11. Kapitel. Karl II. in London

Monks Rückkehr ins Lager war für das ganze Heer ein freudiges Ereignis, denn man hatte ihn schon tot geglaubt. Die Stabsoffiziere umringten ihn, er aber schien sich zu ärgern über die große Freude, die ringsum herrschte. – »Wozu diese Aufregung?« rief er. »Habe ich denn von Schritt und Tritt Rechenschaft abzulegen?« – »Aber, Herr General,« antwortete ein Oberst, »die Herde kann in Schrecken geraten, wenn der Hirt fehlt.« – »Hol euch alle der Teufel,« versetzte Monk. »wenn ihr in Angst und Schrecken verfallt, sobald ich mal nicht da bin.« – Darauf zog er sich in sein Zelt zurück und kam erst nach ein paar Stunden wieder zum Vorschein, um einen Rundgang durch das Lager zu machen und seine und des Feindes Lage zu rekognoszieren. D’Artagnan begleitete ihn, und der General fand großes Gefallen an der Art und Weise, wie der kriegskundige Franzose die Mängel der feindlichen Stellung erörterte und den in Monks Schar herrschenden Geist pries.

Am folgenden Tage wurde zwischen Monk und Lambert ein Waffenstillstand vereinbart, der aber dem letzteren fast noch verhängnisvoller wurde, als eine offene Schlacht hätte werden können. Täglich liefen ganze Scharen von seinen Soldaten zu Monk über. Die Desertion griff in riesigem Maße um sich, und Lambert, der mit der Zuversicht ausgerückt war, Monks ganzes Heer zu verschlingen, sah seine Armee von Tag zu Tag in erschreckender Weise zusammenschrumpfen. Ehe der Waffenstillstand abgelaufen war, mußte er seine Sache verloren geben. Monk hatte einen Sieg errungen, der ebenso vollständig wie unblutig war. Das Lager wurde abgebrochen, der Marsch nach London angetreten. Mehr als je war nun Monk der Liebling des Parlaments, mehr als je war die große Menge des Volkes bereit, allen Entschließungen dieses erfolgreichen Verteidigers zuzustimmen. Und nun tat Monk jenen großen Wurf, der ihn für alle Zeiten in die glorreiche Reihe der Helden der Weltgeschichte stellt. Er vertrieb den Rest der Lambertschen Partei aus London und schlug sein Hauptquartier mitten in der Stadt auf. In einer Sitzung des Parlaments erklärte er, diese Regierungsform genüge nicht mehr den Bedürfnissen der Zeit und gebe keine Gewähr für eine gedeihliche Entwicklung des Staates. Diese Erklärung gab er unter dem Schutze von 50 000 Soldaten ab, und die Mehrzahl der Bevölkerung, 500 000 Bürger, stimmten ihm ohne weiteres bei. Umringt von einer jubelnden Menge, hielt er auf offener Straße hoch zu Roß.

»Bürger und Brüder!« rief er aus. »Karl II. betritt eben den Boden seines Landes. Ich ziehe ihm mit meinen Soldaten entgegen, um ihn zu empfangen und nach London zu geleiten. Wer mir ergeben ist, der folge mir!« – Und sie folgten ihm alle. – »Potzblitz!« murmelte d’Artagnan, der an seiner Seite hielt, »das war ein kühnes Wagestück.« – »Und auf solche verstehen Sie sich ja gut,« antwortete Monk und spielte damit zum erstenmal auf den Handstreich des Chevaliers an. – »Darf ich wissen, welche schriftliche Botschaft Sie dem Grafen de la Fère nach Holland mitgegeben haben?« fragte d’Artagnan. – »Ich habe kein Geheimnis vor Ihnen, lieber Chevalier,« sagte Monk. »Ich schrieb nur die Zeilen: In sechs Wochen erwarte ich Eure Majestät in Dover.«

*

König Karl hielt mit großem Pomp seinen Einzug in London. Er hatte seine Brüder zu sich gerufen und brachte Mutter und Schwester mit. Die Wiedereinsetzung des angestammten Herrscherhauses war ein Fest für alle drei Königreiche, obgleich das Volk Karl II. nur als den Sohn eines vom Volk gemordeten Mannes kannte. Der Zug war überaus prächtig, und schönstes Wetter begünstigte die Feier. Unter den englischen Trachten und Uniformen fiel die eines französischen Leutnants auf, der mit unverhohlener Ironie in das Treiben blickte und oftmals mit einem fast spöttischen Lächeln nach dem König selbst hinblickte.

»Fürwahr,« dachte d’Artagnan bei sich – denn er war dieser Franzose, »sie überschütten ihn mit Blumen. Wäre er zwei Monate eher gekommen, hätten sie ihn mit Bleikugeln überschüttet. Mich halten die Leute entschieden für etwas ganz Geringes. Für etwas Hohes halten sie nur den König, obwohl er zwölf Jahre verbannt war und fast das Leben eines Bettlers führen mußte. Allenfalls auch noch den General Monk, obgleich er die Reise nach dem Kontinent in einer Kiste gemacht hat.«

Während er solchen Gedanken nachhing, faßte ihn jemand von hinten am Arm. »Athos!« rief er aus. »Sie hier! Warum sind Sie nicht beim Gefolge? Warum reiten Sie nicht an der linken Seite des Königs wie General Monk an der rechten. Sie haben ihm doch ebenso große Dienste geleistet.« – »Ich gehöre nicht zum Gefolge und stehe nicht im Dienste des Königs,« antwortete Athos. »Als Repräsentant Frankreichs aber mich neben ihm zu zeigen, bin ich nicht befugt. Doch mir scheint gar, die glückliche Rückkehr Karls II. stimmt Sie traurig, statt Sie zu erfreuen. Dabei haben Sie in dieser Sache doch ebensoviel getan wie ich.« – »Wahrhaftig?« versetzte d’Artagnan. »Nun, soviel ich sehe, denkt kein Mensch mehr daran. Sie haben vollständig recht, obwohl ich mich nicht gern selbst lobe. Aber wenn alle andern meine Verdienste immer wieder vergessen, so kann ich selbst sie schon einmal ins rechte Licht rücken. Wenn ich General Monk nicht nach Holland geschleppt hätte, würde der König keine Gelegenheit gehabt haben, sich großmütig gegen ihn zu zeigen, und durch diese Großmut allein hat er Monk bewogen, für ihn einzutreten. Das ist sonnenklar, aber ebenso klar ist es, daß ich nun wieder abreise und daß der arme Planchet mir fluchen wird, weil ich ihn um einen Teil seines Vermögens gebracht habe.«

»Ei, was hat denn Planchet damit zu tun?« fragte Athos erstaunt. – »Lieber Freund, Monk bildet sich ein, den König zurückgerufen zu haben, Sie bilden sich ein, ihm die größte Hilfe geleistet zu haben, ich bilde mir ein, ebensosehr daran beteiligt gewesen zu sein, und er selbst bildet sich ein, durch geschickte Unterhandlung wieder auf den Thron gelangt zu sein – aber das alles ist nicht wahr. Die Wahrheit ist, der stolze König Karl II. ist durch einen ganz simpeln Tütchenkrämer namens Planchet wieder zu Ehren und Würden gelangt, denn wenn dieser Tütchenkrämer mir nicht 40 000 Livres zur Verfügung gestellt hätte, würde ich nie imstande gewesen sein, auf die Jagd nach dem General Monk zu ziehen.«

»Lieber Freund, sind Sie denn nicht mehr Philosoph?« entgegnete Athos. »Freut es Sie denn nicht, mir das Leben gerettet zu haben, als die verteufelten Parlamentssoldaten mich bei lebendigem Leibe braten wollten?« – »Gestehen Sie nur, es wäre Ihnen nicht so unrecht geschehen,« antwortete der Chevalier. – »Wie? wo ich doch dem König die Million gerettet habe!« – »Was für eine Million?« – »Nun, das letzte Geld Karls I., das er mir in seiner Todesstunde anvertraute.« – »So hat Karl II. eine Million? Dann sind Sie wohl Schatzmeister des Königs?« – »Meiner Treu, nein! Uebrigens ist die Million schon längst alle, sie hat sich in Samt und Seide und allerlei andere schöne Sachen aufgelöst.« – »Nicht Schatzmeister?« fragte d’Artagnan, »und auch überhaupt nicht bei Hofe? Dann hat der König gewiß auch Sie schon wieder vergessen. Mich sollte es nicht wundern. Man ist’s allmählich gewöhnt geworden.«

»Er hat uns beide nicht vergessen, lieber Freund!« antwortete der Graf. »Und damit Sie über Ihre traurige Stimmung hinwegkommen, so begleiten Sie mich in mein Gasthaus. Wir trinken zusammen eine Flasche, gedenken der vergangenen Tage und richten einen heiteren Blick auf die Zukunft, die Ihnen wahrlich zu Unrecht so düster erscheint.« – D’Artagnan folgte ihm, und als er in Athos‘ Zimmer stand und sich umsah, rief er plötzlich: »Potzblitz! Das ist ja das Gasthaus ›Zum Hirschgeweih! ‹ Das ist ja dieselbe Stube –« – »Ja,« antwortete der Graf lächelnd, »das ist dieselbe Stelle, wo ich todmüde und verzweifelnd niedersank, als Sie am 31. Januar abends zurückkamen.« – »Nachdem ich die Wohnung des maskierten Henkers ausgekundschaftet hatte. Ja, das war ein entsetzlicher Tag!« Und der alte Haudegen sah sich mit Rührung in dem Gemach um, aber es hatte sich sehr verändert. Denn der ehemalige Wirt war reich geworden und hatte sich zur Ruhe gesetzt; der neue Besitzer hatte das Haus den Ansprüchen der Gegenwart entsprechend umgestalten lassen. Nur die alte Landkarte, die Porthos in seinen Mußestunden so gern studiert hatte, hing noch an der Wand. – »Elf Jahre sind seitdem verflossen!« murmelte d’Artagnan. »Mir ist’s, als wäre es eine Ewigkeit!« – »Und mir ist’s, als sei alles erst gestern gewesen,« antwortete Athos lachend. »Wie freue ich mich, daß Sie bei mir sind, und daß wir mal eine Flasche Sherry leeren können, ohne wie die Windhunde auf der Lauer liegen zu müssen. Ach, säße doch auch Rudolf, mein geliebter Rudolf, jetzt bei uns!«

Während sie beim Glase saßen, trat der Wirt heran und überreichte Athos einen Brief. – »Von Parry!« sagte dieser. »Sehen Sie, d’Artagnan, der König denkt an uns.« – »Das würde höchstens beweisen, daß er an Sie denkt,« versetzte der Chevalier mißmutig. »Lesen Sie!« Athos öffnete das Schreiben; es lautete: »Herr Graf! – Der König hat es tief bedauert, daß Sie heute beim Einzuge nicht an seiner Seite waren. Er erwartet Sie heute abend zwischen neun und elf im Saint-James-Palast.« – »Sie haben schon immer mehr Glück gehabt als ich,« sagte d’Artagnan bitter. – »Aber, lieber Freund, ich nehme Sie selbstverständlich mit,« rief Athos. Ich werde dem König sagen –« – »Nein, nein,« unterbrach ihn der andere mit Stolz, »wenn es etwas Schlimmeres gibt, als selbst betteln, so ist es, durch andere betteln lassen.«

In diesem Augenblick trat der Wirt abermals ein und überreichte einen zweiten Brief, der an d’Artagnan adressiert war und die Worte enthielt: »Herr Chevalier! Der König hat Sie heute in seinem Gefolge vermißt. Und ich ebenfalls. Majestät erwartet mich heute abend um neun im Saint-James-Palast. Ich fordere Sie auf, mich zu begleiten. Die Audienz ist bewilligt. Monk.«

*

Die beiden Freunde gingen zusammen zum Palast. Die Korridore waren von Höflingen und Bittstellern angefüllt. Alle Anwesenden musterten mit Erstaunen die fremden Gewänder der unbekannten Männer, deren edle, ausdrucksvolle Züge allgemein auffielen. Am Ende des Korridors entstand eine Bewegung. General Monk erschien in Begleitung von zwanzig Offizieren. Sofort war er von einer Schar von Höflingen umringt, die sich durch ihn den Weg zur königlichen Gunst zu bahnen gedachten.

»Sie vergessen, meine Herren,« sagte er in der ihm eignen Derbheit, »ich bin nichts mehr. Vor kurzem noch befehligte ich die Armee der Republik, jetzt aber habe ich den Oberbefehl an den König abgetreten.«

Nach einem Weilchen öffnete sich die Tür der Innengemächer, und Karl II. erschien auf der Schwelle und fragte nach dem General. Als er ihn erblickte, eilte er auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. »General,« rief er laut, »ich habe eben das Diplom unterzeichnet, das Sie zum Herzog von Albemarle ernennt. Es ist mein Wille, daß in meinem Reiche keiner Ihnen an Macht und Reichtum gleichkomme; denn keiner, den edlen Montrose ausgenommen, ist Ihnen an Redlichkeit, Mut und Begabung gleich. Meine Herren, der Herzog von Albemarle ist Oberbefehlshaber unserer Land- und Seemacht. Sie haben ihm, meine Herren, Folge zu leisten.« – Während die Anwesenden sich tief verneigten, raunte d’Artagnan dem Grafen zu: »Sollte man es glauben, daß dieses Herzogtum und dieser Oberbefehl zu Wasser und zu Lande in einer sechs Fuß langen und drei Fuß breiten Kiste Platz gehabt hat?« – »Freund, es haben noch weit imposantere Größen in noch weit kleineren Kisten – und zwar für immer – Platz,« murmelte Athos.

Der König schritt weiter, und Monk trat zu den beiden Franzosen. »Sie haben ja Audienz,« sagte er. »Treten Sie in dieses Kabinett.« – In diesem Augenblick sah der König sie und eilte herbei. »O, meine Franzosen!« rief er. »Nein, Monk, gleich in mein Arbeitszimmer! Ich habe jetzt Zeit für diese Herren.« – Er entließ sein Gefolge und trat mit den beiden Freunden ein. – »Herr Chevalier d’Artagnan,« begann er, »es freut mich, Sie wiederzusehen. Sie haben mir einen sehr wichtigen Dienst geleistet, und ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Wenn ich nicht fürchtete, die Befugnisse meines Oberbefehlshabers zu beeinträchtigen, so würde ich Ihnen in meiner Umgebung einen Ihrer würdigen Posten verleihen.« – »Majestät,« antwortete d’Artagnan, »als ich aus französischen Diensten schied, habe ich gelobt, nie einem andern König zu dienen.« – »Schade,« sagte der König. »Ich hätte gern viel für Sie getan. Sie gefallen mir. Sehr schade – doch ist dann ja wohl nicht weiter darüber zu reden,« und er überließ d’Artagnan einer schmerzlichen Enttäuschung. – »Worte! Worte! Hofweihwasser, ich wußte es wohl!« murmelte dieser. »Könige haben ein großes Talent, Anerbietungen zu machen, von denen sie im voraus wissen, daß man sie ablehnen muß. Das ist eine billige Weise, sich großmütig zu zeigen. O, wie dumm von mir, auch nur aus einen Augenblick Hoffnung zu hegen.«

Der König hatte sich inzwischen an Athos gewendet. »Graf, Sie waren mir ein zweiter Vater und haben mir einen unbezahlbaren Dienst geleistet. Mein Vater hat Sie schon zum Ritter des Hosenbandordens ernannt; das ist eine Ehre, deren sich nicht einmal alle Könige Europas rühmen können. Desgleichen tragen Sie den Orden vom heiligen Geiste; ich füge nun noch den des Goldenen Vlieses hinzu.« Mit diesen Worten nahm er den Orden von seinem eignen Halse und hängte ihn dem knieenden Athos um. »Herr Herzog,« wendete der König sich abermals an Monk, »ich vergaß noch eins: Sie sind zum Vizekönig von Irland und Schottland ernannt.« – Der Herzog ergriff des Königs Hand, tiefbewegt durch diese Gunstbezeugung, die alle seine Erwartungen, wenn er überhaupt solche gehegt hatte, weit übertraf. »Und nun wäre nur noch eins zu erledigen. Sie wohnen mit dem Chevalier d’Artagnan zusammen, nicht wahr?« – »Ja, ich bot ihm ein Zimmer in meinem Hause an,« sagte Monk. – »Und das ist auch in der Ordnung,« meinte der König lächelnd. »Sie sind ja noch immer der Gefangene des Chevaliers. Aber seien Sie ohne Sorge, ich werde Ihr Lösegeld bezahlen.« – D’Artagnan spitzte die Ohren, seine Augen leuchteten wieder. – »Der General,« fuhr Karl II. fort, »ist nicht reich und könnte nicht soviel zahlen, wie er wert ist. Jetzt, wo er Vizekönig ist, ist sein Wert aber so sehr gestiegen, daß auch ich nur das zahlen möchte, was er als General wert war. Also haben Sie Nachsicht mit mir, d’Artagnan. Wieviel bin ich Ihnen schuldig?«

»Als ich ihn gefangennahm,« antwortete d’Artagnan, »hatte ich es ja auch nur mit dem General Monk zu tun, also steht mir auch nur das für einen General übliche Lösegeld zu. Der General möge mir seinen Degen geben, und ich bin befriedigt; denn nur sein Degen ist soviel wert wie er selbst.« – »Ein wackres Wort,« rief der greise Feldherr, den Degen ziehend. »Hier ist er, Chevalier. Sie sind der erste, dem er überliefert wird.« – »Ei, ei!« rief Karl II. »Ein Degen, der einem König auf den Thron geholfen hat, muß unter den Kronjuwelen glänzen. Chevalier, verkaufen Sie mir diesen Degen für 200 000 Livres. Wenn das zu wenig ist, so sagen Sie es.« – »Es ist zu wenig,« sagte d’Artagnan ernst. »Der Degen ist mir nicht feil, und nur weil Eure Majestät ihn durchaus haben wollen, lasse ich mich auf ein Gebot ein. Die Achtung vor dem berühmten Krieger, dem die Waffe gehört, verlangt es, eine höhere Summe zu fordern. Zahlen Sie 300 000 Livres – oder nehmen Sie ihn geschenkt.« – Er reichte den Degen dem König. Karl II. lachte und schrieb eine Anweisung auf 300 000 Livres. D’Artagnan wendete sich, das Papier in der Hand, zu Monk. »Ich weiß, ich habe es billig gemacht,« sagte er, »aber ich kann nun einmal nicht habgierig sein.« – Der König lachte so herzlich, wie der zufriedenste Bürger seines Reiches. – »Meine Herren,« sagte er, »ehe Sie heimreisen, kommen Sie noch einmal her. Ihnen, Herr Graf, habe ich noch eine wichtige Botschaft zu übertragen. Und nun leben Sie wohl!«

»Sind Sie jetzt zufrieden?« fragte Athos draußen seinen Freund. – »Es ist noch nicht aller Tage Abend,« antwortete dieser. »Noch war ich nicht beim Schatzmeister. Das hier ist vorderhand bloß ein Stückchen Papier.«

12. Kapitel. D’Artagnan als reicher Mann

Der Chevalier bekam sein Geld in klingender Münze ausgezahlt, und so gut er sich sonst zu beherrschen wußte, ging diesmal doch die Freude, plötzlich ein reicher Mann geworden zu sein, mit ihm durch, hatte er doch noch nie so viele Rollen Münzen auf einmal gesehen! In seiner Wohnung schloß er sich ein und vergaß über der Betrachtung seines Reichtums das Zubettgehen. Alsbald stellten sich die Schattenseiten so großen Besitzes bei ihm ein, denn er schwebte in beständiger Furcht vor Dieben und zerbrach sich den Kopf darüber, wie und wo er sein Geld am sichersten verwahren könne. Er getraute sich nicht mehr aus dem Zimmer heraus und bat schließlich Athos, ihm Grimaud zu leihen, der nun als Wächter bei dem Schatze zurückgelassen wurde.

Die beiden Freunde begaben sich zum Saint-James-Palast, um von König Karl II. Abschied zu nehmen. – »Sie haben keine Ursache, mir zu danken, Chevalier,« sagte der König. »Die Geschichte von der Kiste, in die Sie den General gepackt haben, ist viermal so viel wert, wie Sie bekommen haben. Uebrigens, hat Monk Ihnen wirklich schon verziehen? Es war ein Teufelsstreich, den ersten Mann der englischen Revolution einzupacken wie einen Hering. Ich würde an Ihrer Stelle, Herr Chevalier, auf meiner Hut sein. Monk nennt Sie ja seinen Freund, aber seine tiefen Augen deuten auf ein gutes Gedächtnis und seine hochgeschwungenen Brauen auf einen stolzen Charakter. Nun, ich werde versuchen, Sie vollends auszusöhnen.«

»Sie jagen mir einen großen Schreck ein, Majestät,« antwortete d’Artagnan ernsthaft bestürzt. »Tun Sie lieber nichts in der Sache; denn wenn Sie es in der Tonart anfangen, wie jetzt eben, dann läßt mich der Herzog ermorden. Ich möchte diese Unterhandlung schon persönlich führen. Das beste wäre freilich, ich nähme meinen Abschied, und wenn Eure Majestät mir nichts weiter zu befehlen haben –« – »Ich wünsche nur noch, daß Sie zu meiner Schwester, Lady Henriette, gehen. Sie muß Sie kennen lernen – sie muß im Notfall auf Sie zählen können. Parry!« rief er hinaus, und der alte Diener erschien. »Was macht Rochester?« – »Er macht mit den Damen eine Spazierfahrt auf dem Kanal,« antwortete Parry. – »Und Buckingham?« – »Ist mit dabei.« – »Schön. Führe den Chevalier zu Villiers und ersuche den Herzog von Buckingham, ihn meiner Schwester vorzustellen. Und danach, Chevalier, können Sie abreisen, sobald es Ihnen beliebt. Eins meiner Kriegsschiffe steht Ihnen zur Ueberfahrt zur Verfügung. Graf de la Fère wird mit Ihnen fahren. Und nun leben Sie wohl! Behalten Sie mich lieb, wie auch ich Ihnen stets von Herzen gut sein werde.«

*

Auf dem dunkeln Wasser des Kanals glitt majestätisch eine lange, flache Barke dahin, über der die englische Flagge wehte. Ueber der Mitte des Fahrzeugs erhob sich ein Baldachin, das Innere war mit Damast ausgeschlagen, dessen Fransen im Wasser schleppten. Acht Ruderer bewegten das glänzende Prunkschiff, das eine zahlreiche, lustige Gesellschaft trug. Den Ehrenplatz unter dem Thronhimmel hatte Lady Henriette Stuart, die Enkelin Heinrichs IV., die Tochter Karls I., die Schwester Karls II., inne. Um sie herum saß eine Schar von Hofherren und Damen. Vier Lautenschläger und zwei Sänger erfreuten das Ohr der Herrschaften. – Die Prinzessin, die mit ihrer Mutter zusammen im Louvre zu Paris lange Zeit hatte darben müssen, war aus dem schrecklichen Traum dieses Elends erwacht und zu Macht und Reichtum zurückgekehrt. Keine Spur der Not, die sie kennen gelernt hatte, war auf dem schönen Antlitz zu erkennen, und die stolze, edle Gestalt schien nie das Joch der Armut kennen gelernt zu haben.

