Kapitel 14

 

14

 

Hastig nahm Diana den zweiten Einsatz heraus. Er enthielt auch nichts, und im dritten lag nur ein Stück Papier, auf dem mit Schreibmaschine eine Zeile geschrieben war. Jack las sie und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als er Diana den Zettel reichte.

 

›Tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß‹, stand darauf.

 

Das war fast zuviel für Jack. Eine Stunde lang hatte er das Schlimmste befürchtet – und nun dies!

 

Er lachte schallend. »Nun, Miss Wold, wo ist denn Ihre Nadel?« fragte er nach einer Weile.

 

»Noch vor einer Stunde war sie hier – darauf kann ich einen Eid leisten«, gab sie wütend zurück. »Ich habe sie doch mit eigenen Augen gesehen.«

 

»Ach – gesehen haben Sie die Nadel? Sehr interessant! Dann haben Sie also das Zimmer durchsucht? Das hätte ich aber an Ihrer Stelle nicht getan!«

 

»Ich habe es aber getan«, entgegnete sie trotzig. »Es hat keinen Zweck, daß Sie mich so entrüstet anstarren. Ich sage Ihnen, daß ich alle gestohlenen Nadeln noch vor einer Stunde hier in der Wohnung gesehen habe. Sechs Stück!«

 

Ohne noch ein Wort zu verlieren, wandte sie sich ab und verließ das Schlafzimmer.

 

»Also, das wäre erledigt«, meinte Jack abschließend, nachdem sie gegangen war. »Und nun muß ich Miss May erklären, wie ich in ihre Wohnung kam jedoch dazu mit einem Haussuchungsbefehl. Das wird nicht leicht werden.«

 

Er konnte es nicht verstehen. Etwas mußte doch an der Sache gewesen sein. Er war fest davon überzeugt, daß Diana niemals eine so schwere Anklage gegen Barbara May erhoben hätte, wenn sie nicht sicher gewesen wäre, daß sich die Juwelen in der Wohnung befanden.

 

Das Vorhandensein des Zettels auf dem Boden der Kassette bewies außerdem, daß etwas dringewesen sein mußte und entfernt worden war, bevor er mit den Beamten die Wohnung betrat.

 

Aber Barbara war doch gar nicht in London. Sie besuchte Bekannte auf dem Lande und konnte daher die Juwelen nicht fortgeschafft haben – immer vorausgesetzt, daß sie überhaupt in der Wohnung versteckt gewesen waren.

 

*

 

Als Jack hörte, daß Barbara nach London zurückgekehrt war, machte er ihr einen Besuch, aber noch bevor er sich bei ihr entschuldigen konnte, unterbrach sie ihn mit einem Lächeln.

 

»Ich weiß genau, was geschehen ist, Mr. Danton, und ich weiß auch, daß Sie nicht dafür verantwortlich sind. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wie wäre es, wenn Sie Diana eine Stellung bei Scotland Yard verschafften? Sie scheint ein ausgezeichneter Detektiv zu sein.«

 

»Sie ist nicht allein schuld«, entgegnete Jack. »Es war nicht recht von mir, daß ich meinem Vorgesetzten die Meldung machte.«

 

»Nein, so dürfen Sie die Sache nicht ansehen. Es war doch Ihre Pflicht, und Sie konnten nicht anders handeln.« Sie lachte zufrieden. »Es muß für die arme Diana eine furchtbare Enttäuschung gewesen sein, als sie entdeckte, daß ich nicht die Juwelendiebin bin.«

 

Sie sah Jack an. Beide mußten lachen.

 

»Wissen Sie«, sagte Jack dann ernst werdend, »daß alle gestohlenen Brillantnadeln ihren Eigentümern wieder zurückgegeben wurden? Auch Diana hat ihre Nadel wieder erhalten.«

 

»Ach, sieh mal einer an, das ist ja interessant«, murmelte sie. »Und man hat tatsächlich alle Brillantnadeln zurückgegeben?«

 

Er nickte.

 

Barbara brachte das Gespräch auf andere Dinge. Jack schien es plötzlich, als ob sie blaß und angegriffen aussähe. Ihre Augen hatten den strahlenden Ausdruck verloren, und sie schien nervös zu werden.

 

Kurz bevor er ging, erwähnte sie Diana noch einmal.

 

»Zum Zeichen, daß ich ihr nichts nachtrage, will ich auf die Gesellschaft gehen, die sie heute abend gibt. – Werden Sie auch dasein?«

 

Jack hatte ebenfalls eine Einladung erhalten, sie aber ignoriert. Daß Barbara auch dort hingehen würde, änderte die Sache natürlich.

 

»Es ist wirklich großzügig von Ihnen, daß Sie Diana verzeihen wollen«, sagte er herzlich. »Wenn Sie kommen, werde ich natürlich auch dort sein.«

 

»Jack, wissen Sie auch, daß Diana zwei Brillantnadeln hat? Nun werde ich Gelegenheit haben, auch die andere Nadel zu stehlen. Aber verraten Sie mich nicht«, vertraute sie ihm augenzwinkernd an.

 

Jack war entsetzt.

 

»Barbara, Sie wissen nicht, was ich in den letzten Tagen alles durchgemacht habe. Bitte regen Sie mich nicht mehr auf!«

 

*

 

Diana gab stets glänzende Gesellschaften. Jack hatte zwar erwartet, viele berühmte Leute dort zu treffen, aber dies Aufgebot an gesellschaftlichen Größen überraschte ihn doch.

 

Als er die breite Treppe hinaufstieg, sah er Diana, die die Gäste oben begrüßte. Sie trug ein kostbares Kleid aus Silberlamé, und ihre blonden Locken türmten sich zu einer kunstvollen Hochfrisur auf ihrem kleinen Kopf. Sie sah blendend aus. In der Haltung einer Dame von Welt begrüßte sie Minister, Botschafter, deren Gattinnen – und auch Jack empfing sie mit einem strahlenden Lächeln.

 

»Ich freue mich, daß gerade Sie gekommen sind«, sagte sie leise. »Haben Sie mir verziehen?«

 

»Ich brauche Ihnen doch nichts zu verzeihen«, erwiderte er ablehnend, denn im Grunde genommen konnte er ihr ihre niedrige Handlungsweise durchaus nicht verzeihen.

 

»Ich sehe, Sie sind mir noch böse«, sagte sie und lachte leicht. »Nun, gehen Sie in den Saal und suchen Sie Barbara. Sie sieht heute abend bezaubernd aus.«

 

Er entdeckte Barbara in einer Ecke des Ballsaales. Sie unterhielt sich lebhaft mit einem Bekannten, aber als sie Jack erblickte, entschuldigte sie sich und kam auf ihn zu.

 

»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Jack«, sagte sie und lächelte freundlich. »Kommen Sie doch mit in Dianas Wohnzimmer. Dort sind wir allein. Sie hat mir vorhin angeboten, es zu benutzen, wenn ich wollte.«

 

Diana sah sofort, daß die beiden sich zurückzogen, und ihr Blick wurde hart. Natürlich liebten sie sich und suchten jetzt einen Raum, wo sie sich aussprechen konnten, ohne eine Unterbrechung befürchten zu müssen.

 

Sie wäre sehr erstaunt gewesen, wenn sie gehört hätte, was Barbara soeben zu Jack sagte.

 

»Jack, Sie müssen mir einen großen Gefallen tun«, bat sie, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Ihre Worte klangen dringend, fast wie ein Befehl.

 

»Selbstverständlich. Es ist mir ein Vergnügen, etwas für Sie tun zu können, Barbara«, erwiderte er eifrig.

 

»Es handelt sich um eine außergewöhnliche Sache. Ich muß zehn Minuten ungestört in Dianas Schlafzimmer bleiben können, denn ich habe dort etwas zu erledigen.«

 

Er erschrak. Sollte sie das, was sie kürzlich gesagt hatte, doch ernst gemeint haben?

 

»Diana hat dem Personal erlaubt, um zwölf Uhr auf die Galerie zu gehen und von dort dem Fest zuzusehen«, fuhr Barbara schnell fort. »Das ist eine günstige Gelegenheit, die ich nicht ungenutzt vorübergehen lassen darf. Nun möchte ich Sie bitten, auf der Treppe zu bleiben und aufzupassen. Wenn jemand kommen sollte, müssen Sie mich warnen.«

 

»Aber – aber – was haben Sie denn …«

 

»Im ersten Stock neben der Treppe ist ein Lichtschalter«, unterbrach sie ihn kurz, »mit dem man das Licht vor der Tür von Dianas Zimmer im zweiten Stock andrehen kann. Damit können Sie mich warnen! Daneben befindet sich das Billardzimmer, und wenn Sie jemand fragen sollte, so sagen Sie einfach, Sie wollten ein wenig Billard spielen, weil es Ihnen auf dem Fest ein bißchen langweilig sei.«

 

»Aber Barbara, was hat das zu bedeuten? Ich verstehe Sie, offen gestanden, nicht ganz. Was wollen Sie denn in Dianas Zimmer tun?«

 

»Bitte kümmern Sie sich nicht darum. Ich möchte nur wissen, ob Sie mir helfen werden«, sagte sie leise. Sie sah ihn mit ihren großen Augen bittend an. Er schwankte. Wie hübsch saß sie vor ihm in ihrem lichtblauen Kleid! Das dunkle Haar, auf dem rötliche Reflexe spielten, wurde von einem Band zusammengehalten. Ihre Hand spielte mit einem Theatertäschchen. Plötzlich drang ihre Stimme wieder in sein Bewußtsein.

 

»Wissen Sie denn nicht, daß heute der Vierzehnte ist? – Aber nein, das können Sie ja nicht wissen – es bedeutet für Sie auch nichts. Aber ich muß wissen, ob Sie mir helfen wollen«, fügte sie drängend hinzu. Einen Augenblick zögerte er.

 

»Ja«, erwiderte er dann heiser. »Ich weiß zwar nicht, was Sie in Dianas Schlafzimmer wollen, aber ich vertraue Ihnen.«

 

Plötzlich neigte sie sich zu ihm, und er fühlte, daß ihre Lippen die seinen berührten – nur für den Bruchteil einer Sekunde –, dann lief sie hinaus.

 

Kapitel 15

 

15

 

»Nun, haben Sie sich jetzt genügend ausgesprochen?« erkundigte sich Diana spitz, als Jack und Barbara in den Ballsaal zurückkehrten. Kurz davor hatte er Barbara eingeholt und mit einem Lächeln ihren Arm genommen.

 

»Jedenfalls haben wir Sie mit keinem Wort erwähnt, liebe Diana«, antwortete Barbara ebenso spitz.

 

Frauen sind doch merkwürdige Wesen, dachte Jack und wartete von da ab mit Ungeduld, daß es Mitternacht würde.

 

Allmählich versammelten sich die Hausangestellten und Diener auf der Galerie. Als sich gegen zwölf Uhr seine und Barbaras Blicke trafen und sie ihm zunickte, ging er langsam aus dem Saal.

 

Der Ballsaal befand sich im Erdgeschoß, das Billardzimmer im ersten Stock, die Schlafzimmer im zweiten Stock.

 

Jack schlenderte die Treppe hinauf und war froh, daß er niemandem begegnete. Im Billardzimmer brannte eine Deckenlampe, und er drehte auch alle Wandleuchten an. Dann nahm er einen Billardstock und legte ihn auf den grünbespannten Tisch. Vorsichtig schlich er dann zum Treppenabsatz zurück, gerade als Barbara heraufkam. Sie sagte kein Wort, nickte ihm aber freundlich zu und eilte die Treppe zum zweiten Stock hinauf.

 

Ihm war nicht wohl in seiner Haut, denn er fürchtete, durch einen Zufall könnte doch jemand heraufkommen. Es vergingen fünf Minuten – zehn Minuten, da bemerkte er eine Gestalt am Fuß der Treppe und erkannte zu seinem Schrecken, daß es Diana war. Er hatte gerade noch Zeit genug, den Lichtschalter anzudrehen, bevor sie ihn sehen konnte.

 

»Aber Jack, was machen Sie denn hier oben?« fragte sie verwundert.

 

»Ich wollte eine Partie Billard spielen, aber ich kann keinen Partner finden«, entgegnete er so ruhig wie möglich. Er stand wie auf glühenden Kohlen, denn jeden Augenblick konnte Barbara herunterkommen.

 

»Aber warum wollen Sie denn Billard spielen? Dann brauchen Sie doch nicht auf einen Ball zu kommen! Warum tanzen Sie nicht, und wo haben Sie Barbara gelassen?«

 

»Sie ist wahrscheinlich gescheiter als ich und amüsiert sich. Ich habe sie kurz vorher noch unten im Ballsaal gesehen.«

 

»Also kommen Sie, dann werde ich mit Ihnen Billard spielen«, erwiderte sie und trat in das Billardzimmer.

 

Er folgte ihr und schloß die Tür.

 

»Ach, bitte nicht, Jack, es ist so heiß hier drinnen.«

 

Er ging zur Tür zurück und öffnete sie eine Handbreit.

 

»Nein, machen Sie sie weit auf. Denken Sie an meinen guten Ruf«, sagte sie spöttisch.

 

Zögernd öffnete er die Tür etwas weiter.

 

»Ach, ich möchte eigentlich ebensowenig Billard spielen wie Sie«, meinte Diana plötzlich und stellte den Stock wieder zurück, den sie schon in der Hand hielt. »Billard ist so entsetzlich langweilig. Aber was ist denn mit Ihnen? Sie schauen ja aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.«

 

Er lachte nervös.

 

»Ich habe den ganzen Tag über Gespenster verfolgt. Kommen Sie, Diana, wir wollen wenigstens ein Spiel machen.«

 

Er wollte sie ablenken und hoffte, Barbara hätte Gelegenheit vorbeizuhuschen, wenn Diana beim Spiel der Tür den Rücken zukehrte.

