Ihr Benehmen die anderen Spieler störten.«

 

»Ich weiß nichts davon«, erwiderte Pentridge düster. »Auf keinen Fall hatte ich eine Ahnung, daß der Mann in Monte Carlo war.«

 

»Er hat Ihnen damals bei dem Diebstahl der Papiere in Australien geholfen, soviel ich weiß. Auf jeden Fall konnte ich feststellen, daß Sie beide von Melbourne mit demselben Dampfer abfuhren. War er der Erfinder?«

 

»Nein«, entgegnete Pentridge gereizt.

 

»Haben Sie eine Ahnung, warum der Mann ermordet wurde?«

 

Pentridge schwieg.

 

»Wissen Sie vielleicht, wer der Mörder ist?«

 

Wieder keine Antwort.

 

»Gab es einen triftigen Grund, aus dem Sie ihn getötet haben könnten?«

 

Pentridge wandte sich ärgerlich um.

 

»Wer sagt, daß ich ihn umgebracht habe?«

 

»Ich setze nur den Fall«, erklärte Milton liebenswürdig. »Ich will die Behauptung nicht ohne weiteres aufstellen.«

 

Damit erhob er sich und zog seine Handschuhe an.

 

»Ich sehe, daß ich die Informationen, die ich brauche, nicht von Ihnen bekommen kann.«

 

»Wohin wollen Sie gehen?« fragte Pentridge nervös.

 

»Ich setze meine Nachforschungen anderweitig fort.«

 

Als Milton Sands in das Auto stieg, das draußen auf ihn wartete, war er sich darüber klar, daß er Pentridge wohl einen heilsamen Schrecken eingejagt, sonst aber nicht viel erreicht hatte. In wessen Besitz mochten sich die Papiere jetzt befinden? Und wer war wohl ihr ursprünglicher Eigentümer? Wenn es ihm gelang, diesen Punkt aufzuklären, war viel gewonnen. Es war merkwürdig, daß er mit keinem Gedanken an John President dachte. Als Mary seine Hilfe gegen Bud Kitson in Anspruch nahm, glaubte er, daß sie nur deshalb in Verdacht gekommen war, weil sie das Zugabteil neben Soltescu innegehabt hatte. Er hielt den Verdacht des Rumänen damals für vollkommen unbegründet. Jetzt grübelte er darüber nach, ob nicht vielleicht doch mehr hinter der Sache stecke, als er vermutet hatte. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe, und er kam deprimiert zu seinem Büro zurück. Aber es gab ja einen sehr einfachen Weg, dies festzustellen. Er brauchte doch nur Miss President selbst zu fragen. Als er eintrat, begrüßte er zuerst Janet, die eifrig die Morgenzeitungen durchstudierte. Dann nahm er einige Telegrammformulare aus seinem Schreibtisch und schrieb schnell.

 

»Ich muß aufs Land reisen, um mit Miss President zu sprechen.«

 

»Wie lange bleibst du fort?«

 

»Höchstens zwei Tage.«

 

»Du hast große Sorgen«, sagte sie schnell.

 

»Warum sollte ich denn große Sorgen haben?« protestierte er. »Ich war noch nie so lustig und vergnügt in meinem Leben.«

 

»Wie steht es denn mit deinen anderen Arbeiten? Hast du die Schwester Mr. Stantons gefunden?«

 

»Nein, bis jetzt habe ich noch keine Spur von ihr entdecken können.«

 

Sie sah ihn lange und nachdenklich an.

 

»Mir ist eine Idee gekommen«, sagte sie zögernd, »aber ich wage kaum, sie auszusprechen.«

 

»Was ist denn?« fragte er neugierig. »Ich bin dankbar für jede Anregung, die du mir geben kannst. Die Sache mit Miss Stanton fällt mir mit der Zeit auf die Nerven.«

 

»Vor vielen Jahren habe ich einmal Sir George Frodmeres Schwester kennengelernt. Jedenfalls war sie mit meiner Mutter bekannt.«

 

»Ich glaube, daß ich auch schon von ihr gehört habe«, erwiderte Milton lächelnd. »Sie ist die Dame, die leichtsinnig Dienstboten empfiehlt, wenn ihr Bruder es wünscht.«

 

»Darüber bin ich nicht orientiert. Aber ich weiß, daß sie sehr viel klatscht. Es ist während der letzten zwanzig Jahre kaum etwas in London passiert, was sie nicht wüßte. Vielleicht könnte dich diese Frau auf die Spur bringen.«

 

»Das ist tatsächlich eine gute Idee«, meinte er nachdenklich. »Ich will sie sofort aufsuchen, wenn ich von meiner Reise zurückkomme.«

 

Um zwei Uhr nachmittags fuhr er nach Sussex, aber er blieb nicht die beabsichtigten zwei Tage aus, sondern kam schon am selben Abend um elf Uhr wieder zurück. Die Nachrichten, die er erhalten hatte, stimmten ihn sehr nachdenklich und brachten ihm viel Arbeit. Als der graue Morgen dämmerte, und das erste Frühlicht durch die Fenster seines Schlafzimmers schien, saß er noch am Tisch und schrieb.

 

Kapitel 16

 

16

 

Als Sands Mrs. Gordon Thompson aufsuchte, war es bereits Nachmittag, aber sie saß immer noch in ihrem Morgenrock da und legte Patience. Sie war eine ungewöhnliche Frau, und obwohl sie noch nicht einmal frisiert war, ließ sie Milton Sands sofort in ihr Zimmer eintreten.

 

»Wie geht es Ihnen?« fragte sie und begrüßte ihn mit einem Kopfnicken. »Nehmen Sie sich bitte einen Stuhl.« Sie unterbrach ihr Kartenspiel nicht. »Wir haben uns doch schon irgendwo getroffen?«

 

»Ja, ich glaube vor einiger Zeit in Enghien.«

 

»Oh, ich entsinne mich. Sie sind der Mann, der damals beim Spiel so großes Glück hatte.«

 

»Es ist möglich, daß ich damals mehr Glück hatte als jetzt.«

 

Sie legte die Karten zusammen, lehnte sich zurück und betrachtete ihn aufmerksam.

 

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Sands?«

 

»Oh, Sie können mir sehr viel helfen«, sagte er freundlich, um ihre Sympathie zu gewinnen. »Auf jeden Fall denkt meine Freundin Janet Symonds das.«

 

»Ach, sehen Sie, die kleine Janet!« rief Mrs. Thompson interessiert. »Was macht sie denn?«

 

»Augenblicklich ist sie meine Sekretärin.«

 

»Und welchen Beruf haben Sie zur Zeit?«

 

»Ich bin in gewisser Weise ein Privatdetektiv.«

 

»Welches Spezialfach?« .

 

Mrs. Thompson interessierte sich nun sehr für ihn, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen.

 

»Ich suche nach bestimmten Leuten, und Miss Symonds dachte, daß Sie mir dabei behilflich sein könnten. Sie sagt, daß Sie seit Jahren alle Leute in London kennen, die eine Rolle gespielt haben, und daß Sie …« Er zögerte, weiterzusprechen.

 

»Daß Sie alle Skandalgeschichten wissen, die sich in dieser Zeit abgespielt haben«, ergänzte sie belustigt. »Ja, die kleine Janet hat nicht so ganz unrecht.«

 

Mit wenigen Worten erklärte ihr Milton nun sein Anliegen.

 

»Sie suchen nach Eric Stantons Schwester?« sagte sie nachdenklich. »Da haben Sie sich allerdings eine schwere Aufgabe gestellt. Ich weiß nicht viel. Mrs. Stanton trennte sich von ihrem Mann und wohnte kurze Zeit in einer Pension in Bayswater mit einem älteren Dienstmädchen zusammen. Ich habe sie nie kennengelernt. Manche Leute haben auch angenommen, daß sie nach Belgien gegangen wäre. Ich kann Ihnen nur einen einzigen Anhaltspunkt geben … Das Dienstmädchen hat einen Reitknecht geheiratet, einen entsetzlichen Kerl. Den Namen habe ich im Augenblick vergessen. Er kam in Schwierigkeiten und verschwand von der Bildfläche. Mein Bruder hat ihn früher beschäftigt.«

 

Plötzlich kam Milton eine Idee.

 

»Hieß der Mann nicht Buncher?« fragte er eifrig.

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Ja, richtig. Das war sein Name. Kennen Sie ihn denn?«

 

»Ich habe von ihm gehört«, sagte er schnell. »Halten Sie es für möglich, daß er weiß, wo das Kind geblieben ist?«

 

»Das möchte ich stark bezweifeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Seine Frau ist nur kurze Zeit bei Mrs. Stanton im Dienst gewesen. Aber immerhin könnte sie etwas wissen.«

 

»Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, diese Frau ausfindig zu machen, aber bisher ohne Erfolg. Jedenfalls bin ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«

 

»Janets Mutter hätte Ihnen viel helfen können, wenn sie noch lebte. Auf einen Empfehlungsbrief von Mrs. Stanton wurde ich nämlich mit den Symonds bekannt. Sehen Sie, so kommt es, daß ich wohl mit Mrs. Stanton korrespondiert habe, aber sie nicht persönlich kennenlernte. Sie und ihr Mann interessierten sich für eine der Aktiengesellschaften, die mein Mann gründete, und als er finanziell ruiniert war, schrieb sie mir einen sehr liebenswürdigen Brief. Ja, wenn ich es genau sagen soll, schickte sie mir etwas Geld, das ich damals dringend brauchte. Später hörte ich nichts mehr von ihr, bis sie mir von Brügge aus einen Empfehlungsbrief für die Symonds schrieb. Vielleicht weiß Janet das nicht. Ich lebte damals selbst in sehr traurigen Verhältnissen, aber ich tat alles, was in meinen Kräften stand.« Sie lächelte und sah ihn durchdringend an, als er sich erhob. »Ist eigentlich eine Belohnung für die Auffindung der Frau ausgesetzt?« fragte sie gespannt.

