Der Karneval in Rom.

 

Der Karneval in Rom.

 

Als Franz zu sich kam, erblickte er Albert, der ein Glas Wasser trank, was er, nach seiner Blässe zu urteilen, sehr nötig hatte, und den Grafen, der bereits die Tracht eines Bajazzo anlegte. Auf dem Platze war alles verschwunden, Schafott, Henker, Opfer; nur das geräuschvolle, geschäftige, lustige Volk war noch übrig; die Glocke des Monte-Citorio, die nur beim Tode des Papstes und bei der Eröffnung des Karnevals hörbar wird, ertönte in vollen Schwingungen.

 

Nun! fragte er den Grafen, was ist denn vorgefallen?

 

Nichts, durchaus nichts, wie Sie sehen, erwiderte der Graf; der Karneval hat nun begonnen, und wir wollen uns ankleiden.

 

In der Tat, sagte Franz, von dieser ganzen furchtbaren Szene ist nichts mehr vorhanden, als die Spur eines Traumes.

 

Weil es nichts anderes ist, als ein Traum, ein Alp, den Sie gehabt haben.

 

Ja, ich, aber der Verurteilte?

 

Auch für ihn ist es ein Traum, nur ist er eingeschlafen geblieben, während Sie erwacht sind; und wer vermag zu sagen, welcher von beiden besser daran ist?

 

Und Peppino, fragte Franz, was ist aus ihm geworden?

 

Peppino ist ein Mensch von Verstand und ohne alle Eitelkeit. Während sonst die Leute wütend darüber werden, wenn man sich nicht mit ihnen beschäftigt, war er entzückt, als er sah, daß sich die allgemeine Aufmerksamkeit seinem Kameraden zuwandte; er benutzte daher die Zerstreuung, um unter die Menge zu schlüpfen und zu verschwinden, ohne auch nur den würdigen Priestern, die ihn begleitet hatten, zu danken. Der Mensch ist offenbar ein sehr undankbares und selbstsüchtiges Geschöpf … Doch kleiden Sie sich an! Sie sehen, Herr von Morcerf geht Ihnen mit gutem Beispiel voran.

 

Albert zog mechanisch seine Taffethose über seine schwarzen Beinkleider und seine Lackstiefel.

 

Nun, Albert, fragte Franz, sind Sie wirklich im Zuge, Karnevalstollheiten zu begehen? Sprechen Sie offenherzig.

 

Nein, aber es ist mir lieb, daß ich eine solche Szene gesehen habe, und ich begreife nun, was der Herr Graf sagte. Hat man sich einmal an ein solches Schauspiel gewöhnen können, so ist es das einzige, das noch Aufregung gewährt.

 

Abgesehen davon, daß man in diesem Augenblick allein Charakterstudien machen kann, sagte der Graf. Auf der ersten Stufe des Schafotts reißt der Tod die Larve ab, die man das ganze Leben hindurch getragen hat, und das wahre Gesicht erscheint. Man muß gestehen, Andreas war nicht schön anzuschauen … der häßliche Schuft! … Kleiden wir uns an, meine Herren! Ich fühle das Bedürfnis, Pappenmasken zu sehen, um mich über die Fleischmasken zu trösten.

 

Franz schämte sich, dem Beispiel der beiden andern nicht zu folgen. Er legte daher ebenfalls sein Kostüm an und nahm seine Maske, die sicher nicht bleicher war als er. Als alle drei mit der Toilette fertig waren, gingen sie hinunter. Der Wagen wartete vor der Tür, voll von Confetti und Sträußen. Man schloß sich der Reihe an.

 

Es läßt sich kaum ein vollständigerer Gegensatz denken, als der, welcher sich jetzt vollzogen hatte. Statt der düsteren, schweigsamen Todesszene bot die Piazza del popolo den Anblick einer tollen, brausenden Orgie. Eine Menge von Masken drängte von allen Seiten hervor, strömte aus allen Türen, stieg von allen Fenstern herab; mit Pierrots, Harlekins, Dominos, Marquis, mit Trasteverinern, Grotesken, Kavalieren und Bauern beladen, quollen die Wagen aus allen Straßenecken hervor, und alles schrie, gestikulierte, schleuderte Eier voll Mehl, Confetti, Sträuße, griff mit Worten und Geschossen Freunde und Fremde, Bekannte und Unbekannte an, ohne daß jemand das Recht hatte, sich darüber zu ärgern, ohne daß auch nur einer etwas anderes tat, als lachen.

 

Franz und Albert waren wie Menschen, die man, um sie von einem heftigen Kummer zu zerstreuen, zu einer Orgie führt, und die, je mehr sie trinken und sich berauschen, fühlen, wie sich ein immer dichterer Schleier zwischen die Vergangenheit und die Gegenwart zieht. Sie sahen immer noch den Wiederschein dessen, was sie geschaut hatten. Aber allmählich erfaßte sie doch die allgemeine Trunkenheit; es kam ihnen vor, als sei ihre schwankende Vernunft im Begriff, sie zu verlassen, sie verspürten in sich das Bedürfnis, an diesem Geräusch, an dieser Bewegung, an diesem Schwindel teilzunehmen. Eine Handvoll Confetti (etwa erbsengroße Wurfkügelchen aus Gips), die Morcerf von einem benachbarten Wagen zuflog, prickelte ihn am Halse und an allen Teilen seines Gesichts, die nicht durch die Maske geschützt waren, als hätte man ihm hundert Nadeln zugeworfen, und dies zog ihn vollends in den allgemeinen Kampf hinein, in den bereits alle Masken verwickelt waren. Er erhob sich nun auch in seinem Wagen, schöpfte mit vollen Händen aus den Taschen und schleuderte mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft und Geschicklichkeit seine Geschosse gegen seine Nachbarn. Von nun an nahm der Kampf ununterbrochen seinen Fortgang. Die Erinnerung an das, was sie eine halbe Stunde zuvor gesehen, verwischte sich bei Franz und Albert völlig, so viel Abwechslung bot ihnen das buntscheckige, bewegliche, tolle Schauspiel, das sie vor sich hatten. Auf den Grafen von Monte Christo dagegen schien nichts einen besonderen Eindruck hervorbringen zu können.

 

Man denke sich die große, schöne Straße des Korso, von einem Ende zum andern mit Palästen von vier bis fünf Stockwerken eingefaßt, deren Balkone insgesamt mit Teppichen verziert, deren Fenster alle reich drapiert sind, auf diesen Balkonen und an diesen Fenstern dreimal hunderttausend Zuschauer, Römer, Italiener, Fremde aus allen Weltteilen; alles Vornehme vereinigt: Aristokraten der Geburt, des Geldes und des Genies; reizende Frauen, die, von diesem Schauspiel hingerissen, sich über die Balkone herabneigen, aus den Fenstern sich beugen und auf die vorüberfahrenden Wagen einen Hagel von Confetti regnen lassen, auf den man ihnen mit Sträußen erwidert, bis die Luft ganz voll ist von herabfliegenden Dragées (Zuckerwerk) und hinaufsteigenden Blumen. Dazu auf der Straße eine freudige, rastlose, tolle Menge in den phantastischen Trachten und Gestalten: wandernde Kohlköpfe, Büffelköpfe, auf menschlichen Leibern brüllend, Hunde, die auf den Vorderbeinen zu gehen schienen; und mitten darunter eine Maske, die sich lüftet, oder irgend eine Astarte, die ein reizendes Gesicht zeigt, von dem man aber, wenn man ihm folgen will, durch Dämonen getrennt wird, wie man sie nur in seinen Träumen sieht; – man versuche, sich das alles vereinigt vorzustellen, und man hat einen schwachen Begriff von dem, was der Karneval in Rom ist.

 

Bei der zweiten Fahrt ließ der Graf den Wagen halten, bat die Freunde um Erlaubnis, sie verlassen zu dürfen, und stellte die Kalesche zu ihrer Verfügung. Man befand sich vor dem Palaste Rospoli, und an dem mittleren Fenster, woran der weiße Damastvorhang mit einem roten Kreuz angebracht war, stand ein Domino, unter dem sich Franzens Einbildungskraft ohne Mühe die schöne Griechin des Teatro Argentina vorstellte.

 

Meine Herren, sagte der Graf, aus dem Wagen springend, sind Sie müde, Schauspieler zu sein, und wollen Sie wieder Zuschauer werden, so wissen Sie, daß Sie Platz an meinen Fenstern haben; inzwischen verfügen Sie über meinen Kutscher, meinen Wagen und meine Bedienten.

 

Franz dankte dem Grafen für sein höfliches Anerbieten. Die Freunde fuhren davon, nutzten das lustige Karnevalsfest noch gehörig aus und amüsierten sich bis zum späten Abend, um wiederum das Theater zu besuchen.

 

Im Foyer trafen sie mit der Gräfin zusammen, die ihnen mit allen Zeichen der Ungeduld entgegenkam und Franz hastig fragte: Ich hörte, daß Sie bereits heute mit ihm in Beziehung traten. Wie heißt er? Sprechen Sie, ich muß näheres über ihn erfahren.

 

Lächelnd verbeugte sich Franz und erwiderte der schönen Frau: Allerdings habe ich schon seit heute morgen bei einem vorzüglichen Frühstück die Bekanntschaft des Grafen von Monte Christo gemacht.

 

Was für ein Name ist dies? Ich kenne das Geschlecht nicht.

 

Es ist der Name einer Insel, die er gekauft hat.

 

Und er ist Graf?

 

Toskanischer Graf.

 

So werden wir ihn dulden wie die andern, sagte die Gräfin, die einer der ältesten Familien aus Venetien angehörte. Und was für ein Mann ist er im übrigen? wandte sich die Gräfin an den Vicomte von Morcerf.

 

Oh, uns gefällt er ausgezeichnet, antwortete Albert; ein zehnjähriger Freund hätte nicht mehr für uns getan, als er, und dies mit einer Anmut, einer Zartheit, einer Höflichkeit, worin sich der wahre Weltmann offenbart.

 

Gehen Sie, versetzte die Gräfin lachend. Sie werden sehen, mein Vampir ist nichts als ein plötzlich reichgewordener Emporkömmling, der für seine Millionen Verzeihung sucht. Und sie haben Sie auch gesehen?

 

Welche sie? fragte Franz lächelnd.

 

Die schöne Griechin von gestern.

 

Nein. Wir hörten, wie ich glaube, den Ton ihrer Zither, doch sie blieb völlig unsichtbar.

 

Das heißt, wenn Sie unsichtbar sagen, mein lieber Franz, unterbrach Albert, so geschieht dies nur, um den Geheimnisvollen zu spielen. Für wen halten Sie den blauen Domino, der an dem mittleren Fenster mit dem weißen Damastvorhang im Palaste Rospoli stand? – Der Graf hatte also drei Fenster im Palaste Rospoli? Dieser Mensch muß ein wahrer Nabob sein. Wissen Sie, daß drei solche Fenster für acht Karnevalstage 2-3000 römische Taler kosten? Ah, Teufel! – Bezieht er diese Einkünfte von seiner Insel? – Seine Insel trägt ihm keinen Heller ein. – Warum hat er sie dann gekauft? – Aus Phantasie. – Er ist also ein Original? – Ich kann es nicht leugnen, er kam mir sehr exzentrisch vor, sagte Albert.

 

Es war Zeit geworden, sich zu verabschieden, und die beiden Freunde verließen die Gräfin. Die nächsten Tage vergingen im Taumel der Vergnügungen, und endlich kam der Dienstag, der letzte und lärmendste von den Karnevalstagen. Am Dienstag öffneten sich die Theater um zehn Uhr morgens, denn sobald acht Uhr abends vorüber ist, beginnt die Fastenzeit. Am Dienstag mischt sich alles, was aus Mangel an Zeit, Geld oder Begeisterung an den vorhergehenden Festen nicht teilgenommen hat, in das Bacchanal, läßt sich von der Orgie fortreißen und bringt seinen Tribut an Leben und Lärm zu der allgemeinen Tollheit. Von zwei Uhr bis fünf Uhr folgten Franz und Albert der Reihe, tauschten Hände voll Confetti mit den Wagen der entgegengesetzten Reihe und den Fußgängern aus, die zwischen den Füßen der Pferde, zwischen den Rädern der Karrossen umherschwärmten, ohne daß mitten unter diesem furchtbaren Gedränge ein Unfall geschah oder irgend ein Streit entstand. Die Italiener bilden in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Die Feste sind für sie wahre Feste.

 

Albert triumphierte in seiner Bajazzotracht. Er trug auf der Schulter einen Knoten von rosa Bändern, deren Enden ihm bis zu den Knien herabfielen, um keine Verwechslung zwischen ihm und Franz herbeizuführen, der seinerseits in der Tracht eines römischen Bauern steckte.

 

Je mehr der Tag vorrückte, desto größer wurden Lärm und Gedränge; es war in der Tat ein menschliches Ungewitter, das sich aus einem Donner schreiender Stimmen und einem Hagel von Dragées, Sträußen, Eiern, Orangen und Blumen zusammensetzte. Um drei Uhr verkündigten Böllerschüsse, die zu gleicher Zeit auf der Piazza del popolo und im venetianischen Palaste gelöst wurden, daß das Wettrennen beginne.

 

Das Wettrennen ist, wie die Moccoli, eine besondere Eigenheit der letzten Tage des Karnevals. Bei dem Krachen der Böller brachen die Wagen sofort aus ihren Reihen und flüchteten sich in die nächste Querstraße. Alle diese Szenenwechsel vollziehen sich übrigens mit unbegreiflicher Geschicklichkeit und wunderbarer Geschwindigkeit, und zwar ohne daß die Polizei nur im geringsten nötig gehabt hätte, jedem seinen Posten anzuweisen oder seinen Weg vorzuschreiben. Die Fußgänger drückten sich an die Paläste, dann hörte man ein gewaltiges Geräusch von Pferden und Säbelrasseln.

 

Eine fünfzehn Mann starke Abteilung von Carabinieri sprengte im Galopp durch die Straße des Korso, um den Wettrennern Platz zu machen. Als diese Abteilung zum venetianischen Palaste gelangte, verkündigte eine zweite Batterie von Böllern, daß die Straße frei sei.

 

Beinahe im selben Augenblick sah man unter allgemeinem, unerhörtem Geschrei sieben bis acht Reiter, vom Zuruf von dreimal hunderttausend Personen angestachelt, vorüberjagen; dann verkündigten drei Kanonenschüsse vom Kastell St. Angelo, daß Nummer 3 gewonnen habe.

 

Sogleich setzten sich die Wagen wieder in Bewegung, strömten gegen den Korso zurück und mündeten aus allen Straßen aus. Nun hatte sich ein neues Element des Lärmens und der Bewegung in die Menge gemischt: die Moccolihändler traten in Szene.

 

Die Moccoli oder Moccoletti sind Kerzen von verschiedener Dicke, die bei den Schauspielern dieser Schlußszene des römischen Karnevals zweierlei Tätigkeiten auslösen: erstens, das eigene Moccoletto brennend zu erhalten, zweitens, das anderer auszulöschen.

 

Das Moccoletto wird an irgend einem Lichte angezündet. Wer aber vermöchte die tausend Mittel zu beschreiben, die erfunden worden sind, um das Moccoletto auszulöschen … die Riesenohrfeigen, die ungeheuren Löschhörner, die übermenschlichen Windfächer? Alle beeilten sich, Moccoletti zu kaufen, Franz und Albert so gut wie die andern.

 

Die Nacht rückte rasch heran, und bereits begannen bei dem tausendfachen schrillen Rufe der Händlern » Moccoli!« einige Sterne über der Menge zu glänzen. Es war dies wie ein Signal. Nach Verlauf von zehn Minuten funkelten fünfzigtausend Lichter von dem venetianischen Palaste nach der Piazza del popolo herab, und von der Piazza del popolo nach dem venetianischen Palaste hinauf. Man hätte glauben sollen, es sei das Fest der Irrlichter; denn man kann sich in der Tat von diesem Anblick, wenn man nicht einmal Augenzeuge davon gewesen ist, keinen Begriff machen.

 

In diesem Augenblick besonders gibt es keinen gesellschaftlichen Unterschied mehr. Der Facchino hängt sich an den Prinzen, der Prinz an den Trasteveriner, der Trasteveriner an den Bürger … Jeder bläst, löscht aus, zündet wieder an. Das tolle Lichterspiel dauerte ungefähr zwei Stunden; der Korso war erleuchtet wie am hellen Tage, man konnte die Züge der Zuschauer im dritten und vierten Stocke unterscheiden.

 

Plötzlich erscholl die Glocke, die das Signal zum Schlusse des Karnevals gibt, und in einer Sekunde erloschen wie durch einen Zauber alle Moccoli. Es war, als ob ein einziger, ungeheurer Windstoß alles vernichtet hätte. Franz, den Albert mit der Bemerkung, er gehe zu einem Stelldichein, verlassen hatte, befand sich in der tiefsten Finsternis. Man hörte jetzt nur noch das Rollen der Wagen, die die Masken nach Hause führten, und sah nur spärliche Lichter hinter den Fenstern glänzen.

 

Der Karneval war zu Ende.

 

Die Katakomben von San Sebastiano.

 

Die Katakomben von San Sebastiano.

 

Franz hatte vielleicht in seinem Leben keinen so scharfen, schneidenden Eindruck, keinen so raschen Übergang von der Heiterkeit zur Traurigkeit erfahren, als in diesem Augenblick; es war, als hätte sich Rom unter dem magischen Hauche eines Dämons der Nacht in ein Grab verwandelt. Da der abnehmende Mond erst um elf Uhr abends aufging, so waren die Straßen, durch die der junge Mann fuhr, noch in die tiefste Finsternis versenkt. Nach Verlauf von zehn Minuten hielt sein Wagen oder vielmehr der des Grafen vor dem Gasthofe zur Stadt London.

 

Das Diner harrte der Freunde; da jedoch Albert erwähnt hatte, er gedenke nicht so bald zurückzukehren, so setzte sich Franz ohne ihn zu Tische. Gewohnt, sie miteinander speisen zu sehen, erkundigte sich Herr Pastrini nach der Ursache seiner Abwesenheit, aber Franz begnügte sich, ihm zu erwidern, Albert habe am Tage zuvor eine Einladung erhalten, der er Folge leiste. Das plötzliche Auslöschen der Moccoletti, die Dunkelheit, die auf den maßlosen Lärm folgende Stille hatten Franz in eine traurige Stimmung versetzt, die nicht ganz frei von Unruhe war. Er speiste also sehr schweigsam, trotz der Dienstfertigkeit seines Wirtes, der wiederholt erschien, um zu fragen, ob er nichts bedürfe.

 

Franz war entschlossen, solange als möglich auf Albert zu warten. Er bestellte daher den Wagen erst auf elf Uhr und beauftragte Pastrini, ihn sogleich benachrichtigen zu lassen, wenn Albert zurückkehrte. Um elf Uhr war dies noch nicht geschehen. Franz kleidete sich an und entfernte sich mit der Bemerkung, er würde die ganze Nacht bei dem Herzog von Bracciano, bei dem die Freunde zu einem Balle geladen waren, zubringen.

 

Das Haus des Herzogs von Bracciano gehörte zu den gesuchtesten Häusern Roms; die Herzogin, eine der letzten Erbinnen der Colonna, war eine der gefeiertsten Damen der ewigen Stadt, und die Feste, die der Herzog gab, hatten europäischen Ruf. Franz und Albert waren mit Empfehlungsbriefen an ihn nach Rom gekommen, er fragte deshalb Franz auch sogleich, wo sein Reisegefährte geblieben sei. Franz erwiderte dem Herzog, er habe ihn in dem Augenblick, wo man die Moccoletti ausgelöscht, verlassen und sei ihm bei der Via Macello aus dem Gesichte gekommen.

 

Er ist also nicht nach Hause zurückgekehrt? fragte der Herzog.

 

Ich erwartete ihn bis zu dieser Stunde.

 

Wissen Sie, wohin er gegangen ist?

 

Nicht genau; ich glaube jedoch, es handelt sich um ein Stelldichein.

 

Teufel! rief der Herzog; das ist ein übler Tag, oder vielmehr eine üble Nacht, um noch spät außen zu bleiben, nicht wahr, Frau Gräfin?

 

Diese Worte waren an die Gräfin G*** gerichtet, die soeben erschien und am Arme des Herrn Torlonia, des Bruders des Herzogs, auf und ab ging.

 

Mir scheint im Gegenteil, daß es eine bezaubernde Nacht ist, entgegnete die Gräfin, und die, welche sich hier befinden, werden nur klagen, daß sie so schnell vorübergeht.

 

Ich spreche auch nicht von den Personen, die hier sind, versetzte der Herzog lächelnd; die Männer laufen keine andere Gefahr, als die, in Sie verliebt zu werden, die Frauen keine andere, als vor Eifersucht zu sterben, wenn sie Ihre Schönheit erschauen; ich spreche von denen, die in den Straßen der Stadt umherlaufen.

 

Ei! guter Gott, fragte die Gräfin, wer läuft zu dieser Stunde aus den Straßen umher, wenn nicht, um auf den Ball zu gehen?

 

Unser Freund Albert von Morcerf, Frau Gräfin, den ich heute abend um sieben Uhr, als er einer Unbekannten folgte, verlassen und seitdem nicht wieder gesehen habe, sagte Franz. Hat er Waffen bei sich?

 

Er geht in der Tracht eines Bajazzo.

 

Sie hätten ihn nicht sollen gehen lassen, sagte der Herzog zu Franz, Sie, der Sie Rom besser kennen, als er.

 

Oh! es wäre ebenso leicht gewesen, Nummer 3 der Wettrenner, die heute den Preis gewonnen hat, aufzuhalten als ihn zu hindern; und dann, was soll ihm geschehen?

 

Wer weiß? Die Nacht ist sehr finster, und der Tiber ganz nahe bei der Ria Macello.

 

Franz fühlte, wie ihm ein Schauer durch die Adern lief, als er fand, daß die Gedanken des Herzogs und der Gräfin so sehr mit seiner persönlichen Unruhe im Einklang standen.

 

Ich habe auch im Gasthofe bemerkt, ich würde die Nacht hier zubringen, und man benachrichtigt mich, sobald er zurückkommt, versetzte Franz.

 

Halt, sprach der Herzog, ich glaube, es kommt hier gerade einer von meinen Dienern, der Sie sucht.

 

Der Herzog täuschte sich nicht, der Diener näherte sich Franz und sagte: Exzellenz, der Gastwirt von der Stadt London läßt Ihnen melden, daß Sie ein Mann mit einem Briefe des Vicomte von Morcerf bei ihm erwarte.

 

Warum brachte er den Brief nicht hierher?

 

Der Bote hat mir keine Erklärung gegeben.

 

Und wo ist der Bote?

 

Er ging sogleich wieder weg, als er mich in den Ballsaal eintreten sah, um Sie zu benachrichtigen.

 

Oh! mein Gott! sagte die Gräfin zu Franz, gehen Sie schnell; es ist ihm vielleicht ein Unglück widerfahren, und kommen Sie bald zurück, uns Kunde zu geben.

 

 

Franz nahm seinen Hut und entfernte sich in größter Eile. Er hatte seinen Wagen weggeschickt und erst auf zwei Uhr wieder bestellt, aber zum Glück ist der Palast Bracciano kaum zehn Minuten von der Stadt London entfernt. Als sich Franz dem Gasthofe näherte, sah er einen Menschen mitten auf der Straße stehen, von dem er keinen Augenblick zweifelte, daß er der von Albert abgeschickte Bote sei. Er ging auf den Menschen, der in einen langen Mantel gehüllt war, zu; doch zu seinem großen Erstaunen richtete der Unbekannte zuerst das Wort an ihn.

 

Was wollen Sie von mir, Exzellenz? sagte er, einen Schritt zurückweichend, wie ein Mensch, der auf seiner Hut ist. Seid Ihr es nicht, der mir einen Brief vom Vicomte von Morcerf bringt? entgegnete Franz.

 

Wie heißt Eure Exzellenz?

 

Baron Franz d’Epinay.

 

Dann ist dieser Brief wohl an Eure Exzellenz gerichtet.

 

Bedarf er einer Antwort? fragte Franz, den Brief aus den Händen des Unbekannten nehmend.

 

Ja, wenigstens hofft Ihr Freund auf eine Antwort.

 

So kommt mit mir herauf, und ich werde sie Euch geben.

 

Ich will lieber hier warten, sagte der Bote lachend.

 

Warum?

 

Eure Exzellenz wird die Sache begreifen, wenn sie den Brief gelesen hat.

 

Franz ging in den Gasthof; auf der Treppe begegnete er Pastrini, der ihn mit verstörter Miene erwartet hatte. Franz entfaltete rasch das Papier. Der Brief war von Alberts Hand geschrieben und von ihm unterzeichnet. Franz las ihn zweimal, so überrascht war er von seinem Inhalt. Er lautete:

 

»Lieber Freund!

 

Sobald Sie Gegenwärtiges empfangen, haben Sie die Gefälligkeit, aus meinem Portefeuille, das Sie in der viereckigen Schublade des Sekretärs finden werden, den Kreditbrief zu nehmen; nehmen Sie den Ihrigen dazu, wenn meiner nicht reicht. Laufen Sie zu Torlonia, lassen Sie sich auf der Stelle viertausend Piaster geben, und händigen Sie dieselben dem Überbringer ein. Es ist dringend, daß mir diese Summe ohne Verzug zukommt. Ich sage nicht mehr, da ich auf Sie zähle, wie Sie auf mich zählen können. N. S. I believe now in Italian bandits. 1

 

Ihr Freund
Albert von Morcerf

 

Unter diese Zeilen waren von fremder Hand folgende italienische Worte geschrieben:

 

Se alle sei della mattina le quattro mille piastre non sono nelle miei mani, alle sette il conte Alberto avrà cessto di vivere. 2

 

Luigi Vampa

 

Die zweite Unterschrift erklärte Franz alles, und er begriff das Widerstreben des Boten, zu ihm heraufzukommen; die Straße schien ihm sicherer als Franzens Zimmer. Albert war in die Hände des berüchtigten Banditenführers gefallen, an dessen Existenz er so lange nicht hatte glauben wollen.

 

Es war keine Zeit zu verlieren. Er lief an den Sekretär, öffnete ihn, fand in der bezeichneten Schublade das Portefeuille, und in dem Portefeuille den Kreditbrief; er war im ganzen auf 6000 Piaster ausgestellt; aber von diesen 6000 Piastern hatte Albert bereits 3000 verbraucht. Franz besaß keinen Kreditbrief; da er in Florenz wohnte und nur nach Rom gekommen war, um hier sieben bis acht Tage zu bleiben, so hatte er etwa 100 Louisd’or mitgenommen, und davon blieben ihm höchstens noch 50. Es waren also noch 7 bis 800 Piaster erforderlich, wenn Franz und Albert die verlangte Summe zusammenbringen sollten. Allerdings konnte Franz auf die Gefälligkeit des Herrn Torlonia rechnen, und er war daher auch schon im Begriff, in den Palast Bracciano zurückzukehren, als ein leuchtender Gedanke seinen Geist durchblitzte.

 

Der Graf von Monte Christo fiel ihm ein. Franz wollte eben den Wirt rufen lassen, als dieser auf der Türschwelle erschien.

 

Mein lieber Herr Pastrini, sagte er, glauben Sie, daß der Graf zu Hause ist?

 

Ja, Exzellenz, er ist soeben zurückgekommen.

 

Ich bitte Sie, fragen Sie ihn für mich um Erlaubnis, ihn einen Augenblick sprechen zu dürfen.

 

Der Wirt beeilte sich, diesen Auftrag zu vollziehen; fünf Minuten nachher meldete er Franz, der Graf erwarte ihn. Franz durchschritt rasch den Gang, ein Diener führte ihn bei dem Grafen ein. Er befand sich in einem kleinen, ganz von Diwans umgebenen Kabinett, das Franz noch nicht gesehen hatte. Der Graf kam ihm entgegen.

 

Ei! welcher gute Wind führt Sie zu dieser Stunde hierher? sagte er. Sollten Sie das Abendessen mit mir nehmen wollen? Das wäre sehr liebenswürdig.

 

Nein, ich komme wegen einer sehr ernsten Angelegenheit.

 

Wegen einer ernsten Angelegenheit! sagte der Graf, Franz mit dem ihm eigentümlichen tiefen Blicke anschauend; worum handelt es sich?

 

Franz übergab ihm Alberts Brief und sagte: Lesen Sie.

 

Ah! ah! rief der Graf.

 

Was sagen Sie dazu? fragte Franz.

 

Haben Sie die verlangte Summe? Es fehlen mir achthundert Taler.

 

Der Graf ging an einen Sekretär, öffnete ihn, zog eine Schublade voll Gold heraus und sagte zu Franz: Ich hoffe, daß Sie mir nicht die Beleidigung antun werden, sich an einen andern, als mich zu wenden?

 

Sie sehen im Gegenteil, daß ich gerade zu Ihnen gekommen bin.

 

Dafür danke ich; nehmen Sie. Und er ersuchte Franz, das Gold zu nehmen.

 

Ist es denn durchaus notwendig, diese Summe Luigi Vampa zu schicken? fragte der junge Mann, den Grafen ebenfalls fest anschauend.

 

Bei Gott! rief dieser, urteilen Sie selbst, die Nachschrift klingt sehr bestimmt.

 

Es scheint mir, wenn Sie ein wenig nachdenken wollten, würden Sie ein Mittel finden, das die Unterhandlung sehr vereinfachen müßte? entgegnete Franz.

 

Welches? fragte der Graf erstaunt.

 

Wenn wir zum Beispiel Luigi Vampa miteinander aufsuchten … ich bin überzeugt, er schlüge es Ihnen nicht ab, Albert freizugeben.

 

Mir? Welchen Einfluß soll ich auf den Banditen ausüben?

 

Haben Sie ihm nicht einen von den Diensten geleistet, die man nie vergißt? – Einen Dienst?

 

Haben Sie nicht vor wenigen Tagen Peppino gerettet?

 

Ah! ah! rief der Graf, wer hat Ihnen das gesagt?

 

Was liegt daran? Ich weiß es.

 

Der Graf blieb einen Augenblick stumm.

 

Und wenn ich Vampa aufsuchte, würden Sie mich begleiten?

 

Falls Ihnen meine Gesellschaft nicht zu unangenehm wäre.

 

Gut! Es sei; das Wetter ist schön, ein Spaziergang nach der Campagna kann uns nur wohltun. Wo ist der Mensch, der diesen Brief gebracht hat? Auf der Straße.

 

Er muß hören, wohin wir gehen; ich werde ihn rufen.

 

Der Graf trat an das Fenster des Kabinetts, das nach der Straße ging, und pfiff auf eine besondere Weise. Der Mann mit dem Mantel entfernte sich von der Mauer und schritt bis in die Mitte der Straße vor.

 

Salite! sprach der Graf mit einem Tone, als gäbe er seinem Bedienten einen Befehl. Der Bote gehorchte, ohne zu zögern, ja sogar mit einem gewissen Eifer, sprang die vier Stufen der Freitreppe hinauf und trat in den Gasthof. Fünf Sekunden nachher war er an der Tür des Kabinetts.

 

Ah! Du bist es, Peppino, rief der Graf.

 

Doch statt zu antworten, warf sich Peppino auf die Knie, ergriff die Hand des Grafen und drückte seine Lippen wiederholt darauf.

 

Oh! sagte der Graf, du hast noch nicht vergessen, daß ich dir das Leben rettete! Das ist seltsam, es sind doch heute schon acht Tage vorüber.

 

Nein, Exzellenz, ich werde es nie vergessen, antwortete Peppino mit dem Tone der tiefsten Dankbarkeit.

 

Nie? Das ist sehr lange; doch schon genug, wenn du es nur glaubst. Steh auf und antworte.

 

Peppino warf einen unruhigen Blick auf Franz.

 

Oh! du kannst vor dem Herrn sprechen, versetzte der Graf, es ist einer meiner Freunde. Wie ist der Graf Albert in Luigis Hände gefallen?

 

Exzellenz, die Kalesche des Franzosen hat wiederholt den Wagen gekreuzt, worin Teresa saß.

 

Des Hauptmanns Geliebte?

 

Ja. Der Franzose liebäugelte mit ihr, Teresa machte sich den Spaß es zu erwidern: der Franzose warf ihr Sträuße zu und sie ihm, alles, wohlverstanden, mit Einwilligung des Hauptmanns, der sie, als Kutscher verkleidet, führte.

 

Und dann? fragte der Graf.