 

»Nein, ich habe wirklich keine Lust, Billard zu spielen«, beharrte sie. »Ich wollte eigentlich auf mein Zimmer gehen und etwas Aspirin holen. Molly Banton hat furchtbare Kopfschmerzen, und ich habe es ihr versprochen.«

 

»Ach, die junge Dame kann ein wenig warten«, sagte er, aber Diana war schon auf der Treppe nach oben. Gleich darauf hörte er, daß sie einen Schrei ausstieß.

 

»Jack! Jack!«

 

»Was ist denn?« rief er heiser.

 

»Kommen Sie schnell herauf!«

 

Er stürzte nach oben und trat in das luxuriös ausgestattete Schlafzimmer. Diana stand vor ihrem Toilettentisch.

 

»Schauen Sie her!« rief sie atemlos. »Jemand hat den Safe geöffnet. Nun ist mir auch noch die andere Brillantnadel gestohlen worden!«

 

Er war so bestürzt, daß er keinen klaren Gedanken fassen konnte.

 

»Was, die andere Brillantnadel ist Ihnen gestohlen worden?« fragte er, und während der ganzen Zeit überlegte er, wo sich Barbara versteckt haben mochte. Sie mußte an der Treppe gelauscht haben, als Diana ins Billardzimmer kam. Dann hatte sie sicher die Gelegenheit benützt, als er die Tür für einen Augenblick schloß, um hinunterzueilen. Er atmete erleichtert auf, als ihm dies klar wurde. Nun war ihm alles gleich. Er hätte auch sofort den ganzen Raum durchsucht, wenn Diana es von ihm verlangt hätte.

 

»Haben Sie gesehen, daß jemand die Treppe hinauf« ging?« fragte sie argwöhnisch.

 

»Nein, ich habe niemand gesehen.«

 

»Jack, sagen Sie auch die Wahrheit? War Barbara hier oben?« Sie sah ihn vorwurfsvoll an.

 

»Nein, ich schwöre es Ihnen, daß sie nicht oben war.«

 

»Warum waren Sie im Billardzimmer? Sie spielen doch sonst nie Billard, Jack. – Wo ist Barbara?«

 

»Im Ballsaal. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«

 

»Gut. Dann wollen wir sehen, ob wir sie dort finden«, entgegnete sie entschlossen.

 

Zusammen gingen sie die Treppe hinunter, und als ihnen der Butler begegnete, fragte sie ihn sofort nach Miss May.

 

»Miss May ist schon nach Hause gegangen. Ich sah, daß sie vor etwa vier Minuten das Haus verließ. Sie kam in die Garderobe, um ihren Mantel zu holen.«

 

»Ach so«, sagte Diana langsam. Dann wandte sie sich an Jack. »Bitte suchen Sie sofort Barbara auf. Aber vermeiden Sie einen Skandal!«

 

Kurz darauf stand Jack auf der Straße und ließ sich von einem Taxi zu Barbaras Wohnung fahren.

 

Wieder einmal klingelte er an ihrer Wohnungstür. Lange Zeit kam niemand, aber schließlich hörte er Schritte. Barbara öffnete die Tür, doch sie zog unwillig die Brauen zusammen, als sie Jack erblickte.

 

»Ich kann Sie jetzt nicht brauchen, Jack. Gehen Sie bitte wieder.«

 

»Ich muß Sie etwas fragen, Barbara.«

 

»Ach, gehen Sie doch bitte!« rief sie verzweifelt.

 

»Nein, ich denke nicht daran«, erklärte er hartnäckig. »Ich muß wissen, was hier gespielt wird.« Er schob sie beiseite, trat in den Flur und ging geradewegs ins Wohnzimmer. Bestürzt blieb er stehen, als er einen Blick in den Raum warf. An dem großen Tisch in der Mitte unter der Lampe saßen drei Männer. Der eine war der Herr, den er in der Bird-in-Bush Road gesehen hatte, der zweite Mr. Smith, der Geschäftsführer von Streetley, der dritte ein hagerer, kleiner Inder mit einem weißen Turban.

 

Der Inder hielt die gestohlene Brillantnadel in der Hand und bog gerade die Goldfassung des mittleren großen Brillanten zurück, so daß sich der Stein lockerte.

 

Kapitel 16

 

16

 

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Jack heiser.

 

Der große Mann schaute erschrocken auf.

 

»Rühren Sie sich nicht von der Stelle – und nehmen Sie die Hände hoch!« befahl er nach einer Sekunde des Zögerns.

 

Plötzlich hielt er eine Pistole in der Hand und richtete sie auf den Inspektor.

 

Jack kam der Aufforderung nach.

 

»Smith, legen Sie ihm Handfesseln an.«

 

Bevor Jack wußte, wie ihm geschah, waren seine Hände gefesselt.

 

»Setzen Sie sich dort auf den Stuhl, und verhalten Sie sich ruhig. – Und glauben Sie mir, daß mir dieser Zirkus peinlicher ist als Ihnen, Mr. Danton«, fügte der Mann aus dem Haus des Inders noch hinzu.

 

Barbara war nicht ins Zimmer gekommen. Jack glaubte zu hören, daß sie im Flur leise schluchzte.

 

Nachdem die drei ihn gefesselt hatten, kümmerten sie sich nicht weiter um ihn.

 

»Sind Sie Ihrer Sache sicher?« fragte Smith.

 

»Es kann kein Irrtum mehr bestehen«, antwortete der kleine Inder und betrachtete fasziniert den großen Diamanten, den er in der Hand hielt. Sein Feuer strahlte bis zu Jack. Der große Mann sah auf die Uhr.

 

»Es ist ein Uhr, Jim. Bitte rufen Sie sofort im Flughafen an, daß man eine Maschine für uns bereitstellt. Um halb fünf werden wir abfliegen. – Wann sind wir dann in Kalkutta?«

 

»Übermorgen – wenn alles klappt.«

 

Jack hörte erstaunt zu.

 

»Es geht hart auf hart«, meinte der große Mann skeptisch. »Also, Mr. Shing, sehen Sie zu, daß Sie die Brillantnadel wieder in Ordnung bringen, damit wir fertig werden.«

 

Smith zog ein langes Etui aus der Tasche und öffnete es. Jack sah, daß es eine Anzahl von losen Brillanten enthielt.

 

»Hier ist ein Stein, der passen könnte. Er ist nur ein wenig größer als der andere. Können Sie den in die Fassung einsetzen?«

 

Er reichte dem Inder den Brillanten, der ihn mit einer Pinzette packte und an der Stelle des vorigen einpaßte. Schweigend beobachteten die anderen ihn bei seiner Arbeit. Der Inder war sehr geschickt und hatte schon nach wenigen Griffen die Brillantnadel repariert. Er gab sie dem großen Mann, der sie kurz betrachtete und dann Smith weiterreichte.

 

»Bringen Sie das noch heute zu Miss Wold. Sie können ihr ja sagen, daß wir den Dieb gefaßt hätten«, fügte er lächelnd hinzu.

 

»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie so behandeln mußte«, wandte er sich dann an Jack. Er stand auf, trat an dessen Stuhl und begann, die Handschellen aufzuschließen. »Ich hoffe, es wird Ihnen eine kleine Beruhigung sein zu hören, daß ich der indischen Kriminalpolizei angehöre.«

 

»Jetzt habe ich es aber satt! Zu allem Überfluß auch noch faustdicke Lügen!« rief Jack wütend.

 

»Mr. Danton, glauben Sie mir, die letzten Monate waren die aufregendsten meines Lebens. Lassen Sie sich von Miss May erzählen, wie alles zusammenhängt. Ich muß jetzt gehen.«

 

»Dann hat sie also doch die Brillantnadeln entwendet?« fragte Jack entsetzt.

 

»Ja, das hat sie getan. Sie ist die gerissenste und erfolgreichste Diebin von ganz London – und auch die schönste.« Lächelnd ging er aus dem Zimmer.

 

Kapitel 1

 

1

 

›Fragen Sie nur Ihre Frau, wo sie am Sonnabend, dem 23. war! Jeder nahm an, daß sie aufs Land gefahren sei, aber ich kann Ihnen verraten, daß sie allein mit einem jungen Gardeoffizier in dessen Wohnung zu Abend speiste.

 

Mit besten Empfehlungen Ein aufrichtiger Freund‹

 

Lord Widdicombe legte den Brief auf den Tisch und lächelte verächtlich. Im ersten Augenblick wollte er das Schreiben mit diesen niederträchtigen Beschuldigungen zerreißen und ins Feuer werfen, aber dann überlegte er es sich anders und klingelte seinem Kammerdiener.

 

»Frank, sagen Sie bitte meiner Frau, sie möchte so liebenswürdig sein, einen Moment zu mir zu kommen.«

 

Ein paar Minuten später trat Lady Widdicombe ins Zimmer. Sein Gesicht hellte sich auf, als er ihr entgegenging. Sie mochte wohl zwanzig Jahre jünger sein als ihr Mann, aber trotzdem führten die beiden eine harmonische Ehe.

 

»Liebling«, sagte der Graf und zwinkerte ihr verschmitzt zu, »jemand hat den Versuch gemacht, unser Glück zu stören.« Er reichte ihr den Brief und beobachtete schmunzelnd, wie sie vor Ärger rot wurde, während sie das Schreiben las.

 

»Was für eine Gemeinheit«, sagte sie zornig. »Am dreiundzwanzigsten! Natürlich habe ich an dem Abend mit Ronnie gegessen!«

 

»Der Mann hat also recht, siehst du! Ronnie ist ein junger Gardeoffizier – und außerdem mein Stiefsohn«, erwiderte Lord Widdicombe und lachte vergnügt. Dann trat er zu ihr und fuhr ihr zärtlich übers Haar.

 

»Du bist wirklich eine böse Frau, und ich bin dir nun auf die Schliche gekommen«, scherzte er. »Aber, zum Kuckuck, wer mag diesen verleumderischen Brief geschrieben haben?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ach, es ist abscheulich – entsetzlich!« entgegnete sie heftig. »Natürlich kann so etwas bei uns kein Unheil anrichten; aber welchen Schaden kann es stiften, wenn solch ein Brief in die Hände von Ehegatten kommt, die bereits auf einander eifersüchtig sind! – Übrigens ist der Einbrecher wieder an der Arbeit gewesen, Willie: Mrs. Crewe-Sanders ist eine wertvolle Brillantnadel gestohlen worden.«

 

Der Lord sah seine Frau erstaunt an und zog die Augenbrauen hoch.

 

»Wieder eine Nadel? Wie merkwürdig! Schon die vierte in diesem Monat! Der Mann ist konsequent! Aber verglichen mit diesem ›aufrichtigen Freund‹ ist er noch ein anständiger Kerl. Sag nur Diana nichts von dem Diebstahl, sie macht sich sonst nur unnötige Sorgen.«

 

Lady Widdicombe starrte durch die hohen Glastüren in den Park hinaus, auf den immer neue Regenschauer niedergingen. Aber ihr Mann sah, daß ihre Gedanken nicht mit der trostlosen Landschaft beschäftigt waren.

 

»Ich möchte nur wissen, warum Diana eigentlich Barbara May so wenig leiden kann?« fragte sie nachdenklich.

 

Er grinste.

 

»Es ist so erfreulich, daß sie wenigstens einmal bei einer Ansicht bleibt, daß man ihr in diesem Fall sogar verzeiht, wenn sie Barbara nicht mag. Aber, wie gesagt, erzähle ihr nichts von dem Brief – ich werde ihn heute noch Scotland Yard schicken. Und da wir gerade bei der Polizei sind, möchte ich dir noch sagen, daß ich Jack Danton eingeladen habe, während der Kricketwoche unser Gast zu sein. – Sonderbar, daß ein solcher Mann bei der Polizei ist.«

 

Aber Lady Widdicombe dachte bereits an andere Dinge, als sie die Bibliothek verließ. Sie ging in eines der kleinen Wohnzimmer und traf dort Diana Wold, die in einem Sessel am Fenster saß und in den Rosengarten schaute. Im Regen sah auch er traurig aus, obwohl es sonst dort so schön war. Diana trug ein duftiges weißes Kleid, und auf ihren Knien lag ein offener Gedichtband.

 

Sie schaute auf, als ihre Kusine ins Zimmer trat, und legte das Buch beiseite.

 

Diana war schön, aber sie besaß die zerbrechliche Schönheit einer feinen Porzellanfigur, und in ihrem Lächeln lag eine leise Melancholie.

 

Sie erhob sich und ging Lady Widdicombe entgegen. Fast schien es, als fürchte sie sich ein wenig vor ihrer Kusine, die so selbstbewußt und formvollendet auftrat.

 

»Was hast du eigentlich an Barbara auszusetzen?« fragte Elsie Widdicombe unvermittelt.

 

Diana lachte. In solchen Augenblicken sah sie bezaubernd aus.

 

»Das ist aber eine sonderbare Frage, Elsie. Habe ich denn überhaupt etwas an Barbara auszusetzen? – Vielleicht … Nein, ich kann nicht viel mit ihr anfangen – das ist alles. Ich gebe zu, daß sie ein entzückendes Mädchen ist, aber wir verstehen uns nun einmal nicht. Sie haßt Gedichte – und ich schwärme dafür; sie begeistert sich für Jagd und Golf – und ich fahre gern Auto und spiele Tennis. Ich bin meiner Veranlagung nach zurückhaltend und nicht sehr aktiv, während sie vor Energie nicht weiß, was sie alles unternehmen soll. – Aber warum fragst du eigentlich danach? Hat Willie Barbaras Vorzüge wieder einmal aufgezählt? Er kann sie ja recht gut leiden.«

 

Lady Widdicombe setzte sich auf die große, breite Couch. »Ich dachte nur im Augenblick daran. Du hast heute morgen doch auch einen Brief von Mrs. Crewe-Sanders erhalten, wie ich gesehen habe. Sie hat mir ebenfalls geschrieben. Hat sie dir mitgeteilt …«

 

Diana nickte lächelnd und warf ihrer Kusine einen vielsagenden Blick zu. »Jetzt weiß ich auch, warum du Barbara erwähntest – sie war bei den Crewe-Sanders‘ eingeladen.«

 

Lady Widdicombe versuchte zu widersprechen, aber ihr Protest war nur schwach.

