Kapitel 3

 

3

 

Abends ging Jack in seine Wohnung und traf alle Vorbereitungen für die Fahrt nach Shropshire; danach aß er allein in einem Restaurant. Auf dem Heimweg ließ er sich Zeit, denn er wollte noch etwas frische Luft haben, um gut schlafen zu können.

 

So kam er auch über den Piccadilly Circus. Seine Gedanken beschäftigten sich ausschließlich mit Barbara May, die solch eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn ausübte. Teils ärgerte er sich darüber, teils aber machte es ihm doch Freude, sich mit dem Gedanken an sie zu beschäftigen. Er war nicht gerade leicht zu beeindrucken, das wußte er, und deshalb fragte er sich, welche von Barbaras Eigenschaften ihn so stark fesselte, daß dieses Mädchen sein ganzes Denken beherrschte.

 

Eine große Limousine fuhr an ihm vorüber und hielt in einiger Entfernung vor ihm am Bordstein. Als der Wagen dann mit ihm auf gleicher Höhe war, warf Danton einen raschen Blick hinein. Einen Augenblick drohte sein Herzschlag auszusetzen, denn er hatte im Licht der Straßenlaterne eine der beiden Personen erkennen können, die im Wagen saßen. Er hatte sich nicht getäuscht: Es war Barbara May. Er würde sie überall wiedererkennen.

 

Sie sprach eifrig mit jemandem, Jack hätte aber nicht sehen können, wer es war.

 

Er setzte seinen Weg fort. Allem Anschein nach hatte sie ihn nicht erkannt. Eine seltsame Unruhe überkam ihn bei dem Gedanken, daß dort ein anderer Mann neben ihr im Auto saß, und er empfand brennende Eifersucht.

 

Welche Schlußfolgerung konnte er daraus ziehen, wenn nicht die, daß Barbara einen Freund hatte? Reich mußte er auch sein – das verriet der teure Wagen. Sie hätte sich solch einen Luxus nie leisten können.

 

Fünfzig Schritte ging Danton weiter, dann blieb er stehen. Er befand sich jetzt im Schatten einer Hausecke. Jack machte sich bittere Vorwürfe, daß er ihr so nachspionierte, aber schließlich war er kein Heiliger, und er wollte jetzt unbedingt erfahren, wer der Mann war, dem Barbara zu dieser nächtlichen Stunde ihre Zeit widmete.

 

Die Tür des Autos wurde jetzt geöffnet, und der Mann trat auf die Straße hinaus. Er war in mittleren Jahren und von untersetztem Wuchs. Nach den Worten, die Danton auffing, schienen keine besonders freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden zu bestehen.

 

»Das wäre also alles, Miss May. Morgen mache ich Ihnen dann weitere Mitteilungen.«

 

Gleich darauf fuhr der Wagen weiter. Der Fremde lüftete noch den Hut und blieb ein paar Sekunden stehen, dann drehte er sich um und überquerte die Straße. Nach einiger Zeit hatte er die Umfassungsmauer des Buckingham-Palastes erreicht und ging an ihr entlang.

 

Jack folgte ihm, denn der Mann hatte sein Interesse erregt. Er trug Schuhe mit Gummisohlen, die kein Geräusch machten, aber trotzdem sah sich der Verfolgte einmal unruhig um, als ob er fühlte, daß jemand hinter ihm herkam. Er setzte jedoch seinen Weg in der eingeschlagenen Richtung fort.

 

In der Nähe des Denkmals der Königin Viktoria zog er plötzlich die Hand aus der Tasche. Dabei fielen sein Taschentuch und ein anderer Gegenstand auf die Straße. Jack eilte hin und hob beides auf. Der Fremde hatte seinen Verlust aber auch bemerkt und fluchte leise, als er umkehrte und auf Jack zukam.

 

Jack betrachtete das viereckige Lederetui, das er in der Hand hielt. Durch den Fall hatte sich der Verschluß geöffnet, so daß der Deckel aufklappte.

 

Der Fremde stand jetzt dicht vor Jack.

 

»Das Etui gehört mir«, sagte er unfreundlich und wollte ihm das Kästchen aus der Hand reißen.

 

Aber Jack hatte inzwischen gesehen, daß eine herrliche Brillantnadel darin lag, deren Mittelstück von drei prachtvollen Smaragden umrahmt war. Dies mußte das Schmuckstück sein, das Mrs. Crewe-Sanders gestohlen worden war! Er wollte es nicht für möglich halten, aber sah es nicht so aus, als sei Barbara die Diebin und dieser Fremde der Hehler, dem sie die Nadel verkauft hatte?

 

»Geben Sie mir jetzt endlich mein Etui zurück!« Der Mann versuchte aufs neue, Jack den Schmuck abzunehmen, aber dieser hatte blitzschnell das Kästchen in seine Tasche geschoben.

 

»Sie müssen mir erklären, woher Sie diese Brillantnadel haben!«

 

»Das fällt mir ja nicht im Traum ein! Wenn Sie mir den Schmuck nicht sofort zurückgeben, rufe ich die Polizei!«

 

»Das ist nicht nötig – Sie können sich ruhig an mich wenden«, erwiderte Jack spöttisch.

 

»Was soll denn das heißen?«

 

Jack wies sich aus und fügte hinzu: »Sie werden wohl begreifen, daß Sie mir erst einmal erklären müssen, wie Sie in den Besitz dieses von der Polizei gesuchten Schmuckstückes gekommen sind. Also, begleiten Sie mich freiwillig, oder muß ich Sie festnehmen? Ich möchte Sie bitten, mit mir zur nächsten Polizeiwache zu kommen.«

 

Der Mann zögerte eine Weile.

 

»Nun gut«, sagte er schließlich. »In dem Fall will ich mitkommen.«

 

Schweigend gingen die beiden Männer durch die nächtlichen Straßen. Jack fragte sich, ob der Fremde wohl ahnte, in welch schwierige Lage er ihn gebracht hatte. Sollte es nun zu einer Verhandlung kommen, so würde darin unweigerlich Barbaras Name fallen, und dann war er – Jack – es gewesen, der sie hineingezogen hatte. Erst jetzt fühlte er,« wie nahe sie ihm stand. Aber nun war kein Zurück mehr möglich. Er riß sich zusammen. Sie waren an der Polizeiwache Westminster angelangt.

 

Als der Fremde nach seinem Namen gefragt wurde, nannte er sich John Smith. Er verweigerte jede Auskunft darüber, wie er zu dem Schmuckstück gekommen war, und schwieg, während Jack und der Sergeant vom Dienst das Schmuckstück betrachteten und sich darüber unterhielten.

 

»Es besteht nicht der geringste Zweifel«, sagte der Sergeant, nahm eine Liste aus einem Schubfach und zeigte mit dem Finger auf einen dort aufgeführten Gegenstand. »Sehen Sie, hier ist die genaue Beschreibung. Es ist die Brillantnadel, die Mrs. Crewe-Sanders entwendet wurde. Wollen Sie ihn verhaften lassen?«

 

»Selbstverständlich«, entgegnete Jack, aber es war ihm nicht wohl bei dem Gedanken. Er durfte im Augenblick diesen Mann nicht einmal ausfragen und feststellen, wie er in den Besitz der gestohlenen Brillantnadel gekommen war. Vor allem mußte er Zeit gewinnen, um seine Gedanken zu sammeln.

 

»Ich gehe jetzt zum Chefinspektor. Er wird wohl noch in seinem Klub sein«, sagte er zu dem Sergeanten. »Behalten Sie den Mann hier, bis ich zurückkomme, und schließen Sie das Etui mit dem Schmuck ein.«

 

Langsam wanderte er die Straße entlang, denn er hatte keine Eile, seinen Vorgesetzten zu erreichen. Er hoffte, daß ihm noch irgendein Ausweg einfallen würde, um Barbara nicht direkt durch diese Entdeckung zu belasten.

 

Aber als er die Treppe zum ›Carlton-Club‹ hinaufstieg, war er noch auf keine Lösung gekommen.

 

Zu seinem größten Erstaunen wartete der Chefinspektor bereits in der Eingangshalle auf ihn.

 

»Kommen Sie mit mir in den Rauchsalon«, sagte er zu Jack.

 

Danton folgte der Aufforderung und wunderte sich, woher der Chefinspektor etwas von seinem bevorstehenden Besuch wissen konnte.

 

Aber die Frage klärte sich bald.

 

»Ich bin von der Polizeiwache Westminster angerufen worden, und man hat mir die Festnahme dieses sonderbaren John Smith mitgeteilt. Nachdem Sie die Wache verlassen hatten, kam ein Freund dieses Mannes und klärte die Sache auf. Ich bin davon überzeugt, daß ihm das Schmuckstück, das man bei ihm fand, rechtmäßig gehört. Er ist ein Juwelier und war unterwegs, um die Brillantnadel einem Freund zu zeigen.«

 

Diese dürftige Erklärung setzte Jack in größtes Erstaunen. Er atmete trotzdem erleichtert auf, denn dadurch war Barbara im Augenblick außer Gefahr.

 

»Das Schmuckstück entsprach doch aber genau der Beschreibung«, widersprach er schwach.

 

Sein Vorgesetzter jedoch wollte nicht noch länger bei diesem Gegenstand verweilen und unterbrach ihn. »Das weiß ich auch. Es ist völlig gleich – ein Duplikat der Brillantnadel, die Mrs. Crewe-Sanders bei dem Juwelier Streetley gekauft hat. Der Mann, den Sie mitbrachten, ist der Geschäftsführer dieser berühmten und Ihnen sicher bekannten Firma.«

 

Darauf wußte Jack nichts zu sagen. Er war auch viel zu erleichtert, daß sich der Verdacht gegen Barbara als unbegründet herausstellte, um sich noch viele Gedanken wegen seines Irrtums zu machen.

 

»Und noch eins, Danton«, fuhr der Chefinspektor fort, während er nachdenklich auf die Asche seiner Zigarre schaute, »ich habe heute im Scherz gesagt, Sie sollten die Augen offenhalten, ob Sie vielleicht den Juwelendieb im Hause von Lord Widdicombe fänden. – Keine Widerrede, mein Lieber – es war ein Scherz. Wenn Sie sich jetzt in die Ermittlungen einmischen würden, könnten Sie höchstens stören.«

 

»Ich verstehe«, murmelte Jack, obwohl er nichts verstanden hatte.

 

Kapitel 3

 

3

 

Vier Wochen später saß das junge Mädchen in dem Büro des Rechtsanwalts Parsons. In einem entzückenden Kostüm und mit leuchtenden Augen hörte sie seine Erklärungen an. Für sie bedeutete das alles eine völlig neue Welt.

 

»Meiner Meinung nach ist es nötig, daß Sie das Eigentum Ihres Großvaters einmal selbst ansehen. Es ist sowieso besser, wenn Sie gleich an Ort und Stelle sind, wenn die Verträge und Urkunden unterzeichnet werden müssen.«

 

»Wer will denn die Ländereien in Kanada kaufen?«

 

»Sir John Storey. Er besitzt bereits den größten Teil der anliegenden Grundstücke. Ich weiß allerdings nicht, wozu er diese dann auch noch braucht. Er soll sowieso sehr reich sein und hätte sie eigentlich nicht nötig.«

 

»Daß sich ein englischer Baron in eine solche Einsamkeit zurückzieht und auf alle Annehmlichkeiten und allen Komfort verzichtet, kann ich nicht recht verstehen«, meinte Dorothy.

 

»Nun, er ist schon sechs Jahre dort, und es scheint ihm ausgezeichnet zu bekommen. Im übrigen kann uns das ja gleichgültig sein.«

 

Dorothy dachte einen Augenblick nach.

 

»Ich würde zu gern nach Kanada fahren, aber allein wird das nicht gut gehen.«

 

Mr. Parsons lächelte.

 

»Wenn es Ihnen recht ist, könnten mein Sohn und ich Sie ja begleiten. Sie haben meinen Sohn übrigens schon gesehen, als Sie durch das vordere Büro kamen.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich glaube nicht. Dort saßen nur der Bürovorsteher und zwei Schreiber.«

 

Mr. Parsons war unangenehm berührt.

 

»Einer der beiden ist mein Sohn Reginald – Sie haben ihn wohl nicht so genau angesehen.«

 

Dorothy entschuldigte sich kurz. Mr. Parsons war auch von der Wichtigkeit seines Vorhabens zu sehr überzeugt, als daß ihn solche Kleinigkeiten hätten verletzen können.

 

»Also, wir werden Sie begleiten, damit Sie sicher zu Sir John Storey kommen.«

 

»Wieso denn zu Sir John Storey? Ich kann doch auch in der nächsten Stadt bleiben.«

 

»Leider ist keine Stadt in der Nähe, wo Sie bleiben könnten – im Gegenteil, wir werden etwa drei Tage reiten müssen, ehe wir den Landsitz des Barons erreichen. Außerdem habe ich gerade heute einen Brief von Sir John erhalten, in dem er Sie und mich sowie meinen Sohn herzlich zu sich einlädt, bis die Formalitäten zur Abtretung der Ländereien erledigt sind.«

 

»Ach, das ist ja herrlich!« rief Dorothy begeistert. »Schon immer habe ich mir gewünscht, reisen und etwas von der Welt sehen zu können.«

 

So kam es, daß Dorothy, Mr. Parsons und sein Sohn an einem kühlen Oktobermorgen mit dem Dampfer ›Nelson‹ in Little Beach eintrafen.

 

Der Ort war ziemlich klein: Er bestand nur aus wenigen Häusern.

 

Dorothy war begeistert von der herrlichen Gebirgslandschaft. Von weitem sah sie den riesigen Gipfel des Mount Mac Gregor, und es erschien ihr alles zauberhaft schön. Die hohen, schneebedeckten Bergriesen machten einen überwältigenden Eindruck auf sie. Schon auf der Fahrt hatten sich immer neue Wunder der großartigen kanadischen Landschaft vor ihr aufgetan. Tief atmete sie die köstlich frische Bergluft ein.

 

»Es ist verdammt kalt hier«, sagte Mr. Parsons ärgerlich, »und ich fürchte, daß wir auch kaum etwas Ordentliches zu essen bekommen.«

 

Er sah sich nach allen Seiten um und bemerkte an der Tür eines Hauses eine Anzahl von Männern. Einer von ihnen, in einem langen Mantel und schweren Stiefeln, kam auf sie zu. Der Rechtsanwalt ging ihm entgegen.

 

»Ihr Vater hat doch wohl dafür gesorgt, daß wir hier abgeholt werden, Mr. Parsons?« fragte Dorothy den jungen Mann.

 

»Sagen Sie doch bitte Reggie zu mir. Warum sollen wir uns nicht beim Vornamen nennen, Dorothy?« bat er.

 

»Weil ich nicht möchte, daß Sie mich mit Dorothy anreden«, entgegnete sie kurz.

 

*

 

Die Reise war herrlich, aber die ständige Gegenwart des jungen Parsons fiel ihr allmählich auf die Nerven. Die Anwesenheit des Rechtsanwalts machte ihr nicht viel aus, aber dieser vorlaute junge Mann, der ihr bei jeder Gelegenheit den Hof machte, war ihr lästig.

 

»Ich wünschte, Sie wären nicht so unliebenswürdig zu mir«, erwiderte er vorwurfsvoll. »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie mir so gut gefallen würden, als ich meinem Vater versprach, diese Reise mitzumachen. Am liebsten würde ich dauernd mit Ihnen zusammen sein.«

 

»Sagen Sie, ist das der Mann, der uns durch die Berge begleiten soll?«

 

»Ja, ich nehme an. Mein Vater sagte, er wäre der Sheriff oder so etwas Ähnliches.«

 

»Reiten wir gleich ab?« fragte sie interessiert weiter.

 

»Ich hoffe«, brummte Reginald und starrte ärgerlich auf den Mann in dem groben Mantel und den Reitstiefeln. »Je eher wir aus diesem schrecklichen Nest fortkommen, desto besser ist es.«

 

Mr. Parsons kam mit dem Mann auf die beiden zu.

 

»Ich möchte Ihnen Sheriff Henesey vorstellen«, sagte er. »Er wird uns bis zu Sir John Storeys Landsitz begleiten.«

 

Der Fremde war ein gutaussehender stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren. Er schüttelte Dorothy und Reginald kräftig die Hand.

 

»Ihre Pferde und der Wagen stehen bereit – Sie wissen doch, daß wir etwa drei Tage unterwegs sein werden?«

 

»Kommen wir durch eine schöne Gegend?« erkundigte sich Dorothy. »Aber diese Frage ist wohl überflüssig, denn hier scheint es überall wunderbar zu sein«, fügte sie begeistert hinzu.

 

»Ich kenne Ihren Geschmack nicht«, entgegnete der Sheriff vorsichtig. »Interessant ist die Gegend sicher. Jedenfalls ist es nicht leicht, den Weg zu Sir John Storeys Landsitz zu finden, wenn man ihn nicht genau kennt. Keiner der Leute hier im Ort ist je dort gewesen, auch ich nicht – Sie hatten doch hoffentlich damit gerechnet, daß wir einen Führer brauchen?«

 

Die letzte Frage war an Mr. Parsons gerichtet, und der Anwalt nickte.

