8. Kapitel

 

8. Kapitel

 

Der Gast im Minnow-Klub

 

Anthony Newton war fest davon überzeugt, daß er sein Brot, wenn er es ins Wasser würfe, als Kuchen wieder herausfischen könnte. Und zwar war es sicherlich kein gewöhnlicher Kuchen, sondern einer von der besten Qualität, mit Zuckerguß und Mandeln. Viele Leute haben große Hoffnungen im Leben, aber Anthony Newton glaubte ein verbrieftes und versiegeltes Recht auf die Erfüllung seiner Wünsche zu haben. Optimismus gründet sich auf das feste Vertrauen, daß einem etwas zusteht.

 

Anthony glaubte auch, daß die Welt sich einmal in vierundzwanzig Stunden um ihn drehte, daß sie für ihn geschaffen sei und daß der liebe Gott am siebenten Tage geruhte, nachzusehen, ob er nicht etwas vergessen hätte, was Anthony Newton gebrauchen könnte.

 

Als Pinkey gerade mit einer sehr schwierigen Situation in seiner neuesten Geschichte (»Hätte er sie heiraten sollen?« Ein erschütterndes Drama von Liebe und Leidenschaft) beschäftigt war, trat Anthony in sein Arbeitszimmer und wurde recht unliebenswürdig begrüßt.

 

»Hallo«, rief Pinkey unwirsch, »haben Sie denn wirklich nichts zu tun?«

 

Anthony setzte sich bedachtsam hin, zog vorher die gutgebügelten Beinkleider hoch und legte seinen Zylinder behutsam auf einen Nebentisch.

 

»Ich brauche eine Sekretärin«, sagte er dann.

 

Pinkey fuhr entrüstet auf.

 

»Bin ich etwa ein Stellenvermittler?«

 

Aber Anthony brachte ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen.

 

»Die Sache ist sehr ernst«, entgegnete er ruhig. »Ich brauche wirklich eine Sekretärin. Ich habe mir die Sache reiflich überlegt. Ich habe ein vollständig eingerichtetes Büro, habe eine schöne Schreibmaschine gekauft und meinen Namen an die Tür anmalen lassen. Alles, was ich nun noch nötig habe, ist eine Sekretärin. Ich möchte aber kein zerstreutes junges Mädchen haben, selbstverständlich darf sie auch nicht wie eine alte Schreckschraube aussehen. Sie muß nett und hübsch sein, das heißt in dem Maße, wie es sich, eben für ein Büro gehört. Ruhig, anständig, klug und verständnisvoll.«

 

»Maschinenschreiben braucht sie wohl nicht zu können?« fragte Pinkey ironisch.

 

»Das ist doch die Hauptsache! Ich habe eine Schreibmaschine, also muß sie auch darauf schreiben können.«

 

Der Rechtsanwalt legte die Feder nieder, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und runzelte die Stirn.

 

»Wenn Sie sonst zu mir gekommen wären, um hier eine Sekretärin zu suchen, wäre es eine Verrücktheit gewesen, aber unter den gegebenen Verhältnissen kommen Sie gerade in einem glücklichen Moment.« Er suchte auf seinem Schreibtisch und fand ein Stück Papier.

 

»Miss Agnes Portland«, las er und reichte dem anderen die Adresse. »Sie kam heute morgen zu mir. Einer meiner Freunde hat sie hergeschickt, ob ich ihr nicht eine Stelle verschaffen könnte. Sie ist eine gute Stenotypistin, war auch schon als Sekretärin tätig und ist sehr tüchtig. Wenigstens brachte sie einen solchen Empfehlungsbrief.«

 

»Ist sie denn auch …?« Anthony zögerte.

 

»O ja, sie ist auch hübsch und gesetzt, das heißt, ich kann nicht für sie garantieren. Ich hatte keinen Posten für sie ich lasse alle meine Arbeiten in einem Schreibbüro herstellen. Ihre Adresse ist auf der Rückseite vermerkt. Und nun, mein alter Freund, entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu schreiben.«

 

Anthony erhob sich, zog seinen Rock zurecht und nahm seinen Hut auf.

 

»Wozu brauchen Sie denn überhaupt eine Sekretärin?« fragte Pinkey. Seine Neugier war doch erwacht.

 

Anthony seufzte.

 

»Sie passen nicht mehr in die Welt«, sagte er ein wenig traurig. »In alten Tagen war das Zeichen eines Geschäftsmannes ein Laden und eine Waage – heute ist es ein Büro und eine Sekretärin. Im Augenblick bin ich ein Paria in den Geschäftskreisen der City. Die Leute sehen midi schief von der Seite an. Wo ich mich auch immer sehen lasse, flüstern sie sich zu: ›Der hat keine Sekretärin.‹ Das fällt mir auf die Nerven.«

 

»Aber das bilden Sie sich doch alles nur ein!«

 

Anthony verteidigte sich nicht. Er hatte sich wirklich ein neues Büro gemietet, hoch oben in einem kleinen Gebäude in der Nähe von Piccadilly Circus. Er hatte sich auch Briefpapier mit seinem Namen drucken lassen, hatte sich eine Schreibmaschine, ein Telefon sowie alles andere Zubehör zugelegt, das ein Geschäftsmann haben muß, obwohl er noch kein Geschäft hatte. Anthony war jedoch in diesem Punkt sehr zuversichtlich. Das würde schon noch kommen.

 

Am nächsten Morgen stellte sich Miss Portland bei ihm vor. Sie war jung, hübsch, selbstbewußt und frei in ihrem Auftreten. Sie untersuchte zunächst die Schreibmaschine, die Anthony gekauft hatte, und sagte, daß sie absolut nichts wert sei. Sie ließ sich auch nicht im mindesten von ihm irremachen. Sie sortierte Anthonys Briefe und las nicht einmal den Inhalt, oder sie sagte wenigstens, daß sie es unterlassen hätte, irgendeinen Brief zu lesen, der privaten Charakter zeigte. Dann nahm sie die Schreibmaschine, trug sie in das Geschäft zurück, wo Anthony sie gekauft hatte, und kehrte erhitzt, aber frohen Mutes mit einer viel älteren Maschine zurück, auf der man aber gut und schnell schreiben konnte.

 

Anthony war begeistert.

 

Sie tranken zusammen Tee im Büro, und Anthony erzählt« ihr die traurige Geschichte seines Lebens. Sie glaubte ihm nur so viel, wie ihr gut schien, und ließ ihn auch einiges aus ihrem Leben wissen.

 

»Wollen Sie nicht irgendein Empfehlungsschreiben oder ein Zeugnis von meinem letzten Chef haben?« fragte Miss Portland gegen Ende des Nachmittags. »Aber ich glaube, es wird Ihnen auch nicht viel helfen.«

 

»Ich stelle Leute nur nach dem persönlichen Eindruck ein, den ich von ihnen habe«, erklärte Anthony ein wenig von oben herab. »Ich habe mich selten getäuscht.«

 

Sie lächelte.

 

»Mr. Anquilina denkt dasselbe«, meinte sie trocken, »aber er hat doch einen großen Fehler gemacht …«

 

»Anquilina?« Anthonys Interesse war erwacht. »Sie meinen doch nicht den südamerikanischen Millionär?«

 

»Er ist Südamerikaner, das stimmt«, erwiderte Miss Portland. »Aber ich glaube nicht, daß er eine Million hat.«

 

»Aber mein liebes Kind« – Anthony konnte sehr liebenswürdig und väterlich sein – »das steht doch in den Zeitungen. Er hat das Triforium-Theater gekauft, Jollity, das Neue Hyppoceum und …«

 

Sie sah ihm gerade ins Gesicht und ein schalkhafter Zug lag in ihren Augen. Sie war klug und ohne Illusionen, wie es die jungen Mädchen heute sind, die in den Büros zur Sachlichkeit erzogen werden. Sie war so verständig und vernünftig wie ein männlicher Angestellter.

 

»Mr. Newton«, sagte sie, »wenn Anquilina Geschäfte oder große Geschäftshäuser gekauft hätte, würde davon eine Zeile in die Zeitungen gekommen sein? Wenn er die halbe Threadneedle Street gekauft hätte, würde sich jemand darüber aufregen? Die Bankleute wohl, die würden sich nach seiner finanziellen Lage erkundigen. Aber nur weil man annimmt, daß er die Absicht hat, Theater zu kaufen, beschäftigt sich die Öffentlichkeit mit ihm. Über Theater wird ja in den Zeitungen an sich viel geschrieben. Ich kann Ihnen nur sagen, der ganze Anquilina ist ein Bluff. Er lebt in dem besten Hotel Londons und zahlt seine Hotelrechnungen prompt, er hat eine Sekretärin – vielmehr er hatte eine, bis ich von ihm wegging –, er kennt in London alle Theaterleute. Er hat darüber gesprochen, daß er Theater kaufen will, aber ich habe ihn durchschaut. Ein Mann ist meistens sehr offen einer jungen Dame gegenüber, die er zum Souper einlädt. Aber ich liebe das nicht, und die Soupers bei Cavolo sind mir besonders unsympathisch, weil dort der Kellner immer erst diskret anklopft, bevor er eintritt.«

 

»Aber was in aller Welt ist er denn?« fragte Anthony aufs höchste erstaunt.

 

»Ich möchte es Ihnen nicht erzählen«, entgegnete Agnes zurückhaltend. »Aber wenn Sie mich fragen, was er für einen Beruf hat, so bin ich gerne dazu bereit. Er hat neben seinem Schlafzimmer noch ein größeres Wohnzimmer im Hotel – dort gibt er seine Gesellschaften. Er kann Baccarat besser spielen als die meisten anderen Leute. Deswegen mußte er ja auch schon das Rex-Hotel verlassen – der Geschäftsführer sagte, man habe sich darüber beschwert, daß seine Gäste so furchtbar fluchten und schimpften, wenn sie morgens um zwei Uhr von ihm weggingen. Ich habe den Brief selbst gesehen, den er vom Hotel bekam. Sie glauben vielleicht, daß es nicht richtig von mir sei, über meinen früheren Chef zu sprechen, aber auf gewisse Menschen braucht man keine Rücksicht zu nehmen, und Antonio Anquilina gehört zu diesen.«

 

Anthony schaute nachdenklich auf seinen Schreibtisch.

 

»Also ist er ein Verbrecher?«

 

»Das weiß ich nicht. Leute, die ihren Lebensunterhalt durch ihren Witz und ihre Pfiffigkeit erwerben, können eigentlich nicht ehrlich sein, denn ehrliche Verstandesarbeit führt zu einem ehrlichen Geschäft.«

 

Anthony nickte ernst.

 

»Ich danke Ihnen, Agnes.«

 

»Ich heiße Portland, und ich möchte auch so angeredet werden.«

 

Am selben Abend hörte Anthony von dem Minnow-Klub. Er war weniger bekannt, als man hätte annehmen sollen. Seine Mitgliederzahl war beschränkt, und seine finanziellen Hilfsquellen waren gering. Ursprünglich war er gegründet worden als ein Klub für die Geschäftsführer der großen Modehäuser im Westen Londons.

 

Allmählich kam er aber herunter, und es gehörten schließlich nur noch gewöhnliche Leute mit kleinem Einkommen dazu. Der Krieg war auch hieran schuld; ein großes Modegeschäft nach dem anderen hatte den Konkurs erklären müssen, und einige der bedeutendsten Leute waren zu Gefängnis verurteilt worden. So war der Klub nach und nach entartet.

 

Der letzte Eigentümer, Felix Sandyman, kaufte das Unternehmen für die Summe von siebenhundert Pfund. Davon zahlte er hundert Pfund bei Zeichnung des Vertrages, den Rest in monatlichen Raten von fünfzig Pfund, und erhielt dafür alles Inventar, das der Verkäufer fein säuberlich in eine Liste eingetragen hatte, einen ziemlich wertlosen Vorrat an Konserven und die Einrichtung des Billardzimmers; außerdem übernahm er einen französischen Küchenchef mit Namen Youngarry.

 

Anthony Newton traf Felix Sandyman zufällig an diesem Abend. Sie tranken zusammen, und Felix, der ernst veranlagt war und wenig Sinn für Humor hatte, schlug Anthony vor, Mitglied des Klubs zu werden.

 

»Nein, danke, das möchte ich nicht tun«, entgegnete Anthony.

 

Felix seufzte.

 

»Ich habe den Klub von einem gewissen Aronsohn gekauft, der ihn für eine faule Schuld übernommen hatte. Ich wünschte nur, daß die Leute ihre Schulden bezahlten, dann hätte ich jetzt nicht diesen Minnow-Klub am Halse.«

 

»Geht das Geschäft denn nicht gut?« fragte Anthony interessiert.

 

Mr. Sandyman machte ein so verzweifeltes Gesicht, daß Anthony die Antwort daraus erraten konnte.

 

»Ich dachte auch schon daran, den Klub dem Südamerikaner anzubieten, von dem alle Leute hier in der Stadt sprechen.«

 

Anthony erhob sich halb vom Tisch und schaute ihn an.

 

»Ich meine einen gewissen Angelina …«

 

»Anquilina«, verbesserte Anthony.

 

»Das ist er. Man sagt, daß er Häuser und Liegenschaften in, London für einen Trust aufkauft, auch Theater und anderes.«

 

Anthony holte tief Atem.

 

»Ich werde Ihren Klub kaufen.« Es war ungewöhnlich, daß Anthony etwas kaufte, ohne vorher über den Preis zu feilschen.

 

Aber diesmal tat er es. Am nächsten Mittag war er schon Eigentümer des Minnow-Klubs. Er hatte alle die alten Stühle, den abgenutzten Billardtisch, die vielen eingerahmten Stoffbilder und das nicht mehr vollständige Geschirr gekauft.

 

Er hatte nun das Recht (das er aber nicht ausübte), den französischen Koch Youngarry zu entlassen und neue Kellner anzustellen. Anstatt dessen mietete er hübsche Möbel, anständige Bestecke und Geschirre, kaufte einen neuen Teppich für das Spielzimmer, ließ ein neues Schloß an der Tür anbringen und stellte einen Schreiner an, der ein Loch in eine Türfüllung sägen und einen Schieber daran befestigen mußte, der von innen geöffnet werden konnte. Als er mit allem fertig war, ging er zu dem Stellennachweis früherer Offiziere.

 

Anthony kannte das große Zimmer, in dem seine jungen Kriegsfreunde darauf warteten, von Leuten, die in dieser Stadt gern Abenteuer erleben wollten, engagiert zu werden. Sie grüßten ihn mit großer Begeisterung, denn in früheren Tagen war Anthony eins der revolutionärsten Mitglieder dieses kleinen Klubs gewesen.

 

»O nein, ich habe meine Stellung nicht verloren, ich hatte auch keine, die ich hätte verlieren können«, erklärte er. »Ich lebe jetzt nur von meinem Witz und meinem Verstand.« Er mußte an den Ausspruch der gescheiten Miss Portland denken. »Nun, gerade nicht davon allein, aber das ist ja gleich. Ich lebe und habe drei Abende hindurch Arbeit für jeden von euch, der Baccarat spielen kann und einen Smoking besitzt. Ich zahle gut – zehn Prozent von meinem Verdienst. Es wird schon eine ganz nette Summe dabei herauskommen. Ich will einem gemeinen, niederträchtigen Ausländer einen Streich spielen.«

 

Es waren zehn Leute dort, und alle zehn wollten mitmachen. Aber nur neun hatten die erforderliche Kleidung.

 

»Du machst dann den Portier, Fairy«, sagte Anthony zu dem zehnten, und der gerade nicht sehr elegant aussehende junge Mann grinste vergnügt. »Du hast auch das dazu passende Gesicht. Nun setzt euch einmal hier um den Tisch und hört zu …«

 

Mr. Antonio Anquilina war ein untersetzter, mit viel Geschmack gekleideter Mann mittleren Alters: Er bewohnte eins der teuersten Appartements des Hotels Belami, und er fand, daß der Luxus, den er trieb, sich wohl rentierte. Er war Mitglied eines Klubs, in dem hauptsächlich prominente Persönlichkeiten der Theaterwelt speisten, und während des Mittagessens klagte er beweglich über die Verluste, die er am vergangenen Abend gehabt hatte. Durch diese Taktik gelang es ihm, immer wieder neue Leute zu seinen Spielpartien einzuladen, denn jeder spielt gern mit einem Mann, der dauernd verliert. Am nächsten Morgen war er dann gewöhnlich in der fröhlichsten Stimmung, denn sein Jammern hatte sich glänzend gelohnt.

 

Er hatte niemals wirklich ein Theater gekauft, aber er hatte sich doch nach vielen erkundigt und überall Verhandlungen geführt, die ziemlich weit gediehen waren. Geld schien bei ihm keine Rolle zu spielen, das hatte er auch immer betont. Wenn er nur die richtige Bühne finden könnte, dann würde er sofort zugreifen und kaufen. Aber unglücklicherweise fand er sie niemals. Er war auch gewillt, Theatergruppen zu finanzieren, wenn ihm der Spielplan und alles andere zusagte. Er speiste dann einige Wochen auf Kosten erwartungsvoller Theaterdirektoren, Autoren und Regisseure. Aber bisher war es noch niemand gelungen, einen Spielplan zu entwerfen, der ihm vollständig zugesagt hätte. Und zwischendurch lud er Leute, die Geld hatten und mehr dazu haben wollten, zu kaltem Putenbraten und einer Flasche Sekt auf sein Zimmer ein. Die Einladungen wurden gerne angenommen, nach Tisch wurde dann ein kleines Spielchen aufgelegt. Seine Gäste nahmen meist das Mißgeschick, das sie traf, mit philosophischer Ruhe hin, das heißt, sie kamen am nächsten Abend wieder, um ihre Verluste wettzumachen, was ihnen jedoch niemals gelang.

 

Dann gab es Unannehmlichkeiten im Hotel. Ein höflicher Geschäftsführer interviewte Mr. Antonio Anquilina und teilte ihm mit Bedauern mit, daß seine Zimmer von nächster Woche ab anderweitig vermietet seien. Antonio, der nun schon aus mehreren Hotels ausgewiesen worden war, spielte den Beleidigten, sprach davon, daß er gerichtliche Schritte gegen die Direktion unternehmen würde, und führte dasselbe Theater auf wie bei allen früheren Gelegenheiten.

 

Er dachte gerade über neue Pläne nach, als ihm eine Visitenkarte überreicht wurde.

 

»Wer ist denn dieser Mr. Anthony Newton?« fragte er seinen neuen Sekretär.

 

»Ich habe noch niemals von ihm gehört«, erwiderte der junge Mann.

 

Mr. Newton wurde hinaufgebeten, und so standen sich Anthony und Antonio gegenüber; der eine von dunkler Gesichtsfarbe, höflich lächelnd, und von einer geradezu orientalischen Liebenswürdigkeit, der andere mit harten, energischen Gesichtszügen, kühl und geschäftsmäßig.

 

»Ich habe gehört, daß Sie ein Theater kaufen wollen«, erklärte Anthony.

 

Mr. Anquilina, der nicht recht wußte, was er mit dem Fremden anfangen sollte, zeigte sich nach außen hin interessiert und nickte.

 

»Ich möchte nämlich auch ein Theater kaufen«, fuhr Anthony zum größten Erstaunen des anderen fort. »Und ich dachte mir, daß ich Ihr Partner werden könnte, Mr. Anquilina, wenn Sie Ihren Plan ausführen sollten. Ich habe ein Theaterstück, das ich gerne zur Aufführung bringen möchte …«

 

Den ganzen Nachmittag sprachen sie über Theater und Aufführungen und nichts anderes.

 

»Geld spielt bei mir keine Rolle«, sagte Anthony, als er sich erhob, um zu gehen. »Wenn ich nur das richtige Theater finde, werde ich es sofort kaufen. Geradeheraus gesagt, bin ich nicht auf einen Partner angewiesen, ich würde es auch vorziehen, die volle Verantwortlichkeit allein zu übernehmen.«

 

Mr. Anquilina gab ihm nicht nur vollkommen recht, sondern er lobte Anthony auch noch in einer schmeichlerischen Art, die an Schamlosigkeit grenzte, für sein liebenswürdiges und ehrendes Angebot. Dann lud er ihn ein, mit ihm zu Abend zu essen.

 

»Essen Sie doch mit mir im Minnow-Klub«, entgegnete Anthony.

 

»Wo?«

 

»Im Minnow-Klub.« Anthony lächelte geheimnisvoll. »Vermutlich haben Sie noch nie davon gehört? Es verkehren nur auserwählte Leute dort, es wird nicht annonciert. Ich erzähle Ihnen im Vertrauen, daß mir der Klub gehört. Ich habe ihn vor einiger Zeit gekauft, aber er macht jetzt zuviel Umstände und Unannehmlichkeiten. Auf mein Wort, wenn man mir zehntausend Pfund dafür böte, würde ich ihn losschlagen.«

 

»Rentiert er sich denn nicht?«

 

Anthony antwortete nicht direkt.

 

»Es ist weniger eine Frage des Geldes – es ist die Verantwortung, die ich mir aufgeladen habe. Ich bin aus einer sehr angesehenen Familie, und manchmal mache ich mir Gedanken, daß ich trotz aller Vorsichtsmaßregeln doch eines Tages noch große Unannehmlichkeiten durch den Klub haben könnte.«

 

Mr. Anquilina nahm die Einladung bereitwillig an.

 

Als sie zu Tisch saßen, konnte er aber nichts Ungewöhnliches erkennen. Zuerst erschien ihm der Klub sogar ein wenig heruntergekommen und schäbig. Die Mitglieder, die dort speisten, waren aber sicherlich aus guten Verhältnissen. Er vermutete sogar, daß sie wohlhabend seien, als sie zu zweien und dreien das Lokal verließen. Schließlich blieb Anthony mit seinem Gast allein, der sich täuschen ließ.

 

»Gehen denn alle Mitglieder schon so früh?« fragte er. Anthony zuckte die Schultern.

 

»Heute abend sind nur wenige hier … es sind doch verschiedene Galabälle und andere große Veranstaltungen angesagt.«

 

»Aber haben denn alle den Klub verlassen?« fragte Antonio hartnäckig.

 

Mr. Newton zögerte.

 

»Ich weiß nicht, ob ich Sie damit behelligen darf, daß ich Sie in mein Vertrauen ziehe. Aber wenn Sie sich dafür interessieren – aber nein, ich habe es mir überlegt, ich will es lieber nicht tun.«

 

Mr. Anquilina war sichtlich erregt.

 

»Ich versichere Ihnen, daß ich mich Ihres Vertrauens in jeder Weise würdig zeigen werde. – Sie erweisen mir einen großen Gefallen damit.«

 

Anthony sah ihn düster an.

 

»Nun gut, dann kommen Sie mit mir.«

 

Er stand auf, und Mr. Anquilina, der auf ein romantisches Abenteuer gefaßt war, folgte ihm. Sie stiegen eine enge Treppe hinauf und kamen zu einem kleinen Vorraum. Anthony klopfte dreimal an eine Tür. Ein Guckloch im Paneel öffnete sich und ein grimmiges Gesicht schaute sie an.

 

»Es ist alles in Ordnung, Fairy«, sagte Anthony begütigend. »Das ist ein Freund von mir.«

 

Aber der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube aber nicht, daß Sie jemand hereinbringen sollten, Mr. Newton, ohne daß die anderen Gäste ihre Einwilligung dazu geben.«

 

Anthony runzelte die Stirn.

 

»Bin ich denn nicht der Eigentümer des Klubs?« fragte er.

 

Das kleine Fensterchen schloß sich wieder. Mr. Anquilina, der vor Erwartung fieberte, hörte, wie die Riegel zurückgezogen wurden. Dann öffnete sich die Tür. Anthony geleitete ihn in einen mittelgroßen Raum. In der Mitte stand ein mit grünem Stoff bezogener Tisch. Er brauchte nicht erst lange zu fragen, was die neun feierlich aussehenden Leute an dem Tisch machten. Ein Mann in Hemdsärmeln mischte die Karten und teilte sie aus. Aber es war nicht das. Spiel selbst, das den Südamerikaner in Erstaunen setzte, es war die Höhe der Einsätze.

 

Sie setzten Hunderte, ja Tausende mit einer so gleichgültigen Miene, daß selbst Mr. Anquilina verwirrt wurde. Der einzige Protest kam von einem Mann, dem offenbar das Geld ausgegangen war. Er schrieb einen Scheck aus und warf ihn fluchend auf den Tisch.

 

»Verdammt, sechzehntausend habe ich nun in den beiden letzten Tagen verloren!« rief er bitter.

 

Anquilina war starr vor Staunen.

 

Sie standen beide eine Zeitlang und beobachteten das Spiel, dann klopfte Anthony seinem Gast auf die Schulter, und sie verschwanden wieder schweigend.

 

»Was halten Sie davon?«

 

Anquilina konnte nur den Kopf schütteln.

 

»Jetzt wissen Sie, warum ich so besorgt bin. Das Spiel ist zu hoch. Die Leute können zwar Verluste ertragen, das ist schließlich ihre eigene Sache. Die Einnahmen sind ja auch recht beträchtlich, und es wird absolut fair gespielt, darauf sehe ich unter allen Umständen, aber …«, er schüttelte traurig den Kopf.

 

»Mein lieber Freund«, sagte Antonio, als er sich von seinem Staunen erholt hatte, »ich verstehe Sie. Ich kann Ihnen das lebhaft nachfühlen. Sie sind ein Gentleman, Sie haben Charakter. Ich möchte den Klub von Ihnen kaufen … ich bin wohlhabend, aber ich muß meinen Liebhabereien nachgehen können. Sie als Engländer werden das begreifen. Wenn Sie einen annehmbaren Preis nennen würden, so etwa sechstausend …«

 

»Zehn«, erklärte Anthony.

 

»Sagen wir sieben. …«

 

»Neun«, erwiderte Anthony entschieden. »Es fällt mir nicht ein, mit Verlust zu verkaufen. Ich habe es ja auch gar nicht nötig, zu verkaufen. Ich habe auch meine Liebhabereien …«

 

Schließlich eigneten sie sich auf eine Kauf summe von achttausendfünfhundert Pfund.

 

Als die Bank Mr. Anquilinas am nächsten Morgen öffnete, stand Anthony schon an der Tür mit seinem Scheck, und an der nächsten Straßenecke warteten trotz des strömenden Regens zehn frühere junge Offiziere, die am vorigen Abend um mythische Hunderte und Tausende gespielt hatten, auf ihren Anteil.

 

9. Kapitel

 

9. Kapitel

 

Die Wahl in Bursted

 

Anthony war weder ehrgeizig noch rachsüchtig im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Sein einziger Ehrgeiz bestand darin, möglichst viel Geld zu verdienen und möglichst bekannt zu werden. In jeder anderen Beziehung war er ungewöhnlich bescheiden. Und sein Bedürfnis, sich zu rächen, erstreckte sich nur darauf, seinen Feinden alles Böse, das sie ihm angetan hatten, zu vergelten.

 

Es ging ihm so gut, daß sich seiner eine gewisse Ruhelosigkeit bemächtigte. Als er eines Tages die Zeitungen durchblätterte, fielen ihm zwei Annoncen auf. Sie hatten beide mit dem Wahlbezirk Bursted zu tun, aber dies erfuhr er erst, als er einen Agenten aufsuchte und entdeckte, daß das ›aufstrebende, wöchentlich erscheinende Blatt, das die größte Verbreitung in hervorragenden landwirtschaftlichen Distrikten hatte und eine große Zukunftsmöglichkeit für einen tatkräftigen Mann bot‹, die Zeitschrift ›Rakete‹ war, die in dieser kleinen Stadt erschien und zum Verkauf angeboten wurde.

 

Daß Mr. Josias Longwirt als konservativer Kandidat für Bursted aufgestellt werden sollte, war in der Zeitung großartig angekündigt.

 

Als er den Namen dieses Mannes gedruckt in der Zeitung sah, erwachte in Anthonys Herz ein Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit. Seit Jahren erinnerte er sich an eine häßliche Szene. Er traf einen besonders gut gekleideten jungen Mann, den er von früher her kannte, in der Hauptstadt und bat ihn um das nötige Geld zu einem Abendessen, da er sehr hungrig war. Es war in jenen Tagen, als er abgerissen in London herumlief und sich um eine Stelle abmühte, zu der er nach all den Opfern, die er dem Vaterland gebracht hatte, und nach seiner Begabung berechtigt war.

 

Mr. Longwirt hatte aber auch ein sehr gutes Gedächtnis, und er besann sich darauf, daß er dreimal tüchtig von einem Schulkameraden verprügelt worden war, und zwar von Anthony Newton. In seiner kleinlichen Einstellung sah er jetzt die Gelegenheit gekommen, sich dafür zu rächen.

 

»Tut mir furchtbar leid, Newton, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich werde von so vielen Seiten angesprochen. Warum gehen Sie nicht ins Armenhaus, mein Junge? Dort gibt es ganz gut zu essen, und dort können Sie auch wohnen …«

 

Es klang unglaublich, aber das waren die weisen und trostvollen Worte, mit denen Mr. Josias Longwirt seinen früheren Schulkameraden abfertigte. Als er Anthony wieder begegnete, hatte er ihn überhaupt geschnitten.

 

Anthony war kein Journalist, aber die Möglichkeiten, die der Erwerb der ›Rakete‹ in sich barg, lagen auf der Hand.

 

Er hatte die etwas schadenfrohe Absicht, Mr. Longwirt ein wenig zu ärgern und zu blamieren und einige der wunden Punkte seines Charakters aufzudecken. Aber so merkwürdig und seltsam gestaltet das Schicksal das Leben der Menschen, daß keine unfreundliche Bemerkung über Josias Longwirt Esq. in den Spalten der Zeitung vor Bursted erschien. Und das hatte auch seinen guten Grund.

 

Anthony Newton hatte sein Scheckbuch eingesteckt, einen Zeitungsausschnitt der ›Stationer’s Gazette‹ in sein Zigarettenetui gelegt und ging nun mit großen Schritten auf dem vierten Bahnsteig der Station Waterloo auf und ab, um sich ein Abteil erster Klasse auszusuchen. Plötzlich entdeckte er an dem Fenster eines Wagens ein bekanntes Gesicht. Der andere hob zwar sofort seine Zeitung hoch, um nicht gesehen zu werden, aber Anthony stieg in das Abteil ein und setzte sich ihm gerade gegenüber.

 

»Mr. Longwirt!« sagte Anthony ruhig.

 

Der junge Mann ließ seine Zeitung sinken.

 

»Ach, das sind Sie ja, Newton«, sagte er mit schlechtgespieltem Erstaunen und reichte ihm nachlässig die Hand.

 

»Was haben Sie denn eigentlich während des Krieges gemacht?« fragte Anthony anklagend.

 

»Oh, ich war beim Militär und habe mitgekämpft«, erwiderte Josias triumphierend.

 

»Ja, ich habe auch davon gehört. Sie waren bei einer Abwehrbatterie in Bristol, wo die Flugzeuge ja nie hingekommen sind. Nun, wie geht es Ihnen denn, und was macht das

 

Geschäft mit den Lumpen und Knochen?«

 

»Oh, ich bin zufrieden«, entgegnete Josias nicht gerade sehr begeistert.

 

Er sah blaß und schmal aus und hatte keinen klaren, offenen Blick. Sein Vater hatte ein Millionenvermögen durch An- und Verkauf von Knochen, Lumpen und anderen Abfällen zusammengescharrt. Außer Anthony Newton erwähnte niemand diese Tatsache in seiner Gegenwart, und deshalb konnte er auch Anthony durchaus nicht leiden.

 

»Ich hörte, daß es Ihnen gut geht.« Mr. Longwirt hoffte, daß die unangenehme Vergangenheit nicht mehr erwähnt werden würde. »Ich freue mich, wenn es meinen früheren Kameraden gut geht. Ich werde jetzt ins Parlament gehen. Und ich würde nach allem, was ich erfahren habe, nicht erstaunt sein, wenn man mir eine gute Stellung in der Regierung anböte.«

 

»Sie meinen wohl für Bursted«, sagte Anthony mit einer merkwürdigen Betonung. »Ich sah die Mitteilung in der Zeitung. Da werden Sie wohl einen leichten Sieg davontragen.«

 

Mr. Longwirt zögerte.

 

»Es ist noch ein unabhängiger Kandidat aufgestellt worden, der aber eigentlich nicht die mindeste Aussicht hat. Nebenbei bemerkt, ist es möglich, daß er zurücktritt.« Er lächelte verschmitzt.

 

Anthony blinzelte, und Mr. Longwirt blinzelte auch.

 

»Wollen Sie ihm eine Abstandssumme zahlen, daß er zurücktritt?«

 

»So verrückt werde ich nicht sein, mich derartig zu kompromittieren.« Und dann zwinkerte Josias wieder mit den Augen.

 

»Aha, daher der Ausdruck ›ehrenhafte Politiker‹. Haben Sie nicht auch schön gehört, daß die Bursteder Zeitung ›Rakete‹ zu verkaufen ist?«

 

»Ja. Sie gehört dem alten Murkle, einem verdrehten Kerl – ich werde wahrscheinlich das jüngste Mitglied im Parlament sein, Newton.«

 

»So?! Sehen Sie einmal an! Können Sie sich eigentlich darauf besinnen, daß Sie mich vor ungefähr zehn Monaten auf dem Strand getroffen haben?«

 

Josias runzelte die Stirn.

 

»Ich erinnere mich dunkel daran, aber ich habe so ein schlechtes Gedächtnis für Personen …«

 

»Sie haben mich aber nicht nur gesehen, Sie haben sogar mit mir gesprochen und dabei das Armenhaus erwähnt. Ich sah damals etwas heruntergekommen aus, und es ging mir nicht sehr gut. Seit der Zeit bin ich mit Ihnen fertig!«

 

Mr. Longwirt krümmte und wand sich, aber dann bekannte er doch offen Farbe.

 

»Wenn Sie sich beleidigt fühlen, kann ich Ihnen nicht helfen. Ich kann nicht allen Leuten Geld geben.«

 

»Sie werden noch allerhand zu tun haben, um sich selbst zu helfen«, meinte Anthony mit einer düsteren Andeutung.

 

In diesem Augenblick setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Als er schon schneller fuhr, sprang plötzlich noch ein Mann auf das Trittbrett, riß die Tür auf und fiel fluchend halb in den Wagen hinein.

 

Es war ein kahlköpfiger Mann von etwa sechzig Jahren, kurz und gedrungen gebaut. Er hatte ein großes, kräftiges, breites Kinn und scharfblickende Augen.

 

»… all diese verrückten Stationsmeister, Billettkontrolleure und Eisenbahnportiers«, schimpfte er laut.

 

»Haben Sie sich verletzt?« fragte Anthony höflich.

 

»Nein, durchaus nicht.« Auf einmal sah er Anthony scharf an. »Zuerst glaubte ich, daß Ihr Gesicht unsymmetrisch sei, aber jetzt sehe ich, daß es nur ein Schatten war. Verzeihen Sie mir, daß ich darüber spreche, aber ich habe seit Jahren kein gleichmäßigeres Gesicht gesehen als das Ihre.«

 

Anthony neigte ernst den Kopf.

 

»Darf ich Ihnen das Kompliment zurückgeben?« begann er.

 

»Nein, das dürfen Sie nicht. Mein Unterkinn ist vorgeschoben, mein rechtes Ohr ist anomal, die Verlängerungen der Scheitelbeinknochen sind gänzlich unregelmäßig. Einer der besten Gelehrten hat noch dieser Tage erklärt, es sei nach menschlicher Voraussicht einfach unmöglich, daß ich mit einem solchen Scheitelbein einen gesunden Verstand haben könnte.«

 

Er schaute dann Mr. Longwirt an, der ganz erstaunt dabeisaß.

 

»Großer Gott«, sagte der kleine Herr, »das ist aber ein merkwürdiges Gesicht!«

 

»Das interessiert mich«, erwiderte Anthony. »Bitte erläutern Sie es ein wenig.«

 

Mr. Longwirt war sprachlos.

 

»Die zurückfliehende Stirn deutet auf geringen Verstand die abstehenden Ohren in dieser Form zeigen Veranlagung zum Mörder, der Unterkiefer ist zu schwach – wollen Sie einmal so gut sein und Ihren Kopf etwas drehen?«

 

»Das will ich durchaus nicht – ich drehe meinen Kopf nicht!« rief Mr. Longwirt beleidigt, der plötzlich seine Sprache wiederfand. »Wie dürfen Sie so etwas sagen?«

 

»Ihr Verhalten«, sagte der kleine, fremde Mann mit großer Genugtuung, »erklärt auch zum Teil die abstehenden Ohren. Sie sind ein unausgeglichener Charakter – leicht durch Geringfügigkeiten aus dem Gleichgewicht gebracht, die gewöhnlichen Anzeichen einer persönlichen Eitelkeit …«

 

»Ich bin Mr. Longwirt von Leathbro’s Hall!«

 

»Und ich bin Dr. Clayfield vom Clayfield-Irrenhaus!« stellte sich der andere vor. »Longwirt – Longwirt – hat nicht einer Ihrer Verwandten seine Mutter vergiftet?«

 

»Nein!« brüllte Josias beinahe.

 

»Sind Sie dessen auch ganz sicher?« fragte Anthony beinahe liebenswürdig.

 

»Aber selbstverständlich. Sie sind ein ungebildeter Mensch! Sie wissen sich beide nicht zu benehmen!«

 

Dr. Clayfield wechselte einen verständnisvollen Blick mit Anthony.

 

»Ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich nächstens für den Bezirk von Bursted ins Parlament gewählt werde. Meine Wahl ist praktisch schon gesichert.«

 

Der Arzt schaute fragend auf Anthony, der aber den Kopf schüttelte und bedeutsam auf die Stirne zeigte.

 

»Alle Leute sind mehr oder weniger verrückt«, meinte Mr. Clayfield ruhig. »Diese Theorie habe ich mir aus langen Erfahrungen gebildet. Sie sind«, damit wandte er sich an Anthony, »der einzige vernünftige Mensch, den ich heute getroffen habe. Fahren Sie nach Bursted? Nun, das ist gut, ich gehe nach Larchleigh, das liegt zwei Stationen weiter. Ja, da können Sie stolz sein, Sie sind eine der drei vollständig gesunden Personen, die ich diese Woche gesehen habe. Werden Sie in Bursted bleiben?«

 

»Ja, Doktor, ich gehe mit der Absicht um, dort die Zeitung die ›Rakete‹ zu kaufen.«

 

»Dann sind Sie auch verrückt! Jeder, der Bursted als Wohnsitz aussucht, ist ein Narr, und jeder, der einen Groschen ausgibt, um die ›Rakete‹ zu lesen, ist mindestens schwachsinnig. Aber ein Mann, der diese verlotterte Zeitung kauft, ist unheilbar geisteskrank!«

 

Anthony kam also nach Bursted und verabschiedete sich steif von Josias, dagegen recht herzlich von dem Arzt. Josias hatte von der Möglichkeit, daß sich Anthony in Bursted der journalistischen Laufbahn widmen wollte, mit Unbehagen gehört.

 

Die Verbreitung der Bursteder Zeitung war wirklich groß: bei der Eröffnung der neuen Gemeindehalle wurden tausend Exemplare gedruckt, aber sie würden nicht alle verkauft. Mr. Murkle behauptete jedoch stolz, daß dieses Organ der öffentlichen Meinung, das auch in vielen Dörfern der Umgegend gelesen wurde, als wöchentlich erscheinendes Blatt die weiteste Verbreitung in einem Umkreis von zwanzig Meilen hatte. Und wenn Leute, die ihm übelwollten, auf die Tatsache aufmerksam machten, daß überhaupt keine andere Zeitung in der Gegend herauskam, so legte sich Mr. Murkle das als noch größeres Verdienst aus, weil er überhaupt die einzige dortige Zeitung besaß.