Zwei Herren standen in ihrer unmittelbaren Nähe: Lord Villiers von Buckingham, der Sohn des berühmten Herzogs gleichen Namens, des Günstlings der Anna von Oesterreich, und Vilmot von Rochester. Beide bemühten sich um die Wette, die Prinzessin zu unterhalten, die ebenso kokett wie schön war und, noch frei von aller Liebe, mit den Kavalieren ihrer Umgebung ein grausames Spiel zu treiben pflegte. – »Lassen Sie umkehren, Mylords,« rief sie. »Meine Mutter erwartet mich, und es wird mir nun auch langweilig.« – Das war ein hartes Wort. Buckingham biß sich auf die Lippen; denn er liebte Lady Henriette in allem Ernst und nahm sich daher alles zu Herzen, was sie sagte; Rochester biß sich ebenfalls auf die Lippe, aber da bei ihm die Vernunft stets die Oberhand hielt, so geschah es nur, um sich ein spöttisches Lachen zu verbeißen. Die Prinzessin ließ den Blick über den Rasen des Ufers schweifen und erblickte die Gestalten Parrys und d’Artagnans. – »Wer kommt dort?« fragte sie. – »Es ist nur Parry,« wurde ihr geantwortet. – »Nur Parry?« erwiderte sie. »Will man damit sagen, er sei keine wichtige Person? Er hat sich’s in unserm Dienst sauer werden lassen, und ich sehe ihn jederzeit gern. Aber von den hohen Herren werden treue Diener gern rücksichtslos behandelt. Es scheint, er will mich sprechen. Lassen Sie landen, Mylords.«

Eine Minute später legte die Barke an. Lady Henriette nahm Lord Rochesters Arm, obwohl Buckingham ihr den seinen bot, und eilte über die Brücke ans Ufer. »Parry,« rief sie, »guter Parry, ich sehe, du suchst mich. Komm hierher. Seine Augen sind schwach geworden,« setzte sie zu Lord Rochester hinzu. – »O, dafür hat der Mann, der bei ihm ist, umso schärfere. Sie funkeln ja wie das Feuer eines Leuchtturms.« – »Ein imposantes, martialisches Gesicht,« sagte die Prinzessin, »wie man sie nur in Frankreich sieht.« – Rochester und Buckingham bissen sich abermals auf die Lippe.

Parry näherte sich langsam mit der Schwerfälligkeit des Alters der Prinzessin, d’Artagnan schritt würdevoll und selbstbewußt daher, wie es dem Besitzer von 300 000 Livres geziemt. Buckingham schritt ihnen entgegen, und an ihn richtete der alte Diener das Wort. »Wollen Eure Herrlichkeit dem Wunsche des Königs gemäß diesen Herrn der Lady Henriette Stuart vorstellen?« – »Wen habe ich vorzustellen?« fragte der junge Lord in hochfahrendem Tone. – D’Artagnan, leicht erregbar, wie er war, nahm an diesem Ton Anstoß. Mit flammensprühenden Augen sah er den Höfling an. »Den Chevalier d’Artagnan,« antwortete er kurz. – »Ist das alles?« versetzte der Engländer. – »Sie kennen mich nicht?« fragte der Franzose. »Nun, ich habe Ihren Vater sehr gut gekannt.« – Der junge Lord schwieg betroffen, dann sagte er: »Ach, ich glaube mich zu erinnern. Sie sind einer der Franzosen, die mit meinem Vater in geheimer Verbindung standen, nicht wahr? Sie sind es, der meinen Vater kurz vor seinem Tode warnte, und den er so lange vergebens gesucht hat, obwohl Sie doch so viel von uns zu erwarten hatten.« – »O, das Erwarten habe ich in meinem Leben gründlich gelernt, Mylord,« antwortete der Chevalier spöttisch, »ich habe gar vieles erwartet, das nie eingetroffen ist. Doch ich bitte, mich der Prinzessin vorzustellen – sie wundert sich über unser langes Zwiegespräch.«

Buckingham führte ihn zu Lady Henriette. »Majestät haben befohlen, Sie mit dem Chevalier d’Artagnan bekannt zu machen.« – »Damit Königliche Hoheit im Fall der Not einen zuverlässigen Freund und eine feste Stütze haben,« setzte Parry hinzu. »Majestät wünschen, Sie möchten sich nicht nur des Namens, sondern auch der Verdienste dieses Herrn erinnern; Majestät verdanken ihm den Thron.« – Lord Buckingham, Lord Rochester und die Prinzessin sahen sich erstaunt an. – Buckingham half über das peinliche Schweigen hinweg. – »Auch ein alter Bekannter meines Vaters,« sagte er, »und ich hoffe, er wird sich auch mir, dem Sohne, wenn ich einmal nach Frankreich komme, gewogen zeigen.« – »Und nach Frankreich werden Sie kommen, ich stehe Ihnen dafür.« sagte D’Artagnan lächelnd. – »Wieso?« – »O, ich besitze in solchen Dingen eine gewisse Sehergabe, und was ich prophezeie, trifft fast immer ein. Wenn Sie in Frankreich sind, werde ich es mir zur Ehre anrechnen, Ihnen meine Dienste anbieten zu dürfen. Mylady,« wendete er sich zur Prinzessin, »Sie sind eine Tochter Frankreichs, und ich hoffe, auch Eure Hoheit in Paris wiederzusehen. Es soll mich glücklich machen, dann mit einem Auftrag beehrt zu sein, der mir beweist, daß Seine Majestät mich nicht umsonst seiner erlauchten Schwester empfohlen hat.« – Er verneigte sich vor der schönen Prinzessin, die ihm die Hand zum Kusse reichte. – Buckingham seufzte, als er dies sah. – »O, Mylady,« sagte er, »was muß ich tun, um von Eurer Hoheit die gleiche Gunst zu erlangen?« – »Fragen Sie Chevalier d’Artagnan,« antwortete sie. »Er wird es Ihnen sagen können.«

Als d’Artagnan an diesem Tage heimkehrte, machten ihm die Worte, die der König über den General Monk gesprochen hatte, viel zu schaffen. Wenn Monk wirklich nach Rache trachtete, was ja bei der Unberechenbarkeit dieses Charakters immer möglich war, so würde gewiß Karl II. nicht zaudern, den ihm verhältnismäßig fernstehenden Chevalier dem Zorn seines ersten Staatsmannes zum Opfer fallen zu lassen, und nichts zur Rettung des Franzosen oder gar zur Sühne seines Mordes unternehmen. Monk konnte ganz ungestraft den Mann beseitigen, der ihn wie einen Hering in eine Kiste gepackt hatte, das wußte d’Artagnan recht wohl. – »Ich muß mich mit ihm aussöhnen,« dachte er, »und mich davon überzeugen, ob er sich über das Geschehene schon völlig hinweggesetzt hat.«

Er begab sich sogleich in Monks Wohnung und traf ihn in seinem Arbeitszimmer. – »Mylord,« begann er das Gespräch, »ich möchte Sie um einen guten Rat bitten.«

»Lassen Sie hören, Chevalier,« antwortete Monk. – »Seine Majestät der König beliebt manchmal zu scherzen, und Sie wissen, Kriegsleute wie wir können das in gewissen Fällen schlecht vertragen.« – Monk erriet, worauf sich diese Worte bezogen. Eine leichte Röte seiner Wangen verriet dies. Er antwortete jedoch so unbefangen wie möglich: »Ich selbst bin ein Freund der Scherze. Mir hat es seinerzeit sogar Spaß gemacht, die Spottlieder anzuhören, die in Lamberts Lager auf mich gesungen wurden.« – »Ich weiß, Mylord, Sie sind über Kleinlichkeiten erhaben, aber mich berühren Scherze, die sich gegen meine Freunde richten, doch immer schmerzlich. In diesem Falle handelte es sich um Sie, Mylord. Wie kann der König über Sie, der Sie ihm so große Dienste leisten, solche Scherze machen? Wie kann es ihm Vergnügen bereiten, einen Löwen wie Sie mit einer Mücke, wie ich bin, zu ärgern. Wenn nun auch andere von diesem Geheimnis erführen –«

»Von der Geschichte meiner Gefangennahme,« rief Monk. »Das war gut gemacht und damit basta! Sie sind ein Kriegsmann und haben bewiesen, daß Sie ebensoviel Schlauheit wie Tapferkeit besitzen. Es war meine Sache, auf der Hut zu sein – weiter ist darüber nichts zu sagen.« – »Sehr wohl, Mylord,« antwortete d’Artagnan; »wenn es nur nicht gerade eine Kiste gewesen wäre, mit Luftlöchern für Nase und Mund. Wahrlich, Mylord, wenn der König redete, es wäre furchtbar. In eine Kiste gesperrt zu werden, das ist keine Sache für einen Mann, der mit Krone und Szepter spielt wie ein Zigeuner mit bunten Kugeln. Sie begreifen, Ihre Feinde würden sich weidlich daran ergötzen.« – »Beruhigen Sie sich,« versetzte Monk, sichtlich aus der Fassung gebracht, »der König wird nicht darüber sprechen und keinen Scherz mit meiner Person treiben, ich bürge Ihnen dafür. Auch hat er ein zu gutes Herz, um so zu handeln. In Ihre Verschwiegenheit, Chevalier, setze ich fast noch weniger Zweifel.«

»Was meine Person anbetrifft, Mylord, so können Sie ruhig sein, aber leider war ich bei dem Unternehmen nicht allein,« sagte d’Artagnan, »und meine Begleiter wußten auch, wen ich gefangen hatte. Ich fürchte nun, daß sie in meiner Abwesenheit – ja, wenn ich selbst dort wäre, so könnte ich dafür sorgen, daß – kurz und gut, Mylord, wäre es nicht geraten, daß ich so bald wie möglich zurückkehrte?« – »Gewiß, wenn Sie meinen, daß Sie persönlich diese Schnapphähne im Zaume halten können. Gehen Sie nach Frankreich zurück, Chevalier, und da Sie ein liebenswürdiger Kavalier von Geist und Mut sind, so nehmen Sie von mir ein Andenken an, durch das England Ihnen ans Herz wachsen soll, durch das Sie sich bewogen fühlen sollen, bald einmal wiederzukommen. Ich besitze am Clyde-Flusse ein kleines Landhaus mit hundert Morgen Landes. Nehmen Sie es zum Geschenk an.« – »O Mylord –« – »Sie werden dann dort eine Ihnen allzeit offene Zufluchtsstätte haben –« – »Ich sollte Eurer Herrlichkeit so sehr verpflichtet sein, Sie beschämen mich, Mylord.« – »Im Gegenteil, Chevalier,« antwortete Monk, »ich bin Ihnen großen Dank schuldig. Ich setze sogleich die Schenkungsurkunde auf,« und er drückte ihm die Hand und verließ mit ihm das Zimmer.

»Ein wackrer Mann!« murmelte d’Artagnan. »Nur schade, daß er das nur aus Furcht vor mir, nicht aus wahrer Zuneigung tut. Nun, die Zuneigung werde ich mir auch noch erwerben. Doch wozu?« beruhigte er sich, »er ist ja ein Engländer! –Da wäre ich denn nun Grundbesitzer,« setzte er sein Selbstgespräch fort. »Das ist ein Gewinst, den ich nicht mit Planchet, dem Krämer, zu teilen habe. Das hat mir ganz allein mein Genie eingebracht.« – Er kehrte zu Athos zurück, und beide Freunde speisten in guter Laune zusammen. Noch am Abend traf vom König die Erlaubnis zur Abreise ein, und gleichzeitig schickte Monk dem Chevalier die Schenkungsurkunde, die der vorsichtige und großmütige Mann in der Form einer Verkaufsakte, mit einer Quittung über gezahlte 15 000 Livres, abgefaßt hatte. Athos erhielt mehrere Dokumente, die den geheimen Auftrag betrafen, welchen König Karl II. ihm erteilt hatte. – »Ich darf also nicht wissen, was Sie da erhalten haben, Athos?« fragte d’Artagnan. »Es gab eine Zeit, wo Sie derlei Papiere offen auf den Tisch gelegt und zu mir gesagt hätten: d’Artagnan, lesen Sie das Geschreibsel Porthos und Aramis vor.« – »Das stimmt, Freund,« antwortete Athos, »aber das war die Zeit des jugendlichen Vertrauens. Hier liegt die Sache ein wenig anders, und ich kann, ich darf nicht –« – »O, beruhigen Sie sich,« lachte d’Artagnan, »mir sind von jetzt ab auch alle geheimen Sendungen der Welt höchst gleichgültig.« – – – –

Karl II., der in Kleinigkeiten stets einen sehr feinen Takt bewies, ließ sie am Themsestrand durch ein mit Gardematrosen besetztes Jachtboot erwarten, das Befehl hatte, sie an Bord des Kriegsschiffes zu bringen. Um Mitternacht stach das Schiff in See, und um acht Uhr früh waren Athos und sein Gefährte in Boulogne. Der Graf mietete Postpferde, um nach Paris zu fahren. d’Artagnan eilte in die Fischerkneipe, wo er seine Spießgesellen zu finden gedachte. In der Tat hatten diese das Warten auch noch nicht aufgegeben und begrüßten ihren Anführer mit allgemeinem Jubel. Er zahlte ihnen den Rest des versprochenen Soldes. »Und nun noch eins,« sprach er, während die Männer vergnügt die Taler einsteckten. »Der Mann, den wir gefangennahmen, war der Schatzmeister des in England allmächtigen Generals Monk. Ich habe ihn deshalb auf neutrales Gebiet, nach Holland geschafft, damit er dort den neuen Handels- und Schiffahrtsvertrag unterzeichne, der ja inzwischen auch schon in Kraft getreten ist. Selbstverständlich aber stehen wir nun zwischen Galgen und Bastille, denn bei der herrschenden Freundschaft zwischen Frankreich und England auf Grund des neuen Handelsvertrags darf kein Wort darüber ruchbar werden, daß wir dem General Monk durch die Gefangennahme seines Schatzmeisters sozusagen das Messer an die Kehle gesetzt haben. Richtet euch also danach, wenn euch eure Hälse lieb sind. Und somit Gott befohlen!«

Er entließ sie mit einer Handbewegung. – »Menneville!« setzte er hinzu, sich an jenen Mann wendend, den er bei dem Wagestück mehr als die andern ins Vertrauen gezogen hatte, »bleiben Sie noch einen Augenblick da. Ich habe Ihnen allein noch etwas zu sagen. Ich sah es wohl an Ihren Blicken, daß Sie meiner Erzählung keinen Glauben schenkten. Sie fürchten sich weder vor dem Galgen noch vor der Bastille, das weiß ich, aber tun Sie mir wenigstens den Gefallen, sich vor mir zu fürchten. Wenn ein unbedachtsames Wort über Ihre Lippen kommt, so schlachte ich Sie ab wie ein junges Huhn, verstanden? Ich habe die Absolution des heiligen Vaters in der Tasche.« – »Ich schwöre Ihnen, ich weiß nichts, Herr Chevalier,« antwortete Menneville, »und werde mich streng nach Ihrer Vorschrift richten.« – »Ich wußte, Sie haben Kopf und Herz auf dem rechten Flecke,« fuhr d’Artagnan fort; »hier diese fünfzig Taler, die ich Ihnen als Extrazugabe schenke, werden Ihnen beweisen, daß ich was auf Sie halte. Damit könnten Sie nun aber wirklich ein anständiger Mensch werden. Es ist eine Schmach, daß ein so tüchtiger Kerl und ein so guter Name auf immer vom Rost eines lüderlichen Lebenswandels bedeckt bleiben sollen. Werden Sie ein Mann, der keinen falschen Namen mehr zu führen braucht, und führen Sie erst mal von diesem Gelde ein Jahr lang ein anständiges Leben. Dann kommen Sie zu mir, und potzblitz! ich werde etwas für Sie tun.«

Am folgenden Tage ritten Athos und d’Artagnan nach Paris, wo sie am Abend des vierten Tages ankamen. Im Begriff, sich zu trennen, sahen sie einander an, und Athos rief: »Warum muß denn geschieden sein? Sie können doch bei mir in Blois wohnen. Sie haben ja nun Geld und sind ein unabhängiger Mann. Ich kann Ihnen auch in der Nähe von la Fère ein schönes Grundstück mit Jagd kaufen. Sie lieben doch die Jagd. Wir ziehen dann zusammen auf die Pirsch.« – D’Artagnan faßte beide Hände des Grafen. – »Ich sage weder ja noch nein, lieber Freund,« antwortete er. »Erst muß ich meine Angelegenheit hier in Paris ordnen, und erst muß ich mich auch daran gewöhnt haben, reich zu sein. Solange ich mich noch nicht daran gewöhnt habe, bin ich ein unausstehlicher Kerl – ich kenne mich. Und nun adieu!« – Die beiden Freunde gingen auseinander.

Bei Planchet wurde eben der Laden geschlossen. D’Artagnan stieß mit dem Fuß gegen die Tür, daß die Sporen klirrten. Planchet machte noch einmal auf und rief, als er seinen früheren Herrn erkannte: »Ach, mein Gott!« – Mehr konnte er nicht herausbringen. D’Artagnan trat mit finsterm Gesichtsausdruck ein und setzte sich ohne ein Wort des Grußes. – »Herr Chevalier,« begann Planchet, dem das Herz klopfte beim Anblick dieses mürrischen Gesichts, »wie geht es denn?«

»Leidlich.« – »Sie sind doch nicht verwundet worden?« – »Bah!« – »Aber viel saure Arbeit hat’s gegeben, nicht wahr?« – »Ja.« – Den Krämer überlief es eiskalt. – »Ich möchte ein Glas Wein trinken,« sagte d’Artagnan traurig. – Planchet holte Flasche und Glas. »Was ist das für Gesöff?« fragte der Chevalier. – »Ihr Lieblingstropfen, Herr d’Artagnan, Anjouwein!« und er goß ein. »Gnädiger Herr,« fuhr er fort, »ich bin ja Soldat gewesen, ich habe ja Courage – lassen Sie mich doch nicht so lange in schwebender Pein. Raus damit! Unser Geld ist verloren, nicht wahr?« D’Artagnan antwortete nicht. Planchet war blaß geworden, ein würgender Laut entfuhr seiner Kehle, endlich stieß er hervor: »Zwanzigtausend Livres sind ’ne hübsche Summe. Aber wenn es doch mal nicht anders ist, dann müssen wir das Unvermeidliche mannhaft tragen. Die Hauptsache ist doch, daß Sie nicht das Leben dabei verloren haben. Nur nicht gleich verzweifeln! Euer Gnaden ziehen nun zu mir, ich gebe Ihnen Obdach und Nahrung. Ich werde doch meinen alten guten Herrn nicht verkommen lassen. Und wenn das Geschäft nicht mehr gehen sollte, dann essen wir die Mandeln und Rosinen auf und verzehren gemeinschaftlich alles bis auf den letzten Dreierkäse!«

D’Artagnan sprang auf. »Planchet,« rief er aus, »du bist doch ein guter Kerl. Aber hast du nicht bloß Komödie gespielt? Hast du nicht schon durchs Fenster das Pferd mit den Geldsäcken gesehen?« – Nun fiel Planchet aus den Wolken. – »Was für ein Pferd? Was für Geldsäcke?« schrie er. – »Das dort auf der Straße – unter deinem Warenschuppen!« antwortete d’Artagnan. »Siehst du nicht, es ist beladen. Und was meinst du, was es trägt? Säcke mit guten englischen Goldstücken. Heda, Ladenschwengel!« rief er hinunter, »bringt die Säcke herauf.« – Einen Augenblick später stolperten die Jungen unter der schweren Last herein. D’Artagnan nahm ihnen die Säcke ab und schickte sie fort, worauf er sorgsam die Tür verschloß. Dann breitete er eine Decke auf dem Boden aus und schnitt die Beutel entzwei. Eine Flut von Gold quoll auf den Boden. Planchet sah ein Weilchen zu, aber als die metallne Masse ihm an den Waden hinaufzusteigen begann, drehte er sich wie ein Kreisel herum, stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht, mitten in das Gold hinein.

Ein Glas Wein brachte ihn wieder zur Besinnung.