 

»Ja, ich glaube, das wollte ein gewisser Harvey übernehmen.«

 

Der Sheriff runzelte die Stirn.

 

»Joe Harvey? Ich fürchte, da muß ich Sie enttäuschen – er hat sich vor einer Woche ein Bein gebrochen und ist mit dem Dampfer nach Norden geschickt worden. Aber ich werde schon jemand auftreiben, wenn auch die Einheimischen sich nicht leicht überreden lassen werden und die Strecke leider auch nicht richtig oder nur teilweise kennen.« Henesey ging zu dem Haus zurück, von dem er gekommen war. Die Gruppe der Neugierigen bestand nur aus etwa sechs bis acht Männern. Der Sheriff verhandelte mit ihnen. Nach einer Weile kam er wieder.

 

*

 

»Also, von denen dort will es keiner tun, aber gestern abend ist ein Mann hierhergekommen, der es eventuell übernehmen würde, hieß es. Er kennt die Gegend gut, aber ich weiß nicht, ob Sie ihn zum Führer nehmen wollen.«

 

»Wer ist es denn?« fragte Mr. Parsons.

 

»Wir nennen ihn hier ›Harry mit den Handschuhen‹. Er muß Jäger sein, aber viel Mühe scheint er sich wohl nicht damit zu geben, denn bis jetzt hat er noch keine Felle zum Verkauf hergebracht. Regelmäßig alle sechs Wochen taucht er hier auf. Manche halten ihn für einen zweifelhaften Charakter, aber ich habe nie feststellen können, daß er sich etwas hätte zuschulden kommen lassen.«

 

Der Anwalt zögerte.

 

»Warum heißt er denn ›Harry mit den Handschuhen‹?«

 

»Weil er immer Lederhandschuhe trägt«, erwiderte der Sheriff ungeduldig. »Er sieht zwar nicht besonders vertrauenswürdig aus, aber man könnte ja mal mit ihm sprechen.«

 

Henesey pfiff und rief der Gruppe von Männern etwas zu. Einer von ihnen verschwand im Haus – offensichtlich der Gasthof – und kam nach einer Weile mit einem Mann wieder heraus, der wohl drinnen bei einem Bier gesessen hatte.

 

Henesey hatte nicht zuviel behauptet, wenn er meinte, ›Harry mit den Handschuhen‹ sähe nicht besonders vertrauenswürdig aus. Der Mann hatte einen struppigen Bart, und auch sein Haar hätte einen Friseur vertragen können. Sein linkes Auge war durch eine schmutzige Binde verdeckt. Sein Anzug war staubig und die Stiefel grau von Schmutzspritzern. Den Rucksack hatte er mit einem Strick über die Schulter gehängt. Der finstere Eindruck wurde noch verstärkt durch eine doppelläufige Büchse, die er in der Hand hielt, und einen Revolver, der in einem Futteral an seinem Gürtel hing. Er sagte kein Wort. Ruhig stand er vor den Ankömmlingen und musterte sie auf eine Weise, die dem Rechtsanwalt nicht besonders angenehm war.

 

»Kennt er den Weg auch wirklich?« fragte Mr. Parsons zweifelnd. Er hatte keine große Lust, mit diesem Individuum in eine so einsame Gegend zu gehen.

 

Der Fremde nickte.

 

Dorothy betrachtete ihn interessiert. Er paßte jedenfalls besser in diese wilde Gegend als ihre anderen Begleiter. Neugierig sah sie auf seine Hände, und tatsächlich trug er Handschuhe, die früher einmal eine helle Farbe gehabt haben mußten. Noch jetzt konnte man erkennen, daß das Leder außergewöhnlich fein und weich war.

 

»Also Sie sind unser Führer, Harry«, sagte der Rechtsanwalt.

 

Ohne ein Wort zu verlieren, wandte Harry der Gesellschaft den Rücken und ging fort.

 

»Unter keinen Umständen wird es Ihnen gelingen, ihn zum Sprechen zu bringen. In manchen Holzfällerlagern nennt man ihn deshalb den ›Stummen‹. Er hält sich immer abseits von den andern und sagt nur das Notwendigste.«

 

»Allem Anschein nach rasiert er sich auch nicht. Könnten wir ihn vom Friseur nicht ein wenig in Ordnung bringen lassen?«

 

Der Sheriff biß das Ende seiner Zigarre ab und steckte sie an.

 

»Der einzige Friseur in Little Pine Beach hat vor einer Woche das Delirium tremens bekommen.«

 

»Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als den Mann so zu nehmen, wie er ist«, meinte der Rechtsanwalt resignierend.

 

Dorothy konnte den Führer nicht so abstoßend finden. Irgendwie empfand sie einen gewissen Respekt vor seiner Wortkargheit und ruhigen Bestimmtheit. Als sich die Gesellschaft in Bewegung setzte, ritt sie darum auch hinter ihm, und sie grübelte die ganze Zeit darüber nach, was für ein Leben dieser Mann wohl führte. Für sie war es, als ob eine Gestalt aus einem Abenteuerroman lebendig geworden wäre. Fast ehrfürchtig betrachtete sie den Revolver – ob Harry damit wohl schon einen Menschen niedergeschossen hatte? Sicher kam man in einem solchen Leben nicht ohne Gewalt und Kampf aus.

 

Wahrscheinlich hatte er sich auf ähnliche Weise auch die Verletzung an seinem Auge zugezogen.

 

Je höher sie kamen, desto herrlicher wurde die Aussicht, die sie von Berghängen oder über Schluchten hinweg hatten. Sie ritten zunächst zum Dead-Horse-Paß. Gegen Abend sattelten sie ab, und man schlug Zelte für die Nacht auf. Henesey verhandelte eine Weile mit dem Führer, dann kam er zu den anderen zurück und schüttelte den Kopf.

 

»Wir müssen selbst unser Essen machen«, berichtete er. »Er will nur für die junge Dame etwas kochen – für niemand sonst.«

 

»Sagen Sie ihm doch, daß wir auch allein für die junge Dame sorgen können«, fuhr Parsons auf.

 

»Bestellen Sie ihm bitte, Mr. Henesey, daß ich sehr gerne probieren möchte, was er gekocht hat«, warf Dorothy ruhig ein.

 

Der Rechtsanwalt machte keinen Einwand«, warf aber seinem Sohn einen schnellen Blick zu.

 

Harry mochte der schlimmste Landstreicher in ganz Kanada sein – aber er konnte kochen. Er bot Dorothy eine ausgezeichnete dicke Gemüsesuppe mit Fleischeinlage an und hinterher eine Tasse Kaffee, wie sie ihn überhaupt noch nie geschmeckt hatte.

 

Mr. Parsons, der viel für gutes Essen übrig hatte, betrachtete melancholisch seine eigene Mahlzeit.

 

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Der Weg war jetzt breiter, so daß Dorothy neben dem schweigsamen Mann reiten konnte, der ihre Gedanken immer stärker beschäftigte.

 

»Was macht denn Ihr Auge? Ist es sehr schlimm?«

 

»Nein«, entgegnete er brummig.

 

Sie hätte ihn zu gerne gefragt, wie er zu der Verletzung gekommen wäre, aber sie traute sich nicht, ihn nochmals anzureden.

 

Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, sagte er plötzlich: »Es kam durch einen Jagdunfall – als ich einen Luchs schoß.«

 

Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander her. Dann wandte sich Dorothy wieder an ihn.

 

»Diese Gegend ist herrlich. Es ist für mich Stadtkind wie eine Offenbarung. Aber Sie leben ja hier; für Sie ist das natürlich nichts Neues.«

 

Er antwortete nicht darauf.

 

»Warum reiten Sie eigentlich zu Storey?« fragte er nach einer Weile.

 

Sie erzählte ihm alles ganz offen, und er hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Während sie sprach, fiel ihr auf, daß in seinem Haar und Bart schon einzelne graue Haare zu sehen waren. Trotzdem hätte sie sein Alter nicht schätzen können, denn die braune Hautfarbe ließ ihn jünger aussehen, als er war.

 

Plötzlich sah er sie an.

 

»Sie hätten doch nicht in diese rauhe Gegend zu kommen brauchen«, sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Die Anwälte hätten die Verträge allein fertigmachen können.«

 

»Mr. Parsons sagte aber, es wäre nötig, daß ich käme.«

 

Auf einmal kam ihr ein Gedanke, und sie war so erstaunt, daß sie ihn laut aussprach.

 

»Morgen ist mein Geburtstag – ich werde dreiundzwanzig. Es wäre sehr schlimm für mich, wenn es schon der vierundzwanzigste wäre.«

 

Er kümmerte sich nicht um ihre Worte, und das ärgerte sie. Wieder ritten sie eine Weile schweigend nebeneinander her. »Warum wollen Sie denn nicht vierundzwanzig werden?« fragte er dann unerwartet.

 

»Ach, es ist nicht wichtig«, entgegnete sie kühl.

 

Er drang auch nicht weiter in sie, und das ärgerte sie noch mehr.

 

*

 

An diesem Abend war Reginald besonders aufmerksam zu ihr. Sein Vater schien ihn auch absichtlich mit ihr allein zu lassen. Schlimm wurde es aber, als Mr. Parsons den Sheriff mitnahm, um ihm vom Abhang einen wunderbaren Ausblick zu zeigen.

 

Dorothy hatte ihre Abendmahlzeit beendet und wollte gerade aufstehen, als Reggie auf sie zukam und sie am Arm festhielt.

 

»Gehen Sie bitte nicht weg, ich muß Ihnen was sagen, Dorothy«, sagte er und räusperte sich.

 

Sein Ton war so sonderbar, daß sie ihn erstaunt anblickte.

 

»Dorothy, ich liebe Sie«, erklärte er heiser. »Ich liebe Sie – ich habe Sie wirklich verdammt gern!«

 

»Ich will aber nicht, daß man mich ›verdammt‹ gern hat«, sagte sie kühl, obwohl sie innerlich vor Ärger über seine Hartnäckigkeit kochte.

 

Reginald wußte nicht, was er nun tun sollte. »Nimm die Festung im Sturm«, hatte ihm sein Vater am Nachmittag geraten.

 

»Dorothy«, begann Reginald wieder und ergriff ihre Hand, »ich bin Ihrer nicht wert.«

 

»Gott sei Dank, daß wir wenigstens einmal in unseren Ansichten übereinstimmen«, entgegnete sie. Aber bevor sie wußte, was geschah, hatte er sie in die Arme geschlossen und drückte seine Lippen auf die ihren.

 

Sie versuchte verzweifelt, sich frei zu machen, aber plötzlich packte jemand Reggie am Kragen und zog ihn zurück. Der junge Mann ließ sie los und schaute sich wütend um.

 

»Verdammt, was fällt Ihnen ein?« rief er außer sich. Er wollte sich losreißen, aber Harry hielt ihn eisern fest.

 

Schließlich ließ er los, gab ihm aber dabei einen solchen Stoß, daß er fast gefallen wäre. Fluchend zog Reginald seinen Revolver.

 

»Stecken Sie das Schießeisen ruhig wieder weg«, sagte Harry, und widerwillig gehorchte der junge Mann. Harry sah ihn so verächtlich an, daß ihm das Blut zu Kopf stieg.

 

»Was ist denn hier los?« fragte der Anwalt, der aufmerksam geworden war und eilig herbeikam.

 

Dorothy, die ein paar Schritte weitergegangen war, hörte, was Reginald seinem Vater erzählte. Zu ihrem größten Erstaunen wurde der Anwalt nicht ärgerlich über die Frechheit seines Sohnes, sondern wandte sich mit einem verbindlichen Lächeln an das junge Mädchen.

 

»Das ist allerdings sehr unangenehm, Miss Trent, besonders, weil ich am Tag der Abreise das Testament noch einmal genau durchgelesen habe. Dabei mußte ich leider feststellen, daß ich das Testament nicht genau genug geprüft habe. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß Sie vor Ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag heiraten müssen nicht vor Ihrem vierundzwanzigsten.«

 

Sie sah ihn erschrocken an.

 

»Was – bevor ich dreiundzwanzig werde?« Sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Sicher irren Sie sich.«

 

»Ich bedaure den Irrtum außerordentlich, aber in dem Testament steht ausdrücklich der dreiundzwanzigste Geburtstag, Es tut mir leid, daß ich Ihnen das Testament nicht gezeigt habe.«

 

Dorothy überlegte blitzschnell.

 

»Das heißt, daß ich neun Zehntel des Vermögens verliere, wenn ich nicht heute abend noch heirate?«

 

Parsons nickte zustimmend.

 

Harry, der noch immer dabeistand, sah, daß ihr das Blut in die Wangen stieg.

 

»Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel!« rief Dorothy mit zitternder Stimme. »Deshalb also wollten Sie so dringend, daß ich in diese einsame Gegend reiste. Es wäre überhaupt nicht nötig gewesen, daß ich herkam. Sie haben es aber extra so eingerichtet, daß ich am Vorabend meines dreiundzwanzigsten Geburtstags hier von aller Welt verlassen und auf Sie angewiesen bin, weil Sie mich mit Reginald verkuppeln wollten!«

 

Wer konnte ihr nur hier helfen? Sie überlegte fieberhaft, ob es nicht noch einen Ausweg gäbe. Dann fiel ihr ein: »Sie sind natürlich der Beamte«, sagte sie zu Henesey, »der mich mit Reginald trauen sollte, nicht wahr?«

 

»Ja, deshalb habe ich die Gesellschaft begleitet – das war der Sinn meines Mitkommens«, erklärte der Sheriff, wandte sich ab und spuckte aus. »Mir wurde gesagt, Sie seien romantisch und hätten die Absicht, hier in den Bergen zu heiraten.«

 

Dorothy wußte plötzlich, was sie tun mußte. Sie trat zu Harry, der ihr trotz seines verbundenen Auges, seines wilden Bartes, seines abgerissenen Aussehens von Anfang an Vertrauen eingeflößt hatte.

 

»Kann ich Sie einen Augenblick allein sprechen?« fragte sie. Sie war rot geworden, sprach aber entschlossen weiter, nachdem sie sich von den anderen entfernt hatten.

 

»Sind Sie verheiratet?« fragte sie schnell.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich gebe Ihnen zehntausend – nein, hunderttausend Dollar, wenn Sie mich jetzt heiraten. Aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie mich verlassen, sobald wir wieder in Little Pine Beach sind.«

 

Er überlegte eine Weile.

 

»Ja«, erwiderte er dann. »Ich werde Sie verlassen, wenn Sie wieder in Little Pine Beach sind und es wünschen, daß ich Sie verlassen soll.«

 

Sie sah ihn prüfend an, aber er zuckte mit keiner Wimper.

 

»Also, wollen Sie mich heiraten?«

 

Er nickte.

 

»Ich sehe nicht ein, warum ich es nicht tun sollte. Ich habe heute abend sowieso nichts Besonderes vor.«

 

Dorothy ging zum Lagerfeuer zurück.

 

»Sheriff Henesey, können Sie mich jetzt trauen?«

 

»Selbstverständlich!«

 

»Mit oder ohne Papiere?«

 

»Eine Heiratsbewilligung brauchen wir hier draußen nicht.«

 

»Das ist ja wunderbar.« Sie nahm Harrys Hand. »Trauen Sie uns.«

 

Rechtsanwalt Parsons sprang auf.

 

»Nein! Das dürfen Sie nicht tun!« rief er laut.

 

»Sie können nichts daran ändern, seien Sie also still!« sagte Harry ruhig. »Mr. Henesey, fangen Sie doch bitte mit der Trauung an.«

 

In der Nacht schlief Dorothy im Zelt ihres Mannes. Er selbst wickelte sich in seine Decken und übernachtete draußen vor dem Zelt.

 

Am nächsten Morgen setzten sie den Ritt fort. Keiner von ihnen sagte ein Wort, und es herrschte allgemein eine gedrückte Stimmung.

 

Nur einmal brach Mr. Parsons das Schweigen.

 

»Wie heißt denn der Kerl eigentlich?« fragte er den Sheriff.

 

»Ich glaube Torker – oder Morley oder so ähnlich. Ich habe den Namen nicht genau verstanden. Aber er muß ihn mir ja sagen, wenn ich den endgültigen Trauschein ausstelle.«

 

Dorothy ritt mit ihrem Mann voraus, aber auch die beiden waren verhältnismäßig schweigsam.

 

Schließlich kamen sie am Nachmittag auf dem Gut Sir John Storeys an.

 

»Sind Sie dem Baron schon einmal begegnet?« fragte Dorothy ihren Mann.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

Sie stellte noch ein paar Fragen, und er nickte nur, ohne etwas zu sagen.

 

»Gesprächiger sind Sie ja nicht geworden!« rief sie ärgerlich aus.

 

»Nein, ich sage selten, was ich denke.«

 

Bestürzt sah sie ihn an.

 

Er fuhr fort: »Vermutlich wollen Sie mich nicht mehr sehen, wenn wir zum Haus kommen. Es wird Ihnen nicht passen, in meiner Gesellschaft gesehen zu werden.«

 

»Sie haben versprochen, mich nach Little Pine Beach zurückzubringen. Außerdem müssen Sie mir doch noch Ihre Adresse sagen, damit ich Ihnen das Geld schicken kann.«

 

»Ich will kein Geld.«

 

»Aber Sie haben es doch versprochen!« rief sie ganz verzweifelt über solchen Starrsinn aus.