 

Die ›Rakete‹ wurde in Mr. Murkies Zeitungs- und Papierladen in der High Street ausgegeben und in einem Schuppen gedruckt, der auf der Rückseite des Ladens lag. Annoncen für die nächste Nummer wurden im Geschäft entgegengenommen bis zu dem Tage, an dem das Blatt erschien. Wenn sie groß genug waren, wurden sie sogar noch während des Druckes angenommen. Mr. Murkle ließ dann einfach die Maschinen stillstehen, und die neue Anzeige wurde noch irgendwo eingeflickt.

 

Roffles, der Lokalpoet, beklagte sich bitter, daß sein Beitrag unter diesen Umständen unmöglich erscheinen könnte. Diese Klage war aber insofern ungerechtfertigt, als Mr. Murkle ihm unweigerlich die fünf Schilling zahlte, ob sein Gedicht in der Nummer gedruckt wurde oder nicht.

 

Die Einwohner von Bursted bildeten sich ihre Meinung von der Welt und ihren Vorgängen nach den Nachrichten, die sie in der ›Rakete‹ lasen. Das war auch ganz natürlich, denn es gab in der ganzen Gegend keinen besser informierten Mann als Mr. Murkle. Er erzählte dies oft im Kreise seiner Freunde, die das unschätzbare Vorrecht genossen, aus erster Hand alle die Ansichten zu hören, die er später in. seinen in mehr klassischer Sprache abgefaßten Artikeln in der ›Rakete‹ zum Abdruck brachte.

 

Der Herausgeber und Eigentümer der ›Rakete‹ und voraussichtlich unabhängige Kandidat für den Wahlkreis von Bursted war bereits sechzig Jahre alt. Er trug einen kurzgeschnittenen weißen Bart und eine Hornbrille.

 

In Bursted lebte auch ein gewisser Mr. Dogbery, der sehr unzufrieden mit Mr. Murkle war, denn die Artikel, die er der ›Rakete‹ einsandte; wurden nicht angenommen. Alle Leute wußten das. Er erklärte, daß Mr. Murkle aussähe, als ob er sich mit Patentmedizinen kuriert habe, damit sein Bild in die Zeitung gebracht werde.

 

»Dogbery kann den Artikel nicht leiden, den ich letzte Woche über Anthony Eden in die Zeitung setzte«, sagte Mr. Murkle und kaute nachdenklich an einem Strohhalm. Er stand an diesem sonnigen Nachmittag vor seiner Ladentür und beobachtete das Schauspiel des vorüberziehenden Verkehrs, der besonders am Sonnabend in Bursted recht lebhaft war. Genaue Beobachter sahen sogar einmal zu gleicher Zeit drei Fordwagen auf der Straße. Neben Mr. Murkle stand ein Kaufmann, den er zur Aufgabe einer Annonce überreden wollte.

 

»Dogbery ist ein vollkommen unzufriedener Mensch. Mein Angriff auf die Amerikaner, den ich neulich schrieb, hat ihn ganz krank gemacht, wenigstens sagt er so. Und wegen meines Artikels, den ich über die Marine schrieb, hat er Leibschmerzen bekommen. Aber, Mr. Walsh, ich habe eine gewisse Pflicht dem Lande gegenüber, dessen bin ich mir immer bewußt. Die Amerikaner setzen doch keine Annoncen in die ›Rakete‹, auch Mister Eden nicht. Und was die Marine anbetrifft, so habe ich in den letzten fünf Jahren nur einen einzigen Anzeigenauftrag von ihr erhalten, zwei Spalten breit und drei Zoll hoch! Was aber die Konferenz in Genf angeht, so muß ich entschieden dagegen sein. Dogbery wird natürlich wild werden, aber wie gesagt, ich habe doch meine Pflichten dem Lande gegenüber. Wo liegt denn eigentlich Genf? Ich habe überhaupt noch nicht davon gehört, bevor die Geschichte anging. Ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn es in Rußland gelegen hätte. Irgendwo in der Schweiz ist es doch wohl? Man mag das zwar behaupten, aber Sie wissen ja, wie diese lahmen Kerle vom Kriegsministerium sind. Denken Sie daran, was ich Ihnen jetzt sage. Man teilt uns noch lange nicht alles mit. Warten Sie nur, bis Sie nächste Woche meinen Leitartikel lesen. Da habe ich es der Regierung aber einmal kräftig gesagt. Was Dogbery davon hält, ist mir ganz gleichgültig. Ich könnte Ihnen auch alles über die Konferenzen in Lausanne erzählen, aber nur unter uns, verstehen Sie – das dürfen Sie keinem anderen wiedersagen. Ich habe es aus erster Quelle meine Tochter ist nämlich mit einem Regierungsbeamten verheiratet … ich weiß wohl, daß, Dogbery erzählt, mein Schwiegersohn wäre Fensterputzer bei der Admiralität. Aber er würde wohl staunen, wenn er erführe, daß er kein Fensterputzer ist. Er ist Heizer und transportiert Kohlen. Und wenn ein Mann, der eine Uniform mit Messingknöpfen trägt, kein Regierungsbeamter ist, dann weiß ich nicht, wer es sonst wohl sein sollte. Aber die ›Rakete‹ ist sehr gut informiert, alles, was darin steht, ist absolut wahr. Es ist ja auch möglich, daß eine andere Zeitung dasselbe sagt, aber dann hat sie es aus der ›Rakete‹ abgedruckt.

 

Was nun die nächste Wahl hier betrifft«, fuhr er nach einer Weile fort, »so weiß ich noch nicht, wen ich unterstützen werde. Mag sein, die eine Seite, mag sein, die andere. Aber darauf können Sie sich verlassen: mit wem ich es halte, der gewinnt bei den Wahlen!«

 

In mancher Hinsicht richtete sich Mr. Murkle in seinem Stil und seinen Gewohnheiten ganz nach der Londoner Presse.

 

»Es geht auch ein Gerede, daß ich als unabhängiger Kandidat für die Wahl auftreten werde. Man hat mich darum gefragt. Wenn ich es tue, dann ist es ganz sicher, daß ich in das Parlament komme. Longwirt hat große Angst vor mir und ebenfalls vor der ›Rakete‹. Ich mache ihm ja keine Vorwürfe, aber glauben Sie mir, die Zeitung wird in diesen Tagen noch in die Höhe kommen. Ich werde ein Vermögen mit ihr verdienen. Es ist die einzige Zeitung in dieser Gegend, mit der überhaupt Geld verdient wird, und das will etwas heißen. Sie können mir ruhig glauben, daß Sie einen großen geschäftlichen Erfolg haben, wenn Sie in der ›Rakete‹ annoncieren. Ich will in der nächsten Nummer eine vier Zoll hohe und zwei Spalten breite Annonce auf der ersten Seite einsetzen, wo der Leitartikel steht. Die würde ich gerne für Sie frei halten, aber Sie haben mir ja bis jetzt noch keinen Bescheid darüber zukommen lassen. Beecham hat schon lange nach einer solchen Gelegenheit ausgeschaut, ebenso Fry’s Schokoladenfabrik. Auch eine Automobilfirma, so etwas Ähnliches wie Rolls Royce, drängt sich danach, eine Annonce bei mir einrücken zu können. Wenn Sie fünfunddreißig Schilling zahlen, dann nehme ich Sie.«

 

Der Kaufmann sagte etwas davon, daß er sich die Sache erst noch überlegen und seinen Teilhaber fragen wolle, und drückte sich dann. Eine Weile schaute ihm Mr. Murkle mit bösen Blicken nach, dann wandte er sich um, trat in seinen Laden und sah zum ersten Male, daß dort schon geraume Zeit ein Kunde auf ihn wartete.

 

»Was wünschen Sie?« fragte Mr. Murkle.

 

»Mein Name ist Newton, Anthony Newton«, erklärte der Fremde. »Ich bin auf die Annonce hin gekommen, die Sie in einer Londoner Zeitung einsetzten.«

 

»Treten Sie bitte näher«, sagte Mr. Murkle und führte seinen Besuch ins Wohnzimmer.

 

»Ich würde die Zeitung nicht verkaufen«, meinte er, nachdem sie eine Stunde lang über das Geschäft gesprochen hatten. »Aber ich bin über die Regierung sehr ärgerlich. Ich möchte nichts mehr mit dem politischen Leben zu tun haben. Ich mache einen Vorschlag. Solange ich den Druck der Zeitung weiter herstellen kann, werde ich Ihnen ein Büro hier einrichten. Ich rechne Ihnen zwölf Schilling die Woche dafür und außerdem müssen Sie mir zehn Prozent von allen Annoncen geben, die ich für Sie hier im Laden annehme. Das ist ein faires Angebot.«

 

So wurde Anthony Newton der Herausgeber der ›Rakete‹, und Josias Longwirt erfuhr zu seinem nicht geringen Schrecken von dieser Tatsache. Man hätte annehmen sollen, daß sein einziger politischer Gegner, der gegen ihn auftreten konnte, sich dieses Organs der öffentlichen Meinung bediente, wenn er ernste Absichten hatte, sich ins Parlament wählen zu lassen.

 

Anthony widmete sich seiner neuen Tätigkeit als Journalist mit dem Eifer und der Begeisterung, die ein Kind einem neuen mechanischen Spielzeug entgegenbringt.

 

Zwei Nummern hatte er bereits herausgebracht, als die Hauptwahl wie eine Granate über Bursted platzte und die gewöhnlich friedliche Bürgerschaft in wilde, zähnefletschende Menschen verwandelte. Der erste der Wahlaufrufe, der erschien, lobte, die Verdienste, die literarischen Fähigkeiten, das verwaltungstechnische Geschick und die politische Unantastbarkeit von Mr. Murkle. »Ein Mann aus Bursted für Bursted.« Und Mr. Murkle war sowohl der Verfasser als auch der Drucker.

 

Anthony ging die High Street entlang und traf Mr. Josias Longwirt, der sehr bedrückt aussah.

 

»Ich behaupte, Anthony, daß dieser alte, verrückte Kerl zum Schluß doch noch einen Zurückzieher macht. Was halten Sie davon?« fragte er ängstlich. »Ich lege der Sache nicht viel Bedeutung bei, es ist nur eine Geldfrage.«

 

»Ich stehe auf Ihrer Seite. Ich will alles tun, um Ihnen zu helfen. Je mehr Anstrengungen und Aufsehen der alte Murkle macht, desto mehr wird es Sie kosten, ihn zu veranlassen, seine Kandidatur zurückzuziehen. Die Leute hier haben mir erzählt, daß sich Murkle in den letzten dreißig Jahren bei jeder Wahl als Kandidat aufstellen ließ und jedesmal in der letzten Minute zurücktrat. Ihn kostet es ja nichts; die Wahlaufrufe und die Zettelverteilung hat er so ziemlich umsonst. Das ist tatsächlich die beste Art und Weise, sich dauernd ein festes Einkommen zu sichern.«

 

Josias legte den Finger nachdenklich an die Nase.

 

»Ich kann eigentlich nicht verstehen, warum Sie hierhergekommen sind«, sagte er unsicher. »Ich dachte zuerst, daß Sie die ›Rakete‹ gekauft hätten, um gegen mich zu arbeiten. Aber Ihr Artikel über mich war absolut liebenswürdig und dezent.«

 

»Anständigkeit war stets meine Schwäche«, erwiderte Anthony ernst, »Und warum ich eigentlich hier bin, wird sich eines Tages schon zeigen. Was werden Sie nun mit Murkle anfangen?«

 

»Ich werde ihm vermutlich eine Abstandssumme zahlen; das hat jeder andere früher auch tun müssen. Es ist direkt Erpressung – wieviel will er denn haben?«

 

»Das müssen Sie ihn selbst fragen.«

 

Es fand eine persönliche Aussprache zwischen Mr. Longwirt und Mr. Murkle statt, und zwei Tage vor der Aufstellung des Kandidaten wurden die Wahlplakate Mr. Murkies mit weißem Papier überklebt. Am Abend ging Anthony von Gasthaus zu Gasthaus und fand viele Freunde. Was er eigentlich tat, wird man niemals sicher herausbekommen. Es steht nur das eine fest, daß er ein großes Schriftstück vorzeigte und sagte, es sei eine Petition um Aufschub der Vollstreckung der Todesstrafe für einen Mann, der gehenkt werden sollte. Und alle Leute, die er um ihre Unterschrift bat, setzten ihren Namen darunter.

 

Mr. Miller, ein Stockkonservativer, Mr. Jordan, ein Liberaler, und sogar Mr. Hallingay, der kommunistische Anwandlungen hatte – alle, alle unterzeichneten die vermeintliche »Petition«.

 

Am nächsten Tage war die Erregung in Bursted vollkommen verschwunden. Der erwartete Kampf fand nicht statt, obwohl es bis zuletzt Leute gab, die hofften, daß Murkle seine Kandidatur aufrechterhalten werde.

 

Aber Mr. Murkle erklärte traurig, daß das nicht möglich sei.

 

»Als ich meine Zeitung die ›Rakete‹ aufgab, habe ich auch mit meiner politischen Laufbahn Schluß gemacht. Es war ein Fehler, daß ich mich noch einmal als Kandidat aufstellen ließ.«

 

An diesem Abend wurde er von Anthony eingeladen. Andere Gäste erschienen nicht. Das Essen fand in einem Privatraum des Gasthauses »Zur Weizengarbe« statt. Die beiden tranken Ginger Ale. Mr. Murkle wurde um acht Uhr politisch, um neun bekam er musikalische Anwandlungen, um zehn rühmte er sich mit allem, was er schon geleistet hatte, und wurde zu Tränen gerührt. Um elf Uhr wurde er restlos vertrauensselig und erzählte Anthony Newton seine ganze Lebensgeschichte und auch, was er neulich mit Mr. Josias Longwirt vereinbart hatte.

 

*

 

Der Tag der Wahl dämmerte herauf, und Mr. Josias Longwirt schien der Himmel nur zu seinem Ruhmestag zu strahlen. Aber was er alles an diesem Tage noch erleben sollte, ahnte er nicht.

 

Er war in dem ersten Hotel der Stadt abgestiegen und hatte eben seine Morgentoilette beendet und sich der Bedeutung des Tages entsprechend gekleidet, als ein Brief für ihn abgegeben wurde, und zwar wurde er ihm von einem besonderen Sendboten persönlich eingehändigt. Das Schreiben war schwer versiegelt und trug die Aufschrift: »Geheim und streng vertraulich.« Auf der Rückseite des Kuverts war ein Wappen eingeprägt. Das Briefpapier war schwer und kostbar und trug als Kopf nur die einfachen Worte: »Inneres Kabinett. Streng geheim.«

 

Das Schreiben lautete:

 

Sehr geehrter Mr. Longwirt!

 

Es ist plötzlich eine Krisis ausgebrochen. Wir treffen uns in Malby House, Blackpond. Wir brauchen Ihren unmittelbaren, persönlichen Rat, Sie müssen sofort kommen. Fragen Sie nicht nach S. B. oder sonst jemand. Geben Sie auch nicht Ihren Namen an, sondern nennen Sie sich selbst Foch und fragen Sie nach dem König von Griechenland. Diese Anweisungen müssen Sie unter allen Umständen ausführen. Dies ist äußerst wichtig und dringend. A. C. kommt im Sonderzug. Malby House ist das weiße Gebäude auf der linken Seite der Straße, bevor Sie nach Blackpond kommen.

 

S. B. (P. M.)

 

Mr. Longwirt wurde nicht ohnmächtig, er verlor nicht die Besinnung. In seinen Träumen hatte er ja schon derartige Dinge erlebt. Er ging hinunter und bestellte sofort seinen Wagen.

 

»Schließen Sie die Türen und ziehen Sie die Vorhänge vor«, wies er seinen Chauffeur an.

 

Der Mann wunderte sich, führte aber den Auftrag aus. Vor der Stadt zog Josias die Vorhänge wieder beiseite und überließ sich kühnen Träumen. Es war ihm, als ob die Würde der Staatsregierung auf seinen Schultern ruhte, und er machte ein ernstes Gesicht und legte die Stirn in Falten. Als er in die Nähe von Blackpond kam, das er von früheren Besuchen her kannte, sah er das weiße Haus und gab seinem Chauffeur ein Zeichen. Sie fuhren durch schwere, eiserne Tore und hielten bei einer Säulenvorhalle. Die Tür wurde sofort geöffnet, und ein Mann in einem weißen Rock trat heraus.

 

Josias nahm ihn vertraulich beiseite.

 

»Ich bin Foch«, sagte er mit leiser, vor Aufregung zitternder Stimme, »und ich möchte den König von Griechenland sprechen.«

 

Der Mann nickte. »Gewiß, General«, sagte er. »Wollen Sie bitte näher treten.«

 

Mr. Longwirt befand sich in einem mit weißgestrichenem Paneel versehenen Büro. Plötzlich trat ein untersetzter Herr herein. Josias hatte eine schwache Erinnerung, ihn schon irgendwo einmal gesehen zu haben.

 

»Ich bin Foch«, sagte Mr. Longwirt wieder, »und ich möchte den König von Griechenland sprechen.«

 

Dr. Clayfield schaute den Besucher wohlwollend an.

 

»Jawohl, Sie werden zu ihm geführt werden, General – und Sie werden auch die Königin Elisabeth sehen und den Rajah von Bhong!« Er läutete und diesmal kamen zwei Männer in weißen Kitteln herein.

 

»Auf Zimmer Nr. 8 zur Untersuchung«, sagte der Arzt kurz.

 

Mr. Longwirt folgte den beiden freudestrahlend.

 

*

 

Ein paar Minuten vor zwölf Uhr mittags wartete der Wahlkommissar auf die Ankunft von Mr. Josias Longwirt. Aber an seiner Stelle erschien Anthony Newton, legte eine Summe Geldes auf den Tisch und eine mit unglaublich vielen Unterschriften versehene Wahlliste.

 

»Ich hatte keine Ahnung, daß Sie als Kandidat aufgestellt waren, Mr. Newton«, sagte der Beamte überrascht.

 

»Ich auch nicht«, erklärte Anthony.

 

Drei Rechtsanwälte hatten vier Stunden lang zu tun, um Mr. Josias Longwirt aus dem Clayfield-Irrenhaus zu befreien.

 

»Es hat gar keinen Zweck, daß Sie obendrein noch schimpfen und ärgerlich werden, junger Mann«, sagte der Chefarzt. »Wenn jemand zu mir kommt, sich als General Foch vorstellt und dann noch die höchsten Persönlichkeiten sehen will, habe ich wohl allen Grund, ihn hier zurückzuhalten. Dazu bin ich absolut berechtigt.«

 

»Ich werde Sie zur Anzeige bringen, ich werde Sie verklagen«, schrie Josias. »Ich werde eine Anfrage im Parlament einbringen!«

 

Aber er führte seine Drohungen nicht aus.

 

Mr. Anthony Newton, Mitglied des Parlamentes für den Wahlbezirk von Bursted, gab ihm den Rat, von all diesen Dingen abzusehen.

 

»Das hat alles keinen Zweck. Es ist zwar ein Unglück, aber es wäre noch viel unglücklicher für Sie, wenn ich alle Ihre Durchstechereien und die Korruption des alten Murkle aufdecken würde. Ich kann alles beweisen und habe alles schwarz auf weiß. Kommen Sie einmal nach London ins Parlament – ich will Sie dann herumführen und Ihnen alles zeigen!«

 

12. Kapitel

 

12. Kapitel

 

Ein Spezialist

 

Anthony Newton war ein Opportunist und besaß wie alle diese Menschen die Fähigkeit, eine Situation sofort zu überschauen und auf Grund der gegebenen Lage unglaublich schnell zu handeln. Gut ausgearbeitete Schlachtpläne, die mühevolle Vorbereitungen erforderten, lagen ihm nicht. Das Leben bot ihm viele günstige Gelegenheiten, aber die meisten wies er sofort zurück; einige, weil sie nicht genügend Aussicht auf Erfolg hatten, andere wieder, weil sich der Erfolg nicht recht lohnte und ihm die Mittel, mit denen er das Ziel hätte erreichen können, zu zweifelhaft erschienen.

 

Es war eigentlich zu erwarten, daß die Erscheinung eines jungen Mannes, der keinen offensichtlichen Verdienst hatte, auf großen Fuß lebte, stets elegant auftrat und immer viel Geld ausgab, die Neugierde anderer Glücksritter erregte, die jedoch nicht auf seinen Wegen gingen. Von Zeit zu Zeit begegnete er Leuten der Aristokratie, einer ihm unbekannten Welt. Tadellos gekleidete Herren und Damen, ebenfalls ohne irgendwie bekannte Erwerbsquellen, näherten sich ihm, prüften ihn vorsichtig und mit großer Geschicklichkeit und verschwanden dann wieder. Anthony spielte weder Karten noch (besuchte er Spielhöllen, auch fiel er nicht der Versuchung zum Opfer, sich auf leichte Weise Geld zu verdienen. Trotzdem waren ihm diese Bürger von Londons Unterwelt sehr interessant, die gar nicht den Anspruch erhoben, Damen und Herren der Gesellschaft zu sein.

 

Einst lud Anthony einen solchen Mann zum Essen ein, und im Laufe des Abends wurde der Mann gesprächig und gab ihm manche Erklärung. Er hieß Jay Gaddit, war einer der vorzüglichsten Falschspieler und Kartenkünstler, dem Äußeren nach aber ein Mann von Welt, der viel herumgekommen war und sich daher in jeder Gesellschaft bewegen konnte.

 

»Alle diese Geschichten von Gentlemanverbrechern sind Unsinn«, sagte er und schaute nachdenklich auf seine Zigarre. »Wenn Sie, den ich zu den Fratzen rechnen will …«

 

»Danke verbindlichst«, erwiderte Anthony.

 

»Sie müssen wissen, es gibt nur zwei Arten von Leuten auf der Welt, die Diebe und die Fratzen. Ich habe absolut nicht die Absicht, Sie zu beleidigen. Nehmen Sie an, daß Sie einen von den Jungens treffen und mit ihm zu Abend essen. Nach Tisch schlägt irgend jemand, wahrscheinlich ein Mädchen, das auch mit der Gesellschaft arbeitet, ein Spiel Karten vor. Wenn nun der Verbrecher, der Sie hereinlegen will, ein Gentleman wäre und sich während des ganzen Essens mit Ihnen über Kunst, Wissenschaft und dergleichen unterhalten hätte und dann plötzlich das Gespräch auf Karten brächte, würden Sie sich doch sofort sagen: ›Der Mensch muß ein Verbrecher sein.‹ Denn ein Gentleman würde sich doch niemals mit einem Fremden über Karten unterhalten. Aber wenn er sich nun nicht wie ein Gentleman gibt, sondern so wie ich daherkommt und freimütig und derb über alles spricht, Spaße macht und lustig ist, und dann nachher ein Kartenspielchen erwähnt, würden Sie gar nichts dabei finden. Sie würden mich ansehen und denken: Nun ja, der junge Mann ist gut gekleidet und hat anscheinend viel Geld. Er ist ein reicher Farmer, vielleicht auch ein Pferdehändler. Aber Sie würden keinen Verdacht schöpfen. Daß ich so vorteilhaft aussehe, gehört zu meinem Beruf. Aber mein Spezialfach ist immer noch bedeutend besser als das von anderen Leuten. Sehen Sie einmal drüben den Menschen an.« Er zeigte auf einen vornehm gekleideten, ruhigen Herrn. »Das ist Sadbury – oder er nennt sich wenigstens so. Der rührt nie eine Karte an. Und er ist ein vollkommener Gentleman.«

 

Anthony schaute interessiert zu Mr. Sadbury hinüber.

 

»Welche Spezialität hat er denn?« fragte er.

 

Jay Gaddit lachte leise vor sich hin.

 

»Das ist ein Bigamist! Er ist schon sechsmal verheiratet gewesen, meistens mit reichen Witwen mittleren Alters«, sagte der Kartenkünstler mit verhaltener Bewunderung. »Er lernt sie an Bord eines Schiffes kennen. Er macht eine Reise nach Australien und ist drei oder vier Tage nach seiner Ankunft in Sidney verheiratet. Er hat sich schon, in Kapstadt, Buenos Aires, Ottawa, New York, Colombo und Vancouver trauen lassen. Aber er ist noch niemals gefaßt worden, weil sich niemand über ihn beschwerte oder eine Klage gegen ihn erhob. Eine Frau, die ausgeraubt und zum Narren gehalten wurde, macht natürlich keine Anzeige, besonders, wenn sie nichts von den anderen weiß. Ich spreche jetzt natürlich im Vertrauen zu Ihnen, wie ein Bruder zum anderen.«

 

Anthony nahm dieses zweifelhafte Kompliment ruhig und geduldig auf.

 

»War er denn noch nie im Gefängnis?«

 

»O ja, er hat schon drei- oder viermal gesessen«, meinte Jay sorglos, »aber niemals wegen Bigamie. Ich kann nicht sagen, daß mir dieses Spezialfach zusagen würde. Meine Sache ist glatter Diebstahl und schnelle Flucht. Nebenbei bemerkt ist das auch weniger gefährlich.«

 

Anthony sah sich erstaunt nach Sadbury um. Der Mann sah gut aus, mochte etwa achtundzwanzig Jahre alt sein, hatte dunkles Haar und trug einen kleinen, schwarzen Schnurrbart. Ein nachlässig gekleideter Mensch saß bei ihm, der abgerissen aussah und sich scheu umblickte. Seine Hände zitterten – das konnte Anthony sogar aus dieser Entfernung wahrnehmen.

 

»Das ist aber doch kein Opfer, das er ausplündern will?«

 

Jay Gaddit schüttelte den Kopf.

 

»Das ist ein morphiumsüchtiger Kerl. Der Himmel mag wissen, was Sadbury mit dem vorhat.«

 

Im Laufe der Zeit kam Anthony in London mit allen möglichen Leuten in Berührung, die die verschiedensten Verbrechen als Spezialität betrieben und unter den Unbesonnenen, Einfältigen und Überklugen ihre Opfer suchten. Er hatte keine Freunde unter diesen Menschen, aber er brachte seine Abende manchmal mit ihnen zu und erfuhr auf diese Weise viele interessante Dinge.

 

Für Anthony gab es eigentlich nur ein junges Mädchen auf der Welt. Aber obgleich er romantischen Abenteuern nicht abgeneigt war, stand es doch bei ihm fest, daß er seine Augen niemals zu Vera Mansar, der Millionärstochter, erheben konnte, deren Lieblichkeit immer um ihn schwebte und die ihm als Maßstab weiblicher Schönheit galt, wenn er andere Frauen sah. Er war jetzt kein armer Abenteurer mehr. Dank einer Anzahl gut verlaufener Unternehmungen, die einen größeren Gewinn abwarfen, als er früher in seinen kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hatte, verfügte er jetzt über die nötigen Mittel – aber er blieb immer noch ein Abenteurer.

 

Die Möglichkeit, seine Bekanntschaft mit ihr zu erneuern, war sehr unwahrscheinlich. Er selbst machte sich darüber keine Hoffnung. So ging Anthony Newton allein seinen Weg durch das merkwürdige London. Er lernte Leute kennen, die plötzlich für Monate verschwanden, und er hörte von dem Klatsch und den Skandalen der Unterwelt. Er hatte unter ihren Bewohnern wenigstens zwei angenehme Menschen getroffen, die ihm gegenüber offen waren und ihm vieles im Vertrauen erzählten, nachdem die ersten Mißverständnisse beseitigt waren und sie entdeckten, daß er weder eine »Fratze« noch ein Polizist war.

 

Einige Zeit, nachdem Anthony mit Jay Gaddit zu Abend gespeist hatte, war der Falschspieler plötzlich spurlos von der Bildfläche verschwunden. Er war ›aufs Land gegangen‹, wie seine Freunde erzählten. Nach drei Monaten erfuhr Anthony, daß er an den ›schrecklichen Platz‹ gekommen sei, worunter Londons Unterwelt das Gefängnis von Dartmoor versteht. Und einige Tage später erhielt er einen Brief auf blauem Papier. »S. M. Gefängnis Princetown« stand darauf. Anthony zerbrach sich nicht den Kopf, wie der Mann wohl zu seiner Adresse gekommen sein mochte. Die Kenntnis solcher Dinge gehörte eben zu Gaddits Beruf. Der Brief lautete:

 

Mein lieber Mr. Newton!

 

Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, wenn ich mich an Sie wende. Ich bin auf Grund eines falschen Zeugnisses für drei Jahre ins Gefängnis gekommen. Auf jeden Fall war die Beschuldigung, die gegen mich erhoben wurde, nicht richtig. Unglücklicherweise hatte ich nur wenig Geld, als ich geschnappt wurde, und mußte meine Frau ohne alle Mittel zurücklassen. Ich weiß nicht, ob es ein zu großes Ansinnen an Sie ist, wenn ich Sie bitte, etwas für sie zu tun.

 

Das war eine sonderbare Zumutung, wie sie Anthony früher nie begegnet war. Aber er zögerte keinen Augenblick, notierte sich die Adresse, die Gaddit in seinem Brief angegeben hatte, stieg in ein Mietauto und stand bald darauf vor einer Wohnungstür in Bloomsbury. Er klopfte an, und eine hübsche, schlanke, junge Frau von etwa siebenundzwanzig Jahren öffnete ihm. Zuerst schaute sie ihn mißtrauisch an, aber nachdem er ihr mit einigen Worten den Zweck seines Besuches erklärt hatte, wurde sie liebenswürdiger.

 

»Treten Sie bitte näher, Mr. Newton«, sagte sie und führte ihn in ein kleines, aber schön eingerichtetes Wohnzimmer. Anthony hatte keine Ahnung, wie sich Frauen von Verbrechern in solchen Fällen benehmen, aber wenn er erwartete, sie in Trauer und Kummer zu finden, so hatte er sich sehr getäuscht.

 

»Da können Sie einmal wieder sehen, wie unvernünftig es ist, sich zu betrinken. Wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte man ihn nicht, gefaßt«, sagte sie. »Da ich ihn immer unterstützt habe, bedrückt es ihn natürlich, daß er mir nur hundertfünfzig Pfund zurücklassen konnte.«

 

Anthony war verblüfft. Aber die Frau hatte sehr bald erkannt, welchen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte, und sie mußte lachen.«

 

»Sie haben doch nicht etwa gedacht, daß Sie mich hier in Tränen aufgelöst finden, Mr. Newton? Sie müssen bedenken, ist es nicht das erstemal, daß Jay ›aufs Land‹ gegangen ist. Geld brauche ich wirklich nicht«, sagte sie, nachdem sie einige Augenblicke nachgedacht hatte. »Ich arbeite mit einem Freund zusammen, und ich habe wirklich genug. Wenn Sadbury mich nicht so betrogen hätte, wäre ich sogar gut bei Kasse.«

 

Der Name war Anthony bekannt.

 

»Sprechen Sie von dem Bigamisten?«

 

»Jay scheint Ihnen ja schon alles erzählt zu haben! Der Mann ist wirklich kein Gentleman. Ich habe fünf Tage lang ehrlich an ihm gearbeitet, und er hat mir nicht einmal Dankeschön oder dergleichen gesagt.«

 

Eins hatte Anthony bei seinem Verkehr mit diesen merkwürdigen Leuten gelernt – man durfte niemals fragen. Er mußte warten und konnte vorläufig nur vermuten, was es bedeutete, daß Mrs. Gaddit an Sadbury »gearbeitet« hätte. Aber die Zusammenhänge waren ihm durchaus nicht klar.

 

Er kehrte erleichtert in sein Hotel zurück. Eine Bekanntschaft mit Verbrechern hatte doch manchmal verwirrende Momente. Er war selbst stark beschäftigt, denn er bereitete gerade wieder ein neues Unternehmen vor. Erst nach drei Monaten sah er Mrs. Gaddit wieder. Er traf sie im Hyde Park, und sie fuhr in einem wunderschönen Wagen mit einem Chauffeur und einem Diener an ihm vorüber. Anthony lächelte sie liebenswürdig an, als er sie in so vornehmer Umgebung sah.

 

*

 

Am nächsten Tage hatte er eine Begegnung, die sein Herz höher schlagen ließ und ihm das Blut in die Wangen trieb. Er ging die Regent Street entlang und wollte gerade seinen Freund, den Rechtsanwalt und Romanschreiber, besuchen, als ihn jemand anrief. Er wandte sich um.

 

Die liebliche Erscheinung, die sich seinen Blicken bot, raubte ihm fast den Atem. Er erkannte die Dame nicht gleich und glaubte, daß sie sich geirrt habe. Aber sie kam mit lachenden Augen auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

 

»Wie geht es Ihnen, Mr. Newton?«

 

Er konnte nicht sprechen und schüttelte nur Vera Mansars Hand.

 

»Es ist beinahe ein Jahr, daß wir uns zuletzt gesehen haben – Sie haben uns nicht wieder besucht.«

 

Sie unterdrückte ein Lachen, und Anthony sah sie vorwurfsvoll an.

 

»Nein, ich bin nicht dazu gekommen«, sagte er etwas heiser. Er benahm sich entsetzlich schüchtern und linkisch. »Ich habe nämlich sehr viel zu tun …«

 

»Hat man Sie zum Direktor der Bank von England gemacht?« fragte sie möglichst harmlos. »Aber Sie können Ihren Hut ruhig aufsetzen. Abgesehen davon, daß Sie die Aufmerksamkeit der anderen Leute auf sich ziehen, könnten Sie sich auch erkälten.«

 

Anthony murmelte eine Entschuldigung und setzte seinen Hut auf.

 

»Wir haben sehr oft über Sie gesprochen«, sagte sie, als sie zusammen die belebte Straße entlanggingen. »Ich meine nämlich Vater und mich. Er war der Meinung, daß Sie der Klügste von allen waren.«

 

Anthony schluckte. Er wußte, daß Miss Vera Mansar von den zudringlichen jungen Leuten sprach, die versucht hatten, sich auf alle mögliche Weise bei ihrem reichen Vater einzuführen.

 

»Er möchte Sie gern wiedersehen«, fuhr sie fort.

 

Anthony lächelte. Er hatte endlich seine Selbstbeherrschung wiedererlangt.

 

»Will er mich wieder nach Brüssel schicken?« fragte er trocken.

 

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte sie ernst. »Wir erinnerten uns an Sie, als wir die Einladungen zu meiner Hochzeitsfeier aufsetzten.«

 

Anthony blieb stehen.

 

»Zu Ihrer Hochzeit?« fragte er ungläubig.

 

Sie nickte.

 

»Ich heirate meinen Vetter – ich dachte, Sie wüßten das –, es hat in den Zeitungen gestanden.«

 

»Ach ja.« Anthony versuchte, die Herrschaft über seine Stimme zu behalten. »Ich wußte nicht, daß Sie einen Vetter hatten«, sagte er dann etwas lahm.

 

Sie mußte lachen.

 

»Sie wissen überhaupt nichts von mir«, antwortete sie und sah ihn wieder vergnügt an. »Geben Sie sich doch nicht erst den Anschein, als ob das der Fall wäre, Mr. Newton. Aber ich habe nur wenige Verwandte, und mein Vetter Philipp könnte Ihnen eigentlich bekannt sein. Und wenn man vom Wolf spricht, kommt er auch schon. Sehen Sie, hier ist mein Bräutigam!«

 

Nichts in dem Ton ihrer Stimme zeigte an, daß sie Philipp Lassinger liebte, im Gegenteil, sie sprach schnell, fast heftig. Anthony wandte sich um, um den Mann zu begrüßen, den er aus tiefstem Herzen haßte.

 

Philipp Lassinger war groß und hatte eine helle Gesichtsfarbe; sein glattrasiertes Gesicht sah vorteilhaft aus. Anthony dachte grollend, daß er alle Männer mit schönen Köpfen nicht leiden könne.

 

»Dies ist Mr. Newton«, stellte Vera ihn vor. Die beiden Männer reichten sich die Hände.

 

»Doch nicht Mr. Anthony Newton?« entgegnete Lassinger liebenswürdig. »Oh, ich habe schon viel von Ihnen gehört!«

 

Vera fühlte Anthonys Verlegenheit.

 

»Wollen Sie so liebenswürdig sein und mit uns zu Mittag speisen, Mr. Newton? Ich werde den Zorn meines Vaters schon zu besänftigen wissen. Aber ich glaube nicht, daß er überhaupt noch ärgerlich auf Sie ist.«

 

Im ersten Augenblick wollte Anthony die Einladung ablehnen. Am liebsten hätte er sich entfernt, um allein mit seinem Kummer zu sein, aber er mußte ja auch essen, und was ausschlaggebend war, er konnte in der Nähe dieser bezaubernd schönen Frau sein.

 

Mr. Gerald Mansar wartete schon im Palmenhof des Carlton-Hotels, als sie eintraten. Als er Anthony sah, zog er seine weißen Augenbrauen hoch.

 

»Das ist ja ein unerwartetes Vergnügen«, meinte er und schüttelte Anthonys Hand kräftig. »Ich glaube, Sie sind mir noch sechshundert Pfund schuldig.«

 

»Und Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig, die mir viel mehr wert ist als sechshundert Pfund«, erwiderte Anthony gelassen.

 

»Ich war damals sehr gekränkt, das gebe ich zu«, entgegnete Mansar, der sich jetzt offensichtlich bei der Erinnerung an dieses Abenteuer freute. »Sie haben also meinen Neffen Lassinger kennengelernt?« Er klopfte Philipp auf den Rücken, und Anthony stellte fest, daß der alte Herr eine Schwäche für seinen Neffen hatte. Bevor das Essen endete, hatte er schon herausgefunden, daß Philipp die Heirat angenehmer war als Vera. Sie sprach nur selten zu ihrem Verlobten, und wenn sie es tat, so war es gewöhnlich nur, um auf seine Fragen zu antworten.

 

»Was denken Sie von unserem Bräutigam, Mr. Newton?« fragte Mr. Mansar und blies dicke Rauchwolken zur Decke. »Er hat sich in der ganzen Welt herumgetrieben. Du bist besser zurückgekommen, als wir jemals erwarten konnten, Phil.«

 

»Ja, als Junge habe ich nicht viel getaugt«, sagte Lassinger lächelnd. »Ich glaube, die lange Wanderzeit hat mir recht gut getan. In den Tagen, die ich allein auf der Farm zubrachte, habe ich viel nachgedacht.«

 

Für Anthony war dieses Essen nicht angenehm, und er bedauerte sehr, die Einladung angenommen zu haben. Sobald es schicklich war, verabschiedete er sich.

 

Eines Tages sah er die beiden wieder, als sie zusammen die Piccadilly entlangfuhren. Lassinger sah wohl und vergnügt aus, aber Vera erschien ihm blasser und weniger lebhaft. Er gab sich die größte Mühe, sie ganz tu vergessen, aber immer wanderten seine Gedanken zu ihr zurück. Wie um ihn noch mehr zu quälen, brachten die Zeitungen ganzseitige Abbildungen von ihr. Er schnitt sie alle aus und heftete sie an die Wand seines kleinen Schlafzimmers.