»Potzblitz!« rief der Chevalier. »100 000 Livres gehören Ihnen. Zählen Sie sich Ihren Anteil ab. Vor einer halben Stunde wollte ich dir soviel gar nicht gönnen, aber du bist ein braver Kerl. Also rechnen wir ehrlich ab – glatte Rechnung gute Freunde!« – »Ei ja, ei ja!« rief Planchet, »und während ich zähle, lassen Sie mich wissen, wie alles zugegangen ist. Die ganze Geschichte, Herr Chevalier!«

1. Kapitel. Athos bei Hofe

An demselben Abend, da die beiden Freunde in Paris anlangten, war im königlichen Palast der gesamte Hof um den Kardinal Mazarin versammelt. Durch spanische Wände waren drei Tische voneinander getrennt. An einem derselben saß der junge König mit seiner Gemahlin und der Königin-Mutter. Die beiden Frauen spielten zusammen gegen Ludwig und den Kardinal, der im Bett lag und sehr angegriffen aussah. Die junge Landesherrin schien mehr auf die Augen ihres Gemahls, an dessen Seite sie sich wahrhaft glücklich fühlte, als auf die Karten zu achten. Mit umso größerer Aufmerksamkeit, ja fast mit Habgier folgte Mazarin dem Spiele; er war jedoch so schwach, daß die Gräfin von Soissons für ihn die Karten halten mußte. Er hatte sich von Bernouin schminken lasten, aber das aufgetragene Rot, das namentlich an den Backenknochen erglänzte, ließ die Blässe des Gesichts und den gelben Ton der Stirn nur um so mehr hervortreten. Seine Augen leuchteten fieberhaft, und in diese Augen blickten der König und die beiden Königinnen oftmals mit dem Ausdruck der Sorge und der Scheu, waren es doch die beiden Sterne, in denen die Franzosen des 17. Jahrhunderts an jedem Abend und Morgen ihr Geschick zu lesen pflegten. Mazarin spielte weder mit Glück noch mit Unglück, war daher weder vergnügt noch traurig.

Am ersten der beiden andern Tische saß Herzog Philipp von Anjou, der Bruder des Königs. Auf die Lehne seines Sessels stützte sich Chevalier von Lorraine, ein Günstling des Herzogs, und lauschte voll Neid den Worten eines andern Günstlings Philipps, des Grafen von Guiche, der von den Abenteuern Karls II. erzählte.

»Mein Vetter Karl ist kein schöner Mann,« sagte Philipp leichthin, »aber er ist tapfer und hat sich geschlagen wie ein Landsknecht. Wenn er so fortfährt, wird er auch noch eine Schlacht gewinnen.« – »Er hat ja keine Soldaten,« meinte Chevalier von Lorraine. – »Nun,« versetzte Philipp, »wenn ich König von Frankreich wäre, würde ich ihm eine Armee zur Verfügung stellen.« – Ludwig XIV. errötete, und Mazarin schien nur auf das Spiel zu achten. – »Sein Schicksal muß sich inzwischen entschieden haben,« sagte Graf von Guiche. »Hat Monk ihn betrogen, dann endet Karls Laufbahn mit Gefangenschaft, vielleicht mit dem Tode.« – »Ich möchte wohl wissen, wie es abgelaufen ist!« rief Philipp stürmisch. »Gewiß weißt du es schon, Bruder.« – »Frage den Kardinal,« antwortete Ludwig, abermals errötend. – »Außerhalb des Staatsrats, mein Sohn,« warf Anna von Oesterreich dazwischen, sich an Philipp wendend, »wird nicht von Staatsangelegenheiten gesprochen.« – Philipp nahm diesen Verweis gutgelaunt hin und machte erst gegen seine Mutter, dann gegen seinen Bruder eine Verbeugung, die, tief wie sie war, komisch wirkte.

Plötzlich erschien der Kammerdiener Bernouin hinter dem Kardinal und meldete: »Eminenz, ein Abgesandter des Königs von England.« – Der Kardinal sah betroffen auf, und alsbald erhob sich Ludwig XIV., um nicht indiskret zu erscheinen, und wünschte Mazarin gute Nacht. – »Bleiben Sie, Majestät,« sagte der Minister leise, »ich bin sofort zurück.« – Darauf verschwand er hinter dem Vorhang seines Bettes und folgte, im Schlafrock, dem Kammerdiener in sein Privatkabinett. Dort fand er den Grafen de la Fère. Mazarin trat, wie er pflegte, sehr leise ein und musterte ein Weilchen unbemerkt das Gesicht des Grafen. Er war der Meinung, aus den Zügen von Leuten, die sich unbeobachtet glaubten, das Ergebnis der Unterredung im voraus erraten zu können. Beim Grafen de la Fère hatte er damit aber kein Glück, ja er las in dessen Gesicht nicht einmal den schuldigen Respekt vor der Nähe des Allgewaltigen. Der Menschenkenner in Mazarin witterte daher von vornherein in der kühlen, fast hochmütigen Zurückhaltung des Grafen eine gewisse Feindseligkeit gegen seine Person. Athos trug ein schwarzes Gewand, auf dem man die drei Orden, die ihm verliehen waren, den vom Hosenband, den vom heiligen Geist und den vom Goldnen Vlies, erblickte: Auszeichnungen, die man bisher nur auf der Brust von Königen oder Schauspielern gesehen.

»Wie ich höre,« sagte Mazarin, »handelt es sich um eine Botschaft aus England.« Mit diesen Worten setzte er sich und gab seinem Kammerdiener Bernouin und seinem Sekretär Brienne ein Zeichen, ihn zu verlassen.

»Eine Botschaft von Seiner Majestät dem König von England,« antwortete Athos. – Mazarin, die Orden und das Gesicht des Gesandten aufmerksam betrachtend, sprach: »Sie beherrschen für einen Engländer die französische Sprache sehr gut.« – »Ich bin kein Engländer, sondern ein Franzose,« antwortete Athos. – »Sonderbar, daß der König von England seine Gesandten unter unsern Landsleuten aussucht,« meinte der Minister. »Ihr Name?« – »Graf de la Fère.« – Mazarin zuckte leicht mit den Achseln, als wollte er sagen: »Kenne ich nicht.« Und laut setzte er hinzu: »Sie sind gekommen, mir anzuzeigen –« – »Dem König von Frankreich anzuzeigen.« antwortete Athos, ohne das Stirnrunzeln Mazarins zu beachten, »daß Seine Majestät König Karl II. von England den Thron seiner Väter wieder bestiegen hat.«

»Haben Sie das nötige Kreditiv?« fragte Mazarin mißmutig. – Athos zog ein Dokument hervor. – »Verzeihung,« sagte er, als Mazarin die Hand danach ausstreckte, »es ist an den König adressiert.« – »Da Sie Franzose sind, so müssen Sie wissen, was für Befugnis der erste Minister am französischen Hofe hat,« entgegnete Mazarin ungehalten. – »Es gab eine Zeit, wo ich mich noch mit den Ministern befaßte,« versetzte Athos, »jetzt aber verkehre ich nur noch mit Königen.« – »Dann werden Sie hier weder zum Minister noch zum König gelangen,« rief Mazarin voll Zorn. »Was verstehen Sie unter Diplomatie?« – Athos stand auf, steckte die Depesche ein und verneigte sich, als wenn er gehen wollte. – »Eminenz,« sagte er, »wenn König Karl II. diese Depesche an Seine Majestät König Ludwig XIV. schreibt, so ist das Schreiben eben nicht an den Kardinal Mazarin gerichtet. Dabei ist von Diplomatie gar keine Rede.«

Mazarin richtete sich auf und schlug mit der Hand an seine welke Stirn. »Ah, nun entsinne ich mich!« rief er. »Nun kann ich mich auch nicht mehr wundern. Jetzt erkenne ich Sie.« – »Eure Eminenz hätten mich bei Ihrem vortrefflichen Gedächtnis eigentlich gleich erkennen sollen,« antwortete Athos. – »Immer Eisenfresser? Wie nannte man Sie doch gleich? Potamos – nein – Naxos? Nein, auch nicht. Es war der Name eines Berges – ah! jetzt fällt mir’s ein. Athos! Es freut mich, Sie wiederzusehen. Aber die Fronde ist lange vorbei – warum währt Ihr Zorn noch heute? Meiner ist längst verraucht, trotz des Lösegeldes, das Sie mit Ihren Spießgesellen mir bei Rueil erpreßten.« – »Herr Kardinal, ich lasse mich in Betrachtungen dieser Art nicht ein. Es handelt sich hier um einen Auftrag. Wollen Sie mir behilflich sein, ihn auszuführen?« – »Es befremdet mich, daß Sie, Herr Athos,« fuhr Mazarin in boshaftem Tone fort, »sich darauf eingelassen haben, eine Botschaft an »den Mazarin«, wie man zur Zeit der Fronde sagte, auf sich zu nehmen.« – »Ich habe, wie ich schon betonte, nur eine Botschaft an den König.« – »Aber sie muß doch schließlich durch meine Hände gehen, seien Sie doch nicht lächerlich,« sprach Mazarin. »Ich kenne ja Ihr Geheimnis längst. Doch wenn Sie mir Ihr Schreiben nicht zeigen wollen, so kommen Sie mit auf mein Zimmer – dort können Sie mit dem König und vor dem König reden. Noch eins! Wer hat Ihnen den Orden vom Goldenen Vlies verliehen?« – »Karl II.«

Mazarin stand auf und kehrte, auf den Arm des Kammerdieners gestützt, in sein Schlafzimmer zurück. In diesem Augenblick wurde Prinz von Condé beim König angemeldet. Begleitet von mehreren Kavalieren, trat der Sieger von Rocroy und Nördlingen ein und begrüßte eben den König, als Mazarin hinter dem Vorhang hervortrat. Athos warf einen flüchtigen Blick in das Zimmer und erblickte Rudolf unter den Herren, die Condé gefolgt waren. Der letztere begrüßte sogleich auch den Kardinal. – »Sehr freundlich, Hoheit,« antwortete Mazarin, »einen kranken Freund zu besuchen.« – Athos stutzte, als er diese Worte hörte, und murmelte vor sich hin: »Seit wann nennen die beiden sich Freund?« – Mazarin mochte den Gedanken des Grafen erraten, denn er sah sich mit frohlockendem Lächeln um. – »Sire,« wandte er sich darauf zum König, »ich habe die Ehre, Ihnen den Grafen de la Fère, den Abgesandten Seiner Britischen Majestät, vorzustellen. Meine Herren, es handelt sich um Staatsangelegenheiten.« – Er winkte verabschiedend mit der Hand, und die ganze Gesellschaft entfernte sich, Prinz von Condé an der Spitze. – Rudolf konnte seinem Vater nur mit den Augen guten Tag wünschen.

Als auch die junge Königin und Philipp von Anjou hinausgehen wollten, sagte Mazarin in leiserem Tone: »Familienangelegenheiten!« und hielt sie auf ihren Plätzen zurück. »Der hier anwesende Abgesandte,« verkündete er darauf, »überbringt ein Schreiben, worin Karl II., der inzwischen den Thron wieder bestiegen hat, den Antrag stellt, Lady Henriette Stuart, die Enkelin Heinrichs IV., und Seine königliche Hoheit den Bruder des Königs zusammenzugeben. Wollen Sie dem König Ihr Kreditiv überreichen, Herr Graf?«

Athos war erstaunt. Wie konnte der Minister um den Inhalt eines Schreibens wissen, das er nicht aus den Händen gegeben hatte. Er faßte sich jedoch rasch und legte die Depesche vor Ludwig XIV. auf den Tisch. Ludwig XIV. sah den Grafen scharf an. – »Sie sind Franzose,« sagte er, »und Ihre Orden zeigen mir, daß Sie von hohem Stande und eine verdienstvolle Person sind. Sicher können Sie uns über die gegenwärtige Lage in England genaue Auskunft geben.« – »Majestät,« warf Mazarin ein, »das ist der Graf de la Fère, wie ich schon sagte, und,« setzte er hinzu, sich an die Königin-Mutter wendend, »einer Ihrer früheren Diener, Königliche Hoheit.«

Anna von Oesterreich hatte ein schwaches Gedächtnis. Sie sah Athos an und biß sich auf die Lippe. Mazarin nutzte den kleinen Triumph boshaft aus. »Der Graf stand im Dienste des hochseligen Königs,« fuhr er fort, »und war einer von Trevilles Musketieren. Er ist mehrmals in England gewesen und kennt das Land sehr genau.« – Ludwig XIV. bemerkte die Verlegenheit seiner Mutter und fühlte, daß sie nicht gern an jene stürmischen Zeiten erinnert sein mochte, die man auf immer erloschen geglaubt hatte. – »Reden Sie, Herr Graf,« rief der König und half durch diese Worte seiner Mutter und den Anwesenden über die peinliche Spannung hinweg, die die zweideutigen Worte des Ministers hervorgerufen.

»Sire,« begann Athos, »das ganze Geschick des Königs von England ist wie durch ein Wunder umgewandelt worden. Als er Haag verließ, war er schon kein Flüchtling mehr, sondern ein Eroberer, ein anerkannter König, der mit allgemeinem Jubel empfangen wurde.« – »Wahrlich ein Wunder!« sagte der König. »Aber Monk lebt doch noch, und was hat diesen Mann so ganz andern Sinnes gemacht?« – »Gott hat es gefügt, daß eine gewisse Person einen kühnen, abenteuerlichen Plan ausführte, während eine andere Person aus Anhänglichkeit zum König ebenfalls ein Wagstück unternahm. Die beiden Taten im Verein haben bewirkt, daß Monk aus einem erbitterten Feinde ein Freund des Königs wurde.« – »Und was sind das für zwei Männer, denen mein Vetter sein Glück verdankt?« fragte der König. – »Zwei Franzosen, Majestät.« – »Das freut mich.« – »Und was waren es für kühne Ideen?« rief Mazarin dazwischen. »Mich interessieren die Ideen mehr als die Menschen.«

»Die zweite Idee, um mit dieser anzufangen,« berichtete Athos weiter, »war die weniger gefahrvolle und bestand darin, eine Million in Gold auszugraben, die Karl I. einst in der Abtei von Newcastle versteckt hatte. Mit diesem Golde sollte Monks Beistand erkauft werden. Das Geld wurde zu Tage gefördert, obgleich Monk selbst mit seinem Heer zur Zeit die Abtei Newcastle besetzt hielt. Ja Monk half sogar mit, es auszugraben und fortzuschaffen, sodaß an einen Bestechungsversuch nicht gedacht werden konnte.« – »Hm,« sagte der König. »Als mein Vetter hier in Paris war, scheint er vom Vorhandensein dieser Million nichts gewußt zu haben.« – »Mir scheint vielmehr,« sagte Mazarin, »er hat zu dieser einen noch gern eine zweite haben wollen.« – »Sire,« antwortete Athos ernst, »von dieser Million hat Karl II. in der Tat keine Ahnung gehabt. Er erfuhr das Geheimnis erst durch einen französischen Edelmann, dem Karl I. in der Todesstunde den Schatz anvertraute.«

»Und die zweite Idee?« rief Mazarin. »Der abenteuerliche Entschluß – worin bestand er?« – »Darin, daß ein Franzose es unternahm, das einzige Hindernis, das sich dem vertriebenen König auf seinem Wege zum Throne entgegenstellte, wegzuräumen. Dieses Hindernis war die Person des Generals Monk.« – »Oho!« rief Mazarin. »Ein Kapitalverbrechen? Dann kann dieser geniale Franzose noch an den Galgen kommen.« – »Eminenz raten falsch,« entgegnete Athos trocken. »Es wurde kein Mord verübt, sondern Monk wurde einfach gefangengenommen.« – Der König fuhr auf, der Bruder Seiner Majestät klatschte in die Hände. – »Gefangengenommen?« rief Ludwig. »Aber der General war doch in seinem Lager, bei seinem Heer.« – »Ja, Sire, der Edelmann aber war allein. Nur zehn Mann hatte er bei sich.« – »Das ist großartig!« rief Philipp von Anjou in jugendlicher Begeisterung. – »Das grenzt ans Wunderbare,« setzte der schon etwas besonnenere Ludwig hinzu. – Beide hatten sich Athos genähert und standen nun neben ihm. »Weiter! weiter!« rief Philipp ungestüm. – »Der Edelmann raubte den General mitten aus seinem Lager, schleppte ihn nach Haag und stellte ihn dort dem König zur Verfügung. Der König schenkte dem General die Freiheit, und der General setzte aus Dankbarkeit für diese Großmut den König auf den Thron.«

Philipp von Anjou klatschte abermals in die Hände. Unter den Herren wurde ein Murmeln des Erstaunens laut. Mazarin allein bewahrte ein eisiges Schweigen.

»Können Sie für die Wahrheit Ihrer Angaben einstehen?« fragte der König den Grafen de la Fère. – »Ich war Augenzeuge.« – »Und der Edelmann, der die Million ausgrub, ist einer meiner Kavaliere? Wie heißt er?« – »Es ist Eurer Majestät gehorsamer Diener,« antwortete Athos, sich verneigend. – »Graf!« rief der König. »Sie haben meinem Vetter zum Thron verholfen, ich werde Sie zu belohnen suchen.« – »Ja, das ist ein Triumph, der das Haus Frankreich mit Freude erfüllt,« ließ sich Anna von Oesterreich vernehmen. – »Und wie heißt der Mann, der ganz allein mit nur zehn Mann den General Monk aus einem nach Tausenden zählenden Heer entführte?« – »Chevalier d’Artagnan, Musketier-Leutnant außer Dienst.«

Anna von Oesterreich errötete, Mazarin sah beschämt drein, Ludwig XIV. war verstimmt, ein Schweißtropfen rann von seiner Stirn. – »Das sind Männer!« sagte er leise, mit einem Blick auf Mazarin.

»Zur Sache nun!« rief der Minister. »Herr Graf, bringen Sie Ihr Anliegen vor!« – Athos bot im Namen des Königs die Hand der Lady Henriette Stuart dem Prinzen Philipp von Anjou an. Die Beratung währte eine Stunde, dann wurden die Türen geöffnet, und die Höflinge hatten wieder Zutritt. Sie nahmen ihre Plätze wieder ein, als ob keine Unterbrechung eingetreten wäre. Nun traf auch Athos mit Rudolf zusammen, Vater und Sohn konnten sich die Hand drücken. – Sie hatten nur wenige Worte gewechselt, als Prinz von Condé zu ihnen trat und um die Ehre ersuchte, dem Grafen de la Fère vorgestellt zu werden. – »Schade, daß Sie nicht mehr dienen, Herr Graf,« sprach der Prinz, eine hohe, edle Erscheinung mit stark ausgeprägter Adlernase und hervorstehenden Augen. »Der König wird auf einen Krieg mit England oder Holland rechnen müssen, und da tun Leute not wie Sie.« – »Ich glaube vielmehr, Königliche Hoheit,« antwortete Athos, »zwischen Frankreich und Großbritannien wird brüderliche Eintracht herrschen. Sehen Sie nur, was an dem Tische des Kardinals vor sich geht.«

Die Herren hatten weitergespielt, und Mazarin hatte in kurzer Zeit den vor der Unterbrechung durch Athos begonnenen Gewinst bedeutend vermehrt. Jetzt winkte er den Bruder des Königs zu sich heran, und indem er ihm den ganzen Haufen Goldmünzen zuschob, die auf seinem Tische lagen, sagte er: »Das alles schenke ich Ihnen, Hoheit.« – »Was?« rief Philipp von Anjou in ungekünsteltem Erstaunen. »Soviel Geld habe ich noch nie gehabt.« – »Ich habe zu Ihrem Besten gespielt,« antwortete Mazarin. »Es sind 50 000 Taler.« – »Mein Gott!« rief der Prinz, »ist das ein Glückstag!« Und alsbald griff er in das Gold hinein und stopfte sich die Taschen voll. Da diese den ganzen Reichtum nicht zu fassen vermochten, rief er den Chevalier von Lorraine herbei. »Hilf mir’s wegschaffen,« sagte er, »denke nur, das alles schenkt mir der Kardinal.« – »Der Kardinal?« rief der Chevalier. »Das muß kurz vor seinem Ende sein.«

Der Auftritt erregte allgemeines Aufsehen. – »Es ist wohl das erstemal, daß die Eminenz etwas verschenkt,« sagte Condé gelassen. »Da muß er sehr krank sein.« – »Hören Sie, was der Prinz zu seinem Freunde sagt,« flüsterte Athos, denn die beiden gingen in diesem Augenblick, um das Geld fortzutragen, an ihnen vorüber. – »Es soll wohl mein Hochzeitsgeschenk sein,« sagte Philipp von Anjou. – »Was?« versetzte Lorraine. »Sie wollen heiraten? Machen Sie doch nicht solche Dummheiten.« – »O, ich mache sie auch nicht,« antwortete der Prinz. »Die andern machen sie für mich.« – Damit gingen sie.

»Aha!« sagte Condé. »Er soll die Schwester Karls II. heiraten.« – »Ich glaube, ja,« antwortete Athos. – »Dann allerdings können wir die Schwerter für ein Weilchen an den Nagel hängen,« sagte Condé mit einem Seufzer, in dem sich hochstrebender Ehrgeiz, getäuschte Erwartungen, zerstörte Hoffnungen ausdrückten. Darauf verabschiedete sich Condé, und auch der König ging. Athos erinnerte Rudolf mit einem Wink an die Einladung, die er ihm bereits ausgesprochen hatte. Das Zimmer wurde leer – Mazarin war allein. – »Bernouin, Bernouin!« rief er mit brechender Stimme. »Laß Guénaud kommen. Ich glaube, es geht mit mir zu Ende.« Bernouin eilte ins Kabinett, und wenige Minuten später sprengte ein Eilkurier mit verhängten Zügeln von dannen.

Guénaud fand den Zustand der Eminenz sehr bedenklich. Die Beine waren geschwollen, die Farbe bläulich; ein heftiger Anfall von Gicht hatte den Kranken sehr geschwächt. Der Arzt begleitete seine Untersuchung mit manchem Kopfschütteln und verhehlte dem hohen Patienten den Ernst der Lage nicht. Mazarin brach vollends zusammen. – »Ist meine Krankheit etwa tödlich?« stieß er hervor. – Der Arzt zuckte die Achseln. »Meine Kunst ist zu Ende, Eminenz,« seufzte er. »Seit ich Sie behandle, habe ich die berühmtesten Mediziner mit zu Rate gezogen. Als sie alle mir nichts mehr zu sagen wußten, habe ich mich an die Quacksalber, an die Heilkünstler gewandt. Auch damit sind wir nun fertig. Eminenz, es gibt keine Hilfe mehr.« – Mazarin keuchte. »Und wann muß ich sterben?« lallte er. – »Eminenz, das sagt man nie,« antwortete der Arzt. – »Mir können Sie es sagen, ich befehle es Ihnen!« rief der Kardinal mit erlöschender Kraft. – »Nicht wir Menschen schenken die Gnadentage, sondern Gott. Und Gott gewährt Ihnen noch vierzehn Tage,« war die Antwort des Mediziners.