 

»Barbara war dort zu Besuch«, fuhr Diana fort. »Sie war auch bei den Colebrooks eingeladen, als Mrs. Carter ihre Brillantnadel verlor. Ebenso war sie bei der Gesellschaft, die die Fairholms gaben. Die Dame des Hauses vermißt seitdem ihre Brillantbrosche.«

 

»Aber Diana!«

 

»Ach ja, ich weiß! Aber an den Tatsachen läßt sich doch nichts ändern.« Das Lächeln verschwand aus Miss Wolds Zügen, während sie langsam weitersprach und jedes Wort betonte. »Und sind nicht auch alle diese entsetzlichen anonymen Briefe des ›aufrichtigen Freundes‹ immer nur an Leute gerichtet, die Barbara May persönlich kennt?«

 

Lady Widdicombe erhob sich und rief empört aus: »Diana, ich hätte niemals geglaubt, daß du so gehässig sein könntest! Ich fürchte, du weißt nicht, was du sagst. Eben hast du die Vermutung ausgesprochen, daß Barbara nicht nur eine Diebin ist, sondern auch …«

 

»Ich weiß wohl, daß es eine schwere Anschuldigung ist.« Diana nickte. »Aber wir müssen doch den Tatsachen ins Auge sehen.«

 

Lady Elsie sah ihre Kusine vorwurfsvoll an.

 

»Was redest du von Tatsachen! Das ist doch geradezu abscheulich! Wie kannst du Barbara so verdächtigen … Sie ist doch noch fast ein Kind. Aber jetzt kann ich mir gut vorstellen, wie du sie haßt.«

 

Diana schüttelte den blonden Kopf und sah Elsie belustigt an.

 

»Das stimmt nicht. Aber ich kann doch mein logisches Denken nicht ausschalten. Ich bin eben zu diesem Ergebnis gekommen.«

 

Doch dann warf sie den Kopf zurück, als ob sie die häßlichen Gedanken abschütteln wollte, legte den Arm um ihre Kusine und gab ihr einen Kuß.

 

»Darling, nimm es nicht so tragisch! Es war wirklich nicht böse gemeint – was kann ich dafür, daß Barbara mir so schrecklich auf die Nerven fällt.«

 

Lady Widdicombe ließ sich jedoch nicht so leicht beruhigen. Dianas Worte hatten sie tief getroffen – weil ihr schon derselbe Verdacht gekommen war.

 

Kapitel 2

 

2

 

Inspektor Jack Danton trat in das Büro des Chefinspektors. Er glaubte genau zu wissen, warum ihn sein Vorgesetzter so plötzlich aus Paris zurückgerufen hatte.

 

Auf der Rückreise hatte er alle Zeitungsmeldungen über den neuesten Juwelendiebstahl gelesen. Die örtliche Polizei war offensichtlich diesem schlauen Kopf nicht gewachsen.

 

Wenn er – Danton – den Auftrag erhalten würde, diese Verbrechen aufzuklären, so wäre das eine Aufgabe nach seinem Geschmack gewesen. Er hatte nach dem Krieg die Laufbahn eines Kriminalbeamten bei Scotland Yard eingeschlagen. Mit Energie hatte er sich durchgesetzt, aber obgleich er bereits eine große Anzahl von Warenhausdieben hinter Schloß und Riegel gebracht hatte, sehnte er sich jetzt doch nach einem großen Fall, bei dem er einmal zeigen konnte, was wirklich in ihm steckte.

 

Den Zeitungsmeldungen nach war der letzte Juwelenraub ebenso ausgeführt worden wie alle früheren. Mrs. Crewe-Sanders hatte für mehrere Tage eine Anzahl von Gästen auf ihren Landsitz eingeladen, und in der letzten Nacht war die Brillantnadel gestohlen worden. Der Schmuck war sehr wertvoll, denn um das kostbare Mittelstück waren noch drei große dreieckig geschliffene Smaragde angeordnet.

 

Danton war darauf gefaßt, daß sein Vorgesetzter über diese Sache mit ihm sprechen würde.

 

»Nehmen Sie Platz«, sagte der Chefinspektor und nickte ihm freundlich zu. »Ich brauche Sie dringend.«

 

Jack lächelte. »Ich glaube, ich weiß, warum Sie mich sprechen wollen. Der letzte Juwelendiebstahl war ja wieder eine raffinierte Sache.« Er sah, daß der Chefinspektor die Stirn runzelte, und wunderte sich.

 

»Wovon sprechen Sie denn?«

 

Jack Danton schaute ihn erstaunt an.

 

»Ich meine den Juwelendiebstahl bei den Crewe-Sanders‘ in Shropshire.«

 

»Ach so!« Der Chefinspektor zuckte die Schultern. »Ich interessiere mich mehr für den sogenannten ›aufrichtigen Freund‹ als für den Juwelendieb. Außerdem hat die dortige Polizei noch nicht ausdrücklich um unsere Hilfe nachgesucht, wir brauchen uns also deshalb vorläufig keine grauen Haare wachsen zu lassen.«

 

Jack lachte.

 

»Ich verstehe wirklich nicht, was Sie meinen. Von welchem ›aufrichtigen Freund‹ sprechen Sie denn eigentlich?«

 

Der Chefinspektor klopfte mit der Hand auf einige Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen.

 

»Es handelt sich um einen anonymen Briefschreiber, der stets mit ›Ein aufrichtiger Freund‹ unterschreibt. Er schickt unverschämte Briefe an hochstehende Persönlichkeiten und hat schon viel Unheil damit angerichtet. Offenbar weiß er einiges über diverse Mitglieder der Gesellschaft, das auf keinen Fall an die Öffentlichkeit dringen darf. Diese Leute sind natürlich überzeugt, daß niemand etwas von ihren Geheimnissen ahnt, und sind jetzt verständlicherweise entsetzt. Offen gestanden glaube ich, daß es sich um eine Frau handelt, denn die Handschrift hat typisch weiblichen Charakter. Natürlich ist sie verstellt, aber selbst unter diesen Umständen kann man erkennen, daß eine Frau die Schreiberin ist. Hier haben Sie einen der Briefe.«

 

Er reichte Jack einen Bogen über den Tisch.

 

Der Inspektor las die Zeilen und lachte spöttisch.

 

»Das kann ja beträchtliches Unheil anrichten«, meinte er. »An wen war denn der Brief adressiert?«

 

»An Lord Widdicombe. Wie Sie sehen, handelt es sich um eine Verleumdung seiner Frau, die ihm untreu geworden sein soll. Glücklicherweise ist der Lord ein intelligenter, vernünftiger Mann, der zu seiner Frau das größte Vertrauen hat. Er zeigte ihr den Brief und hat ihn dann uns zur Verfügung gestellt. – Ich möchte Sie nun bitten, nach Shropshire zu fahren. Sie haben ja viele Bekannte in diesen Kreisen, und ich brauche Ihnen wahrscheinlich nicht erst lange Empfehlungsschreiben mitzugeben. Sind Sie schon einmal in der Gegend gewesen?«

 

»Ja, gewiß«, erwiderte Jack und lächelte. »Ich bin schon sehr lange mit den Widdicombes befreundet, und zufälligerweise habe ich gerade eine Einladung von ihnen erhalten, sie auf ihrem Landsitz zu besuchen.«

 

*

 

Zuerst war Jack sehr enttäuscht, daß ihm nicht die Aufklärung der Juwelendiebstähle übertragen wurde, aber schließlich fesselte ihn jede neue Aufgabe, und er war gespannt, was er in Shropshire erleben würde.

 

Er nahm die Akten, aus denen alle weiteren Einzelheiten hervorgingen, in sein Büro mit und brachte den Vormittag damit zu, die einzelnen Briefe und Handschriften miteinander zu vergleichen. Nach einer Weile lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und dachte angestrengt nach.

 

»Ausgerechnet Shropshire!« murmelte er vor sich hin und mußte unwillkürlich lächeln. »Barbara May ist doch gerade von Shropshire nach London gekommen.«

 

Bei dem Gedanken warf er einen Blick auf seine Uhr und erhob sich eilig.

 

Es war möglich, daß sie heute morgen einen Spazierritt im Hyde Park machte. Schon manchmal war er um diese Zeit dorthin gegangen, um die Reiter zu beobachten, und war enttäuscht gewesen, wenn er sie nicht getroffen hatte.

 

Gleich darauf fuhr er in einem Taxi bis zur Hyde Park Corner. Langsam ging er dann die belebten Parkwege entlang und musterte die vorbeikommenden Reiter.

 

Plötzlich schlug sein Herz schneller, denn er sah Barbara. Sie hielt unter einem Baum und sprach mit einem Herrn, in dem Danton ein Parlamentsmitglied erkannte. In vorzüglicher Haltung saß sie auf einem großen Rappen. Wieder einmal kam Jack, als er sie so vor sich sah, Barbaras Schönheit zum Bewußtsein. Er winkte ihr zu.

 

»Hallo, Mr. Danton!« rief sie, beugte sich nieder und gab ihm die Hand. »Ich dachte, Sie wären in Paris?«

 

»Gestern morgen hatte ich noch keine Ahnung, daß ich so bald wieder in London sein würde«, antwortete er, »aber man hat mir ein Telegramm geschickt, daß ich zurückkommen soll.«

 

Schon oft hatte er sich mit Barbara May unterhalten, nachdem er sie im Londoner Haus von Lady Widdicombe kennengelernt hatte. Aber bisher hatte er ihr noch nicht erzählt, weichen Beruf er ausübte; eigentlich war es ihm recht, daß sie noch nie neugierig danach gefragt hatte.

 

Er wußte, daß sie die Tochter eines Beamten im Außenministerium war und daß sie selbst während des Krieges dort gearbeitet hatte. Sie besaß kein Vermögen, und es hieß, daß Lady Widdicombe versuchte, einen geeigneten Mann für sie zu finden. Das war eigentlich alles, was Danton über Barbara May wußte, aber wenn er sie getroffen hatte, wartete er jedesmal mit Ungeduld auf die nächste Gelegenheit, sie wiederzusehen.

 

»Sie hatten mir doch fest versprochen, daß Sie mit mir ausreiten würden!« sagte sie vorwurfsvoll. »Jetzt wird wohl nichts mehr daraus werden, denn morgen verlasse ich London.«

 

Als sie die Enttäuschung in seinem Gesicht bemerkte, lachte sie.

 

»Ich fahre nach Shropshire«, fuhr sie fort. »Bei den Widdicombes findet wieder die Kricketwoche statt. Kommen Sie auch?«

 

Er atmete erleichtert auf, denn nun war der Besuch bei seinen Bekannten nicht nur Pflicht, sondern auch eine große Freude.

 

»Ja, zufällig fahre ich morgen abend auch dorthin. Dann werden wir also doch noch zusammen ausreiten?«

 

Sie nickte.

 

»Waren Sie die ganze Zeit in London?« fragte er, um die Unterhaltung nicht abreißen zu lassen.

 

Einen Augenblick zögerte sie.

 

»Nein, ich war auf Schloß Morply bei Mrs. Crewe-Sanders.«

 

Er starrte sie erstaunt an.

 

»Ach, das ist die Dame, die ihre Brillantnadel verloren hat?«

 

Es schien ihm, als ob sie rot würde.

 

»Ja«, erwiderte sie kurz und ritt mit einem kühlen Nicken davon.

 

Bestürzt schaute er ihr nach. Hatte er etwas gesagt, worüber sie sich geärgert haben könnte? Das war das letzte, was er beabsichtigte. Früher war sie doch nicht so empfindlich gewesen! Sie hatte sich also auf Schloß Morply aufgehalten, als dort die Brillantnadel gestohlen wurde. Wieder tat es ihm leid, daß man ihm nicht den Auftrag gegeben hatte, diese Verbrechen aufzuklären. Es wäre doch interessant gewesen, wenn Barbara May ihm die Geschichte erzählt hätte. Dann hätte er von ihr alle Einzelheiten erfahren können.

 

Er kehrte in sein Büro zurück und wußte nicht, warum er sich plötzlich so unbehaglich fühlte. Gewöhnlich weiß man ja den Grund für so etwas, aber Jack war nicht imstande, sich darüber klarzuwerden.

 

Am Nachmittag vertiefte er sich in seine Arbeit und war damit beschäftigt, bis er gestört wurde.

 

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte, und als er den Hörer abhob, hörte er die Stimme des Chefinspektors.

 

»Wenn Sie bei den Widdicombes zu Besuch sind, halten Sie die Augen offen – vielleicht können Sie etwas über diesen geheimnisvollen Juwelendieb erfahren. Ich habe so eine Ahnung, daß er der dortigen Gegend auch einen Besuch abstattet.«

 

Er dachte, und Jack fragte sich verwundert, als er den Hörer wieder auflegte, was er wohl damit gemeint hatte.

 

Kapitel 9

 

9

 

Soltescu hielt nicht viel von den meisten englischen Gebräuchen, und am wenigsten behagte ihm frühes Aufstehen. Aber an einem Aprilmorgen stand er trotzdem mit Sir George und Mr. Wilton an dem Pier in Tilbury und beobachtete die Ankunft des Dampfers »City of Incas«. Das weißgestrichene Schiff sah nach der langen Reise grau und schmutzig aus, und große, braune Rostflecken hatten sich überall eingenistet.

 

Sir George schlug seinen Mantelkragen hoch und ging an Bord des Schiffes, als die Landungsbrücke befestigt war.

 

Sie suchten den Zahlmeister und fanden ihn beim Frühstück in seiner großen Kabine.

 

»Es stimmt – wir haben verschiedene Pferde für Mr. Soltescu an Bord.«

 

»Hier ist der Herr selbst«, erklärte Sir George. »Die Pferde sollen morgen nach Rumänien geschickt werden. Wie hat denn El Rey die Fahrt überstanden?«

 

»Der ist frisch und fidel«, entgegnete der Zahlmeister begeistert. »Wirklich ein brillantes Pferd! Ich habe noch nie einen so vorzüglichen Renner gesehen. Eigentlich war ich ja etwas besorgt um ihn, aber er hat die Reise glänzend überstanden. Er hat gut gefressen, und außerdem war die Überfahrt verhältnismäßig ruhig. Ich glaube, daß Sie keine Schwierigkeiten mit ihm haben und ihn hier bald wieder ins Rennen stellen können.«

 

»Er soll nicht mehr an Rennen teilnehmen«, erwiderte Sir George kurz. »Er wird sofort nach Rumänien in das Gestüt von Monsieur Soltescu geschickt.«

 

Der Zahlmeister verstand etwas von Pferden und schüttelte den Kopf.