 

Nun, dann nahm der Franzose die Maske ab; Teresa tat dasselbe; der Franzose verlangte eine Zusammenkunft, Teresa sagte sie ihm zu; nur fand sich, statt Teresa, Beppo – verkleidet als Bäuerin – auf den Stufen der Kirche von San Giacomo ein; ein Wagen wartete am Ende der Via Macello, Beppo forderte den Franzosen auf, ihm zu folgen; er ließ sich dies nicht zweimal sagen und setzte sich neben ihn. Dieser sagte ihm nun, er führe ihn nach einer Villa, die eine Meile von der Stadt liege. Der Franzose versicherte Beppo, er sei bereit, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen. Sogleich fuhr der Kutscher die Strada di Ripetta hinauf, erreichte die Porta di San Paolo, und als der Franzose, zweihundert Schritte in der Campagna, zu unternehmend wurde, setzte ihm Beppo ein paar Pistolen vor die Brust; rasch hielt der Kutscher seine Pferde an, wandte sich auf seinem Sitze um und tat dasselbe. Zu gleicher Zeit stürzten vier von den Unseren, die am Ufer des Almo verborgen waren, an den Kutschenschlag. Der Franzose hatte große Lust, sich zu verteidigen, würgte Beppo auch ein wenig, wie ich hörte; aber er konnte gegen fünf bewaffnete Männer nichts machen, er mußte sich ergeben. Man ließ ihn aussteigen, folgte dem Ufer des Flüßchens und führte ihn zu Teresa und Luigi, die ihn in den Katakomben von San Sebastiano erwarteten.

 

Ei, das ist eine romantische Geschichte, bemerkte der Graf. Was sagen Sie dazu, Sie, der Sie Kenner sind?

 

Ich würde sie sehr lustig finden, wäre sie einem anderen, als dem armen Albert begegnet.

 

Wenn Sie mich nicht gefunden hätten, erwiderte der Graf, so würde dieses Liebesabenteuer Ihrem Freunde ziemlich teuer zu stehen gekommen sein; doch beruhigen Sie sich, er wird mit der Angst davon kommen.

 

Und wir suchen ihn auf? fragte Franz.

 

Bei Gott! Um so mehr, als er sich an einem sehr malerischen Orte befindet. Kennen Sie die Katakomben von San Sebastiano?

 

Nein, doch ich dachte, sie einmal zu besuchen. Wohl, die Gelegenheit ist da, und es wäre schwer, eine bessere zu finden. Haben Sie Ihren Wagen?

 

Nein.

 

Gleichviel; es ist bei mir Gewohnheit, Tag und Nacht einen Wagen angespannt halten zu lassen.

 

Tag und Nacht angespannt?

 

Ja, ich bin ein sehr launenhafter Mensch und muß Ihnen sagen, daß mir zuweilen, wenn ich aufstehe, nach der Mahlzeit oder auch mitten in der Nacht, die Lust ankommt, nach irgend einem Punkte der Welt zu reisen, und dann reise ich auch.

 

Der Graf läutete, sein Kammerdiener erschien.

 

Lassen Sie den Wagen vorfahren, sagte der Graf zu ihm, nehmen Sie die Pistolen heraus, die in den Taschen sind! es ist nicht nötig, den Kutscher zu wecken, Ali fährt.

 

Nach einem Augenblick hörte man den Wagen.

 

Halb ein Uhr, sagte der Graf, auf seine Uhr blickend, wir hätten erst um fünf Uhr fahren können und wären noch zu rechter Zeit gekommen; doch dann würde Ihr Gefährte vielleicht eine schlimme Stunde durchgemacht haben, und es ist daher besser, ihn auf der Stelle den Händen der Ungläubigen zu entziehen. Sind Sie immer noch entschlossen, mich zu begleiten?

 

Mehr als je.

 

Franz und der Graf verließen das Zimmer, gefolgt von Peppino. Vor der Tür fanden sie den Wagen, Ali saß auf dem Bocke; Franz erkannte den stummen Sklaven der Grotte von Monte Christo. Franz und der Graf stiegen in den Wagen; Peppino setzte sich neben Ali, und man fuhr im Galopp fort. Ali hatte vorher Befehle erhalten, denn er fuhr über den Korso und erreichte die Porta di San Sebastiano; hier wollte der Torwart einige Schwierigkeiten machen, aber der Graf von Monte Christo zeigte ihm einen Erlaubnisschein vom Gouverneur der Stadt, der ihm zu jeder Stunde des Tages und der Nacht ungehinderten Aus- und Einlaß zusicherte; das Fallgatter wurde also aufgehoben, der Torwart erhielt einen Louisd’or für seine Mühe, und man fuhr hinaus.

 

Die Straße war die alte, beiderseits von Gräbern begrenzte Via Appia. Von Zeit zu Zeit kam es Franz beim Lichte des aufgehenden Mondes vor, als ob eine Schildwache hinter einer Ruine hervorträte; doch auf ein zwischen Peppino und dieser Schildwache ausgetauschtes Zeichen kehrte sie in den Schatten zurück und verschwand. Wenige Schritte vor dem Zirkus des Caracalla hielt der Wagen an, Peppino öffnete den Schlag, und Franz und der Graf stiegen aus.

 

In zehn Minuten sind wir an Ort und Stelle, sagte der Graf zu seinem Begleiter. Dann nahm er Peppino beiseite, gab ihm leise einen Befehl, und der Bandit entfernte sich, nachdem er sich mit einer Fackel versehen hatte, die er aus einem Kistchen hervorzog. Es vergingen fünf Minuten, während Franz Peppino auf einem schmalen Fußpfade fortschreiten und dann in hohem rötlichem Grase verschwinden sah. Franz und der Graf schlugen denselben Fußpfad ein, der sie nach hundert Schritten auf einen sich in ein Tälchen senkenden Abhang führte.

 

Exzellenz, sagte Peppino, der stehen geblieben war, folgen Sie mir, bitte, die Öffnung der Katakomben ist nur zwei Schritte von hier.

 

Gut, sagte der Graf, geh voraus!

 

Es bot sich in der Tat hinter einem Gebüsch und mitten unter einigen Felsen eine Öffnung, durch die kaum ein Mann dringen konnte. Peppino schlüpfte zuerst hinein; aber kaum hatte er einige Schritte getan, als der unterirdische Gang sich erweiterte. Er blieb nun stehen und zündete seine Fackel an. Der Graf war zuerst in eine Art von Luftloch gedrungen, und Franz folgte ihm. Das Terrain vertiefte sich allmählich und wurde immer weiter, je mehr man vorrückte. Franz und der Graf waren jedoch genötigt, gebückt zu marschieren, und konnten nur mit Mühe nebeneinander gehen. Sie machten auf diese Weise noch ungefähr fünfzig Schritte, dann wurden sie durch den Ruf: Wer da? angehalten. Zu gleicher Zeit sahen sie inmitten der Finsternis den Lauf eines Karabiners im Schimmer ihrer eigenen Fackel aufblitzen.

 

Gut Freund! antwortete Peppino, und sagte einige Worte mit leiser Stimme zu der Schildwache, die, wie die erste, grüßte und dann den nächtlichen Gästen durch ein Zeichen bedeutete, sie könnten weitergehen. Hinter der Wache war eine Treppe von ungefähr zwanzig Stufen. Franz und der Graf stiegen die zwanzig Stufen hinab und befanden sich an einem Kreuzweg. Fünf Wege liefen wie Strahlen von dieser Stelle aus, und an den Wänden, in denen sargartige Nischen ausgegraben waren, erkannte man, daß man in den Katakomben angelangt war. In einer von diesen Höhlen, deren Ausdehnung sich nicht erkennen ließ, gewahrte man einige Lichtstrahlen. Der Graf legte die Hand auf Franzens Schulter und sagte: Wollen Sie ein Lager ruhender Banditen sehen, so folgen Sie mir! Peppino, lösche deine Fackel aus!

 

Peppino gehorchte, und Franz und der Graf befanden sich in der tiefsten Finsternis; nur tanzte fortwährend etwa fünfzig Schritte vor ihnen längs den Wänden ein rötlicher Schein nach dem andern hin. Sie rückten langsam vor, wobei der Graf Franz leitete, als besäße er die seltene Fähigkeit, in der Finsternis zu sehen. Drei Arkaden, von denen die mittlere als Tür zu betrachten war, gewährten ihnen Durchlaß. Diese Arkaden öffneten sich einerseits nach dem Gange, wo Franz und der Graf sich befanden, andererseits nach einem großen viereckigen Gemache, das ganz von Nischen, den vorhergehenden ähnlich, umgeben war. Mitten in diesem Gemach erhoben sich vier Steine, die einst als Altar gedient hatten, wie das überragende Kreuz andeutete. Eine einzige auf einem Säulenschafte stehende Lampe beleuchtete mit bleichem, flackerndem Lichte die seltsame Szene, die sich den Augen der im Schatten verborgenen Gefährten bot. Den Ellenbogen auf diese Säule gestützt, saß ein Mann und las, den Rücken den Arkaden zuwendend, durch deren Öffnung die Ankömmlinge ihn betrachteten. Es war der Anführer der Bande, Luigi Vampa. Ringsumher sah man in ihren Mänteln liegend oder an eine Steinbank gelehnt etwa zwanzig Räuber; jeder hatte seinen Karabiner im Bereiche der Hand. Im Hintergrunde ging schweigsam, kaum sichtbar und einem Schatten ähnlich, eine Schildwache vor einer Öffnung auf und ab, die man kaum zu unterscheiden vermochte.

 

Als der Graf glaubte, Franz hätte seine Blicke hinreichend an diesem malerischen Bilde geweidet, legte er den Finger an seine Lippen, um ihm Stillschweigen zu empfehlen, trat, die drei Stufen hinabsteigend, die von dem Gange ins Lager führten, durch die mittlere Arkade in das Gemach und ging auf Vampa zu, der so tief in das Lesen versunken war, daß er das Geräusch seiner Tritte nicht hörte.

 

Wer da? rief die Schildwache, die bei dem Schimmer der Lampe etwas wie einen Schatten sah, der hinter ihrem Hauptmann immer größer wurde. Bei diesem Ruf erhob sich Vampa rasch und zog gleichzeitig eine Pistole aus seinem Gürtel. In einem Augenblick waren alle Banditen auf den Beinen, und zwanzig Karabinerläufe richteten sich auf den Grafen.

 

Nun! sagte dieser mit vollkommen ruhiger Stimme und ohne daß eine Muskel seines Gesichtes sich rührte; nun, mein lieber Vampa, es scheint, Ihr macht Euch große Unkosten, um einen Freund zu empfangen.

 

‚runter die Gewehre! rief der Anführer mit einem gebieterischen Zeichen einer Hand, während er mit der andern ehrfurchtsvoll seinen Hut abnahm. Dann, sich gegen den hinwendend, der diese ganze Szene beherrschte, sagte er: Verzeihen Sie, Herr Graf, aber ich war so weit entfernt, die Ehre Ihres Besuches zu erwarten, daß ich Sie nicht erkannte.

 

Es scheint, Ihr habt in allen Dingen ein kurzes Gedächtnis, Vampa, entgegnete der Graf, und Ihr vergeßt nicht nur das Gesicht der Menschen, sondern auch die Bedingungen, die Ihr mit ihnen eingegangen seid.

 

Welche Bedingungen habe ich vergessen, Herr Graf? fragte der Bandit, wie ein Mensch, dem alles daran liegt, einen etwa gemachten Fehler wieder gutzumachen.

 

Sind wir nicht miteinander übereingekommen, daß Euch nicht nur meine Person, sondern auch die meiner Freunde heilig sein soll?

 

In welcher Beziehung habe ich mich gegen diesen Vertrag verfehlt, Exzellenz?

 

Ihr habt den Vicomte Albert von Morcerf entführt und hierher gebracht; nun, so wißt, fuhr der Graf mit einem Tone fort, der Franz erbeben ließ, dieser junge Mann gehört zu meinen Freunden, er wohnt in demselben Gasthofe wie ich, er hat acht Tage lang in meinem Wagen den Korso mitgemacht, und dessenungeachtet, ich wiederhole es, habt Ihr ihn entführt, hierher geschleppt und – der Graf zog den Brief aus der Tasche – ein Lösegeld wie für den nächsten besten festgesetzt.

 

Warum habt ihr mich nicht davon in Kenntnis gesetzt? sagte der Anführer, sich gegen seine Leute wendend, die sämtlich vor seinem Blicke zurückwichen; warum habt ihr mich dem ausgesetzt, daß ich mein Wort breche gegen einen Mann, der unser aller Leben in seinen Händen hat? Bei dem Blute Christi! Wenn ich dächte, einer von euch hätte gewußt, der junge Mann sei der Freund Seiner Exzellenz, ich würde ihm die Hirnschale zerschmettern.

 

Nun! sprach der Graf, sich an Franz wendend, ich sagte Ihnen, es walte irgend ein Irrtum ob.

 

Sind Sie nicht allein? fragte Vampa unruhig.

 

Die Person ist bei mir, an die der Brief gerichtet war; ich wollte ihr beweisen, daß Luigi Vampa ein Mann von Wort ist. Kommen Sie, Exzellenz, sagte er zu Franz, hier ist Luigi Vampa, der Ihnen selbst zu sagen wünscht, er sei in Verzweiflung über den Irrtum, den er begangen hat.

 

 

Franz näherte sich; der Banditenführer trat ihm entgegen und sagte: Seien Sie uns willkommen, Exzellenz; Sie haben gehört, was der Herr Graf sagte, und was ich antwortete; ich füge hinzu, gern gäbe ich viertausend Piaster her, könnte ich das Geschehene ungeschehen machen. Doch wo ist der Gefangene? versetzte Franz, unruhig umherschauend, ich sehe ihn nicht.

 

Es ist ihm hoffentlich nichts widerfahren, fragte der Graf, die Stirn faltend.

 

Der Gefangene ist dort antwortete Vampa, auf die Vertiefung deutend, vor welcher der Bandit als Schildwache auf und ab ging; ich werde ihm selbst ankündigen, daß er frei ist.

 

Der Anführer schritt dem von ihm bezeichneten Orte und zu, und Franz folgte ihm mit dem Grafen.

 

Der Graf und Franz stiegen, dem Hauptmann folgend, sieben bis acht Stufen hinauf; sobald Vampa einen Riegel gezogen und eine Tür aufgestoßen hatte, konnte man beim Schimmer einer Lampe Albert sehen, der, in einen Mantel gehüllt, in einem Winkel im tiefsten Schlafe lag. Sieh da, sagte der Graf mit eigentümlichem Lächeln, nicht übel für einen Menschen, der um sieben Uhr erschossen werden sollte.

 

Bampa schaute den schlafenden Albert mit einer gewissen Bewunderung an; man sah, daß er für einen solchen Beweis von Mut nicht unempfindlich war.

 

Sie haben recht, Herr Graf, sagte er, dieser Mann muß zu Ihren Freunden gehören. Dann, sich Albert nähernd und ihn an der Schulter berührend, fügte er hinzu: Exzellenz, ist’s gefällig, aufzuwachen?

 

Ah! ah! sagte Albert, Ihr seid es, Hauptmann? Ihr hättet mich, bei Gott! sollen schlafen lassen; ich hatte einen entzückenden Traum; es träumte mir, ich tanze mit der Gräfin G***. Er zog seine Uhr, die man ihm gelassen hatte.

 

Halb zwei Uhr morgens … warum zum Teufel weckt Ihr mich zu dieser Stunde?

 

Um Ihnen zu sagen, daß Sie frei sind, Exzellenz.

 

Mein Lieber, erwiderte Albert mit vollkommener Geistesfreiheit, befolgt künftig den Grundsatz des großen Napoleon! Weckt mich nur wegen schlimmer Nachrichten! Hättet Ihr mich schlafen lassen, so würde ich meinen Tanz fortgesetzt haben und wäre Euch mein Leben lang dankbar … Man hat also mein Lösegeld bezahlt?

 

Nein, Exzellenz, einer, dem ich nichts verweigern kann, hat Sie zurückgefordert.

 

Ah! bei Gott, dieser jemand ist sehr liebenswürdig.

 

Albert schaute umher, erblickte Franz und rief: Wie, mein lieber Freund, Sie treiben die Ergebenheit so weit?

 

Nein, nicht ich, sondern der Herr Graf von Monte Christo.

 

Ah! bei Gott! Herr Graf, sagte Albert heiter, während er seine Krawatte und seine Manschetten ordnete, Sie sind wahrlich ein kostbarer Mann, und ich hoffe, daß Sie mich als Ihnen ewig verbunden ansehen werden. Er reichte dem Grafen die Hand, der sie bebend in die seine nahm.

 

Der Bandit sah mit erstaunter Miene zu; er war offenbar gewohnt, seine Gefangenen vor sich zittern zu sehen, und hier fand er einen, den seine heitere Laune nicht verlassen hatte. Franz war entzückt, daß Albert selbst einem Banditen gegenüber die Ehre der Nation aufrecht erhielt.

 

Mein lieber Albert, sagte er zu ihm, wenn Sie sich beeilen wollten, so haben wir noch Zeit, die Nacht bei Torlonia zu beschließen. Sie nehmen Ihren Galopp wieder auf, wo Sie ihn unterbrochen haben, und werden somit keinen Groll gegen den edlen Herrn Luigi bewahren, der sich in der Tat bei dieser ganzen Angelegenheit auf das artigste benommen hat.

 

Ah! gewiß, versetzte Albert, Sie haben recht, wir können um zwei Uhr dort sein. Herr Luigi, ich wünsche Ihnen ein lustiges Leben. Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie!

 

Und Franz und dem Grafen voran ging Albert die Treppe hinab und durchschritt den großen viereckigen Saal. Alle Banditen standen mit dem Hut in der Hand. Der Hauptmann nahm die Fackel aus den Händen des Hirten und ging den Gästen voran, nicht wie ein Diener, sondern wie ein König, der seinen Botschaftern voranschreitet. An der Tür verbeugte er sich und sagte: Und nun, Herr Graf, wiederhole ich meine Entschuldigung, und ich hoffe, daß Sie mir wegen dessen, was geschehen ist, nicht ferner grollen werden.

 

Nein, mein lieber Vampa, sagte der Graf; Ihr sühnt überdies Eure Irrtümer auf eine so artige Weise, daß man versucht ist, Euch auch dafür, daß Ihr sie begangen habt, Dank zu wissen.

 

Meine Herren, sagte der Banditenführer, sich nach den jungen Männern umwendend, vielleicht kommt Ihnen mein Anerbieten nicht sehr lockend vor, aber wenn Sie je Lust verspüren, mir einen zweiten Besuch zu machen, so werden Sie, wo ich auch sein mag, stets willkommen sein.

 

Franz und Albert grüßten, und alle drei gingen hinaus. Sie fanden den Wagen, wo sie ihn gelassen hatten. Der Graf sagte zu Ali ein einziges arabisches Wort, und die Pferde setzten sich in schnellsten Galopp. Es war zwei Uhr, als die Freunde wieder im Tanzsaal erschienen; ihre Rückkehr machte das größte Aufsehen; da sie aber miteinander kamen, so hörte im Augenblick jede Unruhe wegen Alberts auf.

 

Gnädige Frau, sagte der Vicomte von Morcerf, auf die Gräfin zuschreitend, Sie haben gestern die Güte gehabt, mir einen Galopp zu versprechen, ich komme etwas spät, um Sie an diese entzückende Zusage zu erinnern; doch hier ist ein Freund, dessen Wahrheitsliebe Sie kennen; er wird Ihnen bestätigen, daß ich nicht schuld daran bin.

 

Und da die Musik in diesem Augenblick mit einem Galopp einsetzte, schlang Albert seinen Arm um die Hüfte der Gräfin und verschwand mit ihr im Wirbel der Tänzer. Während dieser Zeit dachte Franz an den seltsamen Schauder, der den ganzen Leib des Grafen in dem Augenblicke durchlaufen hatte, wo er Albert die Hand gereicht hatte.

 

    1. Ich glaube nun an italienische Banditen.

 

    1. Wenn morgens sechs Uhr die viertausend Piaster nicht in meinen Händen sind, so hat Graf Albert um sieben zu leben aufgehört.

 

 

Das Wiedersehen.

 

Das Wiedersehen.

 

Am andern Tage machte Albert seinem Freunde mit dem ersten Worte den Vorschlag, den Grafen zu besuchen. Er hatte ihm zwar bereits gedankt, aber er meinte, daß ein Dienst, wie der Graf ihn geleistet, wohl zwei Danksagungen wert war. Franz, den ein mit Furcht gemischter Zauber zu dem Grafen von Monte Christo hinzog, wollte Albert nicht allein gehen lassen und begleitete ihn. Beide wurden eingeführt, und nach fünf Minuten erschien der Graf.

 

Herr Graf, sagte Albert, ihm entgegengehend, erlauben Sie mir, Ihnen heute zu wiederholen, was ich gestern schlecht ausgedrückt habe: nie werde ich vergessen, unter welchen Umständen Sie mir zu Hilfe gekommen sind, und stets werde ich mich erinnern, daß ich Ihnen das Leben zu verdanken habe.

 

Mein lieber Nachbar, antwortete der Graf lachend, Sie übertreiben Ihre Verbindlichkeiten gegen mich, denn Sie sind mir nicht mehr schuldig, als eine kleine Ersparnis von 20 000 Franken an Ihren Reiseausgaben. Sie sehen, daß es nicht der Mühe wert ist, davon zu sprechen. Empfangen Sie Ihrerseits mein Kompliment, fügte er hinzu, Sie besitzen eine bewunderungswürdige Ungezwungenheit und Leichtigkeit des Benehmens.

 

Was wollen Sie, Herr Graf? entgegnete Albert, ich stellte mir vor, ich hätte Händel gehabt, und ein Duell sei die Folge davon, und so wollte ich dem Banditen begreiflich machen, daß, wenn man sich auch in allen Ländern der Welt schlägt, doch nur die Franzosen sich lachend schlagen. Nichtsdestoweniger, da meine Verbindlichkeit Ihnen gegenüber nicht minder groß ist, komme ich, um Sie zu fragen, ob ich Ihnen nicht durch mich, durch meine Freunde und meine Bekannten in irgend einer Beziehung nützlich sein kann. Mein Vater, der Vicomte von Morcerf, besitzt großen Einfluß in Spanien und in Frankreich. Verfügen Sie über mich und über alle, die mich lieben!

 

Ich gestehe, Herr von Morcerf, erwiderte der Graf, ich erwartete Ihr Anerbieten und nehme es von ganzem Herzen an. Es war sogar meine Absicht, Sie um einen großen Dienst zu bitten. Ich bin nie in Paris gewesen, ich kenne Paris nicht.

 

Wirklich? rief Albert, Sie konnten bis jetzt leben, ohne Paris zu sehen? Das ist unglaublich.

 

Und dennoch ist es so. Doch ich fühle, daß eine längere Unbekanntschaft mit dieser Hauptstadt der intelligenten Welt unverantwortlich ist. Mehr noch, ich hätte die seit langer Zeit unerläßliche Reise dorthin vielleicht schon gemacht, wäre ich mit irgend jemand bekannt gewesen, der mich in diese Welt eingeführt hätte, in der ich mich keiner Verbindung erfreue.

 

Oh! ein Mann wie Sie, rief Albert.

 

Sie sind sehr gütig. Doch da ich eben kein anderes Verdienst von mir kenne, als daß ich mit Ihren reichsten Bankiers in die Schranken zu treten imstande bin, und da ich nicht nach Paris gehe, um an der Börse zu spielen, so hielt mich dieser kleine Umstand zurück. Ihr Anerbieten hat aber nunmehr meinen Entschluß zur Reife gebracht. Machen Sie sich anheischig, mein lieber Herr von Morcerf, – der Graf begleitete diese Worte mit einem seltsamen Lächeln, – wenn ich nach Frankreich komme, mir die Türen dieser Welt zu öffnen, in der ich so fremd sein werde, wie ein Hurone oder ein Cochinchinese?

 

Oh! Herr Graf, mit der größten Freude, um so mehr, als ich nach Paris durch einen mir soeben zugekommenen Brief zurückgerufen werde, worin für mich von einer Verbindung mit einem sehr angenehmen Hause die Rede ist, das in den besten Verhältnissen zu der ganzen Pariser Welt steht.

 

Verbindung durch Heirat? versetzte Franz lachend.

 

Oh! mein Gott, ja. Wenn Sie nach Paris kommen, finden Sie mich als einen gesetzten Mann und vielleicht als Familienvater. Nicht wahr, das wird sich zu meinem natürlichen Ernste gut machen? In jedem Falle wiederhole ich Ihnen, ich und die Meinigen gehören Ihnen mit Leib und Seele.

 

Ich nehme es an, sagte der Graf, denn ich schwöre Ihnen, es fehlte mir nur eine solche Gelegenheit, um Pläne zu verwirklichen, mit denen ich mich seit geraumer Zeit trage.

 

Franz zweifelte keinen Augenblick, diese Pläne seien die, welche der Graf in der Grotte von Monte Christo angedeutet hatte, und er schaute den Grafen, während er sprach, fest an, um auf seinem Gesichte irgend eine Enthüllung der Entwürfe, die ihn nach Paris führten, zu erhaschen; aber es war sehr schwierig, in das Innere dieses Mannes zu dringen, besonders wenn er es mit einem Lächeln verschleierte.

 

Wann werden Sie selbst dort sein? fragte der Graf Albert.

 

In vierzehn Tagen oder spätestens drei Wochen, gerade soviel ich Zeit zur Rückkehr brauche.

 

Wohl! ich gebe Ihnen drei Monate; Sie sehen, ich mache das Maß lang. Und in drei Monaten werden Sie an meine Tür klopfen? rief Albert vor Freude.

 

Wollen Sie ein Wiedersehen auf Tag und Stunde? Ich sage Ihnen, daß ich von einer verzweifelten Pünktlichkeit bin.

 

Auf Tag und Stunde! sagte Albert, das ist mir äußerst angenehm.

 

Wohl, es sei!

 

Und er streckte die Hand nach einem in der Nähe des Spiegels hängenden Kalender aus und fuhr dann fort: Wir haben heute den 21. Februar, es ist halb elf Uhr morgens. Wollen Sie mich am 21. Mai um halb elf Uhr morgens erwarten?

 

Vortrefflich! Das Frühstück wird bereit sein.

 

Wo wohnen Sie?

 

In der Rue du Helder, Nr. 27. Ich wohne im Hotel meines Vaters, aber in einem völlig abgesonderten Hintergebäude.

 

Der Graf nahm seine Schreibtafel und schrieb: Rue du Helder, Nr. 27 am 21. Mai um halb elf Uhr morgens.

 

Und nun seien Sie unbesorgt, sagte der Graf, ich werde pünktlich sein.

 

Ich sehe Sie noch vor meiner Abreise? fragte Albert.

 

Je nachdem, wann reisen Sie?

 

Morgen abend um fünf Uhr.

 

Dann sage ich Ihnen Lebewohl. Ich habe Geschäfte in Neapel und werde erst Samstag oder Sonntag früh zurückkommen. Und Sie, fragte der Graf Franz, reisen Sie ebenfalls, Herr Baron?

 

Ja, nach Venedig. Ich bleibe noch in Italien.

 

Wir werden uns also in Paris nicht sehen?

 

Ich befürchte, nicht die Ehre zu haben.

 

Meine Herren, glückliche Reise, sagte der Graf zu den Freunden und reichte jedem eine Hand. Es war das erstemal, daß Franz die Hand dieses Mannes berührte; er bebte, denn sie war eisig wie die Hand eines Toten. Also, auf Wiedersehen, am 21. Mai um halb elf Uhr morgens, Rue du Helder, Nr. 27, sagte Albert.

 

Hierauf grüßten die jungen Männer den Grafen und entfernten sich.

 

Was haben Sie denn? sagte Albert, in sein Zimmer zurückkehrend, zu Franz, Sie sehen ja ganz sorgenvoll aus?

 

Ja, ich gestehe, der Graf ist ein seltsamer Mann, antwortete Franz, und nur mit Unruhe sehe ich seinem Pariser Aufenthalt entgegen.

 

Mit Unruhe? Ah! Sie sind befangen, lieber Franz! rief Albert.

 

Ob befangen, ob nicht, es ist einmal so.

 

Hören Sie, und es ist mir sehr lieb, daß sich eine Gelegenheit bietet, Ihnen dies zu sagen, ich habe Sie sehr kalt gegen den Grafen gefunden, während mir sein Benehmen gegen Sie tadellos, ja sogar höchst zuvorkommend erschien. Haben Sie etwas Besonderes gegen ihn einzuwenden?

 

Vielleicht.

 

Haben Sie ihn etwa schon irgendwo gesehen, ehe Sie ihm hier begegneten?

 

Allerdings.

 

Wo?

 

Versprechen Sie mir, nicht ein Wort von dem zu sagen, was ich Ihnen mitteilen werde?

 

Ich verspreche es Ihnen.

 

Gut. Hören Sie.

 

Hierauf erzählte Franz seinem Freunde den ganzen Verlauf seines Ausflugs nach der Insel Monte Christo, wie er dort mehrere Schmuggler gefunden und unter diesen Schmugglern einige Banditen. Er verweilte bei allen einzelnen Umständen der feenhaften Gastfreundschaft, die ihm der Graf in seiner Grotte hatte angedeihen lassen; er sprach vom Abendessen, vom Haschisch, von den Statuen, von Wirklichkeit und Traum, und wie am Morgen als Beweis und als Erinnerung an all diese Ereignisse nichts mehr übrig geblieben sei, als eine kleine Jacht, die er am Horizont nach Porto Vecchio segeln sah. Dann ging er auf Rom über, auf die Nacht im Kolosseum, auf das Gespräch über Peppino, das er zwischen dem Grafen und Bampa belauscht und wobei der Graf versprochen habe, die Begnadigung des Banditen zu erlangen.

 

Endlich gelangte er zu dem Abenteuer der vorhergehenden Nacht, zu seiner Verlegenheit, als er gesehen, daß ihm 6 bis 700 Piaster fehlten, um die erforderliche Summe vollständig zu machen, und endlich zu dem Eintreten des Grafen. Albert hörte mit größter Aufmerksamkeit zu.

 

Nun, sagte er, als sein Freund geendigt hatte, was finden Sie daran auszusetzen? Der Graf hat ein eigenes Schiff, weil er reich ist. Gehen Sie nach Portsmouth oder Southampton, und Sie werden die Häfen voll von Jachten sehen, die reichen Engländern gehören, die dieselbe Neigung haben. Um zu wissen, wo er bei seinen Ausflügen anhalten soll, um nicht aus der abscheulichen Küche zu essen, die mich seit vier Monaten vergiftet, um nicht in den niederträchtigen Betten zu liegen, in denen man nicht schlafen kann, läßt er sich ein Absteigequartier auf Monte Christo einrichten. Nachdem er sein Absteigequartier eingerichtet hat, befürchtet er, die toskanische Regierung könnte ihm die Sache verleiden, und er seiner Aufwendungen verlustig gehen; er kauft daher die Insel und nimmt deren Namen an.

 

Aber die Banditen, die sich bei seiner Mannschaft befanden? Was sagen Sie zu dem Einfluß des Grafen auf dergleichen Leute?

 

Ich sage, mein Lieber: Insofern ich aller Wahrscheinlichkeit nach diesem Einfluß das Leben zu verdanken habe, ist es nicht meine Sache, hierüber zu scharf zu urteilen. Statt ihm, wie Sie, ein Hauptverbrechen daraus zu machen, werden Sie begreifen, daß ich ihn entschuldige, nicht weil er mir das Leben gerettet, was vielleicht übertrieben ist, sondern weil er mir 4000 Piaster erspart hat, eine Summe, die gerade 20 000 Franken unseres Geldes gleichkommt, eine Summe, zu der man mich sicherlich in Frankreich nicht angeschlagen hätte, was zum Beweise dient, fügte er lachend bei, daß der Prophet in seinem Vaterlande nie etwas gilt.

 

Wohl! gerade das ist es. Aus welchem Lande ist der Graf? Welche Sprache spricht er? Welches sind seine Existenzmittel? Woher kommt sein ungeheures Vermögen? Wie war der erste Teil seines Lebens beschaffen? Was hat über den zweiten den düsteren, menschenfeindlichen Schatten geworfen? Das wünschte ich an Ihrer Stelle zu wissen.

 

Mein lieber Franz, erwiderte Albert, als Sie beim Empfang meines Briefes sahen, daß Sie seines Einflusses bedurften, sagten Sie zu dem Grafen: Albert von Morcerf, mein Freund, ist in Gefahr; helfen Sie mir, ihn dieser Gefahr entziehen! Nicht wahr? – Ja.

 

Fragte er dann: Wer ist Albert von Morcerf? Woher hat er seinen Namen? Woher sein Vermögen? Welches sind seine Existenzmittel? Welches ist sein Vaterland? Wo ist er geboren? Sprechen Sie, hat er Sie danach gefragt?

 

Ich muß gestehen, nein.

 

Er ist ohne weiteres gegangen und hat mich aus Vampas Händen befreit, wo ich eben keine beneidenswerte Rolle spielte. Nun, mein Lieber, wenn er mich dafür um etwas bittet, was man jeden Tag für jeden italienischen oder russischen Fürsten tut, der durch Paris reist, das heißt, ihn in der Gesellschaft vorzustellen … soll ich ihm das verweigern? Oh, Franz, Sie sind befangen.

 

Tun Sie, wie Sie wollen, lieber Vicomte, versetzte Franz nach kurzem Stillschweigen, denn alles, was Sie mir da sagen, ist dem Anscheine nach völlig richtig; aber darum scheint es mir nicht minder wahr, daß der Graf ein äußerst seltsamer Mann ist.