Mazarin seufzte tief auf und sank in die Kissen zurück. »Ich danke Ihnen, Guénaud,« murmelte er. Der Arzt verneigte sich und wollte gehen. Der Kranke fuhr empor. »Hören Sie!« rief er mit funkelnden Augen. »Kein Wort davon!« – »Eminenz,« erwiderte Guénaud, »ich weiß es schon seit zwei Monaten und habe geschwiegen.« – »Gehen Sie. Ich werde Ihre Zukunft sicherstellen. Und sagen Sie meinem Sekretär, er soll mir Colbert schicken.«

2. Kapitel. Mazarins Nachfolger

Colbert war schon den ganzen Tag im Palast gewesen und hatte sich an Bernouin, den Kammerdiener, und Brienne, den Sekretär, herangemacht, um allerlei Neuigkeiten zu erfahren. Colbert, der als Nachfolger Mazarins der größte Staatsmann und Organisator seiner Zeit werden sollte, war damals von mittlerer Größe und hager. Seine Augen lagen tief, sein Gesicht fiel durch keine außergewöhnlichen Züge auf, sein Haar war dünn und struppig. Er war dreizehn Jahre älter als Ludwig XIV., sein künftiger Herr. Sein Blick war ernst, sein Wesen ein wenig steif, was von Leuten, die ihn nicht kannten, für Blasiertheit gehalten wurde. Nachdem Mazarin auf Colberts Talent aufmerksam gemacht worden war, arbeitete dieser unermüdlich selbst an seiner Karriere weiter. Er war der Sohn eines Kaufmanns, aber das Kontor seines Vaters hatte er bald mit der Schreibstube eines Staatsanwalts vertauscht, wo er seine Kenntnisse erweiterte und zu der schätzbaren Kunst, Berechnungen anzustellen, die unschätzbare Kunst, sie zu verwirren, hinzulernte. Das Glück verschaffte ihm bald darauf eine Stelle bei dem Staatssekretär Michel Letellier, und dieser Posten war das Sprungbrett, von dem aus er sich mit einem kühnen Satze in die Nähe Mazarins schwang.

Man erzählt sich darüber die folgende Anekdote. ES war um die Zeit der Fronde, und Mazarins Stellung war sehr gefährdet. Anna von Oesterreich schien willens, ihn fallen zu lassen. Sie hatte an Letellier einen Brief geschrieben, der für Mazarin ungemein kompromittierend und für Letellier natürlich ungemein wertvoll war. Aber Michel Letellier hatte gern zwei Eisen im Feuer und wollte sich doch mit Mazarin noch nicht völlig überwerfen. Er kam daher auf den Einfall, ihn den Brief Annas von Oesterreich lesen zu lassen. Es war aber keine Kleinigkeit, dieses Schreiben an den Kardinal zu senden; denn die Schwierigkeit lag darin, es auch wirklich zurückzuerhalten. Er erteilte nun Colbert den heiklen Auftrag. Mazarin errötete, als er den Brief las, schenkte Colbert ein gnädiges Lächeln und entließ ihn. – »Wann habe ich die Antwort zu holen?« fragte der Bote. – »Morgen früh.« – Um sieben Uhr war Colbert zur Stelle. Er mußte bis zehn Uhr warten. Dann ließ Mazarin ihn vor und übergab ihm eigenhändig ein Paket. »An den Staatssekretär Letellier,« sagte er und schob Colbert mit freundlichem Lächeln zur Tür. – »Und der Brief der Königin-Mutter?« fragte Colbert. – »Ist im Paket,« antwortete Mazarin. – Colbert nahm den Hut zwischen die Knie und zerriß das Siegel. – »Was fällt Ihnen ein?« rief der Kardinal. »Trauen Sie meinem Wort nicht? Welche unerhörte Frechheit!« – »Ihrem Worte selbstverständlich,« versetzte Colbert ganz ruhig. »Aber Ihr Kanzleipersonal ist vielleicht nicht so zuverlässig – so ein Brief wird leicht vergessen – und sehen Sie, daß ich recht habe. Er ist wirklich in der Kanzlei vergessen worden – er ist nicht im Paket.« – »Unverschämter Mensch!« rief Mazarin, entriß ihm das Paket und lief hinaus. – Nun erschien Colbert an jedem Morgen, so oft er abgewiesen wurde, und endlich mußte Mazarin den Brief der Königin-Mutter herausrücken. Colbert prüfte das Schriftstück von allen Seiten, hielt es sich sogar an die Nase und unterzog die Schriftzüge einer so genauen Untersuchung, als wenn er es mit dem gemeinsten Fälscher zu tun gehabt hätte. Mazarin schäumte vor Wut, aber Colbert kehrte sich gar nicht daran. Als später all diese Dinge vergessen waren und Mazarin so fest saß wie nie zuvor, da erinnerte er sich dieses Schreibers und der Hartnäckigkeit, die er bewiesen, und nahm ihn zu sich. Colbert erwarb sich rasch die Gunst Mazarins und wurde ihm mit der Zeit ganz unentbehrlich. Er gestattete ihm Einblick in alle seine Geschäfte, so daß Colbert, umsichtig und scharfblickend wie er war, nicht nur über die Staatsfinanzen, sondern auch über die persönlichen Vermögensverhältnisse Mazarins genau unterrichtet war.

Als nun Mazarin sich dem Ende nahe glaubte, rief er Colbert sofort zu sich, um mit ihm schleunigst alles in Ordnung zu bringen. »Es kann sein, daß ich das Zeitliche segnen muß, Colbert,« sprach er, »da ist es not, daß wir ein ernstes Wort miteinander reden.« – »Sterben muß jeder Mensch,« antwortete Colbert gelassen. – »Ich habe dies stets vor Augen gehabt und dafür gesorgt, daß ich nicht mittellos sterbe. Wie hoch schätzen Sie mein Vermögen?« – »Auf vierzig Millionen und 560 000 Livres.« Der Kardinal seufzte tief auf und lächelte mühsam. – »Das ist die bekannte Höhe,« setzte Colbert hinzu. – »Was meinen Sie damit?« fragte Mazarin erstaunt. – »Außer dieser Summe sind noch 13 Millionen vorhanden, von denen niemand etwas weiß. Sie sterben als reicher Mann, Eminenz, während der König keine 500 000 Livres in der Schatulle hat.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fuhr Mazarin auf. »Habe ich mein Gehalt zu Unrecht bezogen? Habe ich etwa nicht Ordnung in die Finanzen des Reichs gebracht? Wieviel der König hat, das ist Sache seines Schatzmeisters. Dafür hat Fouquet aufzukommen. Mich geht das gar nichts an. Wollen Sie damit sagen, ich müßte dem König mein Geld vermachen? Ich denke nicht daran – ein paar Legate, ja, aber alles nicht! Ich kann meine Verwandten nicht benachteiligen.« – »Eminenz,« antwortete der unerschütterliche Sekretär, »ein Legat wäre eine Beleidigung des Königs und könnte so ausgelegt werden, als wenn Sie diesen Teil Ihres Vermögens als unrecht erworben ansähen.« – »Also muten Sie mir im Ernst zu, all mein Geld in die Schatulle des Königs zu werfen?« rief Mazarin ironisch. »Das wäre ein gefundener Bissen für Ludwig XIV. Er würde sich ins Fäustchen lachen und meine sauer ersparten Taler bald verschwendet haben.«

»Eure Eminenz sehen in diesem Punkte falsch,« erwiderte Colbert. »Sie beurteilen den Charakter Ludwigs XIV. nicht ganz richtig. Wenn ihm gewisse Dinge gesagt werden, so wird er die Schenkung nicht annehmen.« – »Sie meinen, er würde 40 Millionen zurückweisen? Und was sind denn das für Dinge, die ihm gesagt werden müßten?« – »Die will ich niederschreiben, wenn Eminenz sie mir diktieren wollen,« antwortete Colbert in vielsagendem Tone. – »Und was hätte ich von diesem gewagten Experiment?« fragte der Kardinal. – »Einen ungeheuren Vorteil,« antwortete Colbert, »niemand wird dann Eure Eminenz noch des Geizes anklagen können, wie dies bisweilen in Flugblättern ungerechterweise geschehen ist. Der glänzendste Geist unsers Jahrhunderts wird dann von diesem Vorwurf auf immer befreit sein. Und nachdem Eminenz soviel für Ihren Ruhm getan, sollten Sie auch etwas für Ihren Nachruhm tun.« – »Sie haben recht, Colbert,« antwortete Mazarin. »Aber wenn nun der König doch annimmt?« – »Dann bleiben Ihren Verwandten immer noch 13 Millionen, und das ist eine hübsche, runde Summe. Allein Sie sollten nicht die Annahme, sondern vielmehr die Ablehnung fürchten.« – »Wenn er ablehnt, so stelle ich ihm diese 13 Millionen sicher – ja, ganz bestimmt. Die Schmerzen kehren wieder. O, wirklich, Colbert, ich bin dem Ende nahe.«

Mazarin war wirklich schwerkrank; kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Bernouin, der Kammerdiener, und Guénaud, der Arzt, wurden wieder an das Lager gerufen, und unter den Händen des letzteren ließen die heftigen Symptome etwas nach. Als der Kardinal wieder allein war mit Colbert, nahm er das Thema von neuem auf. – »Ich will es wagen, Colbert,« flüsterte er, sich aufraffend. »Glauben Sie Ihrer Sache sicher zu sein?« – Colbert antwortete ruhig: »Schreiben Sie eine Schenkung folgenden Inhalts: Im Begriff, vor Gott zu treten, bitte ich den König, der mein Herr auf Erden war, die irdischen Güter zurückzunehmen, die seine Huld mir beschert hat. Meine Angehörigen werden nichts dagegen einzuwenden haben, daß das Vermögen in so erlauchte Hände falle. Das genaue Verzeichnis meiner Besitztümer liegt bereit und wird Eurer Majestät ausgeliefert werden, sobald ich den letzten Seufzer getan habe. Euer treu ergebener Diener Julius von Mazarin.« – Mit zitternder Hand setzte der Kardinal seinen Namen darunter.

Die Kunde von seinem hoffnungslosen Zustande hatte sich im Louvre, wo der König zur Zeit mit dem gesamten Hof weilte, sehr rasch verbreitet. Ludwig XIV. wartete mit Spannung des weiteren Verlaufes. Starb der Kardinal, so war ja für ihn der Tag der Freiheit gekommen, der Tag, da er in Wahrheit König wurde, da er nicht mehr nur das Mäntelchen des Regenten tragen sollte, ohne seine Macht zu besitzen. Anna von Oesterreich, seine Mutter, betrachtete ihn gedankenvoll, aber es waren andere Erwägungen, denen sie nachhing. – »Du scheinst traurig zu sein, Ludwig,« sprach sie zu ihm, während er unruhig auf und ab schritt. »Machst du dir vielleicht Gedanken darüber, daß es uns an Geld fehlt? Wisse, alle Leute, die in deinem Lande reich sind, besitzen ihren Reichtum nur durch deine Güte. Der Herr verleiht ihnen überdies die Erdengüter nur auf kurze Zeit, und niemand,« setzte sie mit besonderer Betonung hinzu, »kann sie mit ins Grab nehmen. Ein junges Geschlecht erntet die Früchte der Alten.« – »Man sollte wirklich glauben,« sagte Ludwig XIV. und sah seine Mutter forschend an, »Sie hätten mir noch mehr zu sagen.« – »Nichts, mein Sohn, als daß der Kardinal sehr krank ist,« antwortete Anna. – »Ich denke, er wird sich noch einmal erholen,« sagte Ludwig seufzend.

Er hatte diese Worte kaum gesprochen, als ein Türhüter den Vorhang aufhob. – »Eine Botschaft von Seiner Eminenz!« rief er und reichte dem König ein Schreiben. Im selben Augenblick, wo Ludwig es öffnete, um es zu lesen, trat Fouquet, der Schatzmeister, herein.

»Sie auch hier, Fouquet?« wandte Ludwig sich wohlwollend an ihn. »Hat die Kunde von der Krankheit des Ministers Sie hergerufen?« – »Ja, Majestät. Ich war vor anderthalb Stunden noch auf meinem Gute in Vaux und bin aufs schnellste hergeeilt.« – »Wie ist das möglich? In anderthalb Stunden von Vaux nach Paris?« rief der König, der wohl seinen Zorn, aber nicht sein Erstaunen zu bemeistern verstand. – »Eure Majestät bezweifeln, was ich sage, und mit Recht,« erwiderte der Höfling. »Des Rätsels Lösung sind aber sechs Pferde erster Klasse, die ich aus England erhalten habe, die besten Renner unseres Zeitalters. Ich habe sie heute abend probiert, und sie haben die Probe glänzend bestanden. Eure Majestät werden Gelegenheit haben, sich selbst von der seltnen Güte dieser Pferde zu überzeugen; denn sie sind nur für einen königlichen Marstall geschaffen und warten nur auf einen Wink Eurer Majestät, um in Höchstdero Marstall eingereiht zu werden.« – Fouquet verneigte sich. Der König sah betroffen auf.

»Sie wissen doch, Herr Fouquet,« warf die Königin-Mutter ein, »es ist am französischen Hofe nicht Sitte, daß ein Untertan seinem König Geschenke macht.« – »Ich hoffe,« versetzte der Oberintendant der Finanzen verlegen, »meine grenzenlose Ergebenheit und mein sehnlicher Wunsch, meinem geliebten Monarchen zu gefallen, würden genügen, diesen Grundsatz der Etikette einmal fallen zu lassen. Uebrigens ist es kein Geschenk, sondern ein schuldiger Tribut.« – »Ich danke Ihnen,« erwiderte Ludwig. »Ich bin ein großer Freund von schönen Pferden, aber Sie wissen ja, ich bin nicht reich. Ich kann ein so teures Gespann also nicht kaufen.«

Nach diesen Worten faltete der König das Schreiben Mazarins auseinander, in das er bisher noch keinen Blick getan hatte. Er las ein paar Zeilen, und ein Ausruf höchster Ueberraschung entschlüpfte ihm. »Lesen Sie, Königliche Hoheit,« rief er, das Papier der Mutter reichend. – Auch Anna von Oesterreich vermochte ihre Ueberraschung und Freude nicht zu verbergen. – »O,« sagte sie, »das ist ja eine Schenkung in ganz einwandfreier Form.« – Fouquet stutzte und wiederholte: »Eine Schenkung?« – »Ja,« antwortete Ludwig XIV., »der Kardinal schenkt mir sein gesamtes Vermögen.« – »Vierzig Millionen!« rief Anna. »Das ist großmütig. So handelt nur ein treuer Untertan und ein wahrer Christ.« – »Eure Majestät sagten soeben erst,« murmelte Fouquet zurücktretend, »es gezieme sich nicht für einen Untertan, seinem König Geschenke zu machen, noch auch für den König, sie anzunehmen.« – »Aber vierzig Millionen, Herr Oberintendant!« rief Anna. – »Gewiß eine schöne Summe, die selbst ein königliches Gewissen in Versuchung führen kann,« sagte Fouquet. – »Wenn Sie dem König abraten, diese vierzig Millionen anzunehmen,« rief die Königin-Mutter ungehalten, »dann verschaffen Sie als sein Finanzminister ihm wenigstens auf andere Weise eine solche Summe. Sie wissen ja am besten, daß er kein Geld hat.« – »Er kann vierzig Millionen haben, wann es ihm beliebt,« versetzte der Minister kalt. – »Ja, die Sie dem Volk erpressen wollen,« rief Anna. – »Sind jene Millionen etwa nicht erpreßt?« entgegnete Fouquet. »Ich wiederhole, der König kann diese Schenkung nur ablehnen, denn für ihn gibt es keinen andern Maßstab und Richter als das eigene Gewissen. – »Genug!« rief Ludwig, sich zum Gehen wendend. »Ich werde mir die Sache überlegen.«

An demselben Tage hatte der Kardinal sich nach Vincennes schaffen lassen. Dort wartete er nun in höchster Unruhe auf die Entscheidung des Königs. Diese Ungewißheit, ob Colbert in seinem tollkühnen Experiment Recht behalten oder ob Ludwig über der Größe der Summe die königliche Würde vergessen würde, steigerte noch die Qualen des Todeskampfes. So oft die Tür aufging, glaubte er die Nachricht zu erhalten, daß Ludwig die Millionen angenommen hätte. Zwei Tage waren verflossen, als endlich Anna von Oesterreich sich bei dem Kranken melden ließ und ihm mitteilte, der König werde ihn noch am selben Tage besuchen. Nur schwer hatte Ludwig sich dazu entschlossen, denn er fürchtete, in seinen Zügen zu verraten, was im Innersten seiner Seele vorging. – Mazarin war tief ergriffen von dieser königlichen Huld; aber die Frage, ob Ludwig annähme oder ablehnte, vergaß er deshalb doch nicht, und je näher die Besuchsstunde rückte, umso unerträglicher wurde seine Angst.

»Geduld, Geduld, gnädigster Herr!« mahnte Colbert. – »Sie sind von Sinnen!« entgegnete Mazarin außer sich. »Ich stehe am Rande des Grabes, und Sie mahnen zu Geduld. Treiben Sie Ihren Spott mit mir?« – »Es kommt so, wie ich gesagt habe,« antwortete Colbert, ruhig wie immer. »Majestät kommt nur, um Ihnen das Dokument selbst zurückzugeben.« – Der König wurde angemeldet und trat mit seiner Mutter ein. Zwei Sessel wurden an das Bett geschoben, die königlichen Herrschaften nahmen Platz. Alle Höflinge zogen sich auf einen Wink Ludwigs zurück, nur Colbert blieb hinter dem Vorhang des Bettes sitzen. Tiefe, fast feierliche Stille herrschte in dem Zimmer. Der jugendliche König fühlte sich noch immer beklommen in der Nähe des gewaltigen Staatsmannes, der sein Meister und Lehrer von der Geburt an gewesen war. Jetzt, da er ihn als Sterbenden vor sich sah, hegte er fast noch tiefere Ehrfurcht. Er war daher in Verlegenheit, wie er das Gespräch beginnen sollte, wohl wissend, daß jedes einzelne Wort von großer Bedeutung sei. Mazarin, vor Aufregung kaum der Sprache fähig, litt Höllenqualen. Endlich brach er das Schweigen.

»Eure Majestät haben in Vincennes Wohnung genommen?« fragte er. »Das ist eine hohe Gnade. Sie erleichtern dadurch das Ende eines Sterbenden.« – »Ich hoffe,« antwortete der König, »nicht vor einem Sterbenden, sondern vor einem Genesenden zu stehen.« – Mazarin schüttelte den Kopf. »Es ist der letzte Besuch,« sagte er, »den Majestät mir heute abstatten.« – Anna von Oesterreich konnte ein paar Tränen nicht unterdrücken, selbst Ludwig war tiefbewegt; Mazarin verzehrte sich in Ungeduld. Wieder folgte eine lange Pause. Dann sagte Ludwig: »Ich bin Eurer Eminenz großen Dank schuldig.« – Der Kardinal heftete einen erlöschenden Blick auf den König. »Um Ihnen vor allem meinen Dank abzustatten für den letzten Freundschaftsbeweis, den Sie mir gegeben haben, das ist der Hauptzweck meines Kommens,« fuhr Ludwig fort. – Mazarin keuchte; seine zitternden Lippen taten sich auf. »Majestät,« sagte er tonlos, »ich habe meine Verwandten zu Bettlern gemacht, aber ich wollte alles meinem König opfern.« – »Sie verstehen mich falsch, Kardinal,« antwortete der König sehr ernst. »Ihre Verwandten sollen nicht in Armut gestürzt werden – niemand soll um das Seine kommen.« – Mazarin stutzte; seine Zweifel erreichten den Höhepunkt; auch die Königin-Mutter stutzte; sie hob das in Tränen gebadete Gesicht. »Will der König etwa den Großmütigen spielen?« dachte sie. »Seien Sie ohne, Sorge, Kardinal,« beeilte sie sich zu bemerken, »wir werden uns Ihrer Verwandten annehmen. Ihre Nichten sollen wie meine eigenen Kinder gehalten werden, Ihre Freunde sollen auch die unseren sein.« – »Blauer Dunst!« dachte der Sterbende, der es ja am besten wußte, wie wenig auf die Versprechungen von Königen zu geben war.

Ludwig mochte diesen Gedanken in den Augen des Kardinals lesen. »Beruhigen Sie sich,« sagte er mit einem halb traurigen, halb spöttischen Lächeln, »die Fräulein von Mancini werden nicht um ihr Erbe kommen; ich gebe Ihnen Ihre Schenkung zurück.« Und er überreichte Mazarin das Dokument. Hinter den Vorhängen hörte man einen Laut, der einem triumphierenden Ausruf glich. Die Königin-Mutter sprang fast entsetzt vom Stuhl auf und starrte ihren Sohn fassungslos an. Mazarin wühlte mit den Fingern in der Bettdecke.

»Ja, Königliche Hoheit,« wendete Ludwig sich an seine Mutter und zerriß die Urkunde, die Mazarin noch nicht an sich genommen hatte, »ich vernichte diese Schenkung, durch die eine ganze Familie beraubt worden wäre. Das Vermögen, das Seine Eminenz in meinen Diensten erworben hat, gehört ihm allein.« – »Aber du hast keine 10 000 Taler in deiner Schatulle!« rief Anna von Oesterreich. – »Ich habe eben meine erste königliche Tat vollbracht,« versetzte Ludwig. »Ich hoffe mit ihr meine Regierung einzuweihen.« – »Nun, dann glückauf!« rief Anna und lief hinaus.