 

Er antwortete nicht darauf.

 

Das Haus des Barons war eine große Überraschung für Dorothy. Sie hatte in dieser Umgebung eigentlich Blockhäuser oder ähnliches erwartet. Was sie aber vorfanden, war ein wahrhaft fürstlicher Landsitz. Diener in Livree kamen aus dem Gebäude, halfen ihr beim Absteigen und brachten sie in die große Eingangshalle, die mit Geweihen und anderen Jagdtrophäen geschmückt war.

 

Auch ein Butler erschien, der ebensogut auf ein englisches Schloß hätte gehören können.

 

Dorothy sah sich nach ihrem Mann um, aber er war inzwischen verschwunden.

 

Reginald hatte sie beobachtet.

 

»Nun, wo ist denn der Herr Gemahl geblieben, Mrs …, den Namen habe ich nicht verstanden?« erkundigte er sich spöttisch.

 

Dorothy wurde rot und wandte sich an den Butler.

 

»Ach, würden Sie Mr. – Mr. – sehen Sie doch bitte nach, ob mein Mann draußen ist«, führ sie dann energisch fort. Sie ärgerte sich nicht nur über die Taktlosigkeit des jungen Mannes, sondern schämte sich auch, daß sie ihren eigenen Namen nicht wußte.

 

Der Butler kam gleich darauf zurück.

 

»Er läßt sich entschuldigen – er käme später«, sagte er höflich.

 

»Ist denn Sir John zu Hause?« fragte der Rechtsanwalt.

 

»Nein, er ist augenblicklich nicht anwesend, aber ich werde ihm Ihre Ankunft melden, wenn er zurückkommt. – Ich habe Ihr Gepäck auf die Zimmer bringen lassen, meine Herren. Wollen Sie sich zum Abendessen umkleiden? Sir John tut es immer.«

 

Rechtsanwalt Parsons und sein Sohn hatten selbstverständlich Abendanzüge mitgenommen. Sheriff Henesey war schon wieder fortgeritten. Er hatte die Trauungsurkunde ausgefertigt und befand sich bereits auf dem Weg nach Little Pine Beach.

 

Dorothy sah ihren Mann an diesem Nachmittag nicht mehr. Nur einmal entdeckte sie ihn von weitem, Er hatte den Sheriff ein Stück begleitet und betrat das Haus von der Rückseite durch den Eingang für das Personal.

 

*

 

Mit größter Sorgfalt zog sich Dorothy zum Abendessen an. Es war das erstemal, daß sie in dieser Gegend ein richtiges Abendkleid anlegen konnte. Wie mochte wohl der Baron aussehen, schoß es ihr durch den Kopf. Ob sie ihm gefallen würde? Aber sie verscheuchte diesen Gedanken sofort. Was würde Harry sagen, wenn er sie in diesem Kleid sehen, könnte? Wahrscheinlich dachte er doch an nichts anderes, als möglichst bald in die nächste Stadt zu kommen und das Geld zu vertrinken, das er von ihr erhalten würde und das er bis jetzt so großspurig zurückgewiesen hatte. Trotzdem war sie gespannt, wann sie ihn wiedersehen würde – ihren Mann!

 

Strahlend trat sie ins Speisezimmer, das von vielen Lampen erleuchtet wurde, denn der Baron hatte einen nahegelegenen Wasserfall zu einem Kraftwerk ausbauen lassen.

 

Reggie betrachtete sie spöttisch.

 

»Nun, wissen Sie jetzt, wo Ihr Mann ist?« fragte er.

 

Dorothy ging auf den Butler zu, der respektvoll am Ende des Tisches stand.

 

»Würden Sie so freundlich sein und meinem Mann sagen, daß das Essen angerichtet ist?« bat sie ein wenig verlegen.

 

Sie wollte diese Rolle zu Ende spielen und sich vor allem in Gegenwart der beiden Parsons keine Blöße geben.

 

»Sie meint ›Harry mit den Handschuhen‹«, erklärte Reginald bereitwillig.

 

Der Butler verbeugte sich und verließ das Zimmer. Ein paar Minuten später erschien er wieder, öffnete die Tür weit und trat dann zur Seite.

 

»›Harry mit den Handschuhen‹«, sagte er dann laut.

 

Als der Rechtsanwalt erkannte, wer da hereinkam, fuhr er sich mit der Hand an den Kopf und wurde blaß vor Schreck. Dorothy aber hatte sich voller Staunen erhoben, sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen.

 

Harry hatte sich rasiert und den Verband abgenommen. Seine beiden Augen waren gesund und leuchteten zum erstenmal, seit sie ihn kannte, gutgelaunt und fast belustigt. Der Frack stand ihm tadellos, und das weiße Frackhemd unterstrich sehr vorteilhaft seine braune Hautfarbe.

 

Lächelnd verbeugte er sich, dann ging er zum Platz des Hausherrn. Er kümmerte sich überhaupt nicht um die beiden Parsons, sondern wandte sich lächelnd an Dorothy.

 

»Hoffentlich habe ich Sie nicht zu sehr überrascht«, erklärte er liebenswürdig, »aber Sie müssen bedenken, daß ich sechs Monate lang auf der Jagd war und während der Zeit keine Gelegenheit zum Haarschneiden oder Rasieren hatte.«

 

Er sah zum Butler hinüber.

 

»Tibbins, fangen Sie bitte mit dem Servieren bei Mylady an.«

 

Inzwischen war auch Mr. Parsons zu sich gekommen.

 

»Sie sind also Sir John Storey?« fragte er verlegen.

 

»Ja, das ist mein Name.«

 

»Aber in Little Pine Beach kannte Sie doch niemand?«

 

»Wenn ich dort hingehe, bin ich niemals anders angezogen«, sagte Sir John. »Ich bin leidenschaftlicher Jäger und jage hauptsächlich in jener Gegend. Am Tag vor Ihrer Ankunft traf ich ziemlich abgerissen dort ein. – Zu Ihrer Information, Lady Storey, ich bin in Little Pine Beach als ›Harry mit den Handschuhen‹ bekannt.

 

»Weil Sie immer Handschuhe tragen«, bemerkte Reginald sehr treffend.

 

»Ja, das tue ich, um meine Hände zu schonen.«

 

*

 

Als sich die Parsons zurückgezogen hatten, ging Sir John mit Dorothy auf die weite Terrasse, die einen überwältigenden Ausblick auf die von Mondlicht übergossenen Berge und Wälder bot.

 

»Es ist einzigartig schön hier«, sagte sie ergriffen. »Ich wundere mich jetzt nicht mehr, daß Sie sich hierher zurückgezogen haben. Aber ist es Ihnen manchmal nicht doch etwas einsam?«

 

Er streifte die Asche seiner Zigarette ab, bevor er mit seiner tiefen Stimme antwortete.

 

»Sie haben recht, manchmal ist es ziemlich einsam hier.«

 

Sie schwiegen beide verlegen.

 

»Und es wird noch viel einsamer werden, wenn Sie wieder nach Hause zurückkehren.«

 

Sie lachte und lehnte sich über das Geländer.

 

»Sie sind wirklich ein seltsamer Mann. Aber wenn Sie mich nach Little Pine Beach bringen…«

 

»Ja, was dann?«

 

Sie antwortete nicht gleich.

 

»Ich habe Ihnen versprochen, Sie dorthin zurückzubringen«, erklärte er, »und ich muß mein Wort halten.«

 

»Sie haben aber hinzugefügt, falls ich es wünschte«, erwiderte sie leise.

 

»Und – wünschen Sie es?«

 

Sie spielte mit einer Ranke, die sich um einen Pfeiler wand, und als sie sprach, war es so leise, daß er ihre Worte kaum verstehen konnte. Da nahm er sie einfach in die Arme und küßte sie, und sie wehrte sich durchaus nicht dagegen.

 

Ende

 

Zehn Minuten bevor Snub Reilly seinen Ankleideraum verließ, um in den Ring zu klettern, wurde ihm ein Brief überbracht. Sein Trainer und sein Manager wollten nicht zulassen, daß er ihn öffnete und las. Sie befürchteten einen nachteiligen Einfluß auf den Boxer, in diesem Augenblick, vor dem großen Titelkampf. Snub Reilly sollte gegen Curly Boyd antreten, einen gefährlichen Gegner, der jetzt den Weltmeisterschaftstitel im Mittelgewicht erobern wollte. Vier Boxer hatte Boyd schon k.o. geschlagen, und nun hatte er Snub Reilly herausgefordert. Der Kampf stand unmittelbar bevor.

 

»Geben Sie mir das Schreiben – ich will es lesen!« sagte Snub energisch. Er war ein Mann, der keinen Widerspruch duldete. Rasch überflog er den Brief, der mit der Schreibmaschine geschrieben und von zwei in der Sportwelt bekannten Leuten unterzeichnet war.

 

»Eine Herausforderung«, sagte er kurz. »Einsatz zehntausend Pfund.«

 

»Was ist denn das für ein Kerl?« fragte der Manager.

 

»Hier wird er der ›Unbekannte‹ genannt. Er fordert den Gewinner des heutigen Kampfes heraus. Schicken Sie ihm sofort eine telegrafische Zusage – ich werde gegen den ›Unbekannten‹ kämpfen.«

 

»Wir wollen lieber bis nach dem Kampf warten«, meinte der Manager, den die Zuversicht seines Schützlings beunruhigte.

 

»Nein, schicken Sie das Telegramm sofort ab«, erklärte Snub, zog seinen Frottiermantel an und verließ gleich darauf den Ankleideraum.

 

Der Manager gab das Telegramm auf, aber es war ihm selbst nicht ganz geheuer dabei. Die vierte Runde brachte jedoch schon die Entscheidung zugunsten Snub Reillys.

 

Für Snub war dies ein ungeheurer Erfolg, denn die ganze Welt hatte den Ausgang dieses Kampfes mit Ungeduld und Spannung erwartet. Noch bevor Snub seinen Umkleideraum wieder erreicht hatte, war die Nachricht von seinem Sieg schon in alle Teile der Welt gefunkt worden.

 

Er legte den Frottiermantel ab, ließ die Prozedur des Massierens über sich ergehen, und bereits zehn Minuten nach Beendigung des Kampfes verließ er das Gebäude durch eine Seitentür.

 

Snub Reilly war ein bescheidener Mann.

 

Das Echo dieses großen Erfolges hallte noch tagelang in der Presse wider. Snub wurde wie ein Nationalheld gefeiert. Doch umgab ihn ein Geheimnis. Niemals ließ er sich von Sportreportern oder anderen Zeitungsleuten interviewen und war überhaupt schweigsam und zurückhaltend. Aber gerade diese Eigenschaft ließ ihn dem Publikum als einen außergewöhnlichen Mann erscheinen und schuf ihm einen Nimbus, wie ihn kein anderer Weltmeister vor ihm besessen hatte.

 

*

 

Selbst in dem kleinen und verschlafenen Rindle hallte die Begeisterung für Snub Reilly nach. Der Ort war bekannt für sein gutes Internat, in dem die Söhne der besten Familien der Gegend erzogen wurden.

 

Beim Frühstück las der Direktor des Gymnasiums den Bericht über den Kampf. Er selbst war ein Bewunderer Snub Reillys, und mit Staunen las er von dem blitzschnellen Schlag, der Curly Boyd den Rest gegeben hatte.

 

Seine hübsche neunzehnjährige Tochter Vera saß ihm gegenüber. Auch sie hatte eine Zeitung auf den Knien und las heimlich den Sportbericht.

 

Draußen im Hof stand eine Gruppe von Schülern, die sich auf dem Weg zur Morgenandacht in der Aula befanden. Sie drängten sich um einen ihrer Kameraden, der entgegen aller Schulvorschriften so kühn gewesen war, sich eine Zeitung zu besorgen. Alle hörten zu, wie er ihnen von dem Sieg des angeschwärmten Snub Reilly vorlas.

 

Der Mathematiklehrer Barry Tearle saß inzwischen im Lehrerzimmer und korrigierte die Aufgabenhefte der Schüler. Aber plötzlich lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und dachte an den Boxkampf. Ihn, der gleichzeitig Turnlehrer des Internats war, interessierten natürlich alle Ereignisse des Sportlebens ganz besonders.

 

Da läutete es: Die Morgenandacht sollte beginnen. Tearle erhob sich. Er eilte die Treppe hinunter und über den großen Schulhof. Als er durch den Torbogen kam, dachte er wie immer daran, daß Vera eines der Zimmer darüber bewohnte. Plötzlich hörte er seinen Namen und drehte sich um.

 

Vera Shaw, an die er soeben noch gedacht hatte, stand vor ihm.

 

»Ich habe Sie gesehen, als Sie heute früh heimkamen«, sagte sie und lachte verschmitzt.

 

Barry Tearle wurde verlegen.

 

»Ach – haben Sie mich gesehen? – Ich hatte in der Nähe von Northwood eine Panne. Hoffentlich habe ich Sie nicht gestört.«

 

Vera lachte über sein schuldbewußtes Gesicht. In diesem Augenblick sah sie so bezaubernd aus, daß Tearle sie hingerissen anstarrte.

 

»Nein, Sie haben mich nicht gestört. Ich konnte nicht schlafen, saß am Fenster und schaute in die schöne Mondlandschaft hinaus, als Sie über den Schulhof schlichen wie der Dieb in der Nacht. Anders kann man es nicht nennen. – Haben Sie übrigens den Boxkampf gesehen?« fragte sie plötzlich.

 

»Nein«, entgegnete er schnell, »ich habe ihn nicht gesehen, und ich bin erstaunt, daß Snub Reilly…«

 

»Ach, tun Sie doch nicht so!« unterbrach sie ihn. »Sagen Sie mir lieber, wer dieser Unbekannte ist, von dem es heißt, daß er Snub Reilly herausgefordert hat! – Aber jetzt müssen Sie gehen, sonst kommen Sie zu spät zur Morgenandacht.«

 

*

 

Als Barry Tearle nach der Andacht wieder auf den Schulhof kam, stand Vera noch an derselben Stelle, aber diesmal war Mr. Selby bei ihr, und Tearle vergaß bei diesem Anblick sofort alle frommen Gedanken.

 

John Selby wohnte auch in Rindle. Seine Vorfahren hatten die berühmte Schule gegründet, und er tat nun so, als ob er der Schutzheilige des Internats sei. Er war schlank und mindestens fünfzehn Zentimeter größer als Barry. Man sah ihm auch an, daß er reich war. Er machte Vera Shaw in aller Form den Hof und ließ keinen Zweifel darüber, daß er hoffte, sie eines Tages heiraten zu können.

 

»Guten Morgen, Mr. Tearle«, sagte er zu dem Mathematiklehrer. »Haben Sie gestern den Boxkampf gesehen?«

 

»Nein«, erwiderte Barry ärgerlich. »Sie meinen wohl, ich hätte nichts Besseres zu tun? – Aber waren Sie dort?« fragte er plötzlich.

 

»Ja. Ich habe eben Vera genau geschildert, wie der Kampf verlief. Dieser Reilly ist wirklich toll! Er ist nicht größer als – ich möchte fast sagen, er ist noch kleiner als Sie.«

 

»Nicht möglich!« erwiderte Barry und tat erstaunt. »Haben Sie ihn denn nicht genau angesehen?«

 

»Werden Sie nur nicht ironisch. Natürlich habe ich ihn genau gesehen – aber ich saß nicht gerade in der ersten Reihe. – Das kann ich Ihnen jedoch sagen: Dieser Reilly ist wirklich großartig!«

 

»Das behaupten die Zeitungen auch«, meinte Barry gelangweilt.

 

»Und dieser Idiot von einem Unbekannten, der ihn herausforderte –«

 

»Sie entschuldigen mich wohl«, sagte Barry, lüftete den Hut und ging davon.

 

»Na, dieser Tearle ist aber eine komische Marke!« Mr. Selby schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was in den gefahren ist, Vera.«

 

»Mr. Selby«, sagte das Mädchen ruhig, »bitte nennen Sie mich nicht beim Vornamen.«

 

Er war erstaunt und verletzt.

 

»Aber mein liebes Kind –«

 

»Ich bin auch nicht Ihr ›liebes Kind‹«, sagte sie kühl. »Ich bin überhaupt kein Kind mehr.«

 

Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Schließlich war er ein Selby aus Rindle, und die Selbys aus Rindle richteten sich immer zu ihrer vollen Größe auf, wenn ihnen etwas nicht paßte.

 

»Natürlich – wenn Sie es wünschen, Miss Shaw. Es tut mir leid, daß ich Ihnen zu nahegetreten bin.«

 

Selbstverständlich war das nur eine Redensart, denn es tat ihm durchaus nicht leid. Aber es war eine Antwort, wie man es von einem Vertreter einer der ältesten Familien des Landes erwarten konnte.