 

»Das ist aber schade«, meinte er bedauernd. »Das Tier ist erst vier Jahre alt und in allerbester Form. Es könnte noch manches Rennen gewinnen. Aber das ist ja schließlich Ihre Sache und geht mich nichts an.«

 

Sir George mußte als Soltescus Agent noch mehrere Schriftstücke ausfertigen und unterschreiben.

 

»Wann fahren Sie denn wieder ab?« fragte er nebenbei.

 

»Ausgerechnet einen Tag vor dem Derby. Es tut mir unendlich leid, daß ich das Rennen nicht sehen kann.«

 

Sir George atmete erleichtert auf. Es war ihm nur angenehm, daß der Zahlmeister nicht nach Epsom kommen konnte, denn er hatte allen Grund, dessen Anwesenheit zu fürchten.

 

Eine halbe Stunde nach der Ankunft des Dampfers führte ein Jockey das brasilianische Rennpferd die Landungsbrücke hinunter in die kleinen Gassen des Hafenviertels von Tilbury. Die drei gingen hinterher.

 

»Wohin bringen wir den Gaul jetzt?« fragte Mr. Wilton.

 

»Das werden Sie schon erfahren«, erwiderte Sir George ärgerlich. »Stellen Sie doch nicht immer so dumme Fragen, Toady.«

 

Mr. Wilton schwieg mürrisch.

 

Sie hatten einen weiten Weg vor sich, und er liebte es nicht, zu Fuß zu gehen. Zwei Kilometer vor der Stadt trafen sie ein Transportauto für Pferde, und El Rey wurde darin verladen.

 

Ein anderes Auto wartete auf die drei, und sie fuhren in der Richtung nach London voraus.

 

In Shadwell gibt es viele kleine Ställe, in denen die Gemüsehändler ihre Pferde über Nacht unterstellen. Sie sehen sehr vernachlässigt und schmutzig aus. In dieser Gegend endete die Fahrt. Sir George hatte das Auto halten lassen und dann an einen verabredeten Platz geschickt. Er öffnete selbst ein Vorhängeschloß an einer Hoftür und ging zu dem Stallgebäude hinüber. Als er die Tür aufmachte, konnte er im Dunkeln nichts sehen, aber das Rasseln einer Kette verriet, daß der Stall besetzt war. Das Grundstück lag am Ende einer kleinen Sackgasse, und dieser Stall erwies sich als sehr günstig für Sir George. Hier konnte er kaum beobachtet werden, und es spielte sich auf diesem kleinen, düsteren Hof manches ab, was das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hatte.

 

»Warten Sie am Tor, Toady«, sagte Sir George, »und passen Sie auf, wenn der Transportwagen kommt. Sobald er um die Ecke biegt, öffnen Sie die beiden Torflügel. Machen Sie aber sofort wieder zu, wenn er auf den Hof gefahren ist.«

 

Das war gerade keine geeignete Beschäftigung für den eleganten Wilton, aber er erhob keinen Widerspruch. Lange brauchte er auch nicht zu warten, denn gleich darauf tauchten die Umrisse des großen Lastautos auf.

 

»Nun wollen wir uns das Pferd einmal ansehen«, meinte Sir George, als El Rey ausgeladen und von den Decken befreit worden war.

 

Es war ein tadelloser Grauschimmel mit einem wunderbar modellierten Körper. Für sein Alter war er etwas klein, aber in bester Verfassung.

 

»Der wird, das Rennen machen«, erklärte Sir George. »Wie schaut denn nun das andere Tier aus?«

 

Er ging zu dem Stall und öffnete weit die Tür. Das Pferd, das in der äußersten Ecke stand, wandte den Kopf nach ihm um. Es war ebenfalls grau, aber nicht im mindesten gepflegt und so abgemagert, daß man alle seine Rippen sehen konnte. Niemand hätte in ihm den Portonius vermutet, der als Zweijähriger ohne Klassierung manche Rennen mitgemacht hatte. Und am allerwenigsten hätte jemand daran gedacht, daß dieser selbe Portonius für das Derby genannt war und daß die Buchmacher für ihn Wetten auf zwanzig zu eins abschlossen. Sir George schien darüber nachzudenken, denn er lächelte sarkastisch.

 

»Was würden die Buchmacher wohl sagen, wenn sie ihn in der Verfassung sähen?«

 

»Die würden Wetten auf tausend zu eins ohne Bedenken annehmen«, entgegnete Toady.

 

Das schlechtgefütterte Tier sah sich nach seinem Herrn um, und wenn Sir George auch nur einen Funken von Gefühl gehabt hätte, wäre ihm dieser vorwurfsvolle Blick nicht gleichgültig geblieben. Aber er kannte keine sentimentalen Anwandlungen.

 

»Bringen Sie El Rey in den nächsten Stall.«

 

Der Jockey führte den Auftrag aus.

 

»Morgen früh kommt er nach Cornwall«, sagte Sir George. »Aber was machen wir nun mit Portonius?« wandte er sich an den Jockey.

 

»Am besten geben wir ihm eine Kugel«, entgegnete Buncher.

 

Sir George schüttelte den Kopf.

 

»Lieber nicht. Wir müßten einen Pferdeschlächter rufen, und der versteht so viel von Pferden, daß er sofort ein Vollblut erkennt. Nein, das dürfen wir nicht tun. Ich habe mir aber etwas anderes überlegt. Wie heißt doch der Mann, der Ihnen manchmal hier hilft?«

 

»Flickey. Seinen eigentlichen Namen weiß ich nicht. Er treibt sich hier gewöhnlich in den Kneipen herum. Wenn man ihm ein paar Glas Bier gibt, tut er alles, was man von ihm verlangt.«

 

»Haben Sie mir nicht erzählt, daß er mit der Polizei in Konflikt kam, weil er alte, ausgediente Pferde nach Antwerpen verschiffte?«

 

Buncher nickte grinsend.

 

»Ach so, jetzt verstehe ich, was Sie wollen«, meinte er.

 

»Ja, das ist das beste«, erwiderte Sir George. »Holen Sie Flickey, daß er den Gaul heute abend noch fortschafft. Er kann ihn wegbringen, ohne Geld dafür zu verlangen. Auch wünsche ich nicht, daß irgendwelche Papiere darüber ausgefertigt werden. Wir tun so, als ob das Pferd schon bezahlt ist. In ein paar Tagen ist Portonius in Antwerpen, und wir hören und sehen nie wieder etwas von ihm. Das ist der einzig sichere Weg. Der Handel mit alten Pferden ist sehr unbeliebt, und die Leute, die sich damit abgeben, halten den Mund. Und je weniger Leute darüber sprechen, desto besser ist es.«

 

Er wandte sich an den Rumänen.

 

»Sie sehen, daß die Sache klappt, Mr. Soltescu. Ich glaube, wir brauchen Sie jetzt nicht mehr zu belästigen. Haben Sie übrigens noch etwas von Ihrer vermißten Mappe gehört?«

 

Soltescu schüttelte den Kopf.

 

»Ich fürchte auch, daß ich nie wieder etwas von der wertvollen Formel sehen werde.«

 

»Ja, die Sache war wohl eine Million wert«, meinte Sir George.

 

»Was fällt Ihnen ein!« Soltescu lachte bitter. »Eine Million? Drei, fünf Millionen mindestens! Wissen Sie, daß Ende nächsten Monats eine Glasausstellung in Frankreich eröffnet wird? Man hat eine Belohnung von hunderttausend Pfund für denjenigen ausgesetzt, der biegsames Glas herstellen kann.«

 

»Da sollte man doch denken, daß der alte President sich um den Preis bewirbt?« Sir George runzelte die Stirn.

 

»Ich glaube nicht«, sagte Soltescu. »Ich kann mich noch sehr gut darauf besinnen, wie kompliziert der Herstellungsprozeß war. Sicherlich hat er versucht, die Formel wieder zu rekonstruieren, aber ich glaube kaum, daß es ihm gelungen ist. Wahrscheinlich wurden ihm die Schriftstücke während seiner schweren Krankheit gestohlen.«

 

»Woher wissen Sie denn davon?« fragte Sir George erstaunt.

 

»Der Mann, der mir das Fabrikationsgeheimnis verkaufte, hat es mir gesagt. Übrigens kommt er nächstens nach London.«

 

»Könnte der Ihnen denn keinen Aufschluß über die Formel geben?«

 

Soltescu machte ein trauriges Gesicht.

 

»Ich habe bereits darüber mit ihm verhandelt. Er weiß natürlich noch verschiedenes, aber das Wichtigste hat er vergessen. Wir haben auch schon verschiedene Experimente zusammen gemacht, aber keine Resultate erzielt.«

 

»Ist mir der Mann eigentlich bekannt?« fragte Sir George interessiert.

 

Während des Gespräches hatten sie den kleinen Hof verlassen und gingen jetzt durch die schmutzigen Straßen von Shadwell.

 

»Sie haben wahrscheinlich schon von ihm gehört.« Soltescu lachte verschmitzt. »Es ist ein Graf –«.

 

»Ach, ist es der?« Der Baron, sah ihn erstaunt an. »Er hat doch in Monte Carlo die Bank gesprengt?«

 

»Ja, ganz recht. Er ist dann nach Paris gefahren, wo er ein Leben in Saus und Braus führte. Da er jetzt über viel Geld verfügt, fürchtet er sich auch nicht mehr vor John President und wagt sich nach London.«

 

»Graf Colini«, sagte Sir George nachdenklich.

 

»Diesen Namen hat er sich allerdings erst nach seinem großen Erfolg zugelegt«, erwiderte der Rumäne lachend.

 

»Ich möchte ihn eigentlich näher kennenlernen«, erklärte Sir George. »Ein Mann mit einem so großen Vermögen kann einem immer nützlich sein.«

 

Einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke, und sie verstanden einander vollkommen.

 

»Er wird Ihnen nicht soviel nützen wie ich«, meinte der Rumäne.

 

Sie standen vor dem Wagen. Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich Soltescu und fuhr davon.

 

*

 

An demselben Abend um halb neun ging Mr. Flickey etwas unsicher zu dem Stallgebäude, das Sir George in Shadwell gemietet hatte. Buncher gab ihm dort die letzten Anweisungen.

 

»Wenn jemand Sie anhält und fragt, wohin Sie den Gaul führen, sagen Sie, daß Sie ihn zum Tierarzt nach Camden Town bringen.«

 

»Lassen Sie mich nur machen«, erklärte Flickey selbstbewußt. »Ich habe nicht umsonst meine Zeit hauptsächlich im Gefängnis zugebracht. Da lernt man allerhand. Wird für den Gaul bezahlt, wenn ich ihn abliefere?«

 

»Nein, darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Ihre zehn Schilling haben Sie ja schon in der Tasche. Sie sollen das Pferd nur den Leuten übergeben, die die Pferdetransporte nach Antwerpen besorgen. Weiter haben Sie nichts zu tun.«

 

»Ja, die Firma kenne ich gut.«

 

»Und nun machen Sie, daß Sie fortkommen«, sagte Buncher ärgerlich.

 

Flickey verschwand mit seinem Pferd durch das Tor und wandte sich später zur Commercial Road. Es kam ihm etwas unheimlich auf der großen Straße vor, auf der viele Polizisten zu sehen waren, denn er hatte nicht die geringste Absicht, mit ihnen in Berührung zu kommen. Nach einer Viertelstunde bog er jedoch in eine ruhige, verlassene Straße ein und kam an einer Kneipe vorbei. Die hellerleuchteten Fenster besaßen eine besondere Anziehungskraft für ihn, der er nicht widerstehen konnte. Er hielt an und sah sich um. Aber er konnte nur einen einzigen Menschen in der Nähe entdecken, einen schlampigen Mann, der mit den Händen in den Hosentaschen hinter ihm herging. Mr. Flickey fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen war, in dem er unbedingt etwas trinken mußte. Außerdem fiel ihm ein, daß es kurz vor Toresschluß war. Der Mann, den er bemerkt hatte, schlenderte gerade langsam an ihm vorüber.

 

»Hallo, Bill!« rief ihn Flickey an.

 

Er wußte zwar nicht, ob der Mann Bill hieß, aber dieser Anruf erschien ihm als eine freundliche Einleitung, da er den Mann um einen Gefallen bitten wollte.

 

»Halten Sie doch mal dieses Pferd fünf Minuten lang«, sagte er. »Sie kriegen nachher auch ein Trinkgeld, wenn ich wieder aus der Kneipe komme.«

 

»Gemacht!« entgegnete der andere sofort bereitwillig.

 

Er war groß, aber sehr schlecht gekleidet. Flickey betrachtete ihn und gewann den Eindruck, daß der Mann bessere Tage gesehen haben mußte. Das schloß er auch aus seiner Sprache und aus seinen Bewegungen.

 

»Wo kommt der Gaul denn hin?« fragte der Fremde, der das Pferd neugierig musterte.

 

»Das geht Sie nichts an«, erklärte Flickey brummig. »Stellen Sie keine dummen Fragen, dann bekommen Sie keine falschen Antworten. Man muß nicht allen Leuten gleich alles auf die Nase binden.«

 

»Nichts für ungut«, erwiderte der andere und nahm den Zügel des Pferdes.

 

»Aber Ihnen kann ich es ja im Vertrauen sagen«, meinte Flickey gnädig. »Der kommt nach der Knochenmühle.«

 

»Was, zum Abdecker?«

 

»Nein, das gerade nicht«, entgegnete Flickey, der keine Neuigkeit für sich behalten konnte. »Ich bringe ihn zu einem Freund, der schickt ihn per Schiff fort.«

 

»Aha, ich verstehe.«

 

»Ich bleibe keine fünf Minuten aus«, sagte Flickey noch, als er sich in der Tür umdrehte.