 

Am Abend vor ihrer Hochzeit begegnete er ihr noch einmal. Es war ein regnerischer, stürmischer Sommertag, und das Wetter spiegelte die Gedanken und die traurige Stimmung wider, in der er sich befand. Schnell schritt er durch den Hyde Park. Plötzlich sah er vor sich eine Gestalt in einem Regenmantel, aber er wäre an der Dame vorbeigegangen, ohne ihr ins Gesicht zu sehen, wenn er nicht plötzlich ihren erstaunten Ausruf gehört hätte.

 

»Das ist Schicksal«, sagte sie düster. »Kommen Sie und setzen Sie sich etwas zu mir. Hier unter den Bäumen ist eine Bank. Der Parkwächter wird wahrscheinlich annehmen, daß wir ein Liebespärchen sind, aber wenn Ihnen dieser schreckliche Verdacht nichts ausmacht …«

 

»Ich könnte heute alles tun – für Sie«, entgegnete er.

 

Sie setzte sich nieder und schaute ihn an. Aber Anthony sagte sich, daß sie nicht wie eine glückliche Braut aussah. Ihr Filzhut war vom Regen ganz durchnäßt, eine feuchte Locke klebte an ihrer Wange, und um ihren Mund lag ein harter Zug.

 

»Ich bin weggegangen, weil ich die Vorbereitungen für die Hochzeit nicht mit ansehen kann. Beinahe wäre ich in Ihr Hotel gekommen, aber ich wußte nicht, wo Sie wohnten. Was sagen Sie dazu, Anthony Newton?«

 

»Es ist kein schlechtes Hotel …«, begann er.

 

»Nun seien Sie doch nicht lächerlich. Was halten Sie eigentlich von meiner Hochzeit?«

 

»Ich darf nicht daran denken«, entgegnete er.

 

Ihre Augen leuchteten auf.

 

»Meinen Sie das im Ernst?«

 

Er nickte.

 

»Mir ist diese Hochzeit verhaßt«, sagte sie leise. »Aber mein Vater wünscht die Verbindung so sehr. Es war eine kurze und ungestüme Werbung, weniger von meinem Bräutigam als von meinem Vater. Philipp ist ja sehr nett und zuvorkommend zu mir, er quält mich nicht mit Liebesbeteuerungen, umarmt mich nicht dauernd und bringt mich auch sonst nicht in Verlegenheit. Aber ich möchte ihn nicht heiraten. Ich fühle mich wie in einer Gefängniszelle. Ich zähle die Minuten, aber sie gehen zu schnell vorüber, Anthony!«

 

Eine Pause trat ein.

 

»Habe ich Sie eben Anthony genannt? Ich wußte selbst nicht, warum ich das tat.«

 

»Wahrscheinlich, weil es mein Name ist. Aber wenn Sie noch einen anderen Grund haben, so sind Sie entschuldigt. Warum heiraten Sie denn eigentlich überhaupt, Vera?«

 

»Vater will es durchaus haben … es ist allerdings wahr; daß heutzutage Töchter nicht mehr heiraten, um ihrem Vater einen Gefallen zu tun – das kommt eigentlich nur noch in Büchern und Romanen vor. Und doch bin ich im Begriff, es zu tun. Ich kann meinen Vater nicht so verletzen und enttäuschen.«

 

»Aber Sie verwunden einen anderen noch viel tiefer«, sagte Anthony ruhig. »Sie tun mir dadurch bitter weh.«

 

Sie sah ihm offen in die Augen.

 

»Meinen Sie das wirklich?«

 

Er nickte.

 

Er wagte es nicht, zu sprechen. Sie wollte etwas sagen, aber plötzlich sprang sie auf.

 

»Ich kann nicht länger bleiben, sonst begehe ich noch eine große Dummheit. Und was noch viel schrecklicher wäre, ich würde auch Sie zu einer Unvorsichtigkeit hinreißen. Ich gehe jetzt als eine moderne Braut nach Hause, werde mir alle Hochzeitsgeschenke ansehen und ihren Wert zusammenrechnen.«

 

Sie gingen schweigend durch den Park, aber Anthony sprach schließlich doch noch auf sie ein; er bat, er schmeichelte, ja er drohte.

 

»Es hat ja keinen Zweck, Anthony«, sagte sie. »Ich liebe Sie doch gar nicht, es wäre lächerlich, wenn ich das behaupten wollte. Aber sicherlich liebe ich auch Philipp nicht. Vielleicht wären Sie das kleinere von beiden Übeln. Es täte mir leid, wenn Sie sich verletzt fühlten.« Sie drückte seinen Arm leidenschaftlich und war verschwunden, bevor er ahnte, daß sie die Absicht gehabt hatte, sich so schnell von ihm zu trennen.

 

Anthony Newton hatte eine schlaflose Nacht. Er war fest entschlossen, weder zur Kirche noch zu ihrem Hause zu gehen, aber plötzlich überkam ihn doch eine Sehnsucht, die stärker war als alle seine Entschlüsse, und er stand um elf Uhr unter einer kleinen Gruppe interessierter Zuschauer, die die Ankunft der Hochzeitsgäste erwarteten. Ein großer Wagen fuhr vor, ein Herr stieg aus und grüßte einen Bekannten. Es war Philipp Lassinger. Anthony hörte einen unwilligen Ausruf an seiner Seite, wandte sich um und sah zu seinem Erstaunen Mrs. Gaddit neben sich stehen, die Frau des Falschspielers.

 

»Hallo, Mr. Newton«, sagte sie. »Was denken Sie von dem Lumpen da? Ich wäre versucht, hinzugehen und ihn anzuzeigen. Sie erkennen natürlich Sadbury nicht wieder?«

 

»Sadbury?« rief Anthony entsetzt. »Das ist doch Lassinger!«

 

Sie nickte.

 

»Das ist doch sein Gewerbe! Es ist einfach schrecklich, daß man ihn nicht verfolgt – er wird sie schon während der Flitterwochen verlassen.«

 

»Aber Sadbury hat schwarze Haare und dunkle Gesichtsfarbe«, erwiderte Anthony heiser.

 

»Ich habe ihm doch die Haare blond gefärbt – die Prozedur hat fünf Tage lang gedauert –, und er hat mir nicht einen Cent dafür gegeben. Und ich habe ihn doch mit dem heruntergekommenen Lassinger, dem Morphinisten, zusammengebracht, dem eigentlichen Lassinger. Sadbury hat erzählt, daß er von Südamerika zurückgekommen sei, aber der wirkliche Lassinger ist seit langen Jahren hier in England gewesen. Hat Jay Ihnen den Mann nicht gezeigt?«

 

Blitzartig erinnerte sich Anthony an den verkommenen Menschen, den er damals in der Begleitung Sadburys gesehen hatte.

 

»Er wird sich aber mit diesem Mädchen in acht nehmen müssen, sonst kann er lebenslänglich Zuchthaus bekommen…«

 

Anthony hörte ihr nicht mehr zu. Er sah, wie der Wagen mit der Braut kam, und im nächsten Augenblick stand er mitten auf der Auffahrt. Mr. Mansar half seiner Tochter beim Aussteigen. Sie sah in ihrem weißen Kleide wunderbar aus. Sie blieb stehen, während sieb die Brautjungfern sammelten. Plötzlich fiel ihr Blick auf Anthony. Auch Mr. Mansar sah ihn jetzt und runzelte die Stirn, als Anthony auf ihn zukam.

 

»Ich muß Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen, Mr. Mansar.«

 

»Aber das ist doch jetzt unmöglich!«

 

»Es handelt sich um Leben und Tod! Der Mann, den Sie für Lassinger halten, ist ein Schwerverbrecher, der eigentlich Sadbury heißt!«

 

»Sie sind verrückt!«

 

»Wollen Sie nicht die Hochzeit verschieben, bis Sie meine Angaben untersucht haben? Ich kann alles beweisen, was ich gesagt habe!«

 

»Auf keinen Fall.« Mr. Mansar wurde rot vor Ärger, »Komm, mein Liebling.«

 

Aber die Braut kam nicht. »Vater, wäre es nicht besser, wenn du dich erst vergewissern würdest?«

 

»Ich werde nichts Derartiges tun«, rief Mr. Mansar aufgeregt. Er wurde noch nervöser, als er sah, daß die Leute auf die Gruppe aufmerksam wurden und das allgemeine Interesse sich ihnen zuwandte. Zweifelnd legte Vera ihren Arm in den ihres Vaters, aber Anthony trat dazwischen.

 

»Vera«, sagte er entschieden, »Sie gehen jetzt nach Hause!«

 

Einen Augenblick zögerte sie, sah von ihrem Vater zu Anthony, der so unerwartet die Feier gestört hatte, wandte sich plötzlich um, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und ging zum Erstaunen der wartenden Diener zu ihrem Wagen zurück.

 

»Nach Hause!« rief sie dem Chauffeur zu.

 

Mr. Mansar war wie vom Blitz getroffen, als der Wagen abfuhr.

 

»Sie Schuft!« zischte er Anthony ins Gesicht. »Ich werde –«

 

»Bringen Sie doch Ihren Schwiegersohn hierher – ich werde dann alles veranlassen, was notwendig ist.«

 

Durch den Wortwechsel wurde der Bräutigam aufmerksam und erschien in dem Augenblick an der Kirchentür.

 

»Was, zum Teufel, soll das bedeuten?« fragte er.

 

»Sadbury, ich verhafte Sie!« sagte Anthony und packte den Mann mit einem berufsmäßigen Griff am Arm.

 

Und nun machte Mr. Sadbury einen Fehler.

 

»Es ist ein Detektiv! Machen Sie hier kein Aufsehen ich will ruhig mit Ihnen gehen.«

 

Zwei Monate später ging Anthony Newton hocherhobenen Hauptes im Branksome-Tower-Hotel in Bornemouth zu den Privaträumen Mr. Gerald Mansars. Der alte Herr selbst war noch nicht von der Stadt zurückgekehrt, und Anthony hoffte, daß er auch noch länger ausbleiben würde.

 

»Ich kann dir jetzt die ganze Geschichte erzählen«, sagte er zu Vera. »Sadbury hat ein volles Geständnis abgelegt. Er hat Lassinger in London getroffen, der ganz heruntergekommen war und den man seit Jahren aus den Augen verloren hatte. Als Sadbury von der Verwandtschaft mit deinem Vater hörte, machte er seinen Plan und trat in der Rolle des erfolgreichen Neffen auf.«

 

»Ja, er kam eines Tages in Vaters Büro, der ihn mit nach Hause brachte. Er wußte also nur daher alles von uns, weil der richtige Lassinger ihm alles gesagt hatte. Ich brauche weiter nichts mehr zu hören, Anthony. Hast du mit meinem Vater gesprochen?«

 

Er nickte.

 

»War er sehr ärgerlich?«

 

»Ein wenig«, erwiderte Anthony Newton vorsichtig.

 

»Er tobte ein wenig und fluchte ein wenig – aber schließlich sagte er ›Ja‹.«

 

Sie atmete tief auf.

 

»Es war sehr tapfer von dir, daß du den Löwen in seiner Höhle aufgesucht und gereizt hast.«

 

Anthony hustete und sagte nichts darauf.

 

Aber später erfuhr Vera von ihrem Vater, daß Anthony telefonisch um ihre Hand angehalten hatte.

 

In diesem einen Fall hatte Anthony der Mut verlassen.

 

 

Ende

 

2. Kapitel

 

2. Kapitel

 

Die Kunst sich einzuführen

 

Mit vornehmer Höflichkeit ausgeführte Räubereien weichen von den altherkömmlichen Gebräuchen so sehr ab, daß man durch die Neuartigkeit fasziniert ist. Gewöhnliche Verbrecher, die keine Phantasie haben, bleiben noch immer bei der alten Methode, durch Anwendung bloßer Gewalt zu ihrem Ziele zu kommen. Aber die Vertreter der feineren und vornehmeren Richtungen entwickeln bei ihren Plänen ebensoviel Geist und Witz wie große Dichter.

 

Es gehörte zu der Ausführung eines fein angelegten Tricks, daß sich Mr. Anthony Newton eines Tages in einer peinlichen Situation befand. Die beiden Hinterräder seines Wagens steckten in einem tiefen Graben, und er hatte sich bei dem Unfall nur mit größter Mühe auf seinem Sitz am Steuer behauptet. Die überhängenden Zweige der Hecke bedrängten ihn so sehr, daß er den Kopf auf eine Seite biegen mußte. Trotzdem bewahrte er seine Haltung, und der Blick, mit dem er die junge Dame anschaute, war milde und wenig vorwurfsvoll.

 

Sie saß starr und aufrecht an dem Steuer ihres schönen luxuriösen Wagens, denn sie war durch das plötzliche Ereignis so erschreckt, daß sie nicht gleich etwas sagen konnte.

 

»Sie sind auf der falschen Seite gefahren«, erwähnte Anthony Newton höflich.

 

»Es tut mir furchtbar leid«, erwiderte sie atemlos. »Aber ich habe doch gehupt. Diese elenden Straßen in Sussex sind so unübersichtlich …«

 

»Bitte sagen Sie nichts mehr darüber«, entgegnete Anthony. Langsam kletterte er aus dem Wagen heraus, stand dann auf der Straße und schaute ernst auf die Trümmer seines Autos.

 

»Ich dachte, Sie hätten mich gesehen, als ich die Höhe herunterkam«, sagte sie entschuldigend. »Ich habe Sie sehen können und habe Ihnen doch mit meiner Hupe ein Zeichen gegeben.«

 

»Ich habe es nicht gehört. Aber das will eigentlich nicht viel sagen. Der Fehler liegt ganz auf meiner Seite. Aber ich fürchte, mein armer Wagen ist vollständig erledigt.«

 

Jetzt stieg sie auch aus und trat an seine Seite. Der Unfall tat ihr wirklich sehr leid, und sie schaute bedrückt auf die vollständig ruinierte Maschine.

 

»Wenn ich nicht die Geistesgegenwart gehabt hätte, sofort in den Graben auszubiegen, wäre es ein böser Zusammenstoß geworden.« Es ist ja schließlich besser, daß mein Wagen dabei kaputtging, als daß Ihnen die leichteste Verletzung zugestoßen wäre.«

 

Sie seufzte.

 

»Gott sei Dank ist es nur ein alter Wagen. Mein Vater wird Ihnen natürlich –«

 

Anthony konnte das nicht unwidersprochen lassen.

 

»Ja, der Wagen sieht jetzt zwar alt aus«, meinte er liebenswürdig, »nachdem er vollständig zusammengefahren ist. In Wirklichkeit war es ein neuer Wagen.«

 

»Aber das ist ganz bestimmt ein alter Wagentyp«, entgegnete sie hartnäckig. »Es ist ein Bennett-Wagen – die neueren Modelle haben eine ganz andere Haube.«

 

»Die Haube meines Wagens mag ja altmodisch sein«, protestierte er. »Ich bin überhaupt ein altmodischer Mann und fahre deshalb ein solches Modell. Als ich den Wagen kaufte, bestand ich darauf, daß er mit der alten Haube geliefert wurde. Sonst ist er aber vollkommen neu. Sehen Sie doch einmal auf die gute Polsterung, die Lackierung …«

 

»Sie haben ihn erst ganz kürzlich streichen lassen«, unterbrach sie ihn. »Die Farbe ist ja noch ganz frisch!« Sie tippte mit dem Finger darauf und zeigte ihm einen kleinen, schwarzen Flecken. »Sehen Sie!« rief sie triumphierend. »Und ich möchte darauf wetten, daß der Wagen mit Binko gestrichen ist. In allen Fachzeitschriften können Sie annonciert finden«: ›Binko-Automobillack trocknet in zwei Stunden‹.« Wieder berührte sie den Wagen mit ihrem Finger und schaute auf einen zweiten Flecken. »Das heißt, Sie haben die Maschine vor vierzehn Tagen streichen lassen, denn es dauert einen Monat, bis die Farbe trocken ist.«

 

Anthony hüllte sich in diskretes Schweigen. Er fühlte instinktiv, daß das ihrer Entdeckung gegenüber die richtige Taktik war. Und um die Wahrheit zu sagen, fiel ihm im Augenblick auch keine passende Antwort ein.

 

»Es war aber sehr ritterlich von Ihnen, daß Sie in den Graben ausbogen«, fügte sie jetzt wärmer hinzu. »Mein Vater wird Ihnen sehr dankbar sein. Glauben Sie nicht, daß Sie die Maschine wieder in Gang bringen können?«

 

Aber Anthony war sicher, daß er dazu nicht mehr Imstande wäre. In Wirklichkeit hatte er den Wagen erst vor einer Woche zum Preise von dreißig Pfund gekauft. Der frühere Eigentümer hatte fünfunddreißig verlangt; daraufhin hatte Anthony ihm dreißig Pfund in die Hand gedrückt und damit war der Kauf perfekt geworden. Mit dieser Praxis hatte Anthony von jeher gute Erfahrungen gemacht.

 

»Soll ich Sie nach Pilbury fahren?« fragte sie.

 

»Habe ich Gelegenheit, von dort aus zu telefonieren?«

 

»Ich werde Sie mit nach Hause nehmen«, sagte Vera Mansar kurz entschlossen. »Unsere Wohnung liegt nicht weit von hier, und Sie können von dort aus telefonieren. Auch hätte ich gerne, daß Sie mit meinem Vater sprechen. Natürlich werden wir nicht zugeben, daß Sie durch Ihre Aufopferung irgendwelchen Schaden haben – trotzdem ich ein Signal gab, als ich um die Ecke bog.«

 

»Das ich aber leider nicht hörte«, erwiderte Anthony ernst.

 

Gleich darauf saß er an ihrer Seite. Geschickt wandte sie den Wagen und fuhr dann ein scharfes Tempo. Plötzlich bog sie von der Fahrstraße ab und fuhr haarscharf an einem der großen Steinpfeiler vorbei, die den Eingang eines Parktores flankierten. Die breite Fahrstraße führte zu einer palastähnlichen Villa, deren Umrißlinien zwischen prachtvollen Ulmen sichtbar wurden.

 

Mr. Gerald Mansar war ein untersetzter Herr mit einem kahlen Kopf. Er war äußerst lebhaft, und man sah ihm an, daß er ein energischer, erfolgreicher Geschäftsmann war. Sein interessantes Gesicht erhielt durch einen weißen Schnurrbart und durch weiße Augenbrauen eine besondere Note. Mit unerschütterlicher Ruhe hörte er die Geschichte an, die ihm seine schöne Tochter von dem Unfall erzählte.

 

»Aber du hast doch ein Warnsignal gegeben?«

 

»Jawohl, Vater, ich bin ganz sicher, daß ich es tat.«

 

»Und außerdem bist du doch sicherlich in einem vernünftigen Tempo gefahren?«

 

Anthony Newton hatte in früheren Jahren einige Erfahrungen über die gesetzlichen Bestimmungen gesammelt, die auf dem Lande Geltung haben. Er erkannte sofort, worauf Mr. Mansar hinauswollte, und hielt den Augenblick für günstig, persönlich in die Unterhaltung einzugreifen.

 

»Sie verstehen, Mr. Mansar, daß ich Ihrer Tochter keine Schuld zuschieben will und sie von jeder Verantwortung freispreche. Ich habe nie bezweifelt, daß sie ein Signal mit ihrer Hupe gegeben hat, obwohl ich es nicht hörte. Ich will ihr auch keinen Vorwurf machen und bin ebenso davon überzeugt, daß sie nicht zu schnell fuhr. Wenn ein Fehler gemacht wurde, so liegt er ganz auf meiner Seite.«

 

Anthony Newton hatte die Charaktere der Menschen, besonders der reichen, studiert, und hatte seine Studien von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrieben. Es war eine der ersten Tatsachen, die er lernte, daß man diese Leute möglichst von jeder gesetzlichen Verantwortung freisprechen mußte, wenn man einen Anspruch an sie stellte. Gerade die Reichen hassen gesetzliche Verpflichtungen. Sie zahlen den Rechtsanwälten große Summen, um zu ihrer eigenen Genugtuung und vor der Welt zu beweisen, daß sie gesetzmäßig zu keiner Zahlung verpflichtet sind. Großmütigkeit ist dagegen die Freude der vornehmen Reichen. Die meisten Millionäre ziehen es vor, freiwillig tausend Pfund zu zahlen als fünf Schilling unter gesetzlichem Zwang.

 

Mr. Mansars Gesichtszüge entspannten sich.

 

»Sicherlich kann ich nicht zugeben, daß Sie geschädigt werden, Mr. …«

 

»Mein Name ist Newton.«

 

»Ach, Newton? Sind Sie Teilhaber der Firma Newton, Boyd & Wilkins, die die großen Gummiplantagen besitzen?«

 

»Nein, mit Gummiplantagen habe ich nichts zu tun.«

 

»Dann sind Sie einer von den Newtons, die die große Porzellanfabrik haben?« fragte Mr. Mansar erwartungsvoll.

 

»Nein, auch zu dieser Firma habe ich keine Beziehung.«

 

Nachdem Mr. Mansar durch eine längere Unterhaltung herausgefunden hatte, daß sein Gast weder zu den Newtons von Warwickshire, noch zu denen von Monmouth gehörte, und ebensowenig mit den Newtons in Irland oder Schottland verwandt war, ließ sein Interesse plötzlich nach.

 

»Nun also, meine Liebe, was wollen wir tun?«

 

Vera lächelte.

 

»Wir müßten doch mindestens Mr. Newton zum Mittagessen einladen?« sagte sie, und ihr Vater, der anscheinend nicht recht wußte, wie er diese Verhandlung zu einem guten Ende bringen sollte, ging sofort darauf ein.

 

»Woher wußten Sie denn eigentlich meinen Namen? Natürlich wird meine Tochter …«

 

Anthony lächelte.

 

»Nein, ich weiß in der Stadt gut Bescheid, und selbstverständlich ist auch Ihr Landsitz hier bekannt.«

 

»Gewiß«, sagte Mr. Gerald Mansar. Dieser Mann, der die Hausse in Petroleumaktien von Nigeria und in den Aktien irischer Leinewebereien inszeniert, der das Milwaukee-Patentleder-Syndikat gegründet und zwei Millionen hineingesteckt hatte, wußte sehr wohl, daß er nicht unbekannt war.

 

»Sind Sie auch in der City tätig, Mr. Newton?«

 

»Jawohl.«

 

Anthony war zwar an der City nur insoweit interessiert, als er ein Büro in der ersten Etage eines Geschäftshauses gemietet hatte. Auch ein schönes Schild war an der Tür angebracht. Es war gerade kein großer Raum – man hätte in seinem Büro keine Katze am Schwanz umherwirbeln können, wie einer seiner Bekannten gesagt hatte. Aber Anthony hielt ja keine Katze, und selbst wenn er eine besessen hätte, wäre er niemals so grausam gewesen.

 

Das Mittagessen verlief in angenehmer Unterhaltung, denn ein unerwarteter Faktor, den Anthony ursprünglich bei seinem Plan nicht eingesetzt hatte, ließ ihm die Sache reizvoll erscheinen. Anthony Newton wußte ganz genau, daß Mr. Mansar selbst jeden Sonntagmorgen in seinem eleganten Wagen nach Pullington fuhr. Er kaufte deshalb ein altes Auto und verbrachte manche Stunde damit, es mit Binko zu streichen und ihm dadurch einen jugendlicheren Glanz zu verleihen. Er hatte nicht voraussehen können, daß sein Abenteuer so liebenswürdig enden würde. Er wußte zwar, daß der Millionär Mr. Mansar eine Tochter hatte, auch hatte ihm irgend jemand gesagt, daß sie schön sei. Aber als er diesen Unglücksfall so listig und schlau bewerkstelligt hatte, konnte er nicht ahnen, daß er der jungen Dame selbst begegnen würde.

 

Anthony Newton war auf seine Art ein ehrlicher Abenteurer. Er war zu dem Schluß gekommen, daß man auf diese Weise Geld verdienen konnte, nachdem er lange Zeit die Zeitungen eifrig studiert hatte. Die Namen vieler solcher Leute, früherer Soldaten und Offiziere, wurden häufig in nicht gerade sehr schmeichelhafter Art in den Polizeiberichten erwähnt. Es waren alles intelligente, rührige Menschen, aber sie wandten ihre Begabung in falscher Weise an. Ihre Art zu handeln war mit seinen Prinzipien über Eigentum nicht vereinbar, obwohl er nicht peinlich an alten Begriffen hing.

 

Einige dieser Abenteurer waren mit einer Maske vor dem Gesicht und einem Revolver in der Hand in einsam gelegenen Postbüros erschienen und hatten unter dem lauten Protest der Beamten den Inhalt der Schalterkassen mitgenommen. Andere waren ähnlich verkleidet in Depositenkassen und Banken aufgetaucht und hatten Geldsummen mitgehen lassen, die ihnen nicht gehörten.

 

Anthony hatte alles dies wohl überdacht und eingesehen, daß man auch durch Anwendung des reinen Verstandes Geld verdienen konnte, ohne das Geringste zu riskieren. Er hatte sich vorgenommen, den einflußreichen Mr. Mansar kennenzulernen, der sich unter gewöhnlichen Umständen überhaupt nicht sprechen ließ. In sein Büro in der Stadt zu gehen und um eine Unterredung mit ihm zu bitten, wäre ebenso nutzlos gewesen, wie einen Beamten am Schalter zu fragen, ob man nicht den Postminister sprechen könnte. Mr. Mansar wurde von vielen Wächtern umgeben, die ihn hermetisch von der Außenwelt abschlossen. Da gab es Sekretäre, Abteilungschefs, Hauptgeschäftsführer und Direktoren, gar nicht zu reden von den Pförtnern, Bürodienern, Boten und anderen Angestellten.

 

Es gibt zwei Wege, mit großen Leuten bekannt zu werden. Man kann sich ihnen nähern, wenn man ihre Liebhabereien entdeckt hat; das ist gewöhnlich ihre schwächste Seite. Oder man tritt ihnen gegenüber, wenn sie auf Erholungsreisen sind. Es ist eine bekannte Tatsache, daß man den Mann, der in der City von London unerreichbar ist, sehr leicht an der Riviera sprechen kann.

 

Aber anscheinend ging Mr. Mansar niemals auf Erholungsreisen, und es schien seine einzige Liebhaberei zu sein, sich mit dem Glanz des Genies zu umgeben.

 

Nachdem das Essen vorüber war, und Anthony also seinen Zweck erreicht hatte, gab es keine Entschuldigung mehr für ihn, noch länger hier zu verweilen. Er wartete allen Ernstes auf die Mitteilung, daß ein Wagen vor der Tür stände, um ihn nach der Station zu bringen, und daß Mr. Mansar sich freuen würde, wenn er nächsten Donnerstag ihn zum Abendessen in seiner Stadtwohnung erwarten könnte. Vielleicht würde er ihn auch zum Mittwoch oder Freitag einladen, möglicherweise würde sich die Sache auch um eine oder zwei Wochen verschieben. Aber merkwürdigerweise ließ diese Einladung auf sich warten, und man behandelte ihn so, als ob er zu dauerndem Besuch hier eingetroffen sei.

 

Mr. Mansar zeigte ihm die Bibliothek und forderte ihn auf, es sich gemütlich zu machen. Er empfahl ihm bestimmte Bücher, die in Mußestunden sein Interesse wachgerufen hatten.

 

Anthony Newton gab eine liebenswürdige Antwort und ließ sich in einem Klubsessel nieder. Aber er las nicht, sondern gab sich schönen Gedanken hin und träumte von großen Plänen, die er mit Hilfe dieses mächtigen Finanzmannes ausführen konnte, vielleicht sogar als sein Partner.

 

In der Bibliothek befand sich ein großes Fenster, von dem aus man eine mit Marmorfliesen belegte Terrasse überschauen konnte, und Anthony sah, daß Mr. und Miss Mansar draußen auf und ab gingen. Sie sprachen leise miteinander, und da er schon alle Scheu abgelegt hatte, schlich er sich nahe an das Fenster heran und lauschte, als sie vorübergingen.

 

»Er sieht entschieden besser als der letzte aus«, sagte Vera.

 

Mr. Mansar nickte.

 

Was soll das heißen? Er sah viel besser aus als der letzte? Anthony zerbrach sich den Kopf.

 

Jetzt kamen sie wieder zurück.

 

»Er hat ein recht kluges Gesicht und schlaue Augen«, hörte er wieder Veras Stimme.

 

Mr. Mansar brummte irgend etwas.

 

Anthony zweifelte nicht einen Augenblick, von wem sie sprachen. Als sie sagte, »er hatte ein kluges Gesicht«, wußte er, daß er gemeint war.

 

Sie kamen nicht wieder. Anthony wartete ungeduldig und ein wenig neugierig. Er hatte gerade den Entschluß gefaßt, sich nun zu verabschieden, als Mr. Mansar in die Bibliothek trat und die Tür sorgfältig schloß.

 

»Ich möchte eingehend mit Ihnen sprechen, Mr. Newton«, sagte er feierlich. »Ich habe mir überlegt, daß Sie meiner Firma von größtem Nutzen sein könnten.«

 

Anthony räusperte sich. Dieser Gedanke war ihm ja vorhin auch gekommen.

 

»Kennen Sie Brüssel?«

 

»Wie meine Tasche«, erwiderte Anthony prompt. Er war zwar niemals dort gewesen, aber er wußte ja, daß er sich aus jedem Fremdenführer die nötigen Kenntnisse aneignen konnte.

 

Mr. Mansar runzelte die Stirn.

 

»Es scheint irgendwie von der Vorsehung so eingerichtet gewesen zu sein, daß Sie kamen. Ich brauche jemand für eine vertrauliche Mission. Gerade diesen Nachmittag wollte ich zur Stadt fahren, um jemand für diesen Auftrag auszusuchen, aber ich sagte Ihnen ja, daß Sie mir wie durch ein Wunder in den Weg gelaufen sind. Ich habe es eben mit meiner Tochter besprochen. Ich hoffe, daß Sie mir diese kleine Unliebenswürdigkeit verzeihen«, sagte er höflich.

 

Anthony hatte ihm längst vergeben.

 

»Meine Tochter, die sich gut auf Charakterbeurteilung versteht, hat den besten Eindruck von Ihnen bekommen.«

 

Anthony war neugierig, welche Mission ihm anvertraut werden sollte, und Mr. Mansar ließ ihn auch nicht lange warten.

 

»Sie müssen heute abend noch mit dem Nachtzug nach Brüssel fahren und bis Mittwoch dort bleiben. Haben Sie genügend Geld zu Ihrer Reise?«

 

»O ja«, sagte Anthony leichthin.

 

»Nun, das ist gut.« Mr. Mansar nickte ernst, als ob er darin nie gezweifelt hätte. »Sie werden einen versiegelten Brief mitnehmen, den Sie am Mittwochmorgen in der Gegenwart meines Brüsseler Agenten, des Monsieur Larnont öffnen. Er ist der Chef der Firma Larnont & Cie., der großen Bankfirma, von der Sie wahrscheinlich schon gehört haben.«

 

»Selbstverständlich.«

 

»Ich wünsche, daß Sie Ihre Mission geheimhalten und niemand etwas davon sagen. Sie werden das verstehen.«

 

Anthony verstand vollkommen.

 

»Glücklicherweise braucht man zwischen England und Belgien keinen Paß. Sie können also ohne Schwierigkeiten und ohne weitere Vorbereitungen abreisen. In einer halben Stunde fährt ein Zug zur Stadt, und hier ist der Brief.«

 

Er nahm ein Schreiben aus seiner Brusttasche, das. an Mr. Anthony Newton adressiert war. Darunter stand der Vermerk: Zu öffnen in Gegenwart von Monsieur Lamont, 119, Rue Patriele, Brüssel.

 

»Ich kann Ihnen allerdings nicht versprechen, daß Sie gut bezahlt werden oder überhaupt eine Belohnung bekommen, wenn Sie diese Mission ausführen. Aber ich nehme an, daß Ihnen diese Erfahrung in mehr als einer Weise nützlich werden wird.«

 

Anthony legte diesem vorsichtigen Versprechen eine ganz besondere Bedeutung bei und lächelte glücklich.

 

»Ich glaube, ich breche am besten sofort auf«, sagte er energisch. »Wenn ich diesen Auftrag ausführen soll, möchte ich keine Zeit verlieren. Es ist nicht das erstemal, daß mir wichtige Missionen anvertraut werden.«

 

»Ich glaube, Sie haben recht, wenn Sie jetzt gehen«, erwiderte Mr. Mansar nüchtern.

 

Anthony hoffte, die junge Dame noch einmal zu sehen, bevor er ging, aber er hatte kein Glück. Nur der Chauffeur war da, der ihn zur Station brachte. Als er an den Trümmern seines Wagens vorbeifuhr, der noch im Chausseegraben stand, bedauerte er nicht, so viel Geld dafür gegeben zu haben. Immerhin konnte man den Wagen noch als Alteisen Verkaufen.

 

Er erreichte Brüssel zeitig und besuchte Monsieur Lamont am Montag in seinem Büro. Er lernte einen kleinen, untersetzten Herrn kennen, der einen wunderbaren Vollbart trug. Er war sehr erstaunt über die Ankunft dieses flotten und geheimnisvollen jungen Engländers.

 

»Ach, das ist sehr interessant. Sie kommen von Mr. Mansar?« fragte er respektvoll, ja mit einer gewissen Verehrung. »Er hat mir nicht mitgeteilt, daß er jemand senden würde. Steht Ihr Kommen vielleicht in Verbindung mit den Rentenzahlungen der Regierung?«

 

»Darüber darf ich Ihnen leider nichts mitteilen«, sagte Anthony diplomatisch. »Ich bin tatsächlich sozusagen mit versiegelter Order hierhergekommen.«

 

Monsieur Lamont nickte verständnisvoll.

 

»Selbstverständlich ehre ich Ihre Diskretion … Kann ich irgend etwas für Sie tun, während Sie in Brüssel sind? Würden Sie mir die Ehre geben, heute abend mit mir in meinem Klub zu speisen?«

 

Anthony war sehr erfreut über diese Einladung, da er gerade nicht sehr viel Geld bei sich hatte.

 

Während des Essens sprach Monsieur Lamont mit der größten Hochachtung von seinem englischen Geschäftsfreund.

 

»Ein wunderbarer Mann«, sagte er mit einer bedeutungsvollen Geste. »Sind Sie sein Freund, Mr. Newton?«

 

»Nicht gerade sein Freund«, erwiderte Anthony vorsichtig. »Wie kann jemand der Freund eines so überragenden Mannes, eines so leuchtenden Vorbilds sein? Man kann ihn nur bewundern.«

 

»Das haben Sie sehr schön und richtig gesagt«, entgegnete Monsieur Lamont nachdenklich. »Er ist ein bedeutender Charakter. Und seine Tochter« – er küßte seine Fingerspitzen – »ich habe nie solchen Charme, solche Intelligenz und solche Schönheit bei einer Dame vereinigt gesehen.«

 

Anthony war ein so unterhaltender und liebenswürdiger Gast, daß Monsieur Lamont ihn am nächsten Tag zum Mittagessen einlud. Diesmal zeigte der Belgier aber größere Neugierde.

 

»Ich wollte Sie nur im Vertrauen fragen, ob Ihr Besuch vielleicht etwas mit der ottomanischen Anleihe zu tun hat?«

 

Anthony lächelte.

 

»Sie werden verstehen, daß ich die größte Verschwiegenheit wahren muß«, sagte er fest.

 

»Natürlich, selbstverständlich, ganz gewiß!« erwiderte Monsieur Lamont schnell. »Ich ehre Ihre Diskretion, aber wenn Ihr Kommen etwas mit der ottomanischen Anleihe oder mit der Wiener Stadtanleihe zu tun haben sollte …«

 

Aber Anthony hob seine Hand und schnitt dadurch höflich die Fortführung dieser Unterhaltung ab.

 

Monsieur Lamont zerfloß vor Entschuldigungen.

 

Anthony war ja selbst zu neugierig, als er am Mittwochmorgen zum Büro des Bankmannes ging. Er war in bester Laune, denn er hoffte auf einen großen, überraschenden Erfolg.

 

Er stand In dem mit Rosenholzpaneel getäfelten Raum, lehnte an dem weißen Marmorkamin und öffnete mit zitternden Fingern das Kuvert in dem Bewußtsein, daß er an einem Wendepunkt seines Lebens angekommen sei. Sein Plan, den großen Finanzmann kennenzulernen, hatte einen Erfolg gehabt, der seine kühnsten Hoffnungen weit überstieg.

 

Zu seinem größten Erstaunen war der Brief von Vera Mansar geschrieben und je weiter er las, desto mehr wuchs seine Verwunderung.

 

Mein lieber Mr. Newton!

 

Mein Vater wollte Sie eigentlich der Polizei übergeben oder Sie in den Teich werfen. Ich habe deshalb diese Art und Weise vorgeschlagen, um Ihnen einen guten Abgang zu verschaffen. Denn meiner Meinung nach sollte ein so talentvoller Mann wie Sie nicht so unrühmlich behandelt werden. Sie sind der Vierunddreißigste, der meinen Vater durch neue und in manchen Fällen sehr unangenehme Methoden persönlich kennenlernen wollte. Ich bin schon von schrecklichen Vagabunden angegriffen worden, die von meinen Rettern ihres schrecklichen Aussehens wegen gemietet wurden. Das ist mir schon sechsmal passiert. Ich wurde in den Fluß gestoßen und wieder herausgezogen. Mein Vater hat drei Leute angeschossen, als er auf der Hasenjagd war, und fünf sind plötzlich vor sein Auto gesprungen, als er zur Station fuhr.

 

Wir möchten Ihre neue Methode anerkennen, die liebenswürdiger ist als die bisherigen. Ich muß auch gestehen, daß ich im ersten Augenblick durch den glänzend inszenierten Autounfall getäuscht wurde. Um aber ganz sicher zu gehen, daß ich Ihnen nicht unrecht tat, habe ich mit der Garage im Ort telefoniert und erfahren, daß Sie schon vierzehn Tage dort auf diese Gelegenheit warteten. Armer Mr. Newton, ich wünsche Ihnen für das nächste Mal mehr Glück.

 

Ihre aufrichtige

Vera Mansar.

 

Anthony las den Brief dreimal und schaute dann mechanisch auf einen eingeschlossenen Zettel.

 

An Monsieur Lamont!

 

Zahlen Sie Mr. Anthony Newton eine Summe, die ihm die Rückfahrt nach London und den Unterhalt während der Reise ermöglicht.

 

Gerald Mansar.

 

Monsieur Lamont beobachtete den erstaunten jungen Mann.

 

»Ist Ihr Auftrag sehr wichtig?« fragte er eifrig. »Sollen Sie mir etwas mitteilen?«

 

Anthony ließ sich auch von den erschütterndsten Ereignissen nicht ganz aus der Fassung bringen. Er faltete den Brief zusammen, steckte ihn in die Tasche und schaute dann wieder auf das beigefügte Blatt.

 

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht den ganzen Inhalt mitteilen kann. Ich muß sofort nach Berlin abreisen, von dort muß ich nach Wien fahren, von Wien nach Konstantinopel. Dann muß ich nach Rom und von dort habe ich sogar den Auftrag, nach Tanger zu gehen. Die Geschäfte dort werden mich einige Zeit aufhalten, so daß ich etwa in einem Monat wieder in Gibraltar eintreffe. Dann werde ich mit dem Schiff nach England zurückkehren.«

 

Er überreichte das Schreiben Monsieur Lamont, der eifrig las.

 

Zahlen Sie Mr. Anthony Newton eine Summe, die ihm die Rückfahrt nach London und den Unterhalt während der Reise ermöglicht.