 

»Zu nahegetreten sind Sie mir nicht. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich manche Dinge nicht hören mag. – Warum halten Sie übrigens Mr. Tearle für so merkwürdig?«

 

»Nun, ein junger Lehrer hat gerade kein hohes Gehalt, und doch lebt dieser Tearle auf großem Fuß, hat ein Auto und ist immer erstklassig angezogen.«

 

Sie sah ihn ruhig und ein wenig mitleidig an – etwas, das ihn aus der Fassung bringen konnte.

 

»Nun, daran ist doch nichts merkwürdiges! Oder halten Sie es für merkwürdig, daß Sie nicht alles Geld auf der Welt haben?«

 

Er sagte spöttisch: »Es sieht Ihnen ähnlich, daß Sie ihn verteidigen. – Ich wünschte nur …«

 

»Ja, was wünschten Sie?«

 

»Daß andere Verfügungen getroffen würden in bezug auf … Es ist eine große Summe gesammelt worden für den Erweiterungsbau der Schule. Und es ist doch eigentlich gefährlich, daß ein schlechtbezahlter Lehrer, soviel Geld verwaltet.«

 

Schon bevor er zu Ende gesprochen hatte, wußte er, daß er einen Fehler gemacht hatte, denn Veras Gesicht war erst dunkelrot und dann blaß geworden.

 

»Wollen Sie damit sagen –« fragte sie atemlos, und ihre Stimme klang ihr selbst fremd –, »wollen Sie damit sagen daß – Mr. Tearle das Geld – zum Kauf seines Autos … Ach nein, der Gedanke ist ja absurd! Wie können Sie etwas Ähnliches nur andeuten!«

 

Er sah sie überrascht an. Früher hatte er sie immer für ein liebenswürdiges, zartes junges Mädchen gehalten. Aber jetzt sah er eine Vera, die er noch nie erlebt hatte. Ihre graublauen Augen blitzten.

 

»Aber liebe Vera …«, begann er verlegen.

 

»Sie müssen selbst einen ganz gemeinen Charakter haben, wenn Sie sich so etwas ausdenken können«, rief sie erregt. »Ich hasse Sie!«

 

Er stand noch verblüfft an derselben Stelle, als sie schon im Haus verschwunden war. Dann zuckte er die Achseln, schlug den Mantelkragen hoch und trat durch den Torbogen hinaus auf die Straße.

 

»Sehr vorteilhaft sah sie gerade nicht aus«, sagte er halblaut vor sich hin. »Sie benimmt sich eigentlich nicht wie eine Dame. Wie kann man sich nur über Kleinigkeiten so aufregen!«

 

*

 

Veras Vater kam zehn Minuten früher zum Essen, als sie erwartet hatte, und brachte Selby mit. Darüber ärgerte sie sich im stillen.

 

Wenn Selby nur ein bißchen Feingefühl besessen hätte, wäre er nicht mitgekommen! Aber er hatte ein dickes Fell und lächelte Vera verbindlich zu – wie ein Mann von Welt, der nichts nachträgt.

 

Vera war froh, daß sie bei Tisch nicht viel zu sagen brauchte, denn die Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um die am Nachmittag stattfindende Sitzung des Schulausschusses, dessen Vorsitzender Mr. Selby war. Der Erweiterungsbau war ein unerschöpfliches Thema. Vera wartete nur darauf, daß Mr. Selby etwas Abfälliges über Barry Tearle sagen würde, aber er war gewarnt und vermied klugerweise das Thema. Dafür, erwähnte der Direktor Tearles Namen.

 

»Heute morgen gab es einen unangenehmen Zwischenfall in der Stadt«, sagte er. Die Lehrer und der Direktor bezeichneten mit ›Stadt‹ alles, was nicht zur Schule und zum Internat gehörte. »Ich weiß nicht, wie die Sache anfing, aber ich bin fest davon überzeugt, daß unser Schüler im Recht war. – Du erinnerst dich doch sicher noch an diesen Crickley, Vera«, wandte er sich an seine Tochter.

 

»Ja, dieser stadtbekannte Grobian, der voriges Jahr wegen Trunkenheit am Steuer im Gefängnis gesessen hat. Aber gebessert hat er sich nicht.«

 

»Heute morgen muß er wieder betrunken gewesen sein, denn als er mit seiner Frau durch die Stadt ging, stritt er sich mit ihr. Er hob den Stock und schlug auf sie ein. Er kann sie nicht schwer getroffen haben, aber einer unserer Schüler aus der Untersekunda – du weißt schon, der junge Tilling –, der zufällig vorbeikam, mischte sich ein. Dieser Crickley wollte ihn daraufhin auch verprügeln, da kam aber gerade Tearle dazu. Soviel ich hörte, hat er den Mann höflich aufgefordert, den Jungen loszulassen. Das tat Crickley auch, wandte sich aber jetzt gegen Tearle.«

 

»Hat er ihn geschlagen? Ist Tearle verletzt?« fragte Vera schnell.

 

»Nein, ich glaube nicht.« Der Direktor lachte leise und wandte sich an Selby. »Sie kennen doch Tearle? Er ist unser Turnlehrer und ein vorzüglicher Boxer.«

 

»Hat Tearle denn den Mann niedergeschlagen? Gab es einen Auftritt auf offener Straße?« fragte Selby, bereit, sich darüber zu entrüsten. »Ich weiß nicht, ob das den guten Ruf der Schule von Rindle fördert«, meinte er und fühlte sich wieder ganz als Schutzpatron.

 

»Ach, das ist doch Unsinn!« entgegnete der Direktor, und Vera warf ihrem Vater einen dankbaren Blick zu. »Dem Grobian tut das mal ganz gut, und für unsere Schüler gab Tearle ein gutes Beispiel.«

 

Der Direktor schwieg eine Weile. Dann sagte er nachdenklich: »Ich weiß nicht, Vera, ich hatte so ein komisches Gefühl, als ich danach mit ihm sprach. Heute morgen stand in der Zeitung eine Notiz, die du nicht gelesen haben wirst – im Sportteil nämlich –, daß ein Unbekannter Snub Reilly herausgefordert hat.«

 

»Aber Vater, du meinst doch nicht etwa, daß Tearle der Unbekannte ist?« fragte sie verblüfft.

 

»Ja. Unwillkürlich hatte ich den Eindruck, daß es kein anderer sein kann. Ich sprach mit ihm über den glänzenden Kampf gestern und erwähnte auch die Herausforderung. Es war ein harmloses Gespräch, aber er wurde rot wie ein Krebs.«

 

Selby lachte laut.

 

»Das ist doch unmöglich!« sagte er verächtlich. »Ich gebe ja zu, daß er ein ganz guter Boxer sein mag, aber vergessen Sie nicht, Snub Reilly ist Weltmeister seiner Klasse.«

 

Der Direktor zuckte die Achseln.

 

»Mir ist ja selbst klar, daß es lächerlich klingt.«

 

»Außerdem muß der Herausforderer zehntausend Pfund einzahlen, bevor der Kampf ausgetragen werden kann, und zehntausend Pfund sind eine ganz schöne Stange Geld.«

 

Vera schaute zu Selby hinüber. Sie wußte wohl, was er mit diesen Worten sagen wollte. Auch er sah sie an.

 

Als Selby für kurze Zeit das Zimmer verließ, um zu telefonieren, fragte sie ihren Vater: »Wie stehst du eigentlich zu Mr. Selby?«

 

Er sah sie über seine Brille hinweg an.

 

»Ich kann ihn nicht ausstehen. Wenn ich offen sein soll – halte ich ihn für einen dummen, eingebildeten Trottel. Aber er ist nun einmal Vorsitzender des Komitees, und so muß ich eben mit ihm verkehren.«

 

Vera atmete erleichtert auf.

 

»Jetzt sollst du aber etwas zu hören bekommen, was dieser Kerl heute morgen zu mir gesagt hat. Stell dir vor, er machte eine Andeutung, daß Mr. Tearle Geld aus dem Baufonds entwendet haben müßte.«

 

Mr. Shaw sprang auf.

 

»Unerhört! Das ist eine unglaubliche Beleidigung! Ich werde ihn sofort deswegen zur Rede stellen!«

 

»Nein, Vater, das wirst du nicht tun«, fiel Vera ihm ins Wort. »Welchen Zweck hat es denn, wenn ich dir etwas im Vertrauen sage, und du posaunst es sofort aus? Ich habe dir das nur erzählt, damit du Bescheid weißt.«

 

Mr. Shaw setzte sich wieder.

 

»Da hört sich aber doch alles auf!« schimpfte er. »Wie kann dieser Selby nur so dummes Zeug reden! Natürlich hat Tearle die Verwaltung des Geldes, er ist ja Schatzmeister.«

 

»Liegt der Baufonds in barem Geld in einer Stahlkassette? Ich meine, könnte Tearle hingehen und sich soundsoviel Geld in die Tasche stecken?«

 

Der Direktor mußte lachen.

 

»Nein, so werden die Gelder nicht verwaltet. Wir haben sie in Wertpapieren und Aktien angelegt. Tearle kennt sich darin aus. – Aber daß dieser Idiot zu behaupten wagt …«

 

*

 

Mr. Selby war tief in Gedanken versunken, als er an dem Abend nach Hause fuhr. Bis zwei Uhr in der Nacht saß er in seinem Arbeitszimmer und schrieb Briefe an seine Freunde. Darunter befand sich auch der Herausgeber einer Sportzeitung. Von ihm erfuhr Selby Einzelheiten über die Herausforderung. Die zehntausend Pfund mußten bis zum 5. des nächsten Monats eingezahlt werden.

 

Woher mochte Tearle nur diese zehntausend Pfund haben? Wie konnte er eine solche Summe aufbringen?

 

Selby war fest davon überzeugt, daß kein anderer als Tearle der unbekannte Herausforderer war. Eine Bestätigung dafür erhielt er, als er eines Tages in einer Komiteesitzung sah, wie der Mathematiklehrer einige Papiere aus der Tasche holte. Darunter erkannte Selby auch ein grünes Blatt, das, wie er wußte, das Programm des Kampfes Reilly gegen Boyd war. Tearle hatte sich also doch den Boxkampf angesehen, obwohl er es so heftig abgestritten hatte. Außerdem trainierte Tearle hart. Als Selby eines Morgens in aller Frühe zufällig aus dem Fenster seines Schlafzimmers sah, bemerkte er einen Mann im Trainingsanzug, der am Gartenzaun seines Landhauses entlanglief. Als er näher hinsah, erkannte er Barry Tearle.

 

In den folgenden Wochen stellte Selby eingehende Nachforschungen an. Bei einer Sitzung des Schulausschusses frage er nach einer Liste der Wertpapiere, in denen der Baufonds angelegt worden war. Tearle gab sie ihm sofort, und nun hatte Selby, was er brauchte.

 

Um diese Zeit besuchte ihn auch ein Detektiv, der sich in letzter Zeit ständig im Dorf herumtrieb, sich nach allem möglichen erkundigte, mit allen Leuten Bekanntschaft schloß und seine Nase in alles steckte.

 

»Mr. Selby«, sagte der Mann zufrieden, »ich habe ein paar Nachrichten für Sie, die Sie interessieren werden.«

 

Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin.

 

»Gestern nachmittag hat Tearle einen eingeschriebenen Brief abgeschickt. Fragen Sie mich nicht, wie ich es herausbekommen habe, aber ich kann Ihnen sagen, daß darin Aktien der Rochester-Eisenbahn-Gesellschaft, des Landsyndikats und der Newport-Dock-Gesellschaft waren.«

 

»Einen Augenblick«, sagte Selby und ging schnell zu seinem Schreibtisch, wo er eine Schublade aufzog und eine Liste herausnahm.

 

»Lesen Sie mir die Namen der Aktien noch einmal vor, aber langsam.«

 

Der Detektiv tat es.

 

»Ja, es stimmt«, rief Selby befriedigt. »Tearle hat das Geld der Baukommission in diesen Aktien angelegt.«

 

Der Detektiv sah ihn gespannt an.

 

»Was werden Sie mit ihm machen? Wollen Sie ihn verhaften lassen?«

 

Aber Mr. Selby lächelte nur.

 

»Nein«, entgegnete er, »das werde ich nicht tun. Im Gegenteil, es ist besser, wenn er noch einige Zeit in Freiheit bleibt.«

 

Er wanderte im Zimmer auf und ab.

 

»Ich will Ihnen sagen, was ich tun werde: Ich werde alle Lehrer der Schule morgen zum Abendessen einladen. Das ist eine Gepflogenheit der Selbys seit Gründung der Schule. Sie wissen doch, daß das Internat von den Selbys gegründet wurde?«

 

Der Detektiv wußte es nicht, aber er lächelte höflich.

 

»Tearle wohnt bei der alten Mrs. Gold in der High Street«, fuhr Selby fort. »Die ist stocktaub, und soviel ich weiß, geht sie jeden Abend um neun ins Bett. Sie wird nichts merken, wenn Sie in Tearles Zimmer einsteigen.«

 

»Was meinen Sie damit?«

 

»Während ich die Lehrer und auch Mr. Tearle hier bei mir zu Gast habe, werden Sie Tearles Wohnung durchsuchen, vor allem seine Papiere.«

 

Der Detektiv nickte.

 

»Ich verstehe. Aber wie soll ich denn ins Haus kommen?«

 

»Die Haustür ist nicht abgeschlossen, wenn Tearle ausgeht. Er hat dem Direktor neulich in meiner Gegenwart gesagt, daß er niemals einen Hausschlüssel mitnimmt. Es gibt keine Verbrechen in Rindle. Wir leben hier in paradiesischen Verhältnissen.«

 

»Dann sind höchstens wir die Bösewichter«, meinte der Detektiv und lachte.

 

Mr. Selby verzog keine Miene.

 

»Nein, das dürfen Sie nicht sagen. Ich begehe kein Verbrechen, sondern handle im Interesse des Baukomitees, dessen Vorsitzender ich bin.«

 

*

 

Das große Essen, zu dem Selby die Lehrer eingeladen hatte, war für mindestens zwei der Gäste furchtbar langweilig. Der Gastgeber hatte es extra so eingerichtet, daß Vera Shaw an der einen Seite des Tisches neben ihm saß, während Tearle an die andere Seite rechts von Direktor Shaw placiert worden war.

 

Selby wollte an diesem Abend ungestört mit Vera sprechen. Er beabsichtigte, ihr einen Vorschlag zu machen, den er reiflich überlegt hatte.

 

Das Essen war halb vorüber, als er davon anfing.

 

»Miss Vera«, sagte er, »ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen: Wie wäre es, wenn Sie sich den Boxkampf ansehen würden?«

 

»Meinen Sie, ich sollte selbst hingehen – zu dem Kampf zwischen Snub Reilly und dem unbekannten Herausforderer?« Sie dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube nicht, daß ich ihn ansehen möchte.«

 

»Auch nicht, wenn der große Unbekannte ein Freund von Ihnen ist?«

 

Sie errötete.

 

»Aber wie sollte das möglich sein? Sie denken doch nicht, daß Mr. Tearle –«

 

»Ich weiß es! Aber versprechen Sie mir, daß Sie es Tearle nicht weitersagen. Er würde sich nur darüber aufregen, daß Sie es wissen, und dadurch könnte die Sache vor der Zeit bekanntwerden.«

 

»Aber das ist doch ausgeschlossen«, sagte Vera ratlos. »Wie könnte denn Mr. Tearle die zehntausend Pfund –« Sie biß sich auf die Lippen.

 

»Vielleicht hat er gute Freunde, die das Geld für ihn auslegen«, bemerkte Mr. Selby anzüglich.

 

Eine Weile schwiegen beide.

 

»Warum möchten Sie eigentlich, daß ich mir den Kampf ansehe?« fragte sie plötzlich.

 

»Weil ich davon überzeugt bin, daß Tearle gewinnt. Außerdem habe ich das Gefühl, daß er Sie verehrt.«

 

Es kostete Mr. Selby einige Anstrengung, das herauszubringen, aber er wollte Vera unter allen Umständen überreden, sich den Kampf anzusehen.

 

»Ich will Ihre Einladung unter einer Bedingung annehmen«, sagte sie langsam. »Ich glaube, daß ich es einrichten kann. Ich muß sowieso in die Stadt, und meine Tante hat mich schon lange eingeladen, die Nacht über bei ihr zu wohnen. Ich kann ihr sagen, daß ich ins Theater gehe. Aber mit wem soll ich denn zu dem Boxkampf gehen?«

 

»Natürlich werde ich Sie begleiten«, erklärte Mr. Selby höflich. »Und welche Bedingung stellen Sie?«

 

»Wenn Sie herausfinden, daß Ihre Vermutung nicht stimmt und daß der Herausforderer nicht Mr. Tearle ist, bringen Sie mich sofort wieder nach Hause.«

 

»Aber selbstverständlich! Das verspreche ich Ihnen sehr gern. Bitte erzählen Sie aber auf keinen Fall Mr. Tearle, daß Sie sich den Kampf ansehen werden. Es soll doch eine große Überraschung werden.«

 

Auf dem Heimweg zerbrach sich Barry Tearle verzweifelt den Kopf, warum Vera nicht mit ihm gesprochen hatte und was sie so intensiv mit Mr. Selby verhandelt haben mochte. Ob die beiden sein Geheimnis kannten? Er bekam Herzklopfen bei dem bloßen Gedanken daran.