 

Der Graf von Monte Christo ist ein Menschenfreund; hat er Ihnen nicht gesagt, in welcher Absicht er nach Paris kommt? Nun wohl, er kommt, um sich um den von Monthyon für edle Schriftwerke gestifteten Tugendpreis zu bewerben, und wenn es nur meiner Stimme bedarf, damit er ihn erhält, so werde ich sie ihm geben. Somit wollen wir diesen Gegenstand ruhen lassen, lieber Franz, uns zu Tische setzen und dann Sankt Peter einen letzten Besuch machen.

 

Es geschah, wie Albert sagte, und am andern Tage um fünf Uhr nachmittags trennten sich die jungen Leute, Albert von Morcerf, um nach Paris zurückzukehren, Franz d’Epinay, um vierzehn Tage in Venedig zuzubringen. Doch ehe Albert in den Wagen stieg, übergab er einem Diener im Gasthofe eine Karte für den Grafen von Monte Christo, auf die er unter die Worte: Vicomte Albert von Morcerf, die Worte geschrieben hatte:

 

Am 21. Mai, um halb elf Uhr morgens,

Rue du Helder, Nr. 27.

 

Das Frühstück.

 

Das Frühstück.

 

In dem Hause der Rue du Helder bereitete sich am Morgen des 21. Mai alles vor, um dem Worte des jungen Mannes Ehre zu machen. Albert von Morcerf bewohnte einen Pavillon, der an der Ecke eines großen Hofes und einem andern für die Dienerschaft bestimmten Gebäude gegenüber lag. Nur zwei Fenster dieses Pavillons gingen auf die Straße, während drei nach dem Hof und zwei weitere rückwärts nach dem Garten schauten. Zwischen dem Hofe und dem Garten erhob sich die modische, geräumige Wohnung des Grafen und der Gräfin von Morcerf.

 

Aus der Wahl des zur Wohnung für Albert bestimmten Pavillons leuchtete die zarte Fürsorge einer Mutter, die sich von ihrem Sohne nicht trennen wollte, aber wohl einsah, daß ein junger Mann vom Alter des Vicomte seiner vollen Freiheit bedurfte. Zugleich ergab sich daraus auch der verständige Egoismus des jungen Mannes, dem es das freie, müßige Leben eines minderjährigen Sohnes angetan hatte, das man ihm vergoldete, wie dem Vogel seinen Bauer.

 

Durch die nach der Straße gehenden Fenster konnte Albert sich von den Vorgängen draußen unterrichten, und wenn er sich weiter orientieren wollte, durch eine kleine Tür gehen, die neben der Wohnung des Pförtners angebracht war. Es sah aus, als sei es ein seit Erbauung des Hauses vergessenes und zu fortwährender Vergessenheit verurteiltes Pförtchen, so bestaubt und bescheiden erschien es beim ersten Blick; aber bei näherer Betrachtung zeugten Schloß und Angeln, sorgfältig eingeölt, von einer geheimen beständigen Benutzung.

 

Am Ende eines weiten, stillen, als Vorzimmer dienenden Ganges öffneten sich rechts der nach dem Hofe gehende Speisesaal Alberts und links sein kleiner Salon, von dem man die Aussicht nach dem Garten hatte. Gesträuche und Schlingpflanzen breiteten sich fächerartig von den Fenstern aus und verbargen dem Hofe und dem Garten das Innere der zwei einzigen im Erdgeschosse liegenden Zimmer, in die unbescheidene Blicke hätten dringen können. Im ersten Stocke fanden sich die gleichen Zimmer, außerdem ein drittes, das als Vorzimmer diente. Diese drei Gelasse waren ein Salon, ein Schlafzimmer und ein Boudoir. Der untere Salon war nur eine Art algerischen Rauchzimmers. Das Boudoir des ersten Stockes ging in das Schlafzimmer und stand durch eine unsichtbare Tür mit der Treppe in Verbindung. Es waren, wie man sieht, alle Vorsichtsmaßregeln getroffen.

 

Über diesem ersten Stocke fand sich ein geräumiges Atelier, das man, Mauern und Scheidewände einreißend, vergrößert hatte … ein Pandämonium, das der Künstler dem Stutzer streitig machte. Dort sammelten sich alle Spuren der verschiedenen Neigungen Alberts: Waldhörner, Baßgeigen, Flöten, ein ganzes Orchester, denn Albert hatte einen Augenblick nicht Begabung, sondern Neigung zur Musik gehabt; sodann fanden sich dort Staffeleien, Paletten, Pastelle, auf die Neigung zur Musik war nämlich die Neigung zur Malerei gefolgt, ferner Rappiere, Boxhandschuhe und Stöcke aller Art, denn nach den Überlieferungen der jungen Modeherren der Zeit pflegte Albert mit unendlich mehr Ausdauer, als er dies bei der Musik und Malerei getan, jene drei Künste, welche die Erziehung des Salonlöwen vollenden, die Fechtkunst, das Boxen und die Handhabung des Stockes.

 

Im übrigen bestand die Ausstattung in alten Truhen aus der Zeit Franz I., die mit chinesischem Porzellan, japanischen Vasen, Fayencen von Lucca della Robbia und Platten von Bernard de Palissy gefüllt waren; in antiken Lehnstühlen, worin vielleicht Heinrich IV. oder Ludwig XIII. gesessen hatte, denn zwei von diesen Stühlen waren mit dem geschnitzten Lilienwappen geschmückt. Auf diesen Stühlen lagen durcheinander kostbare Stoffe aus Persien oder Indien. An dem am meisten in die Augen fallenden Platze stand ein prächtiges Piano. Überall, längs den Wänden, über den Türen, an der Decke sah man Schwerter, Dolche, Keulen, Äxte, ganz vergoldete Rüstungen; Kräuterbücher, Haufen von Mineralien, ausgestopfte Vögel u. s. w.

 

Es versteht sich von selbst, daß dieses Zimmer Alberts Lieblingszimmer war.

 

Am Tage des Wiedersehens hatte jedoch der junge Mann sein Hauptquartier in dem kleinen Salon im Erdgeschosse aufgeschlagen und alle Anordnungen zu einem würdigen Empfange seines Gastes getroffen.

 

Um drei Viertel auf zehn Uhr trat ein Kammerdiener ein. Er bildete für gewöhnlich mit einem kleinen Reitknecht, der nur englisch sprach und auf den Namen John antwortete, die ganze Dienerschaft Alberts. Der Kammerdiener, der Germain hieß und das vollkommene Vertrauen seines jungen Herrn genoß, hielt in der Hand einen Stoß Zeitungen, die er auf den Tisch legte, und ein Päckchen Briefe, das er Albert übergab.

 

Albert schaute mit zerstreutem Auge die verschiedenen Schreiben an, wählte zwei mit zarter Schrift und wohlriechenden Umschlägen, öffnete sie und las sie mit einiger Aufmerksamkeit.

 

Lassen Sie Frau Danglars sagen, wandte er sich dann an den Diener, ich nehme den Platz an, den sie mir in ihrer Loge anbietet … Warten Sie doch … im Verlaufe des Tages gehen Sie zu Rosa und melden ihr, ich werde ihrer Einladung zufolge nach der Oper bei ihr zu Nacht speisen; bringen Sie ihr sechs Flaschen ausgesuchten Wein, Cyprier, Xeres und einen Korb Ostender Austern …

 

Um welche Zeit soll gedeckt werden?

 

Servieren Sie um halb elf Uhr. Debray muß vielleicht in sein Ministerium gehen … Und überdies … es ist die Stunde, die ich dem Grafen angegeben habe, am 21. Mai um halb elf Uhr morgens; wenn ich auch nicht erwarte, daß er sein Versprechen hält, so will ich doch pünktlich sein. Wissen Sie nicht, ob die Frau Gräfin aufgestanden ist?

 

Wenn es der Herr Vicomte wünscht, werde ich mich erkundigen.

 

Ja … erbitten Sie sich von ihr einen Likörkasten, meiner ist unvollständig; sagen Sie ihr, ich werde um drei Uhr die Ehre haben, zu ihr zu kommen.

 

Der Kammerdiener ging ab. Albert warf sich auf einen Diwan, blätterte in ein paar Zeitungen, sah nach den Theatern, machte eine Grimasse, als er wahrnahm, daß man eine Oper und kein Ballett gab, warf ein Blatt nach dem andern beiseite und murmelte gähnend: Diese Zeitungen werden in der Tat immer erbärmlicher.

 

In diesem Augenblick hielt ein leichter Wagen vor der Tür, und eine Minute nachher kam der Kammerdiener zurück, um Herrn Lucien Debray zu melden. Ein großer, blonder, bleicher junger Mann, mit grauem, sicherem Auge, dünnen, kalten Lippen, mit weißer Kravatte und einem an einer seidenen Schnur hängenden Monokle trat, ohne zu lächeln, ohne zu sprechen und mit einer halboffiziellen Miene ein. Er war nämlich Privatsekretär des Ministers des Innern. Die beiden jungen Leute sprachen von allerlei Stadtklatsch, und Debray erzählte eben, ihr gemeinschaftlicher Bekannter, Baron von Danglars, habe in spanischen Papieren eine Million gewonnen, als der Kammerdiener eintrat und Herrn Beauchamp anmeldete.

 

Herein! Herein! Furchtbare Feder! rief Albert, aufstehend und dem jungen Manne entgegengehend, hier ist Debray, der Ihr Gegner ist, ohne Sie zu lesen … so sagt er wenigstens.

 

Er hat recht, erwiderte Beauchamp, es geht ihm wie mir, ich kritisiere ihn, ohne zu wissen, was er tut. Doch sage mir, lieber Albert: Frühstücken wir oder speisen wir zu Mittag? Die Deputiertenkammer nimmt mich in Anspruch. Es ist, wie Sie sehen, nicht alles rosa in unserm Berufe.

 

Wir frühstücken nur; wir erwarten noch zwei Personen und setzen uns zu Tische, sobald sie gekommen sind.

 

Ich werde also zum Nachtisch zurückkehren. Heben Sie mir Erdbeeren, Kaffee und Zigarren auf. Ich esse mein Kotelett in der Kammer.

 

Tun Sie das nicht, Beauchamp, denn wir frühstücken Punkt elf Uhr; mittlerweile machen Sie es wie Debray, kosten Sie meinen Xeres und meine Zwiebacke.

 

Gut, ich bleibe; ich muß mich heute unbedingt zerstreuen.

 

Sie machen’s gerade wie Debray, doch mir scheint, wenn das Ministerium traurig ist, sollte die Opposition heiter sein.

 

Ah! sehen Sie, lieber Freund, sagte Debray, Sie wissen nicht, was mir droht. Ich werde heute in der Deputiertenkammer eine Rede von Herrn Danglars hören. Der Teufel hole die konstitutionelle Regierung!

 

Ich begreife, Sie bedürfen eines Vorrats an Heiterkeit.

 

Machen Sie Herrn Danglars‘ Reden nicht schlecht, sagte Albert zu Beauchamp, wenn er auch zur Opposition gehört. Erinnern Sie sich doch, daß die Pariser Chronik von einer Heirat zwischen mir und Fräulein Eugenie Danglars spricht. Ich kann Sie also nicht mit gutem Gewissen die Beredsamkeit eines Mannes anzweifeln lassen, der mir eines Tages sagen soll: Herr Vicomte, Sie wissen, daß ich meiner Tochter zwei Millionen mitgebe.

 

Still doch! sagte Beauchamp, diese Heirat wird nie stattfinden. Der König konnte ihn zum Grafen machen, er kann ihn zum Pair ernennen, aber er wird ihn nie zum Edelmann machen, und der Graf von Morcerf ist ein viel zu aristokratischer Degen, um gegen zwei armselige Millionen in eine Mesalliance zu willigen. Der Vicomte von Morcerf darf nur eine Marquise heiraten.

 

Lassen Sie ihn reden, Morcerf, versetzte Debray nachlässig, und heiraten Sie! Sie heiraten die Etikette eines gewissen Sacks, nicht wahr? Wohl, was liegt Ihnen daran? Es ist besser, ein Wappenschild weniger bei dieser Etikette und eine Null mehr; Sie haben sieben Amseln in Ihrem Wappen, Sie geben Ihrer Frau drei, und es bleiben Ihnen immer noch vier; das ist eine mehr, als Herr von Guise gehabt hat, der beinahe König von Frankreich geworden wäre, und dessen Vetter Kaiser von Deutschland war.

 

Meiner Treu, ich glaube, Sie haben recht, erwiderte Albert zerstreut.

 

Herr von Chateau-Renaud! Herr Maximilian Morel, sagte der Kammerdiener, zwei neue Gäste meldend.

 

Vollzählig also! rief Beauchamp, denn wenn ich mich nicht täusche, erwarteten Sie nur noch zwei Personen, Albert?

 

Morel! murmelte Albert erstaunt; Morel, wer ist das?

 

Doch ehe er vollendet hatte, nahm Herr von Chateau-Renaud, ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, ein Edelmann vom Scheitel bis zur Zehe, Albert bei der Hand und sagte zu ihm: Erlauben Sie mir, mein Lieber, Ihnen den Spahi-Kapitän, Herrn Maximilian Morel, meinen Freund und meinen Retter, vorzustellen, obgleich ein solcher Mann wohl keiner Vorstellung bedarf. Begrüßen Sie meinen Helden, Vicomte.

 

Und er trat auf die Seite, um den großen, edeln, jungen Mann mit der breiten Stirne, mit dem durchdringenden Auge, mit dem schwarzen Schnurrbart vorzustellen, den unsere Leser bereits in Marseille unter so dramatischen Umständen kennen gelernt haben. Eine reiche, halb französische, halb orientalische, stolz getragene Uniform ließ seine breite, mit dem Kreuze der Ehrenlegion geschmückte Brust und die kühnen Linien seines Wuchses noch besser hervortreten.

 

Der junge Mann verbeugte sich mit anmutreicher Höflichkeit.

 

Mein Herr, sagte Albert mit zuvorkommender Freundlichkeit, Herr von Chateau-Renaud wußte zum voraus, welches Vergnügen er mir durch Ihre Bekanntschaft bereiten würde; Sie gehören zu seinen Freunden, lassen Sie sich auch zu den unsern zählen.

 

Sehr gut, rief Chateau-Renaud, Sie können nur wünschen, daß er eintretendenfalls für Sie tun möge, was er für mich getan hat.

 

Und was hat er denn getan? fragte Albert.

 

Oh! es ist nicht der Mühe wert, davon zu reden, sagte Morel; der Herr übertreibt.

 

Wie? entgegnete Chateau-Renaud, es ist nicht der Mühe wert, davon zu reden? Das Leben ist nicht wert, daß man davon spricht …? In der Tat, was Sie da sagen, ist zu philosophisch, mein lieber Herr Morel. Gut für Sie, der Sie Ihr Leben jeden Tag aufs Spiel setzen, aber nicht für mich, der es zufällig einmal in Gefahr brachte.

 

Aus Ihren Worten entnehme ich, daß Ihnen Kapitän Morel das Leben gerettet hat, unterbrach ihn Albert.

 

Ja, es ist so, erwiderte Chateau-Renaud.

 

Bei welcher Gelegenheit? fragte Beauchamp.

 

Sie wissen alle, daß mir der Gedanke kam, nach Afrika zu gehen.

 

Das ist ein Weg, den Ihnen Ihre Ahnen, die Kreuzfahrer, vorgezeichnet haben, mein lieber Chateau-Renaud, bemerkte Morcerf höflich.

 

Ja, doch ich zweifle, daß es bei Ihnen auch die Befreiung des Grabes Christi galt, warf Beauchamp ein.

 

Sie haben recht, Beauchamp, versetzte der junge Aristokrat. Ich ging nur, um mich im Pistolenschießen zu üben. Das Duell widerstrebt mir, wie Sie wissen, seitdem zwei Zeugen, die ich gewählt, um eine Sache beizulegen, mich zwangen, einem meiner besten Freunde den Arm zu zerschmettern … oh! bei Gott, dem armen Franz d’Epinay, den ihr alle kennt.

 

Ah! ja, es ist wahr, ihr habt euch geschlagen, sagte Debray. Aus welcher Veranlassung?

 

Der Teufel soll mich holen, wenn ich mich dessen erinnere, erwiderte Chateau-Renaud; ich weiß nur noch, daß ich mich schämte, ein Talent wie das meinige ruhen zu lassen, und daß ich an den Arabern die Pistolen versuchen wollte, die ich zum Geschenke bekommen habe. Demzufolge schiffte ich mich nach Oran ein und begab mich nach Constantine, wo ich gerade ankam, als die Belagerung aufgehoben wurde. Ich zog mich daher zurück wie die andern. 48 Stunden lang ertrug ich den Regen bei Tage, den Schnee bei Nacht, am dritten Morgen endlich starb mein Pferd vor Kälte. Armes Tier! Als es tot war, mußte ich zu Fuß zurückgehen. Da sprengten sechs Araber im Galopp herbei, mir den Kopf abzuhauen. Ich schoß zwei mit der Flinte, zwei mit meinen Pistolen nieder; aber es blieben noch zwei übrig, und ich hatte keine Waffe mehr. Der eine nahm mich bei den Haaren, weshalb ich sie jetzt kurz trage, denn man kann nicht wissen, was wieder geschieht; der andere zielte mit seinem Yatagan nach meinem Halse, und ich fühlte bereits das kalte Eisen, als dieser Herr, den Sie hier sehen, ebenfalls auf sie eindrang, den, welcher mich bei den Haaren hielt, mit einem Pistolenschuß niederstreckte und dem andern, der mir mit einem Säbelhieb den Hals abschlagen wollte, den Schädel spaltete. Der Herr hatte sich die Aufgabe gestellt, an diesem Tage einen Menschen zu retten, der Zufall wollte, daß ich dies war; wenn ich einmal reich bin, lasse ich dem Zufall eine Statue errichten.

 

Ja, sagte Morel lächelnd, es war am 5. September, am Jahrestage einer wunderbaren Rettung meines Vaters, ich feiere daher auch, soviel in meinen Kräften liegt, diesen Tag jedes Jahr durch irgend eine Handlung.

 

Durch eine heldenmütige, nicht wahr? unterbrach ihn Chateau-Renaud; kurz ich war der Auserwählte, doch das ist noch nicht alles. Nachdem er mich vom Eisen errettet, rettete er mich vor der Kälte, indem er mir seinen Mantel gab; dann schützte er mich vor dem Hunger dadurch, daß er sein kostbares Pferd, von dem wir, vom Hunger getrieben, jeder ein Stück mit großem Appetit verzehrten, mit mir teilte.

 

Ich ahnte, Sie würden mein Freund werden, Herr Graf, sagte Morel; überdies habe ich bereits die Ehre gehabt, Ihnen zu bemerken, daß ich an diesem Tage dem Schicksal eine Gabe als Wiedervergeltung für die Gunst schuldig bin, die uns einst zu teil geworden ist.

 

Die Geschichte, auf die Herr Morel anspielt, fuhr Chateau-Renaud fort, ist eine ganz bewunderungswürdige Geschichte, die er Ihnen eines Tages erzählen wird, wenn Sie nähere Bekanntschaft mit ihm gemacht haben; für heute wollen wir den Magen und nicht das Gedächtnis stärken. Um wieviel Uhr frühstücken Sie, Albert?

 

Um halb elf Uhr.

 

Auf den Punkt? fragte Debray, seine Uhr ziehend.

 

Ah! Sie werden mir doch die fünf Wartminuten gewähren, erwiderte Morcerf, denn ich erwarte ebenfalls einen Retter.

 

Einen Retter wessen?

 

Von mir, bei Gott! antwortete Morcerf. Glauben Sie, man könne mich nicht auch retten, wie einen andern, und nur die Araber schlagen Köpfe ab? Unser Frühstück ist ein philanthropisches Frühstück, und wir werden, wenigstens hoffe ich es, zwei Wohltäter der Menschheit bei Tische haben.

 

Und woher kommt er? fragte Debray.

 

Das weiß ich nicht, erwiderte Albert. Als ich ihn vor drei Monaten einlud, war er in Rom; doch wer kann sagen, welchen Weg er seitdem gemacht hat?

 

Glauben Sie, daß er Pünktlichkeit besitzt? fragte Debray.

 

Ich glaube, daß er alle guten Eigenschaften besitzt.

 

Passen Sie ja auf! Mit Ihren fünf Wartminuten sind’s noch zehn.

 

Ich werde sie benutzen, um Ihnen ein Wort von meinem interessanten Gaste zu sagen. Ich war während des letzten Karnevals in Rom und wurde von Räubern entführt.

 

Es gibt keine Räuber, sagte Debray.

 

Allerdings gibt es welche und zwar abscheuliche, das heißt liebenswürdige, denn ich habe sie zum Fürchten zu schön gefunden. Die Räuber hatten mich also entführt und an einen jammervollen Ort gebracht, den man die Katakomben von San Sebastiano nennt. Man kündigte mir an, ich sei Gefangener gegen Lösegeld für erbärmliche 4000 römische Taler. Zum Unglück besaß ich nicht mehr als fünfzehnhundert; ich war am Ende meiner Reise und mein Kredit erschöpft. Ich schrieb an Franz, daß ich mich, wenn er nicht um sechs Uhr morgens mit den 4000 Talern käme, zehn Minuten später in der Gesellschaft der Heiligen und glorreichen Märtyrer befinden würde, und Luigi Vampa, dies ist der Name meines Räuberhauptmanns, hätte gewissenhaft sein Wort gehalten, das dürfen Sie glauben.

 

Doch Franz kam mit den 4000 Talern? sagte Chateau-Renaud. Zum Teufel! Man ist um 4000 Taler nicht in Verlegenheit, wenn man Franz d’Epinay oder Albert von Morcerf heißt!

 

Nein, er kam einfach in Begleitung des Gastes, den ich Ihnen ankündige und vorzustellen hoffe.

 

Oh! dieser Herr ist also ein Herkules.

 

Nein, er ist ein Mann etwa von meiner Figur.

 

Bis unter die Zähne bewaffnet?

 

Er hatte nicht einmal eine Stricknadel bei sich.

 

Unterhandelte er wegen Ihres Lösegeldes?

 

Er sagte dem Anführer zwei Worte ins Ohr, und ich war frei.

 

Man entschuldigte sich sogar bei Ihnen, daß man Sie festgenommen hatte? sagte Beauchamp.

 

Allerdings, sagte Morcerf.

 

Der Mann war also ein Geisterbanner?

 

Es war der Graf von Monte Christo.

 

Es gibt keinen Grafen von Monte Christo, sagte Debray.

 

Ich glaube nicht, fügte Chateau-Renaud mit der überlegenen Miene eines Mannes bei, der sein europäisches Adelsbuch an den Fingern auswendig weiß, daß irgend wer irgend was von einem Grafen von Monte Christo gehört hat.

 

Verzeihen Sie, meine Herren, sagte Maximilian, ich glaube, ich kann Ihnen einen Fingerzeig geben. Monte Christo ist eine kleine Insel, von der ich die Matrosen im Dienste meines Vaters oft sprechen hörte … ein Sandkorn im Mittelländischen Meere.

 

Ganz richtig, versetzte Albert. Nun, dieses Sandkorns Gebieter und König ist der, von dem ich eben rede; er wird das Grafendiplom irgendwo in Toskana gekauft haben.

 

Ihr Graf ist also reich?

 

Haben Sie Tausendundeine Nacht gelesen?

 

Bei Gott, eine schöne Frage!

 

Wissen Sie denn, ob die Leute, die man dort sieht, reich oder arm sind? Ob ihre Getreidekörner nicht Diamanten oder Rubinen sind? Sie sehen aus wie armselige Fischer, nicht wahr? Plötzlich öffnen Sie Ihnen eine geheimnisvolle Höhle, worin Sie einen Schatz finden, für den man Indien kaufen könnte.

 

Nun?

 

Nun, mein Graf von Monte Christo ist einer von diesen Fischern. Er hat sogar einen entsprechenden Namen angenommen, denn er nennt sich Simbad der Seefahrer und besitzt eine Höhle voll Gold.

 

Und haben Sie diese Höhle gesehen, Morcerf? sagte Beauchamp.

 

Ich nicht, aber Franz. Doch still! Man darf kein Wort davon in seiner Gegenwart sprechen. Franz stieg mit verbundenen Augen in die Höhle hinab und wurde von Stummen und von Frauen bedient, gegen die Kleopatra nur eine Lorette ist. Nur ist er nicht ganz sicher in Beziehung auf diese Frauen, weil er sie erst gesehen hat, nachdem er Haschisch gegessen hatte, so daß möglicherweise das, was er für tanzende Frauen hielt, eine Quadrille von Statuen war.

 

Die jungen Leute schauten Morcerf mit Augen an, als wollten sie sagen: Sind Sie wahnsinnig, oder wollen Sie unser spotten?

 

In der Tat, sagte Morel nachdenklich, ich habe einen alten Matrosen namens Penelon etwas erzählen hören, was mit Herrn von Morcerfs Erzählung übereinstimmt.

 

Ah! rief Albert, es ist ein Glück, daß mir Herr Morel zu Hilfe kommt. Nicht wahr, es ärgert Sie, daß er einen Faden in mein Labyrinth wirft?

 

Verzeihen Sie, lieber Freund, entgegnete Debray, Sie erzählen uns so unwahrscheinliche Dinge.

 

Ja, aber mein Graf von Monte Christo existiert.

 

Bei Gott! Die ganze Welt existiert, ein schönes Wunder also!

 

Allerdings existiert die ganze Welt, aber nicht unter ähnlichen Bedingungen. Nicht die ganze Welt hat schwarze Sklaven, fürstliche Galerien, Waffen wie in der Kasauba, Pferde für 6000 Franken das Stück, eine griechische Geliebte.

 

Haben Sie die griechische Geliebte gesehen?

 

Ja, ich habe sie gesehen und gehört, gesehen im Teatro Argentina, gehört eines Tages, als ich bei dem Grafen frühstückte.

 

Ihr außerordentlicher Mann ißt also?

 

Meiner Treu, wenn er es tut, ist es so wenig, daß es sich nicht der Mühe lohnt, nur davon zu sprechen.

 

Sie werden sehen, es ist ein Vampir.

 

Lachen Sie, wenn Sie wollen. Das war auch die Ansicht der Gräfin G***.

 

Falbes Auge, dessen Stern sich nach Belieben vermindert oder erweitert, sagte Debray; stark hervortretende Gesichtswinkel, herrliche Stirn, Leichenblässe, schwarzer Bart, weiße, spitzige Zähne, Höflichkeit ebenso.

 

Ganz genau getroffen, Lucien, rief Morcerf, das Signalement paßt Zug für Zug. Ja, spitzige, einschneidende Höflichkeit. Er hat mich oft schaudern lassen, so eines Tages, als wir gemeinschaftlich einer Hinrichtung beiwohnten und ich ihn kalt über alle Arten von Hinrichtungen sprechen hörte.

 

Hat er Sie nicht auch in die Ruinen des Kolosseums geführt, um Ihnen das Blut auszusaugen, Morcerf? fragte Beauchamp.

 

Spotten Sie, solange Sie wollen, meine Herren, versetzte Morcerf etwas gereizt. Wenn ich Sie anschaue, Sie, den schönen Pariser, und mir daneben diesen Mann vorstelle, so kommt es mir vor, als wären wir nicht von demselben Geschlechte.

 

Jedenfalls, sagte Chateau-Renaud, ist Ihr Graf in seinen verlorenen Augenblicken ein artiger Mann, abgesehen von seinem Verkehr mit den italienischen Banditen.

 

Es gibt keine italienischen Banditen! sagte Debray.

 

Keine Vampire! fügte Beauchamp hinzu.

 

Keinen Grafen von Monte Christo, sagte Debray. Hören Sie, Albert, es schlägt halb elf Uhr. Gestehen Sie, daß Sie der Alp gedrückt hat, und lassen Sie uns frühstücken!

 

Doch die Pendeluhr hatte vom Schlage noch nicht zu schwingen aufgehört, als die Tür sich öffnete; Germain trat ein und meldete: Der Graf von Monte Christo.

 

Alle Zuhörer fuhren in die Höhe, so sehr hatte sie Morcerfs Erzählung erregt; Albert selbst konnte sich einer ungestümen Bewegung nicht erwehren. Man hatte weder einen Wagen auf der Straße noch Tritte im Vorzimmer gehört; selbst die Tür hatte sich geräuschlos geöffnet.

 

 

Der Graf erschien auf der Schwelle mit der größten Einfachheit gekleidet, aber auch der anspruchsvollste Gesellschaftslöwe hätte an seiner Toilette nichts zu tadeln gefunden. Alles war vom feinsten Geschmack und aufs eleganteste gearbeitet.

 

Er schien kaum fünfunddreißig Jahre alt zu sein, und allen Anwesenden fiel beim ersten Blick die große Ähnlichkeit mit dem von Debray entworfenen Porträt auf.

 

Der Graf trat lächelnd mitten in den Saal und ging auf Albert zu, der ihm mit zuvorkommendem Eifer die Hand reichte.

 

Die Pünktlichkeit, sagte Monte Christo, ist die Höflichkeit der Könige, wie einer Ihrer Fürsten behauptet hat; doch sie ist nicht immer die der Reisenden, trotz ihrem besten Willen. Ich hoffe indessen, mein lieber Vicomte, Sie werden zu gunsten meines guten Willens die paar Sekunden entschuldigen, die ich zu spät erscheine. Fünfhundert Meilen macht man nicht, ohne auf Hindernisse zu stoßen, besonders in Frankreich, wo es, wie mir scheint, verboten ist, die Postillone durchzuprügeln.

 

Herr Graf, erwiderte Albert, ich war eben damit beschäftigt, Ihren Besuch einigen meiner Freunde anzukündigen, die ich aus Veranlassung Ihrer Zusage eingeladen und nun Ihnen vorzustellen die Ehre habe. Es sind dies der Herr Graf von Chateau-Renaud, dessen Adel bis zu den zwölf Pairs hinaufsteigt, und dessen Ahnen an der Tafelrunde gesessen haben; Herr Lucien Debray, Privatsekretär des Ministers des Innern, Herr Beauchamp, ein furchtbarer Journalist, der Schrecken der französischen Regierung, von dem Sie jedoch vielleicht trotz seiner nationalen Berühmtheit in Italien niemals etwas gehört haben, weil seine Zeitung wegen ihrer freien Haltung in Italien nicht zugelassen wird, ferner Herr Maximilian Morel, Kapitän bei den Spahis.

 

Bei diesem Namen machte der Graf, der bis dahin höflich, aber mit echt englischer Kälte und Unempfindlichkeit gegrüßt hatte, einen Schritt vorwärts, und ein leichter rötlicher Ton zog wie ein Blitz über seine bleichen Wangen hin.

 

Der Herr trägt die Uniform der neuen französischen Sieger? sagte er; es ist eine schöne Uniform.

 

Man hätte schwer sagen können, was die Stimme des Grafen so tief ertönen ließ, was den unwillkürlichen Glanz in sein Auge lockte, das so schön, so ruhig, so durchsichtig war, wenn er nicht irgend einen Grund hatte, es zu verschleiern.

 

Sie haben unsre Afrikaner nie gesehen? sagte Albert.

 

Nie, erwiderte der Graf, der nun wieder vollkommen seiner Herr geworden war.

 

Wohl, unter dieser Uniform schlägt eins der bravsten und edelsten Herzen des Heeres.

 

Oh! Herr Vicomte … unterbrach ihn Morel.

 

Lassen Sie mich sprechen, Kapitän. Wir haben soeben von diesem Herrn einen so edelmütigen Zug erfahren, fuhr Albert fort, daß ich mir, obgleich ich ihn heute zum erstenmal sehe, die Gunst erbitte, ihn als meinen Freund vorstellen zu dürfen.

 

Bei diesen Worten konnte man beim Grafen abermals den seltsamen Blick und das leichte Zittern des Augenlides wahrnehmen, wodurch sich bei ihm eine innere Bewegung kundgab. Ah! der Herr hat ein edles Herz, desto besser, sagte er.

 

Dieser mehr dem eigenen Gedanken, als dem, was Albert gesagt hatte, entsprechende Ausruf überraschte alle, besonders Morel, der Monte Christo ganz erstaunt anschaute. Aber der Ton war zu gleicher Zeit so sanft und weich, daß man sich, so seltsam auch der Ausruf erscheinen mußte, unmöglich darüber ärgern konnte.

 

Warum sollte er daran zweifeln? sagte Beauchamp leise zu Chateau-Renaud.

 

In der Tat, versetzte Chateau-Renaud ebenso, der mit seiner Welterfahrenheit und der Schärfe seines aristokratischen Blickes alles bei Monte Christo durchdrungen hatte, was bei ihm zu durchdringen war, in der Tat, Albert hat uns nicht getäuscht; dieser Graf ist eine seltsame Person. Was sagen Sie dazu, Morel?

 

Meiner Treu, sagte Morel, er hat ein offenes Auge und eine sympathische Stimme, und er gefällt mir, trotz der sonderbaren Bemerkung, die er soeben über mich gemacht hat.