 

Aber in der Stube war es gemütlich warm, und er konnte seinen gewaltigen Durst löschen, da er Geld in der Tasche hatte.

 

Die fünf Minuten wurden zu zehn – zu fünfzehn – und schließlich kam Flickey noch mit einem Mann ins Gespräch, der eine entgegengesetzte Meinung über Politik vertrat. Eine Dreiviertelstunde war vergangen, als ihm zum erstenmal wieder einfiel, daß er noch einen Auftrag zu erledigen hatte.

 

»Jetzt muß ich aber machen, daß ich fortkomme«, sagte er und schaute auf die große Uhr über dem Büfett. Dann taumelte er zu der Tür.

 

»Verdammt, ich habe ziemlich schwer geladen. Wenn ich bloß nicht zwei Pferde sehe«, brummte er, als er auf die Straße trat.

 

Aber davor blieb er bewahrt, denn als er hinauskam, konnte er nicht einmal ein Pferd sehen. Der Gaul und sein Wächter waren vollkommen von der Bildfläche verschwunden.

 

Flickey starrte bestürzt vor sich hin, ging dann langsam zur nächsten Straße und schaute um die Ecke, aber auch da war keine Spur zu finden. Er öffnete sogar die gute Stube der Kneipe, denn es kam ihm plötzlich der absurde Gedanke, daß sich der Mann mit dem Pferd dort niedergelassen haben könnte. Bald beruhigte er sich aber wieder. Er hatte ja seine Bezahlung schon im voraus bekommen, und deshalb hatte er ein gutes Gewissen.

 

»Na, meinetwegen soll er den Gaul heiraten«, brummte er, trollte sich nach Hause und sank schwer aufs Bett. Als er am nächsten Morgen erwachte, hatte er alles vergessen, was sich am vorigen Abend zugetragen hatte, und als Buncher ihn später fragte, ob er das Pferd richtig abgeliefert hätte, zögerte er keinen Augenblick mit der Antwort.

 

»Ja, ich habe den Gaul dem Mann gegeben, und er hat sich obendrein noch freundlich dafür bedankt«, erklärte er seelenruhig.

 

Kapitel 22

 

22

 

»Die Sache hat Sie schwer mitgenommen«, meinte Eric Stanton.

 

Milton saß teilnahmslos am Tisch und starrte ins Leere. Die Zigarre zwischen seinen Fingern war ausgegangen.

 

»Ja, da haben Sie recht«, sagte er jetzt. »Mir hat noch nichts im Leben so sehr zugesetzt.«

 

»Kommen Sie mit in die Stadt und erholen Sie sich.«

 

Auf dem Heimweg hatten sie in der Nähe eines Vergnügungsparks einen Reifenschaden. Während der Chauffeur das Rad wechselte, gingen sie durch die Reihe der Würfelbuden und Schießstände und blieben schließlich vor einem größeren Zelt stehen. Ein auffallend bemaltes Schild verkündete, daß hier eine wandernde Theatertruppe Vorstellungen gab. Die Schauspieler und Schauspielerinnen standen in ihren Kostümen auf einer erhöhten Plattform.

 

»Der Mann dort kommt mir so bekannt vor«, sagte Eric plötzlich und wies auf einen Schauspieler, der mit lauttönender Stimme die Umstehenden zum Besuch des Theaters aufforderte.

 

»Und die Frau dort muß ich auch schon gesehen haben«, erwiderte Milton und zeigte auf eine reichlich geschminkte Dame, die auf einem Stuhl saß und mit einem Kollegen sprach.

 

»Es ist doch merkwürdig, daß man sich manchmal einbildet, gewisse Leute schon zu kennen, die man plötzlich trifft«, fuhr Milton fort. »Jedem von uns ist das schon begegnet.«

 

Er folgte einer plötzlichen Eingebung und nahm Eric mit in die Vorstellung, die mittlerweile begonnen hatte. Sie kauften reservierte Plätze in der Nähe der Bühne, und der erste Akt war beinahe zu Ende, als Milton einen Zettel schrieb. Er schickte ihn durch einen Angestellten hinter die Bühne und erhielt auch gleich darauf die Antwort, daß der Schauspieler ihn nach der Vorstellung sprechen würde.

 

»Ich habe eine Idee«, erklärte Milton, »aber ich weiß nicht, ob ich recht habe.«

 

Eric schüttelte den Kopf.

 

»Sie sind wieder einmal geheimnisvoll, und ich weiß nicht, was Sie beabsichtigen.«

 

Die Vorstellung endete erst gegen zwölf Uhr, und die Schauspieler kamen einzeln aus dem Zelt ins Freie. Ein etwas untersetzter Mann trat auf Milton Sands zu.

 

Sie musterten sich einen Augenblick, als sie einander gegenüberstanden, und Milton sah, daß der Mann verlegen wurde.

 

»Ich glaube, wir haben uns schon kennengelernt«, bemerkte der Detektiv ruhig.

 

»Ich glaube nicht«, entgegnete der andere ablehnend.

 

»Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein und mich in mein Hotel begleiten? Ich möchte einige Fragen an Sie richten.«

 

»Nein, das lehne ich entschieden ab.«

 

»Dann muß ich die Polizei rufen und Sie verhaften lassen.«

 

»Das können Sie nicht. Ich habe Sie überhaupt noch nicht gesehen!«

 

»Machen Sie doch keine Geschichten. Ich will Ihnen gern für Ihre Bemühungen zahlen, wenn Sie mir einige Informationen geben können«, erklärte Milton lächelnd. »Wenn Sie vernünftig sind, gehen Sie mit mir.«

 

Diese Zusicherung beruhigte den Schauspieler, und er begleitete die beiden.

 

Sie fuhren zu einem nahegelegenen Hotel, in dem Eric ein Zimmer nahm, und setzten sich bei einem Glas Wein zusammen.

 

»Wie kam es denn, daß Sie heute nachmittag auf dem Hausboot von Sir George waren?« fragte Milton nach einigen einleitenden Bemerkungen. »Und warum haben Sie behauptet, daß Sie das Boot gemietet hätten?«

 

»Darüber möchte ich nichts weiter sagen«, entgegnete der Mann zurückhaltend.

 

Milton zog seine Brieftasche heraus und legte fünf Banknoten auf den Tisch. Jede hatte einen Wert von fünf Pfund.

 

»Wenn Ihre Informationen nützlich für mich sind, zahle ich Ihnen diese Summe.«

 

Der Mann sah das Geld gierig an.

 

»Unter diesen Umständen bin ich schließlich nicht abgeneigt, Ihnen die Geschichte zu erzählen. Wir haben ja nichts Schlimmes getan, sondern uns einfach engagieren und bezahlen lassen.«

 

»Wer hat Sie denn engagiert?«

 

»Ein eleganter Herr. Ich glaube, er heißt Sir George Frodmere. Außerdem war noch ein gewisser Mr. Kitson bei ihm.«

 

»Ach so, Bud Kitson.« Milton nickte.

 

Der andere grinste.

 

»Der hat mir eine merkwürdige Geschichte vorerzählt. Eine hübsche Schauspielerin sollte zu dem Boot kommen, die immer von zwei jungen Leuten belästigt wurde. Sie wollte sich dort vor ihnen in Sicherheit bringen. Ich und meine Kolleginnen sollten eine Familienszene auf dem Hausboot spielen und die beiden Herren hinters Licht führen. Wir bekamen zehn Pfund für unsere Bemühungen und sollten von morgens bis zur Abendvorstellung auf dem Boot bleiben.«

 

»Jetzt verstehe ich alles«, sagte Milton. »Hier haben Sie Ihre fünfundzwanzig Pfund. Ich will Sie nicht weiter stören.«

 

Er verließ das Zimmer, öffnete draußen seine Aktentasche, nahm eine Browningpistole heraus und untersuchte sie. Er überzeugte sich, daß das Magazin gefüllt war, steckte die Pistole in seine Hüfttasche und ging dann zu Eric zurück.

 

»Wir wollen noch einmal zu dem Hausboot fahren und es gründlich untersuchen. Da Kitson zu der Gesellschaft gehört, ist es ratsam, daß wir uns vorsehen.«

 

Es gab noch einen kleinen Aufenthalt, bevor sie abfahren konnten, und die Kirchenuhren schlugen eins, als sie zum Themseufer kamen.

 

»Wir sind da«, sagte Milton und zeigte auf die beiden weißen Pfosten, die die Anlegestelle markierten.

 

Der Wagen hielt, sie stiegen aus und gingen nach dem Fluß zu. Es war eine dunkle Nacht, und ein leichter Regen fiel.

 

»Wir müssen falsch gegangen sein«, rief Eric plötzlich.

 

»Warum denn?« fragte Milton erstaunt.

 

Aber dann sah er plötzlich, daß das Hausboot nicht mehr am Ufer lag. Sie fanden wohl die Pfosten, an denen es vertäut gewesen war, und im Schein ihrer Taschenlampen entdeckten sie auch Fußspuren und die Stelle, wo die Landungsbrücke am Ufer aufgelegen hatte. Aber das Hausboot selbst war verschwunden.

 

*

 

»Wie spät ist es?« fragte Sir George.

 

»Halb eins«, entgegnete Kitson.

 

»Der Schlepper muß jeden Augenblick ankommen.«

 

»Der Schlepper?« fragte Bud erstaunt.

 

Sir George nickte.

 

»Sie lassen uns hier sicher nicht in Ruhe, denn sie werden bald auf unserer Spur sein. Die Schauspieler haben ihren Zweck erfüllt, aber ich brauche mehr Zeit, um zum Ziel zu kommen. Deshalb habe ich einen Schlepper engagiert, der uns den Strom hinunterbugsieren soll. Ich kenne eine ruhige, nette Bucht weiter unten, in der wir wochenlang liegen können, ohne daß man uns dort sucht.«

 

»Aber wird denn das alte Boot die Fahrt aushalten?« fragte Kitson zweifelnd.

 

Sir George lächelte.

 

»Der Schlepper muß das Boot längsseits festmachen, dann kann so leicht nichts passieren. Ich habe auch schon Anweisung gegeben, daß er die Taue sofort loswerfen soll, wenn wir in der Nähe der Bucht sind. Wir müssen den alten Kasten dann selbst mit Stangen und Rudern bis zu einer guten Landungsstelle bringen.«

 

Sir George schaltete das Licht im Salon aus und öffnete eins der Fenster, die auf den Fluß hinausführten.

 

»Da kommt er schon.«

 

Mitten im Strom konnten sie die dunklen Umrißlinien des kleinen Dampfers sehen. Die roten und grünen Lichter leuchteten hell in der Dunkelheit.

 

Nach kurzer Zeit war das Hausboot von den Pfosten losgemacht und an dem Schlepper befestigt. Langsam fuhren sie auf den Strom hinaus.

 

»Die einsame Bucht befindet sich auf dem Landgut von Lord Chanderson, und es trifft sich vorzüglich, daß er gerade heute abend nach Frankreich reist. Ich hörte es auf dem Rennplatz, als er mit einem anderen Herrn darüber sprach. Niemand wird uns dort beobachten, und wenn uns das Glück günstig ist, können wir uns bequem drei Wochen lang versteckt halten. Haben Sie das Boot verproviantiert, wie ich Ihnen gesagt habe?«

 

Kitson nickte.

 

»Was soll denn aus ihr werden?«

 

Sir George lächelte.

 

»In drei Wochen kann viel passieren. In dieser Zeit kann selbst eine eigensinnige junge Dame ihre Meinung ändern. Augenblicklich bin ich allerdings in einer etwas unangenehmen Lage, Kitson. Das werden Sie auch verstehen. Wir haben ja schon öfter solche Situationen miteinander erlebt.«

 

»Das könnte ich nicht gerade behaupten«, entgegnete Bud kühl. »Mich hat man zwar mehrmals ins Gefängnis gesteckt. – Pentridge gab Ihnen doch zweitausend Pfund«, sagte er dann unvermittelt. »Davon möchte ich auch meinen Teil haben.«

 

»Selbstverständlich«, entgegnete Sir George beruhigend. »Wir teilen, wenn die Sache vorüber ist. Sie sollen nicht zu kurz kommen, weil Sie zu mir halten. Ich kann bald über ein großes Vermögen verfügen, und Sie wissen doch auch, daß ich ein wertvolles Landgut besitze.«

 

»Damit können Sie mir nicht imponieren. Das Ding ist über und über mit Schulden und Hypotheken belastet. Meiner Meinung nach besteht Ihr ganzes Besitztum aus den zweitausend Pfund, die Sie in Ihrer Brieftasche haben. Und ich muß schon darauf dringen, daß Sie mir einen Teil davon abgeben.«

 

»Wir wollen die Sache in einigen Tagen weiter besprechen«, sagte Sir George bestimmt.

 

»Nein, wir müssen sie jetzt ins reine bringen«, brummte Bud Kitson. »Unsere gemeinsame Verbindung war bis jetzt für mich nicht gerade sehr vorteilhaft, und ich verlange endlich einmal eine größere Summe.«

 

Sie standen beide auf dem Oberdeck und sahen auf den dunklen Fluß hinunter, während der Schlepper langsam stromabwärts dampfte.

 

»Ich habe bei Ihnen wirklich keine Seide spinnen können«, fuhr Kitson fort. »Und die tausend Pfund, die Sie mir jetzt geben werden, sind noch lange keine Entschädigung für all meine Mühe.«

 

Sir George lachte.

 

»Tausend Pfund soll ich Ihnen geben? Mein lieber Mann, Sie sind wohl nicht mehr ganz bei Verstand! Ich brauche den ganzen Betrag, ich kann nichts davon entbehren. Ich habe Ihnen doch vorhin schon gesagt, daß Sie Ihre volle Belohnung erhalten, wenn wir die Sache zu einem guten Abschluß gebracht haben.«

 

»Und ich sage Ihnen, daß ich meine Hälfte jetzt sofort haben will«, entgegnete Bud Kitson heftig.