 

Als die letzten Gäste das Haus verlassen hatten, kam der Detektiv in Selbys Bibliothek, und der Hausherr sah auf den ersten Blick, daß er Erfolg gehabt hatte.

 

»Jetzt haben wir ihn!« sagte der Detektiv triumphierend. »Sehen Sie, was ich gefunden habe.« Er legte ein Blatt Papier auf den Tisch. »Ich habe das von einem Brief abgeschrieben, den ich bei Mr. Tearle fand.«

 

Mr. Selby nahm das Papier in die Hand und las. Es war eine Quittung der Stadtbank über den Empfang von zehntausend Pfund, die auf Barry Tearles Konto eingezahlt worden waren. Aus einer zweiten Mitteilung ging hervor, daß die zehntausend Pfund dem Komitee überwiesen worden waren, das den Kampf arrangierte.

 

Mr. Selby lächelte zufrieden.

 

»Das haben Sie glänzend gemacht, mein Lieber^ Was wollen wir jetzt unternehmen?«

 

Aber er wartete die Antwort des Detektivs gar nicht ab, denn er hatte schon einen Plan, wie er Tearle und Vera am wirkungsvollsten treffen konnte. Vor allem wollte er sehen und es Vera auch zeigen, wie Tearle bei dem Kampf geschlagen wurde. Erst wenn alles vorüber war, wollte er eingreifen. Falls dann das Geld verloren war, beziehungsweise das Komitee es nicht mehr herausrücken wollte, so war er ja in der glücklichen Lage, dem Baufonds die Summe zu ersetzen, die Tearle gestohlen hatte.

 

*

 

Vera fuhr an dem Tag, an dem der Kampf stattfinden sollte, nach London, und als Tearle hörte, daß sie fortgefahren war, ohne mit ihm zu sprechen, war er tief enttäuscht.

 

Eine Stunde vor seiner Abfahrt nach London ließ ihn der Direktor zu sich kommen. Tearle war das nicht ganz geheuer, aber er ging doch sofort zu ihm.

 

»Sie wollten mich sprechen?« fragte er, als er dem Direktor gegenüberstand.

 

Der Direktor hob den Kopf.

 

»Ja, Mr. Tearle«, entgegnete er. Ihm war auch nicht wohl in seiner Haut. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich wollte Ihnen sagen, daß ich Ihnen Glück wünsche.« Er reichte dem Mathematiklehrer die Hand. »Mr. Tearle, ich bin ein bißchen nervös wegen dieser Angelegenheit«, fuhr er dann fort, »und mir scheint, daß Sie wenig Aussichten haben.«

 

»Was wollen Sie damit sagen?«

 

»Nun, ich glaube, daß Sie der Unbekannte sind, der den Weltmeister Snub Reilly herausgefordert hat, und das ist mir eigentlich nicht ganz recht. Es könnte bei der Schulbehörde Schwierigkeiten geben, wenn das herauskommt. Aber das werden wir schließlich wieder einrenken können. Ich fürchte nur, daß Sie Ihr eigenes Vermögen dabei aufs Spiel setzen …« Shaw zögerte eine Sekunde, »… wenn natürlich nicht Ihre Freunde für Sie eingesprungen« sind und Ihnen geholfen haben.«

 

»Das braucht Sie nicht zu beunruhigen«, erwiderte Tearle und blickte den Direktor offen an. »Es ist mein eigenes Geld.«

 

»Dann kann ich nur wünschen, daß. Sie gewinnen.« Direktor Shaw drückte ihm noch einmal herzlich die Hand. »Ich habe Sie immer gern gehabt, Mr. Tearle, und ich hoffe aufrichtig, daß es Ihnen gelingen wird. Ich bin sicher, daß sich meine Tochter, wenn sie etwas davon wüßte, meinen Wünschen anschließen würde. Aber sie, hat ja keine Ahnung, daß Sie an dem Kampf teilnehmen.«

 

Barry Tearle machte schweigend eine Verbeugung und verließ das Zimmer.

 

Es war ein großes Erlebnis für Vera. Den ganzen Tag dachte sie an nichts anderes. Sie schwankte zwischen Furcht und Hoffnung, und manchmal wünschte sie, daß sie gar nicht hinzugehen brauchte.

 

Mr. Selby holte sie pünktlich um neun Uhr abends ab. Er war in der besten Stimmung, und er hatte auch allen Grund dazu. Kurz zuvor hatte er sich nämlich von zwei Kriminalbeamten getrennt, nachdem er ihnen ein paar Hinweise gegeben hatte.

 

Er hatte es so eingerichtet, daß er mit Vera den Sportpalast erst kurz vor dem Kampf betrat. Im letzten Augenblick Wurde er jedoch von einem Freund angesprochen, und er entschuldigte sich für einen Augenblick bei Vera.

 

Kaum hatte Vera Zeit zum Überlegen, als ihr auch schon Zweifel kamen: Würde ihre Gegenwart Tearle nicht verwirren? Hätte sie überhaupt kommen sollen? Sie wünschte doch so dringend seinen Sieg!

 

»Sie können später noch mit mir sprechen, Johnson«, hörte, sie Selby sagen. »Ich gehe jetzt hinein.«

 

Gleich darauf nahm er Veras Arm und führte sie in die große Halle.

 

Sie sah sich erschreckt um. Noch, nie hatte sie so viele Menschen auf einmal gesehen. Was würden all diese Leute tun, wenn Barry unterlag? Würden sie pfeifen? Das konnte sie nicht ertragen. Sie blieb stehen.

 

»Ich möchte nicht hierbleiben«, sagte sie leise. »Ich glaube, ich halte es nicht aus.«

 

»Kommen Sie nur«, beruhigte er sie und brachte sie zu einem der vordersten Plätze.

 

Das war ihr besonders unangenehm! Am liebsten hätte sie den Kampf von weiter hinten angesehen, so daß sie die beiden Kämpfer nicht genau unterscheiden konnte. Aber sie mußte bleiben.

 

Dann wurde durch Lautsprecher bekanntgegeben, daß Snub Reilly noch nicht angekommen war. Aber er hatte angerufen, daß er sich auf dem Weg in den Sportpalast befände. Wäre diese Wartezeit nicht gewesen, so hätte Selby bis zum Ende geschwiegen. Nun aber konnte er es sich nicht verkneifen, ihr von seinen Nachforschungen zu erzählen. Sie hörte starr vor Entsetzen zu, fand aber nicht die Kraft, zu widersprechen.

 

Dann kam das Schlimmste. Vera klammerte sich krampfhaft an die Lehnen ihres Sessels, denn ihr wurde plötzlich schlecht.

 

Der Mann, mit dem Selby im Vestibül gesprochen hatte, stand auf einmal neben Selby und sagte ihm, daß Snub Reilly angekommen sei.

 

»Ist der Unbekannte auch da?« fragte Selby und lächelte in der Vorfreude auf seinen Sieg. »Es warten ein paar Kriminalbeamte, die ihn festnehmen werden.«

 

»Ach, tun Sie das nicht – nein, das dürfen Sie nicht tun«, bat Vera verzweifelt.

 

»Sie haben also schon die Kriminalpolizei verständigt?« erkundigte sich der Mann. »Das finde ich aber nicht fair von Ihnen, Mr. Selby. Der Mann saß doch schon einmal im Gefängnis. Warum wollen Sie so hart gegen ihn vorgehen? Kennen Sie ihn denn persönlich?«

 

»Ich kenne ihn sehr gut«, antwortete Selby, »aber ich wußte nicht, daß er schon eine Vorstrafe hat.«

 

»Er ist zwei Jahre im Gefängnis gewesen, und zwar in Australien – wegen Betrugs. Früher war er einer der besten Mittelgewichtler, die wir hier in England hatten. Ich habe, dem Komitee von Anfang an gesagt, daß man seinen Namen nicht verheimlichen sollte. Es hätte gleich eine Sensation gegeben, wenn bekannt geworden wäre, daß Kid Mackey der Herausforderer ist. Aber die Leute, die den Kampf veranstalten, bestanden darauf, ihn als den großen Unbekannten einzuführen.«

 

Vera wurde plötzlich wieder besser.

 

»Wie heißt er?« fragte sie leise.

 

»Kid Mackey«, antwortete Selbys Bekannter. »Einer der besten Boxer, die wir vor drei Jahren hier hatten.«

 

»Dann ist es also nicht Tearle?« fragte Selby entsetzt.

 

Vera hätte am liebsten laut gelacht, als sie seine Enttäuschung sah. Dann fiel ihr plötzlich ein, unter welcher Bedingung sie mitgekommen war.

 

»Jetzt müssen Sie mich nach Hause bringen – das haben Sie versprochen …«

 

Plötzlich erhob sich ein ohrenbetäubender Lärm.

 

Ein Mann in einem feuerroten Frottiermantel kam den Gang entlang, erschien auf der Plattform und winkte dem Publikum zu. Viele erkannten in ihm den früheren Meister im Mittelgewicht.

 

Aber gleich darauf brach noch ein größerer Begeisterungssturm los.

 

»Snub Reilly – Snub Reilly!« rief man von allen Seiten.

 

»Snub Reilly!« stieß Mr. Selby hervor.

 

Reilly drehte sich um, und Vera erhob sich von ihrem Sitz, denn der Weltmeister, der jetzt auf dem Podium stand und zu ihr niedersah – war Barry Tearle!

 

Mr. Selby saß wie versteinert. Vera kam sich wie im Traum vor. Sie sah die letzten Vorbereitungen zum Kampf, dann begann die erste Runde. Unverwandt schaute sie auf Barry, der vorwärts und rückwärts sprang, sich deckte und angriff.

 

Bei Beginn der zweiten Runde legte sich Kid Mackey stärker ins Zeug, obgleich ihm seine Trainer geraten hatten, er solle bis zur letzten Runde in der Verteidigung bleiben. Snub Reillys Linke schoß vor – der Unbekannte schien schwer getroffen zu sein und taumelte. Ein zweiter Haken von Snub Reilly …

 

Der Kampf war vorüber. Für Vera war die Aufregung zu groß gewesen. Wenn Barry Tearle, der plötzlich neben ihr auftauchte, sie nicht aufgefangen hätte, sie wäre bewußtlos umgesunken …

 

*

 

Am nächsten Morgen saß Barry Tearle im Zimmer des Direktors und berichtete. Von den Anstrengungen des vergangenen Abends war ihm nichts anzumerken.

 

»Mein Vater war Berufsboxer. Er reiste überall im Land umher und veranstaltete Schaukämpfe; jeden Schilling, den er verdiente, steckte er in meine Erziehung. Aber nicht nur das. Er gab mir auch Unterricht im Boxen, und von ihm lernte ich Tricks, die kaum ein anderer kennt. Er starb, während ich noch auf der Universität war, und es sah so aus, als ob ich mein Studium nicht fortsetzen könnte. Ich liebte meinen zukünftigen Beruf und wollte durchaus mein Examen machen, aber ich hatte kein Geld. Einflußreiche Freunde besaß ich nicht.

 

Da las ich eines Morgens in der Sportzeitung die Herausforderung eines Boxers, den ich schon öfters bei Kämpfen gesehen hatte. Ich war davon überzeugt, daß ich ihn schlagen konnte und machte alles zu Geld, was ich besaß, um die notwendige Summe zu. hinterlegen. Unter dem Namen Snub Reilly trat ich auf und gewann gleich diesen ersten öffentlichen Kampf. Ich habe dann in allen Ferien drei Jahre lang geboxt, auch nachdem ich die Anstellung hier erhalten hatte. – Aber dies ist mein letzter Kampf gewesen«, setzte er abschließend hinzu und warf einen liebevollen Blick auf Vera.

 

Der Direktor räusperte sich.

 

»Vera hat mir erzählt, daß Selby Sie verdächtigt hat, Aktien verkauft zu haben.«

 

Barry nickte.

 

»Ja, meine eigenen Papiere. Ich mußte zehntausend Pfund hinterlegen. Die Aktien waren von derselben Sorte, in der ich großenteils die Gelder des Baufonds angelegt habe.«

 

»Ich verstehe.« Direktor Shaw nickte. »Sie haben natürlich nur die besten und sichersten Papiere angeschafft, sowohl für sich als auch für die Schule.«

 

Nachdenklich sah er auf die Schreibunterlage, die vor ihm auf dem Tisch lag.

 

»Und nun sagen Sie, es wäre Ihr letzter Kampf gewesen?«

 

Barry nickte. »Ja, von jetzt ab wird Snub Reilly nicht mehr auftreten. Ich habe ein schönes Vermögen zusammengebracht. Das genügt mir.«

 

»Und hier im Internat und in Rindle weiß auch niemand, daß Sie Snub Reilly sind?«

 

»Nur Mr. Selby«, erwiderte Vera.

 

»Ich glaube nicht, daß er darüber sprechen wird«, meinte ihr Vater. »Er hatte eine sehr klägliche Rolle bei der ganzen Sache gespielt.«

 

Dann reichte er Barry die Hand.

 

»Ich wünschte, ich hätte den Kampf selbst auch gesehen. Du nicht auch, Vera?«

 

Sie schüttelte sich und verneinte heftig.

 

»Natürlich. Wie konnte ich nur eine solche Frage stellen!« sagte ihr Vater beruhigend und legte ihr die Hand auf die Schulter.

 

Mr. Tearle und Vera Shaw verließen das alte Schulhaus schweigend.

 

»Jetzt muß ich aber wieder ins Haus gehen, Barry«, sagte sie nach einiger Zeit. »Ach, ich war ja so glücklich, als du gewannst!« Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. »Und ich habe dir auch die kleine Lüge verziehen.«

 

»Welche Lüge?« fragte er erstaunt.

 

»Du sagtest doch damals, daß du den Boxkampf nicht gesehen hättest.«

 

Er lächelte.

 

»Ich habe ihn auch nicht gesehen – ich konnte es ja gar nicht, weil ich selbst daran teilgenommen habe.«

 

Ende

 

Kapitel 4

 

4

 

»In unsern Kreisen wird man noch eher den Diebstahl der Schmuckstücke verzeihen als diese gemeinen Verleumdungen«, sagte Lady Widdicombe ernst.

 

Diana mußte über diese Worte lachen.

 

»Daran sieht man wieder einmal, wie inkonsequent und unmoralisch die Gesellschaft im Grunde ist«, entgegnete sie leichthin. Sie stütze den Kopf auf die Hand und schaute auf das Parkett, wo zahlreiche Paare tanzten.

 

Die Tanzabende von Lady Widdicombe während der Kricketwoche waren bekannt und beliebt, und wer zu den oberen Zehntausend gehörte, war dort zu finden. Eine lange Reihe von Autos hielt dann vor dem großen Parktor.

 

»Ich habe eben mit Mrs. Crewe-Sanders gesprochen«, erklärte Diana, während sie die tanzenden Paare weiter beobachtete. »Sie ist der Meinung, daß niemand in Schloß Morply eindringen kann, der nicht mit der Lage der Räume genau vertraut ist.«

 

»Sie hat natürlich den größten Verlust erlitten«, meinte Lady Widdicombe.

 

Wieder lachte Diana.

 

»Die arme Frau steckt sich aber auch all ihren Schmuck an. Ich wundere mich nur, daß sie den Verlust überhaupt gemerkt hat. Sonderbar ist nur, daß ausgerechnet ihr die Nadel gestohlen wurde, da doch so viele andere Gäste im Haus waren, die ebenfalls eine Menge Schmuck besaßen. – Hallo, Barbara«, erwiderte sie den Gruß einer jungen Dame, die die Galerie entlangkam. »Tanzen Sie denn nicht?«

 

Barbara sah in ihrem cremefarbenen Abendkleid noch schöner aus als sonst. Mit strahlenden Augen blickte sie Diana an. Plötzlich trat ein fragender Ausdruck in ihr Gesicht.

 

»Nanu – haben Sie keine Angst, Ihren kostbaren Schmuck zu tragen?« fragte sie, ohne auf Dianas Worte einzugehen, und deutete auf die glänzende Brillantnadel, die Diana an ihrem weißseidenen Kleid trug.

 

»Wie Sie sehen – nein. Ich glaube nicht, daß der berüchtigte Dieb hierherkommen wird.«

 

»Wollten Sie mich sprechen?« wandte sich Lady Widdicombe an Barbara.

 

»Ja, ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich mein Zimmer gewechselt habe.«

 

»Ach, das ist aber sehr freundlich von Ihnen«,.erwiderte die Dame des Hauses dankbar. »Macht es Ihnen auch wirklich nichts aus?«

 

»Nicht im mindesten«, antwortete Barbara lachend.

 

»Eine der vielen Kusinen meines Mannes ist nämlich krank geworden«, erklärte Lady Widdicombe, »und Barbara war so liebenswürdig, mir sofort anzubieten, daß sie das Zimmer mit ihr tauschen würde.« Sie sah Barbara bewundernd nach, als das Mädchen weiterging. »Übrigens hat Barbara mir gesagt«, fuhr sie dann fort, »daß dieser anonyme Briefschreiber einem ihrer Verwandten etwas Abscheuliches über sie geschrieben hat.«

 

»Sie scheint sich aber nicht viel daraus zu machen«, meinte Diana kühl.