 

»Ja.

 

»Vergessen Sie nicht, daß ich einen Teil davon verdient habe«, erklärte sie mit bewunderungswürdiger Offenheit und nahm ihre Karten wieder auf. »Welches Pferd wird denn das Derby gewinnen?« fragte sie, als Milton schon in der Tür stand.

 

»Donavan«, erklärte er prompt.

 

»Da sind Sie aber schlecht beraten.« Sie verteilte die Karten auf dem Tisch.

 

»Ich glaube nicht.« Er schloß die Tür und verließ das Haus.

 

Eine Nachricht hatte er wenigstens erhalten, aber es war schwer, diesen Anhaltspunkt weiter zu verwerten, denn in Pennwaring hatte er sich nicht sehr beliebt gemacht. Hätte er vorher davon gewußt, so hätte er die Gelegenheit besser ausgenützt, die sich ihm damals bot. Trotzdem sagte er sich, daß er die Zeit in Sir Georges Haus äußerst nutzbringend angewandt hatte. Auf jeden Fall hatte er aufgeklärt, welche häßliche Rolle Toady Wilton bei dem Ehestreit der Stantons zugefallen war. Aber diese Sache war augenblicklich nicht so wichtig, da Lord Chanderson Toady ja schon genügend bloßgestellt hatte.

 

Sands hoffte eigentlich, daß er aus den Papieren Wiltons etwas über den Aufenthaltsort von Stantons Schwester erfahren würde. Er hatte geglaubt, daß Wilton stets in Verbindung mit dem jungen Mädchen geblieben war, um sie in einem günstigen Augenblick wieder auftreten zu lassen. Darin täuschte er sich aber. Wilton hatte keine Ahnung von ihrem jetzigen Aufenthalt.

 

Sands hatte mit Eric Stanton verabredet, daß sie in seinem Klub zu Mittag speisen wollten. Stanton war im Gegensatz zu seinem Freund in sehr froher Laune.

 

»Nun, Sie tun ja so, als ob Ihnen alle Felle weggeschwommen wären«, sagte er vergnügt.

 

»Ich bin nicht gerade in trüber Stimmung, aber ich habe viel erfahren, was mich sehr nachdenklich gemacht hat.«

 

»Mir geht es ähnlich. Bitte, wenden Sie Ihre volle Aufmerksamkeit jetzt der Wiederbeschaffung der verlorenen chemischen Formel für biegsames Glas zu. Ich hatte heute morgen eine längere Unterredung mit Mr. President. Und Sie wissen, daß das Komitee der Ausstellung in Lyon eine große Prämie für biegsames Glas ausgesetzt hat.«

 

Milton nickte.

 

»Der letzte Einsendetermin für die Lösung ist nächste, Woche. Und wenn es Ihnen gelingen sollte, diese Papiere zu finden, so würde das für Mr. President sehr viel bedeuten. Heute morgen noch sagte er, daß er es sehr bedauerte, die Lösung nicht einsenden zu können. Ich bin direkt gerührt über das Zutrauen, das er zu seiner Erfindung hat.«

 

»Ist er eigentlich reich?«

 

Stanton schüttelte den Kopf.

 

»Er lebt in ganz guten Verhältnissen und hat ein paar tausend Pfund zurückgelegt, aber er gibt für seine Pferde sehr viel Geld aus.«

 

»Für Donavan?«

 

»Ja. Und nach allem, was ich heute morgen sah, wird das Pferd das Derby gewinnen. Es hat Dean um mehrere Längen geschlagen, und zwar ohne die geringste Anstrengung. Ich habe selbst abgestoppt. Es hat die Meile fast in Rekordzeit zurückgelegt.«

 

»Ich bin davon überzeugt, daß es das Derby beinahe gewinnen wird.«

 

»Warum sollte Donavan nicht Sieger werden? Welches Pferd könnte denn sonst den ersten Platz belegen?«

 

Milton lächelte.

 

»Das Pferd von Sir George Frodmere.«

 

»Ist das tatsächlich Ihre Meinung? Glauben Sie, daß Portonius das Rennen macht?«

 

»Ich habe nur gesagt, daß Sir George Frodmeres Pferd das Rennen macht. Was nachher passiert, ist eine Sache für sich.«

 

»Sie sind ja heute sehr geheimnisvoll«, sagte Eric etwas unwillig. »Wollen Sie den Schleier nicht ein wenig lüften?«

 

»Da müssen Sie bis zum Rennen warten.«

 

Die beiden erhoben sich und verließen zusammen den Klub. Milton verabschiedete sich auf der großen Treppe.

 

»Mit der Auffindung Ihrer Schwester bin ich übrigens einen Schritt vorwärtsgekommen. Ich habe jetzt wenigstens einen Anhaltspunkt, der mir vielleicht weiterhilft. Und wegen Mr. Presidents Schriftstücken wird sich auch noch Rat schaffen lassen. Wann wird denn das Resultat des Wettbewerbs in Lyon bekanntgegeben?«

 

»Merkwürdigerweise an demselben Tag, an dem das Derby stattfindet.«

 

Milton nickte.

 

»Darm kann Mr. President vielleicht an diesem Tag einen doppelten Sieg buchen. Sollten wir uns nicht vorher treffen, so sehen wir uns jedenfalls bei dem Rennen in Epsom.«

 

Damit trennten sich die beiden.

 

*

 

Das kleine Haus, das Sir George seinem Trainer zur Verfügung gestellt hatte, lag an der verwahrlosten großen Fahrstraße, die die Ländereien durchschnitt. Sie war jetzt nicht mehr in Gebrauch, weil ihre Instandsetzung zuviel Geld gekostet hätte.

 

Eines Abends ging Mr. Buncher zum nahegelegenen Dorfwirtshaus. Seine Frau blieb zu Hause und atmete erleichtert auf, als die Tür ins Schloß fiel. Sie war hager und hatte in ihrer siebzehnjährigen Ehe harte Züge bekommen. Schwere Jahre lagen hinter ihr.

 

Sie saß in der Küche und fuhr erschreckt zusammen, als sie hörte, daß jemand an der Gartentür war. Zuerst glaubte sie, ihr Mann wäre zurückgekommen, und eilte hinaus. Aber draußen stand ein Fremder.

 

»Sind Sie Mrs. Buncher?« fragte er freundlich.

 

»Ja.«

 

Es war offenbar ein vornehmer Herr. Nicht nur seine Kleidung, auch sein Benehmen und seine Sprache ließen darauf schließen. Obendrein war er in einem Auto angekommen.

 

»Ich möchte Sie in einer dringenden Angelegenheit ein paar Minuten sprechen.«

 

Sie zögerte. Ihr Mann hatte ihr den strikten Auftrag gegeben, niemand in das Haus zu lassen. Aber einen solchen Fall hatte er wohl nicht vorausgesehen.

 

»Ich glaube, es ist Ihr Vorteil, wenn Sie mit mir sprechen«, erklärte Milton Sands.

 

Mrs. Buncher war sofort interessiert und schloß das Tor auf, wenn ihre Hände auch zitterten.

 

»Wollen Sie bitte nähertreten.«

 

Sie führte Milton in das Wohnzimmer und bot ihm einen Stuhl an.

 

»Ich will Sie nicht lange aufhalten«, sagte Milton, der absichtlich gewartet hatte, bis Mr. Buncher zu seinem Abendschoppen ins Dorf gegangen war. »Sie waren doch früher bei Mrs. Stanton im Dienst?«

 

Sie zögerte mit der Antwort, aber nach einer kleinen Pause bejahte sie die Frage.

 

»Es ist Ihnen auch bekannt, daß sich Mrs. Stanton von ihrem Mann trennte. Und ihre kleine Tochter mitnahm? Gingen Sie damals mit ihr?«

 

»Ja. Mrs. Stanton ist immer sehr gut zu mir gewesen; ihr Mann dagegen war ein abscheulich brutaler Mensch …« Sie wollte alle Einzelheiten des Falles erzählen, aber Milton hinderte sie daran.

 

»Wie lange waren Sie noch bei Mrs. Stanton, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte?«

 

Mrs. Buncher sah zur Decke und überlegte.

 

»Im ganzen zwei Jahre, ein Jahr in England und ein Jahr in Brügge. Dann kam ich mit ihr nach England zurück, mußte mich aber von ihr trennen, da sie nicht mehr genügend Geld hatte, um meinen Lohn zu bezahlen. Sie mußte sehr sparen.«

 

»Sie wissen doch, daß Mr. Stanton für die Auffindung seiner Schwester eine Belohnung ausgesetzt hat?«

 

Die Frau nickte.

 

»Ich habe davon gehört. Aber es hat keinen Zweck, daß ich mich darum bemühte; ich weiß ja selbst nichts Genaues.«

 

»Wo wohnte denn Mrs. Stanton, als sie nach London zurückkam?«

 

»In Hornsey – in einer Pension.«

 

Milton schrieb sich die Adresse genau auf.

 

»Können Sie mir vielleicht irgendein besonderes Erkennungszeichen nennen, das das Kind an sich hatte? Ein Muttermal, an dem man es erkennen könnte?«

 

»O ja, es hatte ein gelbliches Muttermal rund um das linke Fußgelenk. Es sah aus wie eine Schlange. Und das war merkwürdig, denn wir sagten immer –«, sie hielt plötzlich inne.