 

Meine Herren, sagte Albert, Germain meldet mir, daß aufgetragen ist. Mein lieber Graf, erlauben Sie mir, Ihnen den Weg zu zeigen.

 

Man ging schweigend in den Speisesaal.

 

Meine Herren, sagte der Graf, nachdem er sich gesetzt hatte, erlauben Sie mir ein Geständnis, das zur Entschuldigung für jede Unschicklichkeit dienen soll, die ich begehen dürfte; ich bin fremd, und zwar dergestalt fremd, daß ich zum erstenmal nach Paris komme. Das französische Leben ist mir folglich unbekannt, und ich habe bis jetzt nur ein orientalisches Leben geführt, das den guten Pariser Traditionen am allerwenigsten entspricht. Ich bitte Sie also, mich zu entschuldigen, wenn Sie an mir etwas zu Türkisches, zu Neopolitanisches oder zu Arabisches finden. So, nun lassen Sie uns aber frühstücken, meine Herren!

 

Wie er das alles sagt! murmelte Beauchamp; es ist entschieden ein vornehmer Herr.

 

Ein vornehmer Herr aus fremden Lande, flüsterte Debray.

 

Ein vornehmer Herr in allen Ländern, sagte Chateau-Renaud.

 

Der Graf war, wie man sich erinnern wird, ein mäßiger Esser. Albert befürchtete, das Pariser Leben könnte dem Gast schon von Anfang an durch seine materiellste, aber zugleich notwendigste Seite mißfallen, und sagte daher zu ihm: Mein lieber Graf, ich fürchte, die Küche der Rue du Helder wird Ihnen nicht so sehr munden, als die der Piazza di Spagna. Ich hätte Ihren Geschmack zu Rate ziehen und Ihnen einige Gerichte nach Ihrer Phantasie bereiten lassen sollen.

 

Wenn Sie mich näher kennten, antwortete der Graf lächelnd, so würden Sie sich deswegen nicht die geringste Sorge bei einem Reisenden machen, der abwechselnd von Maccaroni in Neapel, von Polenta in Mailand, von Olla potrida in Valencia, von Pilau in Konstantinopel, von Carick in Indien und von Schwalbennestern in China gelebt hat. Es gibt keine Küche für einen Kosmopoliten wie ich bin. Ich esse von allem und überall, nur esse ich wenig, und heute, wo Sie mir meine Nüchternheit zum Vorwurf machen, habe ich gerade Appetit, denn seit gestern morgen ist nichts über meine Lippen gekommen.

 

Wie, seit gestern morgen? riefen die Gäste; Sie haben seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen?

 

Nein, erwiderte Monte Christo, ich war genötigt, von der Straße abzugehen und in der Gegend von Nimes Erkundigungen einzuziehen; dadurch verspätete ich mich etwas, und dann wollte ich nicht mehr anhalten. Und Sie speisten in Ihrem Wagen? fragte Morcerf.

 

Nein, ich schlief, wie mir dies begegnet, wenn ich mich langweile, ohne den Mut zu haben, mich zu zerstreuen, oder wenn mich hungert, ohne daß ich Lust habe zu essen.

 

Sie können also dem Schlaf befehlen?

 

So ungefähr.

 

Besitzen Sie ein Rezept hierzu?

 

Ein untrügliches.

 

Das wäre gut für uns Afrikaner, die wir nicht immer zu essen und selten zu trinken haben, bemerkte Morel.

 

Ja, erwiderte Monte Christo, doch so vortrefflich mein Rezept für einen Menschen ist wie ich, der ein ausnahmsweises Leben führt, so gefährlich wäre es für eine ganze Armee, die nicht mehr erwachen würde, wenn man ihrer bedürfte.

 

Darf man wissen, worin dieses Rezept besteht? fragte Debray.

 

Oh! mein Gott, ja, ich mache kein Geheimnis daraus. Es ist eine Mischung von vortrefflichem Opium, das ich selbst in Canton geholt habe, um es rein zu besitzen, und vom besten Haschisch, den man im Orient, das heißt zwischen dem Tigris und Euphrat, findet. Man mengt diese beiden Ingredienzien zu gleichen Teilen und macht daraus eine Art von Pillen, die man im Augenblick des Bedürfnisses verschluckt. Zehn Minuten nachher tritt die Wirkung ein. Fragen Sie den Baron Franz d’Epinay, ich glaube, er hat eines Tages davon gekostet.

 

Ja, versetzte Morcerf, er erzählte mir davon, und er bewahrt eine sehr angenehme Erinnerung an diesen Genuß.

 

Sie führen also diese Droge stets bei sich? fragte Beauchamp, der in seiner Eigenschaft als Journalist sehr ungläubig war.

 

Beständig, antwortete Monte Christo.

 

Wäre es unbescheiden, wenn ich Sie bitte, diese Pillen sehen zu dürfen? fuhr Beauchamp fort, in der Hoffnung, den Fremden auf einer Blöße zu ertappen. Nein, mein Herr, erwiderte der Graf; und er zog aus seiner Tasche eine wundervolle Bonbonniére, die aus einem einzigen Smaragd gearbeitet und mit einer Schraube verschlossen war, und die, wenn man sie ausschraubte, ein Kügelchen von grünlicher Farbe und von der Größe einer Erbse durchließ. Dieses Kügelchen hatte einen scharfen, durchdringenden Geruch; es waren vier oder fünf ähnliche in dem Smaragd, der ungefähr ein Dutzend fassen mochte. Die Bonbonniére machte die Runde um die Tafel, doch die Gäste ließen sie mehr umhergehen, um den prachtvollen Smaragd zu bewundern, als um die Pillen zu beriechen.

 

Und diese Speise bereitet Ihnen Ihr Koch? fragte Beauchamp.

 

Nein, erwiderte Monte Christo; ich überlasse meine reellen Genüsse nicht der Willkür unwürdiger Hände. Ich bin ein ziemlich guter Chemiker und bereite meine Pillen selbst.

 

Das ist ein bewunderungswürdiger Smaragd … es ist der größte, den ich je gesehen habe, obgleich meine Mutter als Familienwertstücke verschiedene ziemlich merkwürdige Juwelen besitzt, sagte Chateau-Reuaud.

 

Ich hatte drei gleiche, versetzte Monte Christo; den einen gab ich dem Großsultan, der ihn an seinen Säbel fassen ließ; den andern unserem heiligen Vater, dem Papst, auf dessen Geheiß er auf seine Tiara, als Gegenstück zu einem ähnlichen, aber doch minder schönen Smaragd, einer Gabe Napoleons an seinen Vorgänger Pius VII., eingesetzt wurde. Den dritten behielt ich für mich; ich ließ ihn aushöhlen, was ihm ungefähr die Hälfte seines Wertes benommen, aber für den Gebrauch, zu dem ich ihn bestimmte, bequemer gemacht hat.

 

Alle schauten Monte Christo erstaunt an; er sprach mit so viel Einfachheit, daß er offenbar die Wahrheit sagte oder verrückt sein mußte. Beim Anblick des Smaragds in seinen Händen aber neigte man natürlich zu der ersten Vermutung.

 

Und was haben Ihnen diese beiden Herrscher dagegen gegeben? fragte Debray.

 

Der Großherr die Freiheit einer Frau, antwortete der Graf, unser heiliger Vater, der Papst, das Leben eines Mannes. So war ich einmal in meinem Dasein so mächtig, als hätte mich Gott auf den Stufen eines Thrones geboren werden lassen.

 

Es ist Peppino, den Sie befreit haben, nicht wahr? rief Morcef; für ihn haben Sie Ihr Begnadigungsrecht angewendet?

 

Vielleicht, antwortete Monte Christo lächelnd.

 

Herr Graf, Sie machen sich keinen Begriff, welches Vergnügen es mir bereitet, Sie so sprechen zu hören, sagte Morcerf. Ich hatte Sie zum voraus meinen Freunden als einen fabelhaften Mann, als einen Zauberer aus Tausendundeiner Nacht, als einen Hexenmeister angekündigt; doch die Pariser sind so paradoxe Leute, daß sie die unbestreitbarsten Wahrheiten für Launen der Einbildungskraft halten, wenn diese Wahrheiten nicht in ihrer täglichen Existenz in Erscheinung treten,. Nehmen Sie zum Beispiel hier Debray, der alle Tage liest, und Beauchamp, der täglich druckt, daß man auf dem Boulevard ein verspätetes Mitglied des Jockeyklubs geplündert, daß man vier Personen in der Rue Saint-Denis oder im Faubourg Saint-Germain ermordet hat, daß zehn Diebe in einem Kaffeehause des Boulevard du Temple verhaftet worden sind, und dennoch bestreiten sie das Vorhandensein von Banditen in der römischen Campagna. Sagen Sie ihnen doch selbst, Herr Graf, daß mich Banditen festgenommen, und daß ich ohne Ihre edelmütige Vermittelung aller Wahrscheinlichkeit nach heute die ewige Auferstehung in den Katakomben von San Sebastiano zu erwarten hätte, statt Ihnen in meinem unwürdigen Häuschen in der Rue du Helder ein Frühstück zu geben.

 

Bah! rief Monte Christo, Sie haben mir versprochen, von dieser Kleinigkeit nie zu sprechen. Nicht ich, Herr Graf, entgegnete Morcerf; Sie verwechseln mich mit einem andern, dem Sie wahrscheinlich denselben Dienst geleistet haben, wie mir. Sprechen wir im Gegenteil davon, ich bitte Sie! Denn wenn Sie sich entschließen, hiervon zu reden, so werden Sie mir vielleicht nicht nur das wiederholen, was ich weiß, sondern auch vieles sagen, was ich nicht weiß.

 

Es scheint mir aber, entgegnete der Graf lächelnd, Sie haben bei dieser ganzen Angelegenheit eine genügend wichtige Rolle gespielt, um ebensogut wie ich zu wissen, was vorgefallen ist.

 

Wollen Sie mir versprechen, wenn ich alles sage, was ich weiß, mir Ihrerseits zu sagen, was ich nicht weiß?

 

Das ist nur billig, antwortete Monte Christo.

 

Gut, sagte Morcerf, und sollte es auch auf Kosten meiner Eitelkeit gehen. Ich hielt mich drei Tage lang für den Gegenstand der Liebesblicke einer Maske, die mir als neue Julia oder Poppäa erschien, während ich doch in Wahrheit von einer Bäuerin geködert wurde. Ich weiß nur, daß ich Dummkopf einen jungen Banditen von fünfzehn bis sechzehn Jahren mit bartlosem Kinn und von schlankem Wuchse für diese Bäuerin hielt, der im Augenblick, wo ich mir die Freiheit nehmen wollte, einen Kuß auf seine keusche Schulter zu drücken, mir die Pistole vor die Brust setzte und mich mit Hilfe von sieben oder acht Gefährten in die Katakomben von Sebastiano führte oder vielmehr schleppte. Hier fand ich einen wissenschaftlich gebildeten Banditenanführer, der Cäsars Kommentar las und sich nur bewogen fühlte, seine Lektüre zu unterbrechen, um mir zu sagen, daß ich, wenn ich am andern Morgen um sechs Uhr nicht viertausend Taler in seine Kasse entrichtet hätte, um Viertel auf sieben Uhr zu leben aufhören würde. Der Brief ist noch in Franzens Händen, von mir unterzeichnet und mit einer Nachschrift von Luigi Vampa versehen. Zweifeln Sie an meinen Worten, so schreibe ich an Franz und lasse die Echtheit der Unterschriften bescheinigen. Das ist alles, was ich weiß. Was ich aber nicht weiß, ist der Umstand, wie es Ihnen gelungen ist, den Banditen so große Achtung einzuflößen. Ich gestehe Ihnen, daß Franz und ich von Bewunderung erfüllt waren.

 

Nichts ist einfacher, antwortete der Graf; ich kannte den berüchtigten Vampa seit mehr als zehn Jahren. Als er noch ganz jung und Hirte war, gab er mir eines Tages dafür, daß ich ihm irgend eine Goldmünze schenkte, weil er mir den Weg gezeigt hatte, einen von ihm selbst geschnitzten Dolch, den Sie wohl in meiner Waffensammlung gesehen haben. Später, … hatte er nun dieses Vorkommnis vergessen, oder hatte er mich nicht erkannt … wollte er mich einmal festnehmen; es gelang mir aber im Gegenteil, ihn mit einem Dutzend seiner Leute gefangen zu nehmen. Ich konnte Vampa der römischen Justiz ausliefern, die ziemlich rasch zu Werke geht und in seinem Fall sich noch mehr als gewöhnlich beeilt haben würde, aber ich tat es nicht; ich entließ ihn und die Seinigen.

 

Unter der Bedingung, daß sie nicht mehr sündigen würden, sagte der Journalist lachend. Ich sehe mit Vergnügen, daß sie ihr Wort gewissenhaft gehalten haben.

 

Nein, entgegnete Monte Christo, unter der einzigen Bedingung, daß sie mir und den Meinen Achtung erweisen. Was ich Ihnen sage, kommt Ihnen vielleicht seltsam vor, meine Herren Sozialisten, Progressisten, Humanisten, aber ich kümmere mich nie um meinen Nächsten, ich suche nie die Gesellschaft zu beschützen, die mich nicht beschützt und sich, ich darf es wohl behaupten, im allgemeinen nur mit mir beschäftigt, um mir zu schaden, und indem ich sie gering achte und ihnen gegenüber Neutralität beobachte, sind mir die Gesellschaft und mein Nächster das gleiche schuldig.

 

Das gefällt mir! rief Chateau-Renaud; das ist der erste Mensch, den ich ehrlich und geradeheraus die Selbstsucht predigen höre. Sehr schön, bravo, Herr Graf!

 

Es ist wenigstens offenherzig, bemerkte Morel; doch ich bin überzeugt, der Herr Graf bereut es nicht, daß er einmal von den Grundsätzen abgegangen ist, die er soeben so unbedingt gegen uns ausgesprochen hat.

 

Wieso bin ich von diesen Grundsätzen abgegangen? fragte Monte Christo, der von Zeit zu Zeit Maximilian unwillkürlich so aufmerksam anschaute, daß der kühne junge Mann schon ein paarmal die Augen vor dem klaren, durchsichtigen Blicke des Grafen niedergeschlagen hatte.

 

Mir scheint, antwortete Morel, indem Sie Herrn von Morcerf, der Ihnen unbekannt war, befreiten, dienten Sie Ihrem Nächsten und der Gesellschaft.

 

Deren schönste Zierde er bildet, sagte Beauchamp ernst und leerte mit einem Zuge ein volles Glas Champagner.

 

Herr Graf, rief Morcerf, Sie sind gefangen, Sie, einer der schärfsten Logiker, die ich kenne, und Sie werden sehen, man beweist Ihnen sogleich, daß Sie kein Egoist, sondern ein Philanthrop sind. Ah, Herr Graf, Sie sagen, Sie seien Orientale, Malaie, Indianer, Chinese, Wilder, Sie nennen sich Monte Christo mit Familiennamen, Simbad der Seefahrer mit Vornamen, und an dem Tage, wo Sie Paris zum erstenmal betreten, besitzen Sie bereits das größte Verdienst oder den größten Fehler unserer überschwenglichen Pariser, das heißt, Sie maßen sich Laster an, die Sie nicht haben, und verbergen die Tugenden, die Sie besitzen.

 

Lieber Vicomte, sagte Monte Christo, ich sehe in allem, was ich gesprochen oder getan, nicht das geringste, was des Lobes wert wäre, das ich soeben von Ihnen und diesen Herren empfangen habe. Sie waren kein Fremder für mich, da ich Sie kannte, da ich Ihnen zwei Zimmer abgetreten, da ich Ihnen ein Frühstück gegeben, da ich Ihnen meinen Wagen geliehen, da wir miteinander auf dem Korso die vorüberziehenden Masken betrachtet und von einem Fenster der Piazza del popolo einer Hinrichtung zugeschaut hatten, die einen so gewaltigen Eindruck auf Sie machte, daß Ihnen beinahe übel geworden wäre. Ich frage nun alle diese Herren: Konnte ich meinen Gast in den Händen der Banditen lassen, wie Sie diese Leute nennen? Auch hatte ich, als ich Sie rettete, wie Sie wissen, einen Hintergedanken; ich wollte gern durch Sie in die Pariser Salons eingeführt werden, wenn ich nach Frankreich käme. Sie konnten das damals für einen flüchtigen Einfall halten, heute aber sehen Sie, daß es eine ernste Wahrheit ist, der Sie sich unterwerfen müssen, wenn Sie Ihr Wort nicht brechen wollen.

 

Ich werde es halten, sagte Morcerf, doch ich fürchte sehr, es wird eine Entzauberung bei Ihnen eintreten, lieber Graf, da Sie durch romantische Begebenheiten und phantastische Ereignisse verwöhnt sind. Bei uns finden Sie keine Spur von Episoden der Art, wie sie in Ihrem abenteuerlichen Leben zur Regel gehören. Unser Chimborasso ist der Montmartre, unser Himalaya der Mont-Valérien, unsere große Wüste die Ebene von Grenelle, wo man einen artesischen Brunnen gegraben hat, damit die Karawanen Wasser finden. Wir haben auch Räuber, viele Räuber, wenn auch nicht so viele, wie man sagt, aber diese Räuber fürchten der weitem mehr den kleinsten Spion, als den mächtigsten Herrn: kurz, Frankreich ist ein so prosaisches Land und Paris eine so zivilisierte Stadt, daß Sie in allen unseren Departements keinen Berg finden, auf dem nicht eine Telegraphenstange stände, und keine etwas dunkle Grotte, in der die Polizei nicht hätte eine Glastür einsetzen lassen. Ich kann Ihnen folglich nur einen Dienst leisten, lieber Graf, und für diesen stehe ich zu Ihrer Verfügung: ich kann Sie überall vorstellen oder durch meine Freunde vorstellen lassen. Übrigens brauchen Sie niemand hierzu; mit Ihrem Namen, mit Ihrem Vermögen und Ihrem Geiste – Monte Christo verbeugte sich mit leichtem ironischem Lächeln – stellt man sich überall selbst vor und wird überall gut aufgenommen. Ich kann Ihnen also nur in einer Beziehung nützlich sein. Gereicht es mir bei Ihnen zur Empfehlung, daß ich ein wenig mit dem Pariser Leben vertraut bin, einige Erfahrung im Komfortablen habe und unsere Basare kenne, so verfügen Sie über mich, wenn Sie sich ein bequemes Haus aussuchen wollen. Ich wage es nicht, Ihnen den Vorschlag zu machen, meine Wohnung mit mir zu teilen, wie ich die Ihrige in Rom geteilt habe, ich, der ich mich nicht zum Egoismus bekenne, aber nichtsdestoweniger vorzugsweise Egoist bin; denn bei mir würde es, mich selbst ausgenommen, kein Schatten aushalten, dieser Schatten müßte denn der einer Frau sein.

 

Ah! rief der Graf, das ist ein ganz ehrlicher Vorbehalt. Sie haben mir in der Tat in Rom ein paar Worte von einem Heiratsplane gesagt; darf ich Ihnen zu Ihrer nahe bevorstehenden Verbindung Glück wünschen?

 

Meinem Vater ist daran gelegen, und ich hoffe Ihnen binnen kurzem, wenn nicht meine Frau, doch meine Braut, Fräulein Eugenie Danglars, vorzustellen.

 

Eugenie Danglars! rief Monte Christo, warten Sie doch … ist Ihr Vater nicht der Graf Danglars?

 

Ja, antwortete Morcerf, aber ein Graf neuer Herkunft.

 

Oh! Was tut das? entgegnete Monte Christo. Wenn er nur dem Staate Dienste geleistet hat, welche diese Auszeichnung als gerechte Belohnung erscheinen lassen.

 

Ungeheure Dienste, sagte Beauchamp. Er hat, obgleich in seinem Innern liberal, im Jahre 1829 ein Anlehen von sechs Millionen für den König Karl X. zu stande gebracht und wurde von diesem dafür zum Grafen und Ritter der Ehrenlegion ernannt, und so trägt er das Band nicht an seiner Westentasche, wie man glauben könnte, sondern hübsch am Knopfloch seines Frackes.

 

Oh! rief Morcerf lachend, Beauchamp, Beauchamp, sparen Sie sich das für das Journal Amüsant und den Charivari, aber schonen Sie in meiner Gegenwart meinen künftigen Schwiegervater!

 

Sich an Monte Christo wendend, fragte Morcerf: Sie haben soeben seinen Namen ausgesprochen, wie einer, der den Grafen kennt?

 

Ich kenne ihn nicht, antwortete Monte Christo mit nachlässigem Tone, werde jedoch wahrscheinlich bald seine Bekanntschaft machen, da ich einen offenen Kredit auf ihn durch das Haus Thomson und French in Rom habe.

 

Beim Aussprechen dieser Namen warf der Graf aus einem Winkel seines Auges Morel einen Blick zu.

 

Hatte der Fremde auf Morel eine Wirkung hervorzubringen gehofft, so täuschte er sich nicht. Morel zitterte, wie vom elektrischen Schlag getroffen. Thomson und French, sagte er, kennen Sie dieses Haus?

 

Es sind meine Bankiers in der Hauptstadt der christlichen Welt, antwortete ruhig der Graf, kann ich Ihnen bei diesen Herren in irgend einer Beziehung nützlich sein?

 

Oh! Herr Graf, Sie könnten uns vielleicht in Nachforschungen unterstützen, die bis jetzt fruchtlos gewesen sind. Dieses Haus hat einst dem unsrigen einen großen Dienst geleistet, diesen Dienst aber, ich weiß nicht warum, stets abgeleugnet.

 

Ich stehe zu Befehl, sagte der Graf, sich verbeugend.

 

Aber wir sind vom Gegenstande unseres Gespräches abgekommen, bemerkte Morcerf. Es war davon die Rede, eine taugliche Wohnung für den Grafen von Monte Christo auszusuchen. Also meine Herren, wir wollen uns besinnen! Wo werden wir unsern neuen Gast einquartieren?

 

Im Faubourg Saint-Germain, sagte Chateau-Renaud, der Herr findet dort ein reizendes kleines Hotel zwischen Garten und Hof.

 

Bah! Chateau-Renaud, rief Debray, Sie kennen nur Ihren öden, langweiligen Faubourg Saint-Germain. Hören Sie nicht auf ihn, Herr Graf! Wohnen Sie in der Chaussée-d’Antin, das ist der wahre Mittelpunkt von Paris.

 

Boulevard de l’Opéra, sagte Beauchamp, im ersten Stock, ein Haus mit Balkon, der Herr Graf läßt Kissen von Silberstoff dahin bringen und sieht, seinen Tschibuk rauchend oder seine Pillen schluckend, die ganze Hauptstadt vor seinen Augen vorüberziehen.

 

Haben Sie keinen Gedanken, Morel, daß Sie nichts vorschlagen? sagte Chateau-Renaud.

 

Doch wohl, erwiderte lächelnd der junge Mann; ich habe einen Gedanken, wartete aber, ob sich der Herr Graf nicht durch einen von den glänzenden Vorschlägen, die man ihm macht, verführen lassen würde. Nun, da er nicht geantwortet, glaube ich ihm eine Wohnung in einem reizenden kleinen Hotel … ganz Pompadour … anbieten zu dürfen, das meine Schwester seit einem Jahr in der Rue Meslay gemietet hat.

 

Sie haben eine Schwester? fragte Monte Christo.

 

Ja, mein Herr, eine vortreffliche Schwester.

 

Verheiratet?

 

Seit bald neun Jahren, und so glücklich, als es ein menschliches Geschöpf nur sein kann, antwortete Maximilian; sie hat den Mann geheiratet, den sie liebte, der uns in unserem Unglück treu geblieben ist: Emanuel Raymond.

 

Monte Christo lächelte unmerklich.

 

Ich wohnte dort während meines halbjährigen Urlaubs, fuhr Maximilian fort, und stehe mit meinem Schwager Emanuel mit jeder Auskunft zu Diensten, deren der Herr Graf bedürfen sollte.

 

Einen Augenblick, rief Morcerf, noch ehe der Graf von Monte Christo Zeit gehabt hatte zu antworten. Bedenken Sie wohl, was Sie tun, Herr Morel; Sie wollen einen freien, schrankenlosen Reisenden, Simbad den Seefahrer, an das Familienleben fesseln; Sie wollen aus einem Mann, der gekommen ist, Paris zu sehen und zu genießen, einen Patriarchen machen.

 

Oh nein, erwiderte Morel lächelnd. Meine Schwester ist fünfundzwanzig Jahre alt, mein Schwager dreißig; sie sind beide jung, heiter und glücklich. Zudem wird der Graf in eigenen Räumen leben, völlig sein eigener Herr sein und seine Wirte nur sehen, so oft es ihm beliebt, sich zu ihnen zu begeben.

 

Ich danke, ich danke, sagte Monte Christo, ich werde mich begnügen, Ihrer Schwester und Ihrem Schwager durch Sie vorgestellt zu werden, wenn Sie mir diese Ehre erweisen wollen; aber ich nehme keines von den Anerbieten der Herren an, da schon eine Wohnung für mich bereit steht.

 

Wie? rief Morcerf, Sie wollen im Gasthof absteigen? Das wird sehr unbequem für Sie sein.

 

War ich denn in Rom so übel dran? fragte Monte Christo.

 

Oh! in Rom, entgegnete Morcerf, dort haben Sie fünfzigtausend Piaster ausgegeben, um sich eine Wohnung möblieren zu lassen, doch ich setze voraus, Sie sind nicht geneigt, sich jeden Tag eine solche Ausgabe zu machen.

 

Das hätte mich nicht zurückgehalten, sagte Monte Christo; doch ich war entschlossen, ein Haus in Paris zu haben, ein eigenes Haus, und schickte meinen Kammerdiener voraus, der mir dieses Haus kaufen und möblieren lassen mußte.

 

Haben Sie denn einen Kammerdiener, der Paris kennt? rief Beauchamp.

 

Er kommt, wie ich, zum erstenmal nach Frankreich, mein Herr, ist schwarz und spricht nicht.

 

Dann ist es Ali? versetzte Albert, während alle erstaunt aufblickten.

 

Ja, es ist Ali, mein Nubier, mein Stummer, den Sie, wie ich glaube, in Rom gesehen haben.

 

Allerdings, ich erinnere mich seiner, sagte Morcerf.

 

Aber wie konnten Sie einen Nubier beauftragen, Ihnen ein Haus zu kaufen, einen Stummen, es möblieren zu lassen? Der arme Unglückliche wird alles verkehrt gemacht haben.

 

Sie täuschen sich, Herr; ich bin im Gegenteil überzeugt, daß er alles nach meinem Geschmack eingerichtet hat, denn Sie wissen, mein Geschmack stimmt mit dem gewöhnlichen nicht überein. Er ist vor acht Tagen angekommen und wird in der Stadt mit dem Instinkte eines guten Jagdhunds herumgelaufen sein. Er kennt meine Neigungen, meine Schrullen, meine Bedürfnisse, und ich zweifle nicht, daß er alles nach meinem Sinn gewählt hat. Er wußte, daß ich heute um zehn Uhr ankomme, und wartete auf mich seit neun Uhr an der Barrière de Fontainebleau. Dort übergab er mir dieses Papier, auf dem meine neue Adresse steht; sehen Sie! Monte Christo reichte das Papier Albert, und dieser las: Champs-Elysées Nr. 30.

 

Das ist in der Tat originell, rief Beauchamp unwillkürlich.

 

Und ganz fürstlich, fügte Chateau-Renaud hinzu.

 

Sie kennen Ihr Haus nicht einmal? fragte Debray.

 

Nein, erwiderte Monte Christo. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich die Stunde nicht versäumen wollte. Ich machte meine Toilette im Wagen und stieg vor der Tür des Vicomte aus.

 

Die jungen Leute schauten sich an; sie wußten nicht, ob Monte Christo Komödie spielte; doch alles, was aus dem Munde dieses Mannes kam, trug ein solches Gepräge der Einfachheit, daß man an keine Lüge denken konnte. Warum sollte er auch gelogen haben?

 

Wir werden uns also begnügen müssen, dem Herrn Grafen alle die kleinen Dienste zu leisten, die in unserer Macht liegen, sagte Beauchamp. Ich meinerseits öffne ihm in meiner Eigenschaft als Journalist alle Theater von Paris.

 

Ich danke, versetzte Monte Christo lächelnd, mein Intendant hat bereits Befehl erhalten, mir in jedem eine Loge zu mieten.

 

Ist Ihr Intendant auch ein Nubier, ein Stummer? fragte Debray.

 

Nein, er ist ein Landsmann von Ihnen, soweit man bei einem Korsen überhaupt von Landsmannschaft reden kann, er ist also ein Korse: doch Sie kennen ihn, Herr von Morcerf?

 

Sollte es etwa der brave Signor Bertuccio sein, der so gut Fenster zu mieten versteht?

 

Ganz richtig, Sie haben ihn bei mir an dem Tage gesehen, wo ich Sie beim Frühstück zu empfangen die Ehre hatte. Er ist ein sehr braver Mann, der ein wenig Soldat, ein wenig Schmuggler, ein wenig von allem, was man sein kann, gewesen ist. Ich möchte nicht schwören, daß er nicht einmal mit der Polizei wegen einer Lumperei, etwa wegen eines Messerstichs, in Konflikt gekommen ist.

 

Und Sie haben diesen ehrlichen Weltbürger zum Intendanten gewählt, Herr Graf? sagte Debray. Wieviel stiehlt er Ihnen jährlich?

 

Auf mein Ehrenwort, nicht mehr als ein andrer, dessen bin ich sicher; doch er besorgt meine Angelegenheiten, kennt keine Unmöglichkeit, und ich behalte ihn.

 

Also Sie haben ein völlig eingerichtetes Haus, sagte Chateau-Renaud, ein Hotel in den Champs-Elysées, Bediente, Intendanten; es fehlt Ihnen nur noch eine Geliebte.

 

Albert lächelte; er dachte an die schöne Griechin, die er in der Gesellschaft des Grafen gesehen hatte.

 

Ich habe etwas Besseres, antwortete Monte Christo, ich habe eine Sklavin. Sie mieten Ihre Geliebten im de l’Opéra, im Théâtre des Variétés, ich habe die meinige in Konstantinopel gekauft; sie hat mich sehr viel gekostet, aber ich brauche mich in dieser Beziehung um nichts mehr zu bekümmern.

 

Doch Sie vergessen, sagte Debray lachend, wir sind, wie König Karl gesagt hat, frank dem Namen nach, frank der Natur nach, und somit ist Ihre Sklavin, sobald sie den Fuß auf die Erde Frankreichs gesetzt hat, frei geworden.

 

Wer wird es ihr sagen? fragte Monte Christo.

 

Der nächste beste.

 

Sie spricht nur Neugriechisch.

 

Das ist etwas anderes.

 

Aber wir werden sie wenigstens sehen, fragte Beauchamp, oder besitzen Sie auch Eunuchen, wie Sie einen Stummen haben?

 

Nein, erwiderte Monte Christo, so weit treibe ich den Orientalismus nicht. Jedem von meiner Umgebung steht es frei, mich zu verlassen, und wer mich verläßt, bedarf weder mehr meiner, noch irgend einer andern Person, darum verläßt man mich vielleicht nicht.

 

Inzwischen war man längst beim Nachtisch und bei den Zigarren angelangt.

 

Mein Lieber, sagte Debray, als er aufstand und wegging, zum Wirt, es hat halb drei Uhr geschlagen, Ihr Gast ist entzückend, aber die Gesellschaft mag so gut sein, wie sie will, man verläßt sie doch endlich … zuweilen einer schlechten zu Liebe; ich muß in mein Ministerium zurückkehren. Über den Grafen spreche ich mit dem Minister, und wir erfahren sicherlich, wer er ist.

 

Nehmen Sie sich in acht, entgegnete Morcerf; die Schlauesten haben darauf Verzicht geleistet.

 

Bah! wir haben drei Millionen für unsere Polizei; sie sind allerdings fast immer zum voraus ausgegeben, doch gleichviel, es bleiben immerhin fünfzigtausend Franken, die man hierauf verwenden kann.

 

Und wenn Sie wissen, wer er ist, werden Sie es mir sagen?

 

Ich verspreche es Ihnen. Auf Wiedersehen, meine Herren!

 

Mit diesen Worten verließ Debray die Gesellschaft und rief ganz laut im Vorzimmer: Vorfahren!

 

Gut, sagte Beauchamp zu Albert, ich gehe nicht in die Kammer, aber ich habe nun meinen Lesern etwas Besseres zu bieten, als eine Rede von Danglars.

 

Ich bitte, Beauchamp, erwiderte Morcerf, ich bitte, kein Wort, hiervon; berauben Sie mich nicht des Verdienstes, ihn vorzustellen. Nicht wahr, er ist interessant?

 

Er ist noch mehr, sagte Chateau-Renaud, er ist in der Tat einer der außerordentlichsten Menschen, die ich in meinem Leben gesehen habe. Kommen Sie mit, Morel?

 

Lassen Sie mich nur meine Karte dem Grafen geben, der uns einen Besuch zugesagt hat.