 

»Die Geschichte mit den Verleumdungen ist wirklich zu schlimm!« rief Lady Widdicombe aus, die sich nicht so leicht damit abfand.

 

Auch unten in der weiträumigen Bibliothek, die an diesem Abend als Rauchzimmer für die Herren diente, sprach man über den Juwelendiebstahl auf Schloß Morply und über die anonymen Briefe des ›aufrichtigen Freundes‹.

 

Der Hausherr stand im Kreis seiner Gäste am Kamin. Er war groß und stattlich, und trotz eines chronischen Magenleidens hatte er viel Sinn für Humor. Aber auch er verurteilte das verantwortungslose Tun des anonymen Briefschreibers, der bereits drei Familientragödien auf dem Gewissen hatte – man sprach sogar schon von einer vierten, die sich auf einem benachbarten Schloß anbahnte.

 

Lord Widdicombe konnte sehr interessant erzählen, und als sich das Gespräch den Juwelendiebstählen zuwandte, kam er auf Erfahrungen zu sprechen, die er in Indien gesammelt hatte.

 

»Meiner Meinung nach hat sich dieser Einbrecher deswegen auf Brillantnadeln spezialisiert, weil man sie verhältnismäßig leicht zu Geld machen kann. Als ich seinerzeit Gouverneur von Bombay war, kam man einer Bande auf die Spur, die einen umfangreichen Diamantendiebstahl geplant hatte. Wäre er ihr gelungen, so hätte die englische Regierung dadurch in eine verteufelte Lage kommen können. – Haben Sie schon einmal von dem Diamanten der Göttin Kali gehört? – Ich glaube nicht«, fuhr er lächelnd fort. »In Indien ist das ein sehr bekannter Stein. Er ist nicht besonders groß, und sein Wert wird noch nicht einmal auf tausend Pfund geschätzt, aber der Stein ist so berühmt, daß man ihn nicht für eine Million Pfund kaufen könnte. In einer Beziehung ist er auch wirklich einzig in seiner Art, denn auf einer seiner Flächen ist ein ganzer Vers der heiligen Schriften eingraviert. Nur die Inder mit ihrer unendlichen Geduld sind zu derartigen Dingen fähig. Sie können sich vorstellen, daß die Buchstaben winzig klein sind und daß man schon ein starkes Vergrößerungsglas nehmen muß, um sie überhaupt lesen zu können. Die Inder glauben nun, daß diese Worte nicht von Menschen eingraviert, sondern durch das Wunder einer Gottheit entstanden sind.

 

Es waren früher schon Versuche gemacht worden, den Stein zu stehlen, und schließlich hatte sich die englische Regierung darum gekümmert, denn man wußte wohl, daß es Unruhen geben würde, wenn diese Kostbarkeit abhanden käme. Die Regierung nahm den Diamanten daher in Verwahrung. Bei einem bestimmten heiligen Fest wird er öffentlich ausgestellt – übrigens findet es gerade in diesem Monat wieder statt. Selbstverständlich wurde dieser einzigartige Stein mit der größten Sorgfalt gehütet. Trotzdem gelang es einer Bande indischer Diebe, in das Gewölbe einzubrechen, wo der Stein aufbewahrt wurde, und ihn zu rauben. Das geschah zwei Wochen vor dem großen Fest, und alle Regierungsbeamten waren entsetzt über den Diebstahl. Zum Glück konnten wir uns mit den Räubern in Verbindung setzen, aber wir mußten immerhin hunderttausend Pfund Lösegeld zahlen.«

 

»Dazu mußten Sie wohl überall bekanntmachen, daß der Stein gestohlen worden war?«

 

»Um Himmels willen, das wäre ausgeschlossen gewesen«, erwiderte der Lord, entsetzt über eine derartige Zumutung. »Was meinen Sie, was das Volk getan hätte, wenn es erfahren hätte, daß der heilige Stein Räubern in die Hände gefallen ist? – Nein, wir haben die Sache so geheim wie möglich gehalten. Es durfte kein Wort darüber gesagt werden, denn solche Nachrichten verbreiten sich in Indien mit Windeseile.«

 

Inzwischen war Barbara May in die Bibliothek gekommen. Nun trat sie hinter einen jungen Mann und berührte ihn mit der Hand an der Schulter.

 

Danton erschrak und drehte sich schnell um.

 

»Es tut mir sehr leid«, entschuldigte er sich, »aber ich hörte gerade eine interessante Geschichte.«

 

Er führte sie in den Ballsaal, und ein paar Augenblicke‘ später tanzten sie.

 

Kapitel 17

 

17

 

»Ich weiß nicht, wie ich dir das alles erklären soll, Jack«, begann Barbara, während sie sich erschöpft auf das Sofa fallen ließ und ihn an ihre Seite zog. »Es hängt alles mit dem Diamanten der Göttin Kali zusammen.«

 

»Wie kommt denn der hierher?« erkundigte er sich erstaunt. »Ist das nicht der Diamant, von dem Lord Widdicombe neulich sprach?«

 

Sie nickte ernst.

 

»Der Stein ist aufs neue entwendet worden. Du kannst dir ja vorstellen, welche Anziehungskraft er für viele Leute hat. Einige Zeit wurde der Diebstahl nicht entdeckt, aber schließlich kam ein Oberpriester des Heiligtums dahinter und setzte sich sofort mit der Kriminalpolizei in Verbindung. Er wußte, welche Unruhen es geben würde, wenn der Stein an dem Feiertag nicht ausgestellt werden konnte. Als man den Dieb endlich faßte, hatte er den Stein schon verkauft. Mit verschiedenen anderen Brillanten hatte ihn ein Zwischenhändler nach Europa verschachert.

 

Wir bekamen schließlich heraus, daß der Diamant in London gelandet war. Nun bekam ich den Auftrag, ihn dort zu suchen, denn ich bin seit drei Jahren beim Geheimdienst des Auswärtigen Amtes beschäftigt.«

 

Sie lächelte belustigt, als sie sah, welche Überraschung diese Worte für Jack bedeuteten.

 

»Was, beim Geheimdienst bist du? Dann bist du …«

 

»Etwas Ähnliches wie du. Aber erst laß mich dir schnell fertig erzählen«, unterbrach sie ihn und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Alle Steine wurden an die Juwelierfirma Streetley verkauft. Niemand hatte hier eine Ahnung, daß sich der berühmte Diamant der Göttin Kali darunter befand, denn die seltsame Inschrift war ja kaum zu erkennen. Nun wurde von Indien ein Beamter der Kriminalpolizei hergeschickt, der diesen Mr. Shing mitbrachte. Der ist nicht nur Anhänger der Kali-Sekte, der der Stein gehört, sondern auch ein hervorragender Juwelier. Er weiß genau, wie der Diamant aussieht.«

 

»Dann hatte also dieser Inder das Haus in der Birdin-Bush Road gemietet?« warf Jack ein.

 

»Ja, er wohnte dort, und ihm wurden alle gestohlenen Brillantnadeln gebracht.«

 

»Aber warum wurden denn die Nadeln gestohlen?«

 

»Wir haben sie nicht alle gestohlen«, setzte ihm Barbara auseinander. »Streetley hatte die Brillanten, die er von einem Inder kaufte, dazu benützt, die herrlichsten Brillantnadeln anzufertigen. Die Steine waren groß und schön und paßten vorzüglich in die von ihm entworfenen Fassungen. Als nun die Polizei bei ihm nach dem Verbleib der Steine forschte, stellte es sich heraus, daß wohl auch der Diamant der Göttin Kali in solch eine Nadel gearbeitet worden war. Die Firma wandte sich daher an alle Kunden, denen sie eine solche Nadel verkauft hatte, und versuchte, unter irgendeinem Vorwand die Nadeln zurückzubekommen. Meistens erklärten sich die Kunden einverstanden, aber in einigen Fällen weigerten sich die Eigentümer. Manche glaubten, daß man ihnen irrtümlicherweise einen teureren Stein verkauft hätte, den man ihnen nun wieder abnehmen wollte.

 

In solchen Fällen gab es nur einen Weg, die Brillantnadeln wiederzubekommen – man mußte sie stehlen, und ich erhielt diesen ehrenvollen aber wenig angenehmen Auftrag. Leider hatte ich Pech und mußte bis zur letzten Möglichkeit weitersuchen; erst seit dem Fest bei Lord Widdicombe wußte ich, daß er nur noch in Dianas zweiter Brillantnadel stecken konnte.«

 

»Also hatte Diana doch recht, als sie behauptete, die gestohlenen Schmuckstücke unter deinem Kopfkissen gefunden zu haben?«

 

Barbara nickte vergnügt.

 

»Der Chefinspektor wußte natürlich Bescheid! Als er hörte, daß Diana hinter meine Schliche gekommen war, setzte er sich sofort mit Mr. Smith in Verbindung. Der fuhr gleich in meine Wohnung, nahm die Juwelen an sich und hinterließ den Zettel mit dem schadenfrohen Gruß.«

 

Jack begriff nun, warum ihm sein Vorgesetzter nicht den Auftrag gegeben hatte, auch den Juwelendiebstahl zu klären.

 

Er zog Barbara an sich.

 

Kapitel 18

 

18

 

Am folgenden Nachmittag saß Diana in ihrem Wohnzimmer, als ihr Barbara gemeldet wurde.

 

»Ich habe meine Brillantnadel zurückbekommen, Barbara«, sagte sie zur Begrüßung. »Ich nehme an, daß die Polizei das Schmuckstück gefunden hat. Jack ist wirklich ein großartiger Kriminalbeamter – na, er wußte ja auch, wo er zu suchen hatte!«

 

»Und wo war die Nadel?« erkundigte sich Barbara zuckersüß.

 

»In Ihrer Wohnung, meine Liebe«, entgegnete Diana boshaft. »Und diesmal kann Jack die Sache nicht vertuschen. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß ich an alle unsere Freunde und Bekannten geschrieben und ihnen die näheren Umstände auseinandergesetzt habe.«

 

»Ach, Sie haben geschrieben, daß ich die Juwelendiebin bin?« erwiderte Barbara ruhig.

 

»Ja – Sie sind die Diebin! Es ist zwar ein häßliches Wort, aber – ich glaube, es entspricht doch den Tatsachen, nicht wahr?«

 

»Dann wäre also das erste Geheimnis aufgeklärt«, meinte Barbara. »Ich freue mich, daß alles vorüber ist und daß die Leute jetzt Bescheid wissen. Gleichzeitig können sie dann auch das zweite erfahren.«

 

»Das zweite …?« fragte Diana mißtrauisch.

 

»Die Öffentlichkeit wird erfahren, wer der anonyme Brief Schreiber ist.« – Barbara machte eine wirkungsvolle Pause. »Als ich Ihnen das Schlafmittel gab, fand ich nicht nur die Brillantnadel in Ihrer Schmuckkassette, sondern auch noch ein Bündel Briefe, die Sie geschrieben hatten und am nächsten Tag abschicken wollten.«

 

Ein peinliches Schweigen wurde schließlich durch Dianas kühle Feststellung unterbrochen: »Sie sind verrückt!«

 

»Meinen Sie? Die Briefe waren an die verschiedensten Leute gerichtet, und alle waren mit ›Ein aufrichtiger Freund‹ unterschrieben. Sie enthielten die frechsten und gefährlichsten Denunziationen über die besten Freunde der Empfänger.«

 

»Das ist eine unerhörte Lüge! Das können Sie nie beweisen!« rief Diana erregt aus.

 

»Als ich in Lord Widdicombes Haus zu Gast war, befand ich mich dort in meiner Eigenschaft als Beamtin des Geheimdienstes. Das wußten Sie wohl nicht?«

 

Barbara erklärte ihr ruhig und mit einer gewissen Genugtuung den Auftrag, der sie zuletzt beschäftigt hatte. Sie schloß: »Mir war bereits ziemlich klar, daß Sie die anonymen Briefe schrieben, als ich bei Lord Widdicombe weilte, und ich hatte mir schon vorgenommen, in Ihrem Zimmer danach zu suchen. Ich nahm sie dann mit.«

 

»Das ist auch wieder so eine Lüge!« rief Diana entrüstet, aber man merkte jetzt deutlich, daß sie am Ende ihrer Kräfte – und ihrer Weisheit war. »Es ist aus meiner Kassette nichts weiter gestohlen worden als die Brillantnadel.«

 

»Die Briefe habe ich später in der Nacht wieder zurückgebracht, nachdem ich sie fotografiert hatte. Ich hatte einen Spezialapparat mitgebracht und arbeitete fast die ganze Nacht daran. Und wenn Sie tatsächlich allen Beteiligten geschrieben haben, daß ich die Diebin der Juwelen bin, so muß ich jetzt leider die Konsequenzen daraus ziehen und den gleichen Leuten Fotokopien dieser Briefe schicken und erklären, wer sie verfaßt hat.«

 

Wieder folgte ein langes Schweigen.

 

»Sie brauchen es nicht zu tun, Barbara«, sagte Diana schließlich tonlos. »Ich habe die Briefe, in denen ich es allen mitteilen wollte, daß Sie die Diebin seien, noch nicht abgeschickt.«

 

»Nun, dann ist es wohl besser, wenn Sie sie jetzt vernichten.« Barbara nahm ihren Mantel und ging zur Tür. »Vielleicht finden Sie doch noch eine bessere Beschäftigung als Briefschreiben, Diana«, sagte sie schon im Hinausgehen. »Warum heiraten Sie eigentlich nicht? Als neugebackene Ehefrau kann ich Ihnen nur den Rat geben, es zu tun. Es gibt nichts Angenehmeres.«

 

»Was soll das heißen?« fragte Diana fassungslos. »Sie sind verheiratet?«

 

»Ja. Ich habe, mich heute morgen mit Jack standesamtlich trauen lassen … Aber Sie brauchen mir kein Hochzeitsgeschenk zu machen!«

 

Ende

 

Kapitel 1.

 

1.

 

Mr. John Parsons hielt im Schreiben inne. Sein Bürovorsteher betrat das Zimmer.

 

»Ich bin gerade dabei, an Miss Trent wegen ihrer Erbschaft zu schreiben«, sagte Mr. Parsons.

 

»Soll ich den Brief dann abtippen lassen, damit eine Kopie vorhanden ist?«

 

»Nein, danke, das ist nicht notwendig. Ich will ihr nur zu der Erbschaft gratulieren und ihr die nötigsten Informationen bezüglich des Testamentes geben.«

 

»Das ist doch ein glückliches Mädchen«, meinte der Bürovorsteher. »Mit einem Schlag verfügt sie über eine halbe Million Pfund. Der alte Glenmere hat Landbesitz in Kanada hinterlassen.«

 

»Jaja«, erwiderte Parsons ungeduldig. »Es ist schon gut, Jackson. Ich möchte jetzt den Brief fertigschreiben. Bitte schicken Sie meinen Sohn herein.«

 

Mr. Parsons war ein gerissener Rechtsanwalt und hatte ein untrügliches Gefühl dafür, was er tun durfte und was er lieber unterlassen sollte. Trotz vieler Versuchungen blieb er stets innerhalb der Grenzen des Erlaubten. Einmal machte er allerdings einen Fehler, und das kostete ihn fast sein ganzes Vermögen. Er hatte falsch spekuliert, war aber nicht vollkommen ruiniert und konnte seinen Beruf weiter ausüben. Nur mußte er seinen Sohn von der Militärakademie nehmen und ihm klarmachen, daß er sofort in die Firma eintreten müsse.

 

Kurz darauf starb der alte Glenmere und setzte Parsons als Testamentsvollstrecker ein. Es war ein sonderbares Testament. Einen ganzen Vormittag brachte der Anwalt damit zu, den Wortlaut genau zu studieren. Als er schließlich alle Möglichkeiten sorgfältig durchdacht hatte, ließ er sich an seinem Schreibtisch nieder und verfaßte einen zweiten Brief an Miss Dorothy Trent.

 

Währenddessen war sein Sohn eingetreten. Reginald sah äußerst gelangweilt und mißmutig aus. Er ließ sich seinem Vater gegenüber auf einen Stuhl fallen.

 

»Nun, wie geht es dir, mein Junge?« fragte Mr. Parsons gutgelaunt und schloß dabei den Briefumschlag, der das Schreiben an Miss Trent enthielt.

 

»Ach, es ist entsetzlich! Ich kann dieses Büro nicht ausstehen«, brummte der junge Mann. »Wirklich, Vater, es fällt mir sehr schwer. Ich habe gar nicht geahnt, daß es dir finanziell so schlecht geht.«

 

»Meine letzte Börsenspekulation ist ja leider gescheitert, wie du weißt – aber ich hoffe, daß du noch einmal zufrieden sein wirst, Reggie. Ich habe einen Plan, und wenn der klappt, wird es dir sehr gut gehen. Du kannst dann ein großes Vermögen und eine hübsche Frau bekommen würde dir das nicht gefallen?«

 

Reginald verzog das Gesicht.

 

»So was gibt’s ja nur im Roman«, entgegnete er ärgerlich.