 

»Sprechen Sie doch weiter«, ermutigte sie Milton.

 

»Ich möchte nichts gegen Mr. Wilton sagen – er wohnt jetzt hier im Herrenhaus, aber Mrs. Stanton haßte ihn – und wir nannten ihn immer die Schlange.«

 

»Das ist wenigstens ein Anhaltspunkt«, meinte Milton lächelnd.

 

Die Unterhaltung der beiden wurde plötzlich durch ein lautes Klopfen an der Haustür unterbrochen, und die Frau sprang auf.

 

»Mr. Buncher!« rief Sir George von draußen.

 

»Sagen Sie Sir George nicht, daß ich bei Ihnen bin. Wo kann ich mich solange verstecken?« fragte Milton.

 

»Gehen Sie durch den hinteren Gang in die Küche«, erwiderte sie verstört, denn jetzt erinnerte sie sich wieder an den Auftrag ihres Mannes, niemand ins Haus zu lassen.

 

Sie wartete, bis Milton Sands das Zimmer verlassen hatte, und ging erst dann, um Sir George zu öffnen.

 

»Wo ist Ihr Mann?« fragte der Baronet scharf.

 

»Er ist ins Dorf gegangen.«

 

»Dann holen Sie ihn rasch.«

 

Er stand in der offenen Haustür und klopfte ungeduldig mit der Reitpeitsche an seine hohen Stiefel.

 

Die Frau zögerte eine Sekunde, aber dann machte sie sich auf den Weg. Sie hoffte nur, daß der unbekannte Fremde seine Anwesenheit nicht verraten würde.

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch vollkommen sicher?« wandte sich Sir George an Toady, der ihn begleitet hatte.

 

»Vollkommen. Ich habe mich bestimmt nicht getäuscht.«

 

»Ich dachte, er würde England an dem Tag vor dem. Derby verlassen?«

 

»Vielleicht hat er Urlaub bekommen, oder er ist auf ein anderes Schiff versetzt worden.«

 

»Das ist allerdings ein unglücklicher Zufall.«

 

Die beiden gingen langsam den Gartenweg auf und ab, der am Haus vorbeiführte, und blieben schließlich eine Weile vor dem Küchenfenster stehen.

 

»Daß dieser niederträchtige Zahlmeister sich ausgerechnet für Rennen interessieren muß, ist schlimm genug. Daß er bei dem Derby zugegen sein wird, ist noch schlimmer, aber am schlimmsten ist es, daß er hierhergekommen ist. Es ist einfach katastrophal, daß er nach – Pennwaring geht, um zu spionieren. Sind Sie sicher, daß er den Galopp gesehen hat?«

 

»Ganz sicher«, erklärte Toady. »Wenn Sie die Bemerkung gestatten, halte ich es entschieden für einen Fehler, das Pferd nachmittags laufen zu lassen. Während des Galopps kann man es ja glücklicherweise nicht beobachten, aber bei der Rückkehr zum Stall kommt der Gaul in einer Entfernung von hundert Metern an der Mauer vorbei. Ich beobachtete Buncher, als er das Pferd zum Stall zurückführte. Dabei sah ich mich zufällig um und entdeckte unseren Zahlmeister. Er saß mit einem Feldstecher oben auf der Umfassungsmauer.«

 

Sir George sah düster drein und runzelte die Stirn.

 

»Er hat uns schon lange im Verdacht. Erinnern Sie sich noch, was er alles sagte, als wir auf den Dampfer kamen? Er meinte, es sei doch sehr zu bedauern, daß El Rey zu einem Gestüt geschickt würde, da er noch so manches Rennen gewinnen könnte. Der hat damals schon etwas gemerkt. Und nun ist er hergekommen, um sich von der Richtigkeit seiner Vermutung zu überzeugen. Was haben Sie denn gemacht?«

 

Toady warf sich in die Brust.

 

»Ich habe vor allem nicht den Kopf verloren«, erwiderte er stolz. »Ich sah nur einen Augenblick zu ihm auf und war sofort auf der Höhe. In solchen Momenten der Gefahr stehe ich immer meinen Mann.«

 

»Reden Sie nicht soviel von sich selbst«, entgegnete Sir George ärgerlich. »Ich will wissen, was passiert ist. Was Sie in gefährlichen Augenblicken machen, weiß ich zur Genüge. Ich habe da meine bösen Erfahrungen mit Ihnen.«

 

»Ich wünschte ihm einfach guten Tag und sprach ein paar Worte mit ihm über das Pferd. Dann fragte ich ihn, ob er einmal zum Stall kommen wollte, um sich den Gaul näher zu besehen. Und er nahm mein Anerbieten an.«

 

»Wenn wir mit Buncher gesprochen haben, müssen wir uns entscheiden, was wir tun wollen.« Sir George schlug mit der Faust in die flache Hand. »Ich brauche dringend größere Summen. Wenn etwas schiefgeht und etwas dazwischenkommt, weiß ich nicht, wie ich durchhalten soll. Wir müssen vor allem herausbringen, wieviel der Zahlmeister weiß, und wieviel er vermutet. Aber das eine kann ich Ihnen nur sagen, er muß um jeden Preis zum Schweigen gebracht werden.«

 

Toady nickte. Er hatte die gefährliche Situation vollkommen erfaßt. Auch ein großer Teil seines eigenen Geldes war auf Portonius gesetzt.

 

»Hier ist er schon«, sagte Sir George leise.

 

Sie waren langsam nach vorne gegangen und standen jetzt an der Haustür, von der aus man die Gartentür beobachten konnte. Der Fremde kam zu gleicher Zeit mit Mr. Buncher und seiner Frau. Sie warf einen ängstlichen Blick auf das Küchenfenster, konnte aber von dem früheren Besucher nichts sehen und hoffte nur, daß er die erste beste Gelegenheit benützt hatte, um sich aus dem Staube zu machen. Sir George wies vielsagend mit dem Kopf auf die Frau.

 

»Schon gut«, brummte Buncher. »Ich brauch dich nicht mehr. Wir wollen allein miteinander reden.«

 

»Wollen Sie ins Wohnzimmer gehen?« fragte sie furchtsam.

 

»Nein, wir sprechen hier draußen. Ach, hier ist ja Mr. Delane.«

 

Sir George erkannte ihn trotz des schwachen Lichtes sofort. Es war tatsächlich der Zahlmeister des Dampfers, auf dem El Rey nach England transportiert worden war.

 

Buncher maß den Fremden mit düsteren Blicken und brummte etwas, das man nicht verstehen konnte.

 

»Wie ich hörte, haben Sie mein Pferd beim Training gesehen?« begann Sir George.

 

Der Zahlmeister nickte.

 

»Nun, was halten Sie von ihm?« fragte der Baronet leichthin.

 

Mr. Delane antwortete nicht gleich, sondern schien sich seine Worte genau zu überlegen.

 

»Es macht sich sehr gut«, sagte er schließlich.

 

»Haben Sie seinen Galopp gesehen?«

 

»Nur das Finish.«

 

»Wirklich ein gutes Pferd. Sind Sie nicht auch der Meinung?« fragte Sir George anscheinend harmlos. Aber er ließ den Mann nicht aus den Augen und beobachtete ihn scharf.

 

»Außerordentlich gut in Form«, entgegnete Mr. Delane sachlich. Aber seine Worte schienen eine besondere Bedeutung zu haben.

 

»Glauben Sie, daß es das Derby gewinnen wird?«

 

Der Zahlmeister nickte.

 

»Ja, der Gaul geht als erster durchs Ziel«, erklärte er überzeugt.

 

»Ich verstehe vollkommen.«

 

Sir George blickte eine Weile dumpf brütend vor sich hin, dann sah er plötzlich auf.

 

»Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mit mir zum Herrenhaus kämen«, sagte er.

 

Der Zahlmeister lächelte.

 

»Das geht leider nicht, Sir George«, entgegnete er höflich. »Ich muß heute abend noch nach London zurückfahren.«

 

»Kommen Sie zu den Rennen nach Epsom? Ich dachte, Sie wären schon auf See …«

 

»Eigentlich war es ja auch so bestimmt, aber ich wurde auf ein anderes Schiff versetzt, und die Gesellschaft gibt mir bis dahin Urlaub.«

 

Ein peinliches Schweigen trat ein.

 

»Sind Sie eigentlich schon einmal in Bukarest gewesen?« fragte Sir George dann unvermittelt.

 

»Nein«, erwiderte Mr. Delane erstaunt. »Warum fragen Sie danach?«

 

»Ich überlegte mir gerade, ob Sie einen geschäftlichen Auftrag für mich übernehmen wollten. Ich erwarte in nächster Zeit wichtige Nachrichten, die es notwendig machen, daß ich einen Vertreter in Bukarest habe. Und ich glaube, daß Sie sich für den Posten vorzüglich eignen würden. Auf diese Weise könnten Sie Ihren Urlaub nutzbringend verwerten. – Sie müßten nach Bukarest gehen, wo Sie im besten Hotel wohnen würden. Warten Sie dort, bis Sie meine weiteren Anweisungen erhalten. Ich bin bereit, Ihnen für Ihre Mühe sehr anständig zu zahlen. Etwa fünfzig Pfund wöchentlich für Ihre Spesen, und weitere fünfzig Pfund für die Dienste, die Sie mir leisten. Es würde sich um eine Zeit von etwa sechs Wochen handeln. Nebenbei könnten Sie die schöne Gegend am Schwarzen Meer kennenlernen. Und –«

 

»Und auf diese Art und Weise würde ich aus England entfernt sein. Nein, Sir George, ich muß Ihren Auftrag ablehnen.«

 

» Vielleicht willigen Sie ein, wenn ich Ihnen zweihundert Pfund die Woche bewillige. Das wären im ganzen eintausendzweihundert Pfund – das ist doch wirklich eine sehr gute Bezahlung für so kurze Zeit.«

 

Der Zahlmeister war nicht gerade reich, und er zögerte. Schließlich war es ja nicht seine Sache, sich in diese Affäre einzumischen. Hier bot sich eine Gelegenheit wie vielleicht nie wieder in seinem Leben. Er war sonst ein absolut ehrlicher Mann. Aber Sir George hatte ja nichts gesagt, was ihm die Annahme des Vorschlags unmöglich gemacht hätte.