»Der Himmel segne Eure Majestät für diese Großmut!« rief Mazarin, der inzwischen die Fetzen des Dokuments untersucht hatte, bis er das Stück mit seinem Namenszug gefunden, an welchem er zu seiner Beruhigung erkannte, daß er seine Originalniederschrift und nicht etwa eine Kopie vor sich hatte. »Was Majestät hier getan haben, übertrifft alles, was von den edelsten Männern des Altertums gerühmt wird. Nun, ich will in meiner letzten Stunde, Majestät, Ihnen etwas geben, das ein Ersatz für diese 40 Millionen sein soll, ja, das mehr wert sein wird als sie. Ich will Ihnen einen guten Rat geben. Treten Sie dicht an mein Bett heran, Sire, und hören Sie!« Und die Stimme zu einem fast unhörbaren Geflüster dämpfend, sprach er: »Majestät, nehmen Sie nie wieder einen Premierminister.« – Ludwig richtete sich erstaunt auf; denn diese Worte waren nicht nur ein Rat, sondern ein Bekenntnis. Das Vermächtnis, das Mazarin dem jungen König hinterließ, bestand nur aus sieben Worten; aber Mazarin hatte recht, diese sieben Worte waren mehr wert als 40 Millionen.

Ludwig war für den Augenblick bestürzt. Mazarin, von seiner größten Sorge befreit, hatte seine Ruhe wiedergewonnen. »Und haben Sie mir jemand zu empfehlen, der mir einigen Ersatz für den Verlust Ihrer Person bieten könnte?« fragte Ludwig. – »Ja, Majestät, einen verständigen, tüchtigen und zuverlässigen Mann.« – »Sein Name?« – »Colbert,« antwortete Mazarin. »Und nun leben Sie wohl, Sire. Ich bin müde und habe noch einen beschwerlichen Weg vor mir, ehe ich vor meinem neuen Herrn erscheine.« – Mit Tränen in den Augen neigte Ludwig sich einen Augenblick über das Bett des Sterbenden, dann verließ er schnell das Zimmer.

Vierundzwanzig Stunden waren verflossen, Ludwig saß unruhig und erwartungsvoll in seinem Lehnstuhle, als ein Diener eintrat. – Dieselbe Frage, die der König in diesen Stunden schon so oft getan, kam auch nun wieder von seinen Lippen. »Wie steht es?« – »Tot, Majestät,« antwortete der Diener. – »Wer hat es dir gesagt?« »Colbert.« – »Wo ist Colbert?« – »Im Vorzimmer Eurer Majestät.« – »Laß ihn herein.« – Colbert trat ein, verneigte sich ehrerbietig und blieb stehen. – »Was haben Sie mir zu melden?« fragte Ludwig. – »Daß Seine Eminenz gestorben ist. Ich bringe Eurer Majestät seinen letzten Gruß.« – »Sie haben lange Jahre im Dienst des Kardinals gestanden und kennen einen Teil seiner Geheimnisse?« – »Alle, Majestät.« – »Sie waren im Finanzfach tätig?« – Colbert verneigte sich. »Ja, Majestät.« – »Und der Kardinal verwendete Sie auch im Verwaltungswesen?« – »Ja, Majestät.« – »Für mein Haus im besondern haben Sie nichts getan?« – »Mit Verlaub, doch, Majestät,« sagte Colbert. »Ich war so glücklich, Seiner Eminenz ein Sparsystem vorzuschlagen, durch das alljährlich 300 000 Livres in Eurer Majestät Schatulle fließen.« – »Und worin bestand dieses System?« – »Ich riet dazu, die echten Silbertressen der Schweizergardisten durch unechte zu ersetzen. Den Unterschied merkt kein Mensch, und für das ersparte Geld kann man ein Regiment ein halbes Jahr lang unterhalten, 10 000 gute Gewehre ankaufen oder ein Transportschiff mit zehn Kanonen versehen.« – »Eine wohlangebrachte Ersparnis!« rief Ludwig. »Hatten Sie sonst noch ein Amt unter Seiner Eminenz?« – »Der Herr Kardinal beauftragte mich mit der Nachprüfung der Rechnungen des Finanzministeriums.« – »Also mit einer Kontrolle des Finanzministers,« sagte Ludwig, »und das Ergebnis?« – »Ein Defizit, überall leere Kassen, nirgends Geld,« antwortete Colbert in seiner unerschütterlichen Ruhe. – »Nehmen Sie sich in acht!« rief Ludwig. »Sie greifen Fouquets Geschäftsführung an.«

Colbert erblaßte ein wenig, denn er fühlte in diesem Augenblick, daß er im Begriff stehe, mit einem Manne, der nach Mazarins Tode ebenso mächtig war wie dieser, in die Schranken zu treten. »Ich erhebe keine Anklage,« antwortete er. »Ich lege nur Beweise vor.« – »Sehr wohl!« rief Ludwig. »Einen Rechnungsnachweis verlange ich auch von Ihnen. Ein Defizit? Wenn ich nun jetzt zum Beispiel Geld haben wollte?« – »So würden Majestät keins bekommen,« erwiderte Colbert. »Die Einkünfte sind auf vier Jahre voraus verpfändet.« – »Mein Gott, dann bin ich ja von Anbeginn meiner Regierung an ruiniert,« rief Ludwig, auf und nieder schreitend. – »Eure Majestät sind auch wirklich ruiniert,« antwortete der Mann der Zahlen in seiner unverwüstlichen Gelassenheit. »Aber ich habe die Ehre, die Schwierigkeit augenblicklich aus der Welt zu schaffen, indem ich Eurer Majestät ein Verzeichnis über Gelder vorzulegen habe, die Seine Eminenz weder in seinem Testament, noch in andern Dokumenten aufgeführt hat. Er hat sie vielmehr mir anvertraut, mit dem Befehl, Sie Eurer Majestät zur Verfügung zu stellen.« – »Wie?« rief Ludwig. »Mazarin hatte außer jenen 40 Millionen noch andere Kapitalien.« Und leise setzte er hinzu: »Der Mann war also ein bodenloser Abgrund. Auf der einen Seite Fouquet, auf der andern Mazarin – da ist es kein Wunder, daß meine Schatulle leer ist. Und was ist’s für eine Summe?« fragte er Colbert.

»Dreizehn Millionen,« war die Antwort. – »Dreizehn Millionen!« rief Ludwig erstaunt. »Und von dieser Summe hat niemand gewußt?« – »Nur ich, nicht einmal der Kardinal,« erwiderte Colbert. – »Und ich kann das Geld haben?« – »In zwei Stunden.« – »Der Kardinal hat sich also vollständig auf Sie verlassen?« – »Er war gegen alle Welt mißtrauisch, nur gegen mich nicht.« – »Sie sind ein braver Mann, Colbert.« – »Das ist keine Tugend, das ist Pflicht,« war die Antwort. – »Und dieses Geld gehört nicht den Verwandten?« – »Wenn dies der Fall wäre, so würde es gleich dem übrigen Vermögen im Testament aufgeführt sein. Majestät können aus dieser Abschrift des Testaments,« sagte Colbert, dem König ein Dokument reichend, »ersehen, daß darin keine Rede von den 13 Millionen ist. Ich hätte dann diese Summe ja auch schon zu den 40 Millionen hinzugefügt, über die die Schenkungsurkunde lautete.« – »Sie hätten sie hinzugefügt? Ja, haben denn Sie diese Schenkungsurkunde geschrieben?« – »Ich habe sie Seiner Eminenz diktiert.« – Ludwig strich sich über die Stirn. »O, wie jung bin ich doch noch,« sagte er, »über Menschen zu regieren.«

»Wann soll ich Eurer Majestät das Geld schicken?« – »Morgen nacht um elf Uhr. Besteht es aus gemünztem Golde?« – »Ja.« – »Schicken Sie es zum Louvre. Ich danke Ihnen, Colbert.« Und als er allein war, rief er: »Dreizehn Millionen! Es erscheint mir wie ein Traum.« Er riß das Fenster auf, um die glühende Stirn an der frischen Morgenluft zu kühlen. Die Sonne ging prachtvoll auf und färbte den Himmel purpurrot. Ihre ersten Strahlen fielen, ein goldner Schein, auf das Haupt des jungen Monarchen. – »Die Morgenröte meiner Regierung!« sprach Ludwig XIV.

Colbert hielt Wort. Am nächsten Abend befand sich die ganze Summe von 13 Millionen im königlichen Schloß. Aber der besonnene, zielbewußte Mann wußte sich auch ein Entgelt für seine Uneigennützigkeit zu sichern. Als er an diesem Tage Ludwig XIV. verließ, war er zum Kontrolleur der Finanzen ernannt, mit der Bildung einer Justizkammer betraut, die gegen die betrügerischen Finanzpächter vorgehen sollte, welche, wie Colbert sagte, schon seit zehn Jahren den Staat betrogen hätten, und außerdem auch dazu ermächtigt worden, die britische Korrespondenz in Empfang zu nehmen und zu bearbeiten. Das war viel auf einmal, niemand wußte das besser, als Colbert selbst. Er konnte sich sagen, daß die erste Stufe zur Würde eines zweiten Mazarin erklommen war.

Er war kaum gegangen, so erhielt Ludwig XIV. ein Schreiben von Karl II. Es lautete: »Ich danke Eurer Majestät für Ihre huldvolle Antwort auf meinen Heiratsvorschlag. In acht Tagen wird Lady Henriette nach Paris abreisen. Es ist für mich eine große Freude, daß ich Sie dann noch mit größerem Recht Bruder nennen darf. Inzwischen habe ich erfahren, daß Sie Belle-Ile-en-mer unter der Hand befestigen lasten. Das ist nicht recht von Ihnen. Wir werden nie Krieg miteinander haben. Das betrübt mich. Außerdem vergeuden Sie damit viele Millionen in ganz unnützer Weise. Sagen Sie das Ihren Ministern.« – »Belle-Ile wird befestigt?!« rief Ludwig. »Die Insel ist ein Besitztum Fouquets. Sollte das eine Verschwörung sein? Das wäre der Ruin des Oberintendanten.« Er dachte einen Augenblick nach, dann rief er den Kammerdiener: »Ich hatte einmal einen Musketier-Leutnant namens d’Artagnan. Der Mann soll morgen vormittag zu mir kommen.« Der Kammerdiener verneigte sich und ging. – »Wenn Colbert meine Börse und d’Artagnan mein Schwert führt,« sagte Ludwig zu sich selbst, »dann bin ich König!«

9. Kapitel. Der Schatz

Monk und Athos verließen das Lager und wendeten sich dem Tweedfluß zu. Der Franzose zweifelte nicht einen Augenblick, welchen Weg er einschlagen sollte, und der englische General erkannte bald, daß dieser Mann die Gegend ganz genau kenne. Zehn Minuten ging es zwischen Zelten und Schildwachen hindurch, dann betraten sie eine Landstraße, die sich nach wenigen Schritten teilte. Die mittlere der drei Abzweigungen führte zur Abtei Newcastle. Jenseits dieser Straße, gar nicht mehr weit von ihnen, lagen die äußersten Posten Monks. Man war hier also schon verhältnismäßig nahe beim feindlichen Lager. Gleichfalls ganz in der Nähe befand sich am Flußufer das Quartier, das den vermeintlichen Fischern aus der Picardie angewiesen worden war.

Der Mond schien und warf ein gespenstisches Licht auf das Wasser, auf die Baumgruppen, auf die Zelte und die einzelnen hin und her wandelnden Wachtposten. Monk und Athos schritten schweigend durch dieses Zwielicht von Mondschein und Wachtfeuern. Ehe der General die finstere Straße betrat, die geradeswegs zur Abtei führte, warf er einen Blick um sich. Er sah eine Gestalt im Schatten dahinhuschen. – »Ah,« dachte er, »Digby traut der Sache nicht und ist uns doch gefolgt. Digby!« rief er laut, »hierher!« – Aber es konnte doch wohl nicht Digby, der Adjutant, gewesen sein; denn statt zu gehorchen, duckte sich die Gestalt und verschwand hinter einem Damme. Da das nun in einem Kriegslager keine sonderlich auffallende Erscheinung war, so machte Monk sich keine Gedanken weiter darüber, sondern ging mit Athos weiter.

»Es ist aber doch wohl besser, General,« sagte dieser, »wir lassen uns von einem der Soldaten eine Laterne geben.« – »Nein, nicht von einem Soldaten,« antwortete Monk. »Ich will von keinem meiner Leute hier gesehen sein. Gehen wir zu den französischen Fischern, die auch ganz in der Nähe liegen. Die Leute fahren morgen wieder ab, so kann man ihnen das Geheimnis eher anvertrauen. Wüßten meine Soldaten, daß in der Abtei dort eine Million versteckt liegt, sie würden morgen dort das unterste zu oberst kehren und keinen Stein auf dem andern lassen, um nach weiteren Schätzen zu suchen.« – Nach diesen Worten schritt Monk auf das Feld jenseits des Weges, bis er vor einem kleinen Zelt stand. »Hollah!« rief er. »Aufgewacht!« – Der Kapitän der Fischer war sofort auf den Füßen. Als er den General erkannte, fragte er mit gut erkünstelter Schläfrigkeit nach seinen Befehlen. – »Ich brauche einen Mann mit einer Laterne,« war die Antwort. – »Soll ich selbst mitkommen, Mylord?« fragte der Kapitän. – »Du oder ein anderer, das ist mir gleich,« versetzte Monk. »Nur schnell!«

»Sonderbar,« dachte Athos bei sich. »Die Sprache dieses Fischers kommt mir bekannt vor.« – Der Mann hielt sich jedoch im tiefen Schatten der Zeltwand, so daß der Graf nicht sein Gesicht sehen konnte. – »Ich will doch lieber einen andern schicken,« dachte d’Artagnan. »Das ist meiner Treu Athos. Er könnte mich erkennen und meinem Unternehmen Schwierigkeiten bereiten. Sicherlich verfolgt er hier seinen eignen Plan.« – Diese Erwägungen vollzogen sich in seinem Kopfe mit der Geschwindigkeit eines Blitzes, und Monk hatte nicht nötig, noch einmal zur Eile zu drängen. Im nächsten Augenblick stand einer der Fischer bereit, den beiden mit der Laterne voranzugehen.

»Leuchte uns nach der Abtei Newcastle,« befahl Monk, »und mach lange Beine, Kerl!« – Sie schritten weiter durch die Nacht, stumm und rasch, ein jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Die des Grafen weilten bei dem Fischer, dessen Erscheinung und Stimme ihm bekannt erschienen waren. »Aber es ist ja ganz unmöglich,« sagte er sich. »Wie kann ich auf solch eine alberne Vermutung kommen?«

Nach wenigen Minuten traten sie in die Abtei. Im Innern lag ein Posten von vier Mann, die beim Geräusch von Schritten aufsprangen und ihr »Wer da?« ertönen ließen. Monk gab das Losungswort, und sie schritten unangefochten tiefer hinein in die Trümmer der verfallenen Stätte. Festen Fußes ging Athos, seines Zieles ganz sicher, durch die öden Hallen. Es gab hier keine Tür und kein Fenster mehr. Aus den leeren Löchern und Höhlen flüchteten aufgescheuchte Nachtvögel, vom Licht der Laterne erschreckt. Fledermäuse umflatterten die Eindringlinge, deren Schatten in riesiger Größe an den nackten Flächen der verwitterten Mauern tanzten. Als Monk diese Tiere jetzt erst auffliegen sah, wußte er, daß sich dort drinnen niemand versteckt, daß vor ihnen kein Mensch diese Oedenei betreten hätte. – »Ich werde also mit diesem Manne ganz allein sein,« dachte er bei sich. »Nun, dann will ich es schon mit ihm aufnehmen.« – Athos schritt über Schutthaufen hinweg und stand nun vor der Gruft. – »Wir sind zur Stelle,« sprach er. »Hier ist der Stein.« – »Der Ring daran ist in den Stein eingegossen,« sagte Monk. »Wir müssen einen Hebebaum haben. Hast du ein Messer bei der Hand?« fragte er den Fischer. »Dann schneide die junge Esche dort ab.« Dies geschah. »Bleib dort hinten stehen,« sagte Monk darauf zu dem Manne. »Du darfst mit deinem Licht nicht so nahe heran, wir haben Schießpulver zu Tage zu fördern.«

Der Matrose wich erschrocken zurück. Athos und Monk traten hinter eine Säule. Der Franzose ergriff den Hebebaum, setzte ihn in den Ring und wuchtete mit einem kraftvollen Ruck die Platte in die Höhe. – »Ich danke, Mylord,« sprach er, als Monk ihm helfen wollte. »Ich wünsche nicht, daß Sie mit Hand anlegen an ein Werk, von dem Sie gewiß die Finger lassen würden, wenn Ihnen die Folgen, die es haben wird, bekannt wären.«

Der General stutzte und sah den Grafen an. – »Was meinen Sie damit?« fragte er. – Athos warf einen Blick auf den Fischer und sagte: »Wir sind nicht allein.« – »Ha!« dachte Monk. »Nun, ich will es drauf ankommen lassen, Mann gegen Mann mit ihm zu bleiben.« Darauf rief er dem Matrosen zu, er solle in den Außenhof zurückkehren und seine Laterne da lassen. Der Mann gehorchte. Monk war mit Athos allein.

»In dieser Gruft also soll soviel Geld stecken?« fragte der General, nahm die Laterne und stellte sie hart an den Rand der Oeffnung. – »Ja, General, in fünf Minuten werden Sie nicht mehr daran zweifeln.« – Zugleich schlug Athos mit solcher Kraft auf die Gipsbekleidung, daß sie in Stücke ging. Er faßte die Steine und riß sie los. – »Das ist das Mauerwerk, von dem ich sprach.« – »Ja, aber ich sehe die Fässer noch nicht,« gab Monk zur Antwort. – »Wenn ich einen Dolch hätte,« sagte Athos, »dann würden die Fässer bald zum Vorschein kommen. Leider habe ich alle Waffen in Ihrem Zelte gelassen.« – »Ich würde Ihnen den meinigen geben,« erwiderte Monk, »aber die Klinge ist zu dünn und würde nur abbrechen. Lassen Sie sich den Dolch des Fischers herüberwerfen.« – Athos trat ein paar Schritte vor, bis er in Rufweite des Matrosen war. Gleich darauf klirrte die Waffe auf dem Gestein, und der Graf kehrte zurück. – »Der ist stärker als meiner,« sprach Monk ruhig.

Athos schien nicht zu hören, sondern arbeitete alsbald wieder an den Steinen herum. In wenigen Minuten war aller Gips entfernt, und Monk erblickte zwei Fäßchen. – »Sie sehen, General,« rief Athos, »meine Ahnungen haben mich nicht betrogen. Gott beschützt jede gerechte Sache, und daher war ich der Zuversicht, daß dieser Schatz nicht in unrechte Hände gefallen sei.« – »Sie sind ebenso geheimnisvoll in Worten wie in Taten, Graf,« entgegnete Monk. »Soeben sprachen Sie von den Folgen Ihrer Tat, und jetzt reden Sie von einer gerechten Sache. Was ist das für eine Sache?«

Athos sah General Monk an, als wollte er in der Tiefe seiner Seele lesen. Dann nahm er seinen Hut ab und begann in feierlichem Tone, dem die düstere Umgebung der Ruine noch eine ganz besondere Eindringlichkeit verlieh: »Herr General, als Edelmann spreche ich zum Edelmanne. Ich sagte, dieses Geld gehöre mir. Das war die erste Lüge meines Lebens. Ich eile, sie wieder gutzumachen. Dieses Geld gehört vielmehr Karl II., dem vertriebenen König von England.« – Monk erblaßte und zitterte unwillkürlich. – »Ich bin der Letzte,« fuhr der Graf de la Fère fort, »der dem unglücklichen Herrscher die Treue gewahrt hat, und um ihm zu helfen, habe ich den Mann aufgesucht, von dessen Entschluß das Schicksal Englands und seines Königs abhängt, habe mich ihm wehrlos in die Hände gegeben und spreche also zu ihm: Mylord, diese Million ist der letzte Rettungsanker eines Mannes, der Ihr Fürst und König ist. Sie allein haben über sein Schicksal, über seine Zukunft zu entscheiden. Hier vor Ihnen liegt das, was den König retten kann, was Sie aber auch zu seiner völligen Vernichtung benützen können. Wenn Sie verhindern wollen, daß ich mit diesem Gelde zu Karl II. zurückkehre, daß ich ihm die Heimfahrt damit ermögliche, dann stoßen Sie mich nieder, hier ist ein fertiges Grab. Zu jedem andern als Ihnen, Mylord, würde ich sagen: Nehmen Sie dieses Geld als Bezahlung für Ihre Mithilfe. Treten Sie gegen diese Million auf die Seite Karls, werfen Sie Ihre gewichtige Stimme zu seinen Gunsten in die Wage, Ihnen wird das Volk beistimmen. Allein so darf ich zu General Monk nicht sprechen. An einen so ausgezeichneten Charakter muß ich andere Worte richten. Herr General, eine hervorragende Stelle in der Geschichte Ihres Volkes ist Ihnen eingeräumt worden. Wenn Sie nur das Wohl Ihres Vaterlandes im Auge haben, dann müssen Sie dem König helfen, dem einzigen rechtmäßigen König. Dann wird Ihnen der Ruhm zuteil werden, der redlichste, tugendhafteste Mann Ihrer Zeit gewesen zu sein. Sie haben eine Krone in der Hand gehalten und, statt sie auf das eigene Haupt zu setzen, dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben. Handeln Sie so, Mylord, und Ihr Ruhm bei der Nachwelt wird nicht enden.«