 

»Nein, es kommt auch im lieben vor, du kannst es mir glauben.« Der Vater nickte zur Bekräftigung. »Aber nun bringe mir bitte den Brief zum Kasten.«

 

Reginald nahm den Brief und warf einen Blick auf die Anschrift.

 

»Wer ist denn das?« fragte er.

 

»Ein junges Mädchen – sie erbt das Vermögen des alten Glenmere. Eine halbe Million Pfund!« sagte der Alte mit besonderer Betonung.

 

Reginald warf ihm einen Blick zu.

 

»Ach, das ist wohl die junge Dame, die du für mich im Auge hast?«

 

Parsons nickte.

 

»Na, welche Aussichten hätte denn ich da?« rief der junge Mann spöttisch. »Sie als große Erbin wird natürlich gerade auf mich warten – von so vielen Männern umschwärmt, wie sie es jetzt sein wird. Und natürlich fällt sie auf den ersten Mann herein, der ihr einen Antrag und schöne Augen macht. Sie braucht ja nicht auf Geld zu sehen bei ihrer Heirat.«

 

Mr. Parsons lächelte.

 

»Reggie, verlaß dich auf deinen Vater. Geh jetzt lieber zum Briefkasten und wirf den Brief ein.«

 

Kapitel 2

 

2

 

Der ruhige Haushalt, den Dorothy Trent mit ihrer Mutter in Newhaven führte, war schon auf die Sensation vorbereitet. Sie wußten, daß ihnen Großvater Trent, obwohl er seine Verwandten zu Lebzeiten nicht gerade verwöhnt hatte, eine große Summe hinterlassen hatte.

 

Rechtsanwalt Parsons teilte ihnen nun in einem Brief mit, daß jedoch mit der Erbschaft gewisse Bedingungen verknüpft seien.

 

»Natürlich wirst du tun, was der Großvater in seinem Testament bestimmt«, sagte Mrs. Trent.

 

»Das hängt ganz davon ab, wie die Bedingungen lauten«, entgegnete die Tochter ruhig. »Wenn sie womöglich besagen, daß ich das Adoptivkind seines Kutschers heiraten soll, dann kannst du dich darauf verlassen, daß ich das Geld nicht annehme. Das Vermögen kann dann meinetwegen irgendeiner Stiftung zufallen.«

 

»Du kannst sicher sein, daß Großvater so etwas nicht ins Testament geschrieben hat«, sagte die Mutter lächelnd.

 

Dorothy lachte.

 

»Ach Mutter, heutzutage kann man sich auf nichts verlassen. Ich warte erst einmal die weiteren Erklärungen des Rechtsanwaltes ab. Inzwischen will ich aber nicht mehr ins Büro gehen, denn mir ist so, als würde etwas aus dieser Erbschaft.«

 

Die Trents wohnten in einem kleinen Haus am Rand der Stadt. Dorothy hatte eine Stelle als Stenotypistin im größten Geschäft von Newhaven, aber sie hatte den brennenden Wunsch, noch etwas zu lernen – und vor allem mit der großen Welt in Berührung zu kommen. Sie wollte Reisen machen, und wenn die Bedingungen ihres Großvaters nicht zu hart waren, wollte sie sie gern erfüllen.

 

»Mutter«, sagte sie plötzlich, »wenn wir dieses Geld nun nicht erben, wäre das eine sehr große Enttäuschung für dich?«

 

Mrs. Trent lächelte. Nach einem kurzen Zögern sagte sie: »Ja, es würde mir sehr viel ausmachen. Man hat doch jetzt immer das Gefühl, ständig sparen zu müssen.«

 

Dorothy wartete, denn sie wußte, daß ihre Mutter noch etwas sagen wollte.

 

»Denk auch daran, was für eine große Erleichterung es für dich bedeuten würde! Du brauchst nicht mehr so schwer zu arbeiten und könntest dir dein Leben schön einrichten.«

 

»Auf mich kommt es dabei nicht an. Ich denke nur an dich. Würde es dir eine große Enttäuschung sein?«

 

»Ja, das kann ich wohl sagen«, meinte Mrs. Trent. Sie schien selbst überrascht, daß sie eine so entschiedene Meinung äußerte. »Ich wäre enttäuscht. Aber schließlich kommt das doch gar nicht in Frage, daß du die Erbschaft nicht ausgezahlt erhältst!«

 

»Ich mache mir nur Sorgen wegen der Bedingung, die daran geknüpft ist.«

 

Das Gartentor fiel ins Schloß. Dorothy drehte sich um und erblickte den Briefträger.

 

»Ein Eilbrief!« sagte der Mann.

 

»Scheint von Rechtsanwalt Parsons zu kommen«, meinte Dorothy.

 

Sie nahm den Brief in Empfang, und ein Blick auf den Absender bestätigte ihre Vermutung. Langsam ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich an den Tisch. Gewissenhaft las sie den ganzen Brief, und als sie damit fertig war, fing sie noch einmal von vorne an.

 

»Hm, also das ist die Bedingung«, murmelte sie vor sich hin.

 

»Worum handelt es sich denn, Liebling?« fragte Mrs. Trent.

 

»Ach, es ist eigentlich gar nicht so schlimm – soll ich dir den Brief vorlesen?«

 

Mrs. Trent nickte.

 

»Sehr geehrte Miss Trent«, las Dorothy, »ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, daß Ihr Großvater, James Trent, verstorben ist und in seinem Testament bestimmt hat, daß ich der einzige Testamentsvollstrecker sein soll. Sie erben sein gesamtes Vermögen mit Ausnahme einer kleinen Summe, die er mir, seinem Anwalt, als Zeichen seiner Zuneigung und seines Vertrauens vermacht hat. Ihr Großvater hat sehr spät geheiratet und das nachher bereut. Er wurde deshalb ein Gegner von spätgeschlossenen Ehen, und er wünscht, daß Sie heiraten sollen …«

 

Mrs. Trent richtete sich auf.

 

»Wen sollst du denn heiraten?«

 

»Das Testament schreibt mir keinen besonderen Mann vor«, erklärte Dorothy ruhig, ohne aufzuschauen, »… und zwar frühzeitig«, las sie weiter. »Ihr Großvater bestimmt, daß Sie ein Zehntel des Vermögens sofort erhalten, die anderen neun Zehntel an ihrem Hochzeitstag. Eine besondere Bedingung ist, daß Sie vor Ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag heiraten müssen, andernfalls fällt der Rest des Vermögens an eine Vereinigung zur Unterstützung begabter, aber mittelloser junger Künstler. Ich hoffe, bald von Ihnen zu hören, und verbleibe mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung …«

 

Dorothy faltete den Brief zusammen, legte die Hände in den Schoß und sah erwartungsvoll ihre Mutter an. Aber dann brach sie gleich selbst das Schweigen und fuhr fort: »Mit der Bedingung kann man eigentlich einverstanden sein. Das bedeutet noch etwa« – sie rechnete schnell nach –, »etwa ein Jahr persönliche Freiheit.«

 

»Und während der Zeit findest du hoffentlich jemand, dem du dich anvertrauen kannst und den du lieben lernst.«

 

»Hoffen wir es«, meinte Dorothy.

 

Kapitel 11

 

11

 

Während der nächsten vier Tage gelang es Jack nicht, Barbara zu treffen, obwohl er jeden Morgen in den Hyde Park ging, um sie vielleicht beim Reiten zu sehen. Er ärgerte sich über sich selbst, daß er das tat und daß er jedesmal enttäuscht war, wenn er ihr nicht begegnete. Schließlich konnte er es nicht länger ertragen. Er mußte sie sehen und versuchen, den Verdacht zu entkräften, den er bis jetzt noch nicht hatte abschütteln können. Wenn sich aber seine schlimmsten Befürchtungen als berechtigt herausstellen sollten, konnte er ihr vielleicht helfen, den Folgen ihres gefährlichen, Tuns zu entgehen. Er war fest davon überzeugt, daß sie das Opfer einer Verbrecherbande geworden war und für andere die Kastanien aus dem Feuer holen mußte.

 

Zuerst hatte er vorgehabt, sie in ihrer kleinen Wohnung anzurufen und ihr anzukündigen, daß er sie besuchen würde, aber er fürchtete, daß sie sich dann vielleicht weigern würde, ihn zu empfangen.

 

So machte er sich selbst auf den Weg zu ihrer Wohnung, Als er den Flur des Mietshauses betrat, kam gerade der Fahrstuhl von oben herunter. Er wich ein paar Schritte hinter einen Vorsprung in der Wand zurück und hatte so Gelegenheit, unbemerkt die zwei Männer zu mustern, die den Fahrstuhl verließen. Der erste war der Herr, den Jack in dem Haus in der Bird-in-Bush Road gesehen hatte, der zweite der Geschäftsführer von Streetley. Sie sprachen leise miteinander.

 

Was konnte das nur bedeuten? Zu gerne hätte er sich eingehender mit dieser neuen Beobachtung beschäftigt, aber eine gewisse Scheu hielt ihn davor zurück, Barbara in irgendeiner Weise nachzuspionieren. Er hatte sich schon mehr als genug mit ihrem Privatleben beschäftigt.

 

Im dritten Stock öffnete ihm ein hübsches Hausmädchen die Wohnungstür und führte ihn gleich in das kleine, aber gut eingerichtete Wohnzimmer.

 

Ein paar Minuten später erschien Barbara May.

 

»Das ist aber eine große Überraschung, Mr. Danton«, sagte sie. »Ich freue mich sehr, Sie zu sehen. – Ist etwas passiert?« fügte sie hinzu, als sie sein bedrücktes Gesicht sah.

 

»Ja, die Sache ist ziemlich ernst«, erklärte er. Nach kurzem Zögern fuhr er fort: »Ich habe gesehen, daß zwei Herrn aus dem Fahrstuhl kamen. Waren das Bekannte von Ihnen?«

 

Sie errötete leicht. »Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen. Zwei Herren waren allerdings gerade bei mir – in geschäftlichen Angelegenheiten.«

 

»Ich meine Mr. Smith, den Geschäftsführer der Juwelierfirma Streetley. Er war in Begleitung eines anderen Herren, der in der Bird-in-Bush Road wohnt«, antwortete Jack kühl. Barbaras Erröten war ihm nicht entgangen.

 

»Das klingt alles sehr geheimnisvoll, Mr. Danton«, erwiderte Barbara nach einer Pause. Sie sprach ruhig und sah ihn offen an. »Wollen Sie mir nicht etwas mehr darüber sagen? Bitte erklären Sie es mir doch.«

 

»Nun gut«, stimmte Jack ebenso ruhig zu. »Jedesmal, wenn einer dieser geheimnisvollen Juwelendiebstähle verübt wurde, waren Sie in dem betreffenden Haus anwesend. Ich selbst habe erlebt, wie Sie am Morgen nach dem Diebstahl in Lord Widdicombes Schloß mit mir zur Post gingen, um einen Eilbrief aufzugeben, von dem Sie mir aber nichts sagten. Im Gegenteil, Sie benutzten einen Vorwand, um noch einmal ins Postamt zurückzugehen. Wie ich nachher erfuhr, war der Brief an eine Adresse in London gerichtet, nämlich an das Haus in der Bird-in-Bush Road, in das ich Sie nach unserer Rückkehr nach London gehen sah. Wie ich dann feststellte, wohnt dort ein Inder.«

 

Barbara schwieg, und Jack fühlte, daß er ihr eine Erklärung für sein Vorgehen schuldig war.

 

»Ich mache mir die größten Sorgen wegen dieser Sache. Bitte glauben Sie mir, daß ich nicht als Beamter von Scotland Yard zu Ihnen gekommen bin, sondern nur als – Ihr Freund, der verhindern möchte, daß Sie noch tiefer in Dinge verwickelt werden, die für Sie kein gutes Ende nehmen können.«

 

Sie warf ihm einen warmen Blick zu und legte impulsiv ihre Hand auf die seine.

 

»Das ist sehr lieb von Ihnen, Jack, aber ich glaube, Sie sorgen sich umsonst.«

 

Wieder trat eine Pause ein. Dann fügte sie hinzu: »Auf keinen Fall dürfen Sie sich meinetwegen in Ungelegenheiten bringen.«

 

»Aber wollen Sie mir denn nicht sagen, was das alles zu bedeuten hat? Barbara, haben Sie Dianas Diamantnadel an sich genommen?«

 

Sie antwortete nicht.

 

»Sagen Sie mir doch … Um Himmels willen, sprechen Sie offen mit mir. Diese Sache treibt mich zur Verzweiflung!«

 

Plötzlich erhob sie sich, und er sah, daß sie blaß geworden war.

 

»Ich kann Ihnen nichts erklären, Jack. Wenn Sie glauben, daß ich das Schmuckstück gestohlen habe und wenn Sie mich für eine Diebin halten – ich kann im Augenblick nichts daran ändern, sondern muß Sie bei Ihrem Glauben lassen. – Denken Sie vielleicht auch, daß ich die anonyme Briefschreiberin bin?« fragte sie dann und lächelte leicht.

 

»Nein, nein, das können Sie nicht getan haben! Barbara, sind Sie irgendwie Verbrechern in die Hände gefallen? Benützt man Sie als Werkzeug? Kann ich Ihnen nicht helfen?«

 

Er war so aufgeregt, daß er kaum noch klar denken konnte.

 

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Sie können mir nicht helfen … Nur« – sie sprach die nächsten Worte ganz leise, so daß er sie kaum verstand –, »vertrauen Sie mir. – Und jetzt werde ich Tee bringen lassen, und Sie dürfen keine weiteren Fragen stellen.«

 

»Barbara«, beharrte er, »hängt dieses Geheimnis mit dem Diamanten der Göttin Kali zusammen?«

 

Sie wurde noch blasser und sah ihn fast furchtsam an.

 

»Was sagen Sie?« fragte sie hastig. »Was hat das alles mit dem Diamanten der Göttin Kali zu tun? Ich – ich verstehe Sie nicht, Jack.« Dann verließ sie schnell das Zimmer. Ein paar Minuten später kam ihr Mädchen herein.

 

»Miss May hat Kopfschmerzen und. läßt sich entschuldigen. – Soll ich Ihnen den Tee bringen?«

 

»Nein, danke vielmals«, entgegnete Jack und erhob sich unsicher. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, als er auf die Straße hinaustrat. Wie im Traum ging er weiter.

 

Barbara May war eine Diebin!

 

Kapitel 12

 

12

 

Diana Wold besaß ein großes Vermögen. Es gehörte ihr außerdem ein prachtvolles Stadthaus in London, sie hatte ein Landgut in Norfolk, eine Villa in Cannes und ein kleines Chateau an einem Ufer des Comer Sees. Der Verlust der Brillantnadel machte ihr keine Kopfschmerzen. Im Gegenteil: Sie empfand eine gewisse Befriedigung über die Aufregung, die der Einbruch hervorgerufen hatte, und das Mitleid, das man ihr allgemein zollte. Sie langweilte sich und wußte nicht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte. Deshalb war sie für eine derartige Abwechslung fast dankbar.

 

Viele Männer hatten schon um Dianas Hand angehalten, aber allen gegenüber war sie gleichgültig und unzugänglich geblieben. Männer interessierten sie nur wenig. Zweifellos war sie sehr schön, und sie wußte das auch, aber niemals hatte sie den Wunsch gehabt, Eindruck auf Männer zu machen – bis sie mit Jack Danton zusammentraf, dessen gerades Wesen eine besondere Anziehung auf sie ausübte. Außerdem war er der einzige gutaussehende junge Mann ihres Bekanntenkreises, der ihr gegenüber nicht blasiert und eingebildet auftrat. Er hatte ihr nicht den Hof gemacht und ihr niemals geschmeichelt, und wenn er sie – wie sie glaubte – mit Absicht vernachlässigte, so hatte das für sie den Reiz der Neuheit.

 

Sie kannte ihn von früher her, als er noch beim Militär diente. Schon früher hatte er sich wenig um sie gekümmert. Damals hatte sie sich nichts daraus gemacht, aber nun hatte sie es plötzlich satt.

 

»Jack Danton behandelt mich, als ob ich irgendein elegantes, aber nutzloses Möbelstück wäre«, sagte sie zu Lord Widdicombe, als sie mit ihm in die Stadt fuhr. »Ich habe den begreiflichen Wunsch, als lebendes Wesen angesehen zu werden.«

 

»Das heißt bei dir so viel, daß er dir den Hof machen soll«, erwiderte der Lord kurz, »aber sein Verhalten kann dir doch höchstens angenehm sein. Jack Danton ist eben klug genug, sich eine Menge Enttäuschungen zu ersparen.«

 

Sie lachte spöttisch.

 

»Ich glaube nicht, daß er überhaupt imstande ist, eine Frau anzuhimmeln.«

 

Eigentlich hatte sie erwartet, daß Jack ihr einen Besuch machen würde, nachdem sie nun auch nach London zurückgekehrt war, aber er ließ sich nicht sehen. Schließlich schrieb sie ihm ein paar Zeilen und lud ihn zum Tee ein.

 

Er kam pünktlich auf die Sekunde, und schon diese Korrektheit ärgerte sie. Zu deutlich gab er zu erkennen, daß es sich, was ihn anging, hier nur um eine Formalität handelte.