 

Gerald Mansar.

 

Monsieur Lamont schaute Anthony fragend an.

 

»Wieviel werden Sie benötigen?« fragte er.

 

»Ich glaube, daß ich mit sechshundert Pfund auskommen werde«, erwiderte Anthony höflich.

 

Monsieur Lamont wies das Geld sofort an.

 

Als Mr. Mansar die Belastungsanzeige dafür erhielt, war er nicht mit Unrecht sehr ärgerlich.

 

Er kam erregt nach Hause.

 

»Dieser … dieser …« polterte er, »dieser Schuft!«

 

»Wen meinst du denn, Vater – du kennst doch so viele schlechte Leute?« fragte sie lächelnd.

 

»Natürlich Newton! Du weißt doch, ich gab Lamont den Auftrag, seine Reisekosten nach London zu zahlen.«

 

Sie nickte.

 

»Denke dir, der Mensch hat sechshundert Pfund abgehoben!«

 

Sie machte große Augen, aber sie war doch ein wenig belustigt.

 

»Er hat Lamont erzählt, daß er über Berlin, Wien, Konstantinopel und Rom reisen müßte! Gott sei Dank fährt zur Zeit die transsibirische Eisenbahn nicht!« fügte er grimmig hinzu. Und dieser Gedanke war sein einziger Trost.

 

3. Kapitel

 

3. Kapitel

 

Vergrabene Schätze

 

Anthony Newton öffnete das Fenster seines Wohnzimmers und schaute mit kritischen Blicken über die Kamine und großen Dächer von Bloomsbury.

 

Es war ein sonniger Tag, und selbst die rauchgeschwärzten und hageren Schornsteine haben in dem goldenen Sonnenlicht eines frühen Sommermorgens ihre eigene Poesie, besonders für einen jungen Mann, der von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt ist.

 

Bill Farrel war bei ihm. Er hatte eben eine große Portion Ham and Eggs verzehrt, saß nun mit seiner kurzen Pfeife am Tisch und war mit sich und der ganzen Welt zufrieden.

 

»Betrachte dir das einmal!« sagte Anthony und wies mit einer Handbewegung auf eine Anzahl Bilder, die er aus Zeitschriften ausgeschnitten und an die Wand geheftet hatte.

 

Er ging quer durch den Raum zu der Stelle, wo diese Bildergalerie die sonst einheitliche Einrichtung seines Zimmers unterbrach, und zeigte mit seinem Finger auf die einzelnen Porträts, während er die Namen der Persönlichkeiten nannte und einiges von ihnen erzählte.

 

»Dies ist William O. McNeal –. sein richtiger Name ist Adolf Bernstein – der Fleischkönig. Hier Harry V. Teckle, der Stahlkönig, hier Theodore Match, der Schiffskönig; dann kommt Montague G. Flake, der den Nahrungsmittelmarkt beherrscht – hier dieser mit der merkwürdigen Nase ist Michael O. Blogg, der Marmeladenkönig.« Und so erklärte er ein Bild nach dem anderen. »Mache deine Reverenz vor den Majestäten, Bill, sie werden uns reich machen.«

 

»Wie meinst du denn das?«

 

»Sie sind unsere Zuflucht«, erwiderte Anthony ruhig, »unsere Stützen; gewissermaßen das Geld, das wir von zu Hause bekommen!«

 

»Willst du damit sagen, daß sie deine Verwandten sind?« fragte Bill ehrfurchtsvoll.

 

»Um Gottes willen! Nun setze dich einmal hin. Ich will dir den allgemeinen Schlachtenplan und die große Idee erklären, die der Sache zugrunde liegen.«

 

Eine Stunde lang sprach er auf den anderen ein, und Bill verstand allmählich.

 

»Und nun werden wir in das kleine Büro gehen, das ich in der Theobald’s Road gemietet habe«, sagte Anthony und erhob sich.

 

Auf einem Glasschild stand die Aufschrift:

 

NEWTONS DETEKTIV-AGENTUR

 

Aus einer Schublade seines Schreibtisches nahm Anthony einen großen Karton, auf dem eine ähnliche Aufschrift stand.

 

»Draußen an der Tür findest du zwei Nägel. Es ist nun deine Pflicht, jeden Morgen das Schild draußen anzuhängen und es abends wieder hereinzuholen, vorausgesetzt, daß die Jungen von Bloomsbury es nicht inzwischen weggenommen haben.«

 

*

 

Als Bill zurückkam, las sein Freund gerade einen Zeitungsausschnitt.

 

»Also, nun höre einmal zu. Dies ist der Bericht einer Auktion bei Floretti: ›Ein kleiner Kasten mit verschiedenen Manuskripten wurde von Mr. Montague Flake für einhundertzwanzig Pfund erworben. Der Kasten ist aus geschnitztem, spanischem Mahagoniholz‹ usw. usw. – ich will dich nicht länger mit den Einzelheiten aufhalten. Die Hauptsache ist, daß Mr. Flake ein großer Sammler von alten Manuskripten und nebenbei bemerkt ein gemeiner Kerl ist.«

 

Aus einem anderen Notizbuch nahm er noch einen kleinen Ausschnitt.

 

»Nun will ich dir auch noch dieses vorlesen: Kleines Haus mit anderthalb Morgen Garten zu verkaufen. Eignet sich zu einer hübschen Wochenendwohnung. Preis zweihundertfünfzig Pfund für schnell entschlossenen Käufer.«

 

Er holte einen Fahrplan aus seiner Schublade und blätterte darin.

 

»Hier habe ich es. Der nächste Zug fährt um zwölf Uhr.«

 

»Soll ich das Grundstück kaufen?« fragte Bill erstaunt.

 

Anthony nickte.

 

»Ja, das ist deine Aufgabe. Und es wird dich interessieren, daß ich schon dort war und es mir angesehen habe. Die Grundrisse habe ich bereits in meinem Schlafzimmer. Aber schließe den Kauf nicht eher ab, als bis du ein Telegramm, von mir bekommst. Du darfst dich aber nicht mit mir privatim in Verbindung setzen, nur durch dieses Büro. Und unter keinen Umständen darfst du die Tatsache bekannt werden lassen, daß du mich kennst oder irgend etwas mit mir zu tun hast.«

 

Eine Stunde später fuhr Bill ab, und Anthony kehrte in seine kleine Wohnung zurück, zog seinen Rock aus und setzte sich an die Arbeit. In einem Kasten in seinem Schlafzimmer verwahrte er ein halbes Dutzend uralte Pergamentblätter, und er verbrachte den Rest des Morgens und den größeren Teil des Nachmittags damit, diese Blätter mit seiner zierlichen, feinen Handschrift zu füllen.

 

*

 

Mr. Montague Flake war eine der führenden und hochangesehenen Persönlichkeiten in der Londoner Geschäftswelt. Er kontrollierte alle Buttermärkte von London, Kopenhagen und Rotterdam, vor dem Kriege auch von Tomsk. Hieraus kann man ersehen, daß er damals schon große Bedeutung besaß und in der Lage war, durch Aufkäufe die Butterpreise in die Höhe zu treiben.

 

Offiziell kontrollierte Mr. Flake allerdings den Markt nicht. Und offiziell war auch nichts davon bekannt, daß er die Margarinepreise steigerte. In seinen Geschäften – es gab sechshunderteinunddreißig Filialen der Firma Flake in ganz England und Schottland – war eine Bekanntmachung angeschlagen, die die Verbraucher benachrichtigte, daß die Direktion ihr Bestes tue, um genügend Butter und Margarine zu beschaffen, daß es aber infolge der schlechten Heuernte in Dänemark und des geringen Rübenertrages in Irland sehr schwer sei, die genügenden Mengen beizubringen. Hierdurch stünden weitere Frachtaufschläge bevor (in Wirklichkeit verteilten sich diese und machten auf das Pfund höchstens ein Zehntel Penny aus), und die Gesellschaft wäre ganz gegen ihren Willen gezwungen, den Butterpreis um zweieinhalb und den der Margarine um zwei Pennies zu erhöhen.

 

Die Käufer ließen sich denn auch durch diese Bekanntmachung beeinflussen und zahlten die höheren Preise. So flössen viele Millionen Pennies in die Taschen Mr. Flakes.

 

Er besaß ein großes Haus am St. John’s Square, eine Musterfarm in Norfolk, ein Landgut in Kent, eine Jagd in Yorkshire und eine Lachsfischerei in einem Fluß in Schottland. Er verstand weder etwas von Landwirtschaft noch vom Jagen oder Fischen, aber das waren nun einmal die Dinge, die reiche Leute besaßen, und infolgedessen hatte er sie auch.

 

Man erzählte sich, daß er am glücklichsten sei, wenn er an einer einsamen Stelle auf seinem Landgut am Ufer des Sees sitze, seine nackten Füße ins Wasser hängen lasse, eine Tonpfeife rauche, und dabei die Gerichtsverhandlungen über die Ehescheidungsprozesse verfolge.

 

Er hatte harte Gesichtszüge, war Witwer und lebte allein in seinem Hause: mit Ausnahme einer Haushälterin, drei Sekretärinnen, vier Chauffeuren, zwölf Dienern und einer ganzen Armee von Köchinnen und Dienstmädchen.

 

Mr. Flake saß in seiner prächtigen Bibliothek an einem Tisch, der größer war als die Schlafzimmer, in denen die Mehrzahl seiner Kunden nachts ruhten. Er kaute an dem Federhalter, denn er war dabei, ein Schriftstück aufzusetzen. Er hatte erst zwanzig Zeilen geschrieben, als ihm ein Besuch gemeldet wurde. Er nahm die Karte, die ihm auf einem silbernen Tablett gereicht wurde, und las den Namen, ohne großes Interesse zu zeigen:

 

NEWTONS PRIVATDETEKTIVBÜRO

Captain Anthony Newton,

Inhaber des Militärkreuzes und

Ritter des Militärverdienstordens,

früher beim Blitheshire-Schützenregiment.

 

Er sah zu seiner Sekretärin auf, die dem Diener ins Zimmer gefolgt war.

 

»Was will er denn von mir? Sagen Sie ihm doch, daß er sein Anliegen schriftlich vorbringen soll.«

 

»Er besteht darauf, Sie persönlich zu sprechen. Ich sagte ihm schon, daß Sie beschäftigt seien.«

 

»Also lassen Sie ihn herein«, rief Mr. Flake ärgerlich.

 

Anthony trat mit ernster, geschäftsmäßiger Miene ins Zimmer. Er war tadellos gekleidet.

 

»Nehmen Sie bitte Platz, Captain Newton«, sagte Mr. Flake und deutete mit seiner wohlgepflegten Hand auf einen Stuhl. »Was kann ich für Sie tun?«

 

Mr. Newton zog seine Handschuhe langsam aus, legte sie neben seinen Hut, dann nahm er ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin.

 

»Vor einigen Tagen kauften Sie doch eine Anzahl verschiedener Manuskripte in Florettis Auktionshaus?«

 

Mr. Flake nickte.

 

»Sie befanden sich früher im Besitz des verstorbenen Lord Witherall, der Handschriften sammelte, und sie umfaßten eine Anzahl mehr oder weniger wichtiger Urkunden …«

 

»Mehr oder weniger wertloser Dokumente«, unterbrach ihn Mr. Flake etwas schroff. »Ich habe mehr wegen des Kastens als wegen der Manuskripte geboten. Ich hatte noch keine Zeit, sie durchzusehen.« Anthonys Augen glänzten, als er das hörte. »Und ich glaube auch nicht, daß die Schriftstücke irgendwelchen Wert haben.«

 

»Ich bin gerade wegen dieser Schriftstücke zu Ihnen gekommen«, sagte Anthony. »Ein Kunde hat mir den Auftrag erteilt, Sie aufzusuchen. Ein Vertrauensmann von Lord Witherall übergab ihm verschiedene Dokumente, deren Bedeutung ich Ihnen nicht verraten darf. Die Verwandten des Mannes – er selbst ist nämlich vor einigen Jahren gestorben – haben mir gesagt, daß diese Dokumente in dem Kasten aufgehoben wurden, den Sie gekauft haben. Der Mann hieß Samuels. Aber das war nicht der Name, unter dem er von Lord Witherall angestellt war. Sollte dieses Schriftstück in Ihrem Besitz sein, so ist mein Kunde bereit, Ihnen zweihundert Pfund für die Rückgabe zu zahlen. Das Schriftstück ist in Form eines Briefes abgefaßt, der an Samuels gerichtet ist.«

 

Mr. Flake war unter allen Umständen ein guter Geschäftsmann, und als solcher wußte er instinktiv, daß ein erstes Angebot von zweihundert Pfund der beste Beweis dafür war, daß die Sache größeren Wert hätte. Und als guter Geschäftsmann wollte er natürlich auch seinen Vorteil wahrnehmen.

 

Mr. Flake klingelte.

 

»Bringen Sie den Kasten, den ich neulich auf der Auktion bei Floretti kaufte«, sagte er zu der eintretenden Sekretärin.

 

»Ich kann Ihnen aber nicht versprechen, daß ich irgendein Schriftstück herausgebe, das in dem Kasten liegt. Geschäft ist eben Geschäft, und was verkauft ist, ist verkauft, Mr. Newton. Und Sie wissen ja, daß ich ein Geschäftsmann bin.«.

 

Anthony nickte. »Ich kann Ihnen nur sagen«, erwiderte er höflich, »daß die Verwandten von Samuels arme Leute sind, und soviel ich verstehe, ist dieses Schriftstück für sie von größtem Wert.«

 

»Ebenso für mich«, sagte Mr. Flake selbstzufrieden. »Ich bin auch arm. Wir sind alle arm – das Wort hat nur relative Bedeutung.«

 

»Ich glaube doch nicht, daß Sie Ihre Lage, mit der der armen Leute vergleichen können«, entgegnete Anthony reserviert. »Und ich bin sicher, daß Sie sich nicht auf Kosten dieser Leute bereichern wollen …«

 

»Reden Sie doch nicht solchen Unsinn«, rief Montague Flake unwirsch. »Ich bin durchaus nicht sentimental. Ich habe mich aus eigener Kraft in die Höhe gearbeitet und habe mein Geld verdient, ohne mich viel um andere Leute zu kümmern. Geschäft ist Geschäft. Wenn ich hundertzwanzig Pfund für einen Sack zahle, so gehört mir auch die Katze, die ich darin finde. Das ist nun einmal so. Aber verstehen Sie wohl: Ich sage nicht, daß ich nicht verkaufen will«, fügte er hinzu, als seine Sekretärin den Kasten vor ihn auf den Tisch stellte. »Auch habe ich noch nicht gesagt, daß ich verkaufen will.«

 

Er schnitt die versiegelten Schnüre durch, die um den Kasten gelegt waren, und öffnete den Deckel. Der Kasten war bis zum Rande mit gelblichen Manuskripten gefüllt. Einzelne waren mit verblaßten, roten Bändern zu Bündeln gebunden, andere waren in Pergament eingeschlagen, es lagen aber auch viele lose Blätter darin.

 

Mr. Flake zögerte, nahm die erste Lage heraus und legte sie auf den Tisch.

 

»Sie sagten doch, es sei ein Brief?«

 

Anthony nickte.

 

»Das ist anscheinend das Manuskript eines alten Theaterstückes«, meinte Mr. Flake, »und dieses …« er hob einen anderen schweren Pack auf, »… scheint das Originalmanuskript einer Geschichte zu sein. Aber hier sind Briefe.« Er nahm einen auf, um die Unterschrift zu lesen, und legte ihn dann wieder auf die Tischplatte.

 

Anthony sah die wartende Sekretärin an und schaute dann auf Mr. Flake.

 

»Würden Sie wohl erlauben, daß Ihre Sekretärin einmal die Telefonnummer von Sir John Howard und Sons nachsieht?«

 

Er nannte eine der größten Londoner Rechtsanwaltsfirmen, vor der selbst Mr. Flake Respekt hatte.

 

»Kommen Sie im Auftrage von Mr. Howard?« fragte er schnell. Anthony lächelte.

 

»Im Augenblick kann ich darüber noch keine Auskunft geben.« Er wartete, bis sich die Tür hinter dem Mädchen geschlossen hatte und rückte dann näher an Mr. Flake heran. »Ich kann Ihnen etwas im Vertrauen mitteilen. Ich handle im Auftrag von …«

 

Er flüsterte Mr. Flake einen Namen ins Ohr und mußte, um ihn zu erreichen, an die Ecke des Tisches kommen und verdeckte dadurch einen Augenblick den Kasten, so daß Mr. Flake ihn dabei nicht sehen konnte. Und wenn jemand etwas ins Ohr geflüstert wird, kann er schwerlich das Knittern von Pergament hören.

 

Anthony hatte schnell nach dem offenen Kasten hinübergereicht und seine Hand schon wieder zurückgezogen, bevor Mr. Flake sich von seinem Erstaunen erholen konnte.

 

»Dal?« fragte Mr. Flake. »Wer, zum Teufel, ist denn Dal?«

 

»Das werde ich Ihnen bei einem späteren Stand der Dinge mitteilen«, entgegnete der tüchtige junge Mann. »Ich dachte, Sie wüßten es.«

 

Mr. Flake schaute ihn scharf an, aber Anthony Newton hielt seinen Blick aus, ohne mit der Wimper zu zucken.

 

»Immerhin«, sagte der Finanzmann, als er die Dokumente wieder in den Kasten legte, »kann ich sie jetzt nicht alle durchsehen. Ich gebe Ihnen in einigen Tagen Antwort.«

 

»Aber die Sache eilt«, erwiderte Anthony ernst. »Und wenn es nur am Gelde liegt, so kommt es schließlich auf ein paar hundert Pfund nicht an. Es ist nur notwendig, daß wir das Schriftstück sofort zurückerhalten.«

 

»Und es ist absolut notwendig«, erwiderte Mr. Flake gutgelaunt, »daß ich erst meinen Tee trinke und die nötige Zeit habe, den Inhalt des Kastens zu prüfen. Ich werde Ihnen morgen meinen Bescheid zukommen lassen.«

 

Hiermit mußte sich Anthony zufriedengeben. Er verließ das Haus und erkundigte sich merkwürdigerweise nicht mehr nach der Telefonnummer, die er vorher verlangt hatte. Schnell ging er zum nächsten Postbüro und schickte ein Telegramm an Smith, Bull-Hotel, Little Wenson, Kent. Die Botschaft war nur kurz und lautete:

 

»Kauf abschließen!«

 

Vier Tage später hielt ein schönes Auto vor dem kleinen Hause, das eine Meile vor dem Dorf Little Wenson lag, und Mr. Flake stieg aus.

 

Das Häuschen enthielt nur eine armselige Wohnung. Der Garten war ganz vernachlässigt, und an den Fenstern hingen nicht einmal Gardinen. Aber Mr. Flake interessierte sich weniger für das Haus selbst als für das Land und den Küchengarten, der ebenfalls vollständig verwahrlost war. Er konnte alles sehen, was er wollte, denn das Gebäude stand an einer Straßenecke, und die westliche Grenze des Gartens wurde durch die Hecke gebildet, an der die eine Straße entlanglief. Es standen zwei Apfelbäume dort, dahinter lag die eingefallene Mauer eines kleinen Brunnens.

 

Mr. Flake ging langsam zu der Front des Hauses zurück, öffnete das Gartentor und ging den Weg entlang. Dann klopfte er an die Haustür. Ein Mann in Hemdsärmeln, ein großer, ernst dreinschauender Mensch, trat heraus, der auf Mr. Flakes liebenswürdigen Gutenmorgengruß nur mit einem unverbindlichen Kopfnicken antwortete.

 

»Ist das Ihr Haus?« fragte Mr. Flake höflich.

 

»Jawohl«, erwiderte Bill Farrel, der der Bewohner der Hütte war.

 

»Eine wunderschöne Lage hier«, meinte Mr. Flake.

 

»Ja, sie ist nicht schlecht.«

 

»Wohnen Sie schon lange hier?«

 

»Erst eine Woche. Ich bin vor kurzem aus der Armee ausgetreten und wollte hier eine Hühnerfarm einrichten.«

 

»Ach, sehen Sie, in der Armee haben Sie früher gedient?« fragte Mr. Flake wohlwollend. »Aber das scheint mir doch eigentlich nicht die rechte Stelle zu sein, um Hühner großzuziehen? Wer hat denn das Haus vor Ihnen besessen?«

 

»Ich weiß den Namen nicht mehr. Aber es ist über hundert Jahre in dem Besitz einer Familie gewesen.«

 

»Hm; können Sie sich gar nicht auf den Namen besinnen?« fragte Mr. Flake obenhin.

 

»Ich glaube, sie hießen Samson«, antwortete der Mann und gab sich scheinbar Mühe, darüber nachzudenken.

 

»Nicht Samuels?« fragte Mr. Flake eifrig:

 

»Ja, das ist der Name – Samuels. Aber von denen habe ich es nicht gekauft. Die haben es vor langen Jahren gehabt.«

 

»Wenn es nicht aufdringlich ist, möchte ich Sie bitten, mir zu sagen, wieviel Sie für das Haus gezahlt haben?«

 

»Alles Geld, das ich besaß«, erwiderte Bill Farrel ausweichend. »Und wie hier das Gerede geht …«

 

»Ja, ja, ich weiß, was man sich hier erzählt. Aber nun sagen Sie mir, um welchen Preis würden Sie das Grundstück verkaufen?«

 

»Ich habe nicht die Absicht, es zu veräußern.«

 

»Aber sicherlich würden Sie es doch abgeben, wenn Sie dabei hundert Pfund verdienen?«

 

»Auch nicht, wenn ich tausend oder zehntausend dabei verdiene«, sagte der andere entschlossen. »Es gibt hier ein merkwürdiges Gerede wegen dieses Hauses. Neulich war ein Rechtsanwalt mit einem Privatdetektiv hier.«

 

»So, so. Nun wollen wir doch einmal in aller Ruhe miteinander sprechen. Ich bin Geschäftsmann, und ich will Ihnen tausend Pfund für das Grundstück geben.«

 

»Und wenn Sie mir zwanzigtausend Pfund anböten, würde ich sie auch nicht nehmen«, war die entschiedene Antwort. »Ich bin zufrieden damit, und Sokrates sagte schon: Zufriedenheit ist der natürliche Reichtum, Luxus aber künstliche Armut.«

 

»Das ist jetzt ganz gleich, was Sokrates sagte«, rief Mr. Flake ungeduldig. »Also ich biete Ihnen …«

 

» ›Wenn nur die Menschen wüßten, welches Glück in der Hütte eines gottseligen Mannes wohnt‹, sagte Jeremias Taylor« fuhr Mr. Farrel hartnäckig fort.

 

»Nun hören Sie mich doch einmal an! Wollen Sie mir dieses Grundstück zu einem annehmbaren Preis verkaufen? Ich habe nun einmal eine Vorliebe dafür und will Ihnen gerne eine vernünftige Summe zahlen.«

 

»Kommen Sie bitte herein«, sagte der Bewohner des Hauses und öffnete die Tür.

 

Eine Stunde später schüttelte Mr. Farrel den Staub von Little Wenson von seinen Füßen. Er wurde von Mr. Flake nach London begleitet. Sie gingen zusammen zu einer Bank, denn Mr. Farrel mißtraute allen Schecks, und wollte seinen Namen erst unter die Verkaufsurkunde setzen, wenn er ein großes Paket weißer Banknoten erhalten hätte.

 

Es war schon lange her, daß Mr. Flake einen ganzen Tag lang hart gegraben hatte. Aber er fühlte sich schon im voraus belohnt, als er am nächsten Morgen um sechs Uhr mit seinen Ausgrabungen begann. Eine Linie, die in rechtem Winkel von der Mitte der Verbindungslinie der beiden Apfelbäume gezogen wurde, ging rechts am Brunnen vorbei. Das stimmte genau mit den Angaben des Schriftstückes überein, das sich in seinem Besitz befand. Die drei Blätter auf Pergament, die mit einer zierlichen Handschrift bedeckt waren, erklärten genau, wie ein Mr. William Samuels im Jahre 1826 Brillanten im Wert von hundertzwanzigtausend Pfund aus den einbruchsicheren Räumen der Cheals-Bank gestohlen hatte. Er war dort als Wächter angestellt, und die wertvollen Steine waren das Eigentum eines französischen Emigranten, des Marquis du Thierry. Es wurde berichtet, wie er seinen Schatz im Garten seines Bruders Henry Frederick Samuels in der Nähe von Little Wenson vergraben hatte. Mr. Flake zog die Schriftstücke immer wieder zu Rate. Alle Linien, die er zog, trafen genau die in den Blättern angegebenen Punkte. Neun Fuß und drei Zoll von der Mitte der Verbindungslinie der beiden Apfelbäume stieß der Schatzgräber auf eine Stelle, die erst kürzlich umgegraben schien. Nachdem er vier Fuß tief gegraben hatte, begann Mr. Flakes Herz wild zu schlagen, als sein Spaten ›die viereckige Steinplatte‹ traf, ›mit der ich die Grube zudeckte, in der ich den besagten Kasten verbarg‹.

 

Atemlos arbeitete Mr. Flake weiter. Nach vieler Mühe und Anstrengung förderte er auch den Kasten zutage. Er schwitzte entsetzlich, denn er hatte drei Stunden angestrengt graben müssen. Die Kiste sah merkwürdig neu aus, und ein gewöhnlicher Mensch hätte sie wahrscheinlich mit einem der Behälter verwechselt, in denen die Bauern ihre Eier mit der Bahn verschickten. Der Kasten war schwer, aber Mr. Flake fühlte das nicht, als er ihn hastig in die einsame Hütte trug und dort sofort öffnete.

 

Er war so schwer, weil er halb mit Sand gefüllt war. Unaufhörlich wühlte der Mann mit seinen Fingern darin herum. Plötzlich faßte er ein hartes Stück Papier, zog es heraus und hielt es ans Licht, da er etwas kurzsichtig war.

 

Es stand nur eine Zeile darauf, und zwar in derselben engen Handschrift, wie er sie auf den Dokumenten in seinem Manuskriptkasten gefunden hatte. Hätte er die Dokumente geprüft, bevor Mr. Newton ihm den geheimnisvollen Namen ins Ohr flüsterte, so hätte er sich viel Arbeit und eine für ihn allerdings kleine Geldsumme erspart.

 

Er las:

 

»D. A. L. heißt: Die armen Leute, für deren Interessen ich eingetreten bin.«

 

Am nächsten Morgen wartete Mr. Flake schon vor dem Büro Mr. Newtons.

 

»Sie und Ihr Spießgeselle haben mich um achttausend Pfund beschwindelt. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als mir das Geld zurückzugehen, oder ich werde Sie bei der Staatsanwaltschaft anzeigen.«

 

»Ich danke Ihnen sehr für diese liebenswürdige Mitteilung«, entgegnete Anthony. »Ich ziehe es vor, mich bei der Staatsanwaltschaft anzeigen zu lassen.«

 

»Sie sind ein ganz gemeiner Schwindler!« fuhr Mr. Flake auf.

 

»Es gibt zwei Auswege aus diesem Raum«, sagte Anthony lächelnd. »Der eine führt durch das Fenster, der andere durch die Tür. Sie haben Ihr Geld gezahlt, also steht Ihnen die Wahl frei.«

 

»Ich werde sofort zur Polizei gehen«, rief Mr. Flake wütend und nahm seinen Hut. Er war so aufgeregt, daß ihn beinahe der Schlag getroffen hätte.

 

»Nun hören Sie einmal zu«, sagte Anthony freundlich. »Sie glaubten, Sie würden sich eine Menge Geld auf Kosten einer armen Familie aneignen können. Ihr ganzes Leben lang haben Sie sich nur auf Kosten des Volkes bereichert, Sie haben von jedem Butterbrot hier im Lande Ihren übermäßigen Profit gehabt. Damit Sie reich wurden, Ihre Jagd und Ihre Landgüter halten konnten, mußten soundso viele Leute hungern. Das Gesetz kann Sie nicht belangen, denn Sie gehören zu den Dieben, deren Taten leider durch das Gesetz gedeckt werden. Ich habe Sie durch eine vollständig rechtmäßige Handlung um achttausend Pfund erleichtert, und ich sage Ihnen nur das eine« – er drohte ihm mit dem Finger – »daß die achttausend Pfund noch zu achtzigtausend anwachsen, bevor ich mit Ihnen fertig bin.«

 

»Sie niederträchtiger Dieb!« schrie Mr. Flake rot vor Zorn.

 

»Bill«, rief Anthony laut. Der große Mann erschien in der Türöffnung. »Wirf diesen Lumpen hinaus!«

 

Bill, der frühere Hüttenbewohner, öffnete die Tür und zeigte mit dem Daumen nach draußen.

 

4. Kapitel

 

4. Kapitel

 

Ein Beitrag für wohltätige Zwecke

 

Anthony Newton war nicht für jede Art von Wohltätigkeit zu haben. Er hielt es mehr mit den einfachen Almosen, die man den Armen an der Haustür gab, denn er hatte ein tiefes Mißtrauen gegen die Ehrlichkeit der großen Wohltätigkeitsorganisationen. Er hatte auch durchaus kein Interesse für die Handelsmarine, noch hatte er die leiseste Absicht, Heime für alte Seeleute zu gründen, bis er mit Mr. Match zusammenkam.

 

Anthony erzählte später immer, daß die Sache, die er mit diesem Reeder durchführte, sein größter Erfolg war. Er erschien ihm deswegen größer als alle anderen, weil er keinen persönlichen Vorteil aus diesem Unternehmen zog.

 

Man muß nicht glauben, daß Scotland Yard die Existenz und die Manöver eines gewissenlosen Briganten duldete, aber auch Scotland Yard ist machtlos, wenn nicht jemand Klage führt, so daß man einen Grund zum Einschreiten hat. Mr. Newton verdankte seine Sicherheit und Straflosigkeit teils der Zurückhaltung der Leute, die er geschädigt hatte, teils der Scheu seiner Opfer vor der Öffentlichkeit, denn die Berichte und Verhandlungen über ihr eigenes Betragen vor dem Strafgericht in Old Bailey hätten ihren Ruf zweifellos schwer geschädigt.

 

Anthony und seine Helfer hatten schon einen größeren Ruf erlangt, als er selbst ahnte. Er entdeckte dies eines Tages, als er bei Erledigung eines »Falles« nach Newcastle reiste.

 

Er saß mit Bill Farrel schon eine Stunde in der Dämmerung und rauchte schweigend seine Pfeife. Der Abendhimmel war noch vom Glanz der untergehenden Sonne erleuchtete und durch das offene Fenster drangen die lauten Stimmen der Kinder herein, die unten auf der Straße spielten; denn in London ist die Straße das große Colosseum, in dem sich die Kinder tummeln, sie ist die Arena, die große Schule, in der die Jugend auf den bitteren Kampf ums Dasein vorbereitet wird.

 

»Wer ist Theodore Match?« fragte Anthony unerwartet, und Bill wandte sich um.

 

Anthony sprach in dem höflichen Ton eines Schulmeisters, der auf liebenswürdige Art eine Antwort von einem nervösen Schüler bekommen will.

 

»Der Schiffskönig.«

 

»Und was ist ein Schiffskönig?«

 

»Ein Schiffskönig?« sagte Bill zögernd, »nun das ist jemand, dem Schiffe gehören.«

 

Anthony lächelte trübe.

 

»Ein Schiffskönig ist ein Mann, der überall Schwierigkeiten sieht. Wenn man seine Berichte liest oder hört, so ist er immer im Begriff, nächstes Jahr den Bankerott zu erklären. Wenn der Handel gut geht, läuft er Gefahr, weil es zuwenig Schiffsraum gibt. Und wenn viele Schiffe zu haben sind, dann droht ihm der Ruin, weil das Frachtgeschäft darniederliegt. Manchmal sieht er auch seinen Untergang vor Augen, weil die Charter zu gering ist, manchmal, weil der Kohlenpreis zu hoch ist. Er hat immer Schaden, wenn nicht auf diese, so auf eine andere Weise, durch die Extra- und die Einkommensteuer und die Steuern für außerordentliche Gewinne – und dabei weiß er nicht, was er mit seinem Geld anfangen soll.«

 

»Großer Gott«, sagte Bill erstaunt.

 

»Der Schiffskönig ist eigentlich der Mann, der am wenigsten für sein Vaterland tut. Während des Krieges habe ich Schiffskönige getroffen, die über den Mut und die Geschicklichkeit ihrer Seeleute mit Tränen in den Augen sprachen. Sie liebten diese Männer mit den rauhen Händen, die sich trotz der schrecklichen U-Boot-Gefahr auf die See hinauswagten. Alles, was sie für diese tüchtigen Menschen tun konnten, taten sie, nur ihre Gehälter erhöhten sie nicht und gaben ihnen auch keine besseren Schlafplätze. Ich habe Schiffsreeder gekannt, die den Witwen der einfachen Seeleute, die durch feindliches Geschützfeuer getötet wurden, nur zwanzig Pfund zahlten.«

 

»Das scheint mir allerdings sehr wenig zu sein«, meinte Bill.

 

»Sehr wenig! Gott im Himmel, hast du eine Ahnung, Bill! Weißt du denn, was man für zwanzig Pfund kaufen kann? Dafür kann man sechs große Flaschen Champagner haben, fünfzig Zigarren Colorado Claros – oder zwanzig Körbe Pfirsiche! Und diese Leute erklären großherzig, daß sie auf all diese Genüsse verzichten wollen, damit eine einfache Frau, die nicht einmal Champagner von Apfelwein unterscheiden kann und die noch nie einen Pfirsich gegessen hat, ihr ganzes Leben in Luxus zubringen kann!«

 

»Doch nicht etwa für zwanzig Pfund?« fragte Bill ungläubig. »Du hältst mich zum besten!«

 

»Vielleicht habe ich auch nur einen Scherz gemacht aber Theodore Match, der niemals einen Pfennig für Wohltätigkeitszwecke gegeben hat, wird jetzt dem Urenkel eines braven Mannes, der bei Trafalgar mitgekämpft hat, die nötigen Mittel zur Verfügung stellen, um in die Höhe zu kommen. Mit dem Urenkel meine ich mich selbst – mein Urgroßvater war nämlich ein Seemann, und wir haben sein hölzernes Bein viele Jahrzehnte in der Familie als Andenken bewahrt.«

 

Bill klopfte die Asche aus seiner Pfeife.

 

»Match ist gerade kein schlechter Mensch«, entgegnete er. »Er hat eine neue Bibliothek gestiftet …«

 

»Du brauchst Mr. Match nicht in den Himmel zu erheben. In der nächsten Liste der Standeserhebungen werden wir auch den Namen Sir Theodore Match finden. Aber er weiß noch nicht, wie großzügig, seine Wohltaten sein werden. Sage einmal, ist dein Tabak nicht teurer geworden? Ist das Fleisch nicht in die Höhe gegangen? Kostet das Brot nicht mehr? Sind nicht alle Preise der Waren gestiegen, die von Übersee kommen? Wer hat deiner Meinung nach wohl die Extragelder eingesteckt? Die Pflanzer und Farmer haben ja auch eine Kleinigkeit davon erhalten, die haben aber auch dafür gearbeitet, und ihnen will ich keinen Vorwurf machen, im Gegenteil, ich wünsche ihnen weiteres Glück. Aber Theodore Match hat weit mehr davon gehabt, als auf seinen Anteil fällt. Er hat von allem profitiert, er hat auf alles eine Taxe gelegt – auf alles, was wir essen und trinken oder sonstwie verbrauchen. Er hat einfach seine Frachtsätze erhöht. Kohle ist teurer, Arbeit ist teurer – kurzum alles ist teurer. Aber er ist der teuerste von allen. Bei ihm ist nichts billig, es sei denn das Leben der Leute, die auf seinen Schiffen arbeiten und die er in seinem Geschäft angestellt hat. – Und nun möchte ich dir nur noch sagen, daß ich diesen Mann mit achttausend Pfund auf die Zeichnungsliste für ›Anthony Newtons Altersheim für Seeleute‹ eingetragen habe – und du kannst gewiß sein, daß ich die Summe auch von ihm bekomme.«

 

Bill Farrel nickte langsam und sah seinen Kameraden bewundernd an.

 

»Ich wette, daß du dein Ziel erreichst«, erwiderte er begeistert.

 

Die Theodore Steamship Line ist eine der bedeutendsten Frachtlinien Englands, wie jedermann weiß. Sie verfügt über eine Flotte von fünfundzwanzig großen Schiffen, die nach Südamerika und nach China fahren, hauptsächlich aber zwischen England und Nordamerika verkehren. Vor dem Kriege machte sie sogar ein großes Geschäft zwischen Hamburg und Ostafrika.

 

Die Hauptbüros dieser Firma waren in Newcastle, und Anthony Newton reiste mit seinem tüchtigen Adjutanten dorthin, um seinen Plan auszuführen. Sie kamen spät am Abend an und mieteten sich im Bahnhofshotel ein.

 

Am nächsten Morgen machte er sich auf seinen ersten Erkundungsgang. Die Büros der Theodore Steamship Line befanden sich in einem Häuserblock, der nicht weit vom Hotel entfernt lag. Aus der Geschäftigkeit der Angestellten und der Anzahl der Kunden, die in den verschiedenen Büros warteten, schloß Anthony, daß das Geschäft sehr gut ging.

 

Er trat in das Empfangsbüro, gab seine Karte ab und wurde sofort in das Privatbüro von Mr. Theodore Match geführt. Der Raum war groß und licht und halb mit Eichenpaneel bedeckt. An den Wänden hingen die Fotografien vieler Schiffe. Mr. Match selbst war ein Mann mittleren Alters, war liebenswürdig und hatte heitere Augen, denen man ansah, daß sie von Sorgen und Kummer dieser Welt nichts wußten.

 

Er schaute seinen Besucher durch seine goldeingefaßte Brille strahlend an.

 

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr. Newton«, sagte er zum größten Erstaunen Anthonys. »Nehmen Sie Platz und machen Sie es sich bequem. Wollen Sie eine Zigarre haben?« Er reichte ihm einen silbernen Kasten, und Anthony bediente sich. »Nun?« fragte Mr. Match lächelnd. »Wollen Sie etwa zehntausend Pfund für einen vergrabenen Schatz haben oder wünschen Sie eine Partnerschaft, die eine Million Pfund wert ist?«

 

Für den Bruchteil einer Sekunde war Anthony sprachlos.

 

»Ich glaube, daß ich die Teilhaberschaft wählen würde, obwohl ich keine so große Summe brauche.«

 

Mr. Match lehnte sich in seinen Stuhl zurück, schüttelte sich vor Lachen und rieb sich die Hände.

 

»Ich bin in alles eingeweiht, Mr. Newton. Ich kann Ihnen ja auch sagen, daß ich schon vor Ihnen gewarnt worden bin. Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen. Sie haben ein kleines Büro in der Theobald’s Road, ich kenne sogar Ihre Porträtgalerie – ich habe nämlich neulich einen Detektiv dort hingeschickt, der sich einmal dort umsehen sollte. Ebenso habe ich von Ihrem Abenteuer mit Mr. Montague Flake erfahren, der ein guter Kunde von mir ist. Zufällig ist mir auch Mr. Gerald Mansar bekannt. Ich weiß, wie Sie Flake um achttausend Pfund erleichterten und ihm dafür einen alten Kasten aufhängten. Ich habe mich noch nie so königlich amüsiert wie bei dieser Geschichte. Sie glauben, daß Sie die Mission haben, reichen Leuten ihr unverdientes, überflüssiges Geld wegzunehmen. Habe ich recht, Mr. Newton?«

 

Anthony war nun ganz bei der Sache. Er hatte sofort die Situation überschaut und überlegte blitzschnell.