Der Graf schwieg. Monk hatte weder Beistimmung noch Widerspruch erkennen lassen. Sein kaltes, gefühlloses Gesicht veränderte sich nicht. Nach kurzem Schweigen antwortete er: »Herr Graf, Sie sind einer von denen, die Karl I. helfen wollten. Als ich sagte, ich hätte noch nie von Ihnen gehört, sprach auch ich die Unwahrheit. Ich habe vielmehr schon viel von Ihnen gehört, aber ich freue mich, daß ich Sie nach meinem Gefühl, nicht nach meinen Erinnerungen beurteilt habe, daß ich Ihnen Gehör schenkte, statt Sie auf der Stelle gefangenzusetzen. Bisher habe ich noch keine der von Karl II. an mich abgeschickten Personen vorgelassen. Was kümmert mich dieses Phantom von einem König? Er hat hier gekämpft und ist besiegt worden, also ist er ein schlechter Heerführer; er hat Unterhandlungen versucht und keine erfolgreich durchführen können, also ist er auch ein schlechter Diplomat. Er ist in seinem Elend an allen europäischen Höfen hausieren gegangen, also ist er auch kleinmütig und schwach. Er hat sich noch nicht königlich gezeigt, keine edle große Tat hat der Geist gezeitigt, der eines der größten Länder der Erde regieren soll. Ich kenne Karl Stuart also nur von einer sehr unvorteilhaften Seite. Soll ich ihm deshalb huldigen, weil er der Sohn Karls I. ist? Den hat das Volk vom Thron gestoßen, weil ihm die Tugenden eines Königs fehlten. Nun wohl, dieser Sohn möge mir zeigen, daß er eben jene Tugenden besitzt; er offenbare mir sein Genie, seinen Mut. Von ihm als dem Sproß eines solchen Geschlechts muß man mehr fordern als von andern Sterblichen. Bringen Sie ihm diese Million. Sie soll für mich ein Prüfstein sein, und ich werde sehen, wie er das Geld anwendet. Bis jetzt will ich ihn ja schließlich nicht ganz verdammen. Nein, gewiß nicht! Sie haben sehr Recht, wenn Sie sagen, ich verfolge nur das Wohl meines Vaterlandes. Ja ich erkläre Ihnen sogar, wenn das Parlament mir heute Befehl erteilte, Karl II. als König zu empfangen, so würde ich –«

»So würden Sie gehorchen?« rief Athos freudig. – »Entschuldigen Sie,« versetzte Monk lächelnd. »Wo hatte ich alter Graukopf nur meinen Verstand? Hätte ich doch beinahe eine jugendliche Torheit gesagt!« – »Sie würden also nicht gehorchen?« fragte Athos. – »Das sagte ich auch nicht, Graf. Das Wohl des Vaterlands über alles! Wenn das Parlament mir einen solchen Befehl erteilte, so würde ich mich bedanken. Doch gestatten Sie nun auch mir eine Frage. Wenn Sie Karl Stuart diese Million bringen, welchen Rat werden Sie ihm dabei geben?« – »Ich werde ihm nicht raten, Unterhandlungen anzuknüpfen, was mancher an meiner Stelle vielleicht täte. Ich werde ihm Folgendes raten: Werben Sie, so werde ich zu ihm sprechen, zwei Regimenter an, rücken Sie in Schottland ein, führen Sie persönlich das kleine Heer an und fallen Sie mit der Fahne in der Hand. Rufen Sie sterbend noch Ihren Gegnern zu: Briten, dies ist der dritte König meines Geschlechts, den ihr mordet, fürchtet die Rache Gottes!« – »Leider werden gerade die guten Ratschläge von den Königen selten befolgt,« versetzte Monk mit ironischem Lächeln. »Graf, unsere Unterredung ist beendet. Ich werde Befehl erteilen, diese Fässer an den Ort zu schaffen, den Sie mir nennen wollen. Wo wohnen Sie?« – »In einem kleinen Dorfe an der Mündung des Flusses. Eine Viertelmeile von der Küste liegt auch mein Schiff.«

»Wollen Sie sogleich absegeln?« fragte Monk. »Ich rate Ihnen, dies nicht zu tun. Zwischen mir und Lambert steht eine Schlacht bevor oder ein Vergleich. Jedenfalls aber eine Entscheidung. Warten Sie acht Tage. Dann muß diese Entscheidung gefallen sein. Wenn ich dann noch am Leben bin, so werde ich Sie aufsuchen. Vielleicht haben die Dinge dann ein ganz anderes Gesicht als heute. Sicherlich aber werden Sie Karl Stuart eine wichtige Neuigkeit gleich als Augenzeuge übermitteln können. Sie werden von mir Nachricht erhalten. Doch nicht vor acht Tagen.« – In den Augen des Grafen blitzte ein Strahl von Freude auf. »O, wie stolz würde es mich machen,« rief er fast unwillkürlich, »das edle Herz, das unter diesem Mantel schlägt, früher als andere entdeckt zu haben!«

Monk antwortete nicht, sondern befahl dem Fischer, den Wachtposten herbeizurufen. Die vier Soldaten kamen. Der General hieß den Sergeanten, der die Aufsicht über die drei Gemeinen führte, hertreten. »In diesen zwei Fässern sind Pulver und Kugeln,« sagte er. »Schaffe sie mit deinen Leuten in das kleine Dorf an der Flußmündung, das wir morgen mit 200 Mann besetzen. Sorge dafür, daß es geheim bleibt. Der Sieg kann dadurch entschieden werden. Dieser Edelmann hier wird dich hinführen und dir zeigen, wo die Fässer niederzulegen sind. Laß also sofort ein Pferd holen, das die Last tragen kann. Herr Graf,« wendete er sich an Athos, »ich lasse Sie mit diesen Leuten allein und kehre ins Lager zurück. Auf Wiedersehen!«

Er verließ die Gruft. Als er etwa zwanzig Schritte von der Abtei entfernt war, ertönte ein leiser Pfiff in der Dunkelheit. Monk sah sich nach dem Fischer um, der sie hergeführt hatte. Der Mann war nirgends mehr zu sehen. Monk glaubte sich in der Mitte seines Lagers frei von aller Gefahr und schritt weiter. Hätte er sorgsamer hingeschaut, so würde er entdeckt haben, daß ein Mann ein Stück von ihm entfernt zwischen den Steinen dahinkroch, und daß das Fischerboot nicht mehr in der Mitte des Flusses, sondern hart am Ufer lag. Die nächsten Wachtposten waren ein beträchtliches Stück von ihm entfernt; den einzigen, der ihm hätte helfen können, hatte er unter den Befehl des Grafen de la Fère gestellt. Der Nebel wurde rasch so dicht, daß man bald keine zehn Schritte weit sehen konnte. Plötzlich glaubte Monk ein Geräusch zu hören, das wie Ruderschläge klang. Er blieb stehen und zog seine Pistole. Einen Hilferuf auszustoßen, solange es nicht dringend nötig war, hielt er seiner unwürdig.

*

Am nächsten Morgen wurde Athos durch den Lärm von Soldaten geweckt, die in seine Wohnung drangen. Sie hatten Befehl, ihn ins Lager zu führen. Verwundert darüber, daß Monk so rasch gegen die Verabredung verstieß, folgte er den Leuten. Als er im Hauptquartier anlangte, sah er im Zelte des Generals außer dem ihm schon bekannten Adjutanten Digby zwei Obersten. Sein Schwert lag noch auf dem Tische, wohin er es am verflossenen Abend gelegt hatte.

»Ist dies derselbe Fremde, mit dem zusammen der General gestern das Zelt verlassen hat?« fragte einer der Stabsoffiziere den Adjutanten. – »Es ist derselbe,« 7 antwortete Digby. – »Meine Herren,« rief Athos mit Würde, »ich habe keinen Grund, das zu leugnen. Warum eine solche Frage in solchem Tone?« – »Wir sind berechtigt, einen solchen Ton anzuschlagen.« – »Nein,« versetzte Athos. »Ich erkenne hier nur den General Monk als meinesgleichen an und stehe nur ihm Rede und Antwort. Führen Sie mich also zu ihm, wenn Fragen an mich zu richten sind. Wo ist er?« – »Das werden Sie wohl besser wissen als wir,« antwortete einer der Obersten. »Was hat der General gestern mit Ihnen gesprochen?« – »Das ist ein Geheimnis zwischen mir und ihm. Ich kann darauf nur antworten, wenn der General mich dazu ermächtigt.« – »Aber Sie wissen doch recht gut, daß dies unmöglich ist.« – »Ich erhalte schon zum zweitenmal eine solche seltsame Antwort! Ist denn der General nicht hier?« – Diese Frage stellte Athos in so ungekünsteltem Erstaunen, daß die Offiziere sich verlegen ansahen. Nach einer Pause fragte der Adjutant: »Der General hat Sie gestern bei der Abtei verlassen? Sie sind dann gegangen?« – »Fragen Sie danach Ihre eigenen Soldaten, die meine Begleiter waren,« antwortete Athos unwillig.

»Sie wollen also nicht wissen, wo sich der General befindet?« – »Wo er sich befindet? Zum Teufel, doch hier im Lager!« – »Und was enthielten jene Fässer?« – »Fragen Sie Ihre Soldaten. Denen hat es der General selber gesagt.« – »Wir haben sie gefragt und erfahren, die Fässer enthielten Pulver und Blei, aber wir lassen uns nicht hinters Licht führen.« – »Bedenken Sie, was Sie da reden, meine Herren!« rief Athos. »Sie zeihen Ihren General der Lüge. Der General hat mich aufgefordert, noch acht Tage hier zu bleiben und auf seine Antwort zu warten. Bin ich entflohen?« – »Er hat Sie aufgefordert, acht Tage zu warten?« rief der Adjutant. – »Meine Schaluppe liegt an der Flußmündung. Ich hätte ohne jede Schwierigkeit an Bord gehen und abfahren können. Nur auf Wunsch des Generals blieb ich hier.«

Der Adjutant wendete sich an die beiden Stabsoffiziere und sprach: »Wenn der Franzose die Wahrheit spricht, dann ist noch Hoffnung. Der General hat vielleicht eine geheime Unterhandlung zu erledigen, über die er niemand etwas sagen wollte. Mein Herr,« sagte er zu Athos, »der General ist spurlos verschwunden, und wir wissen nicht, ob ein Verbrechen vorliegt, oder ob der General absichtlich fortbleibt. Können Sie uns eine Erklärung geben?« – »Zwischen mir und dem General,« antwortete Athos, »hat eine geheime Unterredung stattgefunden und da der General vor der Entscheidungsschlacht, die zu erwarten ist, mir keine bindende Antwort geben wollte, so hieß er mich – ich wiederhole es – acht Tage warten. Das ist alles, was ich weiß, so wahr mein Leben in der Gewalt Gottes steht.« – »Die Sache ist unerklärlich,« sagte einer der Obersten. »Unmöglich können wir annehmen, daß ein so umsichtiger Mann wie unser General am Vorabend einer Schlacht einfach seine Armee verläßt, ohne einem seiner Unterfeldherren etwas zu sagen. Mich will bedünken, als hätten mit diesem plötzlichen Verschwinden die französischen Fischer zu tun, die ja seit gestern abend auch verschwunden sind. Allerdings konnten sie gehen, wann sie wollten, denn sie waren keine Kriegsgefangnen; dennoch erscheint mir das Zusammentreffen seltsam und verdachterregend. Und wer steht uns nun dafür, daß Sie, mein Herr, nicht mit diesen Fischern unter einer Decke gesteckt haben? Daß Sie nur geblieben sind, um jeden Argwohn abzulenken?« – »Das ist ein scheinbar ganz richtiger Schluß,« versetzte Athos, »aber in Bezug auf meine Person trifft er nicht zu. Verdächtig erscheint der Fall nun freilich auch mir, und ich rate Ihnen, schleunigst Nachforschungen anzustellen. Was mich anbetrifft, so gebe ich mich bis auf weiteres gefangen.« – »Das ist selbstverständlich,« erwiderte der Adjutant. »Sie bleiben im Hauptquartier.« – »Damit bin ich nicht einverstanden,« entgegnete Athos ruhig, »Ihr General hat mir sein volles Vertrauen geschenkt und mir ein Gut übergeben, das ich nicht aus den Händen lassen darf. Setzen Sie eine Wache über mich, von soviel Mann, wie Sie wollen, aber lassen Sie mich in meine Wohnung zurückkehren. Der General wird Sie ernsthaft tadeln, wenn Sie hierin gegen seinen Willen handelten.« – Die Offiziere berieten sich einen Augenblick, dann ließen sie Athos unter Bedeckung von fünfzig Mann in seine Wohnung zurückkehren.

Die Sache blieb geheim. Vom Verschwinden des Generals erfuhr niemand im Lager. Aber Tage, ja Wochen verflossen, und Monk kam nicht zurück; ja nicht einmal eine Nachricht traf von ihm ein.

10. Kapitel. Wie d’Artagnans große Idee endete

Zwei Tage nach den eben erzählten Ereignissen ging am späten Abend eine kleine holländische Fischerbark an der Küste von Scheveningen vor Anker und setzte in einem Boote acht Mann an Land, die beim Aussteigen einen großen, länglichen Gegenstand, der eine Kiste oder ein Ballen zu sein schien, auf den Strand legten. Ein einzelner Mann lief sogleich auf das einsame Haus zu, das dem verstoßenen König von England zur Wohnung diente. Der Hund bellte laut, der alte Parry fuhr aus dem Schlafe auf. – »Was gibt’s?« rief er und wagte die Tür nur um einen Spalt zu öffnen. – »Ich will zu Seiner Majestät Karl II.,« antwortete eine Stimme. – »Nennt Euern Namen und Euer Begehr!« – »Potzblitz, Ihr seid neugierig, Alter, ich bringe wichtige und unerwartete Nachrichten, laßt mich also nicht länger warten, so Ihr Euern Herrn lieb habt.« – »Ihr müßt vor allem Euern Namen nennen – ich habe ausdrücklichen Befehl, jeden Unbekannten, der anklopft, danach zu fragen.« – »Ich bin kein Unbekannter, potzblitz!« rief die Stimme. »Oeffnet, ich bringe eine Kunde, die nicht mit Geld aufzuwiegen ist!« – »Meiner Treu, ich sollte diese Stimme kennen,« sagte nun Parry und öffnete die Tür um einen Spalt weiter. »Richtig, es ist Chevalier d’Artagnan!« Und nun flog die Tür ganz auf, und Parry ließ den Kriegsmann ein, der noch immer die Fischerstracht anhatte.

»Ja, ja, ich bin’s wirklich, lieber Parry!« sagte d’Artagnan. »Und nun melden Sie mich beim König!«

»Aber Majestät schlafen schon.« – Doch im selben Augenblick erschien der König, der noch gearbeitet hatte, in der Tür seines Zimmers und fragte nach der Ursache dieses nächtlichen Lärms. – »Majestät, Verzeihung,« antwortete Parry, »Chevalier d’Artagnan ist hier und will Sie durchaus sprechen. Er hat wichtige Nachrichten.«

»So laß ihn herein, Parry!«

Und d’Artagnan trat auf den König zu. – »Wo ist der Chevalier?« fragte dieser erstaunt beim Anblick einer fremden Gestalt. – »Er steht vor Ihnen,« antwortete der Kriegsmann. – »Ah, nun erkenne ich Sie!« rief der Brite. »Doch wozu diese Verkleidung?«

»Hören Sie mich an, Majestät,« begann d’Artagnan, als er mit dem König in dessen Zimmer allein war. »Als ich Sie in Blois zu Ludwig XIV. führte, war ich Zeuge Ihres Schmerzes und auch Zeuge Ihres Mißerfolges. Aus Ihrem Munde vernahm ich da die Worte, daß ein gewisser General Monk für Sie das gefährlichste Hindernis auf dem Wege zum Throne sei. Wenn es Ihnen gelänge, ihn zu beseitigen oder zu sich hinüberzuziehen, so würden Sie Ihrem Ziel um ein bedeutendes Stück näher sein. Habe ich damals recht gehört?« – »Gewiß, Chevalier, doch wozu diese Frage? Ein König ohne Heer und Geld vermag nichts gegen einen Mann wie Monk.« – »Das war Ihre Meinung, Majestät, doch glücklicherweise nicht die meine,« fuhr der Chevalier fort. »Ich habe ohne Heer und ohne besonders viel Geld ausgeführt, was Eurer Majestät so unmöglich schien.«

»Mann, was wollen Sie damit sagen?« rief Karl II.

»Daß ich nach England gefahren bin, um den Ihnen so lästigen Mann zu fangen, daß ich ihn mitten aus seinem Lager fortgeschleppt habe, daß ich glücklich zurückgekehrt bin, und daß ich ihn Eurer Majestät bringe.« – »Sie bringen mir den General Monk?« rief Karl II. in grenzenlosem Erstaunen. – »Ja, Sire. Ich habe ihn dort am Strande in einer großen Kiste, aus der ich ihn nur herauszuholen brauche. Seien Sie unbesorgt, die Kiste war mit Luftlöchern versehen, er hat also atmen können. Er wollte zwar keine Nahrung zu sich nehmen, aber ich zwang ihn dazu. Somit befindet er sich ganz wohl. Wünschen Sie ihn zu sehen, Majestät?« – »Sie sind des Teufels, Herr! Ich kann nicht glauben, daß Sie im Ernst sprechen!« – Aber d’Artagnan war schon hinausgeeilt, um seine seltsame Beute herbeizuschaffen.

Vor seiner Abfahrt aus Calais hatte d’Artagnan einen Kasten zimmern lassen, lang, breit und tief genug, einen Menschen aufzunehmen. Eine Matratze war hineingelegt worden, so daß man weich darin liegen konnte. Zweierlei war für den wagemutigen Kriegsmann zu fürchten gewesen: entweder der General Monk, der allgemein für halsstarrig galt, zog den Tod dieser seltsamen Gefangenschaft vor, oder aber er versuchte, die Matrosen zu bestechen und gegen ihren Führer aufzuhetzen. Als d’Artagnan den General nun glücklich in der Kiste hatte, blieb er Tag und Nacht daneben sitzen, bis das Gestade von Holland erreicht war. Erst als er nun zum König ging, verließ er den Gefangenen zum ersten Male, indem er mit einem seiner Leute, den er ganz besonders in sein Vertrauen gezogen hatte, ein dreimaliges Pfeifen verabredete, auf welches Zeichen sie die Kiste unverzüglich herbeitragen sollten.

Dieses Pfeifen ließ er nun ertönen, und als der Kasten im Zimmer des Königs stand, hob d’Artagnan den Deckel auf und half dem Gefangenen heraus, der stumm die steifen Glieder reckte und sich umschaute, während d’Artagnan seine Leute mit den Worten entließ: »Ihr habt König Karl II. von England einen wichtigen Dienst geleistet. Binnen sechs Wochen wird er nun wieder auf seinem Throne sitzen. Eure Löhnung wird deshalb verdoppelt werden. Kehrt zum Boot zurück und wartet dort auf mich.« Darauf wendete er sich an den General, der noch immer stumm wie eine Bildsäule dastand, verneigte sich respektvoll vor ihm und sprach: »Herr General, ich muß Sie um Verzeihung bitten, daß ich Sie so behandelt habe, aber es blieb mir nichts weiter übrig. Jetzt sind Sie frei oder vielmehr aus meinen Händen in die des Königs Karl II. übergegangen.« Und zum König gewendet, setzte er hinzu: »Majestät, hier steht Ihr Feind, General Monk. Beschließen Sie nun das Weitere.«

Monk sah den jungen Monarchen gleichgültig an. »Für mich gibt es keinen König von England,« sagte er ruhig; »ich kenne hier keinen, der würdig wäre, ein Edelmann genannt zu werden. Ein verkappter Verräter, den ich für einen ehrlichen Mann hielt, hat mir im Namen Karl Stuarts eine schändliche Falle gestellt, in die ich leider hineingegangen bin. Tötet mich, denn wahrlich, meinen unbeugsamen Willen werdet Ihr Euch nie Untertan machen. Von diesem Augenblick an werde ich nicht einmal mehr zum Hilferufen den Mund mehr auftun.«

Karl II. betrachtete nachdenklich den berühmten Mann, dem er zum ersten Male Auge in Auge gegenüberstand. Mit jenem Scharfsinn, der den Adlern eigen ist und den Königen eigen sein sollte, hatte er die Tiefe dieses Feindesherzens auf den ersten Blick ergründet und faßte alsbald einen jener heroischen Entschlüsse, auf die ein gewöhnlicher Mensch sein Leben, ein Heerführer sein Glück, ein König sein Reich setzt. – »General,« sagte er zu Monk, »Sie haben das Recht zu schweigen. Ich verlange daher nicht, daß Sie mir antworten, sondern nur, daß Sie mich anhören. Sie machen mir einen schmerzlichen Vorwurf, indem Sie behaupten, ein von mir abgesandter Verräter hätte Ihnen eine Falle gestellt. Damit können Sie nicht diesen Herrn hier meinen, den Chevalier d’Artagnan, dem ich für seine uneigennützige Anhänglichkeit tiefen Dank schulde. Der Herr Chevalier ist nämlich ganz aus eigenem Antriebe, und ohne daß ich etwas von seinem Vorhaben wußte, nach England gefahren, um seinen früheren glänzenden Waffentaten eine neue hinzuzufügen. Sie können mit Ihren Worten vielmehr nur auf den Grafen de la Fère anspielen, der in meinem Auftrag nach Newcastle gereist ist –« – »Athos,« rief d’Artagnan dazwischen. – »Ich glaube, dies ist sein Spitzname,« fuhr Karl II. fort. »Er sollte für mich nach einer Million Geldes suchen, die als letztes Besitztum meines Vaters in der Abtei von Newcastle verborgen lag, und dabei gleichzeitig eine Unterredung mit Ihnen, General, herbeiführen. Nun ist, wie mir scheint; die Unterhandlung zwischen Ihnen und meinem Abgesandten durch diesen Biedermann hier auf unfreiwillige Weise unterbrochen worden. Lassen Sie sich das nicht zu Herzen gehen, Herr d’Artagnan, Sie haben sich als treuer Freund bewährt und mir zur persönlichen Bekanntschaft eines Mannes verholfen, den ich bald nach seinem vollen Werte zu schätzen wissen werde.«

In den Augen des Puritaners leuchtete ein Blitz der Freude auf, doch nur ganz flüchtig, dann sah er wieder kalt und starr vor sich hin. Karl II. fuhr fort: »Für die Ihnen verhängnisvolle Wendung, die die Sache genommen hat, Herr General, bin ich also nicht verantwortlich zu machen. Ich werde es Ihnen sogleich beweisen. Folgen Sie mir, meine Herren!« – Mit diesen Worten verließ er das Haus, und Monk und d’Artagnan folgten ihm. Der König ging zum Strande. – »Wo ist das Boot, auf dem Sie herübergekommen sind?« fragte er. – »Dort,« antwortete der Chevalier, »und in Kanonenschußweite liegt die Bark – man kann sie in der Finsternis der Nacht nicht erkennen.« – »Aber Sie wissen, wo sie liegt, und werden sie finden?« – »Gewiß, Majestät.«

Darauf wendete der König sich an Monk und sprach: »General, Sie sind frei.« – Ein so großer Meister Monk auch in der Kunst, sich zu beherrschen, war, so vermochte er doch nicht einen leisen Ausruf der Ueberraschung zu unterdrücken. Karl II. fuhr fort: »Wecken Sie ein paar Fischersleute im Dorfe und besetzen Sie mit diesen das Fahrzeug. Noch in dieser Nacht können Sie die Reise antreten. Chevalier d’Artagnan wird Sie begleiten. Ich stelle meinen Freund und treuen Helfer unter den Schutz Ihrer Ehre.« – Monk ließ einen neuen Ausruf der Verwunderung hören, und der Chevalier seufzte tief. – »Und nun, General, gute Fahrt und Gott befohlen! Wir sehen uns bald wieder.« Nach diesem Gruße machte Karl II. kehrt und verschwand in der Dunkelheit.