 

Dieser englische Baronet hatte so vielfache Interessen, daß er vielleicht tatsächlich wichtige geschäftliche Transaktionen in Bukarest vornehmen mußte.

 

»Ich will mir die Sache noch überlegen.«

 

»Treffen Sie Ihre Entscheidung lieber jetzt«, sagte Sir George mit freundlichem Lächeln, »und fahren Sie heute abend noch nach Rumänien ab. Sind Sie eigentlich verheiratet?«

 

Mr. Delane schüttelte den Kopf.

 

»Sehen Sie, das macht die Sache ja noch bedeutend leichter. Sie können den Zehnuhrzug von Liverpool Street über Hoek van Holland noch erreichen und dann in Amsterdam den Orientexpreß benützen. An Ihrer Stelle würde ich sofort annehmen.«

 

Der Mann zögerte immer noch. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß er anders handelte, als er beabsichtigte. Aber schließlich hatte diese Rennangelegenheit ja nichts mit ihm zu tun. Er wußte nicht einmal genau, ob hier wirklich ein Schwindel durchgeführt werden sollte. Und graue Pferde sahen einander für gewöhnlich ziemlich ähnlich. Es bestand kein großer Unterschied.

 

»Während Ihres Aufenthalts in Bukarest können Sie ja schließlich auch Soltescus Gestüt und El Rey besuchen.«

 

Sir George sagte das so gleichgültig, als ob er nicht viel Wert auf die Entscheidung des Zahlmeisters legte. Aber mit dieser geschickten Äußerung gelang es ihm, das Gewissen Delanes zu beruhigen.

 

»Ich werde noch heute abend fahren«, erklärte dieser.

 

»Gut, kommen Sie mit in mein Haus, damit wir den Vertrag abschließen können«, sagte Sir George und ging voraus.

 

Unterwegs unterhielt er sich noch angeregt mit Mr. Delane über alle möglichen Dinge, nur nicht über Pferde.

 

Da Mr. Buncher nicht fortgeschickt worden war, schloß er sich ihnen an. Das war günstig für Milton Sands, denn nun konnte er sich ungesehen davonschleichen.

 

Kapitel 17

 

17

 

Eine Woche war vergangen, in der Milton Sands alle Hände voll zu tun hatte.

 

John President war von morgens bis abends auf den Beinen und dauernd mit seinem Lieblingspferd beschäftigt.

 

Am Sonnabend vor dem Rennen in Epsom schien es so, als ob die Leute nur noch über die Aussichten der einzelnen Pferde in dem Derby sprechen würden.

 

Eric Stanton ritt mit Milton über die Ebene. Am Abend vorher hatte er John President besucht und mit ihm über Donavan gesprochen. Der alte Herr hatte unerschütterliches Zutrauen zu seinem Pferd und war so optimistisch, als ob er mindestens fünfzig Jahre jünger wäre.

 

Milton Sands war zu Gast bei Stanton, der in der Nähe einen größeren Landsitz hatte.

 

»Ich mache mir keine Sorgen darüber, daß der alte President eventuell sein Geld verlieren wird«, sagte Eric. »Einen solchen Schaden kann man leicht wieder gutmachen. Aber ich fürchte den niederschmetternden Eindruck, den eine Niederlage Donavans auf ihn machen wird. Er ist wirklich sehr alt, und er glaubt felsenfest an den Erfolg seines Pferdes. Ich weiß nicht, ob er eine Niederlage Donavans überstehen wird. Und ich habe einen ganz besonderen Grund, warum ich ihn gerade jetzt glücklich und zufrieden sehen möchte.«

 

Milton schaute ihn verständnisvoll an.

 

»Ich glaube, ich verstehe den Zusammenhang. Aber Sie müssen mir jetzt Ihr volles Vertrauen schenken. Meiner Meinung nach kommt es gar nicht darauf an, was in Epsom passiert.«

 

»Wie meinen Sie denn das?« fragte Eric erstaunt.

 

»Genauso, wie ich es sage. Sie müssen mir gestatten, daß ich nicht alle meine Geheimnisse ausplaudere. Ich bin eben ein Detektiv. Gestern traf ich Soltescu. Er war in bester Stimmung und beging die Taktlosigkeit, mich an einen Spielverlust zu erinnern, den er mir früher beibrachte. Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr sagen, aber gerade jetzt habe ich alle Hände voll zu tun. Vor allem beschäftige ich mich mit Ihrer Privatangelegenheit, und ich hoffe, bald vorwärtszukommen. Die Dinge entwickeln sich.«

 

»Haben Sie tatsächlich Hoffnung, meine Schwester zu finden?« fragte Eric schnell.

 

»Ja, ich habe sogar große Hoffnung. Es ist mir gelungen, die Spuren Ihrer Mutter und Ihrer Schwester bis zu einer Pension in einer Vorstadt Londons zu verfolgen. Dort werde ich wahrscheinlich weitere Anhaltspunkte erhalten.«

 

Eric nickte.

 

»Sie wissen nicht, wieviel das für mich bedeutet. Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht an meine Schwester denke. Es kommt mir so vor, als ob ich sie um ihr Geld betröge. Ich lebe hier in Wohlsein und Luxus, während sie sich vielleicht mühselig durchkämpfen muß und in bitterer Armut steckt.«

 

Milton klopfte ihm auf die Schulter.

 

»Ich würde mir nicht zu große Sorgen machen«, erwiderte er freundlich. »In der nächsten Woche erleben wir allerhand Enthüllungen. Ich werde die Hauptrolle dabei spielen, und hoffentlich den Dank und den Applaus meiner Freunde ernten.«

 

Milton trennte sich von Stanton, weil er sich bei der Frau angemeldet hatte, in deren Pension Mrs. Stanton früher gewohnt hatte.

 

Madame Burford war inzwischen glückliche Besitzerin eines Privathotels in Brighton geworden, und dort suchte Milton sie auf.

 

Sie konnte sich deutlich an Mrs. Stanton erinnern und ihm viele wertvolle Einzelheiten mitteilen, die ihm bis dahin unbekannt waren, Mrs. Stanton war von Hornsey aus in eine andere Pension in Bloomsbury gezogen, die Madame Burford ihm angeben konnte, da sie sorgfältig Buch über die Adressen ihrer Mieter führte.

 

Als sie ihm den Namen und die Straße aufschrieb, sah sie ihn lächelnd an.

 

»Sie kommen aber verhältnismäßig spät, um sich zu informieren.«

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Sie sind schon der zweite, der sich bei mir nach Mrs. Stanton und ihrer Tochter erkundigt.«

 

»Wer hat denn vor mir nach ihnen gefragt?« sagte Milton erstaunt.

 

»Eine Dame, eine gewisse Mrs. Thompson.«

 

Milton unterdrückte einen Ausruf.

 

Warum interessierte sich plötzlich Mrs. Thompson für die Gesuchten? Aber dann fiel ihm die Belohnung ein, die Stanton ausgesetzt hatte, und er lächelte. Er mußte schnell arbeiten, wenn er nicht noch zu guter Letzt um die Früchte seiner Bemühungen kommen wollte.

 

Seine Furcht war begründet, denn Mrs. Thompson war in den letzten Tagen sehr tätig gewesen. Sie hatte sich in London erkundigt, war von da nach Bloomsbury gefahren, dann nach Balham und wieder zurück nach Bloomsbury. Und sie hatte sehr viel erfahren.

 

Sir George Frodmere erhielt daraufhin ein kurz und bündig abgefaßtes Telegramm von ihr.

 

»Komme um elf Uhr vierzehn. Schicke Auto zur Bahn. Georgina.«

 

»Was, zum Teufel, will sie denn schon wieder?« sagte er ärgerlich.

 

Es bestand kein allzu herzliches Verhältnis zwischen den Geschwistern. Sie standen sich zwar nicht feindlich gegenüber, aber Sir George hielt sich seine Schwester so fern als möglich, weil er bis zu einem gewissen Grade ihre scharfe Zunge fürchtete. Manchmal konnte er sie allerdings gut gebrauchen, aber er hatte sie noch niemals auf seinen Landsitz eingeladen.

 

»Ich kann ihr nicht mehr abschreiben«, wandte er sich an Toady. »Fahren Sie zur Bahn und holen Sie Mrs. Thompson ab. Ich muß morgen zur Stadt. Sie können sich ja mit ihr beschäftigen.«

 

Toady war durchaus nicht entzückt von dieser Aussicht und entschuldigte sich mit einer Verabredung, die er einhalten müßte.

 

»Ach, das ist nicht so wichtig«, erklärte Sir George. »Sie müssen sich um meine Schwester kümmern. Mir fällt sie sowieso immer furchtbar auf die Nerven mit ihrem dauernden Gerede und ihren Skandalgeschichten.«

 

Toady fuhr zum Bahnhof.