 

Seien Sie versichert, daß ich nicht verfehlen werde, ihn abzustatten, sagte der Graf mit einer Verbeugung.

 

Nachdem hierauf Morel dem Grafen seine Karte überreicht hatte, entfernte er sich mit dem Baron von Chateau-Renaud und ließ Monte Christo mit Morcerf allein.

 

 

Der Unbekannte.

 

Der Unbekannte.

 

Der Tag, den Dantes längst mit offenen Augen erwartet hatte, erschien endlich. Bei seinen ersten Strahlen erhob er sich und stieg, wie am Tage vorher, auf den höchsten Felsen der Insel, um die Gegend zu erforschen. Es war alles öde, wie am Tage vorher.

 

Edmond stieg wieder hinab, hob den Stein auf, füllte seine Taschen mit Edelsteinen, brachte, so gut er konnte, die Bretter und Beschläge der Kiste wieder an ihre Stelle, bedeckte sie mit Erde, stampfte diese Erde ein, warf Sand darauf, um die frisch umgewühlte Stelle dem übrigen Boden gleichzumachen. Dann trat er aus der Grotte hervor, legte die Platte wieder auf, häufte auf die Platte Steine von verschiedener Größe, stopfte Erde in die Zwischenräume, pflanzte in diese Myrten und Heidekraut, bedeckte die neuen Pflanzungen, damit sie wie alte aussähen, mit Staub, verwischte die Spuren seiner ringsum sichtbaren Tritte und erwartete mit Ungeduld die Rückkehr seiner Gefährten. Denn jetzt galt es nicht mehr, seine Zeit mit Beschauung dieses Goldes und dieser Diamanten hinzubringen und, wie ein unnütze Schätze hütender Drache, auf der Insel Monte Christo zu verweilen; er mußte ins Leben, unter die Menschen zurückkehren und in der Gesellschaft den Rang, den Einfluß, die Gewalt erlangen, die in der Welt der Reichtum verleiht, die erste und größte der Kräfte, worüber der Mensch zu verfügen hat.

 

Am sechsten Tage kehrten die Schmuggler zurück; Dantes schleppte sich zum Hafen wie der verwundete Philoktet, und als seine Gefährten landeten, sagte er ihnen, immer noch klagend, es sei eine merkliche Besserung in seinem Zustande eingetreten; dann hörte er seinerseits die Erzählung der Abenteurer an. Die Fahrt war im ganzen nicht schlecht gewesen, und alle, besonders Jacopo, beklagten, daß Dantes nicht mitgemacht habe, und darum seines auf fünfzig Piaster sich belaufenden Anteils am Nutzen verlustig gehe. Edmond verriet sich durch keine Miene, er lächelte nicht einmal bei der Aufzählung der Vorteile, die ihm zugeflossen wären, wenn er die Insel hätte verlassen können. Da die Amalie nur nach Monte Christo gekommen war, um ihn abzuholen, so schiffte er sich ein und folgte dem Patron nach Livorno, wo er sich, da seine Dienstzeit abgelaufen war, von dem alten Seemann verabschiedete. In Livorno ging er zu einem Juden und verkaufte für hunderttausend Franken vier von seinen kleinsten Diamanten. Der Jude hätte sich erkundigen können, wie ein Fischer zu solchen Wertgegenständen komme, aber er hütete sich wohl, denn er gewann an jedem Stein mehrere tausend Franken. Am andern Tage kaufte er eine ganz neue Barke und schenkte sie Jacopo, dem er außerdem noch hundert Piaster gab, damit er sich Leute anwerben könne, alles unter der Bedingung, daß Jacopo nach Marseille ginge und dort über einen Greis, namens Louis Dantes, der in den Allées de Meillan wohnte, und über ein Mädchen in dem Dorfe der Katalonier, namens Mercedes, Erkundigungen einzöge.

 

Jacopo glaubte zu träumen. Edmond erzählte ihm, er sei aus Eigensinn, und weil ihm seine Freunde das Geld zu seinem Unterhalt verweigerten, Seemann geworden, aber bei seiner Ankunft in Livorno habe er die Erbschaft eines Oheims empfangen, der ihn zu seinem alleinigen Erben eingesetzt. Dantes‘ überlegene Bildung verlieh der Erzählung solche Wahrscheinlichkeit, daß Jacopo seine Angabe keinen Augenblick in Zweifel zog.

 

Am andern Morgen ging Jacopo nach Marseille unter Segel; er sollte Edmond auf Monte Christo wiederfinden. An demselben Tage reiste Dantes, ohne zu sagen, wohin, nach Genua ab.

 

In dem Augenblick, wo er hier ankam, machte man eine Probefahrt mit einer kleinen Jacht, die ein Engländer bestellt hatte. Der Erbauer hatte dafür vierzigtausend Franken gefordert; Dantes bot ihm sechzigtausend unter der Bedingung, daß ihm das Schiff noch am selben Tage übergeben würde. Man wurde einig, und der Schiffsbauer erbot sich, Dantes auch eine Mannschaft anzuwerben; aber Dantes dankte und erwiderte, er pflege allein zu schiffen; er wünschte nur, daß man in der Kajüte, oben am Bette, einen Geheimschrank anbringe, in dem sich drei geheime Fächer fänden; dieser Auftrag wurde auch nach den von ihm gegebenen Maßen am andern Tage ausgeführt.

 

Zwei Stunden nachher verließ Dantes den Hafen, von den Blicken einer Menge von Neugierigen begleitet, die den spanischen Herrn sehen wollten, der allein zu schiffen pflegte. Dantes machte seine Sache vortrefflich; mit Hilfe des Steuerruders ließ er sein Schiff alle Bewegungen ausführen, die er wollte, und er gestand, daß die Genueser ihren Ruf als die ersten Schiffsbauer der Welt verdienten. Niemand wußte, wohin der fremde Schiffer fahren würde. Sein Reiseziel war jedoch Monte Christo, wo er gegen das Ende des zweiten Tages ankam. Das Schiff war ein vortrefflicher Segler und hatte die Entfernung in 35 Stunden durchlaufen. Dantes hatte sich die Lage der Küste sehr gut gemerkt, und statt in dem gewöhnlichen Hafen zu landen, warf er in der kleinen Bucht Anker. Die Insel war öde, niemand schien seit Dantes‘ Abreise gelandet zu sein. Er besuchte seinen Schatz; alles war in dem Zustand, wie er es verlassen hatte. Am andern Abend war das ungeheure Vermögen an Bord der Jacht gebracht und in den drei Fächern des Geheimschrankes eingeschlossen. Dantes wartete noch acht Tage. Während dieser Zeit ließ er seine Jacht um die Insel manövrieren und studierte sie, wie der Stallmeister ein edles Pferd. Am achten Tage sah er ein kleines Schiff, das mit vollen Segeln auf die Insel zusteuerte; er erkannte Jacopos Barke, machte ein Signal, das dieser erwiderte, und zwei Stunden nachher lag die Barke neben der Jacht. Auf die beiden Fragen erhielt Edmond eine traurige Antwort; der alte Dantes war tot, Mercedes war verschwunden.

 

Edmond vernahm diese Nachrichten mit ruhiger Miene; aber er stieg an das Land, wohin ihm keiner folgen durfte. Nach zwei Stunden kam er zurück und nahm nun zwei Mann von Jacopos Barke auf seine Jacht über, die ihm beim Manövrieren helfen sollten. Sodann gab er Befehl, nach Marseille zu segeln. Den Tod seines Vaters hatte er vorhergesehen; aber was war aus Mercedes geworden?

 

Ohne sein Geheimnis bekannt werden zu lassen, konnte Dantes einem Agenten keine genügenden Instruktionen geben; überdies wollte er noch andere Erkundigungen einziehen, wobei er sich nur auf sich selbst verließ. Sein Spiegel hatte ihn in Livorno belehrt, daß er keine Gefahr lief, erkannt zu werden; auch standen ihm alle Mittel, sich zu verkleiden, zu Gebote. Eines Morgens lief also die Jacht, nebst der kleinen Barke, kühn in den Hafen von Marseille ein und legte sich gerade vor der Stelle vor Anker, wo man Dantes an jenem Abend unseligen Andenkens nach dem Kastell If eingeschifft hatte.

 

Nicht ohne ein gewisses Beben sah Dantes in dem Sanitätskahne einen Gendarmen auf sich zukommen. Doch mit der vollkommenen Sicherheit, die er erlangt hatte, reichte er ihm einen in Livorno erkauften englischen Paß, und mittels dieses fremden Ausweises, der in Frankreich viel mehr geachtet wird als der französische, stieg er ohne Schwierigkeit ans Land. Das erste, was er erblickte, als er den Fuß auf die Cannebière setzte, war einer von den ehemaligen Matrosen des Pharao. Er schritt gerade auf ihn zu und richtete mehrere Fragen an ihn, die der Matrose beantwortete, ohne nur entfernt durch seine Worte oder sein Gesicht vermuten zu lassen, daß er sich erinnerte, den Fremden je gesehen zu haben.

 

Dantes setzte seinen Weg fort; jeder Schritt, den er tat, brachte eine neue Erschütterung in seinem Herzen hervor; alle Erinnerungen aus seiner Kindheit, unvertilgbare Erinnerungen, erhoben sich auf jedem Platze, an jeder Straßenecke. Als er an das Ende der Rue de Noailles gelangte und die Allées de Meillan erblickte, fühlte er, wie ihm die Knie versagten, und er wäre bald unter die Räder eines Wagens gefallen. Er kam zu dem Hause, das sein Vater bewohnt hatte. Hier lehnte er sich an einen Baum und schaute einen Augenblick nachdenkend den obersten Stock des armseligen Häuschens an; endlich ging er auf die Tür zu, überschritt die Schwelle, fragte, ob keine Wohnung frei sei, und drang, obgleich das Haus besetzt war, so lange in den Hausverwalter, bis dieser hinaufstieg und die Personen, die den obersten Stock bewohnten, im Namen eines Fremden um die Erlaubnis bat, ihre zwei Zimmer sehen zu dürfen.

 

Die Personen, die den kleinen Raum bewohnten, waren ein junger Mann und eine junge Frau, die sich erst acht Tage vorher geheiratet hatten. Als Dantes diese jungen Leute sah, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Nichts erinnerte ihn indessen an die Wohnung seines Vaters. Nur die Wände waren dieselben. Dantes kehrte sich nach dem Bette um; es stand an derselben Stelle wie das des früheren Mieters; Dantes‘ Augen befeuchteten sich unwillkürlich mit Tränen; auf diesem Platze mußte der Greis gestorben sein. Die zwei jungen Leute schauten voll Erstaunen den Mann mit der ernsten Stirn an, über dessen Wangen zwei große Tränen flossen, ohne daß sich sein Gesicht nur im geringsten veränderte. Aber da jeder Schmerz etwas Heiliges an sich hat, so richteten die jungen Leute keine Frage an den Unbekannten; sie zogen sich nur etwas zurück, um ihn ungestört weinen zu lassen, und da er sich entfernte, begleiteten sie ihn und sagten ihm, er könne wiederkommen, wann er wolle, und ihr armes Haus würde ihn jederzeit gastfreundlich aufnehmen. Als er am untern Stocke vorbeikam, blieb er vor einer Tür stehen und fragte, ob der Schneider Caderousse immer noch hier wohne; der Hausverwalter antwortete ihm jedoch, der Mann, von dem er spreche, habe schlechte Geschäfte gemacht und führe gegenwärtig die Gastwirtschaft zum Pont du Gard zwischen Bellegarde und Beaucaire.

 

Dantes ging hinab, fragte nach der Adresse des Eigentümers des Hauses der Allées de Meillan, begab sich zu ihm, ließ sich als Lord Wilmore melden (auf diesen Namen lautete sein Paß) und kaufte ihm das Häuschen für die Summe von 25 000 Franken ab, was wenigstens 10 000 Franken mehr war, als es wert sein mochte. Aber Dantes würde eine halbe Million bezahlt haben, wenn man so viel dafür gefordert hätte.

 

An demselben Tage wurden die jungen Leute des fünften Stockes durch den Notar, der den Vertrag gemacht hatte, benachrichtigt, daß ihnen der neue Eigentümer eine Wohnung im ganzen Hause nach ihrer Wahl überlasse, ohne ihren Mietzins zu erhöhen, unter der Bedingung, daß sie ihm die zwei Zimmer, die sie bewohnten, abträten. Dieses seltsame Ereignis beschäftigte acht Tage lang alle Bewohner der Allées de Meillan und gab zu tausend Vermutungen Anlaß, von denen keine der Wahrheit entsprach. Noch mehr Aufregung und Unruhe erregte es aber, daß man den Lord Wilmore im Dorfe der Katalonier umhergehen und in ein armseliges Fischerhäuschen eintreten sah, wo er mehr als eine Stunde blieb, um Erkundigungen über verschiedene Personen einzuziehen, die tot oder seit fünfzehn bis sechzehn Jahren verschwunden waren.

 

Am andern Tage erhielten die Leute, bei denen er eingetreten war, eine ganz neue katalonische Barke zum Geschenk, die mit Schleppnetzen und allem, was man sonst bedarf, ausgerüstet war. Gern hätten die braven Leute dem großmütigen Geber gedankt, doch hatte man ihn, als er sie verließ, einem Matrosen Befehle geben, zu Pferd steigen und aus Marseille wegreiten sehen.

 

Das Wirtshaus zum Pont du Gard.

 

Das Wirtshaus zum Pont du Gard.

 

An der Straße zwischen Beaucaire und Bellegarde liegt mit der Rückseite nach der Rhone zu ein altes, verwahrlostes Gasthaus. Seit etwa acht Jahren wurde diese kleine Wirtschaft von einem Manne und einer Frau geführt, deren einzige Dienerschaft ein Stubenmädchen, genannt Toinette, und ein Hausknecht, namens Pacaud, bildeten, die indessen für die Bedürfnisse des Dienstes genügten, seitdem ein von Beaucaire nach Aigues-Mortes gegrabener Kanal der Landstraße den Frachtverkehr entzogen hatte.

 

Der Mann, der diese kleine Wirtschaft führte, war ungefähr vierzig Jahre alt, groß, mager und nervig, der wahre südliche Typus, mit seinen tiefliegenden, glänzenden Augen, seiner adlerförmigen Nase und seinen Zähnen, so weiß wie die eines fleischfressenden Tieres. Seine Haare waren, wie sein dichter, krauser Bart, kaum mit etwas Grau vermischt, sein von Natur bräunlicher Teint hatte sich noch tiefer gebräunt, weil sich der arme Teufel vom Morgen bis zum Abend auf seiner Türschwelle aufzuhalten pflegte, um zu sehen, ob ihm nicht zu Fuß oder zu Wagen ein Kunde zukäme, eine Erwartung, in der er fast immer getäuscht wurde, indes er sich vor der sengenden Sonnenhitze nach der Weise der spanischen Maultiertreiber nur durch ein um den Kopf gewickeltes rotes Taschentuch zu schützen suchte. Dieser Mann war unser alter Bekannter Gaspard Caderousse. Seine Frau sah im Gegenteil bleich und kränklich aus. In der Gegend von Arles geboren, war ihr Gesicht, obwohl die ursprünglichen Spuren der bekannten Schönheit ihrer Landsleute bewahrend, langsam unter dem Einfluß eines fast beständigen Sumpffiebers verfallen. Sie hielt sich, fast immer vor Kälte zitternd, in ihrem im ersten Stocke liegenden Zimmer auf, entweder in einem Lehnstuhle ausgestreckt, oder an ihrem Bette lehnend, während ihr Mann an der Tür seine gewöhnliche Wache bezog, die sich um so länger ausdehnte, als ihn seine magere Ehehälfte, so oft er sich wieder mit ihr zusammenfand, mit ihren ewigen Klagen gegen das Schicksal verfolgte, die er gewöhnlich nur mit den philosophischen Worten erwiderte: Schweig, Carconte, Gott will es so!

 

Trotz dieser anscheinenden Fügsamkeit in die Beschlüsse der Vorsehung darf man indessen nicht glauben, daß unser Wirt den armseligen Zustand nicht erkannte, in den ihn der elende Kanal von Beaucaire versetzt hatte, und daß er unverwundbar gegen die ewigen Klagen blieb, mit denen ihn seine Frau verfolgte. Er war, wie alle Südländer, ein mäßiger Mensch und ohne große Bedürfnisse, aber eitel in äußeren Dingen. So ließ er in den Zeiten seines Wohlstandes nie eine Prozession vorübergehen, ohne sich dabei mit der Carconte zu zeigen, er in der malerischen Tracht des Südfranzosen, die die Mitte zwischen der des Andalusiers und des Kataloniers hält, sie in dem reizenden Gewande der Frauen von Arles, das Griechenland und Arabien entlehnt zu sein scheint. Allmählich aber waren Uhrketten, Halsbänder, tausendfarbige Gürtel, gestickte Leibchen, Samtwesten, Strümpfe mit zierlichen Zwickeln, bunte Gamaschen, Schuhe mit silbernen Schnallen verschwunden, und Caderousse, der sich nicht mehr in seinem ehemaligen Glanze zeigen konnte, hatte für sich und seine Frau Verzicht geleistet auf alles weltliche Gepränge, dessen freudiges Geräusch bis in sein armseliges Wirtshaus drang, das ihm mehr als Schirmdach, denn als Einnahmequelle diente.

 

Caderousse hatte sich seiner Gewohnheit gemäß am Morgen vor der Tür aufgehalten und seinen schwermütigen Blick von einem Stückchen kahlen Rasens, woraus ein paar Hühner kauerten, nach den Enden der öden Landstraße spazieren lassen, die einerseits nach Süden und anderseits nach Norden lief, als ihn plötzlich die spitzige Stimme seiner Frau seinen Posten zu verlassen nötigte. Er ging brummend hinein und stieg in den ersten Stock hinauf, ließ aber nichtsdestoweniger seine Tür weit offen stehen, als wollte er die Reisenden einladen, ihn im Vorbeigehen nicht zu vergessen.

 

In dem Augenblick, wo Caderousse hineinging, näherte sich von Bellegarde her ein Reiter. Es war ein Priester mit schwarzem Rock und dreieckigem Hute, der vor der Tür anhielt. Der Reiter stieg ab, zog das Pferd am Zügel nach und band es an; dann schritt er, seine von Schweiß triefende Stirn mit einem roten Tuche abwischend, auf die Tür zu und tat mit dem eisernen Ende seines Stockes drei Schläge auf die Schwelle.

 

Sogleich erhob sich ein großer schwarzer Hund, bellend und seine weißen, scharfen Zähne zeigend. Alsdann erschütterte ein schwerer Tritt die hölzerne Treppe.

 

Hier bin ich! sagte Caderousse ganz erstaunt, hier bin ich. Willst du schweigen, Margotin. Fürchten Sie sich nicht, Herr, er bellt, aber er beißt nicht. Was wünschen Sie, was verlangen Sie, Herr Abbé? Ich stehe zu Befehl.

 

Der Priester schaute den Mann ein paar Sekunden lang mit seltsamer Aufmerksamkeit an, er schien sogar seinerseits die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich lenken zu wollen; als er aber sah, daß die Züge des letzteren kein anderes Gefühl ausdrückten, als ein Erstaunen darüber, daß er keine Antwort erhielt, sagte er mit stark italienischem Ton: Sind Sie nicht Monsou Caderousse?

 

Ja, Herr, antwortete der Wirt noch mehr erstaunt, ich bin es in der Tat, Gaspard Caderousse, Ihnen zu dienen.

 

Gaspard Caderousse? … Ja … ich glaube, das ist der Vorname, nicht wahr, Sie wohnten einst in der Allée de Meillan, im vierten Stocke? – Ja.

 

Und Sie trieben dort das Gewerbe eines Schneiders?

 

Ja, aber die Sache nahm eine schlimme Wendung. Es ist so heiß in dem spitzbübischen Marseille, daß man sich dort am Ende gar nicht mehr kleiden wird. Doch was die Hitze betrifft, wollen Sie sich nicht erfrischen, Herr Abbé?

 

Allerdings! geben Sie mir eine Flasche von Ihrem besten Wein, und wir nehmen dann, wenn’s Ihnen beliebt, das Gespräch wieder auf, wo wir es verlassen.

 

Um die Gelegenheit nicht zu versäumen, eine von den letzten Flaschen Cahors-Wein, die ihm blieben, anzubringen, beeilte sich Caderousse, seinem Gast eine solche vorzusetzen. Als er nach Verlauf von fünf Minuten zurückkehrte, fand er den Abbé auf einem Schemel sitzend, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, während Margotin, der Frieden mit ihm gemacht zu haben schien, seinen fleischlosen Hals und seinen Kopf mit dem schmachtendem Auge auf dem Schenkel des Priesters ausstreckte.

 

Sie sind allein? fragte der Abbé seinen Wirt, während dieser die Flasche und ein Glas vor ihn stellte.

 

Oh! mein Gott, ja, allein oder beinahe so, denn ich habe eine Frau, die mich in nichts unterstützen kann, weil sie immer krank ist, die arme Carconte.

 

Ah! Sie sind verheiratet? sagte der Priester mit einer gewissen Teilnahme und warf einen Blick umher auf das elende Mobiliar des armseligen Haushalts.

 

Sie finden, daß ich nicht reich bin, nicht wahr? sagte Caderousse seufzend; aber was wollen Sie, um in dieser Welt zu gedeihen, genügt es nicht, ein ehrlicher Mann zu sein!

 

Der Abbé heftete einen durchdringenden Blick auf ihn.

 

Ja, ein ehrlicher Mann, dessen kann ich mich rühmen, sagte der Wirt, der den Blick des Abbés aushielt, und in unseren Zeiten kann das nicht jeder von sich sagen.

 

Desto besser, wenn Sie wahr reden, versetzte der Abbé; denn ich habe die Überzeugung, daß früher oder später der ehrliche Mann belohnt und der schlechte bestraft wird.

 

Sie, als Priester, sagen dies wohl, Herr Abbé! versetzte Caderousse mit bitterem Ausdruck. Doch es steht jedem frei, nicht zu glauben, was Sie sagen.

 

Sie haben unrecht, daß Sie so sprechen, mein Herr; denn vielleicht werde ich selbst für Sie der Beweis dessen sein, was ich behaupte.

 

Wie soll ich das verstehen? fragte Caderousse mit erstaunter Miene.

 

Ich muß mich vor allem versichern, daß Sie wirklich der sind, den ich suche.

 

Welche Beweise soll ich Ihnen geben?

 

Haben Sie im Jahre 1814 oder 1815 einen Seefahrer namens Dantes gekannt?

 

Dantes! Ob ich ihn gekannt habe, den armen Edmond! Ich glaube wohl; er war sogar einer meiner besten Freunde! rief Caderousse, dessen Gesicht Purpurröte überströmte, während sich das klare, sichere Auge des Abbés zu erweitern schien.

 

Ja, ich glaube, er hieß wirklich Edmond.

 

Was ist aus dem armen Edmond geworden, mein Herr? fuhr der Wirt fort; haben Sie ihn vielleicht gekannt? Lebt er noch, ist er frei? Ist er glücklich?

 

Er ist im Gefängnis gestorben, elender und verzweiflungsvoller, als die Galeerensklaven, die ihre Kugel in dem Bagno von Toulon schleppen.

 

Eine Totenblässe überflog Caderousses Antlitz. Er wandte sich um, und der Abbé sah, wie er eine Träne mit einer Ecke seines roten Tuches trocknete.

 

Armer Kleiner, murmelte Caderousse. Das ist abermals ein Beweis von dem, was ich Ihnen sagte, Herr Abbé, daß nämlich der gute Gott nur für die Schlechten gut sei. Oh, diese Welt wird immer schlechter.

 

Sie scheinen diesen Jungen von ganzem Herzen lieb gehabt zu haben? fragte der Abbé.

 

Oh! ich liebte ihn ungemein, obgleich ich mir vorzuwerfen habe, daß ich ihn einen Augenblick um sein Glück beneidete. Aber seitdem, das schwöre ich Ihnen, so wahr ich Caderousse heiße, habe ich sein unseliges Geschick sehr beklagt.

 

Es trat ein augenblickliches Stillschweigen ein, während dessen der feste Blick des Abbés nicht eine Sekunde die bewegliche Physiognomie des Wirtes zu erforschen aufhörte. Und Sie haben ihn also gekannt, den armen Kleinen? fuhr Caderousse fort.

 

Ich wurde an sein Sterbebett gerufen, um ihm die letzten Tröstungen der Religion zu bieten.

 

Und woran starb er? fragte Caderousse mit halb erstickter Stimme.

 

Woran stirbt man im Gefängnis im Alter von dreißig Jahren, wenn nicht am Gefängnis selbst?

 

Caderousse trocknete den Schweiß ab, der von seiner Stirn floß.

 

Das Seltsamste bei alledem ist, fuhr der Abbé fort, daß mir Dantes auf seinem Sterbebette bei dem Christus, dessen Füße er küßte, wiederholt schwur, er wisse die wahre Ursache seiner Gefangenschaft gar nicht.

 

Das ist richtig, murmelte Caderousse, er konnte sie nicht wissen; nein, Herr Abbé, der Kleine log nicht.

 

Darum beauftragte er mich, sein Unglück aufzuklären, was er nie selbst zu tun imstande gewesen war, und sein Andenken zu reinigen, wenn ein Flecken darauf ruhte.

 

Und der Blick des Abbés wurde immer starrer und verschlang fast den düstern Ausdruck, der auf Caderousses Antlitz hervortrat.

 

Ein reicher Engländer, fuhr der Abbé fort, sein Unglücksgefährte, der das Gefängnis bei der zweiten Restauration verließ, war Besitzer eines Diamanten von großem Werte. Als er von Dantes, der ihn während einer Krankheit, die er ausgestanden, wie ein Bruder gepflegt hatte, Abschied nahm, wollte er ihm einen Beweis seiner Dankbarkeit zurücklassen und gab ihm diesen Diamanten. Statt sich desselben zu bedienen, um die Gefängniswärter zu bestechen, die den Edelstein ja nehmen und ihn hernach verraten konnten, bewahrte er ihn stets als ein kostbares Kleinod, falls er aus dem Gefängnis käme, denn wenn ihm dies gelang, so war sein Glück durch den Verkauf dieses Diamanten allein gesichert.

 

Es war also, wie Sie sagen, ein Diamant von großem Werte? fragte Caderousse mit glühenden Augen.

 

Alles beziehungsweise, erwiderte der Abbé; er war für Edmond von großem Werte; man hat den Stein auf fünfzigtausend Franken geschätzt.

 

Fünfzigtausend Franken! rief Caderousse; er war also so groß wie eine Nuß?

 

Nein, nicht ganz; doch Sie mögen selbst urteilen, ich habe ihn bei mir. Und der Abbé zog aus seiner Tasche ein kleines Futteral von schwarzem Saffianleder, öffnete es und ließ vor Caderousses geblendeten Augen den herrlichen Stein funkeln, der in einen Ring von bewunderungswürdiger Arbeit gefaßt war.

 

Und das ist fünfzigtausend Franken wert? fragte Caderousse gierig.

 

Ohne die Fassung, die auch ihren Preis hat, sagte der Abbé, machte das Futteral zu und steckte den Diamanten, der in Caderousses Phantasie fortfunkelte, in seine Tasche.

 

 

Aber woher besitzen Sie diesen Diamanten, Herr Abbé? fragte Caderousse; haben Sie ihn von Edmond?

 

Ja, als sein Testamentsvollstrecker. Ich hatte drei gute Freunde und eine Braut, sagte er zu mir; alle vier, ich bin überzeugt, beklagen mich bitterlich; der eine dieser Freunde hieß Caderousse.

 

Caderousse bebte.

 

Der andere, fuhr der Abbé fort, ohne daß er Caderousses Erregung wahrzunehmen schien, hieß Danglars; der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls …

 

Ein teuflisches Lächeln entstellte Caderousses Züge, und er machte eine Bewegung, um den Abbé zu unterbrechen.

 

Warten Sie, sagte der Abbé, lassen Sie mich vollenden, und wenn Sie etwas zu bemerken haben, so können Sie es dann sogleich tun. Der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls und hieß Fernand; der Name meiner Braut war … Ich erinnere mich des Namens der Braut nicht mehr, sagte der Abbé.

 

Mercedes.

 

Ah! ja, versetzte der Abbé mit unterdrücktem Seufzen. Die Braut hieß Mercedes; ja, so ist es. Sie gehen nach Marseille … Verstehen Sie? So sprach Dantes.

 

Ich verstehe.

 

Sie verkaufen diesen Diamanten, Sie machen fünf Teile und geben sie diesen guten Freunden, den einzigen Wesen, die mich auf Erden geliebt haben.

 

Wie, fünf Teile? fragte Caderousse; Sie haben mir nur vier Personen genannt!

 

Weil die fünfte tot ist, wie ich erfuhr … Die fünfte war Dantes‘ Vater.

 

Ach! ja, sagte Caderousse, erschüttert durch die Leidenschaften, die sich in seinem Innern durchkreuzten; ach! ja, der arme Mann ist tot.

 

Ich habe das in Marseille erkundet, erwiderte der Abbé, der Mühe hatte, gleichgültig zu erscheinen; aber der Tod ist schon so lange erfolgt, daß ich über die näheren Umstände nichts erfahren konnte … Wissen Sie vielleicht etwas von dem Ende des Greises?

 

Ei! erwiderte Caderousse, wer kann das besser wissen, als ich? … Ich wohnte Tür an Tür mit dem guten Mann.

 

… Ei! mein Gott; ja, ein Jahr nach dem Verschwinden seines Sohnes starb der arme Greis!

 

Woran starb er?

 

Die Ärzte nannten die Krankheit; er starb, glaube ich, an einer Art Magendarmentzündung; seine Bekannten sagten, er sei vor Schmerz gestorben; … ich aber, der ich ihn beinahe verscheiden sah, sage, er starb …

 

Woran? versetzte der Priester voll Angst.

 

Hungers!

 

Hungers? rief der Abbé, von seinem Schemel aufspringend; Hungers! Die schlechtesten Tiere sterben nicht Hungers; die Hunde, die in den Straßen umherirren, finden eine mitleidige Hand, die ihnen ein Stück Brot zuwirft, und ein Mensch, ein Christ ist vor Hunger gestorben, mitten unter andern Menschen, die sich Christen nannten, wie er? Unmöglich! oh! das ist unmöglich!

 

Was ich gesagt habe, habe ich gesagt, sagte Caderousse.

 

Und du hast unrecht gehabt, rief eine Stimme auf der Treppe; worein mischst du dich?

 

Die Männer wandten sich um und erblickten durch das Treppengeländer Carcontes fiebrigen Kopf; sie hatte sich bis hierher geschleppt und belauschte, auf der letzten Stufe sitzend und den Kopf auf ihre Knie stützend, das Gespräch.

 

Worein mischst du dich, Frau? entgegnete Caderousse. Der Herr verlangt Auskunft, die Höflichkeit will, daß ich ihm entspreche.

 

Ja, aber die Klugheit will, daß du ihm die Auskunft weigerst. Wer sagt dir, in welcher Absicht man dich zum Sprechen veranlaßt, Dummkopf?

 

In einer vortrefflichen, Madame, dafür stehe ich Ihnen, versetzte der Abbé. Ihr Gatte hat nichts zu befürchten, falls er offenherzig antwortet!

 

Nichts zu befürchten … ja, man fängt mit schönen Versprechungen an, hernach beschränkt man sich darauf, zu sagen, man habe nichts zu befürchten; dann geht man und hält nichts von dem, was man versprochen hat, und eines Morgens bricht das Unglück über die armen Leute herein, ohne daß man weiß, woher es kommt.

 

Seien Sie unbesorgt, gute Frau, erwiderte der Abbé, das Unglück wird von meiner Seite nicht über Sie kommen, dafür stehe ich.

 

Die Carconte brummte ein paar Worte, die man nicht verstehen konnte, ließ ihren Kopf wieder auf die Knie sinken, zitterte, fortwährend vom Fieber geschüttelt, und stellte es ihrem Manne frei, das Gespräch fortzusetzen, jedoch nur so, daß sie kein Wort davon verlor.

 

Mittlerweile hatte der Abbé einige Schluck Wasser getrunken und sich etwas gesammelt.

 

Dieser unglückliche Greis, fuhr er fort, war also dergestalt von aller Welt verlassen, daß er eines solchen Todes starb?

 

Oh! Herr, antwortete Caderousse, nicht als hätten ihn Mercedes, die Katalonierin, oder Herr Morel verlassen, aber der unglückliche Greis hatte einen solchen Widerwillen gegen Fernand gefaßt, gerade gegen den, fügte Caderousse mit einem ironischen Lächeln bei, den Dantes Ihnen als einen seiner Freunde bezeichnete.

 

Er war es also nicht? fragte der Abbé.