»Das Blättchen hat sich gewendet,« brummte d’Artagnan mürrisch. »Gewähren Sie mir noch ein paar Minuten Frist. Ich muß meine Leute ablöhnen.« – Monk nickte stumm, und der Chevalier pfiff dreimal. In wenigen Augenblicken waren sie von zehn Matrosen d’Artagnans umringt. Er warf ihnen eine mit 2500 Goldlivres gefüllte Börse zu. »Ich muß euch verlassen,« sagte er. »Dies als Abschlagszahlung. Vielleicht komme ich bald wieder, vielleicht dauert’s auch lange, kann auch sein, wir sehen uns nimmermehr. Wartet immerhin in Calais ein Weilchen auf mich. Und nun, Herr General,« wendete er sich an diesen, »stehe ich zu Ihrer Verfügung. Wir werden die Reise zusammen machen – wenn anders Ihnen meine Gesellschaft nicht unangenehm ist –« – »Ganz im Gegenteil,« antwortete Monk gelassen, und d’Artagnan murmelte kopfschüttelnd: »Ich glaube, armer Planchet, unsere Aktien stehen faul.«

Während der Seefahrt sprach Monk kaum ein Wort mit d’Artagnan, obwohl er täglich mit ihm speiste und ihn auch sonst die Behandlung, die er durch ihn erlitten, in keiner Weise entgelten ließ. Nach achtundvierzigstündiger Reise landeten sie an der Mündung des Flüßchens wo das Haus stand, das Athos zur Wohnung diente. Monk schlug rasch den Weg zu seinem Lager ein, und d’Artagnan, der sich in sein Schicksal ergeben hatte, folgte ihm willenlos, wie ein Bär seinem Führer. Ingrimmig murmelte er vor sich hin, die Könige seien alle über einen Kamm, und der beste unter ihnen tauge nichts. Im Stillen gelobte er sich, keinem von ihnen je wieder zu dienen.

»Dort brennt ein Haus!« rief Monk plötzlich, »meiner Treu, das können nur Lamberts Soldaten sein.« – Sie beschleunigten ihre Schritte, um den durch die Flammen bedrohten Menschen zu Hilfe zu kommen, denn die Anzahl der Leute, die das brennende Haus umringte, schien ihnen nicht allzu groß zu sein, so daß sie es wagen konnten, sie anzugreifen. Als sie näher kamen, bemerkten sie, daß die Soldaten in offenbarer Mutlosigkeit dem Brande zusahen. Ohne vorher von ihnen bemerkt worden zu sein, trat Monk ganz plötzlich unter sie.

»Was bedeutet dies?« rief er. – Da stieß einer der Soldaten einen Schrei der Ueberraschung aus. »Der General!« – Der Ruf pflanzte sich rasch von Munde zu Munde fort, ein paar Offiziere, unter ihnen Digby, der Adjutant, stürzten herbei. Monk war von seinen Getreuen umringt. – »Was geht hier vor?« rief er nochmals. – Digby, der Adjutant ergriff das Wort: »Wir wollten jenen verräterischen Franzosen, der Euer Gnaden an jenem Abend fortlockte, zur Uebergabe zwingen,« erklärte er. »Aber es ist ihm nicht beizukommen. Er hat schon zehn der Unseligen erschossen, und wir sahen uns genötigt, Feuer an das Haus zu legen, um ihn auszuräuchern.«

»Ha!« rief d’Artagnan, und sein Schwert flog aus der Scheide, »mein Landsmann – mein Freund ist in Lebensgefahr – ihn wollt ihr bei lebendigem Leibe verbrennen. O, ihr Hunde! Athos, Athos, Hilfe ist nahe!« schrie er und wollte über die Soldaten Monks herfallen. Der General fiel ihm in den Arm. »Geduld!« sagte er. »Digby, sorgen Sie dafür, daß das Feuer auf der Stelle gelöscht wird. Wer dem Manne da drin ein Haar krümmt, büßt es mit dem Leben. Ist in meiner Abwesenheit eine Schlacht geliefert worden?« – »Wozu, Herr General?« sagte Digby. »Täglich laufen hunderte von Lamberts Soldaten zu uns über. In acht Tagen wird sein Heer zusammengeschmolzen sein, wie Schnee an der Frühlingssonne. Entschuldigen Sie uns, Herr General, wir glaubten Sie schon verloren.«

»Sie sind von Sinnen,« versetzte Monk. »Wie könnte ein Mann wie ich verlorengehen? Darf ich mich etwa nicht entfernen, ohne es an die große Glocke zu hängen? Muß deshalb ein Ehrenmann, ein Freund von mir, wie ein Räuber belagert und ausgeräuchert werden? Bei Gott, ich werde die, die der Graf übrig gelassen hat, erschießen lassen.« – Nach diesen Worten wandte er sich um und schüttelte Athos, der sich aus einer stürmischen Umarmung seines Waffenbruders losriß, die Hand. – »Zurück ins Lager!« rief er dann seinen Soldaten zu, und Sie, Digby, haben vier Wochen Arrest, damit Sie künftighin sich besser nach meinen Befehlen richten.«

»Wir sind allein,« fuhr er fort, als die Soldaten sich entfernt hatten. »Nun sagen Sie mir, Graf de la Fère, warum sind Sie geblieben? Sie konnten doch jederzeit Ihre Feluke erreichen.« – »Ich wartete auf Sie, General,« antwortete Athos. »Sie hatten doch versprochen, mir in acht Tagen Bescheid zu geben.« – »Führen Sie mich in Ihr Zimmer!« sagte Monk, und während d’Artagnan mit dem alten Grimaud draußen blieb und sich beide wohl fünf Minuten lang die Hände schüttelten, trat Monk mit Athos in die von Rauch geschwärzte, vom Feuer beschädigte Wohnung. Er ließ sich Papier und Feder geben, schrieb ein paar Zeilen, setzte seinen Namen darunter, steckte das Blatt in einen Umschlag, versiegelte diesen mit seinem Ringe und übergab das Billett dem Grafen mit den Worten: »Machen Sie sich hiermit sofort auf den Weg zu Karl II. Die Fässer bringen Sie mit Hilfe der Fischer, die mich hierhergebracht haben, an Bord. In einer Stunde schon können Sie unterwegs sein. Herr Chevalier!« rief er zum Fenster hinaus. »Sagen Sie Ihrem Freunde Adieu, er kehrt nach Holland zurück.« – »Zurück nach Holland?« rief d’Artagnan. »Und ich?«

»Sie können ihm nachfolgen, wenn Sie wollen,« erwiderte Monk. »Ich bitte Sie jedoch, bei mir zu bleiben. Schlagen Sie mir das ab?« – »Nein, General.« – Als d’Artagnan sich von seinem alten Kameraden verabschiedet hatte, nahm Monk seinen Arm und schritt mit ihm dem Lager zu. Der Chevalier schüttelte, aufs höchste verwundert, den Kopf und dachte bei sich: »Bei Gott, die Aktien von Planchet und Co. scheinen wieder zu steigen. Himmlischer Vater! gib nur, daß Monk nicht soviel Eigenliebe besitze wie ich. Ich muß gestehen, wenn mich jemand in eine Kiste gesteckt und übers Meer geschafft hätte wie ein Kalb, ich würde es ihm nie vergessen, daß er mich eine so lächerliche Figur spielen ließ. Die Haut würde ich ihm abziehen. In einen wirklichen Sarg würde ich ihn stecken zur Erinnerung an den falschen Sarg, in den er mich gepackt wie ein Ladung Heringe.«

Das Haus Morel.

 

Das Haus Morel.

 

Wer ein paar Jahre früher Marseille verlassen hätte und zu der Zeit, in der Dantes seine Vaterstadt wiedersah, zurückgekehrt wäre, hätte die Verhältnisse des Hauses Morel sehr verändert gefunden.

 

Statt des Behagens und Glückes, das von einem im Gedeihen begriffenen Hause ausgeht, wäre ihm auf den ersten Blick eine gewisse Trauer und Stille aufgefallen. In den Büros, die früher von zahlreichen Kommis wimmelten, waren nur noch zwei zurückgeblieben. Der eine war ein junger Mann, namens Emanuel Raymond, der die Tochter des Herrn Morel liebte, der andere der alte einäugige Cocles, der den Posten eines Kassendieners bekleidete. In der Stellung des letzteren war eine sonderbare Veränderung eingetreten; er war zugleich zum Range eines Kassierers avanciert und zum Range eines Dienstboten heruntergerückt. Es war aber immer der nämliche Cocles, geduldig, treu und ein Rechner, wie man nicht leicht einen zweiten wiederfinden konnte.

 

Inmitten der allgemeinen Schwermut, die über dem Hause Morel lagerte, war Cocles übrigens der einzige, der unempfindlich geblieben zu sein schien. Diese Gelassenheit entsprang nicht einem Gefühlsmangel, sondern im Gegenteil einer unerschütterlichen Überzeugung. Als die andern Kommis und Angestellten des Hauses die Büros verlassen hatten, hatte Cocles sie gehen sehen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Er hatte seinen letzten Monatsabschluß fertig gemacht und darin eine Differenz von siebzig Centimes zu Gunsten der Kasse entdeckt, die er am gleichen Tage seinem Prinzipal überbrachte. Der Prinzipal nahm sie mit wehmütigem Lächeln, ließ sie in eine beinahe leere Schublade fallen und sagte zum Kassierer: Gut, Cocles, Sie sind die Perle aller Kassierer.

 

Cocles entfernte sich äußerst zufrieden; denn ein Lob von Herrn Morel schmeichelte ihm mehr als ein Geschenk von fünfzig Talern. Aber seit diesem so glücklich durchgeführten Monatsschluß hatte Herr Morel grausame Stunden durchgemacht; um diesen Monatsschluß herbeizuführen, hatte er alle seine Mittel zusammengerafft und sogar einige Juwelen und einen Teil seines Silberzeugs verkauft. Infolge dieser Opfer war diesmal noch alles zur größten Ehre des Hauses Morel vorübergegangen. Die Kasse aber blieb völlig leer. Erschreckt durch umlaufende Gerüchte, zog sich der Kredit mit seiner gewöhnlichen Selbstsucht zurück, und um gegen die 200 000, die in wenigen Wochen zurückzuzahlen waren, aufzukommen, hatte Herr Morel in Wirklichkeit nichts mehr, als die Hoffnung auf die Rückkehr des Pharao, von dessen Abfahrt ein Schiff, das mit ihm die Anker gelichtet, Kunde gegeben hatte. Dieses Schiff, das wie der Pharao von Kalkutta kam, war aber bereits seit vierzehn Tagen im Hafen eingelaufen, während man vom Pharao keine Nachricht hatte.

 

So standen die Dinge, als der Vertreter des Hauses Thomson und French in Rom am Tage, nachdem er den von uns mitgeteilten Besuch bei Herrn von Boville gemacht hatte, sich bei Herrn Morel einfand. Emanuel empfing ihn. Der erschreckte junge Mann, der in jedem neuen Besucher einen Gläubiger vermutete, wollte seinem Herrn den Ärger ersparen und ihn selbst abfertigen. Der Geschäftsreisende erklärte ihm aber, er müsse durchaus mit Herrn Morel persönlich sprechen.

 

Emanuel rief seufzend Cocles und befahl ihm, den Fremden zu Herrn Morel zu führen. Cocles ging voraus, und der Fremde folgte. Auf der Treppe begegneten sie einem hübschen jungen Mädchen, das den Fremden voll Unruhe anschaute. Cocles bemerkte diesen Gesichtsausdruck nicht, der jedoch dem Fremden keineswegs entgangen war.

 

»Herr Morel ist in seinem Kabinett, nicht wahr, Fräulein Julie?« fragte der Kassierer.

 

»Ja, ich glaube wenigstens«, antwortete das Mädchen zögernd, »sehen Sie nach, Cocles, und wenn mein Vater dort ist, melden Sie den Herrn!«

 

»Es wäre unnütz, mich zu melden,« erwiderte der Engländer, »Herr Morel kennt meinen Namen nicht. Dieser brave Mann mag ihm nur sagen, ich sei der erste Kommis der Herren Thomson und French in Rom, mit denen das Haus Ihres Herrn Vaters in Verbindung steht.«

 

Das Mädchen erbleichte und schritt weiter die Treppe hinab, während der Fremde vollends hinaufging. Julie, wie sie der Kassierer genannt hatte, trat in das Büro, wo sich Emanuel aufhielt, und Cocles öffnete mit Hilfe eines Schlüssels eine Tür im zweiten Stock und ließ den Fremden eintreten. Der Fremde fand Herrn Morel erschöpft und bleich an seinem Schreibtische sitzend. Als er den Fremden erblickte, stand er auf und schob einen Stuhl hin; worauf beide Platz nahmen.

 

Vierzehn Jahre hatten eine gewaltige Veränderung bei dem würdigen Handelsherrn hervorgebracht, der, am Anfang dieser Geschichte sechsunddreißig Jahre alt, nun das fünfzigste erreicht hatte. Seine Haare waren gebleicht, seine Stirn von sorgenvollen Runzeln durchzogen; sein einst so fester, bestimmter Blick war unbestimmt, unentschlossen geworden. Der Engländer schaute ihn aufmerksam und scheinbar teilnahmsvoll an.

 

Mein Herr, sagte Morel, dessen Unbehaglichkeit dieses Anschauen zu verdoppeln schien, Sie wünschten mich im Namen des Hauses Thomson und French zu sprechen?

 

Ja, mein Herr. Das Haus Thomson und French soll im Laufe des nächsten Monats in Frankreich 3 bis 400.000 Franken bezahlen, und hat im Vertrauen auf Ihre Zuverlässigkeit alle Papiere angekauft, die es mit Ihrer Unterschrift finden konnte, wobei mir der Auftrag geworden ist, nach Maßgabe des Verfalls die Gelder bei Ihnen zu erheben und sodann zu verwenden.

 

Morel stieß einen schweren Seufzer aus, fuhr mit der Hand über seine schweißbedeckte Stirn und erwiderte: Sie haben also von mir unterzeichnete Tratten?

 

Ja, Herr, für eine beträchtliche Summe.

 

Für welche Summe? fragte Herr Morel mit einer Stimme, der er Sicherheit zu verleihen strebte.

 

Einmal, sagte der Engländer, ein Päckchen aus der Tasche ziehend, einmal habe ich hier eine Abtretung von 200.000 Franken seitens des Herrn von Boville an unser Haus. Erkennen Sie diese Schuld an?

 

Ja, mein Herr, das Geld wurde zu 4½ Prozent vor bald fünf Jahren bei mir angelegt.

 

Und Sie haben den Betrag zurückzuzahlen?

 

Ja, am 15. des nächsten Monats.

 

So ist es; dann habe ich hier 32.500 auf Ende dieses; es sind von Ihnen unterzeichnete Wechsel.

 

Ich erkenne sie an, sagte Herr Morel, dem bei dem Gedanken, daß er zum erstenmal in seinem Leben vielleicht seiner Unterschrift nicht entsprechen könnte, die Schamröte ins Gesicht stieg. Ist das alles?

 

Ich habe noch auf Ende nächsten Monats diese Papiere, die das Haus Pascale und das Haus Wild und Turner in Marseille an uns verkauften, etwa 55000 Franken, im ganzen 287500 Franken.

 

Es läßt sich nicht beschreiben, was der unglückliche Morel während dieser Aufzählung litt.

 

287500 Franken, wiederholte er mechanisch.

 

Ja, sagte der Engländer. Ich kann Ihnen nun nicht verbergen, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, daß, so sehr man auch Ihre bis jetzt vorwurfsfreie Redlichkeit schätzt, in Marseille doch das Gerücht geht, Sie seien nicht imstande, Ihren Verpflichtungen nachzukommen.

 

Bei dieser rücksichtslosen Offenheit erbleichte Herr Morel furchtbar.

 

Mein Herr, sagte er, bis jetzt, und es sind mehr als zwanzig Jahre, seitdem ich das Haus aus den Händen meines Vaters übernommen habe, der es selbst fünfunddreißig Jahre führte, bis jetzt ist kein von Morel und Sohn unterzeichnetes Papier an der Kasse präsentiert worden, ohne daß wir Zahlung dafür geleistet hätten.

 

Ja, ich weiß dies; doch sprechen Sie offenherzig, wie ein Ehrenmann zum andern! Werden Sie diese Papiere mit derselben Pünktlichkeit bezahlen?

 

Morel bebte und schaute den Engländer ängstlich an.

 

Auf eine so offenherzig gestellte Frage, antwortete er, muß ich auch offenherzig Antwort geben. Ja, mein Herr, ich bezahle, wenn mein Schiff, wie ich hoffe, glücklich im Hafen einläuft, denn seine Ankunft wird mir den Kredit wiedergeben, den mir schnell aufeinander folgende Unglücksfälle geraubt haben; bliebe aber der Pharao, die letzte Quelle, auf die ich zähle, aus …

 

Die Tränen traten dem armen Reeder in die Augen.

 

Nun? fragte der Engländer, bliebe diese letzte Quelle aus?

 

Es ist grausam zu sagen … doch, bereits an das Unglück gewöhnt, muß ich mich auch an die Schmach gewöhnen … ich glaube, ich wäre dann genötigt, meine Zahlungen einzustellen.

 

Haben Sie keine Freunde, die Sie unter diesen Umständen unterstützen könnten? fragte der Engländer.

 

Herr Morel lächelte traurig und erwiderte: Im Geschäftsleben hat man keine Freunde, wie Sie wissen, sondern nur Korrespondenten.

 

Das ist wahr, murmelte der Engländer. Sie haben also keine Hoffnung mehr?

 

Eine einzige; die letzte.

 

Und wenn diese Hoffnung sich nicht verwirklicht?

 

Bin ich völlig zu Grunde gerichtet.

 

Als ich zu Ihnen kam, lief ein Schiff im Hafen ein.

 

Ich weiß, doch ist es nicht das meine, sondern ein bordolesisches Schiff, die Gironde; es kommt ebenfalls von Indien.

 

Vielleicht bringt es Ihnen vom Pharao Kunde.

 

Soll ich es Ihnen sagen, mein Herr, ich fürchte beinahe ebensosehr, Nachricht von meinem Dreimaster zu erhalten, als in Ungewißheit zu bleiben. Die Ungewißheit ist noch Hoffnung. Dann fügte Herr Morel mit dumpfem Tone bei: Dieses Zögern ist nicht natürlich; der Pharao ist am 5. Februar in Kalkutta abgegangen und ist seit mehr als einem Monat hier fällig.

 

In diesem Augenblicke hörte man Lärm auf der Treppe; verschiedene Personen näherten sich, sogar ein Schmerzensruf ließ sich vernehmen. Morel stand auf, um die Tür zu öffnen, doch es gebrach ihm an Kraft, und er fiel in seinen Stuhl zurück. Während die beiden Männer einander gegenüber saßen, Morel an allen Gliedern zitternd, der Engländer ihn mit einem Ausdrucke tiefen Mitleids anschauend, öffnete sich die Tür, und man sah das Mädchen, in Tränen gebadet, erscheinen. Morel stand zitternd auf und stützte sich, um nicht zu fallen, auf den Arm seines Lehnstuhls.

 

Oh! Vater! sagte das Mädchen, die Hände faltend, verzeihen Sie Ihrem Kinde, daß es Ihnen schlimme Botschaft bringt.

 

Morel wurde furchtbar bleich; Julie warf sich in seine Arme.

 

Oh, Vater! Vater! rief sie, Mut gefaßt!

 

Der Pharao ist also zu Grunde gegangen? fragte Morel mit zusammengeschnürter Stimme.

 

Das Mädchen antwortete nicht, sondern machte nur ein bejahendes Zeichen mit seinem an die Brust des Vaters gelehnten Haupte.

 

Und die Mannschaft? fragte Morel.

 

Gerettet, antwortete das Mädchen, gerettet durch das bordolesische Schiff, das soeben in den Hafen eingelaufen ist.

 

Morel hob seine Hände mit einem Ausdruck voll Ergebenheit und erhabener Dankbarkeit zum Himmel empor und sagte: Ich danke, mein Gott, ich danke; wenigstens schlägst du nur mich allein.

 

So phlegmatisch der Engländer war, so befeuchtete doch eine Träne sein Augenlid.

 

Tretet ein, sagte Herr Morel, denn ich vermute, ihr seid alle vor der Türe.

 

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als Frau Morel schluchzend eintrat; Emanuel folgte ihr; im Vorzimmer sah man die rauhen Gesichter von sieben bis acht halbnackten Matrosen. Beim Anblick dieser Menschen bebte der Engländer; er machte einen Schritt, als wollte er auf sie zugehen, aber er bezwang sich und drückte sich im Gegenteil in den dunkelsten Winkel des Zimmers. Frau Morel setzte sich in den Lehnstuhl und nahm die Hand ihres Gatten, während Julie, an die Brust ihres Vaters gelehnt, stehen blieb.

 

Wie ist es zugegangen? fragte Herr Morel. Tretet näher, Penelon, und erzählt! Wo ist der Kapitän?

 

Was den Kapitän betrifft, Herr Morel, so ist er krank in Palma geblieben; doch wird es wohl nichts weiter sein, und Sie werden ihn in einigen Tagen wohl und gesund ankommen sehen.