 

»Wir freuen uns sehr über Ihr Kommen«, begrüßte er Mrs. Thompson.

 

»Lügen Sie nicht, Toady«, sagte sie schroff. »George ist wütend, daß ich gekommen bin. Aber er muß schon zwei Tage mit mir vorlieb nehmen. Und wahrscheinlich hat die Sache für ihn große Vorteile.«

 

Sie stieg in den Wagen. Toady machte noch mehrmals den Versuch, eine Unterhaltung mit ihr zu beginnen, aber da er keinen Erfolg hatte, lehnte er sich schließlich schweigend in seinen Sitz zurück.

 

Erst als sie sich dem Herrenhaus näherten, wandte sich Mrs. Thompson plötzlich an ihren Begleiter.

 

»Wie steht es mit George? Wird er das Derby gewinnen?«

 

»Wir hoffen es alle stark«, entgegnete Toady vorsichtig.

 

»Sir George legt sein Geld nicht nur auf bloße Hoffnungen hin an«, sagte sie entschieden. »Wenn er so viel Geld wettet, dann muß er ganz besondere Sicherheiten haben. Und ich bin neugierig, warum er die Aussichten seines Pferdes so günstig beurteilt.«

 

»Das wird er Ihnen sicher erklären«, erwiderte Toady diplomatisch. Er liebte es nicht, sich von dieser entsetzlich schwatzhaften Frau ausfragen zu lassen.

 

Erleichtert atmete er auf, als der Wagen vor der Freitreppe des Hauses hielt. Sir George wartete mit düsterem Gesicht oben auf der Terrasse, und sein Willkommensgruß war ziemlich frostig.

 

»Hallo«, sagte er unfreundlich, als seine Schwester die Stufen hinaufstieg. »Warum kommst denn du hierher?«

 

»Aus Sorge um deine Zukunft und dein Wohlergehen, George«, erklärte sie kurz.

 

Er führte sie in die Bibliothek. Sie nahm eine Zigarette aus dem Etui, das auf dem Schreibtisch lag, und zündete sie an.

 

»Sie brauchen nicht hier zu warten, Toady«, sagte sie dann barsch.

 

Wilton ging fort und verwünschte sie wegen ihrer Unhöflichkeit.

 

Als die beiden allein waren, drehte sich Sir George um. Er hatte bis jetzt zum Fenster hinausgesehen.

 

»Nun, Georgina, was führt dich hierher?«

 

»Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, daß du heiratest.« Sie ging direkt auf ihr Ziel los.

 

»Wie kommst du denn plötzlich zu dieser Überzeugung?« fragte er ironisch, aber doch etwas erstaunt.

 

»Eine reiche Heirat könnte dich aus deiner unangenehmen Situation befreien. Ich weiß alles über dich und deine Unternehmungen. Du schwebst ständig in Gefahr, mit dem Gericht in Konflikt zu kommen.«

 

»Willst du mir hier etwa Religionsunterricht geben?«

 

»Nein, das weißt du selbst sehr gut«, entgegnete sie kühl. »Ich bin hergekommen, um geschäftlich mit dir zu sprechen. Und glaube mir, Ehrlichkeit macht sich immer bezahlt.«

 

»Inwiefern soll ich denn meine Ehrlichkeit betätigen?’« fragte er lächelnd.

 

»Du sollst eine vorteilhafte Ehe schließen. Ich kenne eine Dame mit einer halben Million Vermögen. Was sagst du dazu?«

 

»Das kommt mir allerdings sehr komisch vor. Ich bin doch nicht mehr der Jüngste. Aber wo und wie hast du denn diese sagenhafte Dame gefunden? Ich muß gestehen, daß ich seit den letzten zwanzig Jahren erfolglos nach ihr gesucht habe. Ich bin durchaus kein Verächter des schönen Geschlechtes, aber Damen mit großem Vermögen waren nie sehr huldreich zu mir.«

 

Sie setzte sich auf eine Ecke des Diwans.

 

»Ich will dir also meinen Vorschlag machen. Ich habe eine Dame entdeckt, die du wahrscheinlich sofort heiraten kannst. Sie lebt augenblicklich in ärmlichen Verhältnissen, und du brauchst nur nett, liebevoll und ritterlich zu ihr zu sein. Sicher wird sie dich nehmen, da sie nicht von Adel ist. Und dann heiratest du sie einfach.«

 

Er kniff die Augenlider zusammen und sah sie forschend an.

 

»Welchen Vorteil hast du denn davon?« fragte er ruhig.

 

»Ich bekomme zehn Prozent von ihrem Vermögen als Provision«, erwiderte sie geschäftstüchtig. »Wahrscheinlich wirst du nicht gleich über das ganze Vermögen verfügen können, aber vielleicht bist du ein Jahr nach der Heirat in der Lage, mir meinen Anteil auszuzahlen. Sie weiß augenblicklich noch nicht, was für eine große Erbschaft sie machen wird, und du hast Zeit, dich um ihre Gunst zu bewerben, so daß sie dir später willig die Verwaltung ihrer Geldangelegenheiten übertragen wird.«

 

»Ich verstehe. Wer ist denn die Dame?«

 

Mrs. Thompson sah ihn belustigt an.

 

»Glaubst du auch nur einen Augenblick, daß ich dir das jetzt sagen würde? Mein lieber George, für wie einfältig hältst du mich denn? Nein, zuerst müssen wir einen schriftlichen Vertrag machen zwischen George Mortimer Maxwell Frodmere einerseits und Georgina Heloise Gordon Thompson andererseits. Der Vertrag muß in vollkommen einwandfreier juristischer Form aufgesetzt, gestempelt, gesiegelt und mit allen Sicherungen versehen sein, die mein Rechtsanwalt nur ausfindig machen kann. Vorher unternehme ich auch nicht einen Schritt weiter in der Sache.«

 

Sir George blieb eine Weile ruhig am Schreibtisch stehen und betrachtete seine Schwester.

 

»Die Idee ist im Grunde nicht schlecht«, sagte er dann liebenswürdig, ganz im Gegensatz zu seiner früheren Haltung. »Bis jetzt habe ich allerdings kein Glück gehabt mit meinen Heiratsangelegenheiten.«

 

»Du bist doch nicht etwa schon heimlich verheiratet?« fragte sie schnell.

 

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Nein, ich meine nur, meine nutzlosen Bemühungen, mich günstig zu verheiraten, sind alle fehlgeschlagen. Aber ich halte deinen Plan für absolut durchführbar und gut. Wir wollen auch sofort an die Ausführung gehen. Mein Rechtsanwalt soliden Vertrag gleich aufsetzen. Ich werde ihn telegrafisch herrufen.«

 

»Dann telegrafiere auch sofort an den meinen.«

 

»Das ist doch nicht notwendig.«

 

»Das ist wichtiger als alles andere, wenn ich mit dir verhandle. Ich bin. vorsichtig geworden, denn ich kenne dich.«

 

*

 

Sir George Frodmere reiste am nächsten Morgen nicht nach London, wie er ursprünglich beabsichtigt hatte. An seiner Stelle fuhr Toady Wilton, der über den Stimmungswechsel seines Freundes angenehm überrascht war. In der. letzten Zeit war so viel Geld auf Donavan gewettet worden, daß Portonius etwas ins Hintertreffen geriet, und diese Chance wollte sich Toady nicht entgehen lassen. Er suchte seine letzten Geldreserven zusammen, um sie auf Portonius zu setzen, und er war mit sich und seiner Lage augenblicklich sehr zufrieden. In der letzten Zeit hatte Portonius sehr gute Fortschritte gemacht und mußte das Rennen unweigerlich gewinnen. Das Pferd war noch nie in so guter Form gewesen. Die Gefahr, daß der Klimawechsel ihm schaden könnte, war glücklich vorübergegangen. Die für dieses Derby gemeldeten Dreijährigen waren nicht gerade besonders hervorragend, so daß sich schon dadurch die Aussichten Sir Georges verbesserten.

 

Toady fuhr direkt von der Bahn zu dem Büro seines Wettagenten. Der junge Mann saß hinter seinem Schreibtisch und sah keineswegs wie ein Buchmacher aus. Er war unauffällig gekleidet, hatte vornehme Gesichtszüge, trug nicht den geringsten Schmuck und unterschied sich auch sonst vorteilhaft von seinen Kollegen. Man hätte eher annehmen können, daß man sich in dem Büro eines Bankdirektors befände.

 

»Wie geht es mit Ihrem Pferd?« fragte er, als er seinem Besucher eine Zigarette anbot.

 

»Großartig«, entgegnete Toady. »Aber es ist merkwürdig, daß so viel Geld auf Donavan gesetzt wird.«

 

Mr. Gursley nickte.

 

»Sie wissen wahrscheinlich, daß jemand gegen Sie setzt? Sie können soviel Geld eins zu sechs auf Portonius setzen, wie Sie wollen. Gestern wurden mir noch Wetten angeboten mit sechstausend zu eintausend oder dreißigtausend zu fünftausend. Ich hätte abschließen können, wenn ich gewollt hätte.«

 

»Wer hat Ihnen denn das angeboten?« fragte Toady eifrig. »Ist der Mann auch sicher? Hat er genügend Deckung?«

 

»Da können Sie vollkommen beruhigt sein. Er hat das Angebot nicht von sich aus gemacht, er handelt im Auftrag eines anderen. Sie können die Wette heute noch abschließen, wenn Ihnen etwas daran liegt.«

 

Er nahm den Hörer vom Telefon und rief eine Nummer in der Jermyn Street an.