 

»Jack«, sagte sie, nachdem sich die Unterhaltung eine Weile mühsam dahingezogen hatte, »man sollte meinen, daß Sie in einem Buch mit Anstandsregeln gelesen haben, wie man höflich, aber belanglos Konversation macht. Ich hatte gehofft, Sie würden mir interessante Neuigkeiten berichten. Können Sie mir nicht einmal einen kleinen Einblick in Ihre Tätigkeit geben? Sie haben doch Morde aufzuklären und kommen mit echten Verbrechern zusammen. Es muß ein aufregendes Leben sein, das Sie führen.«

 

Er sah sie so bestürzt an, daß sie lachen mußte.

 

»Aber Jack, Sie glauben doch nicht etwa, es hätte niemand eine Ahnung davon, daß Sie bei der Polizei sind? Wir wissen alle sehr gut, daß Sie für Scotland Yard arbeiten. Deshalb ist die Bekanntschaft mit Ihnen doch so faszinierend.«

 

Er lachte verlegen.

 

»Es tut mir leid, wenn ich Sie in dieser Beziehung enttäuschen muß, denn ich hatte bisher noch keine großen Fälle zu bearbeiten. Außerdem ist das Leben bei der Kriminalpolizei nicht so romantisch, wie Sie vielleicht denken. Wir arbeiten nach modernen und wissenschaftlichen Methoden, und im allgemeinen ist. die Sache nicht besonders anziehend oder unterhaltsam. Aufsehenerregende Verbrechen kommen nur hin und wieder vor.«

 

»Warum heiraten Sie eigentlich nicht?« fragte sie unvermittelt.

 

»Warum sollte ich denn heiraten?« erwiderte er erstaunt. »Aber meine liebe Miss Wold –«

 

»Bitte sagen Sie doch nicht immer Miss Wold zu mir. Früher haben Sie mich mit dem Vornamen angeredet, und wenn Sie das jetzt nicht mehr tun wollen, kann ich Sie auch nicht länger Jack nennen.«

 

»Dem kann abgeholfen werden, Diana«, gab Jack lächelnd nach. »Sie wollen also erfahren, warum ich noch nicht geheiratet habe? – Ja, das mag der Himmel wissen. Zunächst bin ich arm und habe nicht genug Geld, um eine Frau unterhalten zu können. Und zweitens …«

 

»Ja – und zweitens?« wiederholte sie, als er zögerte.

 

»… gibt es niemand, der mich heiraten will.«

 

»Haben Sie denn keine Frau gern?«

 

»Nein«, antwortete er kurz.

 

Sie sah auf das Taschentuch, das sie in der Hand hielt.

 

»Meiner Meinung nach sollte doch aber die Geldfrage entscheidend sein, wenn es sich um eine Heirat handelt. Warum wählen Sie nicht ein reiches Mädchen? Es gibt doch so viele.«

 

»Ich wüßte keine, die ich so liebte, daß ich sie heiraten möchte«, erklärte er lächelnd. »Außerdem würde ich es nicht ertragen, von dem Geld meiner Frau zu leben.«

 

»Darin irren Sie sich aber. Da sieht man wieder einmal Ihren unglaublichen Hochmut. Wenn Sie ein reicher Mann wären, würden Sie es sich doch keinen Augenblick überlegen, ein armes Mädchen zu heiraten, und ihr würde es auch nichts ausmachen. Sie würden sich dann wahrscheinlich wie ein Wohltäter vorkommen.«

 

Aber Jack schüttelte den Kopf.

 

»In der Beziehung bin ich anderer Meinung. Ich eigne mich nicht zum Almosenempfänger.«

 

Diana ärgerte sich über diese Antwort. Sie hatte zwar keine Lust, Jack zu heiraten – sie wollte überhaupt nicht heiraten, wenn sie ehrlich war –, aber sie hätte es gern gesehen, daß Jack ihr einen Antrag machte, damit sie wieder einmal das Gefühl hatte, im Mittelpunkt zu stehen und jemand ihre Macht spüren lassen zu können. Aber Jack schien überhaupt nicht an dergleichen zu denken, und sie fing an, ihn deshalb zu hassen.

 

»Lieben Sie Barbara May?«

 

Jack zuckte zusammen.

 

»Gerade das hat der anonyme Brief Schreiber meinem Vorgesetzten mitgeteilt.«

 

»Ach, erzählen Sie mir doch etwas davon! Wissen Sie, wer diese unverschämten Briefe verfaßt?« fiel sie eifrig ein. »Glauben Sie, daß es ein Mann ist oder eine Frau? Also haben auch Sie sein Interesse auf sich gezogen. Und er behauptet, daß Sie in Barbara verliebt seien? Das finde ich gar nicht dumm von ihm.«

 

»Nun, mir kam es nicht besonders klug vor, und eines Tages werde ich den ›aufrichtigen Freund‹ festnehmen, und er wird nichts zu lachen haben, wenn er vor Gericht steht.«

 

Also – es stimmte: Jack liebte Barbara! Diana hatte sich nicht getäuscht. Sie hatte ihn durchschaut, und trotzdem ärgerte sie sich über diese Gewißheit. Sie konnte Barbara nicht leiden, und sie wußte, daß das auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie hatte Barbara im Verdacht, die Diebin zu sein. Weiche Sensation würde es geben, wenn sich dieser Verdacht bestätigen sollte! Jack Danton würde als Beamter von Scotland Yard die Frau verhaften müssen, die er liebt. Der Gedanke gefiel ihr.

 

Nachdem Jack gegangen war, überlegte sie, was sie als nächstes tun müßte, um den Stein ins Rollen zu bringen.

 

Kapitel 13

 

13

 

Sie kannte Barbaras Adresse. Vor allem mußte sie sich Zutritt zu ihrer Wohnung verschaffen und bei einer günstigen Gelegenheit mit größter Genauigkeit die Räume durchsuchen. Sie war fest davon überzeugt, daß sie dort genug Beweise für Barbaras Schuld finden würde.

 

Diana telefonierte als nächstes mit einer Detektivagentur. Sie bat den Inhaber, sie aufzusuchen.

 

»Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen, Mr. Day«, sagte Diana, als der Chef des Unternehmens bei ihr war. »Ich habe eine meiner Freundinnen in Verdacht, der anonyme Briefschreiber zu sein, von dem Sie sicher gehört haben.«

 

»Ach, Sie wissen, wer dieser ›aufrichtige Freund‹ ist?« erwiderte Mr. Day erstaunt.

 

Diana nickte.

 

»Ich möchte aber nicht, daß die Polizei sich mit der Sache befaßt, denn ich will verhüten, daß die Dame in der Öffentlichkeit bloßgestellt wird«, erklärte sie. »Es wäre mir furchtbar, wenn sie vor Gericht erscheinen müßte. Aber ich möchte doch feststellen, ob sich mein Verdacht bestätigt. Aus diesem Grund will ich ihre Wohnung durchsuchen, während sie und ihr Mädchen ausgegangen sind.«

 

Mr. Day gefiel die Sache nicht.

 

»Das ist aber eine sehr riskante Angelegenheit. Da kommen wir der Kriminalpolizei in die Quere. Ich darf so etwas nicht machen, denn ich war früher selbst Beamter von Scotland Yard und habe allen Grund, auf meinen guten Ruf zu achten.«

 

»Sie erhalten eine so hohe Belohnung, daß Sie Ihr Risiko nicht zu bereuen brauchen«, versicherte Diana schnell. »Außerdem erwarte ich von Ihnen gar nicht, daß Sie die Wohnung betreten. Sie brauchen mir nur den Schlüssel zu beschaffen.«

 

»Das ist etwas anderes«, entgegnete der Detektiv nun bereitwillig. »Einen Schlüssel zu der Wohnung kann ich Ihnen besorgen. Und ich kann Ihnen auch insofern behilflich sein, als ich herausbringe, wann die Dame und ihr Mädchen die Wohnung verlassen.«

 

»Mehr verlange ich auch nicht von Ihnen.« Diana öffnete ihren zierlichen Schreibtisch und nahm mehrere Banknoten und einen Zettel heraus. »Hier sind zunächst hundert Pfund als Anzahlung, Mr. Day, und die Anschrift der Dame.«

 

Hocherfreut verabschiedete sich der Detektiv.

 

Am nächsten Donnerstag, drei Tage später, ließ er sich wieder bei Diana melden. Den Schlüssel zu Barbaras Wohnung hatte er mitgebracht. Diana steckte ihn lächelnd ein.

 

Am nächsten Morgen wurde sie angerufen.

 

»Die Person, für die Sie sich interessieren, ist heute nach Sunningdale gefahren, wo sie Mrs. Mersham besucht. Sie hat ihr Mädchen mitgenommen.«

 

Diana suchte nun alle Schubladen- und Schrankschlüssel zusammen, die sie finden könnte, denn wenn irgendwelche Schuldbeweise in Barbaras Wohnung lagen, würden sie sicher eingeschlossen sein.

 

*

 

Als sie das Miethaus betrat, in dem Barbara wohnte, war niemand zu sehen. Leise stieg sie die drei Treppen hinauf, da sie das für sicherer hielt, als den Fahrstuhl zu benutzen. Oben schloß sie die Tür zu Barbaras Wohnung auf, die sie sofort wieder hinter sich zumachte.

 

Sie durchsuchte ein Zimmer nach dem anderen, fand aber keine verdächtigen Dinge, bis sie in das Schlafzimmer kam. Der Raum war groß und hell und modern möbliert. Nur eine Schublade war abgeschlossen, und als sie sie mit einem der mitgebrachten Schlüssel aufbekam, mußte sie feststellen, daß sie leer war.

 

Schon wollte sie das Zimmer verlassen, als ihr der Gedanke kam, das Bett zu untersuchen. Und tatsächlich – als sie unter das Kopfkissen faßte, spürte sie etwas Hartes unter dem Laken. Sie zog es weg und sah, daß in die Matratze ein viereckiger Ausschnitt eingearbeitet war, in dem sich eine Stahlkassette befand. Mit zitternden Händen hob Diana sie heraus und trug sie zu dem Tisch in der Nähe des Fensters.

 

Der Kasten war zwar verschlossen, aber das Schloß nicht besonders kompliziert. Schließlich gelang es ihr, es zu öffnen. Staunend sah sie mehrere Fächer in der Kassette und – die Brillantnadeln, die, immer zwei zusammen, darin lagen. An jeder Nadel war ein Zettel mit dem Namen des Eigentümers befestigt. Auch ihre eigene Nadel entdeckte sie. Zwei weitere Einsätze unter dem obersten enthielten das gleiche.

 

Was sollte sie jetzt tun? Sie befand sich in einer schwierigen Lage. Unmöglich konnte sie die Stahlkassette zur Polizei bringen. Sie könnte ja nicht zugeben, daß sie unerlaubterweise in Barbaras Wohnung eingedrungen war. Das hätte sie selbst in Verdacht gebracht. Und wenn die Sache herauskam, würden alle ihre Bekannten ihr Vorgehen scharf verurteilen, auch wenn es in bester Absicht geschehen war.

 

Aber plötzlich kam ihr ein guter Gedanke. Sie verschloß die Kassette sorgfältig wieder und stellte sie an ihren Platz in der Matratze zurück. Dann richtete sie das Bett und verließ die Wohnung.

 

Ein paar Minuten später fuhr sie mit ihrem Auto nach Hause. Sie war außer sich vor Freude, denn nun konnte sie sich an Barbara rächen.

 

Sie rief bei Scotland Yard an, und durch einen glücklichen Zufall erwischte sie Jack selbst.

 

»Ach, bitte, kommen Sie doch gleich zu mir«, sagte sie. »Ich muß Ihnen etwas Wichtiges mitteilen.«

 

»Es tut mir außerordentlich leid«, entschuldigte er sich, »aber ich habe im Augenblick keine Zeit.«

 

»Ich sagte Ihnen doch, daß es äußerst wichtig ist – es handelt sich um Barbara May.«

 

»Dann werde ich kommen«, erwiderte er kurz.

 

Sie konnte seine Ankunft kaum erwarten, im Vorgefühl ihrer Genugtuung. Welch niedriger Gefühle, sie fähig war, konnte Jack nicht ahnen, und es würde noch eine Weile dauern, bis er dahinterkam.

 

Als er eintrat, saß sie am Teetisch.

 

»Ich bin aber nicht zum Tee gekommen, Diana«, erklärte er ärgerlich.

 

»Sie werden aber doch Tee mit mir trinken«, entgegnete sie liebenswürdig. »Ich muß Ihnen etwas Wichtiges sagen, und am Teetisch komme ich in die richtige Stimmung, Ihnen Skandalgeschichten zu erzählen.«

 

Zögernd setzte er sich und wartete. Er war gespannt, was sie ihm mitzuteilen hatte.

 

»Sie sind doch Kriminalbeamter, Jack?« erkundigte sie sich, während sie ihm eine Tasse reichte.

 

»Ja, das wissen Sie doch«, antwortete er fast schroff.

 

»Sie haben also einen Diensteid abgelegt, und soviel ich weiß, müssen sich Beamte ebenso an ihren Eid halten wie Soldaten.«

 

Er stellte die Tasse auf den Tisch zurück.

 

»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Diana?«

 

»Ich habe herausgebracht, wer der Juwelendieb ist«, rief sie triumphierend, »und ich kann Ihnen auch sagen, wo die gestohlenen Schmuckstücke liegen – in der Wohnung von Barbara May! Sie befinden sich in einer Stahlkassette unter ihrem Kopfkissen.«

 

Er war wie vom Donner gerührt.

 

»Wo ist Barbara?« fragte er heiser.

 

»Ich weiß es nicht – und es interessiert mich auch nicht. Aber ich sage Ihnen noch einmal, Jack, daß sich die Juwelen in ihrer Wohnung befinden. Es ist Ihre Pflicht, das Ihrem Vorgesetzten zu berichten.«

 

Zögernd erhob er sich.

 

»Ja, das muß ich wohl«, gab er zu, und Diana war sicher, daß er es tun würde.

 

Der Chefinspektor hörte Jacks Bericht an, aber er schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken.

 

»Woher weiß denn Miss Wold, daß die gestohlenen Schmuckstücke in Miss Mays Wohnung liegen?«

 

»Ich habe keine Ahnung, wie sie es erfahren haben könnte«, entgegnete Jack müde. »Ich habe die Sache gemeldet und damit meine Pflicht getan.«

 

»Nun gut.« Der Chefinspektor drückte auf eine Klingel. »Da Sie nun einmal in den Fall verwickelt sind, ist es wohl am besten, wenn Sie die Durchsuchung der Wohnung selbst übernehmen. Ich lasse den Haussuchungsbefehl jetzt ausfertigen, dann werden Sie weiter keine Schwierigkeiten haben, hineinzukommen. Und da Miss Wold sich so dafür interessiert, ist es wohl besser, wenn sie dabei ist.«

 

»Muß das sein?«

 

»Ja«, entschied der Chef Inspektor. »Die Dame hat eine schwere Beschuldigung gegen Miss May erhoben, und ich bestehe darauf, daß das Schlafzimmer in ihrer Gegenwart durchsucht wird.«

 

Jack Danton war wütend, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als Diana anzurufen.

 

Sie hörte, daß seine Stimme vor Erregung zitterte, und lächelte siegesgewiß.

 

»Wann soll das denn sein?« fragte sie liebenswürdig.

 

»Ich fahre jetzt gleich: hin«, sagte er und hängte ein.

 

Sie wartete bereits am Eingang des Hauses, als Jack in Begleitung zweier Kriminalbeamter dort eintraf. Er beachtete sie kaum.

 

»Sie benehmen sich aber nicht sehr korrekt«, meinte sie, als sie zusammen im Fahrstuhl nach oben fuhren. »Ich habe doch wohl das Recht, mich darum zu kümmern, wer meine Brillanten gestohlen hat!«

 

Er überhörte ihre Worte.

 

Es war den Beamten ein leichtes, die Wohnung zu öffnen. Diana führte Jack zum Schlafzimmer.

 

»Vor allem muß ich jetzt wissen, woher Sie erfahren haben, daß sich die gestohlenen Juwelen hier befinden«, sagte Jack und vertrat ihr die Tür.

 

»Es ist mir eine entsprechende Mitteilung zugegangen«, antwortete sie gleichgültig. »Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.«

 

»Gut, dann zeigen Sie uns jetzt, wo sich die gestohlenen Schmuckstücke befinden.«

 

»Mit dem größten Vergnügen.« Sie ging voran ins Zimmer, schlug das Bett auf und zog Kissen und Laken fort. »Sehen Sie her«, sagte sie triumphierend und zeigte auf die schwarze Stahlkassette.

 

Tief betroffen nahm Jack den Kasten heraus und setzte ihn auf den Tisch, wo Diana ihn erst vor kurzem geöffnet hatte.

 

Einer der Kriminalbeamten zog einen Bund Nachschlüssel aus der Tasche und machte die Kassette auf.

 

»Hier haben Sie die gestohlenen Sachen!« rief Diana.

 

»Wo denn?« fragte Jack.

 

Sie starrte in das Innere des Kastens und wollte ihren Augen nicht trauen.

 

Der oberste Einsatz war leer.