 

Kann man der Freund eines Menschen sein, dessen Frau man begehrt? Dantes, der ein Goldherz war, nannte alle diese Leute seine Freunde. Armer Edmond! … Es ist besser, daß er nichts erfahren hat; … es hätte ihn zu sehr gequält, ihnen im Augenblick des Todes verzeihen zu sollen. Und was man auch sagen mag, fuhr Caderousse in seiner bilderreichen Sprache fort, mir graut noch mehr vor dem Fluche der Toten, als vor dem Hasse der Lebendigen.

 

Schwachkopf, sagte die Carconte.

 

Sie wissen also, was dieser vermeintliche Freund gegen Dantes getan hat? fragte der Abbé.

 

Ob ich es weiß! Ich glaube wohl!

 

Gaspard, tu, was du willst, ’s ist deine Sache, rief die Frau oben von der Treppe herab, doch wenn du mir Gehör schenktest, sagtest du nichts.

 

Diesmal glaube ich, daß du recht hast, Frau.

 

Sie wollen also nichts sagen? versetzte der Abbé.

 

Wozu soll es nützen? sagte Caderousse. Wenn der Kleine noch am Leben wäre und zu mir käme, um einmal alle seine Freunde und Feinde kennen zu lernen, dann wohl; aber er liegt unter der Erde, wie Sie mir sagen, er kann keinen Haß mehr haben, er kann sich nicht mehr rächen, folglich ausgelöscht die ganze Geschichte!

 

Ich soll also diesen Leuten, die Sie für unwürdige und falsche Freunde erklären, eine für die Treue bestimmte Belohnung geben?

 

Es ist wahr, Sie haben recht, erwiderte Caderousse. Was wäre überdies für sie jetzt das Legat des armen Edmond? Ein in das Meer fallender Tropfen Wasser.

 

Abgesehen davon, daß dich diese Leute mit einer Gebärde vernichten können, sagte die Fran.

 

Wieso? Diese Menschen sind also reich und mächtig geworden?

 

Sie kennen Ihre Geschichte nicht?

 

Nein; erzählen Sie!

 

Caderousse schien einen Augenblick nachzudenken und sprach sodann: Nein, es wäre in der Tat zu lang.

 

Sie mögen nach Ihrem Belieben schweigen, mein Freund, versetzte der Abbé mit dem Tone der größten Gleichgültigkeit, und ich ehre Ihre Bedenklichkeiten; sprechen wir nicht mehr davon! Womit wurde ich beauftragt? Mit einer einfachen Förmlichkeit. Ich werde also diesen Diamanten verkaufen.

 

Und er zog den Edelstein aus der Tasche, öffnete das Futteral und ließ ihn abermals vor Caderousses geblendeten Augen glänzen.

 

Sieh doch, Fran, sagte dieser mit heiserer Stimme.

 

Ein Diamant? sagte die Carconte, aufstehend und mit ziemlich festem Schritte die Treppe herabsteigend. Was ist’s mit diesem Diamanten?

 

Hast du denn nicht gehört, Frau? Es ist ein Diamant, den uns der Kleine vermacht hat, zuerst seinem Vater, sodann Fernand, Danglars, mir und Mercedes, seiner Braut. Dieser Diamant ist fünfzigtausend Franken wert.

 

Oh, der schöne Juwel! rief sie.

 

Also gehört der fünfte Teil dieser Summe uns? fragte Caderousse.

 

Ja, antwortete der Abbé, nebst dem Teile des Vaters von Dantes, den ich unter euch vier zu verteilen mich berechtigt glaube.

 

Und warum unter uns vier? fragte Caderousse.

 

Weil ihr Edmonds vier Freunde seid.

 

Verräter sind keine Freunde, murmelte dumpf die Frau.

 

Ja, ja, sagte Caderousse, das sagte ich auch. Es ist eine Entheiligung, ein Frevel, den Verrat, vielleicht das Verbrechen zu belohnen.

 

Sie wollen es so haben, erwiderte der Abbé und steckte ruhig den Diamanten in die Tasche seiner Soutane. Nun geben Sie mir die Adresse von Edmonds Freunden, damit ich seinen letzten Willen vollstrecken kann.

 

Der Schweiß floß in schweren Tropfen über Caderousses Stirn; er sah den Abbé aufstehen, sich nach der Tür wenden, als wollte er seinem Pferde einen Blick zuwerfen, und zurückkommen. Caderousse und seine Frau schauten sich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an.

 

Der Diamant wäre ganz unser! sagte Caderousse.

 

Glaubst du? erwiderte seine Frau.

 

Ein Geistlicher wird uns gewiß nicht täuschen wollen.

 

Tu, was du willst. Ich wenigstens mische mich nicht drein.

 

Und sie ging fieberschauernd wieder die Treppe hinauf. Ihre Zähne klapperten trotz der Glühhitze. Auf der letzten Stufe blieb sie einen Augenblick stehen und rief: Bedenke wohl, Gaspard.

 

Ich bin entschlossen, antwortete Caderousse.

 

Die Carconte ging, einen Seufzer ausstoßend, in ihre Stube zurück; man hörte die Decke unter ihren Tritten krachen, bis sie ihren Lehnstuhl wieder erreicht hatte, in dem sie sich schwerfällig niederließ.

 

Ich glaube in der Tat, es ist das beste, was Sie tun können, mir alles zu sagen, sagte der Priester; nicht als ob mir viel daran gelegen wäre, die Dinge zu erfahren, die Sie mir verbergen wollen; aber es wird besser sein, wenn Sie mich in den Stand setzen, das Vermächtnis nach dem Willen des Erblassers zu verteilen.

 

Ich hoffe dies, antwortete Caderousse mit von Hoffnung und Gier geröteten Wangen. Er ging an die Tür seines Wirtshauses, verschloß sie und schob zu größerer Sicherheit den Nachtriegel vor. Mittlerweile hatte der Abbé seinen Platz gewählt, um mit Bequemlichkeit zu hören; er saß so in einer Ecke, daß er im Schatten blieb, während das volle Licht auf Caderousses Gesicht fiel. Das Haupt geneigt, die Hände zusammengelegt oder vielmehr krampfhaft zusammengepreßt, schickte er sich an, mit der größten Aufmerksamkeit auf jedes Wort zu lauschen. Caderousse rückte einen Schemel vor und setzte sich ihm gegenüber.

 

Vergiß nicht, daß du’s gegen meinen Willen tust, sagte die zitternde Stimme der Carconte, als hätte sie durch den Boden die Szene unten sehen können.

 

Gut, gut! rief Caderousse; genug, ich nehme alles auf mich.

 

Und er fing an.

 

Die Erzählung.

 

Die Erzählung.

 

Vor allem, Herr, sagte Caderousse, vor allem muß ich Sie bitten, mir zu versprechen, daß Sie, wenn Sie von den Umständen Gebrauch machen, die ich Ihnen mitteilen werde, nie sagen, von wem diese Mitteilung herrührt; denn die Leute, von denen ich zu sprechen habe, sind reich und mächtig, und wenn sie mich nur mit dem Finger berührten, würden sie mich wie Glas zerbrechen.

 

Seien Sie unbesorgt, mein Freund, ich bin Priester, und die Bekenntnisse sterben in meiner Brust. Erinnern Sie sich, daß wir keinen andern Zweck haben als den, den letzten Willen unseres Freundes würdig zu erfüllen. Sprechen Sie also ohne Schonung, wie ohne Haß, sagen Sie die volle Wahrheit! Ich kenne die Personen nicht, von denen die Rede sein wird, und werde sie wohl nie kennen lernen; überdies bin ich Italiener und nicht Franzose; ich gehöre Gott und nicht den Menschen und kehre in mein Kloster zurück, das ich nur verlassen habe, um den letzten Willen eines Sterbenden zu vollziehen.

 

Dieses bestimmte Versprechen schien Caderousse einige Sicherheit zu verleihen. In diesem Falle, versetzte er, will und muß ich Ihnen die Täuschung über diejenigen benehmen, die der arme Edmond für treu und redlich hielt.

 

Fangen Sie mit seinem Vater an, bitte. Edmond hat mit mir viel von dem Greise gesprochen, für den er eine tiefe Liebe hegte.

 

Diese Geschichte ist traurig, mein Herr, erwiderte Caderousse seufzend. Sie kennen wahrscheinlich den Anfang?

 

Ja, versetzte der Abbé, Edmond hat mir die Sache bis zu dem Augenblick erzählt, wo er in einer kleinen Schenke in der Nahe von Marseille verhaftet wurde, und nie hat er eine von den fünf Personen wiedergesehen, die ich Ihnen nannte, nie hat er von ihnen sprechen hören.

 

Nun wohl, als Dantes einmal verhaftet war, lief Herr Morel weg, um Erkundigungen einzuziehen; sie fielen sehr traurig aus. Der Greis kehrte allein nach Hause zurück, legte weinend seinen Hochzeitsrock zusammen, schritt den ganzen Tag in seinem Zimmer auf und ab und ging abends nicht schlafen; denn ich wohnte unter ihm und hörte ihn die ganze Nacht umhergehen; ich muß sagen, ich schlief selbst auch nicht. Der Schmerz dieses armen Vaters tat mir sehr wehe, und jeder seiner Tritte zermalmte mir das Herz. Am andern Tage kam Mercedes nach Marseille, in der Absicht, den Staatsanwalt um seinen Schutz anzuflehen; sie erreichte nichts; sie besuchte zugleich auch den Greis. Als sie sah, daß er so düster und niedergeschlagen war, daß er die Nacht, ohne sich zu Bette zu legen, zugebracht und seit dem vorhergehenden Tage nichts gegessen hatte, wollte sie ihn mit sich nehmen, um ihn zu pflegen; aber der Greis willigte nicht ein. Nein, sagte er, ich werde das Haus nicht verlassen, denn mich liebt mein armer Sohn vor allen andern, und wenn er aus dem Gefängnis kommt, wird er zuerst zu mir laufen. Was würde er sagen, wenn ich ihn nicht hier erwartete? Ich belauschte dies alles durch die Wand, denn es wäre mir lieb gewesen, Mercedes hätte ihn bestimmt, ihr zu folgen; der Tag und Nacht über mir erschallende Tritt ließ mir keinen Augenblick Ruhe.

 

Aber gingen Sie denn nicht selbst zu dem Greise hinaus, um ihn zu trösten? fragte der Priester.

 

Ah! Herr, erwiderte Caderousse, man tröstet nur die, welche getröstet sein wollen, er aber wollte dies nicht. Überdies kam es mir vor, als hätte er einen Widerwillen gegen meinen Anblick. In einer Nacht jedoch, da ich sein Schluchzen hörte, konnte ich nicht widerstehen und ging hinaus; als ich jedoch an die Tür kam, schluchzte er nicht mehr, er betete. Ich kann Ihnen nicht wiederholen, welche beredten Worte, welche erbarmenswerten Bitten er fand; es war mehr als Frömmigkeit, es war mehr als Schmerz; ich, der ich kein Heuchler bin und die Jesuiten nicht liebe, sagte mir auch an diesem Tage: Es ist ein Glück, daß ich allein bin, und daß der liebe Gott mir keine Kinder geschenkt hat, denn wenn ich Vater wäre und empfände einen Schmerz, wie der arme Greis, und könnte weder in meinem Geiste, noch in meinem Herzen finden, was er dem guten Gotte sagt, so stürzte ich mich geradenwegs ins Meer, um nicht länger zu leiden.

 

Armer Vater! murmelte der Priester.

 

Von Tag zu Tag lebte er einsamer und abgeschiedener; Herr Morel und Mercedes kamen oft, ihn zu besuchen, aber seine Tür war verschlossen, und er antwortete nicht, obgleich ich bestimmt wußte, daß er zu Hause war. Als er eines Tages, gegen seine Gewohnheit, Mercedes einließ und das arme Kind, selbst in Verzweiflung, ihn zu trösten suchte, sagte er: Glaube mir, meine Tochter, er ist tot … und statt daß wir ihn erwarten, erwartet er uns. Ich bin sehr glücklich, denn ich bin älter und werde ihn folglich zuerst wiedersehen.

 

Bei aller Gutmütigkeit hört man am Ende doch auf, die Menschen zu besuchen, die einen traurig machen; so blieb der alte Dantes zuletzt ganz allein. Ich sah nur noch von Zeit zu Zeit unbekannte Leute zu ihm hinaufgehen, die mit irgend einem schlecht verborgenen Päckchen zurückkamen; ich begriff, welche Bewandtnis es mit diesen Päckchen hatte; er verkaufte nach und nach, was er besaß, um zu leben. Endlich nahm es bei dem guten Mann ein Ende mit seiner armseligen Habe … Er war drei Mietzinse schuldig, man drohte ihm mit Hinauswerfen. Er bat um acht Tage Geduld, die man ihm bewilligte. Ich erfuhr diesen Umstand, weil der Hauseigentümer mich gleich darauf besuchte. Während der drei ersten Tage hörte ich ihn wie gewöhnlich auf und ab gehen; am vierten … vernahm ich nichts mehr … Ich ging hinauf, die Tür war verschlossen; durch das Schlüsselloch sah ich den Greis jedoch so bleich und entstellt, daß ich ihn für sehr krank hielt, Herrn Morel benachrichtigen ließ und zu Mercedes lief. Beide eilten herbei; Herr Morel brachte einen Arzt; der Arzt erkannte eine Magendarmentzündung und verordnete Diät. Ich war dabei, Herr, und werde nie das Lächeln des Greises bei dieser Verordnung vergessen. Von nun an öffnete er seine Tür, er hatte eine Entschuldigung, daß er nicht mehr aß; der Arzt hatte Diät verordnet.

 

Der Abbé stieß einen Seufzer aus.

 

Mercedes kam wieder; sie fand ihn so verändert, daß sie ihn wie das erste Mal in ihr Haus bringen lassen wollte. Es war dies auch Herrn Morels Ansicht, der ihn mit Gewalt dorthin schaffen wollte; doch der Greis schrie dergestalt, daß sie Angst bekamen. Mercedes blieb an seinem Bett. Herr Morel entfernte sich, nachdem er Mercedes durch ein Zeichen bedeutet hatte, er lasse eine Börse auf dem Kamine. Aber auf Grund der Verordnung des Arztes wollte der Greis nichts zu sich nehmen. Endlich, nach nenn Tagen der Verzweiflung und Enthaltsamkeit, verschied er mit Flüchen für die Urheber seines Unglücks. Zu Mercedes aber sagte er noch: Wenn du meinen Edmond wiedersiehst, so sage ihm, ich sei, ihn segnend, gestorben.

 

Der Abbé stand auf und ging zweimal im Zimmer auf und ab, wobei er seine zitternde Hand an seine trockene Kehle legte.

 

Und Sie glauben, er starb …

 

Hungers, mein Herr, Hungers, dafür stehe ich, so wahr wir hier zwei Christen sind, antwortete Caderousse.

 

Der Abbé ergriff mit krampfhafter Hand noch das halbvolle Glas, leerte es auf einen Zug und setzte sich nieder, die Augen gerötet und die Wangen bleich.

 

Gestehen Sie, daß dies ein großes Unglück ist, sagte er mit heiserer Stimme.

 

Um so größer, mein Herr, als es nicht Gott herbeigeführt hat, sondern die Menschen allein schuld daran sind.

 

Wenden wir uns also diesen Menschen zu, doch vergessen Sie nicht, rief der Abbé mit beinahe drohender Miene, Sie haben mir alles zu sagen versprochen; wer sind die, denen es zuzumessen ist, daß der Sohn vor Verzweiflung und der Vater vor Hunger starb?

 

Zwei Menschen, die auf ihn eifersüchtig waren, der eine aus Liebe, der andere aus Ehrgeiz, Fernand und Danglars.

 

Was haben sie aus Eifersucht getan?

 

Sie denunzierten Edmond als bonapartistischen Agenten.

 

Welcher von beiden tat es? Welcher von beiden ist der wahre Schuldige?

 

Beide, Herr; Danglars schrieb die Anzeige mit der linken Hand, um seine Schrift zu verstellen, und Fernand schickte sie ab.

 

Ja, so ist es, murmelte der Abbé … Oh! Faria! Faria! wie gut kanntest du die Menschen! Waren Sie auch dabei?

 

Ich? versetzte Caderousse erstaunt, wer hat Ihnen gesagt, daß ich dabei war?

 

Der Abbé sah, daß er zu weit gegangen war, und erwiderte: Niemand; doch um alle diese Einzelheiten so genau zu kennen, müssen Sie notwendig Zeuge gewesen sein.

 

Das ist wahr, sagte Caderousse mit erstickter Stimme, ich war dabei.

 

Und Sie haben sich dieser Schändlichkeit nicht widersetzt? Folglich sind Sie ein Mitschuldiger!

 

Herr, sie hatten mich so trunken gemacht, daß ich beinahe die Vernunft verlor. Ich sah nur noch durch eine Wolke. Alles, was ein Mensch in einem solchen Zustande sagen kann, sagte ich, aber beide erwiderten, sie hätten nur einen Scherz machen wollen, und dieser Scherz hätte keine Folgen.

 

Doch am andern Tage sahen Sie, daß er Folgen hatte; Sie sagten aber nichts und waren dabei, als man ihn verhaftete.

 

Ja, Herr, ich war dabei und wollte alles sagen, Danglars hielt mich jedoch zurück. Wenn er etwa schuldig ist, sagte er zu mir, wenn er wirklich an der Insel Elba angehalten, wirklich einen Brief für das bonapartistische Komitee in Paris mitgenommen hat, wenn dieser Brief bei ihm gesunden wird, so werden die, welche ihn unterstützt haben, als seine Mitschuldigen betrachtet werden. Ich fürchtete mich und schwieg; ich gestehe, es war Feigheit, aber kein Verbrechen.

 

Ich begreife, Sie ließen die Sache eben gehen.

 

Ja, Herr, und das plagt mein Gewissen bei Tag und bei Nacht. Ich schwöre Ihnen, ich bitte Gott sehr oft um Verzeihung, und zwar um so mehr, als diese Handlung, die einzige, die ich mir in meinem ganzen Leben vorzuwerfen habe, ohne Zweifel die Ursache meines Unglücks ist. Ich büße einen Augenblick der Selbstsucht und sage auch immer zu Carconte, wenn sie sich beklagt: Schweig, Frau, Gott will es so.

 

Und Caderousse neigte das Haupt mit allen Zeichen wahrer Reue.

 

Gut, sagte der Abbé, Sie haben offenherzig gesprochen; sich so anklagen heißt Verzeihung verdienen.

 

Leider ist Edmond tot und hat mir nicht verziehen.

 

Er wußte es nicht.

 

Aber nun weiß er es vielleicht, sagte Caderousse. Man sagt, die Toten wissen alles.

 

Es trat ein kurzes Stillschweigen ein; der Abbé war aufgestanden und ging nachdenklich auf und ab; dann kehrte er zu seinem Platze zurück und setzte sich wieder.

 

Sie haben mir schon zwei- oder dreimal einen gewissen Herrn Morel genannt, sagte er. Wer war dieser Mann?

 

Der Reeder des Pharao, Dantes‘ Patron.

 

Und welche Rolle spielte er in dieser traurigen Geschichte?

 

Die Rolle eines redlichen, mutigen, liebevollen Mannes. Zwanzigmal verwendete er sich für Edmond; als der Kaiser zurückkehrte, schrieb er, bat er, drohte er dermaßen, daß er bei der zweiten Restauration als Bonapartist hart verfolgt wurde. Zwanzigmal kam er, wie ich Ihnen sagte, zu Dantes‘ Vater, um ihn in sein Haus zu nehmen, und einen oder zwei Tage vor seinem Tode ließ er, wie ich ebenfalls erwähnte, eine Börse auf dem Kamine, womit man die Schulden des guten Mannes bezahlte und seine Beerdigung besorgte, so daß der arme Greis wenigstens sterben konnte, wie er gelebt hatte, ohne jemand unrecht zu tun. Ich habe die Börse noch, eine große Börse von roter Seide.

 

Und dieser Herr Morel lebt noch? – Ja.

 

Dann muß er ein vom Himmel gesegneter Mann, er muß reich, er muß glücklich sein.

 

Caderousse lächelte bitter und erwiderte: Ja, wie ich.

 

Wie, Herr Morel wäre unglücklich? rief der Abbé.

 

Er ist der Armut nahe, mehr noch, er steht an der Grenze der Schande. Ja, nach 25 jähriger Arbeit, nachdem er die ehrenvollste Stellung in der Marseiller Handelswelt erlangt hatte, ist Herr Morel völlig zu Grunde gerichtet. Er hat in zwei Jahren fünf Schiffe verloren, drei Bankerotte erlitten, und seine einzige Hoffnung steht nun auf eben diesem Pharao, den der arme Dantes kommandierte; dieses Schiff soll mit einer Ladung Cochenille und Indigo aus Indien zurückkommen; bleibt es auch aus, wie die andern, so ist er verloren.

 

Hat der Unglückliche Frau und Kinder? fragte der Abbé.

 

Ja, er hat eine Frau, die sich wie eine Heilige benimmt; er hat eine Tochter, die einen Mann heiraten sollte, den sie liebt, den aber seine Familie ein zu Grunde gerichtetes Mädchen nicht heiraten lassen will; er hat endlich einen Sohn, der Leutnant ist. Doch Sie begreifen: alles dies verdoppelt den Schmerz des Armen, statt ihn zu mildern. Wäre er allein, so würde er sich einfach die Hirnschale zerschmettern.

 

Das ist furchtbar! murmelte der Abbé.

 

So belohnt Gott die Tugend! sagte Caderousse. Ich, der, abgesehen von dem, was ich Ihnen erzählte, nie eine schlechte Handlung begangen hat, bin im Elend. Wenn ich meine arme Frau am Fieber habe hinscheiden sehen, ohne etwas für sie tun zu können, werde ich Hungers sterben, wie der alte Dantes, während Fernand und Danglars sich auf dem Golde wälzen.

 

Wieso?

 

Weil sich bei ihnen alles zum Guten gewendet hat, wie sich bei ehrlichen Leuten alles zum Schlimmen wendet.

 

Was ist aus Danglars, dem Schuldigsten, dem Anstifter, geworden?

 

Er hat Marseille verlassen und ist auf Herrn Morels Empfehlung, der nichts von seinem Verbrechen wußte, bei einem spanischen Bankier als Commis eingetreten. Zur Zeit des spanischen Krieges beteiligte er sich an den Lieferungen für das französische Heer und hatte Glück; mit diesem ersten Gelde spielte er in Papieren und verdreifachte, vervielfachte sein Vermögen. Witwer von der Tochter des Bankiers, heiratete er sodann eine Witwe, Frau von Nargonne, Tochter des Herrn von Servieux, der Kammerherr des gegenwärtigen Königs ist und sich der höchsten Gunst erfreut. Er hatte sich zum Millionär gemacht, erhielt dann den Grafentitel und hat nun einen Palast in der Rue du Mont Blanc, zehn Pferde in seinen Ställen, sechs Lakaien in seinem Vorzimmer, und ich weiß nicht wieviel Millionen in seinen Kassen.

 

Ah! rief der Abbé mit einem seltsamen Ausdrucke, und er ist glücklich?

 

Glücklich … wer kann das sagen? Macht ein großes Vermögen das Glück aus, so ist Danglars glücklich.

 

Und Fernand?

 

Fernand war noch glücklicher, er hat zugleich Vermögen und Stellung; er wurde bald nach Dantes‘ Verhaftung zum Heere ausgehoben; ich ebenfalls, und da ich älter als Fernand und verheiratet war, so verwandte man mich beim Dienst an der Küste. Fernand wurde den aktiven Truppen eingereiht, kam mit seinem Regiment an die Grenze und wohnte der Schlacht bei Ligny bei. In der Nacht, die auf das Treffen folgte, stand er Schildwache vor der Tür eines Generals, der in geheimer Verbindung mit dem Feinde stand. In derselben Nacht sollte der General mit den Engländern eine Zusammenkunft haben; er schlug Fernand vor, ihn zu begleiten. Dieser willigte ein, verließ seinen Posten und folgte dem General. Was Fernand vor ein Kriegsgericht gebracht hätte, wenn Napoleon auf dem Throne geblieben wäre, diente ihm bei den Bourbonen zur Empfehlung. Er kehrte nach Frankreich als Unterleutnant zurück, und durch die Gunst des sehr angesehenen Generals wurde er 1823 Kapitän. Fernand war Spanier; er wurde deshalb in diplomatischen Diensten nach Madrid geschickt. Hier leistete er seinem Vaterlande so gute Dienste und bewährte sich in dem folgenden spanischen Feldzug so, daß er nach der Einnahme von Trocadero zum Obersten ernannt wurde und das Offizierskreuz der Ehrenlegion mit dem Baronentitel erhielt.

 

Verhängnis! Verhängnis! murmelte der Abbé.

 

Ja, doch hören Sie, das ist noch nicht alles. Als der Krieg beendigt war, fand Fernand, daß er bei dem langen Frieden, der in Westeuropa nun vorauszusehen war, wenig Aussicht auf Beförderung habe. Er erbat demnach von der Regierung die Erlaubnis, in den Reihen der griechischen Freiheitskämpfer gegen die Türkei zu dienen, während er doch in der französischen Armeeliste fortgeführt wurde. Einige Zeit nachher erfuhr man, daß der Baron von Morcerf, dies war der Name, den er führte, in die Dienste Ali Paschas mit dem Grade eines Generalinstruktors eingetreten war. Ali Pascha wurde getötet; aber ehe er starb, belohnte er Fernands Dienste, indem er ihm eine beträchtliche Summe zustellen ließ, mit der er nach Frankreich zurückkehrte, wo ihm sein Grad als Generalleutnant bestätigt wurde.

 

Und heute? fragte der Abbé.

 

Heute ist er Graf, Deputierter und besitzt ein prachtvolles Haus in Paris, Rue du Helder Nr. 27.

 

Der Abbé öffnete den Mund, zögerte einen Augenblick und sagte dann, sich selbst bezwingend: Und Mercedes? Man hat mir versichert, sie sei verschwunden.

 

Verschwunden, wie die Sonne verschwindet, um am andern Tage glänzender aufzugehen.

 

Sie hat also ebenfalls ihr Glück gemacht? fragte der Abbé mit ironischem Lächeln.

 

Mercedes ist in diesem Augenblicke eine der vornehmsten Damen von Paris, antwortete Caderousse.

 

Fahren Sie fort, sagte der Abbé; es ist mir, als hörte ich die Erzählung eines Traumes. Aber ich habe selbst so außerordentliche Dinge erlebt, daß mich die, welche Sie mir mitteilen, weniger in Erstaunen setzen.

 

Mercedes war anfangs in Verzweiflung über den Schlag, der ihr Edmond raubte. Ich sprach bereits von ihren Bitten bei dem Staatsanwalt und von ihrer Ergebenheit für Dantes‘ Vater. Mitten in ihrer Verzweiflung traf sie ein neuer Schmerz, das Scheiden Fernands, den sie, mit seinem Verbrechen nicht bekannt, als ihren Bruder betrachtete. Fernand reiste als Konskribierter zum Heer, Mercedes blieb allein.

 

Drei Monate verliefen für sie in Tränen; keine Kunde von Edmond, keine Nachricht von Fernand, nichts vor Augen, als einen Greis, der in seiner Verzweiflung hinstarb. Weder Geliebter, noch Freund war ihr geblieben. Plötzlich kam es ihr vor, als hörte sie einen bekannten Tritt; sie wandte sich ängstlich um, die Tür ging auf, und Fernand erschien in seiner Unterleutnants-Uniform. Es war nicht die Hälfte dessen, was sie beweinte, aber es war doch ein Teil ihres vergangenen Lebens, was zu ihr zurückkehrte. Sie faßte Fernands Hände mit einem Entzücken, das dieser für Liebe hielt, während es nur die Freude war, nicht mehr allein auf der Welt zu sein und endlich nach langen Stunden einsamer Trauer einen Freund wiederzusehen. Auch muß ich sagen, Fernand war ihr nie verhaßt gewesen, nur hatte sie ihn nie geliebt. Ein anderer besaß ihr ganzes Herz; dieser andere aber war abwesend, verschwunden, vielleicht tot. Bei diesem letzten Gedanken brach Mercedes in Schluchzen aus und rang die Hände vor Schmerz; aber der Gedanke, den sie verwarf, wenn er ihr von einem andern zugeflüstert wurde, kehrte jetzt von selbst in ihrem betrübten Geiste ein. Überdies sagte der alte Dantes unablässig zu ihr: Unser Edmond ist tot, denn wenn er nicht tot wäre, käme er zu uns zurück.

 

Der Greis starb, wie gesagt; hätte er gelebt, so würde Mercedes vielleicht nie die Frau eines andern geworden sein; denn er wäre da gewesen, um ihr ihre Untreue vorzuwerfen. Fernand sah dies ein. Als er daher den Tod des Greises erfuhr, kehrte er zurück. Diesmal war er Leutnant. Bei seiner ersten Reise hatte er Mercedes kein Wort von Liebe gesprochen, bei der zweiten erinnerte er sie an seine heiße Zuneigung. Ein Jahr war inzwischen vergangen; sie forderte noch sechs Monate, um Edmond zu erwarten und zu beweinen.

 

Das macht im ganzen achtzehn Monate, sagte der Abbé mit bitterem Lächeln. Was kann der angebetetste Geliebte mehr fordern? Dann murmelte er die Worte des englischen Dichters: Schwachheit, dein Name ist Weib.

 

Sechs Monate nachher, fuhr Caderousse fort, fand die Hochzeit in der Kirche des Accoules statt.

 

Es war dieselbe Kirche, in der sie Edmond heiraten sollte, murmelte der Abbé, nur war’s ein anderer Bräutigam.

 

Mercedes heiratete also, sagte Caderousse; doch obgleich sie allen Augen ruhig erschien, wurde sie doch ohnmächtig, als sie vor der Reserve vorbeikam, wo achtzehn Monate vorher ihre Verlobung mit dem gefeiert worden war, den sie noch liebte, wenn sie in den Grund ihres Herzens zu sehen wagte. Glücklicher, aber nicht ruhiger, – denn ich sah ihn in jener Zeit, und er fürchtete beständig die Rückkehr Edmonds, – war Fernand sogleich darauf bedacht, seine Frau aus der Gegend zu entfernen und sich selbst zu verbannen; er hatte zugleich zu viele Gefahren zu befürchten und zu viele Erinnerungen zu bekämpfen, wenn er bei den Kataloniern blieb. Acht Tage nach der Hochzeit reisten sie ab.

 

Sahen Sie Mercedes wieder? fragte der Priester.

 

Ja, zur Zeit des spanischen Krieges, in Perpignan, wo Fernand sie zurückgelassen hatte; sie beschäftigte sich damals mit der Erziehung ihres Sohnes.

 

Der Abbé bebte. Ihres Sohnes? sagte er.

 

Ja, antwortete Caderousse, des kleinen Albert.

 

Aber um den Sohn zu erziehen, sagte der Abbé, muß sie wohl selbst erst noch eine Ausbildung erhalten haben? Es ist mir, als hätte ich von Edmond gehört, sie sei die Tochter eines einfachen Fischers, schön, aber ungebildet gewesen?

 

Oh, kannte er denn seine Braut so schlecht? versetzte Caderousse. Mercedes hätte Königin werden können, wenn die Krone nur auf den schönsten und gescheitesten Köpfen getragen werden sollte. Als ihre Verhältnisse besser wurden, lernte sie wohl auch zeichnen, Musik und was weiß ich alles, aber ich glaube, unter uns gesagt, daß sie dies alles nur tat, um sich zu zerstreuen, um zu vergessen, und daß sie nur so viele Dinge in ihren Kopf brachte, um das zu betäuben, was ihr Herz erfüllte. Nun scheint es jetzt, Vermögen und Ehre haben sie ohne Zweifel getröstet. Sie ist reich, sie ist Gräfin, und dennoch … – Caderousse schwieg.

 

Was dennoch?

 

Dennoch bin ich überzeugt, daß sie nicht glücklich ist.

 

Warum glauben Sie das?

 

Als ich selbst gar sehr im Elend war, dachte ich, meine ehemaligen Freunde würden mich unterstützen. Ich begab mich zu Danglars, der mich nicht einmal empfing. Ich ging zu Fernand, und dieser ließ mir hundert Franken durch seinen Kammerdiener zustellen.

 

Also sahen Sie weder den einen noch den andern?

 

Nein, aber Frau von Morcerf hat mich gesehen. – Während ich hinausging, fiel eine Börse zu meinen Füßen! Sie enthielt fünfundzwanzig Louisd’or. Ich schaute rasch empor und erblickte Mercedes, die den Laden wieder schloß.

 

Und der Staatsanwalt, Herr von Villefort? fragte der Abbé.

 

Oh! er war nicht mein Freund gewesen, ich kannte ihn nicht und hatte nichts von ihm zu fordern.

 

Doch wissen Sie nicht, was aus ihm geworden ist, und welchen Teil er an Edmonds Unglück gehabt hat?