 

»Sie haben mir gestern dreißigtausend zu fünf auf Portonius für das Derby angeboten. Halten Sie Ihr Angebot noch aufrecht?«

 

»Selbstverständlich.«

 

Gursley sah Wilton bedeutungsvoll an.

 

»Wollen Sie die Wette abschließen?«

 

Toady nickte.

 

»Gut, dreißigtausend zu fünf auf Portonius. Die Sache ist abgemacht.«

 

Der Buchmacher legte den Hörer wieder auf.

 

»Sie wissen, daß Sie und Ihre Freunde sich sehr stark für Portonius engagiert haben?«

 

»Wieviel müßten wir zahlen, wenn wir verlören?«

 

»Etwa zwanzigtausend Pfund. Und bis jetzt habe ich erst zehntausend von Ihnen in der Hand.«

 

Toady lächelte.

 

»Ist es nötig oder gesetzliche Bestimmung, daß man das Geld für Wetten vor dem Rennen einzahlt?«

 

»Nein, das Gesetz schreibt es nicht vor. Aber es ist äußerst notwendig, bevor ich weitere Schritte unternehme. Selbst jetzt kann ich die eben telefonisch verabredete Wette erst dann schriftlich bestätigen, wenn Sie mir die betreffende Summe einzahlen. Wenn man mit so großen Beträgen arbeitet, kann man nicht vorsichtig genug sein. Ich weiß, es ist gegen die Gewohnheit, aber ich habe Ihnen das ja gleich zu Anfang unserer Geschäftsverbindung gesagt. Sie müssen das Geld bis morgen früh auf mein Bankkonto überweisen.«

 

»Wird erledigt«, erklärte Toady.

 

Soltescu war in London und konnte ihm das Geld leicht beschaffen.

 

Wilton fuhr sofort zu dem Hotel des Rumänen und traf ihn auch an. Soltescu war in bester Stimmung und Toady hatte in einer Viertelstunde alles erreicht, was er wollte.

 

Kapitel 18

 

18

 

Der Tag des Derbys kam, und die Rennbahn war sehr stark besucht. Überall sah man die großen, farbenfreudigen Plakate der Buchmacher, die in lebhaftem Gegensatz zu dem grünen Rasen und der dunklen Volksmenge standen. Ein unheimliches Gedränge herrschte auf den Sattelplätzen und auf den Tribünen. Jeder Platz war besetzt.

 

Eric Stanton hatte eine Loge für sich und war von fröhlichen Menschen umgeben. Neben ihm saßen Mary President und ihr Großvater, und auch Milton Sands und Janet Symonds waren in der Nähe. Mary schaute auf die große Menschenmenge und wandte sich dann an Eric.

 

»Ich weiß nicht, ich bin so unruhig geworden. Glaubst du wirklich, daß Donavan das Rennen macht?« fragte sie. Er nickte.

 

»Ich persönlich bin davon überzeugt. Milton Sands ist allerdings anderer Ansicht.« Er drehte sich zu ihm um. »Es ist doch richtig, was ich eben sagte?«

 

Milton schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das stimmt nicht. Ich sagte nicht, daß Donavan nicht gewinnen, sondern daß er wahrscheinlich heute geschlagen würde.«

 

»Diese feinen Unterschiede kann ich nicht verstehen. Das ist mir zu hoch. Die Detektive drücken sich doch wirklich zu vorsichtig und geheimnisvoll aus.«

 

Milton Sands hatte nur halb zugehört. Er sah über die Menge weg und erkannte Sir George Frodmere und seine Freunde unten auf der Rennbahn. Sie standen in der Nähe auf einem freien Platz und sprachen anscheinend ernst miteinander. Soltescu ging gerade auf sie zu. Er sah in dem glänzenden Zylinder mit seiner großen Zigarre stattlich aus. Milton Sands überlegte sich, wieviel Geld der Mann wohl verlieren würde, wenn das Rennen nicht so verlief, wie er erwartete.

 

Ähnliche Gedanken kamen auch Sir George Frodmere. Er unterhielt sich mir Wilton über dasselbe Thema.

 

»Ich weiß nicht, wie es heute noch werden soll, Toady«, sagte er nervös. »Aber ich habe ein unangenehmes Gefühl, daß die Sache nicht glatt geht.«

 

»Die Buchmacher denken aber anders darüber«, entgegnete Toady gutgelaunt. »Sie nehmen Wetten fünf zu zwei auf Portonius. Und es ist schwer, selbst große Summen zu diesen Bedingungen unterzubringen.«

 

»Wenn ich dieses Rennen verliere«, sagte Sir George nachdenklich, »dann verlieren Sie Ihr Heim, Toady.«

 

»Wie soll ich das verstehen?« fragte Wilton erschreckt.

 

»Genauso, wie ich es sage. Wenn ich verliere, werde ich mich verheiraten.«

 

»Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«

 

Sir George lächelte.

 

»Eine äußerst tüchtige Geschäftsfreundin hat mich darauf gebracht«, entgegnete er ausweichend.

 

»Haben Sie der Dame denn schon einen Antrag gemacht?« fragte Toady neugierig.

 

»Dazu ist keine Zeit«, erklärte Sir George kurz. »Leider hat sie andere Ansichten darüber und scheint ihre Neigung einem anderen zuzuwenden, so daß sie wahrscheinlich nicht so leicht umzustimmen sein wird. Ich habe Nachforschungen angestellt … Es wird deshalb notwendig sein, andere Methoden anzuwenden. Aber Sie werden verstehen, daß ich zu diesem Schritt gezwungen bin, wenn unser Plan mißlingt.«

 

»Ich weiß gar nicht, wie Sie dazu kommen, so etwas zu sagen. Es wird nicht schiefgehen«, erklärte Toady aufgeregt. »Was ist denn los? Ist dem Pferd etwas zugestoßen?«

 

»Nein, das ist in bester Form, und ich bin eigentlich fest davon überzeugt, daß es das Rennen macht. Aber ich denke an andere schlimme Möglichkeiten.«

 

»Sie wissen doch bestimmt, daß der wirkliche Portonius nach Belgien abtransportiert, worden ist?« fragte Toady plötzlich.

 

»Warum fragen Sie danach?« erwiderte Sir George unangenehm berührt. »Ich habe noch nie daran gezweifelt.«

 

»Es liegt ja auch gar kein Grund dazu vor. Ich dachte nur so«, entgegnete Toady lahm.

 

»Dann behalten Sie so dumme Fragen lieber für sich«, sagte der Baronet ärgerlich. »Ich habe schon genug Sorgen ohne Ihr Geschwätz.«

 

Er blickte düster vor sich hin. Wenn der Schwindel mit Portonius herauskam, würde man ihn aus dem Rennverband ausschließen, und das würde seinen Ruin bedeuten. Er suchte den Gedanken loszuwerden, aber es gelang ihm nicht. Unruhig ging er zur Waage und schlenderte von dort zum Start.

 

»Sie kommen!« hörte er einige Leute rufen.

 

Ein großes Stimmengewirr erhob sich, als das Feld in Einzelreihe vorüberritt. Die Farben der Jockeys waren weithin zu sehen.

 

Die Erregung der Menge stieg, als die Pferde vorbeidefiliert waren. Am Start gab es noch einen längeren Aufenthalt, und der Starter hatte eine schwere Arbeit. Portonius fiel besonders auf wegen seiner hellen Farbe. Er hatte einen Platz an der Außenseite und war ziemlich ruhig. Donavan dagegen trippelte nervös hin und her, als ob sich die Spannung und Erwartung der Menge auf ihn übertragen hätte.

 

Endlich schoß das weiße Band in die Höhe, und das Feld stürzte vorwärts.

 

Das Geschrei der Menge war ohrenbetäubend, und Mary President zuckte zusammen. Ihr Herz schlug schneller, ihre Hände zitterten, und sie wurde bleich. Eric war aufgestanden, und Milton war merkwürdigerweise verschwunden. Sie wunderte sich einen Augenblick darüber, daß er diesem bedeutenden Rennen nicht zusehen wollte. Aber Miltons Interesse konzentrierte sich jetzt auf andere Dinge.

 

Das Feld raste geschlossen den Hügel hinauf. Das war die erste Kraftprobe, die die Derbypferde zu bestehen hatten.

 

Samborino hatte sich von der Masse gelöst und war zwei Längen vor den übrigen. Hinter ihm kamen Mangla, Texter und Portonius. Das graue Pferd lag ruhig auf der Außenseite. Dicht hinter ihm war Donavan, der mühelos aufholte.

 

»Donavan macht sich gut«, sagte John President, als er das Glas an die Augen setzte. Er folgte jeder Bewegung seines Pferdes.

 

Das Feld hatte jetzt eine lange, gerade Strecke vor sich, bevor die gefürchtete Senkung der Rennbahn kam. Auf dem abschüssigen Gelände änderte sich dann die Stellung der einzelnen Pferde schnell. Mangla fiel zurück – sie hatte das Rennen schon verloren. Texter gelang es, Samborino einzuholen. Aber als das Pferd nach der Kurve wieder in die Gerade einschwenkte, war auch Samborino am Ende seiner Kraft. Texter übernahm die Führung vor Portonius und Donavan, die dicht nebeneinander lagen.

 

Zwischen diesen dreien mußte sich das Rennen entscheiden.

 

»Es wird einen harten Endspurt geben«, meinte Eric.