 

»Sie haben vollkommen recht.«

 

Anthony hatte bisher nicht den Wunsch gehabt, irgend jemand außer sich selbst zu helfen, aber in diesem Augenblick faßte er den Entschluß, auch für andere zu sorgen.

 

»Sie haben also ein Dutzend abscheulicher, reicher Leute vorgemerkt, die zu Ihrem Nutzen Gelder hergeben sollen.«

 

»Vollständig richtig.«

 

»Wenn ich Sie also recht verstehe, halten Sie mich für einen Gewinnler und sind mit einem großartig ausgeklügelten Plan nach Newcastle gekommen, damit ich Ihnen wieviel – zahlen soll?«

 

»Ich habe früheren Soldaten geholfen«, erklärte Anthony. »Ich will jetzt auch einige Heime für alte Seeleute von der Handelsmarine errichten.«

 

»Sie sind ein großer Menschenfreund – ich bewundere Sie.« Mr. Theodore Match sah ihn wohlwollend an und strich nachdenklich seinen Bart. »Ja, Sie sind ein Menschenfreund«, sagte er dann noch einmal. »Und wieviel soll ich denn Ihrer Meinung nach zu Ihrem interessanten Projekt beitragen?«

 

»Ich habe Sie mit achttausend Pfund auf meine Liste gesetzt«, erwiderte Anthony ruhig.

 

»Warum schreiben Sie denn nicht gleich lieber acht Millionen Pfund? Ich werde Ihnen weder das eine noch das andere geben. Aber Sie haben sich wahrscheinlich einen gewissen Kriegsplan ausgedacht, um zu diesem Gelde zu kommen. Nun, wir wollen die Sache in aller Ruhe besprechen, Mr. Newton«, sagte er liebenswürdig. »Was haben Sie mit mir vor? Wollen Sie mir auch vergrabene Schätze verkaufen? Wollen Sie mich nicht lieber gleich über den Trick aufklären, den Sie anwenden wollen, um mir mein sauer verdientes Geld zu nehmen?«

 

Anthony lachte.

 

»Da Sie mir gegenüber ganz offen sind, will ich es auch sein. Ich habe mir wirklich noch nicht überlegt, wie ich es anfangen soll.«

 

»Nun, so sagen Sie es doch!«

 

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein junger Mann trat herein. Er war groß und kräftig gebaut, hatte eine gesunde Gesichtsfarbe und runde Backen.

 

»Dies ist mein. Sohn – hier stelle ich dir Mr. Newton vor, von dem ich dir schon vor einiger Zeit erzählte, Tom«, sagte Theodore Match. »Es wird Sie vielleicht interessieren, daß mein Sohn fünfunddreißig Jahre alt, Junggeselle und vollkommen gesund ist. Aber während des Krieges war er in meinem Geschäft unentbehrlich, so daß man ihn vom Dienst befreite. Stimmt doch, Tom?«

 

Der junge Mann grinste.

 

»Das sind ja gerade Dinge, die ich gern höre«, meinte Anthony.

 

»Nach Ihrer Meinung«, führ Mr. Match fort, »hätte er in den unheimlichen, feuchten Schützengräben Flanderns liegen müssen, statt in einem warmen, hübschen Zimmer in Newcastle zu sitzen. Also, nun wollen wir zur Sache kommen. Mr. Newton. Ich glaube, daß ich nun alles getan habe, um Sie in Ihrem Eifer gegen mich aufzustacheln.«

 

»Sagen Sie mir, bevor wir weitersprechen, ob Sie willens sind, etwas zu meinem wohltätigen Plan beizutragen?«

 

»Nicht das geringste«, erwiderte Mr. Match lächelnd. »Warum sollte ich das tun? Sitze ich hier in meinem Büro, um für meine Angestellten oder für mich zu schaffen? Arbeite ich denn den ganzen Tag und den größten Teil der Nacht und sitze über Plänen, um eine höhere Schiffstaxe herauszuschlagen, nur um den Unterhalt von soundso vielen wohltätigen Anstalten zu bestreiten? Nein, Mr. Newton!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wie es meinen Angestellten geht, interessiert mich durchaus nicht, und was sie mit ihrem Geld machen, interessiert mich ebensowenig. Und was ich mit meinem eigenen Geld anfange, geht Sie und andere nichts an.«

 

»Brauchst du mich noch?« fragte der junge Mann.

 

»Nein, Tom. Ich wollte nur, daß du Mr. Newton kennenlernst.«

 

Mit einem kurzen Kopfnicken verließ Tom den Raum.

 

»Ich verdiene eben mehr Geld als der tüchtige Seemann, weil ich klüger bin als er. Das ist der Triumph des Verstandes über die brutale Kraft. Zeigen Sie mir jemand, der klüger ist als ich, der mag mir ruhig mein Geld nehmen. Ich will nichts dazu sagen, wenn er ungestraft damit entkommt. Wenn Sie« – er zeigte mit einem Bleistift auf Anthony und sprach langsam und nachdrücklich – »durch irgendeinen Trick oder eine List mit Ausnahme gemeinen Betrugs, Einbruchs oder Diebstahls achttausend Pfund von mir herausbekomrnen, oder sagen wir zehntausend Pfund, so tun Sie es bitte. Ich sage Ihnen ganz offen, Mr. Newton, daß ich für das Wohlergehen von Seeleuten nicht das geringste Interesse habe. Ich bilde mir auch nicht ein, daß Sie sich dafür begeistern. Dieses Heim für Seeleute der Handelsmarine war eine momentane Erfindung von Ihnen. Sie kamen hierher, um einen rein persönlichen Schwindel auszuführen, aber darauf wollen wir jetzt nicht näher eingehen. Wenn Sie irgendeinen Weg finden, mich zu übertrumpfen, wenn Sie mich fangen und in einem unbewachten Augenblick durch irgendeine List dazu bringen können, Ihnen die Summe zu zahlen, die Sie eben nannten, dann verspreche ich Ihnen, daß ich Sie nicht zur Anzeige bringen werde, selbst wenn Sie dabei Mittel angewandt haben, die nach dem Gesetz strafbar sind.«

 

Er stand auf und streckte lächelnd seine große Hand aus. Anthony ergriff sie. Es war etwas an diesem Menschen, das. ihn anzog. Wenn er schon brutal war, so war er es doch in offener und ehrlicher Weise.

 

»Gut, ich nehme Ihre Herausforderung an. In einer Woche werden Sie achttausend Pfund für einen wohltätigen Zweck gezahlt haben – ganz gegen Ihren Willen.«

 

»Das wird Ihnen nicht gelingen«, sagte Mr. Match entschieden. »Ich habe den höchstgestellten Persönlichkeiten des Landes auf ihre dringenden Anforderungen hin nichts gegeben. Sehen Sie einmal her.« Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, zog eine Schublade auf und nahm mehrere Drucksachen heraus, die mit einer Klammer zusammengeheftet waren. »Das kam zufällig gerade heute morgen an – ›Sammlung des Thronfolgers für die Angehörigen der Handelsmarine‹. Das ist ein besserer Mann als Sie. Man hat eine Million von mir haben wollen«, sagte er lachend. »Ich habe es nicht abgelehnt, nein, ich gehe nur mit Stillschweigen darüber hinweg. Wenn ich strikt ablehne, komme ich in schlechten Ruf. Sie verstehen, daß wir vertraulich als Ehrenmänner miteinander sprechen! Wenn der Prinz nach Newcastle kommen sollte, muß ich ihm aus dem Wege gehen. Sollte er mir einen persönlichen Brief schreiben, so müßte ich krank werden, damit ich ihm nicht antworten könnte. Ich habe in meinem Leben noch keinen Schilling für wohltätige Zwecke gegeben, und ich habe auch nicht die Absicht, es jemals zu tun. Wenn ich sterbe, werde ich in meinem Testament kein Geld für Hospitäler oder Kirchen hinterlassen; weder wirkliche noch angebliche Arme werden etwas von mir bekommen.«

 

Mr. Match war ein kluger, tüchtiger Mann mit einer schnellen Auffassungsgabe, wie man sie gewöhnlich bei Geldleuten und Buchmachern findet. Er brauchte nicht besonders auf der Hut zu sein und keine besonderen Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen. Er hatte sich ein Urteil über Anthony gebildet und wußte, daß er in ihm einen Feind hatte, der ihm ebenbürtig gegenüberstand. Aber er fühlte sich ihm in jeder Weise gewachsen und glaubte, allen Plänen dieses begabten und skrupellosen Mannes begegnen zu können. Wenn er die Schriftstücke, die ihm jetzt zur Unterschrift vorgelegt wurden, etwas genauer prüfte, wenn er den Umgang seines Sohnes mehr überwachte, wenn er etwas argwöhnischer alle die geschäftlichen Vorschläge betrachtete, die ihm vorgetragen und unterbreitet wurden, so war das eigentlich keine besondere Mehrbelastung für ihn, denn er war von Natur aus vorsichtig und stets auf seiner Hut.

 

In den ersten drei Tagen sah er nichts von Anthony. Ein Privatdetektiv, den er engagiert hatte, berichtete ihm, daß Mr. Newton die meiste Zeit in seinen Privaträumen im Hotel mit seinem Freunde zubrachte, und daß die beiden gelegentlich von Newcastle wegfuhren.

 

Zufällig traf er Anthony am vierten Tage auf der Straße. Er kam von der anderen Seite herüber, um ihn zu begrüßen.

 

»Nun?« fragte Mr. Match selbstbewußt und schaute ihn vergnügt an. »Wie kommen Sie denn vorwärts?«

 

»O danke schön, es geht sehr gut. Ihr Geld ist so gut wie in meiner Tasche.«

 

Mr. Match lachte.

 

»Haben Sie denn schon einen Plan ausgearbeitet?«

 

Anthony schüttelte den Kopf.

 

»Nein, noch nicht, aber nach und nach bringe ich die Einzelheiten schon zusammen. Watt erfand die Dampfmaschine dadurch, daß er einen Dampfkessel sah. Ich beobachtete den Einfluß eines zu großen Selbstvertrauens auf die Sicherheit der reichen Leute.«

 

»Beobachten Sie ruhig weiter«, meinte Mr. Match und gab ihm die Hand. »Sie werden noch müde und kranke Augen davon bekommen.«

 

Er wollte sich gerade umdrehen, aber Anthony legte ihm die Hand auf den Arm.

 

»Warten Sie noch einen Augenblick – ich möchte Ihnen noch etwas sagen. Es gibt viele Wege, das Geld von Ihnen zu erhalten, aber sie sind alle unehrlich. Ich könnte leicht Ihren Namen fälschen – als Verbrecher würde ich große Erfolge haben – ich könnte Ihr prachtvoll ausgestattetes Haus in Morpeth berauben – ich habe mir das Grundstück eingehend angesehen, man kann bequem durch das Fenster über dem Haupteingang eindringen …«

 

»Versuchen Sie es nur!«

 

»Oh, ich weiß alles über die elektrischen Alarmglocken. Aber ich kann sie mit Hilfe eines Bohrers und eines Drahtes lahmlegen. Ich könnte in Ihrer Maske auftreten und Sie imitieren, so daß Ihr, eigener Sohn getäuscht würde, aber alles das will ich nicht tun. Darin liegt keine große Kunst. Ich will das Geld nicht auf solche Art an mich bringen. Ich gebe zu, daß Sie sehr klug sind und daß es schwer ist, mit Ihnen fertig zu werden. Sie sind zu groß, ich kann nichts wirklich Gemeines an Ihnen entdecken.«

 

»Sie Schmeichler«, lächelte Mr. Match.

 

»Ich meine es tatsächlich so. Ich würde auch niemals den Versuch machen, Ihnen irgendwie einen vergrabenen Schatz zu verkaufen oder Sie damit zu bluffen, daß ich etwas aus Ihrem früheren Leben wüßte. Sie sind ein ehrlicher Schuft, der sein Geld von den notwendigen Bedürfnissen des Volkes zusammenscharrt. Vollständig offen und überlegt haben Sie Ihren Sohn vom Militärdienst befreit. Sie haben keine falschen Entschuldigungen angegeben und, soweit ich sehen kann, haben Sie nur eine schwache Stelle.«

 

Mr. Match sah ihn erstaunt an.

 

»Sagen Sie mir die nur, damit ich auf der Hut sein kann.«

 

»Sie vertrauen sich selbst zuviel – das ist Ihre Achillesferse.«

 

»Beweisen Sie es doch!«

 

»Das wird mir schon noch gelingen!«

 

Sie standen dicht vor Anthonys Hotel, und es war ein Uhr.

 

»Darf ich Sie zum Mittagessen einladen? Ich verspreche Ihnen, daß ich Sie weder betäuben noch hypnotisieren, noch sonst irgend etwas mit Ihnen anstellen will.«

 

»Schön«, erwiderte Mr. Match herzlich. »Wir wollen unsere kleine Angelegenheit weiter besprechen. Sie machen mir Spaß.«

 

Aber erst nach Tisch kam Mr. Match wieder auf die Sache zurück. Während des Essens unterhielt Anthony seinen Gast in der glänzendsten Weise, und Mr. Match mußte zugeben, daß er selten so angenehme Gesellschaft gehabt hatte.

 

»Sie sprachen vorhin von meinem Selbstvertrauen, und daß ich dadurch zu Fall kommen könnte. Das interessiert mich sehr. Wollen Sie nicht so liebenswürdig sein, mir etwas Näheres darüber mitzuteilen?«

 

Mr. Newton zuckte die Schultern.

 

»Ich wollte damit nur ausdrücken, daß Sie alle Vorgänge des geschäftlichen Lebens beherrschen und sich zutrauen, darin niemals einen Fehler zu machen. Sie glauben zum Beispiel, jeder Lage gewachsen zu sein, die sich auf die Übereignung von Geld bezieht. Wenn ich Sie im Augenblick um einen Scheck über achttausend Pfund bitten würde, und Sie würden mir den Scheck geben, so wären Sie doch vollkommen davon überzeugt, daß Sie unter allen Umständen verhindern könnten, daß dieses Geld einem wohltätigen Zweck zugeführt wird.«

 

Der Reeder dachte einen Augenblick nach.

 

»Ja, das kann ich wohl behaupten. Es mag sein, daß mein Selbstvertrauen zu groß ist, aber ich glaube es nicht. Ich könnte Ihnen den Scheck geben, ja, ich will Ihnen sogar den Scheck jetzt überreichen – einen über achttausend Pfund.«

 

»Sie glauben, daß Sie die Auszahlung verhindern können. Wahrscheinlich werden Sie darauf vermerken ›Zu sperren‹.«

 

Mr. Match nickte.

 

»Und außerdem werden Sie ihn erst mit dem morgigen Datum versehen.«

 

Mr. Match nickte wieder.

 

»Sie haben ein so großes Vertrauen darauf, daß Sie alle Vorschriften und Praktiken der Banken beherrschen, daß Sie sicher sind, keinen Pfennig zu verlieren.«

 

»Ganz richtig. Sie werden auf diese Weise nicht zu Ihrem Ziele kommen, mein Freund.«

 

»Nun, es soll gleich sein, ob ich meinen Zweck erreiche oder nicht«, sagte Anthony und bot dem anderen sein Zigarettenetui an. »Ich möchte Sie bitten, mir den Scheck zu geben, und ich verspreche Ihnen, daß ich Sie nie wieder belästigen werde, wenn ich die Summe nicht dem wohltätigen Zweck zuführe, für den ich sie bestimmt habe.«

 

Einen Augenblick sah ihn der Reeder an und nahm dann mit einer schnellen Handbewegung, die charakteristisch für ihn war, sein Scheckbuch heraus. Im nächsten Moment hatte er seinen Füllfederhalter in der Hand und schrieb. Anthony schaute über den Tisch und las, daß der Scheck für den nächsten Tag ausgestellt wurde. Unter den Betrag schrieb Mr. Match die Worte: ›Dieser Scheck ist gesperrt und kann nur ausgezahlt werden, nachdem der Aussteller persönlich seine Ermächtigung dazu gegeben hat.‹

 

Er zeichnete ihn mit einem selbstgefälligen Lächeln und reichte ihn dann Anthony, der erleichtert aufatmete.

 

»Ich danke Ihnen vielmals. Ich sehe, daß Sie ihn auf den Überbringer ausgeschrieben haben.«

 

»Der Überbringer wird manche Schwierigkeiten haben, das Geld zu bekommen«, meinte Mr. Match.

 

Der Reeder fuhr sofort zu seinem Büro zurück und rief seine Bank an.

 

»Sind Sie am Telefon, Gilbert? Hier ist Theodore Match. Ich habe soeben einen Scheck über achttausend Pfund ausgestellt, dem Überbringer zu zahlen – haben Sie mich verstanden? Notieren Sie bitte die Nummer des Schecks – es ist A. B. 714312 –, haben Sie es? Ich sperre die Auszahlung dieses Schecks; unter keinen Umständen darf die Summe abgehoben oder irgendwie zu meinen Lasten gebucht werden. Ich werde Ihnen dieses Telefongespräch noch schriftlich bestätigen.«

 

Theodore Match hatte ein großes Vergnügen daran, sich intellektuell zu betätigen. Er empfand volle Genugtuung darin, seine eigene Klugheit mit der Intelligenz von Leuten zu messen, die ihm in dieser Beziehung ebenbürtig oder beinahe ebenbürtig waren. Und er beurteilte seine Erfolge weniger nach dem Geld, das er dadurch verdiente, als nach der Befriedigung, die er darüber fühlte, seine Gegner mit geistigen Waffen geschlagen zu haben. Anthony mochte ihn mehr oder weniger durchschaut haben, bevor er nach Newcastle kam, aber jetzt hatte er ihn vollkommen erkannt.

 

Match interessierte sich nicht für die Geldsumme, um die es ging. Er liebte das Spiel um des Spieles willen, und es bereitete ihm Vergnügen, daß er jetzt gewappnet die Angriffe seines Gegners erwarten konnte.

 

Sein Detektiv brachte ihm am Nachmittag zwei Neuigkeiten: Bill Farrel war mit dem ersten Zug nach London abgereist, und Anthony hatte für zwei Tage das Schaufenster eines kleinen Konfektionsladens in der Hauptstraße gemietet. Die Auslagen waren bereits aus dem Schaufenster entfernt, um einer interessanten Ausstellung Platz zu machen. Aber weiter ereignete sich an diesem Nachmittag nichts. Anthony hatte zwar das Schaufenster gemietet, aber er stellte nichts darin aus. Erst am folgenden Nachmittag unternahm er etwas, und zwar gleichzeitig mit der Ausgabe der Tageszeitung.

 

Um halb drei erhielt Mr. Match ein Telegramm aus London.

 

»Herzlichste Glückwünsche und Dank für Ihre Hilfe.«

 

Es war mit Farrel unterschrieben.

 

»Wer, zum Teufel ist Farrel?« Match runzelte die Stirn. Er war in Gedanken versunken, als sein Sohn Tom ins Büro trat.

 

»Aber Vater«, sagte er atemlos. »Du hast mir ja gar nichts davon verraten, daß du so etwas machen wolltest!«

 

»Was meinst du denn?« fragte Mr. Match.

 

»Daß du der Sammlung des Thronfolgers ein Legat zuwenden wolltest. Du sagtest doch, du würdest keinen Pfennig dafür geben!«

 

Mr. Match sprang auf.

 

»Wie hoch soll sich denn meine Schenkung belaufen?«

 

»Achttausend Pfund – es steht in den Zeitungen. Dieser Newton hat ein Schaufenster in der High Street gemietet, das ganz mit Aufforderungen gefüllt ist, die für die Sammlung des Thronfolgers werben. Und eine fotografische Vergrößerung deines Schecks ist in der Mitte ausgestellt.«

 

Mr. Match sank wieder in seinen Stuhl.

 

»Großer Gott! Was sagen denn die Zeitungen?«

 

Tom nahm das Blatt und las ihm vor.

 

»Wie wir hören, ist der Sammlung des Thronfolgers für die Handelsmarine eine Schenkung von achttausend Pfund zugegangen. Unser Mitbürger, Mr. Theodore Match, hat diese große Summe gestiftet. Ein Scheck über diesen Betrag wurde für diesen Zweck von ihm gezeichnet.«

 

»Um Himmels willen«, rief Mr. Match. »Mit dieser List hat er mich also gefangen! Er konnte das Geld nicht für sich selbst bekommen und hat es deshalb diesem wohltätigen Zweck zugeführt.«

 

»Hast du ihm denn einen Scheck gegeben?«

 

Mr. Match nickte.

 

»Aber ich habe ihn gesperrt. Der Kerl ist doch wirklich zu schlau.«

 

»Aber du wirst doch unter keinen Umständen den Scheck auszahlen lassen!« sagte Tom aufgeregt.

 

»Aber nun sei doch vernünftig«, entgegnete Mr. Match ruhig. »Es sind zwei ganz verschiedene Dinge, ob ich einen Scheck sperre, der für irgendeinen von Newtons niederträchtigen Plänen bestimmt ist, oder ob ich einen Scheck für einen großen nationalen Fonds sperre. Er hat mich eben einfach übertrumpft. Kannst du denn nicht begreifen, was daraus entsteht, wenn ich meine Schenkung widerrufe? Ich würde in allen Zeitungen von einem Ende des Landes bis zum anderen an den Pranger gestellt werden!«

 

Seufzend nahm er den Telefonhörer ab und nannte eine Nummer.

 

»Sind Sie dort, Gilbert? Ich habe doch gestern mit Ihnen über einen Scheck gesprochen – ja, den über achttausend Pfund. Die Sache ist nun in Ordnung, zahlen Sie ihn ruhig aus.«

 

Er klingelte und diktierte seiner Sekretärin die schriftliche Bestätigung.

 

Am Abend ging er schweigsam und nachdenklich nach Hause und beantwortete die Gratulationsbriefe einiger bevorzugter Freunde, die es wagen konnten, ihm in dieser Angelegenheit zu schreiben.

 

Als er am nächsten Morgen in sein Büro kam, wartete Mr. Gilbert schon auf ihn.

 

»Ihr Scheck wurde sehr schnell abgehoben«, sagte der Bankmann.

 

Mr. Match sah ihn erstaunt an.

 

»Kurz nachdem ich Ihre telefonische Zustimmung bekam, wurde er von der Newcastler Zweigstelle der London and Midland-Bank kassiert. Und heute morgen lese ich einen Widerruf Ihrer Schenkung in den Zeitungen.«

 

Mr. Match nahm das Blatt, ohne ein Wort zu sagen.

 

Wir müssen einen Irrtum berichtigen. Wir meldeten gestern, daß die wohltätige Schenkung von Mr. Match der Sammlung des Thronfolgers für die Handelsmarine zufließen sollte. Unser Versehen ist erklärlich, weil eine Abbildung des Schecks in einem Schaufenster in der High Street ausgestellt war, umgeben von einer Anzahl von Aufrufen für die Sammlung des Thronfolgers, Die Summe ist in Wirklichkeit für Mr. Anthony Newtons Altersheim für Seeleute bestimmt.

 

Mr. Match ließ die Zeitung sinken.

 

»Ich habe ihm den Scheck gegeben, ich habe den Scheck gesperrt«, sagt er laut zu sich selbst, »dann habe ich die Zahlung selbst angeordnet – genau wie er es vorausgesehen hat. Das war wirklich ein schlaues Stück. Er hat den Scheck genommen und ihn bei der Midlandbank eingezahlt. Er muß zu dem Zweck ein besonderes Konto dort errichtet haben. Dann hat er auf die listigste Weise die Geschichte in die Welt gesetzt, daß meine Schenkung für den Kronprinzenfonds bestimmt sei. Er wußte ganz genau, daß ich danach sofort die Sperre über den Scheck aufheben würde – der Mann ist tüchtig. Ja, ich habe mir wirklich selbst zu viel vertraut.«

 

Er nahm den Telefonhörer auf.

 

»Verbinden Sie mich mit dem Bahnhofshotel. Ist Mr. Anthony Newton noch dort?« fragte er nach einer Pause.

 

»Bitte, verbinden Sie mich mit seinem Zimmer. Sind Sie dort, Newton?«

 

»Jawohl«, antwortete ihm Anthony mit Genugtuung.

 

»Wenn Ihnen Ihr jetziges Leben über ist, dann möchte ich Ihnen eine Teilhaberschaft in meiner Firma anbieten.«

 

»Nicht um alles in der Welt! Auf diese Weise werden Sie Ihr Geld nie zurückbekommen!«

 

Lachend hängte Mr. Match den Hörer wieder ein.

 

5. Kapitel

 

5. Kapitel

 

Die Dame in Grau

 

Während der aufgeregten Kriegstage hatte Anthony Newton Sybil Martin kennengelernt. Er nannte sie immer »die Dame in Grau« und fürchtete sich eigentlich ein wenig vor ihr, obwohl sie weder hochfahrend war noch Furcht einflößte; im Gegenteil, sie war eine reizvolle, anziehende Erscheinung.

 

Sie war die Tochter eines verarmten Adeligen mit allen Eigenschaften einer großen Dame.

 

Jim Martin war der Oberst Anthonys, ein schneidiger Offizier aus guter Familie. Anthony war immer etwas verlegen, wenn er Leuten von Martins Rang gegenübertrat, denn er wußte niemals, ob sie arm oder reich waren. Allem Anschein nach schienen sie dazu geboren, in großen schönen Häusern zu wohnen und das Vorrecht zu besitzen, sich auf großen Landgütern aufzuhalten. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie mit wertvollen Flinten unter dem Arm auf die Jagd gingen, um unter besonderen Kosten gezogene Rebhühner und Fasanen zu schießen. Sie verkehrten mit den anderen großen Familien des Landes und genossen überall das Recht, zu jagen und zu fischen. Untereinander nannten sie sich nur mit Vornamen und bildeten eine Gesellschaft für sich. Anthony sprach und dachte von ihnen nur als von der eigentlichen Gesellschaft. Und Jim Martin gehörte zu ihr. Er brach bei der Erstürmung der Höhen von Vimy zusammen, und Anthony trug ihn zu dem Verbandsplatz zurück.

 

»Tun Sie für meine Frau, was Sie können.« Mit diesen Worten starb er.

 

Bei der ersten Gelegenheit suchte Anthony sie in ihrem kleinen Haus in der Curzon Street auf. Sie war ihm gegenüber kühl und zurückhaltend, so daß er aus der Fassung gebracht wurde. Er war sonst nicht verlegen, aber als er kaum zehn Minuten mit ihr gesprochen hatte, wußte er schließlich nicht, was er noch sagen sollte. Er hatte sich erkundigt, ob er irgend etwas für sie tun könnte, und sie hatte alles liebenswürdig, aber bestimmt abgelehnt. Sie dankte ihm für seinen Besuch, lud ihn zum Essen ein und unterhielt sich mit ihm über Luftangriffe und über ein neues Kriegsbuch, das augenblicklich in aller Mund war.

 

Anthony war froh, als er sich wieder von ihr verabschieden konnte.

 

Seit jener Zeit hatte er sie dreimal gesehen. Einmal in den schlimmsten Tagen, als er kein Geld hatte. Er war durch den Hyde Park gegangen, und sie führ in einem wunderschönen Wagen an ihm vorüber. Er nahm seinen Hut vor ihr ab, aber sie schaute an ihm vorbei. Sie hatte ihn wohl nicht erkannt. Sie trug wie gewöhnlich ein Kleid von jenem hellen Silbergrau, das ihr so gut stand.

 

Das zweitemal traf er sie, nachdem er das Abenteuer mit den Kautionsschwindlern hinter sich hatte. Sie stand in der Eingangshalle eines Theaters und wartete auf jemand. Diesmal erwiderte sie freundlich seinen Gruß, als er sich verneigte, und ging auf ihn zu.

 

»Ich habe die dunkle Erinnerung, daß ich Sie vor einigen Monaten im Hyde Park traf, Mr. Newton. Ich war damals so in Gedanken versunken, daß ich Sie leider erst bemerkte, als Sie schon an mir vorübergegangen waren. Würden Sie mich nicht wieder einmal besuchen?«

 

»Es wird mir ein Vergnügen sein«, entgegnete Anthony aufrichtig. Er war über ihre finanziellen Verhältnisse nun beruhigt. Aber er hatte sich schon manchmal überlegt, was sie wohl tun würde, wenn sie nicht über so viel Geld verfügte.

 

Er bereitete gerade damals wieder einen Schlag vor und war sehr unangenehm berührt, ja beinahe konsterniert, als er sein Opfer auf die Dame zueilen sah, die er gerade verlassen hatte.

 

»Donnerwetter«, sagte Anthony zu sich selbst.

 

Dieser dicke, kleine Herr mit dem kahlen Kopf, der sich jetzt an die königliche Erscheinung in Grau heranmachte, war seit einiger Zeit Gegenstand von Anthonys Nachforschungen. Er hatte ihn von vielen Seiten aus studiert.

 

Mr. Jepburns Name endete vor seiner Auswanderung aus Polen auf irgendein »ski« oder »witsch«, aber auf dem Kai in Dover hatte er auf einer Kiste den Namen Jepburn gelesen, und als er als Passagier dritter Klasse Ende der neunziger Jahre landete, betrat er unter diesem Namen seine neue Heimat, mit zwanzig Rubel in der Tasche und einer großen Abneigung gegen sein altes Vaterland im Herzen.

 

Damals konnte man seinen Namen leichter ändern als seinen Anzug wechseln. Im Laufe der Zeit wurde Mr. Jepburn wohlhabend, ja sogar reich, und hatte viele interessante Methoden, Geld zu verdienen.

 

Den ersten Erfolg brachte ihm die Führung eines Klubs im Osten der Stadt, in dem Leute aus allen möglichen Ländern verkehrten. Zur Zeit des Burenkrieges vergrößerte sich sein Vermögen plötzlich infolge vorteilhaft abgeschlossener Regierungsverträge über Lieferung von Kavalleriesätteln. Und dann gründete er das Unternehmen, das in späteren Jahren als der »Jepburn Circle« bekannt war. In den verschiedenen Teilen des Westens kaufte oder mietete er Häuser, möbliert oder unmöbliert, die er dann der Fürsorge vertrauenswürdiger Landsleute, Männern oder Frauen, übergab. Er verstand es, einige mittellose Mitglieder des Adels anzustellen, die als Gastgeber und Agenten fungierten. In erstaunlich kurzer Zeit hatte er auf diese Weise sieben Spielhöllen in vollen Schwung gebracht.

 

Jepburns Name war jedoch damit nicht verknüpft. Wenn man zu Mrs. Keluer Buizans belgischen Tanztees und Tanzabenden ging, konnte niemand vermuten, daß der Dame nicht ein Stück der schönen Einrichtung gehörte und daß sie weder die Eigentümerin noch die Mieterin des Hauses war, in dem sie lebte. Alle ihre Ausgaben zuzüglich eintausend Pfund Gehalt im Jahre wurden von dem kleinen, untersetzten, kahlen Mann bezahlt, der in einer bescheidenen Wohnung in Bloomsbury hauste.

 

Die Leute kamen zum Tanz und blieben dann noch zum Spiel. Es wurde gewöhnlich Trente-et-quarante gespielt. Die Croupiers stellte Mr. Jepburn persönlich an, und die Einnahmen aus dem Spiel flossen auch in seine Tasche. Es wurde sehr viel verdient, denn seine Croupiers wurden besser bezahlt als die adeligen Herren und Damen, die nach außen hin die Gastgeber waren. Der Spielleiter, der die Karten mischte, war so geschickt, daß er durch besondere Manipulationen nach Belieben eine rote oder eine schwarze Karte zum Vorschein bringen konnte. Natürlich gewann immer diejenige Farbe, auf die am wenigsten gesetzt war.

 

Trotz seiner ungeheuren Ausgaben verdiente Mr. Jepburn jährlich doch zwanzigtausend Pfund an jedem der sieben Häuser. Die Angelegenheit war der Polizei sehr unangenehm, denn die Leute, denen angeblich die Häuser gehörten und die als Gastgeber auftraten, hatten sehr bekannte Namen. Allem Anschein nach war das Spiel absolut fair, und in England ist das Gesetz sehr nachsichtig und rücksichtsvoll, wenn es sich um die Rechte der Persönlichkeit handelt, besonders, wenn es sich dabei um die eigenen Wohnungen und Häuser dieser Leute handelt.

 

Anthony erwähnte den Namen Mr. Jepburns gelegentlich, als er seinen versprochenen Besuch bei Sybil Martin machte.

 

»Jepburn?« fragte die Dame leichthin. »Ja, ich kenne ihn oberflächlich. Er ist ganz interessant und verkehrt in den besten Kreisen. Ich vermute, es befremdete Sie, daß er mich ins Theater begleitete?«

 

Anthony lächelte.

 

»Solche Gedanken kommen mir nie«, log er. »Sind Sie denn mit ihm befreundet?«

 

»Nein!«

 

Die Antwort kam so entschieden und heftig, daß es ihm auffallen mußte. Aber sie nahm sich sofort wieder zusammen und sprach in ihrer alten Art weiter.

 

»Ach nein! Eigentlich wollte damals eine größere Gesellschaft ins Theater gehen. Lady Mambury hatte mich eingeladen. Da aber drei Teilnehmer plötzlich erkrankten, darunter auch Lady Mambury, so blieben nur wir beide übrig. Es war allerdings etwas unangenehm für mich.«

 

Er fühlte sich durch ihre Antwort beruhigt, was sie auch sofort bemerkte.

 

»Sie scheinen ihn nicht gern zu haben?«

 

»Mir ist er gleichgültig. Ich kann weder sagen, daß ich ihn gern habe, noch daß er mir unangenehm ist«, sagte er diplomatisch. »Aber er hat einen gewissen Ruf.«

 

»Welchen Ruf?« fragte sie.

 

Anthony war in einer unangenehmen Lage, denn er wünschte durchaus nicht, daß Mr. Jepburn aus zweiter Hand erfahren sollte, daß man ihn verdächtigte.

 

»Nun ja … man hört so allerhand. Hat er denn nicht irgendwie mit Spielklubs zu tun?«

 

Sie schwieg einen Augenblick.

 

»Ist das … Tatsache? Ich meine, glaubt man allgemein, daß er … derartige Einnahmequellen hat?«

 

»Ich möchte nicht gerade sagen, daß man es allgemein glaubt. Aber das ist der Eindruck, den ich von ihm habe.«

 

Wieder entstand ein Pause.

 

»Das ist aber doch schrecklich. Kennt Sie Mr. Jepburn?«

 

Anthony erzählte ihr, daß Mr. Jepburn nicht zu seinen Bekannten gehöre. Er hätte sich dazu gratulieren mögen, denn es war für sein Glück und Wohlbefinden notwendig, daß Mr. Jepburn nichts von ihm wußte.

 

Nach drei Tagen machte aber Anthony Newton doch seine Bekanntschaft. Jepburn speiste gewöhnlich in einem bekannten Restaurant zu Abend, wo ein Tisch für ihn reserviert war.

 

Anthony Newton setzte sich an diesem Abend auch dorthin. Er schien schon ein wenig angeheitert zu sein, und da er sich hartnäckig weigerte, von dem reservierten Tisch aufzustehen und allem Anschein nach willens war, eine Szene zu machen, winkte Mr. Jepburn dem Kellner, ihn sitzen zu lassen.

 

»Sie scheinen ja ein sehr entschiedener junger Mann zu sein«, sagte Mr. Jepburn und sah Anthony über seine goldene Brille hinweg freundlich an.

 

»Darauf können Sie sich verlassen«, entgegnete Anthony mit einem etwas schrillen Akzent, den er sonst nicht hatte. »Sehen Sie, ich bin ein Demokrat! Ich bin ein Feind aller Reservate! In meinem Vaterland sind alle Menschen gleich haben Sie das begriffen?«

 

»Dann sind Sie wohl Amerikaner?«

 

»Sicher bin ich das, und ich will froh sein, wenn ich wieder zu Hause bin, denn dies ist doch das langweiligste kleine Dorf, das ich jemals gesehen habe. Es ist hier ebenso interessant wie in der Prärie. Sie haben doch sicherlich das Buch über die Gophir-Prärien gelesen?«

 

Mr. Jepburn hatte mit Ausnahme seines Passes überhaupt noch kein Buch gelesen.

 

»Man kann in diesem Nest ja nicht einmal ausgehen«, beklagte sich Anthony. »Nächste Woche gehe ich nach Paris, vielleicht kann man sich dort besser amüsieren.«

 

Mr. Jepburn war plötzlich interessiert.

 

»Das hängt ganz davon ab, was Sie beanspruchen. Die einen Leute amüsieren sich auf diese, die anderen auf jene Weise. Hier in London können Sie alles haben, wenn Sie dafür zahlen. Aber vielleicht haben Sie nicht genügend Geld, mein Freund!«

 

Anthony war entrüstet.

 

»Was sagen Sie da? Ich könnte nicht zahlen? Schauen Sie einmal her.« Er zog ein Paket Banknoten aus der Tasche, die Mr. Jepburn neugierig betrachtete. »Nein, mein Herr, diese Stadt ist ein totes Nest. Ich habe neulich versucht, einige Fremde in meinem Hotel für ein Spielchen zu interessieren, aber sie dachten, ich wäre ein Räuber oder Wegelagerer, als ich zwanzig Pfund setzen wollte. Können Sie sich so etwas Langweiliges vorstellen?«

 

Mr. Jepburn sah sich im Raum um. Plötzlich entdeckte er einen seiner Leute und gab ihm ein Zeichen, näher zu treten.

 

»Darf ich Ihnen meinen Freund, Mr. …?«

 

»Swashbuck, Arthur R. Swashbuck von Kansas City«, sagte Anthony.

 

»Mein guter Bekannter – Mr. Smith«, stellte Mr. Jepburn den anderen vor. »Er kann Ihnen einmal die Stadt zeigen. Hier gibt es doch viel mehr zu sehen, als Sie denken.« Er warf Smith einen bedeutsamen Blick zu, und dieser erklärte, daß es noch viele Orte gäbe, die man gesehen haben müsse.

 

»Ich will jetzt gehen und die beiden jungen Herren allein miteinander lassen«, sagte Mr. Jepburn und verabschiedete sich. »Vielleicht kommen Sie in den nächsten Tagen auch hierher – setzen Sie sich dann bitte ruhig an meinen Tisch, wenn es Ihnen beliebt.«

 

»Darauf können Sie sich verlassen«, entgegnete Anthony keck.

 

Mr. Smith war ein distinguiert aussehender, junger Mann von tadelloser Erscheinung und Kleidung.

 

»Wer war denn eigentlich der Kerl?« fragte Anthony und sah hinter Jepburn her, der dem Ausgang zuschritt.

 

»Ach, das ist ein netter, alter Herr, den ich schon verschiedentlich getroffen habe. Er ist wirklich sehr liebenswürdig«, sagte Smith nachlässig. »Wie lange wollen Sie denn noch in London bleiben, Mr. Swashbuck?«

 

»Das hängt ganz davon ab, was London mir bieten kann. Bis jetzt ist es eine recht langweilige Stadt für mich.«

 

»Nun, wenn Sie heute abend mit mir ausgegangen sind, werden Sie anders darüber denken.« Und er führte sein Opfer zur Schlachtbank.