 

Sir George wandte sich zu ihm um und trat ihm im Dunkeln entgegen.

 

»Sie bekommen jetzt gar nichts. Sie müssen warten, bis ich Ihnen etwas gebe, wenn die Zeit dazu gekommen ist.«

 

»Sie ist jetzt gekommen«, erwiderte Kitson hartnäckig.

 

Sir George drückte dem Amerikaner plötzlich die Pistole in die Rippen, und Bud hob automatisch die Hände hoch.

 

»Sie bekommen Ihr Geld, wenn ich soweit bin. Sie können mich nicht dazu zwingen, daß ich es Ihnen jetzt gebe.«

 

»Wenn ich nun aber ans Ufer gehe, die Polizei rufe und ihr alles mitteile?« fragte Kitson frech.

 

»Welchen Nutzen hätten Sie davon? Sie saßen doch schon einmal im Portland-Gefängnis. Wollen Sie wieder dorthin wandern? Wenn Sie Ihre Drohung wahrmachen sollten, werde ich schon dafür sorgen, daß Sie wieder hinkommen.«

 

»Ich glaube, das wird Ihnen kaum gelingen.«

 

»Auf Ihren Glauben kommt es gar nicht an«, entgegnete Sir George mit einem rauhen Lachen. »Ich kenne Ihr Vorleben ganz genau. In Monte Carlo wurde ein Mann ermordet, und Sie standen dabei und rührten keinen Finger, um den armen Teufel zu retten. Seit der Zeit haben Sie den Mörder erpreßt. Das ist an und für sich schon strafbar, außerdem sind Sie auch der Beihilfe zum Mord schuldig.«

 

»Sie wissen zuviel«, sagte Bud Kitson merkwürdig langsam und ruhig.

 

Blitzschnell schlug er Sir George die Pistole aus der Hand, und die Waffe fiel polternd auf das Deck.

 

»Lassen Sie mich los«, brüllte der Baronet, als Bud ihn an der Kehle packte.

 

Sie rangen miteinander auf dem Deck des großen Hausbootes. Plötzlich sprang Kitson zurück und schlug Sir George mit einem Kinnhaken zu Boden, so daß dieser besinnungslos liegenblieb. Vorsichtig beugte er sich über ihn, durchsuchte seine Taschen und fand, was er haben wollte. Er steckte die Brieftasche und die Pistole Sir Georges ein, zog dann ohne weitere Umschweife den Bewußtlosen an die Reling und warf ihn ins Wasser. Einige Zeit blieb er noch dort stehen und schaute in die dunklen Fluten, aber es war nichts mehr von Sir George zu sehen. Schnell ging er über das Deck und rief den Kapitän des Schleppers.

 

»Machen Sie Ihre Taue los und lassen Sie das Hausboot treiben!« befahl er.

 

Er hörte den Maschinentelegrafen, der das Signal zum Stoppen gab. Der Kapitän stieg von seiner kleinen Brücke und kam nahe an die Reling.

 

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er.

 

»Machen Sie das Hausboot los«, wiederholte Bud …

 

»Ich kann Sie aber doch nicht mitten im Strom treiben lassen!« entgegnete der Kapitän verwundert.

 

»Dann bringen Sie das Boot bis ans Ufer und lassen Sie es dort liegen«, erwiderte Kitson.

 

»Wo ist denn der andere Herr?«

 

»Der ist schon nach unten gegangen und hat sich schlafen gelegt.«

 

Der Kapitän zögerte.

 

»Und was wird aus meiner Heuer?«

 

Kitson nahm einen Geldschein aus der Tasche, lehnte sich über die Reling und reichte ihn hinüber.

 

»So, damit sind Sie bezahlt.«

 

Der Kapitän trat unter eine Lampe und erstaunte über die Höhe des Betrages.

 

»Ich werde Ihnen das Wechselgeld herausgeben.«

 

»Sie können den Rest behalten. Bringen Sie mich nur bis zum Ufer und fahren Sie dann fort.«

 

Aber selbst, als der Kapitän den Auftrag ausgeführt hatte, konnte er sich noch nicht beruhigen und fragte, ob er nicht noch weitere Hilfe leisten sollte.

 

»Ich kann den Kasten schon allein festmachen«, erklärte Bud.

 

Er wartete eine halbe Stunde, bis die Lichter des Schleppers um die Biegung des Flusses verschwunden waren. Bis jetzt hatte alles geklappt. Er hatte das Hausboot nicht festzumachen brauchen, denn es hatte sich auf einer Schlammbank festgesetzt und rührte sich nicht von der Stelle. Kitson ging nach unten. Seine Frau lag auf einer Couch im Salon.

 

»Sir George ist über Bord gefallen«, sagte er kurz, nachdem er sie geweckt hatte.

 

Sie sahen sich einen Augenblick an und verstanden sich.

 

»Mach dich fertig, damit wir fortgehen können. Wir müssen uns beeilen.«

 

»Was wird denn aus dem Mädchen?«

 

»Die kann hier bleiben. Die kleine Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Sir George ist doch nur zu ihrem Besten.«

 

Die Vorbereitungen waren bald getroffen. Er wechselte seine leichten Schuhe gegen ein Paar kräftige Stiefel aus und durchsuchte dann Sir Georges Kabine. In einem Handkoffer fand er eine große Summe Bargeld.

 

Seine Frau war schon längst fertig und wartete auf ihn.

 

»Wäre es nicht besser, wenn wir sie riefen?« fragte sie.

 

»Nein, wir haben keine Zeit zu solchen Dummheiten. Wir müssen jetzt vor allem an uns selbst denken.«

 

»Was ist denn aus ihm geworden?« fragte sie und zeigte mit dem Kopf nach dem Deck.

 

»Halt den Mund und stell keine albernen Fragen.«

 

Als er vorhin auf dem Deck stand, hatte er geglaubt, die Spitze des Bootes sei dem Ufer so nahe, daß man von dort aus an Land springen könne. Aber jetzt bemerkte er zu seiner Überraschung, daß ihn ein breiter Streifen Wasser vom Ufer trennte.

 

»Das Boot ist ins Treiben gekommen«, sagte er mit einem Fluch und eilte aufs Oberdeck, um sich besser umsehen zu können.

 

Das Fahrzeug trieb tatsächlich langsam nach der Mitte des Stroms. Ein kleines Rettungsboot schwamm an einem Seil hinterher. Nach einigen Anstrengungen gelang es Kitson, es heranzuziehen. Er half seiner Frau hinein und kletterte dann selbst nach.

 

Er fand ein paar Ruder und trieb das Boot mit kräftigen Schlägen ans Land.

 

»Das ist der beste Ausweg für uns. Das Mädchen werden sie morgen schon finden. Passieren kann ihr nichts.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Janet Symonds erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Sie hatte das Gefühl, daß ihr irgendeine Gefahr drohte. Obwohl sie unter keinen Umständen hatte einschlafen wollen, hatten sie die aufregenden Ereignisse des Tages und die lange Fahrt doch müde gemacht.

 

Es fiel ihr auf, daß das Boot sich nach der einen Seite neigte, und als sie durch das kleine Fenster schaute, bemerkte sie, daß es mitten im Strom trieb. Schnell räumte sie die Möbel fort, die sie vor der Tür angehäuft hatte. Sie lief den Gang entlang und erwartete, daß sie die anderen treffen würde, aber sie konnte niemand entdecken. Das Licht im Salon brannte allerdings noch, aber es war niemand dort.

 

Nun wurde ihr plötzlich die gefährliche Lage klar, in der sie sich befand. Das Boot sank!

 

Sie lief wieder nach unten und rief nach Sir George. Aber sie bekam keine Antwort.

 

Die anderen hatten sie im Stich gelassen. Sie erinnerte sich daran, daß sie vorher ein kleines Ruderboot gesehen hatte, das hinten an dem Hausboot befestigt war. Aber auch das war verschwunden.

 

Langsam, mit leisem Knacken und Ächzen, sank das Boot tiefer und tiefer. In ihrer Verzweiflung suchte sie nach einem Rettungsring, konnte aber keinen finden. Sie war zu schwach, um ein paar Planken loszureißen, die sie hätten über Wasser halten können.

 

Aber plötzlich tauchten weiter stromaufwärts Lichter auf und näherten sich schnell. Janet hörte das Geräusch eines Motors und rief mit aller Kraft um Hilfe.

 

Eric Stanton, der vorn im Boot saß, hörte den Schrei und sah in der Fahrtrichtung die dunklen Umrisse des Hausbootes. Er rief etwas zurück, und der Motor stoppte sofort, gerade noch rechtzeitig. Milton, der am Steuer saß, brachte das Boot längsseits des sinkenden Fahrzeugs.

 

Ohne einen Augenblick zu zögern, sprang er an Bord. Als sein Fuß den Boden des Decks berührte, legte sich das Hausboot auf die Seite und versank in den Fluten. Aber er hatte Janet mit starken Armen gepackt. Beinahe hätte der Strudel des untergehenden Bootes sie in die Tiefe mitgerissen. Milton kämpfte verzweifelt, und endlich, nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, kam er wieder an die Oberfläche und atmete die frische Nachtluft.

 

Das Motorboot nahm beide auf.

 

»Janet ist ohnmächtig geworden«, sagte Eric. Er zog seinen Mantel aus und deckte damit die Bewußtlose zu. Zärtlich blickte er sie an. Endlich hatte er seine Schwester wiedergefunden.

 

*

 

Am nächsten Morgen ging die Sonne strahlend auf, und Janet öffnete schlaftrunken die Augen. Sie schaute sich um und bemerkte, daß Mary President neben ihrem Bett saß und ein Buch auf den Knien hatte. Sie lächelte schwach und schlief wieder ein. Als sie zum zweitenmal erwachte, war Mary President immer noch bei ihr, aber statt des Buches hielt sie eine Zeitung in der Hand, und auch der Boden war mit Zeitungen bedeckt.

 

»Wie geht es Ihnen jetzt?«

 

»Viel besser«, sagte Janet und richtete sich auf.

 

»Fühlen Sie sich wohl genug, all die vielen Bilder von Donavan zu sehen?« fragte Mary vergnügt. »Er hat das Derby gewonnen.«

 

»Das Derby?« fragte Janet verständnislos.

 

»Ja. Wir waren doch gestern zusammen beim Rennen in Epsom – haben Sie das denn ganz vergessen?«

 

Janet schüttelte den Kopf.

 

»War das erst gestern?« fragte sie verwundert. »Es kommt mir vor, als wären inzwischen viele Jahre vergangen.«

 

*

 

Monsieur Soltescu saß in Paris im Hotel und las in einer Zeitung den Bericht über den Tod Sir Georges in der Themse. Er las auch, daß Bud Kitson und seine Frau in den frühen Morgenstunden in der Nähe von Reading von der Polizei aufgegriffen worden waren.

 

»Ja, so geht’s«, sagte er in philosophischer Ruhe und machte auf dem schneeweißen Tischtuch mit seinem Bleistift eine ungefähre Kalkulation, wieviel Geld er bei dieser Geschichte verloren hatte.

 

 

Ende

 

Kapitel 3

 

3

 

Es gibt verrufene Gegenden in Nizza, von denen die Fremden, die auf der Promenade des Anglais im hellen Sonnenschein lustwandeln und sich an den Mimosen und den schönen Palmen erfreuen, für gewöhnlich gar nichts erfahren.

 

In einer kleinen Nebenstraße ließ Monsieur Soltescu sein Auto halten. Der Chauffeur hatte sich sehr gewundert, daß dieser gutgekleidete Herr zu einer so armseligen Straße fahren wollte.

 

Die Passage du Bue ist eng und von hohen, häßlichen Häusern eingefaßt, in denen kleine Handwerker, Arbeiter und Krämer wohnen. Nummer 27 war das baufälligste Gebäude der Reihe, aber Monsieur Soltescu kannte derartige Wohnungen. Sie waren immerhin noch besser als die Behausungen seiner Fabrikarbeiter. Er war nicht sentimental veranlagt und kümmerte sich wenig um das Elend seiner Mitmenschen.

 

»Sie wollen Monsieur Pentridge besuchen?« fragte der schlechtgekleidete Pförtner, denn selbst dieses erbärmliche Haus hatte einen Pförtner. Er hatte allerdings nur die Pflicht, wöchentlich die Mieten von den Bewohnern einzusammeln. »Ja, Monsieur Pentridge ist zu Haus. Vierter Stock, links die erste Tür von der Treppe aus.«

 

Soltescu stieg die wackligen Stufen schnell hinauf. Er lächelte bei dem Gedanken, daß er in größte Gefahr kommen könnte, wenn jemand die große Summe in seiner Brieftasche vermutete. Als er an die beschriebene Tür kam, klopfte er. Zuerst meldete sich niemand, und erst auf wiederholtes Pochen erhielt er Antwort.

 

»Herein!« rief eine unangenehme, heisere Stimme.

 

Der Rumäne öffnete die Tür und trat in ein kleines, schlecht möbliertes Zimmer. Außer, einem alten Feldbett, das in der einen Ecke des Zimmers stand, konnte er nur noch einen Tisch, einen gebrechlichen Stuhl und einen kleinen Wandschrank entdecken. Eine schmutzige Petroleumlampe beleuchtete den Raum nur spärlich.

 

John Pentridge, den er aufsuchen wollte, saß auf der Bettkante. Er trug ein Paar alte Hosen und ein unsauberes Hemd, das vorn offenstand. Auf dem Bett lag der armselige Smokinganzug, den er gerade ausgezogen haben mußte. Er war eben erst gekommen und hatte seinem Chauffeur eine Belohnung versprechen müssen, um zur verabredeten Zeit zu Hause sein zu können.

 

Mit einem verschlagenen Blick betrachtete er den Fremden und gab sich nicht einmal die Mühe, aufzustehen. Soltescu glaubte, noch niemals einen Mann von so abstoßendem Äußeren gesehen zu haben.

 

»Sind Sie Monsieur Soltescu?«

 

Pentridge hatte in Englisch gefragt, und der Rumäne nickte. Ohne weitere Aufförderung nahm er den Stuhl, rückte ihn an das Bett heran und setzte sich.