 

Portonius gelang es, aufzuholen. Er war jetzt in gleicher Höhe mit Texter. Langsam schob sich auch Donavan an der Außenseite vor. Die drei Pferde rasten Kopf an Kopf über die Bahn. Sie waren jetzt dem Ziel schon so nahe, daß der Endspurt begann. Die Jockeys holten mit größter Anstrengung das Letzte aus ihren Pferden heraus. Bis jetzt hatte noch keiner die Peitsche gebraucht. Der Lärm der Menge wuchs, und es konnte kaum noch jemand sein eigenes Wort verstehen. Und doch erhob sich ein lauter Schrei, als Texter unsicher wurde und zurückblieb. Nun konnte die Entscheidung nur noch zwischen Donavan und dem grauen Pferd fallen, und diese beiden lieferten sich einen erbitterten Endkampf.

 

»Keine Peitsche«, sagte John President, und seine Augen glänzten vor Erregung. »Donavan muß frei auslaufen!«

 

Es war, als ob es der Jockey gehört hätte, so genau befolgte er die Anweisung.

 

Aber Portonius bekam nun die Peitsche. Zweimal sauste sie nieder, und er schoß vor.

 

»Jetzt!« rief John President.

 

Wieder schien der Jockey zu gehorchen. Die Peitsche hob sich, fiel aber nur einmal.

 

Das Pferd raste vorwärts und hatte im Nu den Verlust aufgeholt. Nur noch einige Meter trennten sie vom Ziel, und bevor noch einer der Jockeys die Peitsche aufs neue benutzen konnte, flogen sie am Pfosten vorüber.

 

»Totes Rennen!« sagte Eric Stanton, weiß vor Erregung.

 

Einen Augenblick herrschte absolute Ruhe, dann wurde langsam eine Nummer bei dem Sitz des Unparteiischen hochgezogen.

 

Portonius hatte das Rennen um eine Kopflänge gewonnen!

 

Eric wandte sich schnell Mr. President zu. Die Züge des alten Mannes waren bewegungslos, aber er schien in den wenigen Augenblicken stark gealtert zu sein. Jede Linie seines sonst so gesunden Gesichts hatte sich vertieft.

 

In dem Augenblick kam Milton Sands wieder in die Loge und nahm Mr. President am Arm.

 

»Ich muß Sie eine Sekunde sprechen.«

 

Seine Worte hatten einen wunderbar belebenden Einfluß auf den alten Herrn, und als Mary zu ihrem Großvater trat und ihre Hand auf seinen Arm legte, um ihn zu trösten, sah sie ein Lächeln auf seinen Zügen.

 

»Ich bin so traurig«, sagte sie leise.

 

»Du hast gar keinen Grund dazu, Liebling«, sagte er und klopfte sie auf die Wange. »Du wirst noch sehr merkwürdige Dinge erleben.«

 

Die Menge staute sich bei dem Ausgang, wo die Pferde auf ihrem Weg zur Waage vorüberkommen mußten, und die Polizei hatte alle Mühe, die Menschen zurückzuhalten. Sir George führte Portonius und wurde von der Menge bejubelt.

 

Die Leute besprachen erregt das Ereignis, freudig oder traurig gestimmt, je nachdem sie gewettet hatten. Die Nachricht wurde sofort in die weite Welt gemeldet, und die Reporter eilten zu den Telefonen.

 

Portonius hatte das Derby gewonnen!

 

Der Jockey war auf der Waage unter Aufsicht des Vorstandes, und der Beamte wollte gerade das Rennen für gültig erklären, als Milton Sands sich plötzlich in den Raum drängte und dem ersten Vorsitzenden ein Blatt Papier überreichte. Der Mann hob die Hand, las es und sah dann schnell zu dem Beamten an der Waage hinüber.

 

»Erkennen Sie das Rennen noch nicht an«, sagte er und las dann laut vor:

 

»Ich protestiere gegen Portonius, weil er in Wirklichkeit der vier Jahre alte El Rey ist, der kürzlich von Brasilien importiert wurde.«

 

Diese Nachricht wirkte wie eine Bombe auf die Anwesenden, und auch draußen rief sie bald größte Erregung hervor.

 

»Protest! Protest!«

 

Ein paar Minuten später ging eine Tafel mit der gleichen Inschrift hoch.

 

Alles schrie wild durcheinander. Was mochte wohl der Grund hierfür sein? Toady Wilton stand bleich und aufgeregt mitten in der Menge. Man wußte, daß er der Vertraute von Sir George war, und alle bestürmten ihn mit Fragen. Aber er schüttelte nur abweisend den Kopf.

 

»Ich habe keine Behinderung gesehen«, sagte Lord Chanderson verwundert zu Eric Stanton. »Es war ein faires Rennen von Anfang bis zu Ende. Ich verstehe nicht, warum Protest eingelegt worden ist.«

 

»Ich kann es ebensowenig begreifen wie Sie, aber es muß doch ein schwerwiegender Grund vorliegen. Mr. President wäre doch sicher der letzte, der ohne Ursache einen solchen Schritt tun würde.«

 

Sir George Frodmere sah zu Milton hinüber, der eine so schwere Anklage gegen ihn erhoben hatte. Äußerlich trat er vollkommen ruhig und sicher auf.

 

»Das müssen Sie aber erst beweisen. Sie können sich darauf verlassen, daß ich eine Schadenersatzklage gegen Sie erheben werde.«

 

Ein Beamter des Rennklubs mischte sich ein.

 

»Sir George, ich habe in der Zwischenzeit durch den vereidigten Tierarzt Ihr Pferd oberflächlich untersuchen lassen. Allem Anschein nach ist das Tier vier Jahre alt.«

 

»Auch das ist noch kein Beweis«, entgegnete Sir George gelassen. »Es genügt nicht, daß ich unter Verdacht stehe – der Verdacht muß vor allem bewiesen werden. Und welchen Verdacht haben Sie denn? Mr. Sands scheint im Auftrag von Mr. President zu handeln. Ein schönes Paar – der eine ein früherer Zuchthäusler, der andere ein hergelaufener Abenteurer!«

 

»Ich habe alle Beweise in der Hand«, erklärte Milton, auf den die Worte des Baronets nicht den geringsten Eindruck gemacht hatten. »Erstens habe ich das Zeugnis des Zahlmeisters, auf dessen Schiff El Rey nach England gebracht wurde. Er wird unter Eid aussagen, daß der angebliche Portonius dasselbe Pferd ist, das er an Bord hatte, und daß Sie ihm zweihundert Pfund wöchentlich geboten haben, wenn er ins Ausland ginge, bis das Rennen vorüber wäre. Mr. Delane war tatsächlich auf der Reise nach Bukarest, als ich mit ihm zusammentraf und ihn überredete, seinen Entschluß zu ändern. Er hat daraufhin das Geld, das er von Ihnen bekam, auf einer Bank deponiert.«

 

»Der Vorstand des Rennklubs wird sich kaum mit den Aussagen eines Zahlmeisters zufriedengeben können«, entgegnete Sir George. Er kämpfte verzweifelt, um Zeit zu gewinnen. Wenn es ihm gelang, den Protest im Augenblick zu widerlegen, kam er vielleicht doch noch durch!

 

»Wenn dies nicht Portonius ist, dann sagen Sie mir doch, wo das wirkliche Pferd steckt.«

 

»Das ist auch meine Absicht«, erklärte Milton.

 

Er wechselte einige Worte mit dem Vorsitzenden des Rennklubs und führte dann die Beteiligten nach draußen. Ein anderes Pferd hatte inzwischen die Stelle des Derbysiegers eingenommen. Es war jung und in bester Verfassung.

 

»Hier sehen Sie den wirklichen Portonius«, sagte Milton. Auf ein Zeichen nahm der Reitknecht die Decken ab.

 

Sir Georges Augen weiteten sich. Es war kein Zweifel möglich. Dies war Portonius. Aber man konnte ihn kaum wiedererkennen, so gut hatte er sich bei der Pflege erholt, die ihm Milton Sands hatte angedeihen lassen.

 

»Die Sache unterliegt keinem Zweifel«, sagte der Vorsitzende. »Ich kann mich auf das Pferd deutlich besinnen. Es hat seinerzeit das Brocklesbury-Rennen in Lincoln mitgemacht … Der merkwürdige Bau der Hinterbeine ist mir schon damals aufgefallen. Ich habe mir heute vor dem Rennen den Derbysieger daraufhin angesehen und war verwundert, daß mich mein Gedächtnis so im Stich gelassen haben sollte.«

 

Er ging um das Pferd herum.

 

»Dies ist der wirkliche Portonius«, wiederholte er laut und deutlich. »Was haben Sie dazu zu sagen, Sir George?«

 

Der Baronet zuckte die Schultern.

 

»Ich habe mit der Sache nichts zu tun – ich wasche meine Hände in Unschuld. Wenn Sie mir das Rennen absprechen, dann kann ich Ihnen hier keinen weiteren Widerstand leisten. Sollten Sie zu meinen Ungunsten entscheiden, so werde ich die Gerichte anrufen.«

 

Nach diesen Worten bahnte er sich einen Weg durch die Leute und verließ den Rennplatz. Tausende von Gläsern waren nach dem Signalmast gerichtet, an dem jetzt ein großes Plakat hochgezogen wurde:

 

Protest gegen Portonius wegen betrügerischer Eintragung angenommen. Der erste Preis fällt an Donavan.

 

Kapitel 19

 

19

 

»Ist das nicht wundervoll?« rief Mary President. Ihre Augen leuchteten vor Erregung. »Wir haben also tatsächlich das Derby gewonnen!«

 

»Ich gratuliere«, sagte Eric und sah sie zärtlich an.