 

Mr. Smith schien eine Persönlichkeit von gesellschaftlicher Bedeutung zu sein. Er hatte einen kleinen, aber schönen und eleganten Wagen. Sein Chauffeur trug eine dezente, aber sehr solide Uniform.

 

»Es gibt hier in der Stadt viele Plätze, die im allgemeinen nicht bekannt sind«, sagte Mr. Smith, als sie durch die hellerleuchteten Straßen fuhren. »Ein Mann, der hier nicht Bescheid weiß, könnte jahraus, jahrein suchen und würde sie doch nicht finden. Ich bringe Sie jetzt zu dem Haus meines Freundes, Mr. Wetbury Vach.«

 

»Das ist ja sehr liebenswürdig von Ihnen«, entgegnete Anthony bedeutend höflicher.

 

»Oh, das hat nichts zu sagen. Ich habe schon so viele Freundschaftsdienste von Amerikanern erfahren, daß es mir ein großes Vergnügen ist, mich dafür dankbar zu erweisen.«

 

Bald darauf hielt der Wagen vor einem stattlichen Gebäude in Cadogan Gardens. Offenbar wurde getanzt, denn in den großen Gesellschaftsräumen im Erdgeschoß bewegte sich eine Gesellschaft vornehm gekleideter Damen und junger und älterer Herren. Später ging Mr. Smith auch mit Anthony in einen Salon im ersten Geschoß, in dem sich weniger Menschen aufhielten.

 

»Man hat hier ein kleines Spielchen aufgelegt«, sagte Mr. Smith gleichgültig. »Kennen Sie Trente-et-quarante? Es ist ganz interessant zuzusehen, aber ich würde Ihnen nicht raten zu spielen, obgleich in ganz London nirgends fairer gespielt wird als hier.«

 

In diesem Hause wurde am niedrigsten gesetzt. Mr. Jepburns Unternehmungen waren je nach den Vermögensverhältnissen seiner Opfer abgestuft.

 

»Ja, die Einsätze sind hier nicht sehr hoch«, sagte Mr. Smith beinahe entschuldigend. »Aber kommen Sie mit, ich werde Sie noch zu einem anderen Platz führen.«

 

Als sie wieder im Wagen saßen, erklärte Mr. Smith, daß er mit Mr. und Mrs. Cresslewaite befreundet sei, deren Haus in einer Straße in der Nähe des Berkeley Square lag. Als sie dort ankamen, öffnete ihnen ein Diener, und wieder fand Anthony, daß getanzt wurde. Aber im oberen Geschoß saßen ungefähr fünfzig Damen und Herren um einen großen, grünen Tisch, und hier war das Spiel schon aufregender.

 

»Man spielt auch hier Trente-et-quarante. Die Einsätze sind mit fünfzig Pfund begrenzt.«

 

Um drei Uhr morgens verabschiedete sich Anthony von seinem neuen Freund. Er war um hundert Pfund ärmer, aber die Erfahrungen, die er gesammelt hatte, waren ihm mehr wert als diese Summe. Er hatte im ganzen vier von Mr. Jepburns Häusern kennengelernt.

 

Anthony Newtons kleines Büro in der City diente weniger dem Geschäft; es war mehr ein Zufluchtsort für verarmte frühere Infanterieoffiziere. Denn nachdem Anthony einen gewissen Erfolg hatte, wurde den Besuchern Whisky-Soda angeboten. Hier versammelten sie sich und rauchten, bis die Luft dick und blau war. Sie sprachen weniger von alten Kriegserinnerungen als von ihrem harten Kampf ums Dasein.

 

Anthony kam am Montagmorgen nach seinem Ausflug in sein Büro und fand schon fünf prächtige, junge Leute dort, die sich den Wind auf den granatendurchfurchten Feldern Frankreichs um die Nase hatten wehen lassen, deren Ruhm und Ansehen jetzt aber etwas gelitten hatte.

 

»Anthony«, sagte Bill Farrel, »es ist auch nicht der Hauch einer blassen Hoffnung für uns alte Soldaten vorhanden. Frieden ist nun einmal die Hölle!«

 

Anthony blickte auf die nun schon reichlich abgetragenen Anzüge, in denen seine Kameraden vom Militär entlassen worden waren. Erinnerungen an jene heiteren und schönen Tage wachten in ihm auf, als jüngere Offiziere mit hundert Pfund in der Tasche so häufig waren wie Brombeeren im September. Er lachte bitter.

 

»Ich freue mich, daß ich euch heute morgen alle hier sehe. Wenn ihr nicht gekommen wäret, hätte ich den meisten von euch geschrieben.«

 

»Was hast du denn wieder vor, Anthony?« fragte Bill Farrel.

 

»Einen kleinen Raubzug«, entgegnete dieser gelassen.

 

Bill seufzte.

 

»Ich bin jetzt auf dem Punkt angekommen«, erklärte er, »daß ich mir aus meinen alten Strümpfen schwarze Masken schneide und meine Pistole wieder hervorsuche und sie gebrauchsfertig mache.«

 

Die anderen stimmten ihm bei.

 

»Niemand erwartet irgendeine bevorzugte Behandlung, weil er im Krieg war«, fuhr Farrel fort. »Wir wollen nur haben, daß unser Militärdienst in Frankreich während des Krieges nicht als ein Tadel oder ein Hindernis beim Fortkommen angesehen wird. Ich habe schon immer in der letzten Zeit darüber nachgedacht, daß es eigentlich das beste wäre, wenn ich einmal der Bank in der Nähe meiner Wohnung einen kleinen Besuch machte.«

 

»Den Plan kannst du dir ruhig aus dem Kopf schlagen«, erwiderte Anthony sofort. »Hört einmal zu. Ich habe euch eine neue Weltanschauung vorzutragen. Seht ihr denn nicht, daß der ganze überflüssige Reichtum der Welt in den Händen zweier Klassen ist – der Anständigen und der Unanständigen, der Ehrenwerten und der Diebe? Und da nun auch eine große Anzahl von Dieben herumläuft, die sich dieser Reichtümer bemächtigen wollen, so hat es gar keinen Zweck, daß ihr euch den Kopf damit zerbrecht, in ein Postamt oder eine Bank einzubrechen. Das Problem liegt vielmehr darin: Man muß einen Mann auffinden, der auf unrechte Weise zu seinem großen Vermögen gekommen ist. Hat der Kerl einen Mord auf dem Gewissen, um so besser. Wir Soldaten von hohem Verdienst und Wert befinden uns noch immer im Kriege mit Leuten, die ihr Geld auf unehrliche, gemeine Weise verdient haben und die gegen die Gesetze des Anstandes und der Ehre verstoßen!«

 

»Da hast du recht, Anthony!« rief Bob. »Aber gegen wen richtet sich denn unser nächster Plan?«

 

»Ihr könnt den Kerl täglich von sieben bis acht in Paronis Restaurant sehen. Er ist ein Blutsauger, ein Erpresser, ein gemeiner Schuft ohne Vaterland, einer, der die früheren Soldaten um ihren letzten Pfennig geprellt hat, ein männlicher Vampir!«

 

Er sah sich in dem Raum um. Alle schauten ihn erwartungsvoll und begierig an.

 

»Jungens«, sagte er feierlich, »meine verschiedenen Namen sind Ali Baba, Chu-chin-chao und Robin Hood, und ich werde eine Räuberbande zusammenstellen, aber nur für einen einzigen Anschlag. Unsere ruhmreiche Fahrt mag uns schließlich auch ins Gefängnis von Wandsworth bringen, aber das glaube ich nicht. Die Sympathien der Allgemeinheit werden auf eurer Seite sein, wenn man euch faßt, obwohl das wahrscheinlich nicht ausreichen würde, um euch vor Gefängnisstrafen zu schützen. Ich frage euch nun, wollt ihr mitmachen?«

 

Das Hurrageschrei, das sich jetzt erhob, störte die alten Rechtsanwälte, die in den Büros unter ihnen arbeiteten.

 

»Gehen Sie ruhig wieder hinunter und sagen Sie Ihren Chefs«, erklärte Anthony dem Angestellten, der heraufkam, um sich diesen Lärm zu verbitten, »daß es uns sehr leid tut, daß wir Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereitet haben. Aber wenn die Sache zum Schlimmsten kommt, werden wir Ihnen auch unsere Verteidigung vor Gericht übertragen!«

 

Der bestürzte Büroschreiber brachte die Botschaft nach unten, aber seine Chefs konnten mit dem besten Willen nicht aus seinen Worten klarwerden. –

 

Am folgenden Mittwochabend, als die Straßen schon ganz verlassen dalagen, hielt ein großes Auto vor dem Haus Nr. 903 Cadogan Gardens. Es war ein alter Wagen, der einen dementsprechenden Lärm beim Fahren machte. Der arme Wagen war allerdings auch dazu berechtigt, denn er war stark überlastet. Acht Mann stiegen aus, und im günstigsten Fall war er für fünf Personen bestimmt.

 

Anthony klopfte an die Tür. Der livrierte Diener öffnete, aber bevor er irgendwie um Hilfe rufen oder die Klingel an dem Holzpaneel erreichen konnte, hatte sich Bill Farrel auf ihn geworfen und ihm mit der Hand den Mund verschlossen.

 

Einer der acht nahm seinen Posten an der Tür ein, die zum Salon führte, wo getanzt wurde. Die übrigen eilten unter Anthonys Führung die Treppe zu dem Spielsalon hinauf.

 

»Ruhe!« rief Anthony mit einer achtunggebietenden Kommandostimme durch den Raum. »Ich erkläre Sie alle für verhaftet. Nehmen Sie den Mann, Sergeant!« Er zeigte auf den Croupier, der zusammenzuckte.

 

Gleich darauf erhob sich ein Stimmengewirr, ein Schrei wurde laut, als eine Dame ohnmächtig umfiel, aber das waren ja Zwischenfälle, die in solchen Situationen nicht zu vermeiden waren. Anthony zog einen großen Leinensack hervor und fegte das ganze Geld, das auf dem Platz des Croupiers lag, rasch hinein, während Bill Farrel die Diener in einen besonderen Raum führte und dort einschloß.

 

»Ich kenne alle Ihre Namen und Adressen« sagte Anthony dann. »Ich werde Sie heute abend nicht verhaften, aber Sie bleiben hier in diesem Raum, bis mein Sergeant, der draußen Wache hält, Ihnen erlaubt, das Haus zu verlassen.«

 

Fünf Minuten später raste der Wagen zum Berkeley Square. Hier spielte sich derselbe Vorgang ab, nur leistete der Diener am Tor weniger Widerstand. Anthony eilte die Treppe hinauf, aber als er in den Spielsalon trat, blieb er plötzlich erschrocken stehen.

 

Denn die beiden ersten Menschen, die er sah, waren Jepburn und die Dame in Grau. Sie sprang entsetzt auf, als sie die vielen Leute im Gang sah. Jepburn blickte sich verzweifelt um und erhob sich dann auch langsam.

 

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er.

 

Aber Anthony antwortete ihm nicht, er starrte nur die Frau an.

 

»Die Polizei«, sagte sie atemlos.

 

Anthony kam wieder zu sich.

 

»Alle Spieler stellen sich der Wand entlang auf!« befahl er. Mit drei Schritten war er an der Seite des Croupiers und warf wieder den großen Haufen Banknoten und Geld in seinen offenen Sack. Gleich darauf trat er zu Mrs. Martin.

 

»Ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte er ruhig.

 

Er ging mit ihr auf das einsame Treppenpodest hinaus.

 

»Was machen Sie hier?«

 

»Ich bin – ich bin die neue Hausherrin«, stammelte sie.

 

»Was, die neue Dame des Hauses?« fragte Anthony, der seinen Ohren nicht trauen wollte. »Was meinen Sie damit?«

 

»Ich bin in der Schuld Mr. Jepburns. Er hat von mir Schuldscheine im Wert von dreitausend Pfund«, erklärte sie, vermied es aber, ihm in die Augen zu sehen.

 

»Aber ich dachte doch …«

 

»Sie dachten, ich wäre wohlhabend«, entgegnete sie bitter. »Aber Sie sehen, ich bin es nicht. Der arme Jim hat mir nur wenig Geld hinterlassen, das ich längst verbraucht habe.«

 

»Auf diese Art und Weise?« Er zeigte düster nach dem Spielsalon, und sie nickte.

 

»Warten Sie.«

 

Anthony ging zu Jepburn zurück, der drinnen in merkwürdig erregter, halb französischer und halb englischer Sprache auf den unerschütterlichen Farrel einsprach. Als Anthony zu ihm trat, sah er ihn haßerfüllt an.

 

»Sie waren also der Polizeibeamte? Das war sehr gerissen! Wenn ich das nur geahnt hätte!«

 

»Halten Sie den Mund!« rief Anthony. »Sie haben Schuldscheine von Mrs. Martin – wo sind sie?«

 

Jepburn kniff die Augenlider zusammen.

 

»Was wollen Sie damit machen?«

 

»Sie haben die Wahl, Jepburn. Entweder verhafte ich Sie und lasse Sie in Ihr Heimatland deportieren, oder ich ziehe meine Leute zurück und lasse von der ganzen Sache unter der Bedingung nichts verlauten, daß Sie mir die Schuldscheine von Mrs. Martin einhändigen.«

 

Mr. Jepburn dachte einen Augenblick nach.

 

»Gut, Sie sollen sie haben, wenn Sie mich nach Hause begleiten. Aber was wird aus dem Geld, das Sie genommen haben?«

 

»Das wird einem wohltätigen Zweck zugeführt«, erwiderte Anthony gewandt, »und zwar der Unterstützungskasse für frühere Offiziere.«

 

1. Kapitel

 

1. Kapitel

 

Nur nicht die Nerven verlieren

 

Anthony Newton wurde im Weltkrieg mit sechzehn Jahren Soldat, und mit sechsundzwanzig war er ein armer Kerl, der von der Gunst anderer Leute abhing. Geduldig wartete er in unzähligen Büros und ließ die üblichen Fragen über sich ergehen, die fast überall die gleichen waren.

 

»Welche Geschäftspraxis hatten Sie bisher?«

 

»Welches Gehalt beanspruchen Sie?«

 

Außerdem sollte er noch viele andere, mehr oder weniger wichtige Fragen beantworten, die ihm klarmachten, daß die Erziehung in einer höheren Schule und tadellose Militärpapiere noch lange keine Anwartschaft auf irgendeine Stellung geben, von der man, wenn auch nur notdürftig, leben kann. Mit solchen Voraussetzungen läßt sich nur etwas erreichen, wenn man über große Geldsummen verfügt, um sich eine Teilhaberschaft, einen Sekretärposten oder eine lohnende Vertretung zu erwerben.

 

Immer wieder hörte Anthony denselben Bescheid.

 

»Wir haben leider im Augenblick keine Verwendung für Sie, Mr. Newton. Aber wenn Sie uns Ihre Adresse hierlassen wollen, werden wir Ihnen Mitteilung machen, sobald sich etwas für Sie bietet.«

 

Acht Jahre lang hatte sich nun Anthony Newton in allen möglichen Stellungen herumgeschlagen. Die Abfindungssumme, die er vom Militär erhalten hatte, steckte er in eine Geflügelfarm. Jeder weiß nun, daß es sehr einfach ist, auf diese Weise Geld zu verdienen, das heißt auf dem Papier und in der Theorie, in Wirklichkeit kommt es jedoch gewöhnlich ganz anders. Nach acht Jahren Mißerfolg ging er mit sich selbst zu Rate und entschied sich dann nüchtern für eine Art Räuberleben, und zwar ein solches, gegen das die Gesetzesparagraphen weniger anwendbar waren. Schon lange hatte er mit dem Gedanken gespielt, aber eines Morgens verwirklichte er seinen Plan.

 

Seine Wirtin, Mrs. Cranboyle, überreichte ihm gerade ihre Rechnung und die Kündigung für den Fall, daß er nicht sofort zahlte. An solche Rechnungen war er schon gewöhnt, aber die Kündigung war ihm neu. Er hatte zwar längst damit gerechnet, aber als sie nun tatsächlich kam, war er doch bestürzt.

 

Er schaute die Frau nachdenklich an, und ein unentschlossener Ausdruck lag auf seinem hübschen Gesicht. Aber für Mrs. Cranboyle, eine gedrungene, kräftige Frau mit harten Augen und großem, energischem Kinn, gab es keinerlei Zweifel über die Sachlage.

 

Anthony seufzte, und sein Blick wanderte von dem Gesicht seiner Wirtin über all die kleinen Gegenstände des einfachen Zimmers hin, die Bettstelle, die sentimentalen religiösen Bilder an den Wänden, die beiden Porzellanhunde auf dem Kamin, den einfachen Teppich, den blankgeputzten Messingbeschlag am Feuerrost. Dann sah er wieder Mrs. Cranboyle an.

 

»Sie können doch nicht erwarten, daß ich Sie noch länger hier wohnen lasse, Mr. Newton«, sagte sie mit Nachdruck. Und es war nicht das erstemal, daß er diese Worte hörte.

 

»Still!« sagte Anthony. »Ich will nachdenken.«

 

Mrs. Cranboyle zuckte die Achseln.

 

»Ich habe sehr hart arbeiten müssen, um das zusammenzubringen, was ich habe«, fuhr sie fort, »und ein junger Mann wie Sie sollte etwas Besseres tun als einer armen Witwe auf der Tasche liegen, die nicht weiß, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten soll …«

 

»Sie haben siebenhundertfünfzig Pfund in Kriegsanleihe, zweihundertfünfzig Pfund in Aktien und ein Bankdepot von ungefähr fünfhundert Pfund«, erwiderte Anthony ruhig.

 

Mrs. Cranboyle war starr vor Staunen.

 

»Aber wie … was …«, stammelte sie.

 

»Ich habe mir neulich Ihr Bankbuch angesehen«, erklärte Anthony, ohne sich im mindesten zu genieren. »Sie haben es im Wohnzimmer liegenlassen – ich habe mir ganz nett die Zeit damit vertrieben.«

 

»Na, dazu gehört aber doch eine Dreistigkeit sondergleichen«, rief sie atemlos. »Da hört doch alles auf! Sie räumen noch heute das Zimmer!«

 

»Wie Sie wollen. Ich werde mir eine andere Wohnung suchen und jemand schicken, der meinen Koffer abholt.«

 

»Geben Sie dem Mann nur auch die Miete für sechs Wochen mit«, sagte Mrs. Cranboyle ärgerlich, »sonst brauchen Sie sich gar nicht erst die Mühe zu machen, nach Ihren Sachen zu schicken. Wenn Sie glauben, daß ich hier meine Zimmer an Spieler und Taugenichtse umsonst –«

 

Anthony machte eine abwehrende Handbewegung.

 

»Vergessen Sie nicht, daß Sie hier zu einem Mann sprechen, der für Ihr Vaterland gekämpft und die Schrecken des Krieges mitgemacht hat«, sagte er stolz. »Sie haben hier ruhig in Ihrem Bett geschlafen, während wir in Schnee und Regen, in Wind, Wetter und Nebel im Schützengraben ausgehalten haben. Denken Sie immer daran, Mrs. Cranboyle! Sie können Leuten wie mir niemals Dank genug wissen.« Er schaute sie scharf an. »Wo würden Sie jetzt sein, wenn die Deutschen gesiegt hätten?«

 

Mrs. Cranboyle war das Schimpfen vergangen. Sie wollte ihm wieder Vorhaltungen machen, wie er sein Geld vertan habe, aber er sparte ihr die Mühe.

 

»Sie haben mir eben gesagt, daß ich spiele – nun ja, ich habe im Rennen gesetzt. Das wissen Sie aber nur, weil Sie in meinen Papieren herumgestöbert haben. Ihre Neugierde wird Ihnen noch einmal böse mitspielen.«

 

Er schaute noch einmal zum Fenster hinaus, dann nahm er seinen Hut. Seine Wirtin konnte nichts weiter sagen; seine durchdringenden Blicke hatten sie vollständig eingeschüchtert.

 

»Sie können mir wenigstens noch einen Dienst erweisen, Mrs. Cranboyle. Leihen Sie mir zehn Schilling, ich werde sie Ihnen in einigen Stunden zurückzahlen.«

 

Nun fand sie plötzlich ihre Sprache wieder.

 

»Von mir bekommen Sie keinen Penny!«

 

»Das ist nun der Dank dafür, daß man das Vaterland verteidigt hat«, murmelte Anthony. »Solche Menschen wie Sie machen aus uns früheren Soldaten Anarchisten.«

 

»Wenn Sie mich hier bedrohen, schicke ich zur Polizei«, schrie Mrs. Cranboyle.

 

Anthony ging noch einmal zum Waschtisch zurück, bürstete sein Haar sorgfältig und nahm den Hut wieder auf.

 

»Ich werde heute nachmittag nach meinem Koffer schicken«, sagte er einfach.

 

Sie schimpfte noch hinter ihm her, als er langsam die Treppe hinunterging. Er wußte, daß es nun kritisch wurde.

 

Es bedrückte ihn nicht, daß er mit drei Pennies in der Tasche den harten Kampf ums Dasein aufnehmen mußte. Er ging fröhlich und guter Dinge in den hellen Sonnenschein des Tages hinaus und wanderte durch die Straßen der Vorstadt, als ob er nicht die geringsten Sorgen hätte.

 

Im Kriege war er Leutnant einer Maschinengewehrabteilung gewesen, später Sekretär einer größeren Firma. Aber er trug dem Chef, der ihm gekündigt hatte, keinen Groll nach. Er wußte, daß alle Erwerbsquellen für ihn im Augenblick versiegt waren, und er hatte es satt, sich unter der wartenden Menschenmenge in den Arbeitsbüros herumzudrücken. Die vielen Drehorgelspieler, die mit Kreide ihre militärischen Verdienste auf Schilder geschrieben hatten, die maskierten Sänger aus der Aristokratie, die in den Höfen und Straßen der Vorstädte herumzogen und sich auf diese romantische Weise einen kargen Lebensunterhalt erwarben, die früheren Offiziere, die schöne Aquarellbilder an den Straßenecken im Westen verkauften, und die aggressiveren Leute, die Gastrollen in Banken mit dem Revolver in der Hand gaben, sie alle bewiesen zur Genüge, daß eine höhere Schulbildung und eine militärische Laufbahn nicht ausreichten, Geld zu verdienen und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

 

Anthony stieg auf die nächste Straßenbahn, und als er seinen Fahrschein gelöst hatte, blieb ihm nur noch ein Penny übrig. Er war jetzt mehr als je davon überzeugt, daß seine bisherige Art zu leben keinen Zweck hatte.

 

Er ging in die Nationalgalerie, wo ihm früher schon immer gute Gedanken gekommen waren. Aber als er um die Mittagszeit wieder auf die Straße trat, war ihm noch nichts Neues eingefallen. Er hatte Hunger, denn er war gesund und jung und hatte zum Frühstück nur zwei harte, dünn mit Butter bestrichene Brotschnitten und eine Tasse Tee bei Mrs. Cranboyle zu sich genommen.

 

Ein Polizist sah ihn an der Ecke des Trafalger Square stehen und glaubte, irgendeinen Fremden vom Lande oder aus den Kolonien vor sich zu haben, der unentschlossen schien und anscheinend nicht wußte, wohin er gehen sollte. Anthony trug stets große, graue, breitrandige Filzhüte und legte Wert auf eine gute Kleidung.

 

»Kann ich Ihnen irgendeine Auskunft geben?« fragte der Polizist.

 

»Ich möchte gern wissen, wo ich hier gut zu Mittag essen könnte«, entgegnete Anthony wahrheitsgetreu.

 

»Sie sollten in das Pallaterium gehen. Gestern hat mir noch ein Herr gesagt, daß es das beste Lokal in London sei.«

 

»Danke schön«, erwiderte Anthony liebenswürdig. Es tat ihm mehr leid, daß er diesem freundlichen Mann kein reichliches Trinkgeld geben konnte, als daß er jetzt nicht einmal mehr die nötigen Mittel hatte, ein Essen zu bezahlen. Aber trotzdem ging er in das Pallaterium, denn er hatte einen festen Glauben an sich und vertraute seinem guten Stern.

 

Sorglos betrat er den großen Vorraum, in dem sich viele Menschen aufhielten. Die meisten warteten auf Gäste oder auf Leute, die sie zu Tisch geladen hatten. Er setzte sich in einen bequemen, tiefen Sessel und streckte die Beine behaglich von sich. Aus der Flügeltür des Restaurants drang der Duft von Braten und guten Speisen zu ihm herüber. Er beobachtete die Menschen und sah, wie sich die einen entschuldigten, daß sie so spät kamen, und wie die anderen ruhig und geduldig warteten. Verwandte und Bekannte trafen sich hier und gingen durch die Glastüren in kleinen Gruppen in das Paradies. Aber es war niemand unter all den Leuten, den er kannte.

 

Jetzt kamen zwei untersetzte Herren und zwei Damen herein. Sie waren sehr elegant gekleidet und hatten sicherlich die Nacht nicht auf einem harten Lager verbracht und darüber nachgedacht, wie sie sich am nächsten Tage ernähren sollten. Anthony schaute ihnen nach, als auch sie in dem Speisesaal verschwanden, und seufzte.

 

»Wenn ich doch nur …« begann er, aber plötzlich kam ihm ein guter Gedanke.

 

Er wartete noch zehn Minuten, dann erhob er sich langsam, gab seinen Hut in der Garderobe ab und trat in das Lokal. Er sah die vier Leute an einem Tisch am Ende des großen Raumes sitzen. Neben ihnen war noch ein kleiner Tisch unbesetzt. Der ältere der beiden Herren schaute plötzlich auf und sah einen gutgekleideten Herrn von achtunggebietender Größe vor sich stehen.

 

»Bitte, womit kann ich Ihnen dienen?«

 

Anthony beugte sich zu ihm nieder und sprach mit leiser Stimme zu ihm, aber doch so, daß alle anderen es auch hören konnten.

 

»Lord Rothside läßt sagen, es tue ihm sehr leid, daß er nicht hierherkommen könne. Er fragt an, ob Sie nicht statt dessen am Berkeley Square mit ihm essen wollten?«

 

»Wie meinen Sie?« fragte der Herr verwundert.

 

»Sind Sie nicht Mr. Steiner?« erwiderte Anthony ganz erstaunt, als ob ihm plötzlich klar würde, daß er sich getäuscht habe.

 

»Nein«, entgegnete der etwas korpulente Herr. »Mein Name ist Goldheim«, sagte er dann lächelnd. »Ich glaube, Sie irren sich.«

 

»Das tut mir sehr leid, aber ich habe Mr. Steiner noch nie gesehen. Ich war nur hierhergeschickt, weil er hier speisen wollte und …« er brach verwirrt ab.

 

»Bitte sehr, es macht gar nichts«, sagte der andere geschmeichelt. »Ich kenne leider Mr. Steiner nicht, sonst würde ich Ihnen den Herrn zeigen.« Er wandte sich an seine Tischgenossen. »Man hat mich für einen Freund von Lord Rothside gehalten.« Man merkte, wie angenehm ihm dies war.

 

»Dann muß ich eben noch warten, bis er kommt«, meinte Anthony entschuldigend. »Es tut mir wirklich unendlich leid, daß ich Sie gestört habe.«

 

Er ließ sich am nächsten Tisch nieder.

 

»Ich möchte noch nichts bestellen, ich warte noch auf einen Herrn«, sagte er, als der Kellner sich nach seinen Wünschen erkundigte.

 

Am Nachbartisch aß man weiter. Anthony schaute einige Zeit verzweifelt und ungeduldig nach der Tür. Plötzlich wandte sich einer der Herren vom Nebentisch an ihn.

 

»Mr. Steiner scheint wohl noch nicht zu kommen?« fragte er unnötigerweise.

 

Anthony schüttelte den Kopf.

 

»Ich will warten, aber es ist schrecklich. Ich komme dadurch ganz um mein Essen.«

 

»Würden Sie nicht bei uns Platz nehmen, Mr. …?«

 

»Mein Name ist Newton«, sagte Anthony. »Aber ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.«

 

Aber er nahm doch sofort Platz, und fünf Minuten später hatte er schon Gelegenheit, den herrlichen alten Rheinwein zu loben.

 

»Sie sind wohl der Sekretär von Lord Rothside?«

 

»Ich bin nicht gerade sein Sekretär«, sagte Anthony mit einem bescheidenen Lächeln und verstand es, dabei den Eindruck hervorzurufen, als ob diese Frage mit seiner Stellung nicht recht in Einklang zu bringen sei, weil er einen weit höheren Rang einnahm. Ungefähr so würde Napoleon in den Tagen des Direktoriums dreingeschaut haben, wenn ihn jemand gefragt hätte, ob er ein Mitglied der Regierung sei.

 

Die beiden älteren Damen sahen trotz ihrer Jahre sehr gut aus. Sie hatten viel Sinn für Humor, und Anthony wußte sie mit den kleinen Geschichten, die er zum besten gab, glänzend zu unterhalten. Die ganze Tafelrunde amüsierte sich köstlich. Als der Kaffee serviert wurde, hatte Anthony seinen Platz in der Gesellschaft aufs beste behauptet. Mit der Miene eines Kenners und Genießers rauchte er eine der teuersten Zigarren Goldheims.

 

»Es ist ganz merkwürdig, wie man mitunter in eine so liebenswürdige Gesellschaft gerät«, sagte er nachdenklich. »Ich werde niemals vergessen, wie ich das erstemal mit dem Herzog von Minford speiste. Ich kam auch ganz zufällig und unerwartet mit ihm zusammen. Ich hatte ihn vorher nie getroffen und war ihm nicht vorgestellt worden.«

 

Diesmal sprach Anthony die volle Wahrheit, denn er hatte den Herzog in einem Granattrichter an der Somme kennengelernt, und sie hatten zusammen etwas Keks und Schokolade geknabbert.

 

»Sind Sie in der City tätig, Mr. Newton?«

 

»Auch das«, sagte Anthony, ohne näher darauf einzugehen. »Ja, ich bin auch in der City tätig. Ich bin aber erst seit kurzem aus Übersee zurückgekehrt.«

 

Mr. Goldheim lächelte schlau.

 

»Da haben Sie wohl viel Geld verdient, wie?«

 

»O ja, ich habe ganz gut verdient.«

 

»Sie kommen wohl aus Südafrika?«

 

Nun war es an Anthony, zu lächeln, und er tat es so geheimnisvoll, daß es ebenso Argentinien, Chikago oder Klondyke bedeuten konnte.

 

»Ich kenne London eigentlich noch nicht sehr gut«, gestand er dann.

 

Die ganze Zeit über wunderte er sich, wer wohl die drei ruhigen Herren am nächsten Tisch sein mochten. Sie sprachen wenig, schienen aber aufmerksam ihrer Unterhaltung zuzuhören. Als er zum erstenmal hinüberschaute, kam ihm zum Bewußtstein, daß sie jedes seiner Worte gehört haben mußten, und er fühlte sich einen Augenblick lang nicht recht wohl. Aber er konnte sich ja auch täuschen. Der Mann mit der gesunden, roten Gesichtsfarbe schien doch ganz in sein Essen vertieft zu sein. Es mochten reiche Leute vom Lande sein, die einen Tag in London zubrachten, vielleicht auch reiche Mühlenbesitzer aus dem Norden.

 

Bald darauf winkte Mr. Goldheim dem Kellner, um zu bezahlen. Er gab ein außergewöhnlich großes Trinkgeld (Anthony zuckte es in der Hand, eins der Fünfschillingstücke wegzunehmen). Dann gingen sie alle zurück zum Vestibül.

 

Anthony gab als erster seinen Garderobenzettel ab, und die Garderobiere nahm das Trinkgeld Mr. Goldheims für die ganze Gesellschaft.

 

»Können wir Sie irgendwo hinbringen?«

 

»Wenn Sie so liebenswürdig wären, mich bei Ritz-Carlton abzusetzen?« sagte Anthony zögernd. »Das heißt, nur wenn es auf Ihrem Wege liegt.«

 

Es traf sich gut, daß die anderen den Nachmittag in einem Theater zubringen wollten, das ganz in der Nähe dieses palastartigen Hotels lag. Anthony blieb noch einen Augenblick im Eingang stehen und winkte seinen liebenswürdigen Gastgebern zum Abschied zu, dann trat er in die Empfangshalle.

 

»Ich möchte ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer haben.«

 

Er hatte nicht die geringste Absicht gehabt, in das Ritz-Carlton oder irgendein anderes Hotel überzusiedeln, aber im Augenblick kam ihm der Gedanke, daß dies das richtige Hauptquartier für einen Briganten sei, der der ganzen Gesellschaft den Krieg erklärt hatte.

 

»Ich werde mein Gepäck später schicken. Aber wohlverstanden, ich muß Zimmer haben, von denen aus man die Straße übersehen kann.«

 

»Darf ich um Ihren Namen bitten?«

 

Anthony zeichnete sich in bester Stimmung in das Hotelbuch ein, und bevor der Portier erwähnen konnte, daß bei Ritz-Carlton Zimmer für Leute ohne Gepäck nicht reserviert werden, wenn sie nicht eine große Anzahlung machten, fragte Anthony schon, wo die nächste Depositenkasse der Hardware Trustbank von New York sei.

 

»Wenn Sie herauskommen, gleich rechts, mein Herr. Dann müssen Sie noch einmal nach rechts abbiegen und die Geschäftsräume liegen vor Ihnen. Es ist aber gebräuchlich, daß man …«

 

Aber in diesem Augenblick kam eine willkommene Unterbrechung.

 

Jemand klopfte Anthony auf die Schulter. Er wandte sich um und sah in das Gesicht eines großen, liebenswürdig dreinschauenden Herrn, dessen dunkle Gesichtsfarbe darauf schließen ließ, daß er sein Leben in der frischen Luft verbrachte.

 

»Sie sind doch Mr. Newton?« fragte er erwartungsvoll.

 

Anthony trat einen Schritt zurück und streckte dann die Hand aus.

 

»Ich kann mich wirklich nicht auf Ihren Namen besinnen, aber ich kenne Sie doch so gut?«

 

»John Frenchan, von der Firma Frenchan und Carter. Sie erinnern sich doch an unser Geschäft in Kapstadt?«

 

»Aber selbstverständlich«, sagte Anthony begeistert und schüttelte die Hand des anderen kräftig. »Daß ich das vergessen konnte! Wo haben wir uns doch gleich kennengelernt? Aber jetzt weiß ich Ihren Namen. Er war mir früher so geläufig wie mein eigener.«

 

Er wandte sich von dem Tisch ab, und der Hotelangestellte wagte nicht, die beiden in ihrer Unterhaltung zu stören. Er schrieb mechanisch eine Zimmernummer hinter Mr. Newtons Namen, aber in seine Privatliste trug er ein: »Kein Gepäck.« Und dahinter setzte er ein Fragezeichen, das auch mehr als berechtigt war.

 

Anthonys neuer Freund führte ihn in den Palmengarten, wo die Herrschaften bei Kaffee und Zigarren saßen. Ein Kellner trat heran und setzte Stühle für sie zurecht.

 

»Sie haben ja schon gespeist – darf ich Sie vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen?« fragte Mr. Frenchan. »Mit welchem Schiff sind Sie denn herübergekommen?«

 

»Mit der Balmoral Castle«, antwortete Anthony.

 

In seiner früheren Stellung hatte er viel mit Schiffen und Schiffsverbindungen zu tun gehabt, und es waren ihm nicht nur die Dampfer der Castle Line geläufig, sondern auch der Name der bekannten Firma Frenchan und Carter, die zu den größten Importeuren von landwirtschaftlichen Maschinen in Kapstadt gehörte. In der Zeitung hatte er gelesen, wann die Balmoral Castle angekommen war.

 

»Ich habe Sie schon im Pallaterium erkannt«, sagte Frenchan. »Ich war meiner Sache ganz gewiß.«

 

»Wie?« fragte Anthony und entdeckte plötzlich, daß dieser Mann einer der drei Herren war, von denen er sich während des Mittagessens beobachtet geglaubt hatte. »Aber natürlich, ich habe Sie auch erkannt, ich wußte nur nicht, wo ich Sie unterbringen sollte.«

 

»Ich glaube, Sie haben auch viel Geld in Südafrika verdient?« Mr. Frenchan schien nach dem Ton seiner Stimme mit dem Erwerb seines eigenen großen Vermögens nicht recht zufrieden zu sein. »Es ist doch so leicht, Geld zu verdienen. Aber ich muß sagen, ich habe mich wohler gefühlt, als ich nur ein Pfund in der Woche hatte. Geld macht nicht glücklich!«

 

Anthony, der noch niemals so viel Geld besessen hatte, um sich zu einer solchen Auffassung aufzuschwingen, war ein wenig betroffen.

 

»Ja, ich habe ungefähr zwanzigtausend Pfund verdient.« Er zuckte die Schultern, um anzudeuten, daß eine solche Summe eigentlich nicht recht als Geld bezeichnet werden könne. »Aber ich war ja auch nicht lange in Afrika.«

 

Mr. Frenchan sah ihn mit neuem Interesse an. Als einen Vertreter der Kapitalisten könnte man Mr. Newton gebrauchen, aber wenn er ein selbständiger Kapitalist war, eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten, Geschäfte mit ihm zu machen.

 

»Kennen Sie die Goldheims sehr gut? Ich sah, daß Sie mit ihnen speisten.«

 

»Ich kann nicht gerade behaupten, daß ich sie sehr gut kenne«, entgegnete Anthony, der erkannte, daß er in diesem Augenblick nicht lügen durfte. »Ich habe sie eigentlich mehr durch Zufall kennengelernt.«

 

»Ein tüchtiger Geschäftsmann, dieser Goldheim.« Mr. Frenchan blickte nachdenklich auf seine Zigarre. »Er verdient sein Geld mit Petroleum. Der Mann ist eine Million wert, vielleicht auch zwei.«

 

»Sehen Sie einmal an!« Und um etwas zu sagen und auch zugleich einige nützliche Nachrichten zu sammeln, fragte Anthony: »Bleiben Sie lange in London?«

 

»Etwa drei bis vier Monate.« Mr. Frenchan machte ein unzufriedenes Gesicht. »Ich wäre überhaupt nicht hergekommen, wenn mein armer, verrückter Bruder nicht gestorben wäre.«

 

Anthony war gespannt, ob es die Armut oder die Verschrobenheit des verstorbenen Mr. Frenchan war, über die sich sein neuer Freund so aufregte. Sicherlich ärgerte er sich über eins von beiden, denn seine Züge verfinsterten sich.

 

»Ein Mann hat kein Recht«, explodierte er plötzlich, »die Mildtätigkeit bis zur Verrücktheit zu treiben. Wenn jemand sein Testament macht, soll er so über sein Vermögen disponieren, daß er seine Verwandten nicht lächerlich macht. Man soll sie beneiden, ja – aber nicht die Achseln über sie zucken.«

 

Anthony gab das ohne weiteres zu.

 

Mr. Frenchan sah entrüstet aus. Er schob seine Unterlippe vor und machte gerade keinen liebenswürdigen Eindruck.

 

»Wenn er tausend Pfund dem Waisenhaus, tausend Pfund einem Hospital in London und dann vielleicht noch zehntausend für ein Kinderheim hinterlassen hätte, würde niemand etwas dazu sagen. Persönlich bin ich auf das Geld meines Bruders überhaupt nicht angewiesen, ebensowenig meine Familie.«

 

Anthony entnahm dieser wegwerfenden Erklärung, daß der verstorbene Mr. Frenchan seinem Bruder überhaupt nichts hinterlassen hatte.