 

Nein, ich weiß nur, daß er einige Zeit, nachdem er Edmond hatte verhaften lassen, Fräulein von Saint-Meran heiratete und bald darauf Marseille verließ. Ohne Zweifel hat ihm das Glück gelächelt, wie den anderen, ohne Zweifel ist er reich wie Danglars, geachtet wie Fernand; ich allein bin, wie Sie sehen, arm, elend und von Gott vergessen geblieben. Sie täuschen sich, mein Freund, sagte der Abbé, Gott kann zuweilen scheinbar vergessen, wenn seine Gerechtigkeit ruht, aber es kommt immer ein Augenblick, wo er sich erinnert, und hier ist der Beweis davon.

 

Bei diesen Worten zog der Abbé den Diamanten aus der Tasche, reichte ihn Caderousse und sagte: Nehmen Sie diesen Diamanten, er gehört Ihnen.

 

Wie, mir allein? rief Caderousse; oh! Herr, Sie scherzen?

 

Dieser Diamant sollte unter Edmonds Freunde verteilt werden! Edmond hatte nur einen Freund, die Verteilung wird also unnötig. Nehmen Sie den Stein und verkaufen sie ihn; ich wiederhole, er ist fünfzigtausend Franken wert, und diese Summe wird hoffentlich genügen, um Sie der Armut zu entziehen.

 

Oh! Herr, sagte Caderousse schüchtern, eine Hand ausstreckend und mit der andern den Schweiß abwischend, der auf seiner Stirn perlte, oh! Herr, treiben Sie nicht Spott mit dem Glück und der Verzweiflung eines Menschen.

 

Ich weiß, was Glück und was Verzweiflung ist, und werde nie damit Kurzweil treiben. Nehmen Sie; dagegen …

 

Caderousse, der bereits den Diamanten berührte, zog seine Hand zurück.

 

Dagegen, fuhr der Abbé lächelnd fort, geben Sie mir die rote seidene Börse, die Herr Morel auf dem Kamin des alten Dantes zurückließ.

 

Immer mehr erstaunt, ging Caderousse an einen großen Schrank von Eichenholz, öffnete ihn und reichte dem Abbé eine lange Börse von erbleichter roter Seide; der Abbé nahm sie und gab dafür Caderousse den Diamanten.

 

Oh! Sie sind ein Mann Gottes, rief Caderousse, denn es wußte in der Tat niemand, daß Edmond Ihnen den Diamanten übergeben hatte, und Sie konnten ihn behalten.

 

Gut, sagte der Abbé zu sich selbst, du hättest es getan, wie mir scheint.

 

Der Abbé stand auf, nahm seinen Hut und seine Handschuhe und sagte: Ist alles, was Sie gesagt haben, wahr, und kann ich Ihnen in allen Punkten glauben?

 

Sehen Sie, Herr Abbé, antwortete Caderousse, dort in jener Ecke ist ein Christus von geweihtem Holze, hier auf dieser Kiste liegt das Evangelienbuch meiner Frau, öffnen Sie dieses Buch, und ich will Ihnen darauf schwören, ich schwöre Ihnen bei dem Heile meiner Seele, bei meinem christlichen Glauben, daß ich Ihnen alles so gesagt habe, wie es vorgefallen ist.

 

Es ist gut, sagte der Abbé, überzeugt, daß Caderousse die Wahrheit gesagt habe, es ist gut; möge Ihnen dieses Geld Nutzen bringen! Leben Sie wohl, ich kehre zurück, um fern von den Menschen zu leben, die so viel Böses tun.

 

Und sich mit Mühe den begeisterten Ergüssen Caderousses entziehend, verließ der Abbé das Zimmer, stieg zu Pferde, grüßte zum letztenmal den Wirt, der sich in geräuschvollen Abschiedsworten sozusagen verwickelte, und entfernte sich in der Richtung, in der er gekommen war.

 

Als sich Caderousse umwandte, sah er hinter sich die Carconte, bleicher und zitternder als je.

 

Ist es wahr, was ich gehört habe? sagte sie.

 

Was? Daß er uns den Diamanten für uns ganz allein gegeben hat? entgegnete Caderousse beinahe närrisch vor Freude.

 

Und wenn er falsch wäre? sagte sie.

 

Falsch, murmelte er, falsch … Und warum sollte mir dieser Mann einen falschen Diamanten gegeben haben?

 

Um dein Geheimnis zu besitzen, ohne es zu bezahlen, Schwachkopf!

 

Caderousse blieb einen Augenblick wie betäubt von dem Gewichte dieser Mutmaßung, bald aber nahm er seinen Hut, setzte ihn auf das rote um seinen Kopf gewickelte Taschentuch und rief: Oh! das werden wir wohl erfahren.

 

Auf welche Art?

 

Es ist Messe in Beaucaire, es sind Pariser Juweliere dort, ich will ihnen den Stein zeigen. Hüte das Haus, Frau, in zwei Stunden bin ich zurück.

 

Und er stürzte aus dem Hause und lief auf der Straße fort. Fünfzigtausend Franken, murmelte die Carconte, als sie allein war, das ist Geld … aber es ist kein Vermögen.

 

Die Gefängnisregister.

 

Die Gefängnisregister.

 

Einen Tag, nachdem die Szene auf der Straße von Bellegarde nach Beaucaire vorgefallen war, erschien ein Mann von dreißig Jahren in blauem Frack, Nankingbeinkleidern und weißer Weste, mit der Haltung und der Aussprache eines Engländers, bei dem Maire von Marseille und sagte: Mein Herr, ich bin der erste Kommis des Hauses Thomson und French in Rom; wir stehen seit zehn Jahren in Verbindung mit dem Hause Morel und Sohn in Marseille, sein Konto beläuft sich bei uns auf etwa l00 000 Franken, und wir sind einigermaßen in Unruhe, da man behauptet, dieses Haus sei dem Ruin nahe. Ich komme daher ausdrücklich von Rom, um mir von Ihnen Auskunft über Morel und Sohn zu erbitten.

 

Mein Herr, antwortete der Maire, ich weiß bestimmt, daß seit vier bis fünf Jahren das Unglück Herrn Morel zu verfolgen scheint; er hat hintereinander vier Schiffe verloren und durch drei Bankerotte Verluste erlitten; aber obgleich ich selbst mit einigen tausend Franken Gläubiger des Hauses bin, geziemt es mir doch nicht, irgend eine Auskunft über den Zustand seines Vermögens zu geben. Fragen Sie mich als Maire, was ich von Herrn Morel denke, so antworte ich Ihnen, er ist ein streng rechtlicher Mann und hat bis jetzt alle seine Verbindlichkeiten äußerst pünktlich erfüllt. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Wollen Sie mehr wissen, so wenden Sie sich an Herrn von Boville, Inspektor der Gefängnisse, Rue Noailles Nr. 15; er hat, soviel ich weiß, 200 000 Franken beim Hause Morel angelegt, und wenn wirklich etwas zu fürchten wäre, so würden Sie ihn, da diese Summe beträchtlicher ist, als mein Guthaben, wahrscheinlich über diesen Punkt besser unterrichtet finden, als ich es bin.

 

Der Engländer schien diese Rücksicht zu würdigen, grüßte, verließ den Maire und wanderte mit dem den Söhnen Großbritanniens eigentümlichen Gange nach der bezeichneten Straße. Herr von Boville war in seinem Kabinett; als ihn der Engländer erblickte, machte er eine Bewegung des Erstaunens, die anzudeuten schien, daß er nicht zum erstenmal diesem Manne gegenüber stand. Herr von Boville aber war so verzweiflungsvoll, gleichsam verschlungen von dem Gedanken, der ihn in diesem Augenblick beschäftigte, daß er nichts für alte Erinnerungen übrig hatte. Der Engländer legte ihm mit dem seiner Nation eigenen Phlegma fast in denselben Ausdrücken dieselbe Frage vor wie dem Maire.

 

Oh! Herr, rief Herr von Boville, Ihre Befürchtungen sind leider nur zu sehr begründet, und Sie sehen einen verzweifelnden Mann vor sich. Ich hatte 200 000 Franken bei dem Hause Morel angelegt. – Es war dies die Mitgift meiner Tochter, die ich in vierzehn Tagen zu verheiraten gedachte. Ich hatte Herrn Morel von meinem Wunsche, das Geld bis zum 15. nächsten Monats zu erheben, benachrichtigt, und nun ist er vor einer halben Stunde zu mir gekommen, um mir zu sagen, wenn sein Schiff Pharao bis zum 15. nicht einlaufe, sei er außer stande, seine Verbindlichkeit zu erfüllen.

 

Da handelt sich’s doch wohl nur um Fristverlängerung, sagte der Engländer.

 

Es handelt sich um einen Bankerott, rief Herr von Boville.

 

Der Engländer schien einen Augenblick nachzudenken und sagte sodann: Diese Schuldforderung scheint Ihnen also gefährdet?

 

Das heißt, ich betrachte sie als verloren.

 

Gut, ich kaufe sie Ihnen ab.

 

Sie? Ja, ich.

 

Aber sicher nur mit ungeheurem Rabatt?

 

Nein, um 200 000 Franken; unser Haus, fügte der Engländer lachend bei, macht keine solchen Geschäfte.

 

Und Sie bezahlen bar?

 

Der Engländer zog, ohne ein Wort zu sagen, ein Päckchen Banknoten aus seiner Tasche, die das Doppelte der Summe betragen mochten, die Herr von Boville zu verlieren fürchtete. Ein Blitz der Freude zog über das Gesicht des Herrn von Boville; doch suchte er sich zu bemeistern und sagte: Mein Herr, ich muß Ihnen bemerken, daß Sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht sechs Prozent von dieser Summe zurückerhalten.

 

Das geht mich nichts an, erwiderte der Engländer, das geht das Haus Thomson und French an, in dessen Namen ich handle. Es liegt vielleicht in seinem Interesse, einen Nebenbuhler zu Grunde zu richten. Ich weiß nur, daß ich Ihnen diese Summe gegen Übertragung zu bezahlen habe, wobei ich mir indessen einen Maklerlohn erbitten werde.

 

Das ist nicht mehr als billig! rief Herr von Boville. Die Kommission beträgt gewöhnlich anderthalb; wollen Sie zwei? Wollen Sie drei? Wollen Sie fünf, wollen Sie noch mehr? Sprechen Sie!

 

Mein Herr, antwortete der Engländer lachend, ich bin wie mein Haus, ich mache keine solchen Geschäfte; mein Maklerlohn ist ganz anderer Natur. Sie sind Inspektor der Gefängnisse?

 

Seit vierzehn Jahren.

 

Führen Sie Eintritts- und Abgangsverzeichnisse, die Noten in Bezug auf die Gefangenen enthalten.

 

Jeder Gefangene hat sein Aktenheft.

 

Nun wohl, ich bin in Rom von einem armen Teufel von Abbé erzogen worden, der plötzlich von dort verschwunden ist. Seitdem habe ich erfahren, daß man ihn im Kastell If gefangen gehalten hat, und ich möchte gern etwas Näheres über seinen Tod wissen; er hieß Abbé Faria.

 

Oh! ich erinnere mich seiner ganz genau, rief Herr von Boville, er war ein Narr.

 

Es ist möglich. Welcher Art war seine Narrheit?

 

Er behauptete, Kenntnis von einem unermeßlichen Schatze zu haben, und bot der Regierung tolle Summen, wenn man ihn in Freiheit setzen wollte.

 

Armer Teufel! Und er ist tot?

 

Ja, er starb ungefähr vor fünf oder sechs Monaten, im vergangenen Februar. Ich erinnere mich dieser Geschichte deshalb so genau, weil der Tod des armen Teufels von einem seltsamen Ereignis begleitet war.

 

Was war denn das für ein Ereignis? fragte der Engländer mit dem Ausdruck großer Neugierde.

 

Das Gefängnis des Abbés war ungefähr fünfzig Fuß vom dem eines ehemaligen bonapartistischen Agenten entfernt, eines sehr entschlossenen und gefährlichen Menschen aus der Zahl derer, die am meisten zur Rückkehr des Usurpators im Jahre 1815 beigetragen haben.

 

Wirklich? sagte der Engländer.

 

Ja, ich hatte selbst Gelegenheit, diesen Menschen im Jahre 1816 oder 1817 zu sehen; man stieg in seinen Kerker stets nur mit einer Wache hinab; er machte einen tiefen Eindruck auf mich, und ich werde sein Gesicht nie vergessen.

 

Der Engländer lächelte unmerklich. Und Sie sagen, versetzte er, die beiden Kerker …

 

Waren etwa fünfzig Fuß voneinander, aber es scheint, dieser Edmond Dantes …, so hieß nämlich der gefährliche Mensch, hatte sich Werkzeuge verschafft oder verfertigt, denn man fand einen Gang, durch den die Gefangenen miteinander verkehrten.

 

Dieser Gang war ohne Zweifel für einen Fluchtversuch gemacht worden?

 

Allerdings; aber zum Unglück für die Gefangenen wurde der Abbé von der Starrsucht befallen und starb.

 

Ich begreife; das mußte die Fluchtpläne ein für allemal vereiteln.

 

Für den Toten, ja, antwortete Herr von Boville, für den Lebenden nicht; dieser Dantes sah im Gegenteil darin ein Mittel, seine Flucht zu beschleunigen. Er dachte ohne Zweifel, die im Kastell If gestorbenen Gefangenen würden auf einem gewöhnlichen Friedhofe begraben, trug den Hingeschiedenen in seine Zelle, nahm dessen Platz in dem Sacke ein, in den man ihn genäht hatte, und erwartete den Augenblick des Begräbnisses.

 

Das war ein gewagtes Mittel, woraus sich auf einigen Mut schließen läßt, bemerkte der Engländer.

 

Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß es ein sehr gefährlicher Mensch war; zum Glück befreite er die Regierung selbst von der Furcht, die sie seinetwegen hegte.

 

Wieso?

 

Das Kastell If hat keinen Friedhof; man wirft die Toten ganz einfach ins Meer, nachdem man ihnen eine Eisenkugel von 36 Pfund an die Füße gebunden hat. Sie können sich denken, wie groß das Erstaunen des Flüchtlings gewesen sein muß, als er fühlte, daß man ihn vom Felsen herabstürzte. Ich hätte sein Gesicht in diesem Augenblick sehen mögen.

 

Das wäre schwierig gewesen.

 

Gleichviel, sagte Herr von Boville, den die Gewißheit, seine 200 000 Franken wieder zu erhalten, in gute Laune versetzte; gleichviel, ich stelle es mir vor.

 

Der Flüchtling ist also ertrunken? fragte der Engländer, und somit wurde der Gouverneur des Kastells zugleich von dem Wütenden und von dem Narren befreit?

 

Gewiß.

 

Es mußte doch eine Art von Protokoll über dieses Ereignis aufgenommen werden? fragte der Engländer.

 

Ja, ja, ein Sterbeprotokoll. Sie begreifen, für die Verwandten des Dantes, wenn er welche hat, konnte es von Interesse sein, sich zu versichern, ob er gestorben sei oder noch lebe. Folglich können sie nun ruhig sein, wenn sie von ihm erben. Er ist wohl tot, sehr tot.

 

Oh! mein Gott, ja. Man wird Ihnen einen Schein ausstellen, wenn sie einen haben wollen.

 

Selbstverständlich, sagte der Engländer. Doch um auf die Listen zurückzukommen …

 

Richtig … Diese Geschichte hat uns abgeführt. Verzeihen Sie.

 

Was soll ich verzeihen? Die Geschichte? Keineswegs; sie war mir sehr interessant.

 

Sie ist es in der Tat … Sie wünschen also alles zu sehen, was sich auf den armen Abbé bezieht, der die Sanftmut selbst war, so? Kommen Sie in mein Amtszimmer, ich will es Ihnen zeigen.

 

Beide gingen in das Zimmer des Herrn von Boville.

 

Alles war hier in vollkommener Ordnung; jedes Register bei seiner Nummer, jedes Aktenheft in seinem Fach. Der Inspektor nötigte den Engländer in seinen Lehnstuhl, legte ihm das Register und die Akten vor und ließ ihm volle Muße, darin zu blättern, während er selbst, in einem Winkel sitzend, seine Zeitung las.

 

 

Der Engländer fand ohne Mühe die Akten, die sich auf den Abbé Faria bezogen; doch es scheint, die Geschichte, die ihm Herr von Boville erzählt, hatte ihn lebhaft interessiert, denn nachdem er die ersten Stücke eingesehen, blätterte er weiter, bis er zu Edmond Dantes‘ Akten gekommen war. Hier fand er schön beisammen: Denunziation, Verhör, Bittschrift des Herrn Morel, Randglosse des Herrn von Villefort. Er faltete unbemerkt die Denunziation zusammen, steckte sie in seine Tasche, las das Verhör und sah, daß der Name Noirtier unterdrückt war, durchlief dann auch noch das Gesuch vom 10. Februar 18l5, worin Herr Morel, nach Villeforts Rat, in guter Absicht, weil Napoleon noch regierte, die Dienste übertrieb, die Dantes der kaiserlichen Sache geleistet hatte. Nun begriff er alles. Das von Villefort aufbewahrte Gesuch war nach Napoleons zweiter Entthronung eine furchtbare Waffe in den Händen des Staatsanwalts geworden. Er wunderte sich daher nicht mehr über folgende Note, die er neben seinem Namen fand:

 

Edmond Dantes  

Wütender Bonapartist, hat tätigen Anteil an der Rückkehr von der Insel Elba genommen.

 

Im geheimsten Gewahrsam und unter der strengsten Aussicht zu halten.

 

Unter diesen Zeilen stand von einer andern Handschrift: In Betracht obiger Note nichts zu machen.

 

Die Handschrift der Randbemerkung mit der der Erklärung vergleichend, die der Staatsanwalt unter Morels Gesuch gesetzt hatte, bekam der Engländer die Gewißheit, daß Randglosse und Erklärung von einer Hand, nämlich Villeforts, herrührten.

 

Was die letzte Note betrifft, so sagte er sich, daß sie von irgend einem Inspektor herrührte, der vorübergehendes Interesse an Dantes‘ Lage genommen, durch die erwähnte Bemerkung sich aber in die Unmöglichkeit versetzt gesehen hatte, seiner Teilnahme Folge zu geben.

 

Aus Diskretion hatte sich der Inspektor entfernt und las im Staatsanzeiger. Er sah also nicht, wie der Engländer die von Danglars in der Sommerlaube der Reserve geschriebene Denunziation zusammenlegte und einsteckte. Hätte er es aber auch gesehen, so würde er sicher zu wenig Gewicht auf dieses Papier und zu viel auf seine 200 000 Franken gelegt haben, um einzugreifen.

 

Ich danke, sagte der Engländer, indem er das Register geräuschvoll schloß. Ich weiß, was ich wissen wollte, und nun ist es an mir, mein Versprechen zu halten; erklären Sie schriftlich, daß Sie mir Ihre Schuldforderung für die Summe von 200 000 Franken abtreten, und ich bezahle Ihnen die Summe.

 

Und während Herr von Boville eiligst die Erklärung aufsetzte, zählte der Engländer auf einem Tischchen die Banknoten auf.

 

Heiratspläne.

 

Heiratspläne.

 

Am Tage nach dieser Szene machte Debray Frau Danglars keinen Besuch.

 

Gegen halb zwei Uhr verlangte die Dame nach ihrem Wagen und fuhr aus.

 

Danglars hatte, hinter dem Fenster stehend, dieses Ausfahren, das er erwartete, beobachtet. Er gab Befehl, ihn zu benachrichtigen, sobald seine Frau wiedererscheinen würde; doch um zwei Uhr war sie noch nicht zurückgekehrt.

 

Von Mittag bis zwei Uhr war Danglars in seinem Kabinett geblieben, wo er Depeschen entsiegelte, immer düsterer wurde, Ziffern auf Ziffern häufte, und unter anderen Besuchen auch den des Majors Cavalcanti empfing, der stets gleich blau, gleich steif und gleich pünktlich zu der am Tage vorher bezeichneten Stunde sich einfand, um seine Angelegenheit mit dem Bankier abzumachen.

 

Um zwei Uhr forderte er seine Pferde, begab sich in die Kammer, zeigte sich hier sehr aufgeregt und war herber und bitterer gegen das Ministerium, als je. Nach der Sitzung stieg er wieder in seinen Wagen und befahl dem Kutscher, ihn nach der Avenue der Champs-Elysées zu fahren.

 

Monte Christo war zu Hause, nur befand sich jemand bei ihm, und er bat Danglars, einen Augenblick im Salon zu warten.

 

Während der Bankier wartete, öffnete sich die Tür, und er sah einen als Abbé gekleideten Mann eintreten, der, statt zu warten wie er, ohne Zweifel vertrauter in dem Hause, ihn grüßte, in das Innere der Gemächer ging und verschwand.

 

Einen Augenblick nachher öffnete sich die Tür, durch die der Priester eingetreten war, abermals, und Monte Christo erschien.

 

Verzeihen Sie, lieber Baron, sagte er, einer meiner Freunde, der Abbé Busoni, den Sie wohl bemerkt haben, ist soeben angekommen; wir waren seit langer Zeit getrennt, und ich hatte nicht den Mut, ihn sogleich zu verlassen; ich hoffe, daß Sie mich deshalb entschuldigen.

 

Wie! rief Danglars, das ist ganz einfach, ich habe meine Zeit schlecht gewählt und entferne mich.

 

Keineswegs, im Gegenteil, setzen Sie sich! Aber, guter Gott! Was haben Sie denn? Sie sehen ganz sorgenvoll aus, in der Tat, Sie erschrecken mich; ein betrübter Kapitalist ist wie ein Komet und weissagt der Welt stets ein großes Unglück. Mein Herr, das Unglück ruht seit ein paar Tagen auf mir, und ich erfahre nur Schlimmes, antwortete Danglars.

 

Mein Gott! haben Sie einen Umschlag an der Börse erlebt?

 

Nein, davon bin ich geheilt, wenigstens auf einige Tage; es handelt sich für mich um einen Bankerott in Triest.

 

Wirklich? Meinen Sie etwa Jacopo Manfredi?

 

Ganz richtig! Denken Sie sich einen Menschen, der, ich weiß nicht seit wie langer Zeit, für 8 bis 900 000 Franken Geschäfte jährlich mit mir macht. Nie ein Verrechnen, nie eine Zögerung; ein Mann, der bezahlte wie ein Fürst immer bezahlte. Ich lasse mich auf einen Kredit von einer Million mit ihm ein, und der Teufel von Jacopo Manfredi stellt seine Zahlungen ein! Das ist ein unerhörtes Unglück. Ich ziehe auf ihn 600 000 Livres, die mir unbezahlt zurückkommen; mehr noch! Ich bin der Inhaber von 400 000 Franken Wechsel, von ihm unterzeichnet und zahlbar Ende dieses bei seinem Korrespondenten in Paris. Wir haben den dreißigsten, ich schicke hin, um einkassieren zu lassen, ah, ja wohl! der Korrespondent ist verschwunden. Mit der spanischen Geschichte macht das einen schönen Monatsschluß. – Sagen Sie, bringen Ihnen die spanischen Papiere wirklich Verlust?

 

Allerdings, nicht weniger als 700 000 Franken!

 

Wie, zum Teufel, kam es, daß Sie, ein alter Luchs, eine solche Schule durchmachen mußten?

 

Es ist der Fehler meiner Frau. Es träumte ihr, Don Carlos sei nach Spanien zurückgekehrt; sie glaubt an Träume. Allerdings spielte sie nicht um mein Geld, sondern um das ihrige. Doch gleichviel, Sie begreifen, wenn 700 000 Franken aus der Tasche der Frau gehen, so merkt es der Mann immer ein wenig. Wie! Sie wußten das nicht? Die Sache hat doch ungeheueres Aufsehen gemacht?

 

Ich habe davon sprechen hören, kannte aber die einzelnen Umstände nicht, auch verstehe ich nicht das geringste von Börsengeschäften. Sie spielen also nicht?

 

Ich! wie soll ich spielen? Habe ich doch so schon Mühe genug, meine Finanzen in Ordnung zu halten. Ich wäre genötigt, außer meinem Intendanten noch einen Kommis und einen Kassengehilfen zu nehmen. Doch was Spanien betrifft … mir scheint, die Frau Baronin hat Don Carlos‘ Rückkehr nicht völlig geträumt; erzählten nicht die Zeitungen davon?

 

Das ist gerade das Unerklärliche, daß diese Rückkehr des Don Carlos wirklich eine telegraphische Nachricht war.

 

Somit verlieren Sie diesen Monat ungefähr siebzehnhunderttausend Franken? Teufel! für ein Vermögen dritten Ranges ist dies immerhin ein Schlag, sagte Monte Christo.

 

Dritten Ranges, entgegnete Danglars etwas gedehnt, was verstehen Sie darunter?

 

Ich mache drei Rangklassen; ersten Ranges sind Vermögen, die, in liegenden Gütern, in Bergwerken und dergleichen angelegt, einen Gesamtbetrag von hundert Millionen ausmachen; zweiten Ranges sind Vermögen mit einer Rente von 1 1/2 Millionen, d. h. einem Kapital von fünfzig Millionen und dritten Ranges solche, die sich wie das Ihrige auf fünfzehn Millionen eingebildetes oder wirkliches Kapital belaufen. Daraus geht hervor, fuhr Monte Christo mit unzerstörbarer Ruhe fort, daß ein Haus dritten Ranges mit sechs Monatsschlüssen, wie dieser, im Todeskampfe läge.

 

Wie rasch Sie zu Werke gehen! versetzte Danglars mit bleichem Lächeln.

 

Setzen wir sieben Monate, sagte der Graf mit demselben Tone. Sagen Sie mir, haben Sie zuweilen daran gedacht, daß siebenmal siebzehnhunderttausend Franken ungefähr zwölf Millionen machen? Nein … Nun, Sie haben recht, denn bei dergleichen Betrachtungen würde man nie seine Kapitalien einsetzen, die für den Finanzmann ungefähr das sind, was für den zivilisierten Menschen die Haut ist. Wir besitzen mehr oder minder kostbare Kleider, das ist unser Kredit; doch wenn der Mensch stirbt, hat er nur seine Haut, wie Sie, wenn Sie aus dem Geschäft austreten, nur Ihren wirklichen Besitz, das heißt, höchstens fünf oder sechs Millionen, haben. Von diesen fünf bis sechs Millionen, die Ihr wirkliches Aktivvermögen bilden, haben Sie in jüngster Zeit etwa zwei verloren, ein Verlust, der zugleich Ihr eingebildetes Vermögen, das heißt Ihren Kredit, vermindert; das bedeutet, mein lieber Herr Danglars, Ihre Haut ist durch einen Aderlaß geöffnet worden, der, viermal wiederholt, den Tod nach sich ziehen würde. Ei! ei! nehmen Sie sich in acht, Herr Danglars. Brauchen Sie Geld, soll ich Ihnen leihen?

 

Was für ein schlechter Rechner sind Sie! sagte Danglars, indem er seine ganze Philosophie und seine ganze Verstellungsgabe zu Hilfe rief; zu dieser Stunde ist das Geld durch andere Spekulationen, die mir gelungen sind, wieder in meine Kasse zurückgeflossen; das durch den Aderlaß entzogene Blut hat sich durch Nahrung wieder ersetzt. Ich habe eine Schlacht in Spanien verloren, ich bin in Triest geschlagen worden, doch meine Kriegsflotte in Indien wird wohl einige Gallionen genommen und meine Bergleute in Mexiko werden wohl eine Mine entdeckt haben.

 

Sehr gut! sehr gut! doch die Narbe bleibt und öffnet sich wieder bei dem nächsten Verluste.

 

Nein, ich bin meiner Sache ganz gewiß, fuhr Danglars mit der Alltagsberedsamkeit des Charlatans fort, der gewöhnt ist, seinen Kredit herauszustreichen; um mich zu stürzen, müßten drei Regierungen untergehen. Doch da wir von Geschäften reden, fügte er, froh, einen Grund zur Veränderung des Gespräches zu finden, hinzu, sagen Sie mir doch, was ich für Herrn Cavalcanti tun kann.

 

Geben Sie ihm Geld, wenn er einen Kredit auf Sie hat, und dieser Kredit Ihnen gut scheint.

 

Vortrefflich! er hat sich heute morgen bei mir eingefunden mit einer Anweisung von 40 000 Franken, zahlbar nach Sicht, auf Sie, unterzeichnet Busoni, und durch Sie mit Ihrem Indossement an mich zurückgeschickt; Sie begreifen, daß ich ihm auf der Stelle seine vierzig Scheine auszahlte.

 

Monte Christo machte mit dem Kopfe ein Zeichen, das seine ganze Beistimmung andeutete.

 

Doch das ist noch nicht alles, fuhr Danglars fort; er hat seinem Sohne bei mir einen Kredit eröffnet.

 

Sagen Sie, wieviel gibt er dem jungen Manne, wenn ich, ohne unbescheiden zu sein, fragen darf?

 

5000 Franken monatlich.

 

60 000 Franken jährlich. Ich dachte mir’s, sagte Monte Christo, die Achseln zuckend, die Cavalcanti sind Filze. Was soll der junge Mann mit 5000 Franken monatlich machen?

 

Sie begreifen, wenn er ein Paar tausend Franken mehr braucht …

 

Tun Sie das nicht, der Vater würde Sie nicht entschädigen; Sie kennen diese italienischen Millionäre nicht, es sind wahre Geizhälse. Und durch wen ist dieser Kredit eröffnet worden?

 

Oh! durch das Haus Fenzi, eines der besten in Florenz.

 

Ich will durchaus nicht sagen, daß Sie dabei Gefahr laufen; doch halten Sie sich genau an den Buchstaben des Kreditbriefes.

 

Sie hätten also kein Vertrauen zu diesem Cavalcanti?

 

Ich würde ihm sechs Millionen auf seine Unterschrift geben. Seines gehört zu den Vermögen zweiten Ranges, nach meiner Einteilung, mein lieber Herr Danglars.

 

Und wie einfach ist er dabei! Ich hätte ihn für einen Major gehalten, nichts anderes.

 

Und Sie würden ihm damit, denke ich, noch eine Ehre angetan haben, denn in der Tat, er besticht nicht durch sein Aussehen. Als ich ihn zum erstenmal sah, machte er auf mich den Eindruck eines alten, unter der Epaulette verschimmelten Leutnants. Doch alle Italiener sind so; sie gleichen alten Juden, wenn sie nicht wie die Magier des Orients blenden.

 

Der junge Mann sieht besser aus, sagte Danglars. Ja, vielleicht ein wenig schüchtern, doch im ganzen kam er mir anständig vor. Ich war seinetwegen in Unruhe.

 

Warum?

 

Weil er, als Sie ihn in meinem Hause gesehen haben, wenigstens, wie er mir sagt, eben erst in die Welt eingetreten ist. Er reiste mit einem sehr strengen Hofmeister und war nie in Paris.

 

Alle diese Italiener von Stande haben die Gewohnheit, sich untereinander zu verheiraten, nicht wahr? fragte Danglars scheinbar gleichgültig; sie lieben es, ihre Reichtümer znsammenzuhäufen.

 

Gewöhnlich machen sie es allerdings so; doch Cavalcanti ist ein Original und tut nichts wie die anderen. Ich lasse es mir nicht nehmen, daß er seinen Sohn nach Frankreich schickt, damit er hier eine Fran findet.

 

Und Sie haben von seinem Vermögen sprechen hören?

 

Dies ist eben eine zweifelhafte Sache; die einen gestehen ihm Millionen zu, die andern behaupten, er besitze keinen Heller.

 

Und was ist Ihre Meinung?

 

Darauf können Sie sich nicht stützen, denn sie ist ganz persönlich.

 

Und Sie glauben …

 

Ich glaube, daß alle diese alten Podestas, alle diese ehemaligen Condottieri, denn die Cavalcanti haben Heere befehligt und Provinzen regiert, ich glaube, sage ich, daß sie Millionen in Winkeln vergraben haben, die nur ihre Erstgeborenen kennen und deren Kenntnis so von Geschlecht zu Geschlecht überliefert wird.

 

Das ist gut, rief Danglars, und um so mehr, als man von allen diesen Leuten nicht weiß, ob sie auch nur einen Quadratzoll Land besitzen.

 

Mindestens sehr wenig, ich weiß es wohl, denn ich kenne als Cavalcantis Grundbesitz nur seinen Palast in Lucca.

 

Ah! er hat einen Palast! sagte Danglars lachend, das ist schon etwas.

 

Ja, und er vermietet ihn an den Minister der Finanzen, während er selbst in einem kleinen Häuschen wohnt. Oh! ich habe es Ihnen gesagt, ich halte ihn für einen großen Geizhals.

 

Sie schmeicheln ihm nicht.

 

Hören Sie, ich kenne ihn kaum und habe ihn höchstens dreimal in meinem Leben gesehen; was ich weiß, weiß ich von dem Abbé Busoni und von ihm selbst. Er sprach heute morgen mit mir über seine Absichten mit seinem Sohn und ließ durchblicken, daß er es müde sei, in Italien, das ein totes Land sei, beträchtliche Fonds schlummern zu lassen, und ein Mittel suche, um entweder in Frankreich oder in England seine Millionen nutzbar zu machen. Doch wollen Sie immerhin bemerken, daß ich für nichts stehe, obschon ich zu dem Abbé Busoni persönlich das größte Zutrauen hege.