 

Sie drückte seinen Arm liebevoll.

 

»Ich möchte nur wissen, wie Sie den Betrug entdeckt haben«, wandte er sich an Milton, der inzwischen wieder zu der Gesellschaft zurückgekommen war.

 

»Das war verhältnismäßig einfach. Ich las einen Zeitungsartikel in einem südamerikanischen Blatt, reiste daraufhin nach Tilbury und beobachtete die Ankunft El Reys. Das übrige konnte ich mir leicht zusammenreimen. Ich folgte Sir George und seinen Freunden und entdeckte, auch den Stall, in dem das Pferd untergebracht wurde. Allerdings mußte ich zu diesem Zweck auf ein benachbartes Dach klettern, und das war eine recht unangenehme Aufgabe. Aber es wurde mir dadurch möglich, den Ereignissen genau zu folgen. Ich fürchtete nur, daß der ursprüngliche Portonius erschossen werden sollte. Aber als ich später am Abend sah, wie das Pferd von einem heruntergekommenen Kerl fortgeführt wurde, ging ich ihm nach, und es gelang mir, ihm das Tier abzunehmen. Der Rest war dann leicht.«

 

»Ich bin neugierig, was nun mit Sir George passiert«, meinte Eric. »Auf jeden Fall wird er aus dem Rennklub ausgeschlossen.«

 

Milton nickte.

 

Im selben Augenblick trat ein Postbote in die Loge, der ein Telegramm für Mr. Sands brachte.

 

»Sie müssen ja sehr viel zu tun haben, wenn Sie sich sogar auf den Rennplatz Telegramme schicken lassen!« rief Eric überrascht.

 

»Als guter Detektiv bin ich bereit, überall Nachrichten entgegenzunehmen.«

 

Er riß den Umschlag auf und las den Inhalt, der ihn sehr zu befriedigen schien. Lächelnd steckte er das Formular in die Tasche.

 

»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.«

 

Mit diesen Worten ging er fort.

 

»Milton hat heute seinen großen Tag«, sagte Eric zu Mary. »Willst du noch hierbleiben oder wollen wir lieber nach Hause gehen?«

 

»Ich bin jetzt wieder ganz ruhig geworden. Wir wollen bleiben.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und lächelte ihn an. »Ich möchte den anderen Rennen auch zusehen.«

 

Gleich darauf trat ein uniformierter Bote zu ihnen in die Loge.

 

»Ist Miss Symonds hier?« erkundigte er sich und schaute fragend von einem zum anderen.

 

Janet erhob sich.

 

»Ja. Was wünschen Sie?«

 

»Sie werden verlangt«, erwiderte der junge Mann kurz.

 

Sie errötete leicht. Milton hatte sich, an diesem Tag nicht viel um sie gekümmert, aber sie sagte sich selbst, daß er dazu wenig Zeit hatte.

 

Wenn junge Damen verliebt sind, fällt es ihnen schwer, logisch zu denken, und sie freute sich über diese kleine Aufmerksamkeit um so mehr. Rasch folgte sie dem Boten die Treppe hinunter.

 

»Wer hat denn nach mir verlangt?« fragte sie unten, aber sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß es nur Milton Sands gewesen sein konnte.

 

»Ein Herr. Er sagte mir, ich sollte Sie zu ihm bringen.«

 

Er bahnte einen Weg durch die Menge zu einem Auto, das in der Nähe des Eingangs hielt.

 

Sie zögerte.

 

»Wo ist er denn hingegangen?« fragte sie erstaunt …

 

»Alles in Ordnung, Miss«, entgegnete der Chauffeur. Es war Buncher, den Janet nicht kannte. »Er wartet weiter unten auf Sie.«

 

Ohne noch zu zögern, stieg sie ein, obwohl sie sah, daß es nicht Miltons Auto war. Sie war mit John President nach Epsom gekommen. Aber vielleicht war es Stantons Wagen, oder vielleicht hatte Milton ihn für heute gemietet. Auf keinen Fall hatte sie Zeit, lange danach zu fragen. Möglicherweise wollte Milton schnell zur Stadt zurückkehren, ohne sich erst lange von den anderen zu verabschieden, und hatte sie auf diese Weise zu sich gerufen. Was konnte ihr auch auf der offenen, menschenbelebten Straße passieren?

 

Das Auto fuhr langsam an, steigerte aber nach und nach die Geschwindigkeit, als es die offene Landstraße erreicht hatte.

 

Als sie zehn Minuten gefahren waren, wurde Janet unruhig und klopfte dem Chauffeur auf die Schulter. Aber der Mann kümmerte sich nicht darum und fuhr weiter, ohne sich umzuschauen.

 

Wieder stieß sie ihn an, aber Buncher reagierte nicht im geringsten darauf. Sie lehnte sich vor.

 

»Wohin fahren Sie mich?« fragte sie scharf.

 

Der Mann erwiderte etwas, das sie nicht verstehen konnte.

 

Es hatte keinen Zweck, weiter mit ihm zu verhandeln. Sie war jetzt ernstlich beunruhigt, glaubte aber trotzdem nicht, daß man etwas gegen sie im Schilde führte.

 

Es mußte ein Mißverständnis sein. Oder hatte Milton irgendeinen Plan, bei dessen Durchführung sie ihm helfen sollte?

 

Sie zwang sich zur Ruhe und wollte das Ende der Fahrt in Geduld abwarten. Aber es überkam sie doch eine ungewisse Furcht, die sich nach und nach immer mehr steigerte. Sie wußte, daß Milton Feinde hatte, und sie vermutete, daß irgendein Anschlag gegen ihn geplant war. Die Gefahr kam von einer Bande, die John President beraubt hatte, und Leuten, die dazu fähig waren, konnte man alles zutrauen. Sie erschrak aufs neue, als sie sah, daß der Chauffeur die Straße nach London einschlug.

 

*

 

In der Zwischenzeit ging Sir George zu seinem Wagen, den er an einem Nebeneingang hatte vorfahren lassen. Es blieb ihm keine Zeit, auf Toady Wilton zu warten. Er hatte genug mit sich selbst zu tun. Die Ereignisse des heutigen Tages bedeuteten den Ruin für ihn, und zwar nicht nur gesellschaftlich, sondern auch finanziell.

 

Er mußte jetzt einen Ausweg finden, mochte es kosten, was es wollte. Alles Planen hatte ihm nichts geholfen. Er stand im Brennpunkt des öffentlichen Interesses, und seine Betrügereien waren enthüllt. Plötzlich hörte er, daß ihn jemand anrief, und wandte sich um. Milton Sands ging schnell hinter ihm her. Sir George blieb stehen, ohne mit der Wimper zu zucken, und wartete auf den Mann, der ihn ruiniert hatte.

 

»Was wollen Sie von mir?« fragte er barsch.

 

»Ich muß noch kurz mit Ihnen sprechen, bevor Sie abfahren. Ich habe eine Neuigkeit, die Sie und auch Ihren Freund Soltescu interessieren wird.«

 

In diesem Augenblick fuhr Buncher an ihnen vorüber. Er hatte Milton erkannt und schlug seinen Kragen hoch. Ein rascher Blick der Verständigung wurde zwischen Sir George und ihm gewechselt, und der Baronet wurde plötzlich höflich.

 

»Was wollten Sie mir denn mitteilen? Ich muß Ihnen allerdings sagen, daß ich wenig Zeit habe, da meine Anwesenheit in London dringend notwendig ist.«

 

»Ich werde mich so kurz wie möglich fassen«, erwiderte Milton lächelnd. »Die Dokumente über den Herstellungsprozeß des biegsamen Glases von John President sind gefunden worden.«

 

»Das ist ja unmöglich.«

 

»Der Mann, der sie gestohlen hat, gab sie wieder zurück, und die Formel ist dem Ausstellungskomitee in Lyon eingeschickt worden.«

 

»Wer hat die Papiere denn entwendet?«

 

»Darüber kann ich Ihnen nichts Genaueres mitteilen. Vielleicht ahnen Sie es. Ich kann Ihnen nur sagen, daß der Mann, der die Dokumente und eine größere Summe aus der Mappe Monsieur Soltescus nahm, die Tat bereute und die gestohlenen Sachen zurückgab.«

 

»War es Kitson?« fragte Sir George schnell.

 

Milton schüttelte den Kopf.

 

»Mehr kann ich Ihnen nicht erzählen. Aber Sie wissen nun genug; um Monsieur Soltescu einen großen Schrecken einzujagen. Wenn er es erfährt, wird er einen schweren Schock bekommen.«

 

»Ich habe vergessen, daß Sie Privatdetektiv sind. Sie haben schon eine ganze Anzahl von Aufträgen erhalten.«

 

»Und ich war bisher auch einigermaßen erfolgreich, das müssen Sie wohl zugeben. Ich habe den größten Turfschwindel aufgedeckt, der seit langem passierte, und ich habe die gestohlenen Dokumente wiederbeschafft. Aber ich habe noch eine große Aufgabe zu lösen.«

 

»Ja, Sie sollen den Aufenthalt von Miss Stanton ausfindig machen«, erwiderte Sir George lächelnd.

 

Milton sah ihn verwundert an. Dieser Mann war vollkommen ruiniert, und doch leuchteten seine Augen triumphierend. Es mußte etwas Ungewöhnliches geschehen sein, daß er in diesem Augenblick so zuversichtlich erscheinen konnte.

 

»Nun, ich wünsche Ihnen viel Erfolg«, sagte Sir George noch, dann stieg er in seinen Wagen ein.