 

»Zu welcher Religion bekennen Sie sich eigentlich, Mr. Newton?« fragte Frenchan plötzlich und völlig unerwartet.

 

Anthony war einen Augenblick verdutzt.

 

»Ich gehöre zu den Altmethodisten«, sagte er dann. Wenn er überhaupt einer besonderen Kirche angehörte, so war es diese Sekte. Als Kind war er jeden Sonntagmorgen in ihre Kirche mitgenommen worden.

 

Der Eindruck, den diese Nachricht auf Mr. Frenchan machte, war überwältigend. Er lehnte sich weit in seinen Stuhl zurück und sah den jungen Mann lange groß an.

 

»Was für ein merkwürdiger Zufall«, sagte er dann langsam. »Sie sind der erste Altmethodist, dem ich in diesem Lande begegne.«

 

Anthony war sehr erstaunt. Er hatte niemals geglaubt, daß die Sekte, der er früher angehörte, einen solchen Eindruck hervorrufen könnte … und er dachte nun dankbar an die kleine Kapelle zurück, die er in seiner Jugend immer besucht hatte.

 

Mr. Frenchan erklärte dem jungen Mann, welche besondere Bewandtnis es damit hatte.

 

»Mein Bruder Walter war ein merkwürdiger Mensch. Ich will damit nicht sagen, daß der Altmethodismus eine merkwürdige Religion ist, aber mein Bruder ging in dieser Beziehung zu weit. Er beschäftigte zweitausend Leute in seinem Geschäft, aber er stellte nur Altmethodisten an. Es ist sicherlich eine gute Religion. Aber mein Bruder war so bigott, daß er alle anderen Bekenntnisse verachtete. Mr. Newton, Sie als ein Mann von Welt werden mir doch zugeben, daß das gerade nicht sehr großzügig von ihm war?«

 

Anthony stimmte ihm vollkommen bei.

 

»Und weil er nun diese sonderbaren Ansichten hatte«, fuhr Mr. Frenchan bitter fort, »bin ich in eine sehr unangenehme Lage gekommen. Ich habe zu meinem Rechtsanwalt gesagt: Bin ich denn nun gezwungen, jahrelang hier in London zu sitzen und mich um bedürftige, arme Leute zu kümmern, die zu den Altmethodisten gehören, nur um das Testament meines Bruders auszuführen? Ich wäre verrückt, wenn ich das täte!«

 

Mr. Frenchan war sehr aufgebracht und trank seine Tasse hastig aus. Es lag ein sonderbarer Ausdruck in seinen Augen, der Anthony zuerst etwas verwirrte, dann aber ermutigte.

 

»Wollen Sie noch einen Likör haben?« fragte Mr. Frenchan plötzlich.

 

Anthony nickte.

 

»Ich möchte, daß Sie meinen Rechtsanwalt kennenlernen«, fuhr Frenchan fort. »Das ist ein Mann, der Ihnen gefallen wird. Ein kluger Mensch, der in die Welt paßt. Ein bißchen argwöhnisch, aber ich glaube, daß das mit seinem Beruf zusammenhängt. Wahrscheinlich kennen Sie die Firma schon – Whipplewhite, Sommers und Soames.«

 

Anthony nickte wieder. Er hatte zwar niemals von einer solchen Firma gehört, aber der Name klang ganz nach Rechtsanwälten.

 

Mr. Frenchan sah auf die Uhr.

 

»Ich glaube, wir könnten ihn jetzt treffen. Sie werden es bestimmt nicht bereuen, seine Bekanntschaft gemacht zu haben. Er ist ein tüchtiger Schotte, aber ein Mann mit einem goldenen Herzen. Er sieht in jedem Menschen eigentlich einen möglichen Verbrecher.« Mr. Frenchan lächelte vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Aber schließlich wird ihn ja sein Beruf zu solchen Anschauungen gebracht haben«, meinte er nachdenklich.

 

»Ich habe bei meinem Rechtsanwalt ähnliche Wahrnehmungen gemacht«, sagte Anthony ruhig. »Im allgemeinen sind Juristen ja vorsichtige Leute, und die erste Folge der Vorsicht ist, daß man zunächst immer das Schlechtere vermutet.«

 

Mr. Frenchan stand auf.

 

»Kommen Sie mit. Wir wollen einmal sehen, ob es uns gelingt, ihn zu finden. Am ehesten treffen wir ihn jetzt in der Nähe des Gerichts. Mir liegt sehr viel daran, daß Sie ihn kennenlernen.«

 

Als sie durch den Empfangsraum gingen, sah ihn der Mann, der das Fremdenbuch führte, durchdringend an, aber Anthony kümmerte sich nicht weiter darum. Es war ihm durchaus nicht erwünscht, daß die Geldfrage in Gegenwart seines neuen, reichen Freundes erörtert wurde. Mr. Frenchan rief einen Wagen an, und nach kurzer Zeit hielten sie vor dem Portal des Zentralgerichtshofes.

 

»Sehen Sie, dort steht er«, sagte Mr. Frenchan. »Das ist aber ein unerwarteter Glückszufall.«

 

Ein schmächtiger, bleicher Mann, der düster dreinschaute, stand in nachdenklicher Haltung auf den Stufen der breiten, großen Treppe. Er trug einen tadellosen Zylinder und nickte Mr. Frenchan kurz zu. Man konnte sich leicht vorstellen, daß dieser Mann die ganze Welt von Verbrechern bevölkert glaubte. Er betrachtete die vielen Menschen, die durch die Türen eilten, mit dem Basiliskenblick eines zur Untätigkeit verdammten Henkers.

 

»Ich möchte Ihnen meinen Freund Newton vorstellen, Whipplewhite«, sagte Frenchan, und der Rechtsanwalt streckte den anderen seine kalte Hand entgegen. »Können Sie uns nicht irgendwohin begleiten – ich möchte Sie gerne sprechen.«

 

Mr. Whipplewhite schüttelte traurig den Kopf.

 

»Es tut mir leid, das ist nicht möglich«, erwiderte er kurz. »In einer halben Stunde habe ich einen Termin bei Gericht.«

 

»Ach Unsinn«, rief Mr. Frenchan laut. »Sie haben doch sicherlich einen Vertreter, der für Sie plädieren kann. Kommen Sie mit uns!«

 

Mr. Whipplewhite zögerte noch.

 

»Ich möchte es lieber nicht tun«, meinte er dann, als er auf die Uhr sah. »Fünf Minuten habe ich für Sie übrig, aber wir dürfen nicht weit von hier weggehen.«

 

»Wir werden schon ein Restaurant hier in der Nähe finden, und eine Tasse Tee wird Ihnen auch nicht schaden, Mr. Newton.«

 

Anthony war zwar so gesättigt, daß er im Augenblick nichts von Essen und Trinken hören wollte, aber er gab selbstverständlich seine Zustimmung, und bald saßen die drei in einem kleinen, nicht allzu hellen Restaurant, in dem Mr. Whipplewhite gewöhnlich verkehrte.

 

»Diesen Herrn kenne ich sehr gut von Südafrika her. Es ist Mr. Newton, ich habe Ihnen doch schon öfter von ihm erzählt.«

 

Anthony war über alles höchst verwundert. Es war offensichtlich, daß er mit einem anderen verwechselt wurde, aber er ließ ruhig alles über sich ergehen. Die dringende Frage des Mittagessens war ja nun zur Zufriedenheit gelöst, und ein reichliches Abendessen schien ihm auch zu winken, obwohl er weniger Hunger fühlte als seit langer Zeit. Über eins war er sich klar: er mußte große, wertvolle Gepäckstücke bringen, bevor er den argwöhnischen Portier soweit beruhigen konnte, daß er ihm den Schlüssel zu seinem Zimmer einhändigte. Das war eine Tatsache. Zweitens aber stand fest, daß Mr. Frenchan eine einflußreiche Bekanntschaft für ihn war.

 

»Mr. Frenchan, ich habe die Höhe des Vermögens Ihres Bruders genau festgestellt. Es beträgt nicht sechshundertvierzigtausend, sondern nur fünfhundertzwölftausend Pfund und sechs Schilling.«

 

Mr. Frenchan schüttelte nur unwillig den Kopf.

 

»Ich wünschte, es wären überhaupt nur sechs Schilling«, sagte er böse.

 

Der Rechtsanwalt wurde ungeduldig.

 

»Ich weiß, daß Sie mich für närrisch halten«, fuhr Mr. Frenchan fort, »aber Walter und ich waren sehr gute Freunde, und so verrückt auch seine letzten Bestimmungen sein mögen, ich habe die Absicht, sie genau auszuführen.«

 

»Aber warum übergeben Sie denn nicht das Geld der Kirche und überlassen ihr alles Weitere?« fragte Mr. Whipplewithe. »Das ist die einfachste Lösung, und sie wird Ihnen eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen. Bei der Kirchenverwaltung weiß man doch viel besser mit den Verhältnissen der Gemeindemitglieder Bescheid als Sie.«

 

»Das würde mit den Testamentsbestimmungen meines Bruders nicht übereinstimmen. In seinem letzten Willen steht doch ganz ausdrücklich: Am 1. Januar jedes Jahres soll ein Fünftel meines Vermögens einer vertrauenswürdigen, solventen Persönlichkeit übergeben werden, damit es an bedürftige Mitglieder der altmethodischen Gemeinde verteilt wird.«

 

»Am 2. Januar«, verbesserte ihn der Rechtsanwalt. »Aber Sie haben den Absatz nicht ganz richtig zitiert, Mr. Frenchan. Es steht dort: Ein Fünftel meines Vermögens soll sofort nach meinem Tode …«

 

»Selbstverständlich. Das zweite Fünftel wird dann am nächsten 2. Januar verteilt. So hatte ich es auch gemeint«, erklärte Mr. Frenchan.

 

Mr. Whipplewhite lehnte sich im Stuhl zurück und spielte mit einem Zahnstocher. Seine Blicke schweiften ins Leere.

 

»Ich möchte nur wissen«, sagte er langsam, »wo Sie eine achtbare, solvente Persönlichkeit finden wollen, der man so große Geldsummen anvertrauen kann? Es ist ja ganz gut und schön, daß Sie das Geld dem Testament gemäß verteilen wollen. Aber wie wollen Sie denn wissen, ob das Geld nicht in die Hände irgendeines Schwindlers fällt? Ich weiß schon.« Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Sie wollen sagen, daß ich ja hier an Ort und Stelle bin und mich darum kümmern kann, daß das Geld richtig angewandt wird. Aber Sie müssen doch einsehen, daß ich ein sehr beschäftigter Rechtsanwalt bin und unter keinen Umständen die volle Verantwortung dafür übernehmen kann, daß jeder Pfennig des Geldes Ihres Bruders an unterstützungsbedürftige Altmethodisten gezahlt wird. Das kann man doch unmöglich von mir verlangen. Sie brauchen einen vermögenden Mann, dem man restlos vertrauen kann, und der auch eigenes Vermögen hat. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, würde ich ruhig sagen: Übertragen Sie ihm die ganze Sache und gehen Sie nach Südafrika zurück. Aber sollten Sie einen solchen Mann nicht finden, dann müssen Sie für die nächsten fünf Jahre in England bleiben, mein lieber Frenchan, ob Sie sich nun darüber ärgern oder nicht. Das muß Ihnen doch Ihr eigener Verstand sagen. Dann müssen Sie eben selbst die Verteilung des Geldes überwachen.«

 

»Das ist ganz ausgeschlossen«, erwiderte Mr. Frenchan nachdrücklich. »Außerdem bin ich doch selbst kein Altmethodist.« Er sah auf Anthony. »Sehen Sie, hier ist ein Mitglied dieser Gemeinde.«

 

»Sie wollen doch aber nicht damit sagen, daß Sie diese schwere Verantwortung einem jungen Mann übertragen wollen, der erst noch vorwärtskommen will? Der vielleicht nicht einmal die Zeit und die Neigung hat, sich solchen mildtätigen Aufgaben zu widmen?«

 

Anthony hörte schweigend zu und verstand allmählich die Zusammenhänge.

 

»Mr. Whipplewhite«, sagte Frenchan scharf, »ich kann Ihnen nicht gestatten, daß Sie beleidigend von Mr. Newton sprechen. Sie kennen mich nun schon lange Jahre und wissen, daß ich mich in meinem Urteil über Menschen noch nie getäuscht habe. Ich kenne Mr. Newtons Charakter ebensogut wie den Ihrigen.«

 

»Ich gebe gern zu, daß Sie gewöhnlich das Richtige treffen«, meinte der Rechtsanwalt zögernd. »Aber hier handelt es sich um ein etwas phantastisches, wenn ich so sagen soll, um ein verrücktes Testament, dessen einzelne Bestimmungen nur von einem –«

 

»Nur von einem Ehrenmann ausgeführt werden können, so wollten Sie sicher sagen«, unterbrach ihn Mr. Frenchan.

 

Aber der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf.

 

»Die Ehrenhaftigkeit ist ja gut und schön«, sagte er mürrisch. »Aber vor allen Dingen ist bares Geld notwendig. Wenn dieser Herr uns ein Vermögen von zehntausend Pfund nachweisen kann …«

 

Anthony Newton wagte kaum, einen solchen Glückszustand auszudenken. Er war etwas heiser, als er sich jetzt in die Unterhaltung mischte.

 

»Wenn Sie sich die Mühe machen und zu meiner Bank mitkommen wollen …« begann er, zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich weiß nicht, ob ich einen solchen Auftrag annehmen kann. Bitte bestehen Sie nicht darauf, Mr. Frenchan. Aber sollten Sie irgendwelchen Zweifel an meinen Vermögensverhältnissen haben, dann begleiten Sie mich bitte zur Bank von England, und sprechen Sie mit einem der Direktoren. Ich zweifle nicht, daß Sie dann in dieser Beziehung beruhigt sein werden.«

 

»Was habe ich gesagt?« rief Mr. Frenchan triumphierend. »Wollen Sie so liebenswürdig sein und Mr. Newton zur Bank begleiten?«

 

»Ich habe jetzt nicht die Zeit, nach Burlington Gardens zu gehen«, sagte der Rechtsanwalt. »Ich sagte Ihnen doch schon vorhin, daß ich nachher einen Termin habe.« Bei diesen Worten erhob er sich. »Aber wenn Mr. Newton in der Lage ist, bis heute abend fünftausend Pfund als sein Vermögen nachzuweisen, dann will ich als Testamentsvollstrecker Ihres Bruders Ihrer Wahl zustimmen.«

 

»Sie sind aber schrecklich kleinlich. Ich möchte meinen Freund nicht um dergleichen Dinge bitten.«

 

»Aber das hat ja nichts zu sagen«, entgegnete Anthony höflich. »Ich halte den Einwand, den Mr. Whipplewhite macht, für vollkommen berechtigt. Und wenn Sie mir eine Zeit und einen Ort angeben, dann will ich Ihnen gerne die Summe von fünftausend Pfund bringen. Aber ich kann sie nicht als Bürgschaft hinterlegen.«

 

»Ich habe ja auch gar nicht die Absicht, das zu verlangen«, erwiderte Mr. Whipplewhite. »Es genügt mir, wenn ich die Summe in Ihrem Besitz sehe.«

 

Anthony atmete tief.

 

»Es ist gerade noch genügend Zeit, zur Bank zu gehen. Also wo soll ich Sie wieder treffen?«

 

»Kommen Sie um halb acht zum Restaurant Cambrai in der Regent Street. Ich bin leider nicht früher fertig. Paßt Ihnen diese Zeit, Frenchan?«

 

»Ich protestiere eigentlich gegen die ganze Abmachung«, sagte Mr. Frenchan. »Aber wenn Mr. Newton so liebenswürdig ist, auf Ihren Vorschlag einzugehen, der meiner Meinung nach ebenso exzentrisch ist wie das Testament meines Bruders, dann habe ich schließlich gar nichts dagegen.«

 

Anthony eilte aus dem Café. Er hätte gerne vor den Augen seines neuen Freundes ein Mietauto bestiegen und dem Chauffeur den Auftrag gegeben, zur Bank von England zu fahren, aber er hatte ja nicht einmal mehr das Geld zu einer Autobusfahrt. Er ging also zu Fuß durch den Park und sah sich nach Zeitungen um, die die Leute weggeworfen hatten. Als er einige aufgesammelt hatte, ließ er sich auf einer einsamen Bank nieder und schnitt das Papier mit seinem Taschenmesser in gleichmäßig lange Streifen, legte sie zusammen und steckte sie in seine etwas abgetragene Brieftasche, die dadurch dick und umfangreich wurde.

 

Er war so eifrig bei seiner Arbeit, daß er nicht bemerkte, wie ein Mann quer über den Rasen auf ihn zukam und ihn aufmerksam betrachtete.

 

»Sie sammeln wohl Presseausschnitte?«

 

Anthony schaute auf und war sich über den Beruf des Fremden sofort klar. Er sah aus wie ein Gardefeldwebel in Zivil oder wie ein Detektiv-Sergeant von Scotland Yard in Alltagskleidung.

 

Anthony nickte vergnügt.

 

»Sie haben recht geraten.«

 

»Was haben Sie denn damit vor?« fragte der andere etwas offizieller.

 

»Jedes dieser Papiere stellt eine Hundertpfundnote vor«, entgegnete Anthony.

 

Der Detektiv setzte sich neben ihn.

 

»Es scheint so, als ob wir beide besser miteinander bekannt werden müßten«, meinte er.

 

»Das ist wohl möglich. Sie sind doch ein Beamter von Scotland Yard?«

 

»Ganz richtig – aber wie kommen Sie darauf?«

 

»Arbeiten zur Zeit viele Kautionsschwindler in London?«

 

»Soviel ich weiß, gibt es vier Banden – ist jemand hinter Ihnen her?«

 

Anthony nickte.

 

»Ja, dann müssen wir Sie wohl unter Beobachtung stellen«, sagte der Beamte.

 

»Um Gottes willen, machen Sie das nicht!« erwiderte Anthony erschrocken. »Sagen Sie mir lieber, wie diese Leute vorgehen.«

 

»Sie arbeiten alle nach derselben Methode. Gewöhnlich haben sie Geld an Arme und Bedürftige zu verteilen. Jemand hinterläßt zu diesem Zwecke Geld, und sie suchen nach einem ehrenhaften Mann, der sich in guten pekuniären Verhältnissen befindet und nicht allzu schlau ist, so daß man ihm das Geld anvertrauen kann, ohne fürchten zu müssen, daß er es bei Sektgelagen mit Choristinnen und Schauspielerinnen durchbringt.«

 

»Das ist recht wenig originell«, meinte Anthony lächelnd.

 

»Wenig originell und habgierig. Die Leute spekulieren im allgemeinen auf die Schlechtigkeit und Habgier ihrer Mitmenschen. Will man Sie etwa auch auf die Art und Weise hereinlegen?«

 

Anthony nickte.

 

»Ich bin ein junger Mann, der eben aus Südafrika zurückgekommen ist und einiges Geld dort verdient hat«, sagte er einfach. »Heute abend soll ich ihnen fünftausend Pfund zeigen, um meine Vertrauenswürdigkeit nachzuweisen.«

 

Der Detektiv sah schmunzelnd auf die Brieftasche.

 

»Aha, nun verstehe ich«, erwiderte er und wandte sich zum Gehen. »Und sollten Sie Unannehmlichkeiten bekommen, so will ich Ihnen auf alle Fälle meine Karte geben.«

 

Anthony kam zur verabredeten Zeit zu dem Treffpunkt. Der Rechtsanwalt wartete schon auf ihn. Er war in die Lektüre einer Abendzeitung vertieft und hatte ein Glas Absinth vor sich stehen.

 

»Ein gefährliches Getränk, Mr. Newton«, meinte er. »Aber es wirkt sehr wohltuend. Ich leide an schlechter Verdauung. Haben Sie inzwischen Mr. Frenchan gesehen?«

 

Anthony schüttelte den Kopf.

 

»Ein merkwürdiger Mann, aber durchaus glaubwürdig und ehrlich«, sagte der Rechtsanwalt. »Wie er sich bisher vor Verlusten geschützt hat, mag der Himmel wissen. Er vertraut gleich jedem ersten besten, ich möchte fast sagen, jedem hergelaufenen Kerl auf der Straße. Ich hoffe, daß Sie mir nicht böse sind, Mr. Newton, aber ein Rechtsanwalt muß nun einmal scharf vorgehen.«

 

»Das begreife ich vollkommen«, entgegnete Anthony.

 

In diesem Augenblick trat Mr. Frenchan ein. Zuerst sprachen sie über ein Ereignis, von dem in allen Zeitungen und Extrablättern berichtet wurde, dann seufzte Mr. Frenchan plötzlich auf.

 

»Nun wollen wir zum Geschäft kommen und sehen, daß wir möglichst schnell damit fertig werden.«

 

Er zog eine stattliche Brieftasche heraus und entnahm ihr einen dicken Stoß Banknoten.

 

»Aber warum in aller Welt haben Sie denn das mitgebracht?« fragte der Rechtsanwalt.

 

»Weil ich gar nicht einsehe, warum Mr. Newton uns trauen soll, wenn Sie ihm mißtrauen«, sagte Frenchan mit Nachdruck. »Ich vertraue Mr. Newton blindlings.«

 

»Aber sprechen Sie doch nicht so laut«, warnte der Rechtsanwalt. »Es ist doch gar kein Grund dazu vorhanden, Spektakel zu machen.«

 

»Mr. Newton traut mir ebenso«, fuhr Mr. Frenchan etwas ruhiger fort.

 

»Haben Sie das Geld mitgebracht?« wandte sich der Rechtsanwalt geschäftsmäßig an Anthony.

 

Mr. Newton zog seine Brieftasche heraus.

 

»Was habe ich Ihnen gesagt?« rief Frenchan. »Das ist ein Mann von Vermögen, ein Mann von Ehre, Whipplewhite. – Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« Er lehnte sich über den Tisch zu Anthony.

 

»Aber natürlich!«

 

Mr. Frenchan warf ihm seine Brieftasche in den Schoß.

 

»Nehmen Sie sie, gehen Sie fünf Minuten hinaus und kommen Sie dann wieder zurück.«

 

»Aber warum denn?« fragte Anthony.

 

»Ich will damit nur zeigen, daß ich Ihnen traue. Und ich darf dann voraussetzen, daß Sie mir gleiches Vertrauen entgegenbringen.«

 

»Ganz bestimmt«, sagte Anthony und nahm die Brieftasche an sich. »Aber sie enthält viel Geld, zählen Sie es bitte hier vor meinen Augen nach.«

 

»Das ist nicht notwendig«, erwiderte Mr. Frenchan überlegen. Aber trotzdem nahm er Anthony die Tasche aus der Hand, öffnete sie, zog ein Paket Banknoten heraus und drehte die beiden ersten Scheine um. Anthony sah, daß es wirklich Banknoten waren, und zwar Hundertpfundnoten. Darunter würden wahrscheinlich Fälschungen stecken, vermutete er. Aber die beiden obersten waren zweifellos echt.

 

»Ich tue es nicht gerne«, sagte Anthony, als ihm die Brieftasche wieder gereicht wurde. »Sie kennen mich doch nicht genügend.«

 

»Es wäre gut, wenn Sie den Vorschlag von Mr. Frenchan annähmen«, entgegnete der Rechtsanwalt höflich.

 

Anthony ließ also die kleine Ledermappe in seine Tasche gleiten und ging langsam aus dem Restaurant. Es fuhr gerade ein Mietauto vorüber.

 

»Halten Sie nicht!« rief er dem Chauffeur zu, als er auf den langsam fahrenden Wagen sprang. »Bringen Sie mich zum Victoria-Bahnhof!«

 

Während der Wagen durch die dunklen Straßen fuhr, nahm er die Tasche heraus und untersuchte den Inhalt. Die beiden Hundertpfundnoten waren tatsächlich echt.

 

In dem Restaurant warteten Mr. Whipplewhite und Mr. Frenchan auf Anthonys Rückkehr.

 

»Ein gescheiter Gimpel!« sagte Mr. Frenchan.

 

»Das sind sie doch alle«, erwiderte der andere verächtlich. »Nur die kann man noch leimen!«

 

Plötzlich fuhr er in die Höhe und sah einem Herrn von militärischem Aussehen ins Gesicht.

 

»Nun, warten Sie auf ein Opfer?«

 

»Ich weiß nicht, was Sie wollen, Sergeant. Wir warten hier auf einen Freund«, entgegnete Frenchan.

 

»Da werden Sie lange warten können«, meinte Sergeant Maud von Scotland Yard. »Ich habe den jungen Mann schon den ganzen Nachmittag beobachtet.«

 

Er lachte, daß seine Zähne zu sehen waren, und weidete sich an der Bestürzung und dem Schrecken der beiden anderen.

 

»Bei einer solchen Gelegenheit, lieber Herr, stehen alle früheren Polizisten im Himmel auf und singen Halleluja!«

 

10. Kapitel

 

10. Kapitel

 

Der Witzbold

 

Mr. Anthony Newton hatte sich über manche Erfahrung gefreut, aber manche hatte er auch stillschweigend ertragen müssen. Seine Wahl in das Parlament hatte ihm großes Vergnügen bereitet, denn die Wählerschaft war erstaunt, als sie plötzlich im Unterhaus durch einen Mann vertreten war, von dessen Existenz sie bisher noch nichts gewußt hatte. Aber er hatte auch die Petition über sich ergehen lassen müssen, daß ihm sein Sitz genommen werden sollte, und nach einer aufregenden und nicht ganz angenehmen Woche in dem bedeutendsten Parlament der Welt hatte er seinen Platz aufgegeben.

 

»Es ist immer besser, freiwillig zu gehen, mein alter Freund«, sagte sein Rechtsanwalt, »als hinausgeworfen zu werden. Und obendrein drohte Ihnen auch noch eine Klage wegen Komplotts.«

 

Aber Anthony Newtons Wahl ins Parlament hatte wenigstens ein glänzendes Resultat – sein Name wurde dadurch äußerst bekannt. Die Folgen dieses Abenteuers waren in mancher Beziehung belustigend und auch vorteilhaft, denn Lammer-Green wurde hierdurch auf ihn aufmerksam. Anthony saß in der Halle seines Hotels und rauchte nach Tisch eine Zigarre, als die nähere Bekanntschaft begann. Ein paar große Hände legten sich plötzlich auf seine Schultern, er wurde buchstäblich von seinem Stuhl in die Höhe gehoben, und eine rauhe Stimme sagte zu ihm:

 

»Geben Sie mir meinen Schilling wieder!«

 

Dann wurde er heftig gerüttelt, und man hörte eine Münze auf den Boden fallen.

 

»Ich danke Ihnen auch«, sagte die Stimme wieder, und Mr. Lammer-Green bückte sich, um ein Schillingstück aufzunehmen, das aus Anthonys Hosen gefallen war.

 

Vorher hatte er es ihm nämlich zwischen Hals und Kragen gesteckt und ihn dann so lange geschüttelt, bis es wieder auf den Flur fiel.

 

Anthony schaute wütend in das grinsende Gesicht Mr. Lammer-Greens. Er hätte ihn am liebsten umgebracht.

 

»Ach, Sie sind es!« rief er dann, denn erkannte den Witzbold und Spaßmacher von früher her oberflächlich.

 

Der ehrenwerte Mr. Lammer-Green war ein langer, knochiger, junger Mann, der keinen anderen Lebenszweck kannte, als Witze und Possen zu machen und seinen Spaß mit einer harmlosen Welt zu treiben. Früher war er einmal an Bord des französischen Kreuzers »Arlot« in der Verkleidung eines Sultans von Muskwash erschienen. Der Admiral war auch darauf hereingefallen und hatte zu seinen Ehren einen königlichen Salut abfeuern lassen.

 

Ein andermal war er mit einer großen Menge von Arbeitern erschienen und hatte die Fahrstraße von Piccadilly Circus aufgerissen, kurz vor Schluß der letzten Theatervorstellungen. Dadurch hatte er den Verkehr im Herzen Londons auf zwölf Stunden lahmgelegt. Auch hatte er schon drei Bürgermeister von drei Provinzstädten verhaftet und sie in einem extra für diese Zwecke gebauten schwarzen Gefangenenwagen nach London gebracht.

 

Er war der Sohn eines Lords und sollte später einmal den Titel erben. Außerdem war er sehr reich und Junggeselle.

 

»Man hat Leute schon für Geringeres als das totgeschlagen«, sagte Anthony etwas böse. »Na, nehmen Sie Platz, Sie lange, nutzlose Latte!«

 

Sie hatten sich, seit sie im Kriege zusammengekommen waren, nicht mehr getroffen. Anthony erwähnte es dem anderen gegenüber.

 

»Mit Krieg mag ich nicht gern etwas zu tun haben«, erwiderte Mr. Green entschieden. »Die Sache macht eigentlich keinen Spaß. Ich muß Frieden haben. Wissen Sie schon, welche großartige Sache ich in Greenwich angestellt habe? Beinahe hätte ich drei Monate Gefängnis dafür bekommen! Donnerwetter, das war einmal ein Vergnügen! Ich habe einen Kerl gemietet und ihm den Auftrag gegeben, auf das große Fernrohr des Observatoriums hinaufzuklettern und kleine, schwarze Flecke auf die Linse zu machen. Verstehen Sie, alter Freund, das waren dann Sonnenflecke!«

 

Er lachte laut auf und schlug sich vor Begeisterung auf die Knie.

 

Anthony sah ihn verwundert an.

 

»Ich kann gar nicht verstehen, wie ein großer, verständiger Mensch mit so viel Geld seine Zeit damit zubringen kann, nur dummes Zeug zu machen. Warum zum Teufel, heiraten Sie denn nicht und lassen sich irgendwo auf dem Lande nieder?«

 

»Das paßt mir ganz und gar nicht in den Kram.« Lammer-Green schüttelte sich. »Wissen Sie, ich kann Weiber nicht leiden. Ich bekomme immer eine Gänsehaut, wenn ich davon höre. Eine Frau würde mich bald unter dem Pantoffel haben und mich beherrschen. Das ist meine schwache Seite.«

 

Plötzlich begann er wieder zu lachen.

 

»Ist doch ein merkwürdiger Zufall, daß Sie ausgerechnet das Heiraten erwähnen. Ich habe nämlich von Ihnen gehört.«

 

»Von mir?« fragte Anthony verwundert. »In Verbindung mit Heiraten?«

 

Mr. Green nickte heftig.

 

»Sie werden ja den Rechtsanwalt – so eine Art Heiratsmakler –, den Sie an der Nase herumführten, noch nicht vergessen haben?«

 

Anthony konnte sich sehr gut darauf besinnen.

 

»Ich habe auch von dem Spaß erfahren, den Sie sich mit der Wahl gemacht haben. Ich habe es mir überlegt und zu mir selbst gesagt: ›Diesen verrückten Kerl mußt du dir einmal ansehen.‹«

 

Nun war Anthony Newton alles andere, nur kein Spaßvogel. Er betrachtete die Methoden und Praktiken, durch die sich Mr. Lammer-Green einen Namen gemacht hatte, als kindisch und verächtlich. Die beiden hatten zwar zusammen im selben Regiment gedient, aber man hätte sie unter keinen Umständen Freunde nennen können. Green wurde als ein liebenswürdiger Narr angesehen, trotzdem er auch beachtenswerten Mut besaß. Er war der letzte, dessen Bekanntschaft Anthony erneuern wollte. Selbst in den Tagen, als es ihm so schlecht ging, war ihm niemals der Gedanke gekommen, sich an ihn um Hilfe zu wenden.

 

»Ich muß Ihnen einmal etwas erklären, – ich habe nämlich eine große Sache vor.« Mr. Green sprach jetzt ganz leise. »Das wird ein Hauptspaß – das ist noch viel besser als die Geschichte mit dem Admiral. Unter allen Umständen ist es schon eine gute Vorbedeutung, daß Sie etwas von Heiraten erwähnt haben. Kennen Sie den alten Gaggle?«

 

Anthony schüttelte den Kopf.

 

»Der Mann hat Millionen in Margarine verdient«, erklärte Green schnell. »Er hat einen Landsitz in Oxton, ist geadelt worden und besitzt eine Tochter mit einem schrecklichen Gesicht im Alter von dreißig Jahren. Wenn die in London über die Straße geht, hält sie den ganzen Verkehr auf. Sie ist ganz fürchterlich, mein alter Junge, geradezu häßlich. Färbt obendrein noch ihr Haar und hat Füße so groß wie Ruderboote. Der alte Gaggle ist ganz verrückt und will sie an einen alten Aristokraten verheiraten. Haben Sie auch alles verstanden?«

 

Seine Augen glänzten vor Erregung, und er quietschte vor Vergnügen, als er an seinen herrlichen Plan dachte. Anthony hatte schon davon gehört, daß sich Mr. Lammer-Green die Hilfe anderer Leute verschaffte, aber er hatte sich auch in seinen wildesten Träumen nie eingebildet, daß er sich an ihn wenden würde, und war begreiflicherweise sehr neugierig. Wenn Lammer-Green als Endziel seiner Pläne irgendeinen rohen Witz betrachtete, so liefen alle Pläne Anthony Newtons auf Geldverdienen hinaus.

 

»Was haben Sie denn vor?« fragte er. Aber es dauerte noch einige Zeit, bevor Green zu lachen aufhörte und sich wieder so weit in der Gewalt hatte, daß er antworten konnte.

 

»Der alte Gaggle ist scharf auf Lords. Er hat ganz offen erklärt, daß er seiner Tochter eine halbe Million Mitgift gibt, wenn sie einen wirklichen Lord heiratet. Mein alter Herr hat auch von der Sache gehört und mir sofort die Neuigkeit übermittelt – er liebt auch einen kräftigen Spaß.«

 

Der Vater Lammer-Greens war Lord Latherton, der auch noch andere Dinge als die Witze seines Sohnes liebte, wenn das Gerücht nicht log.

 

»Ich habe folgenden Plan«,.sagte Mr. Green vertraulich. »Ich werde in Begleitung meines Sekretärs – den sollen Sie spielen, Newton, alter Knabe – in der Nachbarschaft des Landsitzes vom alten Gaggle eine Autotour machen und werde in der Nähe des Hauses krank werden. Sie gehen hinein, bitten um Hilfe und lassen dabei die Worte ›Seine Hoheit‹ fallen – haben Sie mich auch verstanden? Der alte Gaggle wird uns dann in sein Haus einladen, – ich werde in einem fremden Akzent sprechen, und der alte Gaggle wird sich sagen: Aha, das ist ein fremder Prinz, den wollen wir uns für Gertie oder wie seine Tochter sonst heißen mag, angeln! Ich werde dann erwidern: ›O ja, ich will mich in aller Stille trauen lassen, niemand darf um die Sache wissen, sonst werde ich meinen Thron verlieren.‹ Haben Sie verstanden?«

 

»Sehr gut«, sagte Anthony.

 

»Der Papa, der Prinz und Gertie werden dann zusammen zu irgendeinem Hause fahren, wo ein Geistlicher wartet. Sie müssen irgendeinen falschen Pfarrer besorgen, einer von Ihren Kameraden oder Freunden wird Ihnen zuliebe die Rolle schon übernehmen. Dann wird der Prinz zur Stadt fahren und geheimnisvoll verschwinden. Alle Zeitungen sind dann voll davon. ›Romantische Hochzeit. Das mysteriöse Verschwinden des prinzlichen Bräutigams. Wo ist Prinz Opscotch?‹ Was denken Sie von dem Spaß?«

 

»Und was soll denn mit mir geschehen? Soll ich auch verschwinden?« fragte Anthony trocken.

 

Er wollte eigentlich die ganze Sache ablehnen und nichts mit diesem phantastischen Vorhaben zu tun haben, das eigentlich recht roh und niederträchtig war. Anthony war Damen gegenüber immer sehr höflich, selbst wenn sie Füße wie Ruderboote hatten. Und er war auch etwas empört darüber, daß dieser verrückte Spaßmacher so selbstverständlich annahm, daß er ihm bei seinen dummen Streichen helfen würde.

 

Aber er war auch ein schneller Denker und wies infolgedessen den Auftrag nicht zurück.

 

»Das ist ein sonderbarer Plan. Aber er ist doch etwas grausam für die junge Dame«, sagte er vermittelnd.

 

»Ach was«, entgegnete Lammer-Green verächtlich. »Das tut gar nichts. Mein lieber, alter Freund, das wird mein Hauptspaß. Das ist eine ganz grandiose Idee, die größte, die mir jemals gekommen ist. Die ganze Welt wird darüber sprechen. Ich werde eine größere Sensation hervorrufen als der deutsche Schneider, der vorgab, Kaiser Wilhelm zu sein!«

 

»Ich werde mir die Sache noch überlegen.«

 

Als Mr. Green am nächsten Morgen Anthony wieder besuchte, erhielt er eine Zusage.

 

Sir Joshua Gaggle lebte auf seinem Gut in Oxton Manor. Es war ein alter Besitz, der früher einem normannischen Freiherrn gehörte.

 

Aber Sir Joshua hatte die Besitzung weniger wegen ihres Alters als vielmehr wegen des klingenden Titels gekauft.

 

Matilda Gaggle war eine schlanke Dame im Alter von neunundzwanzig Jahren. Sie hatte eine rötliche, gesunde Gesichtsfarbe, die man schließlich bei einem liebenswürdigen, großzügigen Charakter noch ertragen hätte, aber Matilda besaß auch eine scharfe Zunge und war verbittert, weil noch niemand um ihre Hand angehalten hatte.

 

Sie wollte aber nicht den ersten besten nehmen, da sie von einem gewissen Ehrgeiz besessen war.

 

»Ich glaube nicht, daß wir es hier auf dem Lande zu etwas bringen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Es wäre besser, wenn wir die Hälfte der Zeit in Hampstead wohnten, Vater. Durch deinen Adelstitel könntest du wenigstens in Hampstead eine gewisse Rolle spielen, aber diese Gegend wimmelt ja von Lords und ihrem Anhang, und niemand hält etwas von einem gewöhnlichen Sir. Du weißt doch, welche Erfahrungen wir gemacht haben. Wenn wir sie zum Essen eingeladen haben, waren sie immer irgendwo anders verabredet.«

 

»Es wird schon jemand kommen, mein Liebling«, meinte Sir Joshua hoffnungsvoll. »In Hampstead gibt es erst recht keinen richtigen Umgang für uns. Dort leben meistens nur gewöhnliche Leute, mit denen es sich nicht lohnt, zu verkehren.«

 

»Aber hier ist überhaupt niemand«, erwiderte Matilda ärgerlich.

 

Vater und Tochter saßen im Wohnzimmer, von dem aus sie den Park überblicken konnten. Beide sahen zugleich einen fremden Herrn, der die Zufahrtsstraße entlangkam.

 

Er war jung und tadellos gekleidet, auch sah er sehr hübsch aus. Matilda stand auf und ging ans Fenster.

 

»Wer mag das sein?« fragte sie, als Sir Joshua an ihre Seite trat.

 

»Ich weiß nicht, wer das sein könnte«, entgegnete er stirnrunzelnd und eilte in die Halle, um die Ankunft des Fremden zu erwarten.

 

»Es tut mir furchtbar leid, daß ich Ihnen Unannehmlichkeiten mache«, sagte dieser bescheiden, »aber Seine Hoheit … ich meine, mein Herr hat einen leichten Ohnmachtsanfall erlitten, und ich möchte Sie fragen, ob Sie uns erlauben würden, eine Weile hier zu bleiben?«

 

»Aber gewiß, natürlich!« antwortete Sir Joshua erregt. »Bitten Sie seine Hoheit … wie darf ich ihn denn nennen?«

 

Anthony biß sich auf die Lippen.