 

Gleichviel, ich danke Ihnen für den Kunden, den Sie mir zugeschickt haben; es steht ein guter Name mehr in meinen Registern, und mein Kassierer, dem ich erklärte, wie es mit diesem Cavalcanti steht, ist ganz stolz darauf. Doch sagen Sie, – die Frage kommt mir nur eben in den Mund – geben diese Leute ihren Söhnen, wenn sie sie verheiraten, eine Mitgift?

 

Ei, mein Gott! jenachdem. Ich kannte einen italienischen Fürsten, so reich wie ein Goldbergwerk, einen der ersten Namen von Toskana. Verheirateten sich seine Söhne nach seinem Gefallen, so gab er ihnen Millionen; verheirateten sie sich gegen seinen Willen, so beschränkte er sich darauf, ihnen eine Rente von dreißig Talern monatlich auszusetzen. Nehmen wir an, Andrea verheirate sich nach den Ansichten seines Vaters, so wird er ihm vielleicht eine, zwei, drei Millionen geben. Handelte es sich z. B. um die Tochter eines Bankiers, so würde er wohl Teilhaber des Hauses werden. Mißfällt ihm dagegen seine Schwiegertochter, dann gute Nacht! Der Cavalcanti steckt den Schlüssel in seine Kasse, dreht ihn zweimal um, und mein Andrea ist genötigt, davon zu leben, daß er die Karten zeichnet und die Würfel kneipt.

 

Der junge Mann wird eine bayerische oder eine peruanische Prinzessin finden; er wird eine Krone haben wollen.

 

Nein, diese vornehmen Herren heiraten häufig einfache Sterbliche; sie lieben es, das Blut zu mischen. Doch sagen Sie, wollen Sie Andrea verheiraten, lieber Herr Danglars, daß Sie alle diese Fragen an mich stellen?

 

Meiner Treu, es scheint mir keine schlechte Spekulation zu sein, und ich bin ein Spekulant.

 

Aber ich denke, nicht mit Ihrer Fräulein Tochter? Sie wollen doch wohl nicht den armen Andrea von Albert ins Jenseits befördern lassen?

 

Albert, versetzte Danglars die Achseln zuckend, dem liegt gerade etwas daran!

 

Er ist doch der Verlobte Ihrer Tochter?

 

Das heißt, Herr von Morcerf und ich sprachen zuweilen von dieser Heirat, aber Frau von Morcerf und Albert …

 

Halten Sie diesen für keine gute Partie?

 

Jedenfalls denke ich, Fräulein Danglars ist so viel wert wie Herr von Morcerf.

 

Fräulein Danglars‘ Mitgift wird in der Tat nicht übel sein, daran zweifle ich nicht, besonders wenn der Telegraph keine neuen Torheiten begeht.

 

Oh! es handelt sich nicht allein um Mitgift. Aber sagen Sie mir doch bei dieser Gelegenheit, warum haben Sie Morcerf und seine Familie nicht eingeladen?

 

Ich habe dies getan, doch er entschuldigte sich um einer Reise nach Treport mit Frau von Morcerf, der man die Seeluft angeraten habe.

 

Ja, ja, sagte Danglars lachend, die muß ihr wohl gut bekommen? – Warum dies? – Weil es die Luft ist, die sie in ihrer Jugend einatmete.

 

Monte Christo ließ diesen Witz vorübergehen, ohne daß er ihn zu beachten schien.

 

Aber wenn Albert auch nicht so reich ist, wie Fräulein Danglars, sagte der Graf, so können Sie doch nicht leugnen, daß er einen schönen Namen führt?

 

Gerade darum würde ich Herrn Andrea Cavalcanti Herrn Albert von Morcerf vorziehen.

 

Ich denke die Morcerf stehen den Cavalcanti nicht nach, entgegnete Monte Christo.

 

Die Morcerf! … Herr Graf, nicht wahr, Sie sind ein Kenner von Wappen?

 

Ein wenig.

 

Nun wohl, schauen Sie die Farbe des meinigen an; sie ist haltbarer, als die von Morcerfs Wappen.

 

Warum dies?

 

Weil ich, wenn ich auch nicht Baron von Geburt bin, doch wenigstens Danglars heiße, während er nicht Morcerf heißt.

 

Wie, er heißt nicht Morcerf?

 

Keineswegs, mich hat man zum Baron gemacht, und somit bin ich es.

 

Unmöglich.

 

Hören Sie, lieber Graf, fuhr Danglars fort, Herr von Morcerf ist mein Freund, oder vielmehr mein Bekannter seit dreißig Jahren. Wohl! als ich noch ein kleiner Kommis war, war Morcerf ein einfacher Fischer, namens Fernand Mondego.

 

Wissen Sie das sicher?

 

Er hat, bei Gott! Fische genug an mich verkauft, daß ich ihn kenne.

 

Warum würden Sie ihm dann Ihre Tochter geben?

 

Weil Fernand und Danglars beide geadelte, beide reich gewordene etwa gleichwertige Emporkömmlinge sind, abgesehen von gewissen Dingen, die man von ihm gesagt und nie von mir gesehen hat.

 

Ah! ja, ich begreife; was Sie hier sprechen, frischt mein Gedächtnis für den Namen Fernand Mondego auf. Ich habe diesen Namen in Griechenland gehört.

 

In Zusammenhang mit Ali Pascha? – Ganz richtig. – Das ist eben das Geheimnis, und ich gestehe, ich hätte viel darum gegeben, es zu entdecken. – Das wäre nicht schwierig, wenn Sie große Lust dazu hätten. – Wieso? – Ohne Zweifel haben Sie einen Korrespondenten in Janina? – In Janina? Ja! – Gut, so schreiben Sie an ihn und fragen ihn, welche Rolle in der Katastrophe von Ali Tependelini ein Franzose namens Fernand gespielt habe.

 

Sie haben recht! rief Danglars rasch aufstehend; ich will noch heute schreiben.

 

Tun Sie dies. Und wenn Sie irgend eine belastende Nachricht bekommen …

 

So teile ich sie Ihnen mit.

 

Sie werden mir ein Vergnügen bereiten.

 

Danglars eilte aus dem Zimmer und machte gleichsam nur einen Sprung in den Wagen.

 

Das Kabinett des Staatsanwalts.

 

Das Kabinett des Staatsanwalts.

 

Lassen wir den Bankier in scharfem Trabe seiner Pferde nach Hause fahren und folgen Frau Danglars bei ihrem Morgenausfluge. Sie war, wie gesagt, um halb zwei Uhr ausgefahren und ließ bei der Passage du Pout-Neuf halten. Sie stieg aus und ging durch die Passage. Ihre Kleidung war sehr einfach, wie es sich für eine Frau von Geschmack geziemt, wenn sie sich morgens auf der Straße zeigt.

 

In der Rue Génégaut stieg sie in einen Fiaker und bezeichnete als Ziel die Rue de Harlay. Kaum war sie in dem Wagen, als sie aus ihrer Tasche einen sehr dichten schwarzen Schleier zog, den sie an ihrem Strohhute befestigte; dann setzte sie ihren Hut wieder auf und bemerkte mit Vergnügen, als sie sich in einem kleinen Taschenspiegel beschaute, daß man von ihr nichts als ihre weiße Haut und die funkelnden Augensterne sehen konnte. Der Fiaker fuhr zum Justizpalast. Hier eilte Frau Danglars zur Treppe, stieg diese leicht hinauf und gelangte bald in den Saal des Pas-Perdus.

 

Am Morgen gibt es im Justizpalast sehr viel geschäftige Leute, die sich wenig umeinander kümmern. Frau Danglars durchschritt daher den Saal des Pas-Perdus, ohne von andern bemerkt zu werden, als von zwei Frauen, die hier auf ihren Advokaten warteten.

 

Das Vorzimmer des Herrn von Villefort war gedrängt voll von Menschen, doch Frau Danglars hatte nicht einmal nötig, ihren Namen zu nennen. Sobald sie erschien, stand ein Gerichtsdiener auf, ging ihr entgegen und fragte sie, ob sie nicht die Person sei, die der Herr Staatsanwalt beschieden habe. Auf ihre bejahende Antwort führte er sie durch einen besonderen Gang in Herrn von Villeforts Kabinett.

 

Der Beamte schrieb, in seinem Lehnstuhl sitzend, den Rücken der Tür zuwendend. Er hörte die Tür sich öffnen, den Diener die Worte: Treten Sie ein, gnädige Frau! aussprechen und die Tür sich wieder schließen, ohne die geringste Bewegung zu machen. Doch kaum bemerkte er, daß sich die Tritte des Gerichtsdieners verloren, als er sich rasch umwandte, die Riegel vorschob, die Vorhänge herabließ und jeden Winkel des Kabinetts untersuchte. Sobald er Gewißheit erlangt hatte, daß er weder gehört, noch gesehen werden konnte, sagte er: Gnädige Frau, meinen innigen Dank für Ihre Pünktlichkeit. Und er bot Frau Danglars einen Stuhl, den sie annahm, denn ihr Herz schlug so gewaltig, daß sie sich dem Ersticken nahe fühlte.

 

Es ist schon lange, sagte der Staatsanwalt, während er sich Frau Danglars gegenübersetzte, daß ich nicht mehr das Glück gehabt habe, mit Ihnen allein zu sprechen, und zu meinem großen Bedauern finden wir uns wieder zusammen, um eine sehr peinliche Unterredung zu pflegen.

 

Sie sehen jedoch, mein Herr, daß ich auf Ihre erste Aufforderung gekommen bin, obgleich diese Unterredung für mich noch peinlicher sein muß, als für Sie.

 

Es ist also wahr, sagte er, mehr auf seine eigenen Gedanken als auf Frau Danglars‘ Worte erwidernd, daß alle unsere Schritte in diesem Leben dem Zuge der Schlangen auf dem Sande gleichen und eine Furche machen! Ach! für viele ist dies eine Tränenfurche.

 

Mein Herr, sagte Frau Danglars, nicht wahr, Sie begreifen meine Erschütterung? Schonen Sie mich also, ich bitte Sie. Dieses Zimmer, durch das so viele Schuldige zitternd und voll Scham gekommen sind, dieser Stuhl, auf den ich mich ebenfalls beschämt und zitternd setze! … Oh! ich bedarf meiner ganzen Vernunft, um nicht in mir eine sehr schuldige Frau und in Ihnen einen drohenden Richter zu sehen; schon habe ich gestern eine schwere Strafe für meine Schuld erlitten.

 

Arme Frau! sagte Villefort, ihr die Hand drückend. Sie war zu schwer für Ihre Kräfte, denn zweimal waren Sie nahe daran, zu unterliegen, und doch müssen Sie Ihren Mut zusammenraffen, gnädige Frau, denn Sie sind noch nicht am Ziele!

 

Mein Gott! rief Frau Danglars erschrocken, was gibt es denn noch?

 

Sie sehen nur die Vergangenheit, und diese ist allerdings düster. Doch stellen Sie sich eine Zukunft vor, die vielleicht noch viel blutiger ist!

 

Die Baronin kannte Villeforts Ruhe, sie war so erschrocken über seinen gereizten Zustand, daß sie den Mund öffnete, um zu schreien, aber der Schrei erstarb in ihrer Kehle.

 

Wie ist sie wiedererwacht, diese furchtbare Vergangenheit? rief Villefort; wie ist sie aus der Tiefe des Grabes und aus der Tiefe unserer Herzen, wo sie schlummerte, hervorgetreten, einem Gespenst ähnlich, um unsere Wangen erbleichen und unsere Stirnen erröten zu lassen?

 

Ach! ohne Zweifel durch Zufall! sagte Herminie.

 

Durch Zufall! versetzte Villefort: nein, nein, nein, gnädige Frau, es gibt keinen Zufall!

 

Doch wohl; ist es nicht ein Zufall, allerdings ein unseliger, aber immerhin ein Zufall, der dies alles herbeigeführt hat? Hat nicht durch Zufall der Graf von Monte Christo dieses Haus gekauft? Hat er nicht durch Zufall die Erde ausgraben lassen? Ist nicht endlich durch Zufall das unglückliche Kind unter den Bäumen ausgegraben worden? Armes, unschuldiges, mir entsprossenes Geschöpf, dem ich nie einen Kuß geben konnte, während ich ihm viele Tränen weihte. Ach! mein ganzes Herz flog dem Grafen entgegen, als er von der teuren Hülle sprach, die man unter den Blumen fand.

 

Nein, nein, gnädige Frau; das ist es gerade, was ich Ihnen Furchtbares zu sagen habe, erwiderte Villefort mit dumpfer Stimme; nein, man hat keine Hülle unter den Bäumen gefunden; nein, es war dort kein vergrabenes Kind; nein, Sie dürfen nicht weinen; nein, Sie dürfen nicht seufzen, Sie müssen zittern.

 

Was wollen Sie damit sagen? rief Frau Danglars schauernd.

 

Ich will damit sagen, daß Herr von Monte Christo, als er am Fuße der Bäume graben ließ, weder das Skelett eines Kindes, noch die Beschläge einer Kiste finden konnte, weil unter diesen Bäumen weder das eine noch das andere vorhanden war.

 

Es war weder das eine noch das andere vorhanden! wiederholte Frau Danglars, auf den Staatsanwalt Augen heftend, deren furchtbar erweiterter Stern den tiefsten Schrecken andeutete; es war weder das eine noch das andere vorhanden, wiederholte sie noch einmal, wie eine Person, die durch den Klang ihrer Worte und das Geräusch ihrer Stimme ihre Gedanken festzuhalten versucht.

 

Nein! rief Villefort, während er seine Stirn in seine Hände sinken ließ; nein, hundertmal nein … Sie hatten also das arme Kind nicht dort niedergelegt, mein Herr? Warum täuschten Sie mich, sprechen Sie, in welcher Absicht taten Sie dies?

 

Hören Sie mich, gnädige Frau, und Sie werden mich beklagen, mich, der ich zwanzig Jahre lang, ohne den geringsten Teil auf Sie zu werfen, eine Last von Schmerzen getragen habe. Sie wissen, wie jene schmerzhafte Nacht verging, wo Sie, mit dem Tode ringend, auf Ihrem Bette in jenem Zimmer von rotem Damast lagen, während ich, fast ebenso keuchend wie Sie, Ihre Entbindung erwartete. Das Kind kam, wurde mir ohne Bewegung, ohne Atem, ohne Stimme übergeben, wir hielten es für tot.

 

Frau Danglars machte eine rasche Bewegung, als wollte sie vom Stuhle aufspringen. Doch Villefort hielt sie zurück, indem er, die Hände faltend, sie gleichsam um Aufmerksamkeit anflehte.

 

Wir hielten es für tot, wiederholte er; ich legte es in ein Kistchen, das den Sarg ersetzen sollte, ging in den Garten, grub ein Grab und verscharrte es in Eile. Kaum hatte ich das Kistchen mit Erde bedeckt, als sich der Arm des Korsen nach mir ausstreckte. Ich sah es wie einen Schatten sich emporrichten, wie einen Blitz leuchten. Ich fühlte einen Schmerz, ich wollte schreien, ein eisiger Schauer durchlief meinen ganzen Leib und schnürte mir die Kehle zusammen. Ich glaubte, meine letzte Minute sei gekommen, und brach zusammen. Nie werde ich Ihren erhabenen Mut vergessen, als ich mich, wieder zu mir gekommen, mit der größten Anstrengung bis unten an die Treppe schleppte, und Sie mir, selbst sterbend, entgegenkamen. Wir mußten völliges Stillschweigen über diese Katastrophe beobachten; Sie kehrten, von Ihrer Amme unterstützt, in Ihr Haus zurück; ein Duell diente als Vorwand für meine Wunde. Gegen alle Erwartung blieb unser Geheimnis bewahrt. Drei Monate lang kämpfte ich gegen den Tod; endlich, da ich wieder zum Leben zurückzukehren schien, verordnete man mir die Sonne und die Luft des Südens. Ich wurde nach Marseille gebracht, und Frau von Villefort folgte mir. Meine Wiedergenesung dauerte zehn Monate; ich hörte nichts von Ihnen und wagte nicht, mich zu erkundigen, was aus Ihnen geworden sei. Als ich nach Paris zurückkehrte, erfuhr ich, Sie hätten nach Herrn von Nargonnes Tode Herrn Danglars geheiratet.

 

Woran hatte ich, seitdem bei mir das Bewußtsein wiedergekehrt war, gedacht? Immer an dasselbe, immer an den Leichnam des Kindes, der jede Nacht in meinen Träumen dem Schoße der Erde entstieg und, mich mit Blick und Gebärde bedrohend, über dem Grabe schwebte. Kaum war ich nach Paris zurückgekehrt, als ich mich erkundigte; das Haus war, seitdem wir es verlassen, nicht wieder bewohnt, jedoch kurz zuvor auf neun Jahre vermietet worden. Ich suchte den Mieter auf, ich stellte mich, als hätte ich ein großes Verlangen, dieses Haus, das dem Vater und der Mutter meiner Frau gehörte, nicht in fremde Hände übergehen zu sehen, ich bot eine Entschädigung, wenn man den Vertrag aufheben wolle. Man verlangte 6000 Franken von mir; ich hätte 10, ja 20 000 gegeben. Ich trug die Summe bei mir, ließ auf der Stelle den Rücktritt unterzeichnen und ritt, sobald ich die ersehnte Abtretung in Händen hatte, im Galopp nach Auteuil. Niemand hatte das Haus betreten, seitdem ich es verlassen hatte. – Es war fünf Uhr nachmittags; ich ging in das rote Zimmer und wartete die Nacht ab. Alles, was ich mir seit einem Jahre in beständigem Todeskampfe sagte, stellte sich hier bedrohlicher vor mich als je in meinen Gedanken.

 

Der Korse, der mir die Vendetta erklärt hatte, der mir von Nimes nach Paris gefolgt war, der sich im Garten verborgen, mir den Stoß versetzt, mich das Grab hatte bereiten sehen, er hatte auch gesehen, wie ich das Kind verscharrt; es konnte ihm gelingen, Sie kennen zu lernen; er kannte Sie vielleicht bereits … Würde er sich nicht eines Tages das Geheimnis dieser furchtbaren Geschichte bezahlen lassen? … Wäre es nicht für ihn eine süße Rache, wenn er erführe, sein Dolchstich habe mich nicht getötet? Es war daher vor allem dringend, daß ich unter jeder Bedingung die Spuren der Vergangenheit verschwinden ließ. Aus diesem Grunde hob ich den Mietsvertrag auf, deshalb war ich gekommen, deshalb wartete ich.

 

Als die Nacht dicht und düster genug geworden war, ging ich ans Werk. Ich stand ohne Licht in jenem Zimmer, wo Windstöße die Türvorhänge zittern ließen, hinter denen ich beständig irgend einen verborgenen Spion zu sehen glaubte: von Zeit zu Zeit bebte ich, es kam mir vor, als hörte ich hinter mir, in jenem Bette, Ihre Klagen, und ich wagte nicht, mich umzuwenden. Mein Herz pochte laut, und ich fühlte es so heftig schlagen, daß ich glaubte, meine Wunde wolle sich wieder öffnen; endlich schienen alle Geräusche umher erstorben zu sein. Ich sah, daß ich nichts mehr zu befürchten hatte, daß ich weder gesehen, noch gehört werden konnte, und entschloß mich, hinabzugehen.

 

Hören Sie, Herminie, ich hielt mich für so mutig, wie ein Mann sein kann; als ich aber aus meiner Brusttasche jenen kleinen Treppenschlüssel hervorzog, jenen Schlüssel, den wir beide so sehr liebten, und den Sie an einem goldenen Ring befestigen ließen, – als ich die Tür öffnete, als ich den bleichen Mond einen langen Streifen weißen Lichtes, einem Gespenste ähnlich, durch die Fenster auf die schneckenförmigen Stufen werfen sah, da hielt ich mich an der Mauer und war nahe daran, zu schreien. Es war mir, als würde ich verrückt.

 

Es gelang mir, wieder meiner Herr zu werden. Ich stieg Stufe für Stufe die Treppe hinab; das einzige, was ich nicht zu überwinden vermochte, war ein seltsames Zittern in den Knien. Ich hielt mich an dem Geländer, hätte ich es nur einen Augenblick losgelassen, so wäre ich hinabgestürzt. Ich gelangte an die untere Tür. Außen lehnte ein Spaten an der Mauer; ich nahm ihn und schritt dem Gebüsche zu. Ich hatte mich mit einer Blendlaterne versehen; mitten auf dem Rasen blieb ich stehen, um sie anzuzünden, und setzte dann meinen Weg fort. – Der November war seinem Ende nahe; alles Grüne des Gartens war verschwunden, und das dürre Laub raschelte mit dem Sande unter meinen Tritten. Die Angst schnürte mir so gewaltig das Herz zusammen, daß ich, als ich mich den Bäumen näherte, eine Pistole aus der Tasche zog und den Hahn spannte. Beständig glaubte ich die Gestalt des Korsen durch die Zweige zu sehen.

 

Ich beleuchtete das Gebüsch mit meiner Blendlaterne; es war leer; ich schaute rings umher und fand mich allein; kein Geräusch störte die Stille der Nacht. Das Gras war den Sommer hindurch hier sehr hoch gewachsen, und niemand hatte es gemäht. Eine weniger bewachsene Stelle fesselte meine Aufmerksamkeit; hier hatte ich offenbar die Erde ausgegraben.

 

Ich schritt zum Werke. Endlich war ich zu dem Ziele gelangt, das ich seit mehr als einem Jahr ersehnte! Doch wie ich auch hoffte, wie ich arbeitete, wie ich jedes Stückchen Rasen untersuchte, im Glauben, ich würde am Ende meines Spatens Widerstand finden … nichts! Und ich machte doch ein Loch, zweimal so groß, als das erste gewesen war. Ich glaubte mich in der Stelle getäuscht zu haben, ich schaute mich um, ich betrachtete die Bäume, ich suchte die einzelnen Gegenstände, die mir früher in das Auge gefallen waren, wiederzuerkennen.

 

Ein kalter, scharfer Wind strich durch die entblätterten Zweige, und dennoch floß der Schweiß von meiner Stirn. Ich erinnerte mich, daß ich den Dolchstoß in dem Augenblick erhalten hatte, wo ich die Erde einstampfte, um das Grab wieder zu füllen. Beim Einstampfen hielt ich mich an einer Bauhinie; hinter mir war ein künstlicher Fels, der als Bank diente, denn als ich niedersank, fühlte meine Hand, die den Baum losgelassen hatte, diesen Stein. Zu meiner Rechten war die Bauhinie, hinter mir der Fels; ich fiel, indem ich mich setzen wollte; ich stand wieder auf und fing an, aufs neue zu graben und das Loch zu erweitern; – nichts, abermals nichts; das Kistchen war nicht da.

 

Das Kistchen war nicht da? murmelte Frau Danglars, vom Schrecken beinahe erstickt.

 

Glauben Sie nicht, daß ich mich auf diesen ersten Versuch beschränkte, fuhr Villefort fort, nein, ich durchwühlte das ganze Gebüsch; ich dachte, der Mörder habe im Glauben, es sei ein Schatz, das Kistchen ausgegraben, sodann, nachdem er seinen Irrtum wahrgenommen, selbst ein anderes Loch gemacht, und es dort hineingelegt … nichts! Dann kam mir der Gedanke, er sei nicht so vorsichtig zu Werke gegangen, und habe das Kistchen in einen Winkel geworfen. Um dies feststellen zu können, mußte ich aber den Tag abwarten. Ich ging wieder ins Zimmer hinauf und wartete. Bei Tagesanbruch ging ich abermals hinab. Zuerst begab ich mich wieder zu der Baumgruppe, wo ich Spuren zu finden hoffte, die mir in der Dunkelheit entgangen wären. Ich hatte die Erde in einer Oberfläche von mehr als zwanzig Quadratfuß und zwei Fuß tief umgewühlt. Es war ein reichliches Tagewerk eines bezahlten Arbeiters, was ich in einer Stunde getan hatte. Nichts, ich sah nicht das geringste.

 

Dann forschte ich nach, ob das Kistchen vielleicht weggeworfen worden sei. Es mußte dies auf dem Wege geschehen sein, der zu der kleinen Ausgangstür führte; aber diese neue Nachforschung war ebenso vergeblich, wie die erste, und mit gepreßtem Herzen kehrte ich zu der Baumgruppe zurück.

 

Oh! das war, um wahnsinnig zu werden! rief Frau Danglars.

 

Ich hoffte dies einen Augenblick, aber ich war nicht so glücklich, sagte Villefort. Indem ich aber meine Kräfte und damit meine Gedanken zusammenraffte, fragte ich mich: Warum sollte dieser Mensch den Leichnam mitgenommen haben?

 

 

Sie sagten ja selbst, um einen Beweis zu haben, versetzte Frau Danglars. Nein, das konnte es nicht mehr sein; man behält einen Leichnam nicht ein Jahr lang, man zeigt ihn einem Beamten, man macht seine Anzeige; doch nichts von dem war geschehen, Nun, und also? fragte Herminie stammelnd.

 

Dann gibt es noch etwas Furchtbareres, Unseligeres, Schrecklicheres für uns: das Kind lebt vielleicht, und der Mörder hat es gerettet.

 

Frau Danglars stieß einen gräßlichen Schrei aus, ergriff Villefort bei den Händen und sagte: Mein Kind lebte! Sie haben mein Kind lebendig begraben! Sie wußten nicht gewiß, ob es tot war, und begruben es! oh! …

 

Frau Danglars hatte sich aufgerichtet und stand drohend vor dem Staatsanwalt, dessen Fäuste sie mit ihren zarten Händen preßte.

 

Was weiß ich? Ich sage Ihnen dies, wie ich etwas anderes sagen würde, erwiderte Villefort mit einer Starrheit des Blickes, die andeutete, daß dieser kraftvolle Mann nahe daran war, die Grenzen der Verzweiflung und des Wahnsinns zu erreichen.

 

Oh! mein Kind, mein armes Kind! rief die Baronin, auf ihren Stich! zurücksinkend und ihr Schluchzen in ihrem Taschentuche erstickend.

 

Villefort kam wieder zu sich, er fühlte, daß er, um den mütterlichen Sturm abzuwenden, der sich über seinem Haupte sammelte, bei Frau Danglars den Schrecken, den er selbst fühlte, wirken lassen mußte.

 

Sie begreifen, wenn sich die Sache so verhält, sagte er, ebenfalls aufstehend und sich der Baronin nähernd, um leiser mit ihr zu sprechen, Sie begreifen, dann sind wir verloren! Dieses Kind lebt, es weiß jemand, daß es lebt, es ist jemand im Besitze unseres Geheimnisses, und da Monte Christo von einem Kinde spricht, das an einer Stelle vergraben worden sein soll, wo dieses Kind nicht war, so besitzt er dieses Geheimnis.

 

Gott! gerechter Gott! rächender Gott! Villefort antwortete nur durch eine Art von Röcheln.

 

Doch dieses Kind, mein Herr, dieses Kind? versetzte hartnäckig die Mutter.

 

Oh! wie habe ich es gesucht! erwiderte Villefort, die Hände ringend; wie oft habe ich es in meinen langen, schlaflosen Nächten gerufen! Wie oft habe ich mir einen königlichen Reichtum gewünscht, um einer Million Menschen eine Million Geheimnisse abzukaufen und das meinige darunter zu finden! Eines Tages endlich, als ich zum hundertsten Male den Spaten nahm, fragte ich mich auch zum hundertsten Male, was der Korse mit dem Kinde habe tun können? Ein Kind setzt einen Flüchtigen in Verlegenheit; vielleicht hatte er es, als er wahrnahm daß es noch lebte, in den Fluß geworfen.

 

Unmöglich! rief Frau Danglars; man ermordet einen Menschen aus Rache, aber man ertränkt nicht ein Kind mit kaltem Blute.

 

Vielleicht hatte er es zu den Findelkindern gebracht.

 

Oh! ja, ja, mein Kind ist dort.

 

Ich lief in das Hospiz und erfuhr, daß man in eben dieser Nacht, in der Nacht vom 20. September, ein Kind dort niedergelegt hatte; es war in die Hälfte einer absichtlich zerrissenen Serviette von feiner Leinwand eingewickelt. Diese Hälfte der Serviette zeigte die Hälfte einer Baronenkrone und den Buchstaben H.

 

So ist es, so ist es! rief Frau Danglars, alle meine Wäsche war so gezeichnet. Herr von Nargonne war Baron, und ich heiße Herminie. Ich danke Gott, mein Kind war nicht tot! – Nein, es war nicht tot. –

 

Und Sie sagen mir das! Sie sagen es, ohne zu befürchten, ich werde vor Freude sterben! Wo ist es? Wo ist mein Kind?

 

Villefort zuckte die Achseln und erwiderte: Weiß ich es? Glauben Sie, wenn ich es wüßte, ließe ich Sie alles dies durchmachen? Nein, ach! nein, ich weiß es nicht. Eine Frau war ungefähr sechs Monate zuvor, um das Kind zurückzufordern, mit der andern Hälfte der Serviette gekommen. Die Frau hatte alle vom Gesetze vorgeschriebenen Garantien geliefert, und man gab es ihr.

 

Sie hätten sich nach dieser Frau erkundigen, sie entdecken müssen.

 

Und glauben Sie, ich hätte das nicht getan? Ich schützte eine Kriminaluntersuchung vor und ließ durch alles, was die Polizei an geschickten Spürhunden, an gewandten Agenten besitzt, Nachforschungen anstellen. Man fand ihre Spur bis Chalons; in Chalons hat man sie verloren.

 

Frau Danglars hatte jeden einzelnen Umstand dieser Erzählung mit einem Seufzer, mit einer Träne, mit einem Schrei begleitet.

 

Und das ist alles? sagte sie, und hierbei ließen Sie es bewenden?

 

Oh! nein, erwiderte Villefort, ich habe nie aufgehört, zu suchen, mich zu erkundigen, nachzuforschen. Erst seit ein paar Tagen ließ ich ein wenig nach. Heute aber will ich mit mehr Beharrlichkeit und Schärfe als je wieder anfangen, und es wird mir gelingen, denn es ist nicht das Gewissen, was mich antreibt, sondern die Furcht.

 

Der Graf von Monte Christo weiß nichts, entgegnete Frau Danglars, sonst würde er Sie nicht so bevorzugen und zu gewinnen suchen, wie er dies tut.

 

Oh! die Bosheit der Menschen ist sehr tief, denn sie ist tiefer, als die Güte Gottes. Haben Sie die Augen dieses Mannes wahrgenommen, während er mit uns sprach? – Nein.

 

Haben Sie ihn zuweilen genauer betrachtet?

 

Er ist allerdings bizarr, mehr nicht; nur ist mir aufgefallen, daß er von dem ganzen kostbaren Mahle, das er uns vorgesetzt hat, nicht das geringste berührte.

 

Ja! ja! bestätigte Villefort. Ich habe dies ebenfalls bemerkt. Wenn ich gewußt hätte, was ich jetzt weiß, würde ich auch nichts berührt haben; ich hätte geglaubt, er wolle uns vergiften. Und Sie hätten sich getäuscht, wie Sie sehen.

 

Ja wohl; doch glauben Sie mir, dieser Mensch hat andere Pläne. Deshalb wollte ich Sie sehen, deshalb bat ich Sie um eine Unterredung, deshalb wollte ich Sie vor aller Welt und besonders vor ihm warnen. Sagen Sie mir, fuhr Villefort, seine Augen noch schärfer als bis jetzt auf die Baronin heftend, fort, Sie haben mit niemand von unserer Verbindung gesprochen?

 

Niemals mit irgend einem Menschen.

 

Sie verstehen mich, ich sage mit niemand? sagte Villefort liebevoll; verzeihen Sie mir diese dringende Frage, nicht wahr, mit niemand auf der ganzen Welt?

 

Oh! ja, ja, ich verstehe sehr gut, sagte die Baronin errötend, niemals, ich schwöre es Ihnen.

 

Sie haben nicht die Gewohnheit, am Abend aufzuschreiben, was am Morgen vorgefallen ist? Sie führen kein Tagebuch?

 

Nein! Ach! vom Leichtsinn fortgerissen, vergesse ich selbst mein vergangenes Leben.

 

Sie träumen nicht laut, soviel Sie wissen?

 

Ich habe den Schlaf eines Kindes; erinnern Sie sich dessen nicht mehr?

 

Purpur stieg in das Gesicht der Baronin, und Blässe übergoß Villeforts Antlitz.

 

Es ist wahr, sagte er so leise, daß man es kaum hörte.

 

Nun? fragte die Baronin.

 

Nun! ich sehe, was ich zu tun habe, versetzte Villefort; ehe acht Tage vergehen, weiß ich, wer Herr von Monte Christo ist, woher er kommt, wohin er geht, und warum er in unserer Gegenwart von Kindern spricht, die man in seinem Garten begräbt.

 

Villefort sprach diese Worte mit einem Tone, der den Grafen hätte schaudern lassen, wenn er ihn hätte hören können. Dann drückte er die Hand, die ihm die Baronin nur mit Widerstreben gab, und geleitete sie achtungsvoll bis an die Tür.