 

»Mr. Pentridge, ich bin bereit, das wichtige Geschäft sofort mit Ihnen abzuschließen. Heute abend noch muß ich nach Paris weiterfahren, wo ich verschiedene Konferenzen angesetzt habe. Sie werden also verstehen, daß ich keine Zeit zu weitschweifigen Verhandlungen habe.«

 

»Ich begreife vollkommen«, entgegnete der andere unliebenswürdig. »Haben Sie das Geld mitgebracht?«.

 

»Darüber wollen wir später sprechen«, meinte Soltescu diplomatisch. »Zuerst geben Sie mir einmal Ihre chemische Formel.« Er sprach etwas heiser, weil er in der Zwischenzeit noch mehr getrunken hatte. »Sie müssen wissen, daß ich in der Hauptsache Glasfabrikant bin, und als Fachmann kann ich Ihnen gleich sagen, ob die Formel etwas taugt oder nicht.«

 

»Sie haben doch aber die Glasproben gehabt«, entgegnete Pentridge und sah ihn feindselig an. »Ist Ihnen denn das nicht Beweis genug?«

 

»Die Proben habe ich geprüft. Sie sind gut und tadellos, das will ich nicht im geringsten bestreiten. Aber vor allem muß ich die Formel sehen.«

 

Pentridge erhob sich schwerfällig, ging zu dem kleinen Wandschrank, der über dem Bett hing, schloß ihn auf und nahm einen Briefumschlag heraus, den er fest in der Hand hielt.

 

»Ich muß Ihnen aber vorher noch etwas sagen. Sie werden viel Unannehmlichkeiten haben, wenn herauskommen sollte, woher Sie die Papiere haben. Ich will damit nicht gerade andeuten, daß ich die Formel auf unehrliche Weise erworben habe. Seit den letzten dreißig Jahren trage ich sie mit mir herum, und ich habe die Glasproben selbst hergestellt. Das glauben Sie kaum, wenn Sie mich so sehen, aber ich hatte einen guten Lehrmeister. Haben Sie jemals etwas von Granford Turner gehört?«

 

»Granford Turner? Der Name ist mir allerdings bekannt. Das war doch der berühmte Erfinder. Vor fünfzig Jahren wurde sein Name viel genannt. Ich entsinne mich jetzt an die Tragödie seines Lebens.

 

Pentridge nickte.

 

»Er hat seine Frau erschossen und wurde deshalb lebenslänglich nach Australien deportiert. Und dort kam ich mit ihm zusammen. Er ist einer der größten Erfinder, der jemals gelebt hat. Jetzt ist er gestorben«, fügte er schnell hinzu.

 

»Unter welchen Umständen sind Sie denn mit ihm zusammengekommen?« fragte Soltescu neugierig.

 

»Das kann Ihnen gleichgültig sein«, erwiderte Pentridge abweisend. »Hier ist die Formel und eine Beschreibung des Herstellungsprozesses mit sämtlichen Einzelheiten. Alle Wärmegrade, bei denen die verschiedenen Mischungen zum Fluß kommen, können Sie daraus entnehmen.«

 

»Den Erfinder selbst kann ich also nicht sprechen?«

 

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß er tot ist«, entgegnete Pentridge kurz. »Das muß Ihnen genügen. Diese Papiere habe ich die ganzen letzten Jahrzehnte mit mir herumgeschleppt. Ich wußte, daß ich früher oder später noch einmal ein Vermögen damit verdienen könnte. Ich hätte sie auch schon früher verkauft, aber –« Er sprach nicht weiter, denn er konnte doch nicht gut erklären, wie er in ihren Besitz gekommen war. Auch wollte er nicht sagen, daß er mit der Veräußerung aus Angst vor dem Mann gewartet, dessen Geheimnis er gestohlen hatte.

 

»Zeigen Sie einmal her«, verlangte Soltescu.

 

Pentridge reichte ihm die Schriftstücke widerwillig.

 

Der Rumäne zog seinen Stuhl nahe an den Tisch und las die engbeschriebenen Seiten, die den Herstellungsprozeß behandelten, aufmerksam durch. Ab und zu machte er eine Pause und äußerte einige zustimmende Bemerkungen.

 

»Ja, das ist der richtige Weg! Niemand von uns hat früher an eine solche Lösung gedacht.«

 

Die freudige Aufregung, die ihn beim Lesen packte, machte ihn beinahe nüchtern. Niemand konnte die Wichtigkeit dieser Entdeckung besser beurteilen als er. Aber er wollte noch weitere Beweise haben.

 

Pentridge beobachtete, daß sich Soltescu im Zimmer umsah, und ahnte, was der Mann sagen wollte. Er nahm einige kleine Päckchen, eine Spirituslampe, einige dünne Scheiben Glas, ein kleines Gebläse und zwei Schachteln mit weißlichem und rötlichem Pulver aus dem Wandschrank. »Der Inhalt ist genau nach dem Rezept gemischt«, erklärte er. »Sie brauchen nicht erst lange nach den Formeln zu suchen.«

 

In der nächsten halben Stunde saß Soltescu mit Pentridge zusammen und beobachtete eingehend und interessiert die blaue Flamme und das geschmolzene Glas. Pentridge gab ein wenig von dem weißen Pulver hinzu, dann auch eine geringe Quantität der rötlichen Substanz. Er schmolz die Masse und ließ sie abkühlen, um sie dann wieder zum Fluß zu bringen. Schließlich hatte er ein Stück farbloses Glas, das sich von den gewöhnlichen Sorten, wie sie im Handel vorkommen, kaum unterschied. Er wartete einige Zeit, bis es sich abgekühlt hatte, und löste es dann mit einem Messer von der Stahlplatte. Obgleich es noch ziemlich heiß war, nahm er es in seine bloßen Hände und bog es. Das Experiment gelang. Das Stück wies nicht die leisesten Bruchstellen auf und nahm seine frühere Gestalt wieder an, sobald der Druck nachließ.

 

»Ausgezeichnet – das Glas ist nicht nur biegsam, sondern auch elastisch«, sagte Soltescu halb zu sich selbst. Er zog seine Brieftasche heraus. »Was verlangen Sie für die Erfindung?«

 

Pentridge zögerte.

 

»Ich wollte zuerst zwanzigtausend Pfund dafür haben, aber sie ist viel mehr wert. Ich gebe die Formel nicht unter fünfzigtausend her.«

 

Er täuschte sich aber, wenn er glaubte, daß Soltescu mit sich handeln ließe. Der Rumäne war fest entschlossen, keinen Schilling mehr auszugeben, als abgemacht worden war.

 

»Mein lieber Freund«, erwiderte er mit einem breiten Grinsen. »Sie glauben wohl, daß ich zuviel getrunken hätte? In gewisser Weise haben Sie nicht unrecht. Aber deshalb weiß ich doch noch sehr genau, was ich tue. Der Preis war auf zwanzigtausend Pfund festgesetzt. Ich frage nicht einmal, wem Sie die Formel gestohlen haben, und bin bereit, Ihnen die ausgemachte Summe zu zahlen. Wenn Sie ein reicher, unabhängiger Mann sind und die Erfindung anderswo besser verkaufen können, so tun Sie es doch! Ich biete Ihnen jedenfalls zwanzigtausend Pfund dafür. Entweder nehmen Sie das Geld, und das Geschäft ist perfekt, oder ich habe kein weiteres Interesse an der Sache. Der Zug nach Paris geht in aller Kürze, und ich kann nicht länger warten.«

 

»Gut, dann geben Sie mir zwanzigtausend«, entgegnete Pentridge verbissen.

 

Er streckte begierig die Hand aus, und Soltescu zählte die einzelnen Scheine.

 

»Was wollen Sie denn nun mit all dem Geld machen?« fragte der Rumäne.

 

Die Augen des heruntergekommenen Mannes leuchteten merkwürdig auf.

 

»Sehen Sie«, sagte er eifrig. »Sie sind ein reicher Mann und haben schon immer ein großes Vermögen gehabt. Aber ich bin nur ein armer Teufel, der immer hin- und hergehetzt wurde. Sie können das Leben genießen und haben auch die Zeit dazu. Aber ich werde alt, und ich habe all diese Jahre ärmlich gelebt. Mein bißchen Verdienst habe ich im Kasino verspielt. Aber jetzt werde ich einmal das große Spiel machen, nach dem ich mich mein Leben lang gesehnt habe. Verstehen Sie, was ich meine?« Er sah Soltescu mit brennenden Blicken an, als ob er Zustimmung von ihm erwarte.

 

»Ich habe nicht mehr lang zu leben, und ich kaufe mir morgen die schönsten Anzüge. Weg mit diesem abscheulichen Plunder!« rief er und warf den alten Smoking auf den Boden. »Morgen gehe ich nach Monte Carlo, und zwar genauso elegant wie diese Snobs, die ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren gesehen habe. Im Kasino werden sie mich nicht wiedererkennen, wenn ich mich neu eingekleidet habe. Und ich setze jedesmal den Höchstsatz. Das ist die einzig vernünftige Art, Geld zu gewinnen.«

 

»Mein Lieber«, entgegnete Soltescu freundlich, als er die Schriftstücke sorgfältig in seine Brusttasche steckte, »ich möchte Ihnen nur eins sagen. Wenn ich tatsächlich Zeit hätte, dann würde ich mit Ihnen um das Geld spielen, das ich Ihnen eben ausgezahlt habe. Und ich würde gewinnen, weil ich das Geld nicht notwendig habe, und Sie würden verlieren, weil das Geld für Sie lebensnotwendig ist. Sie sind wirklich ein unverbesserlicher Narr.«

 

Nach diesen Worten verließ Soltescu in heiterer Stimmung das Zimmer und pfiff vergnügt, während er die Treppe hinunterstieg und zu seinem Wagen ging. Er war davon überzeugt, daß er noch nie in seinem Leben ein so großes und vorteilhaftes Geschäft abgeschlossen hätte.

 

Kapitel 4

 

4

 

»Ich fürchtete schon, daß Ihre Nachforschungen ergebnislos sein würden, Miss President«, sagte Lord Chanderson, der neben einer elegant gekleideten jungen Dame auf dem Bahnsteig in Marseille auf und ab ging.

 

Sie lächelte geduldig.

 

»Ich bin schon daran gewöhnt, daß diese Reisen nicht zum gewünschten Ziel führen«, erwiderte sie ruhig, »aber wir dürfen natürlich keine Chance ungenützt vorübergehen lassen. Es wäre immerhin einmal möglich, daß ich den Mann finden könnte, den mein Großvater seit so vielen Jahren sucht. Solange ich jung und gesund bin, kann ich ihn ja in seinen Bemühungen unterstützen. Er ist zwar noch rüstig und stark, aber das Reisen strengt ihn doch zu sehr an, und wenn er mit Leuten verhandeln muß, die nicht Englisch sprechen, wird er leicht verwirrt. Aber es war wirklich zu egoistisch von mir, daß ich Ihre Liebenswürdigkeit so sehr in Anspruch genommen habe.« Er schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Bitte, entschuldigen Sie sich doch nicht, Miss President. Sie wissen, daß ich mich selten vor zwei Uhr schlafen lege, und es hat mir das größte Vergnügen gemacht, Sie noch zum Zug zu bringen. Ich freue mich wirklich, daß ich gerade zufällig in Marseille war und Ihnen behilflich sein konnte.«

 

Sie sah ihn dankbar an.

 

»Ich war auch sehr froh. Es ist nicht gerade angenehm für eine junge Dame, in einer französischen Stadt nach einem Mann zu suchen und den Behörden klarzumachen, daß es sich um einen Verbrecher handelt. Ohne Ihre Hilfe wären mir die Nachforschungen in Marseille sehr schwergefallen. Und wenn Sie mich nicht überallhin begleitet hätten, wäre auch meine Reise nach Monte Carlo unmöglich gewesen.«

 

»Ich freue mich stets, wenn ich etwas für Ihren Großvater tun kann. Er ist ein so außergewöhnlicher Mann. Nur wenig Leute, mit denen ich zusammengekommen bin, haben so großen Eindruck auf mich gemacht wie er.«

 

»Er schätzt Sie ebenso und hat das größte Vertrauen zu Ihnen.« Sie lächelte freundlich. »Ich hätte niemals geglaubt, daß der Vorsitzende des Jockey-Klubs sich so für unsere Angelegenheiten interessieren würde.«

 

Lord Chanderson lachte ein wenig. Er war schon ein älterer Herr, aber er hatte immer noch einnehmende Züge. In England war er eine bekannte Persönlichkeit.

 

»Ihr Großvater gehört zu den kleinen Rennstallbesitzern, die wir sehr schätzen«, entgegnete er, höflich. »Sie wissen, daß wir alle Neulinge mit großer Vorsicht aufnehmen.«

 

»Meinen Sie, daß man diesen Leuten nicht trauen kann und daß sie unehrlich sind?

 

Er zuckte die Schultern.

 

»Das möchte ich gerade nicht behaupten. Aber sie arbeiten in neuerer Zeit mit allen Mitteln, und solche Gebräuche sollen bei den Rennen nicht einreißen. Es ist tatsächlich erstaunlich, daß Ihr Großvater mit nur einem Rennpferd –«

 

»Sie meinen zwei«, unterbrach sie ihn.

 

»Zwei?« sagte er erstaunt. »Ich dachte, er hätte nur das eine.«

 

»Sie vergessen das Pferd, das wir im Derby laufen lassen wollen«, sagte sie ernst. »Mein Großvater hält viel von Donavan.«

 

»Ich habe noch niemals von ihm gehört,« sagte Lord Chanderson lachend. »Man sieht doch, daß man selbst als Vorsitzender des Rennklubs um halb zwei Uhr nachts noch manches lernen kann, selbst auf dem Bahnsteig von Marseille. Ich glaube aber, wir gehen jetzt zu Ihrem Abteil zurück – in vier Minuten fährt der Zug ab.«

 

Ein Schaffner ging an ihnen vorbei.

 

»Bitte Platz nehmen!« rief er.