 

»Sagte ich Hoheit – ach, wie indiskret von mir.« Offenbar war es ihm peinlich, daß er sich versprochen hatte. »Der Name meines Herrn ist Mr. Smith …«

 

»Würden Sie dann so liebenswürdig sein, Seiner … Mr. Smith zu sagen, daß er uns willkommen ist?«

 

Als Anthony gegangen war, eilte der aufgeregte Sir. Joshua strahlend ins Wohnzimmer zurück.

 

»Es ist ein Prinz, Tilda, eine Hoheit – nein, nicht der Mann, der an die Tür kam. Das ist nur sein Angestellter, oder so etwas Ähnliches. Ich meine den anderen. Er hat draußen einen Ohnmachtsanfall gehabt und ließ anfragen, ob er einige Zeit hereinkommen könnte, um sich auszuruhen.«

 

Miss Gaggle erhob sich schnell und ging rasch zur Tür. Ein prächtiges Auto fuhr die Zufahrtsstraße herauf. Der junge Mann, den sie eben gesehen hatte, saß am Steuer, und hinten im Wagen lehnte, ganz in seinen Pelz gewickelt, ein großer Herr von vornehmem Äußeren.

 

Er hatte die Augen geschlossen, und als der Wagen hielt, half ihm Anthony beim Aussteigen, denn er schien sehr schwach und angegriffen zu sein.

 

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, gnädiges Fräulein«, sagte er leise. »Wir werden Ihre Freundlichkeit niemals vergessen.«

 

Tilda machte einen Hofknicks.

 

»Seien Sie versichert, daß wir es uns zur hohen Ehre rechnen, Euer … Mr. Smith«, sagte sie beinahe atemlos.

 

Der fremde Herr wurde in das Gastzimmer gebracht, und einige Minuten später kam Anthony mit sehr ernstem Gesicht die Treppe herunter.

 

»Ich fürchte, daß wir Ihre Gastfreundschaft diese Nacht in Anspruch nehmen müssen – ich kann einfach nicht zulassen, daß wir weiterfahren. Ach nein, er mag keinen Arzt sehen«, fügte er hinzu, als Sir Joshua diesen Vorschlag machte.

 

Sir Joshua hatte die Freude, daß sein hoher Gast mehrere Tage bei ihm blieb. Es waren für ihn hoffnungsfrohe, für seine Tochter angenehme Tage.

 

»Ich weiß noch nicht, ob er wirklich ein Prinz ist oder nicht«, sagte Matilda zu ihrem Vater, als sie allein in seinem Arbeitszimmer waren. »Aber er ist irgend jemand. Ich habe genügend Leute gesehen, die nichts vorstellten in der Welt, und ich weiß das. Er ist eine große, stattliche Erscheinung, und ich glaube, daß man ihn leicht leiten kann. Er ist ganz verliebt in mich.«

 

In der Abgeschlossenheit seines eigenen Zimmers sprach Mr. Lammer-Green über seine Hoffnungen und Befürchtungen zu Anthony.

 

»Ich hasse Frauen, die immer das Regiment führen, wollen, Newton. Sie ist das herrschsüchtigste Mädchen, dem ich jemals begegnet bin. Es wäre besser, wenn die ganze Sache schon vorbei wäre, ich fühle mich schon gelangweilt. Ist es Ihnen gelungen, einen Geistlichen aufzutreiben?«

 

Anthony nickte.

 

»Dann werde ich ihr morgen meine Erklärung machen. Wie die wohl erstaunt sein wird!«

 

»Das glaube ich auch«, pflichtete Anthony bei.

 

Am Abend saß Anthony noch spät bei Sir Joshua, der nach einigen einleitenden Phrasen auftaute.

 

»Sehen Sie einmal, Mr. Newton«, sagte er, denn Anthony hatte seinen richtigen Namen angegeben, »ich bin ein einfacher Mann, und ich möchte einmal offen mit Ihnen reden. Wer ist denn eigentlich Seine Hoheit?«

 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

 

»Ist er – irgend jemand – ich meine, eine Persönlichkeit mit einem Titel?«

 

Anthony bejahte.

 

»Mehr wollte ich ja auch nicht wissen. Hat er Vermögen?«

 

»Er ist steinreich«, erwiderte Anthony prompt, aber Sir Joshua schien wenig damit zufrieden zu sein.

 

»Ich hoffte, daß er nicht über große Mittel verfügte. Im übrigen muß ich Ihnen sagen, daß meine Tochter für ihn schwärmt. Er ist doch noch nicht verheiratet?«

 

»Nein.«

 

»Haben Sie eigentlich einigen Einfluß auf ihn?«

 

»O ja, ich glaube schon.«

 

Nun ging Sir Joshua zum letzten Angriff über.

 

»Um es geradeheraus zu sagen, wenn Sie es fertigbringen, daß er meine Tochter heiratet, dann können Sie schon ein paar tausend Pfund verdienen!«

 

Anthony sah den Versucher lange Zeit an, bevor er antwortete.

 

»Auch ich bin ein Geschäftsmann«, sagte er schließlich. »Geben Sie mir Ihr Versprechen schriftlich.«

 

Sir Joshua streckte seine Hand aus.

 

»Geschäft ist Geschäft«, sagte er geheimnisvoll. Dann ging er zu seinem Schreibtisch und brachte unter gewissen Schwierigkeiten ein Dokument zustande, das unmißverständlich und klar abgefaßt war.

 

»Genügt das?«

 

Anthony las es durch und nickte.

 

»Wenn sich die Angelegenheit durchführen läßt, so werden Sie wohl verstehen, daß die Hochzeit in möglichst unauffälliger Weise vor sich gehen muß? Es wäre möglich, daß mein Freund unter einem angenommenen Namen heiraten muß.«

 

»Das habe ich mir auch schon alles überlegt«, erwiderte der geschäftstüchtige Sir Joshua. »Ich kenne auch ein wenig das Gesetz. Wenn man im Handel vorwärtskommen will, so muß man schon rechtskundig sein. Und es ist mir bekannt, daß eine Eheschließung eine Eheschließung bleibt, ob sie nun auf den eigenen oder auf einen anderen Namen vollzogen ist. Ich weiß, daß er irgend jemand ist, denn ich habe meinen Diener neulich beauftragt, seine Briefe durchzusehen. Ihrer Meinung nach habe ich mir sicherlich zuviel herausgenommen, aber ich will lieber Ihren Vorwurf ertragen, als ein Risiko auf mich nehmen. Mein Diener sah also einen Brief mit einer Krone und der Anrede: Mein lieber Sohn.«

 

Anthony war einen Augenblick bestürzt. Offenbar war Sir Joshua nicht so dumm, wie sich Mr. Lammer-Green einbildete.

 

»Ich erwarte nicht, einen Prinzen als Schwiegersohn zu bekommen«, fuhr der kleine, untersetzte Mann fort. »Sollte dies der Fall sein, so wäre ich natürlich aufs freudigste überrascht. Bringen Sie nur die Hochzeit zustande, mein Junge, dann werde ich Ihnen zweitausend Pfund auszahlen.«

 

Mr. Green lag in seinem Bett, als Anthony in sein Zimmer trat.

 

»Schließen Sie einmal die Tür«, sagte Mr. Green, »und sehen Sie die Zeitungsnotizen durch, die ich aufgesetzt habe. Lassen Sie alles mit der Maschine schreiben und schicken Sie es an möglichst viele Zeitungen, wenn die Hochzeit vorüber ist. Ich werde ihr sagen, daß ich der Großherzog von Litauen bin.«

 

»Aber Sie werden sich doch nicht unter diesem Namen und Titel trauen lassen?«

 

»Aber warum denn nicht? Das ist doch der beste Teil des ganzen Spaßes. Haben Sie sich denn schon nach einem Geistlichen umgesehen?«

 

»Ich habe auch schon die Kirche.«

 

Mr. Green richtete sich im Bett auf.

 

»Was meinen Sie?«

 

»Ich habe mir eine Kirche geliehen zu diesem Zweck, eine kleine Kapelle, die abseits am Wege liegt, ungefähr zwölf Meilen von hier, sie gehört zu einer, größeren Pfarrgemeinde, und der Geistliche kommt nur einmal in der Woche dorthin. Mein Freund hat den Schlüssel.«

 

Mr. Green warf sich wieder in die Kissen und brüllte vor Vergnügen.

 

»Sie sind der beste Assistent, den ich jemals hatte«, erklärte er und wischte sich die Augen. »Das war wirklich ein schlauer Gedanke, mich an Sie zu wenden, Newton. Ganz London wird vor Freude schreien, wenn das bekanntwird!«

 

»Ich möchte Sie aber etwas fragen«, unterbrach ihn Anthony. »Angenommen, dies sei der größte Spaß, der jemals gemacht wurde, seitdem die Albert Memorial Hall steht sind Sie auch davon überzeugt, daß Sie kein Unrecht begehen? Dieses unglückliche junge Mädchen hat Ihnen niemals etwas zuleide getan …«

 

»Aber sie versucht doch, mich für die Ehe anzufangen, und sie ist furchtbar herrschsüchtig. Sie fängt schon jetzt an, mich zu kommandieren, und es ist so selbstverständlich, daß ich ihr gehorche, daß ich mich schon wahnsinnig über sie geärgert habe. Sie ist ein entsetzlich herrschsüchtiger Teufel, Newton, ich habe tatsächlich keine Frau getroffen, die ihr ähnlich ist.«

 

Anthony verließ ihn, damit er sich alle Einzelheiten seines Planes noch genau überlegen konnte.

 

Am nächsten Nachmittag kam die große Stunde, in der Mr. Lammer-Green Miss Matilda Gaggle seinen Antrag machen wollte. Sie waren im Rosengarten, Und er lehnte sich in seinen großen Ruhestuhl zurück.

 

»Ach, Miss Matilda«, sagte er seufzend, »ich werde mich immer an diese glückliche Zeit erinnern!«

 

Er bedeckte seine Augen mit seiner großen Hand, und die praktische Miss Gaggle steckte ihm ihr Taschentuch zwischen die Finger.

 

»Ja, es waren sehr schöne Tage«, stimmte sie ihm bei. »Aber bewegen Sie doch Ihre Füße nicht so unvorsichtig, Sie werden noch die Weintrauben zertreten. Mr. Smith, warum tragen Sie eigentlich die Haare nicht auf der einen Seite gescheitelt? Ich kann diese zurückgebürsteten Haare nicht leiden!«

 

Mr. Lammer-Green hörte es und war verärgert.

 

»Ihr Diener hat Ihren Rock auch nicht ordentlich ausgebürstet.« Sie klopfte ihn leicht mit den Fingerspitzen ab.

 

Mr. Green zitterte. Sie war wirklich das unausstehlichste und herrschsüchtigste Mädchen, das er jemals getroffen hatte.

 

»Matilda«, sagte er so leise, daß sie einen Augenblick sogar ihren Ordnungssinn vergaß, »Matilda, müssen wir uns denn trennen?«

 

»Ich weiß nicht, warum wir das müßten«, erwiderte sie und küßte ihn einfach aufs Ohr …

 

Anthony Newton arrangierte alles.

 

»Der junge Mann hat eine große Zukunft, meine Liebe«, sagte Sir Joshua strahlend.

 

»Das glaube ich auch«, meinte Matilda. »Aber ich weiß nicht, ob ich ihn nach der Hochzeit noch zu sehen wünsche. Die Idee, die Flitterwochen zu verschieben …«

 

»Das schlug doch John vor. Er will doch nach der Trauung gleich zur Stadt fahren, um die Familienjuwelen zu holen.«

 

»Warum können wir denn das nicht zusammen tun? Nein, ich liebe diesen Mr. Newton nicht – er ist mir zu anmaßend.«

 

Der Bräutigam hatte allerhand Wünsche, die Anthony erfüllen sollte.

 

»Lassen Sie uns nur nicht allein, alter Junge«, bat er inständig. »Sie hat schon ohne weitere Umstände mein Ohr geküßt, ohne daß ich sie im mindesten dazu ermutigte. Sie ist eine schreckliche Frau, der man nicht trauen kann. Bleiben Sie bloß an meiner Seite, bis die Zeremonie vorüber ist. Ich habe Ihnen als Belohnung hundert Pfund versprochen, ich werde sie auf zweihundert erhöhen. Aber geben Sie nur nicht zu, daß sie mich noch einmal küßt.«

 

»Aber eine junge Dame hat doch auch ihre Rechte«, sagte Anthony bestimmt. »Wenn sie Sie küssen will, dann steht ihr das doch frei.«

 

Trotzdem blieb er an dem Vorabend der Hochzeit immer an der Seite Mr. Lammer-Greens, worüber sich Miss Gaggle nicht wenig ärgerte.

 

Anthony hatte auch noch eine ernste Unterredung mit ihm.

 

»Ich habe mir alles überlegt, Mr. Green, Es scheint mir, daß Ihr kleiner Scherz sehr böse für Sie enden kann. Kennen Sie das Gesetz über diesen Punkt?«

 

»Ach, lassen Sie mich mit dem Gesetz in Frieden«, erwiderte der erzürnte Freier.

 

»Es gibt nur eine Möglichkeit, einer Gefängnisstrafe zu entgehen«, sagte Anthony. »Sie müssen beweisen können, daß Sie das Opfer einer Intrige sind, Und ich will ja ganz gern den Schuft in diesem Stück spielen.«

 

Anthony erklärte ihm seinen Plan.

 

Morgen auf dem Wege zur Kirche sollte Mr. Green sich die Ohren mit Watte zustopfen.

 

»Aber mein lieber, alter Junge, dann höre ich ja nichts!« protestierte der Bräutigam.

 

»Aber das rettet Sie doch. Sie brauchen doch auch gar nichts zu hören. Wenn ich nicke, dann sagen Sie ja, und wenn ich Ihnen winke, dann sprechen Sie die bekannten Worte: ›Ich, der und der, und so weiter, nehme dich und so weiter.‹ Es ist gut, wenn Sie die Worte leise sagen. Das ist so Brauch, wenn die Leute heiraten. Wenn nachher irgendwie Unannehmlichkeiten kommen, können Sie ja sagen, daß Sie nichts gehört haben und dachten, ich heirate die junge Dame und Sie wären mein Brautführer. Die Zeitungen werden eine große Geschichte aus der Sache machen.«

 

Am nächsten Morgen waren sie eine Viertelstunde vor der Ankunft der Braut in der Kirche. Der Verabredung gemäß trug sie ein ganz einfaches weißes Kleid. Mr. Lammer-Green schüttelte sich, als er sie sah. Aber er war sehr zufrieden mit Anthony, denn der »Geistliche« sah ganz echt aus. Er hatte einen Schnupfen und war erkältet, genau wie die richtigen Landpfarrer. Seine Gewänder waren etwas alt und abgetragen, und seine Finger steif vor Kälte. Offensichtlich langweilte ihn die ganze Geschichte.

 

Mr. Lammer-Green paßte genau auf, schaute immerfort Anthony an und sagte auch richtig »Ja«, als die Zeremonie soweit gediehen war. Mit heiserer, kaum vernehmlicher Stimme murmelte er die Trauungsformel, als ihre beiden Hände vereinigt waren.

 

Als das glückliche junge Paar in die Sakristei ging, nahm Anthony Sir Joshua beiseite.

 

»Es tut mir leid, daß ich jetzt schon gehen muß«, sagte er. Sir Joshua nahm einen Scheck aus seiner Westentasche und überreichte ihn Anthony.

 

»Ich sah draußen zwei Wagen warten – einer davon ist wohl der Ihrige?«

 

»Es ist ein Mietauto«, erwiderte Anthony lakonisch. »Ich nehme immer Mietautos, wenn ich schnell fortkommen will.«

 

Sir Joshua eilte in die Sakristei und kam noch zur rechten Zeit, um dem ersten Familienstreit beizuwohnen, dem noch viele folgen sollten.

 

»Dein Name ist John Lammer-Green«, rief die neugebackene junge Frau mit schriller Stimme. »Das ist der Name, auf den die Heiratslizenz ausgestellt ist, und das ist der Name, auf den du geheiratet hast. Nun sei doch nicht verrückt!«

 

Mr. Lammer-Green verfärbte sich, und seine Hand zitterte beim Schreiben. Er hatte die Watte aus den Ohren genommen und konnte jetzt sehr gut hören. Er starrte entsetzt auf den Pfarrer.

 

»Entschuldigen Sie eine Frage … sind Sie wirklich ein Geistlicher?«

 

Der andere nickte.

 

»Ich bin der Kurator der St. Margaretenkirche.«

 

Der Bräutigam machte ein langes Gesicht.

 

»Dann bin ich ja wirklich … verheiratet?«

 

»Aber natürlich … Sie haben auf eine besondere Lizenz hin heiraten können. – Ihr Freund hat alles arrangiert.« –

 

Mr. Lammer-Green atmete schwer.

 

»Nein, der war nicht mein Freund«, stöhnte er, »er war wirklich nicht mein Freund!«

 

11. Kapitel

 

11. Kapitel

 

Kato

 

Mr. Newton hatte den Grundsatz, eine Räuberei auf möglichst höfliche Weise auszuführen, um vollen Erfolg zu haben. Nur einmal in seinem Leben wich er hiervon ab, und ließ sich zu einer unbesonnenen Gewalttat verleiten. Aber die Erinnerung an den Japaner Kato ging noch jahrelang wie ein furchtbares Schreckgespenst durch seine Träume.

 

Der Einbruch war von Anfang an ein böser Irrtum gewesen, und Anthony hätte beinahe in jungen Jahren weiße Haare bekommen. Sollte er jemals seine Autobiographie schreiben, so würde er wahrscheinlich Mr. Poltue und seinen großen Smaragden vollkommen unerwähnt lassen; auch von Kato, der seinen Herrn so bitter haßte, würde er nichts sagen.

 

Die Geschichte beginnt damit, daß an einem Frühlingsmorgen zwei Herren an der Rotten Row Promenade im Hyde Park saßen und die eleganten Leute an sich vorüberziehen ließen. Sie waren beide tadellos gekleidet und gehörten anscheinend zu der Klasse jener vornehmen Müßiggänger, die man jeden Morgen im Hyde Park antreffen kann. Ihr einziges Interesse schien darin zu bestehen, die Menschen zu beobachten.

 

Sie hatten ihre Stühle von den anderen so weit abgerückt, daß sie sich ungestört unterhalten konnten und nicht fürchten mußten, daß andere Leute ihr Gespräch belauschten.

 

Anthony Newton klemmte ein Monokel ins Auge, was sonst nicht seine Gewohnheit war, rückte den Zylinder etwas tiefer ins Gesicht und legte dann ein Bein über das andere. Weder er noch sein Begleiter machten den Eindruck von Briganten.

 

»Dort kommt unser Mann, Bill«, sagte Anthony und zeigte mit dem Kopf leicht nach der Richtung, wo ein großer, stattlicher Herr langsam vorbeiritt. »Das ist der ungeheuer reiche Millionär Poltue, der aus Japan zurückgekommen ist.«

 

»Ich wußte gleich, als ich ihn sah, daß er ein großes Vermögen haben muß«, erklärte Bill. »Er sieht nämlich so verflucht uninteressant und dumm aus.«

 

Anthony nickte.

 

»Mein Plan gegen ihn wird sich ausführen lassen«, meinte er. »Ich habe ein künstlerisches Empfinden und kann einen fetten Millionär nicht auf einem schönen Araberhengst sehen, ohne daß sich meine bösen Instinkte regen. Damit sich aber dein Gewissen nicht wieder meldet, will ich dir von vornherein sagen, daß Mr. Poltue das Schicksal wohl verdient, das ihn nächstens treffen wird.«

 

Bill Farrel wandte sich plötzlich um.

 

»Was, ich soll ein Gewissen haben?« protestierte er heftig. »Nun höre einmal …«

 

Aber Anthony beachtete den Einwurf gar nicht.

 

»Poltue hat mit allen möglichen Dingen Millionen verdient. Er hat ein großes Handelshaus geführt, Kohlenminen und Schiffe besessen, aber niemals hat er etwas für die Allgemeinheit getan. Bei Ausbruch des Krieges war er in Japan und hat es so geschickt einzurichten verstanden, daß er Einkaufsagent für einen unserer Verbündeten wurde. Und den armen Staat hat er dann nach allen Regeln der Kunst ausgeplündert.«

 

»Das scheint mir auch ganz in der Ordnung zu sein. Bundesgenossen sind dazu da, daß sie gerupft werden. Aber welche Gemeinheiten hat er denn wirklich begangen? Verzeihe mir, wenn ich danach frage, aber ich habe seit langer Zeit nicht mehr die Berichte über die Verbrechen in den Zeitungen gelesen, und ich kümmere mich ja im allgemeinen wenig darum.«

 

»Er ist ein ganz niederträchtiger Kerl«, sagte Anthony und beobachtete den stattlichen Reiter, der sich mehr und mehr entfernte. »Er ist nicht nur ein schlechter Mensch, weil er Geld verdiente, das wir nicht verdienten – obwohl das meiner Meinung nach schon ein genügend großes Vergehen ist–, sondern er hat auch seinen Reichtum während der Zeit erworben, als wir im Felde waren. Außerdem hat er einen ganz üblen moralischen Ruf. Er unterhält ein schlecht beleumundetes Unternehmen in der Nähe des Grosvenor Square, und man sagt, daß er an Bord eines Reisbootes außer Landes geschmuggelt werden mußte, als er Japan verließ. Eine Anzahl empörter Japaner wollten ihm einen bösen Abschied bereiten.«

 

»Ach, von der Art ist er?« fragte Bill nachdenklich. »Es ist doch eigentlich merkwürdig, wie diese großen Bösewichter es stets verstehen, ihr Schäfchen ins trockne zu bringen. Nun erzähle mir einmal von deinem Plan.«

 

Anthony sprach jetzt mit gedämpfter Stimme:

 

»Er hat einen japanischen Diener namens Kato, und ich glaube, daß dieser ein ebenso gemeiner Lump ist wie sein Herr. Aus irgendeinem Grunde haben sich die beiden überworfen, und neulich hat Mr. Poltue seinen Diener furchtbar verprügelt. Kato versuchte zwar, sich mit einigen Jiu-Jitsu-Griffen aus der Affäre zu ziehen, aber der große, starke Mann war ihm gewachsen, und schließlich lag Kato auf dem Boden, und sein Herr schlug ihn windelweich.«

 

»Woher weißt du denn das alles?«

 

»Kato selbst hat es mir erzählt. Ich war letzte Woche dabei, ein großes Unternehmen vorzubereiten. Unglücklicherweise ist aber der Mann, den ich beobachtete, nach Amerika abgereist. Das war unangenehm, denn ich hatte mir wegen der Sache schon viel Arbeit und Unkosten gemacht. Eine ganze Woche lang habe ich mich in der Uniform eines Chauffeurs herumgetrieben und speiste in demselben Restaurant wie Kato. Du kennst doch auch Ho Sings Restaurant in der Wardour Street. Dort begegnete ich ihm zuerst, während ich hinter einem anderen Japaner her war. Glücklicherweise spricht der Mensch englisch, sonst wäre es mir wohl sehr schwer geworden, mit ihm in Verbindung zu treten, da sich meine Kenntnisse des Japanischen auf einige Schimpfworte und Flüche beschränken.«

 

»Und was war das Ergebnis deiner Bekanntschaft mit dem Japaner?«

 

»Ich habe durch meine feinen und machiavellistischen Methoden die Andeutung weitergegeben, daß ich wirklich ein Gentlemanräuber bin.«

 

Bill schaute ihn ein wenig bestürzt an.

 

»Es gibt Augenblicke, in denen man offen sein muß«, entgegnete Anthony in geheimnisvoller Weise. »Ich bin jetzt soweit. Kato glaubt, daß ich einer amerikanischen Bande angehöre, die früher in Paris arbeitete, und er hat ein liebenswürdiges Interesse an meiner späteren Karriere.«

 

Er sprach noch leiser und dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern.

 

»Hast du schon einmal von Poltues großem und berühmtem Smaragden gehört?«

 

Bill schüttelte den Kopf.

 

»Es ist der wundervollste Stein, von dem ich jemals gehört habe«, sagte Anthony begeistert. »Sein Wert beträgt fünfzigtausend Pfund. Macht dir das nicht auch den Mund wässerig? Mr. Poltue bewahrt ihn in einem eingebauten Geldschrank neben seinem Bett auf. Aber er ist ein todsicherer Revolverschütze, und der Geldschrank ist durch elektrische Alarmglocken geschützt. Es ist gut, daß du das alles weißt, denn du sollst auch dein Leben riskieren, wenn wir beide uns den kostbaren Smaragden aneignen.«

 

»Bist du denn schon zu irgendwelchen Abmachungen mit Kato gekommen?«

 

»Noch nicht, aber ich bin nahe daran. Heute treffe ich ihn wieder.«

 

Drei Stunden später ging ein geschäftiger junger Chauffeur in tadellosen, glänzenden Ledergamaschen und einer schönen Schirmmütze über die Wardour Street und trat gleich darauf in Ho Sings Restaurant ein. Es waren schon ein paar Leute da. Die Hälfte der Gäste bestand offensichtlich aus Asiaten. Aber auch Europäer aßen hier, denn Ho Sing führte eine sehr gute Küche, die manchen Feinschmecker anzog.

 

Der Chauffeur nickte einem kleinen Japaner zu, der an einem Tisch für sich saß, nahm den Stuhl, der angelehnt war, und setzte sich. Der Japaner begrüßte ihn mit einem freundlichen Grinsen.

 

»Ich dachte nicht, daß ich heute kommen könnte«, sagte er mit einem merkwürdigen Akzent und so abgehackt, wie es die meisten Japaner tun, wenn sie englisch sprechen. »Aber das Schwein ist ausgeritten, und hinterher speist er zu Mittag. Denken Sie, er zieht sich vor dem Essen nicht einmal um, er ist ein ganz gemeiner Kerl.«

 

Anthony war offensichtlich belustigt über den Ärger des Japaners.

 

»Aber der Schuft soll noch eine böse Zeit durchmachen! Wenn er eines Tages seinen schönen Smaragd nicht mehr hat, wird er im Herzen sehr krank sein!«

 

Kato sah Anthony lauernd von der Seite an.

 

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, mein liebenswürdiger Freund aus Nippon, aber wie soll er denn seinen prachtvollen Stein verlieren?«

 

Der Japaner schaute ihn mit seinen schwarzen Perlaugen an, und in seinem Blick lag etwas Unheimliches und Unergründliches.

 

»Nehmen wir einmal an, die Räuber kommen am Donnerstagabend«, begann der Japaner. »Sie kommen durch die Küchentür herein, die wahrscheinlich offensteht, und gehen dann die Treppe hinauf. Und oben steht eine kleine japanische Laterne vor der Tür dieses gemeinen Kerls?«

 

Einen Augenblick zitterte Anthonys Herz.

 

»Das scheint eine günstige Gelegenheit zu sein. Die Sache ist sogar sehr klug angelegt. Da braucht man sich nicht mehr die Mühe zu machen und Pläne von dem Hause zu zeichnen. Auch braucht man dann keinen Führer – mit anderen Worten sind Sie dann überhaupt nicht in die Sache verwickelt.«

 

»Ja, das stimmt. Ich habe alles genau bedacht.«

 

»Und wenn es uns gelingt, den Smaragd zu bekommen – wenn ich ›wir‹ sage, so meine ich damit den geheimnisvollen Räuber – und wenn wir ihn gut unterbringen können, wohin könnten wir dann den Anteil des Gentleman senden, der die Küchentür offenläßt und die kleine japanische Laterne vor die Tür von Mr. Poltues Schlafzimmer stellt?«

 

Der Japaner schüttelte den Kopf.

 

»Ich will nichts haben«, sagte er nachdrücklich. »Ich bin zufrieden, wenn es diesem Hund schlecht geht.«

 

»Nun, darauf können Sie sich verlassen, er wird sich furchtbar ärgern.« Dann fragte Anthony ganz offen: »Was hat er Ihnen denn eigentlich getan, Kato?«

 

Der Japaner preßte die Lippen zusammen, und es schien, als ob er nichts sagen wollte, aber plötzlich erzählte er in leidenschaftlichen und abgerissenen Worten von einer neuen Vergewaltigung, die Poltue erst gestern verübt hatte.

 

Am Abend berichtete Anthony seinem Freunde Bill, was er erfahren hatte.

 

»Ich habe mir aber nicht viel daraus gemacht, daß er wieder Prügel bekommen hat, denn er scheint wirklich ein geriebener Kerl zu sein. Eigentlich könnten wir ihn ebensogut bestrafen wie Mr. Poltue. Kato hat nämlich alle gemeinen Pläne seines Herrn in Japan ausgeführt, und auch er mußte unter polizeilichen Schutz gestellt werden, als er sein Vaterland verließ. Daß diese beiden Lumpen in Streit geraten sind, hat nicht viel zu sagen, nur hilft es uns beträchtlich, wenn wir diesen aufgeblasenen Millionär ein wenig erleichtern.«

 

»Dann werden wir also am Donnerstag die Sache ausführen?« fragte Bill interessiert.

 

Anthony bejahte.

 

»Wir brauchen Filzschuhe, einen Wagen, der am Eingang der Nebenstraße wartet – du mußt den schnellsten nehmen, den du überhaupt bekommen kannst –, Masken, einige Revolverattrappen, ein ziemlich langes, dickes Tau, dann noch einige seidene Taschentücher – für den Fall, daß Mr. Poltue Widerstand leisten sollte. Willst du das alles beschaffen, Bill?«

 

Der andere zögerte.

 

»Das sieht aber verteufelt nach gewalttätigem Einbruch aus, und ich muß ganz offen sagen, daß mir die Sache nicht recht geheuer vorkommt.«

 

»Ich gebe ja gern zu, daß es etwas Außergewöhnliches ist und aus dem Rahmen unserer bisherigen Tätigkeit herausfällt. Aber die Beute ist so kostbar, und die gute Gelegenheit, die beleidigte Menschheit an diesem Lumpen zu rächen …«

 

»Mache keine großen Sprüche. Die Frage ist nur, wie wir diesen kostbaren Smaragd später zu Geld machen?«

 

»Erst müssen wir ihn einmal haben.« Und hierin stimmte Bill schließlich mit seinem Freund überein.

 

Am Donnerstagabend regnete es, und der Wind blies ungestüm, aber dieses Wetter war für ihr Unternehmen günstig. Die Straßen waren leer, als der große Wagen an der Rückseite des palastähnlichen Hauses hielt, das Mr. Poltue gehörte. Es war für die Autos noch zu früh, die Theaterbesucher nach Hause zu bringen, und schon zu spät, die Leute zum Essen in die Restaurants zu fahren.

 

Mr. Poltue hatte offenbar eine gute Eigenschaft. Er ging jeden Abend um neun zu Bett und stand jeden Morgen um sechs auf. Kato hatte Anthony erzählt, daß sein Herr stets sehr fest schlief. Es war auch interessant und wichtig, daß der Millionär darauf bestand, daß alle seine Angestellten seinem Beispiel folgten. Er lebte allein, was die Sache bedeutend leichter machte, denn wenn Frauen im Hause sind, finden sie meistens vor zwei Uhr nachts keine Ruhe.

 

Als die beiden ausgestiegen waren, gingen sie die hintere Straße entlang, bis sie. an das kleine, grüne Tor in der Mauer kamen. Von hier aus gelangten sie durch einen engen Gang zu den Räumen des Hausmeisters. Anthony drückte vorsichtig gegen die Tür – sie gab nach. Er trat ein und betrachtete das Schloß eingehend, um sich zu vergewissern, daß sie auf ihrem Rückweg nicht behindert würden.

 

Kato hatte alles der Verabredung gemäß angeordnet. Die Türen öffneten sich lautlos, und sie kamen in die große Eingangshalle des Hauses. Man konnte von ihren Fußtritten nichts hören; nur eine große Wanduhr tickte unheimlich im Treppenhaus.

 

Beide trugen Filzschuhe. Anthony hielt in der einen Hand einen langen Strick, in der anderen seine elektrische Taschenlampe. Aber er brauchte sie nicht, denn ein schwacher Lichtschimmer fiel durch ein buntes Glasfenster oben an der Treppe. Geräuschlos schlichen sie die Treppe in die Höhe und erreichten den ersten Stock, aber sie konnten hier nichts von der versprochenen japanischen Laterne entdecken. Sie stiegen noch eine Etage höher, und hier fanden sie das kleine Licht.

 

Anthony wartete nur so lange, bis er die Kerze in der Laterne ausgeblasen hatte, dann drückte er vorsichtig die Türklinke herunter. Sein Herz schlug zum Zerspringen. Ein wirklicher Einbruch war doch etwas Sonderbares.

 

Die beiden traten in das Zimmer ein und schlossen die Tür leise hinter sich. Zuerst konnten sie nichts erkennen, aber nach einer Weile, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, unterschieden sie undeutlich die Umrißlinien der Möbel. Schwaches Licht kam durch die Schlitze der Jalousien, so daß sie das Bett in der Mitte der linken Wand stehen sahen.

 

Anthony schlich sich vorwärts. Der Teppich war so dick und so weich, daß unmöglich ein Laut das Ohr des Schläfers erreichen konnte. Trotzdem bewegte sich Anthony mit der größten Vorsicht, während sich sein Kamerad im Schatten des großen Kleiderschrankes verborgen hielt und wartete, was geschehen würde.

 

Anthony sah undeutlich einen Mann in dem Bett liegen. Jetzt hatte er den kleinen Geldschrank erreicht und tastete behutsam nach den elektrischen Drähten, die die Tür des Schrankes mit den Alarmklingeln verbanden. Kato hatte ihm alles genau beschrieben. Man hörte ein schwaches Knipsen, als er die Drähte durchschnitt. Nun bewegte Anthony die Drehschlösser, um die richtige Buchstabenkombination einzustellen. Er brauchte dazu seine Lampe, aber das Licht blitzte nur ein paarmal ganz kurz auf, und er blendete den Lichtschein mit der Hand so ab, daß unmöglich ein Strahl auf den Schläfer fallen konnte.

 

Die Tür öffnete sich, er griff hinein und faßte auch sofort das große Lederetui, in dem Mr. Poltue nach Katos Angabe seinen Smaragden aufbewahrte. Krampfhaft schlossen sich seine Finger um den Kasten. Er machte sich nicht die Mühe, ihn zu öffnen, denn er konnte schon an seinem Gewicht und seiner Gestalt fühlen, daß der Stein in seinen Händen war. Schnell ließ er ihn in seine Tasche gleiten, aber in dem Augenblick entfiel ihm die elektrische Taschenlampe und schlug polternd auf dem Tisch neben dem Bett auf. Anthony hielt den Atem an, aber Poltue bewegte sich nicht. Der ruhige Schlaf dieses Mannes erschien ihm sonderbar, daß er sich schnell niederbeugte, seine Lampe aufnahm und das Bett einen Augenblick beleuchtete. Bill hörte einen erschrockenen Ausruf und eilte zu seinem Freund.

 

»Was ist los?« flüsterte er.

 

»Sieh dorthin!« erwiderte Anthony und beleuchtete Mr. Poltue.

 

Es war nicht nötig, irgendwelche Erklärungen zu geben. Der Millionär war tot. Der Griff eines Messers steckte, in seiner Seite, und die Lagerstatt war völlig mit Blut befleckt.

 

»Das sieht ganz wie eine Falle aus!« sagte Anthony schnell. »Wir müssen aus dem Hause, so rasch es geht!« Schweigend flohen sie die breite Treppe hinunter und erreichten die erste Etage. Plötzlich faßte Bill Anthonys Arm und hielt ihn zurück.

 

»Hörst du nicht jemand sprechen?«

 

»Er telefoniert«, zischte Anthony.

 

Sie hörten ein schwaches Klingeln und schlichen sich den Gang entlang, bis sie an die Tür kamen, hinter der sie das leise Sprechen hörten.

 

Anthony drückte die Klinke herunter. Es war Licht in dem Raum, und sie sahen, wie sich Kato mit dem Rücken zur Tür über einen Tisch beugte. Er hatte den Telefonhörer in der Hand.

 

»Ist dort die Polizeistation?« fragte er. »Kommen Sie schnell zu Mr. Poltues Haus am Grosvenor Square. Es ist ein Mord geschehen …«

 

So weit war er gekommen, als Anthony sich auf ihn warf. Der Hörer polterte auf den Tisch, und die beiden rangen auf dem Boden miteinander. Anthony hielt dem Japaner den Mund zu und drückte ihm das Knie auf die Brust. Er und Bill hatten mehrere Minuten zu tun, bevor sie den sich heftig wehrenden Kato gefesselt und geknebelt hatten, und die Zeit war kostbar.

 

»Wir wollen ihn schnell nach oben in das Schlafzimmer tragen«, sagte Anthony wild.

 

Mit großer Mühe schleppten sie ihn die Treppe hinauf, denn er wehrte sich bei jedem Schritt.

 

»Löse schnell den Strick«, rief Anthony atemlos, und Bill gehorchte erstaunt.

 

Anthony ging zur Wand und drehte das Licht an.

 

»Sie sind aber ein niederträchtiger Kerl!« sagte er grimmig zu dem Geknebelten. »Sie haben noch das Blut des Ermordeten an Ihren Händen und rufen die Polizei! Sie dachten wohl, Sie könnten uns eine Falle stellen, wie? Und Sie könnten uns die Folgen Ihrer Privatrache aufbürden?«

 

Der Japaner antwortete nicht, sondern sprang ihn wieder wie ein wildes Tier an. Anthony wich einen Schritt zurück, hob seine Hand und ließ sie niedersausen. Kato fiel wie ein Stück Holz zu Füßen des Bettes nieder, auf dem sein Opfer lag.

 

»Nimm den Knebel aus seinem Mund! Beeile dich und nimm auch den Strick mit!«

 

»Hast du ihn mit dem Sjambok geschlagen?«

 

Anthony nickte, nahm die aus Rhinozeros verfertigte Waffe aus seiner Tasche und zeigte sie ihm. Sie war das, einzige Verteidigungsmittel, das er bei sich trug; aber es war wirksam genug.

 

Sie erreichten das Erdgeschoß und eilten durch die Hinterstraße, nachdem Anthony vorher die Tür verschlossen hatte. Den Schlüssel warf er über eine Gartenmauer. Sie waren gerade abgefahren, als das Polizeiauto um die Ecke der Straße bog.

 

»Das war noch zu rechter Zeit!« meinte Anthony. Er war aufgeregt und sah bleich aus.

 

»Aber der Japaner wird sprechen und uns beschuldigen«, sagte Bill bedrückt. »Er muß es ja schon sagen, um sich zu verteidigen.«

 

»Er wird nichts sagen«, entgegnete Anthony kurz.

 

»Wo ist denn der Smaragd? Hast du ihn?«

 

»Ich hatte ihn schon in meiner Tasche, aber ich habe ihn zurückgelassen.«

 

»Du hast ihn dort gelassen?« fragte Bill atemlos. »Wo denn?«

 

»In Katos Tasche. Wenn die Polizei kommt, Poltues Leiche mit einem japanischen Messer in der Seite auffindet und später seinen Smaragd in Katos Tasche entdeckt, dann gibt es nur eine Lösung.«

 

Und er hatte richtig prophezeit, denn sechs Wochen später wurde Kato auf einen Indizienbeweis hin wegen Mordes verurteilt.