 

Miss President reichte Lord Chanderson herzlich die Hand und stieg dann ein. Sie ließ das Fenster herunter und plauderte noch mit ihm, bis sich der Zug in Bewegung setzte. Dann winkte sie, und er grüßte freundlich mit dem Hut.

 

Er war einer der englischen Sportsleute, die sie verehrte. Sie kannte viele, die sich für den Rennsport interessierten, aber nicht alle waren ihr sympathisch. Lord Chanderson gehörte zu der alten Generation, war ein Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle, ein Mann mit hervorragender Bildung und feinem Takt. Es war tatsächlich ein glücklicher Zufall gewesen, daß er sich gerade in Marseille aufgehalten hatte. Ihrem Großvater war ein Gerücht zu Ohren gekommen, daß der Mann, den er suchte, in der Nähe von Marseille gesehen worden war. Zweifellos stimmte die Nachricht, aber Nachforschungen nach einem Mann, von dem man nur eine zwanzig Jahre alte Fotografie besitzt, sind ziemlich aussichtslos. Ihre Erkundungsfahrt war ohne Erfolg geblieben, aber als sie von Marseille abfuhr, hatte sie eine angenehme Erinnerung an die liebenswürdige Fürsorge Lord Chandersons, der ihr mit größter Zuvorkommenheit geholfen hatte. Nur durch reinen Zufall hatte ihr Großvater von dem Aufenthalt Lord Chandersons in Marseille erfahren und ihr daher einen Empfehlungsbrief an den bekannten Sportsmann mitgeben können. Der Lord war John President stets in der freundschaftlichsten und liebenswürdigsten Weise begegnet, seitdem dieser sich wieder in England aufhielt.

 

Mary President ging in ihr Schlafwagenabteil und begann sich auszukleiden. Sie merkte aber bald, daß sie die Nacht nicht ungestört verbringen würde, denn der Herr im nächsten Abteil war anscheinend stark angetrunken. Er sang laut und unterhielt sich zwischendurch mit sich selbst. Die Worte konnte sie allerdings nicht verstehen, da ihr seine Sprache unbekannt war. Er mußte sehr vergnügt sein, denn ab Und zu hörte sie lautes Lachen. Sie hoffte, daß die Geräusche des Zuges den Lärm übertönen würden, aber der Mann besaß eine durchdringende Stimme, und Mary Presidents Hoffnung erfüllte sich nicht. Schließlich hörte sie, daß jemand den Gang entlangkam, an die Tür des nächsten Abteils klopfte und den Sänger in scharfem Ton zur Ruhe verwies.

 

Aber der Mann schien sich wenig daraus zu machen; er antwortete mit einem frechen Lachen und erkundigte sich, wie der andere dazu käme, an seine Tür zu klopfen.

 

Mary versuchte alles mögliche, um einzuschlafen. Sie dachte an den Zweck ihrer Reise, aber dadurch wurde sie nicht ruhiger. Sie hatte John Pentridge in Marseille gesucht, wie ihn ihr Großvater während der letzten fünf Jahre in ganz Europa und früher in Australien gesucht hatte. Ein Bekannter hatte ihn in Marseille gesehen und ihrem Großvater sofort Nachricht zukommen lassen. Daraufhin hatte sie sich gleich auf den Weg nach Südfrankreich gemacht. Das war nicht die erste Reise, die sie zu diesem Zweck unternommen hatte. Sie hatte schon fast alle großen Städte Europas besucht, um den Mann zu finden, der die Erfindung John Presidents gestohlen hatte.

 

Allmählich schlief sie doch ein, aber sie erwachte plötzlich wieder, als jemand versuchte, ihre Tür zu öffnen. Von außen konnte man nur mit dem Schlüssel des Kontrolleurs aufmachen. Zollbeamte waren es sicher nicht, denn sie fuhren durch Frankreich und hatten keine Grenze zu passieren. Sie drückte auf den Knopf ihrer kleinen Repetieruhr, und diese schlug vier. Sie hatte also höchstens eine Viertelstunde geschlafen. Langsam öffnete sich die Tür. Das Innere ihres Abteils war vollkommen dunkel, und als sie aufsah, bemerkte sie die Umrisse einer untersetzten Gestalt.

 

»Wer ist da?« fragte sie schnell und langte nach dem Lichtschalter. Aber bevor sie ihn umdrehen konnte, sprang der Mann zurück und warf die Tür ins Schloß. Sie erhob sich und klingelte dem Schaffner, der gleich darauf ziemlich verschlafen zu ihrer Tür kam.

 

Nein, er war nicht im Gang gewesen, und außer ihm hatte niemand einen Schlüssel zu den Schlafkabinen.

 

»Mademoiselle hat sicher geträumt«, sagte er höflich lächelnd, aber innerlich fluchte er, denn selbst der höflichste Schlafwagenschaffner läßt sich nicht gern in seiner Ruhe stören.

 

»Ich habe durchaus nicht geträumt«, entgegnete sie ernst. Aber sie sprach nicht weiter mit ihm darüber, da es doch keinen Zweck hatte.

 

Der Herr nebenan war anscheinend inzwischen eingeschlafen. Das konstatierte sie dankbar, als sie sich wieder niederlegte. Aber sie selbst kam nicht zur Ruhe. Sie drehte das Licht wieder aus. Der Zug fuhr verhältnismäßig ruhig durch das Rhonetal. In anderthalb Stunden würde der Morgen dämmern und ihr das Gefühl der Sicherheit wiedergeben. Es mochte ein Irrtum sein, aber sie hatte die Überzeugung, daß der Mann, der sie eben gestört hatte, etwas gegen sie im Schilde führte. Er mußte irgendeine böse Absicht haben. In letzter Zeit waren ja häufig Diebstähle auf dieser Strecke vorgekommen. Sie sagte sich selbst, daß sie sich nutzlos ängstigte, aber die Tatsache, daß sie mitten in der Nacht plötzlich aufgeweckt worden war, blieb trotzdem bestehen.

 

Der Fremde störte sie nicht mehr, aber ein neues, aufregendes Erlebnis wartete auf sie. Plötzlich gellten schrille Pfiffe der Lokomotive. Der Zug fuhr langsamer und hielt dann mit einem scharfen Ruck an, so daß sie beinahe aus dem Bett gefallen wäre: Glücklicherweise war das elektrische Licht intakt geblieben. Sie schaltete es wieder ein und hörte nun, daß überall die Türen aufgerissen wurden. Die aus dem Schlaf gerissenen Reisenden eilten auf den Gang hinaus und sprachen wild durcheinander. Mary warf schnell ihren Morgenrock über und öffnete auch ihre Tür.

 

Es mußte irgendein Unglück passiert sein … Als sie auf den Korridor trat, öffnete sich auch gerade die Tür des nächsten Abteils, und ein untersetzter Herr kam heraus. Mit blutunterlaufenen Augen starrte er um sich. Unter dem Arm trug er eine dicke, schwarze Ledermappe. Er fragte Mary etwas in einer fremden Sprache, die sie nicht verstand. Sie schüttelte nur den Kopf, denn selbst wenn sie ihn verstanden hätte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, ihm die Ursache des Aufenthalts anzugeben. Er eilte auf die Plattform hinaus, kam aber gleich wieder zurück. In seiner Hast machte er einen Fehltritt und wäre beinahe gefallen. Dabei entglitt ihm die Mappe. Selbst in dieser ungewissen Lage konnte sich Mary eines Lächelns nicht erwehren, als der fremde Herr sich bückte, um die Mappe wieder aufzuheben. Als er sie schnell an sich riß, sah er nicht, daß ein Brief herausgefallen war. Aber Mary hatte es bemerkt und nahm ihn auf. Der kleine, aufgeregte Mann mit dem kahlen Kopf und dem großen, schwarzen Spitzbart tat ihr leid, und sie wollte ihm helfen. Zufällig fiel ihr Blick auf die fast schon verblichene Aufschrift, und sie erkannte sofort die charakteristische Schrift ihres Großvaters.

 

» Das biegsame Glas.

Die Art seiner Herstellung.

Eine Erfindung von John President.«

 

Sie hielt das Dokument in Händen, nach dem ihr Großvater seit dreißig Jahren vergeblich suchte!

 

Bevor sie sich über die Tragweite ihrer Entdeckung klarwerden konnte, riß Monsieur Soltescu mit einer plötzlichen Bewegung den Brief aus ihrer Hand. Die vielen Worte, die er erregt sprach, sollten wohl einen Dank bedeuten. Im nächsten Augenblick war er in seinem Abteil verschwunden.

 

Ein paar Herren in Schlafanzügen kamen den Gang entlang. Zweifellos waren es Engländer. Einer sah sie lächelnd an und kam auf sie zu.

 

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte er höflich.

 

Konnte ihr überhaupt jemand helfen? Konnte sie in kurzen Worten sagen, was sie eben erlebt hatte, und ihr Recht auf den Briefumschlag geltend machen, der sich in dem Besitz des fremden Herrn befand? Nein, das war unmöglich. Sie mußte einen anderen Weg finden, um das Schriftstück wiederzuerlangen.

 

Sie schüttelte nur den Kopf, denn sie war noch zu erregt, um sprechen zu können.

 

»Es würde mir ein Vergnügen sein –«

 

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als es einen plötzlichen Zusammenstoß gab. Lautes Krachen ertönte und das Licht ging aus. Ein zweiter Zug war auf den Expreßzug aufgefahren, und im nächsten Augenblick war alles in größter Erregung. Schreckensschreie, Hilferufe und wildes Fluchen klangen wirr durcheinander.

 

Mary sah eine elektrische Taschenlampe aufblitzen und hörte ein Stöhnen, als ob jemand große Schmerzen hätte. Ein Mann eilte an ihr vorüber, und sie fühlte instinktiv, daß dieser Fremde versucht hatte, in ihr Abteil einzudringen. Drei Minuten später kletterte sie, an allen Gliedern zitternd, auf den Bahndamm hinunter, um zu sehen, was vorgefallen war.

 

Das Ende des Zuges hatte am meisten gelitten. Zwei Wagen waren ineinandergeschoben. Ein Reisender war getötet und mehrere schwer verletzt worden. Sie wartete draußen, bis sie erkannte, daß keine Gefahr mehr drohte. Der Zug war nicht in Brand geraten, und es waren auch sonst keine weiteren Komplikationen zu fürchten. Glücklicherweise befand sich ihr Wagen in der Mitte und stand noch auf den Schienen. Sie kletterte hinein und suchte ihr Abteil auf. Plötzlich ging auch das Licht wieder an. Der Schaffner hatte die schadhafte Stelle gefunden und sofort reparieren können. Er kam den Gang entlang und beruhigte die nervösen Fahrgäste. Es sei keine Gefahr vorhanden, sie sollten sich nur in aller Ruhe ankleiden.

 

Mary President hatte nicht bis zu dieser Aufforderung gewartet. Sie war schon fertig, als er an ihre Tür klopfte. Kurz darauf stand sie wieder unten auf dem Bahndamm zwischen den anderen Reisenden. Monsieur Soltescu rief, so laut er konnte, und gestikulierte heftig.

 

»Ich bin beraubt worden«, schrie er. »Man hat mich in der unverschämtesten Art und Weise bestohlen!«

 

»Aber beruhigen Sie sich doch, Monsieur«, erwiderte der Beamte, an den er sich gewandt hatte. »Sie werden in Ihrem Abteil alles an Ort und Stelle finden, wie Sie es verlassen haben.«

 

»Ich habe mich schon umgesehen und alles durchsucht, aber meine schwarze Ledermappe ist verschwunden! Und sie hat ungeheuren Wert für mich – mindestens drei Millionen …«

 

Mary President holte tief Atem. Sie hatte vorher den kühnen Gedanken gehabt, in das Abteil dieses Mannes einzudringen und nach dem Brief zu suchen. Einen Diebstahl hatte sie geplant, und nun war sie froh, daß sie doch aus Furcht davor zurückgeschreckt war.

 

Ein Herr kam den Bahndamm entlang und trat auf den Rumänen zu.

 

»Was, haben Sie Ihre Mappe verloren?« fragte er auf Englisch. »Das ist doch kaum möglich, Soltescu.«

 

»Doch, ich habe sie verloren. Es ist ein unersetzlicher Verlust«, klagte er. »Ich habe sie in meinem Abteil liegenlassen, und jetzt ist sie nicht mehr zu finden.«

 

Er ging in Begleitung des Schaffners in den Wagen zurück. Durch das Fenster konnte Mary von außen beobachten, wie genau sie alles untersuchten. Zwei Herren hinter ihr sprachen englisch, und sie fühlte sich erleichtert. Im Notfall konnte sie sich an sie wenden, und dieser Gedanke beruhigte sie und gab ihr ein Gefühl größerer Sicherheit.

 

»Wenn ich mich nicht sehr irre, ist das unser alter Freund Soltescu«, bemerkte der eine trocken.

 

»Natürlich. Seinetwegen haben wir die ganze Nacht nicht schlafen können. Ich möchte fast sagen, daß ihm recht geschehen ist.«

 

Sie wandte sich um und erkannte den Herrn, mit dem sie kurz vor dem Zusammenstoß gesprochen hatte.

 

»Das würde ich eigentlich nicht sagen«, entgegnete Milton Sands. »Man kann nie wissen, aus welchem Grund sich ein Mann dem Alkohol ergibt. Aber da er offenbar eine große Summe bei sich hatte, ist mir die Ursache nicht klar.«

 

Der Rumäne erschien wieder, trat auf die äußere Plattform hinaus und hielt eine erregte Ansprache an die Umstehenden.

 

»Meine verehrten Freunde, man hat mich bestohlen. Wer es war, weiß ich nicht, aber ich will Ihnen nur das eine sagen. Das Geld, das ich verloren habe, schmerzt mich durchaus nicht, aber es lag ein Schriftstück in der Mappe, das von größter Bedeutung für mich ist. Jedem, der mir die Mappe zurückgibt, will ich eine hohe Belohnung zahlen«.

 

Seine Worte wurden schweigend aufgenommen, und wenn der Dieb zugegen war, so kümmerte er sich allem Anschein nach nicht um dieses Angebot.