 

Gut … nun sprecht, Penelon.

 

Penelon erzählte, wie der Pharao bei Kap Blanc von einem heftigen Sturm überfallen wurde und trotz heldenmütigem Widerstande untergegangen sei, nachdem sich die Mannschaft und der Kapitän in ein Boot gerettet hatten.

 

Als der Alte geendet hatte, sagte Herr Morel: Gut, mein Freund, ihr seid brave Leute, und ich wußte zum voraus, daß bei dem Unglück, das mir begegnet ist, nichts anders schuld war als mein Verhängnis. Es ist der Wille Gottes und nicht der Fehler der Menschen. Nun sagt, wieviel Sold bin ich euch schuldig?

 

Ah! bah … sprechen wir nicht davon, Herr Morel.

 

Im Gegenteil sprechen wir davon, erwiderte der Reeder mit traurigem Lächeln. Cocles, bezahlen Sie jedem von diesen braven Leuten zweihundert Franken. Zu andrer Zeit hätte ich gesagt: Geben Sie jedem zweihundert Franken über seinen Lohn, aber die Zeiten sind ungünstig, meine Freunde, und das wenige Geld, das mir übrig bleibt, ist nicht mehr mein Eigentum; entschuldigt mich also und liebt mich darum nicht minder!

 

Penelon zeigte eine gerührte Miene, er wandte sich gegen seine Gefährten um, sprach einige Worte mit ihnen, kam dann zurück und sagte: Was das betriffst, Herr Morel, was das betrifft …

 

Nun?

 

Nun, Herr Morel, die Kameraden meinen, sie hätten für den Augenblick mit fünfzig Franken jeder genug, und sie könnten mit dem Reste warten.

 

Ich danke, meine Freunde, rief Herr Morel, tief erschüttert, ihr seid brave Leute; aber nehmt nur, nehmt, und wenn ihr einen guten Dienst findet, tretet ein, ihr seid frei.

 

Diese letzten Worte brachten eine wunderbare Wirkung auf die Matrosen hervor; sie schauten einander mit bestürzter Miene an. Penelon, dem es an Atem fehlte, hätte beinahe seinen Kautabak verschluckt; zum Glück fuhr er zu rechter Zeit mit der Hand an seine Zunge.

 

Wie, Herr Morel! sagte er mit zusammengepreßter Stimme, wie? Sie schicken uns weg, Sie sind also unzufrieden mit uns?

 

Nein, Kinder, erwiderte der Reeder, nein, ich bin nicht unzufrieden mit euch, im Gegenteil; nein, ich schicke euch nicht weg. Aber was wollt ihr, ich habe kein Schiff mehr, und bedarf folglich auch keiner Matrosen.

 

Wie? Sie haben keine Schiffe mehr? rief Penelon; wohl, Sie lassen andere bauen, und wir warten.

 

Ich habe kein Geld mehr, um Schiffe bauen zu lassen, Penelon, entgegnete Herr Morel traurig lächelnd; ich kann also euer Anerbieten nicht annehmen, so freundlich es auch ist.

 

Wohl, wenn Sie kein Geld haben, so dürfen Sie uns nicht bezahlen, wir machen es, wie es der arme Pharao gemacht hat, wir laufen aufs Trockene.

 

Genug, genug, meine Freunde, erwiderte Herr Morel, dem vor Rührung beinahe die Sprache versagte. Wir werden uns in besseren Zeiten wiederfinden. Emanuel, begleiten Sie diese braven Leute, und seien Sie dafür besorgt, daß meine Wünsche erfüllt werden.

 

Also wenigstens auf Wiedersehen, nicht wahr, Herr Morel? versetzte Penelon.

 

Ja, meine Freunde, ich hoffe wenigstens; geht!

 

Auf ein Zeichen seiner Hand marschierte Cocles voran. Die Matrosen folgten dem Kassierer, und Emanuel folgte den Matrosen.

 

Nun laßt mich einen Augenblick allein, sagte der Reeder zu seiner Frau und zu seiner Tochter, ich habe mit diesem Herrn zu sprechen.

 

Und seine Augen richteten sich auf den Vertreter des Hauses Thomson und French, der während des beschriebenen Auftritts unbeweglich in seiner Ecke stehen geblieben war. Die Frauen schauten den Fremden an, den sie völlig vergessen hatten, und entfernten sich sodann; nur die Tochter warf im Weggehen dem Engländer einen inständig bittenden Blick zu, den er mit einem Lächeln erwiderte. Die Männer blieben wieder allein.

 

»Nun«, sagte Morel, »Sie haben alles gesehen und gehört, und ich habe Ihnen nichts mehr mitzuteilen«.

 

»Ich habe gesehen, mein Herr«, erwiderte der Engländer,» daß Ihnen ein neues Unglück, so unverdient als die anderen, widerfahren ist, und das hat mich in meinem Wunsche, Ihnen angenehm zu sein, bestärkt«.

 

»Oh! mein Herr …«

 

»Ich bin einer von Ihren Hauptgläubigern, nicht wahr«?

 

»Sie sind wenigstens der, welcher die Wechsel kürzester Sicht von mir in Händen hat. Eine Fristverlängerung könnte mir die Ehre und folglich das Leben retten«.

 

»Wieviel verlangen Sie«?

 

»Zwei Monate«, sagte Morel zögernd.

 

»Gut«, sagte der Fremde, »ich gebe Ihnen drei«.

 

»Doch glauben Sie, daß das Haus Thomson und French … «?

 

»Seien Sie unbesorgt, ich nehme alles auf mich … Wir haben heute den 5. Juni. – Schreiben Sie also alle diese Papiere auf den 5. September um, und an diesem Tage um elf Uhr morgens werde ich mich bei Ihnen einfinden«.

 

»Ich werde Sie erwarten, mein Herr, und Sie sollen Bezahlung erhalten, oder ich bin tot«.

 

Diese letzten Worte sprach Morel so leise, daß sie der Fremde nicht hören konnte. Die Papiere wurden umgeschrieben, die alten zerrissen, und der arme Reeder hatte wenigstens drei Monate vor sich, um seine letzten Mittel aufzubieten. Der Engländer empfing seinen Dank mit dem seiner Nation eigentümlichen Phlegma und nahm von Morel Abschied, der ihn unter Segnungen bis an die Tür zurückführte. Auf der Treppe traf er Julie; das Mädchen tat, als ob es hinabginge, aber es wartete auf ihn.

 

»Oh! Herr …« rief Julie die Hände faltend.

 

»Mein Fräulein«, sagte der Fremde, »Sie werden eines Tages einen Brief, unterzeichnet … Simbad der Seefahrer …, erhalten. Tun Sie Punkt für Punkt, was der Brief sagt, so seltsam Ihnen auch die Aufforderung erscheinen mag.«

 

»Gut, mein Herr«, erwiderte Julie.

 

»Versprechen Sie es mir?«

 

»Ich schwöre es Ihnen.«

 

»Leben Sie wohl, mein Fräulein; bleiben Sie stets ein gutes, frommes Mädchen, und ich hoffe, Gott wird Sie dadurch belohnen, daß er Ihnen Herrn Emanuel zum Gatten gibt.«

 

Julie stieß einen leichten Schrei aus, wurde rot wie eine Kirsche und hielt sich am Geländer, um nicht zu fallen. Der Engländer entfernte sich mit einer Verneigung. Im Hofe begegnete er Penelon; dieser hatte eine Rolle von hundert Franken in der Hand und schien sich nicht entschließen zu können, das Geld fortzutragen.

 

»Kommt, Freund«, sagte der Engländer zu ihm, »ich habe mit Euch zu sprechen«.

 

Der fünfte September.

 

Der fünfte September.

 

Die von dem Mandatar des Hauses Thomson und French in dem Augenblick, wo es Morel am wenigsten erwartete, bewilligte Frist glaubte der arme Reeder als eine von jenen Wendungen des Geschickes betrachten zu dürfen, die dem Menschen ankündigen, das Schicksal sei endlich müde geworden, ihn zu verfolgen. An demselben Tage erzählte er, was ihm begegnet war, seiner Tochter, seiner Frau und Emanuel, und es kehrte ein wenig Hoffnung und Ruhe in die Familie zurück. Leider aber hatte es Morel nicht allein mit dem Hanse Thomson und French zu tun, das sich so nachsichtig gegen ihn zeigte.

 

Zum Unglück hatten, sei es aus Haß, sei es aus Verblendung, nicht alle Korrespondenten dieselbe Nachsicht. Die von Morel unterzeichneten Tratten wurden daher mit ängstlicher Strenge an der Kasse präsentiert, aber infolge der von dem Engländer bewilligten Frist ohne Verzug bezahlt von Cocles, der unverändert in seiner prophetischen Ruhe verharrte.

 

Der ganze Marseiller Handelsstand war der Meinung, nach den Unglücksfällen, die Herrn Morel hintereinander getroffen, könnte dieser sich nicht halten. Man staunte daher nicht wenig, als man sah, daß sein Monatsschluß sich mit der gewöhnlichen Pünktlichkeit abwickelte. Doch das Vertrauen kehrte darum nicht zurück, und man verschob einstimmig auf das Ende des nächsten Monats die Insolvenzerklärung des unglücklichen Reeders.

 

Der ganze Monat verging in unerhörten Anstrengungen Morels, alle Mittel aufzubieten. Früher wurden seine Wechsel, auf welches Datum sie auch ausgestellt sein mochten, mit Vertrauen angenommen und sogar gesucht. Jetzt fand er alle Banken geschlossen, als er Papiere mit dreimonatiger Frist unterbringen wollte. Zum Glück hatte er jetzt einige Zahlungen zu erwarten, auf die er rechnen konnte, und die erwarteten Gelder gingen auch wirklich ein; Morel fand sich dadurch abermals in den Stand gesetzt, seinen Verbindlichkeiten zu entsprechen, als das Ende des Juli erschien.

 

Den Vertreter des Hauses Thomson und French hatte man übrigens nicht mehr in Marseille gesehen. Er war verschwunden, und da er in Marseille nur mit dem Maire, dem Gefängnisinspektor und Herrn Morel verkehrt hatte, so ließ seine Anwesenheit keine andere Spur zurück, als die verschiedenen Erinnerungen, die diese drei Personen von ihm bewahrten. Die Matrosen des Pharao hatten, wie es schien, irgend ein Unterkommen gefunden, denn sie waren ebenfalls verschwunden.

 

Von der Unpäßlichkeit, die ihn in Palma zurückgehalten hatte, wieder genesen, kehrte der Kapitän des Pharao, Herr Gaumard, bald nach Marseille zurück. Er zögerte, sich bei Morel zu zeigen, aber dieser erfuhr seine Ankunft und suchte ihn selbst auf. Der würdige Reeder hatte schon durch Penelons Erzählung von dem mutigen Benehmen des Kapitäns während des unglücklichen Ereignisses erfahren, und er suchte nun seinerseits den Seemann zu trösten. Er brachte ihm den Betrag seines Soldes, den der Kapitän sonst nicht zu erheben gewagt hätte.

 

Der August verlief in beständig erneuerten Versuchen Morels, seinen alten Kredit wiederzuheben und sich einen neuen zu eröffnen, ohne daß ihm dies gelang. Als aber der 31. kam, öffnete sich gegen alle Voraussicht die Kasse wie gewöhnlich. Cocles erschien hinter dem Gitter, ruhig, wie ein Gerechter, untersuchte mit gewohnter Gewissenhaftigkeit das Papier, das man ihm präsentierte, und bezahlte die Tratten von der ersten bis zur letzten mit gleicher Pünktlichkeit. Man begriff dies durchaus nicht und verschob mit der den Unglückspropheten eigentümlichen Hartnäckigkeit den Bankrott auf das Ende des September.

 

Morel war einige Tage in Paris gewesen und hatte versucht, bei seinem ehemaligen Rechnungsführer Danglars ein Anlehen aufzunehmen, doch auch dieses letzte Mittel, zu dem er sich nur schwer entschlossen hatte, schlug fehl. Schwer gedemütigt durch eine abschlägige Antwort, kam er zurück.

 

Er stieß bei seiner Ankunft keine Klage aus, brachte keine Anschuldigung vor, umarmte nur weinend seine Frau und seine Tochter, reichte Emanuel freundschaftlich die Hand, ließ Cocles kommen und schloß sich mit diesem in sein Kabinett im zweiten Stock ein.

 

»Diesmal sind wir verloren«, sagten die Frauen zu Emanuel, und in einer kurzen Beratung, die sie unter sich pflogen, wurde beschlossen, daß Julie an ihren Bruder, der in Nimes in Garnison lag, schreiben und ihn auffordern sollte, sogleich zu kommen. Die armen Frauen fühlten, daß sie aller ihrer Kräfte bedurften, um den Schlag zu ertragen, der sie bedrohte. Überdies übte Maximilian Morel, obgleich erst zweiundzwanzig Jahre alt, doch bereits einen großen Einfluß auf seinen Vater aus.

 

Er war ein energischer, rechtschaffner junger Mann, der die militärische Laufbahn erwählt hatte. Vorzüglich vorbereitet, trat er in die polytechnische Schule ein, die er, zum Unterleutnant im 53sten Linien-Regiment ernannt, wieder verließ. Im Regiment galt Maximilian Morel als strenger, pflichtgetreuer Soldat; man nannte ihn nur den Stoiker.

 

Die beiden Frauen täuschten sich nicht über das Mißliche ihrer Lage, denn einen Augenblick nachher, nachdem Herr Morel mit Cocles in sein Kabinett gegangen war, sah Julie den letzteren bleich, zitternd und mit völlig verstörtem Gesichte wieder herauskommen. Sie wollte ihn fragen, als er an ihr vorüberging, doch der brave Mann lief mit einer bei ihm ungewöhnlichen Eile unaufhaltsam die Treppe hinab und rief ihr nur, die Hand zum Himmel erhebend, zu: Oh, mein Fräulein! Welch ein furchtbares Unglück, wer hätte das je gedacht!

 

Eine Minute nachher sah ihn Julie, mit ein paar dicken Handlungsbüchern, einem Portefeuille und einem Sacke Geld wieder hinaufgehen. Morel prüfte die Bücher, öffnete das Portefeuille und zählte das Geld. Alle baren Mittel beliefen sich auf 7 bis 8000 Franken, die Einnahmen bis zum 5. auf 4 bis 5000, was also im höchsten Fall einen Aktivstand von 17 000 Franken bildete, womit einer Tratte von 287 500 Franken entsprochen werden sollte. Eine solche Abschlagszahlung anzubieten, war nicht möglich.

 

Als jedoch Herr Morel zum Mittagsessen kam, schien er ziemlich ruhig. Diese Ruhe erschreckte die Frauen mehr, als es die tiefste Niedergeschlagenheit hätte tun können. Cocles schien ganz stumpfsinnig; er hielt sich einen Teil des Tages, auf einem Steine sitzend und mit bloßem Kopfe bei dreißig Grad Wärme, im Hofe auf. Emanuel suchte die Frauen zu trösten; aber es mangelte ihm an Beredsamkeit. Der junge Mann war zu sehr in die Angelegenheiten des Hauses eingeweiht, um nicht zu fühlen, daß eine große Katastrophe bevorstand. Es kam die Nacht; die Frauen wachten, in der Hoffnung, Morel würde, von seinem Kabinett herabkommend, bei ihnen eintreten, doch sie hörten, wie er, ohne Zweifel aus Furcht, man könnte ihn rufen, mit leisen Tritten an ihrer Tür vorüberschlich. Sie horchten; er kehrte in sein Zimmer zurück und schloß die Tür von innen.

 

Frau Morel hieß ihre Tochter schlafen gehen; eine halbe Stunde nach dem sich Julie entfernt hatte, stand sie auf, zog ihre Schuhe aus und schlüpfte in den Gang, um zu sehen, was ihr Gatte machte. Im Gang erblickte sie einen Schatten, der sich zurückzog. Sie erkannte Julie, die, selbst unruhig, ihrer Mutter zuvorgekommen war. Julie ging auf ihre Mutter zu und sagte: Er schreibt.

 

Frau Morel neigte sich zum Schlüsselloch herab. Morel schrieb wirklich; aber was ihre Tochter nicht bemerkt hatte, das bemerkte Frau Morel; ihr Gatte schrieb auf gestempeltes Papier. Es kam ihr der furchtbare Gedanke, er mache sein Testament; sie bebte an allen Gliedern und hatte dennoch die Kraft, nichts zu sagen.

 

Am andern Tage erschien Herr Morel ganz ruhig, er hielt sich wie gewöhnlich in seinem Büro auf, kam wie gewöhnlich zum Frühstück herab; nur ließ er nach dem Mittagsessen seine Tochter neben sich sitzen, nahm den Kopf des Kindes in seinen Arm und hielt ihn lange an seine Brust. Am Abend sagte Julie zu ihrer Mutter, sie habe, obgleich ihr Vater scheinbar ruhig gewesen, doch sein Herz heftig schlagen gefühlt. Die zwei nächsten Tage gingen ungefähr auf dieselbe Weise hin.

 

Die ganze Nacht vom 4. auf den 5. horchte Frau Morel, ihr Ohr fester an das Täfelwerk haltend; bis 3 Uhr morgens hörte sie ihren Gatten in großer Aufregung im Zimmer umhergehen; erst nach drei Uhr warf er sich auf sein Bett. Die Frauen brachten die Nacht beisammen zu. Seit dem vorhergehenden Abend erwarteten sie Maximilian. Um acht Uhr trat Herr Morel in ihr Zimmer; er war ruhig, aber die Aufregung der Nacht zeigte sich auf seinem bleichen, verstörten Gesichte. Die Frauen wagten es nicht, ihn zu fragen, ob er gut geschlafen habe. Morel war freundlicher gegen seine Frau und väterlicher gegen seine Tochter, als er es je gewesen; er konnte nicht satt werden, das arme Kind anzuschauen und zu küssen.

 

Julie wollte ihrem Vater folgen, als er sich entfernte; er stieß sie jedoch sanft zurück und sagte: »Bleib bei deiner Mutter.

 

Julie drang in ihn, doch er sprach: Ich will es.

 

Sie blieb stumm und unbeweglich auf ihrem Platze stehen.

 

Eine Minute nachher öffnete sich die Tür, und sie fühlte zwei Arme, die sie umschlangen, und einen Mund, der sich auf ihre Stirn preßte. Sie schlug die Augen auf und stieß einen Freudenschrei aus.

 

Maximilian! Mein Bruder! rief sie.

 

Bei diesem Rufe lief Frau Morel herbei und warf sich in die Arme ihres Sohnes.

 

Mutter! sprach der junge Mann und schaute dabei abwechselnd Frau Morel und ihre Tochter an, was gibt es denn? Was geht denn vor? Euer Brief hat mich erschreckt, und ich eile herbei!

 

Julie, sagte Frau Morel, ihrem Sohne ein Zeichen machend, benachrichtige deinen Vater, daß Maximilian angekommen ist.

 

Julie eilte hinaus, aber auf der ersten Stufe der Treppe begegnete sie einem Manne, der einen Brief in der Hand hielt.

 

Sind Sie nicht Fräulein Julie Morel? fragte dieser Mann mit stark italienischer Betonung.

 

Ja, Herr, stammelte Julie; doch was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht.

 

Lesen Sie diesen Brief, antwortete der Mann und reichte ihr das Billett. Julie zögerte.

 

Es handelt sich um die Wohlfahrt Ihres Vaters.

 

Das Mädchen entriß das Billett seinen Händen, öffnete es rasch und las:

 

»Begeben Sie sich sogleich in die Allées de Meillan; treten Sie in das Haus Nr. 15; verlangen Sie von dem Hausverwalter den Schüssel des Zimmers im fünften Stocke; gehen Sie in dieses Zimmer; nehmen Sie von der Ecke des Kamins eine rote seidene Börse, und bringen Sie diese Börse Ihrem Vater. Es ist von großem Belang, daß er sie vor elf Uhr erhält. Sie haben mir blinden Gehorsam versprochen; ich erinnere Sie an dieses Versprechen.

 

Simbad der Seefahrer.«

 

Julie stieß einen Freudenschrei aus, schlug die Augen auf und suchte den Mann, der ihr das Billett zugestellt hatte, um ihn zu befragen, aber er war verschwunden. Sie schaute dann wieder auf das Billett, um es zum zweiten Male zu lesen, und bemerkte, daß es eine Nachschrift hatte. Julie las:

 

»Es ist wichtig, daß Sie diese Sendung in Person und allein erfüllen; kämen Sie in Begleitung, oder erschiene eine andere Person an Ihrer Stelle, so würde der Hausverwalter antworten, er wisse nicht, was man wolle.«

 

Diese Nachricht mäßigte Julies Freude bedeutend. Hatte sie nichts zu befürchten? War es nicht eine Falle, die man ihr stellte? Julie zögerte; sie beschloß, um Rat zu fragen, nahm aber seltsamerweise ihre Zuflucht weder zu ihrer Mutter noch zu ihrem Bruder, sondern zu Emanuel. Sie ging hinab, erzählte ihm, was ihr vor drei Monaten begegnet sei, und welches Versprechen sie dem Engländer gegeben habe, und zeigte den Brief.

 

Sie müssen den Gang machen, Fräulein, sagte Emanuel.

 

Ich muß ihn machen?

 

Ja, ich begleite Sie.

 

Haben Sie denn nicht gelesen, daß ich allein sein soll?

 

Sie werden auch allein sein; ich erwarte Sie an der Ecke der Rue du Musée, und wenn Sie so lange ausbleiben, daß es mir Unruhe bereitet, so suche ich Sie auf, und ich stehe Ihnen dafür, wehe denen, von denen Sie mir sagen werden, Sie haben sich über sie zu beklagen! Also, Emanuel, versetzte zögernd das junge Mädchen, es ist Ihre Ansicht, daß ich dieser Aufforderung Folge leisten soll?

 

Ja. Sagte Ihnen der Bote nicht, es handle sich um die Wohlfahrt Ihres Vaters?

 

Aber, Emanuel, welche Gefahr läuft er denn? fragte Julie.

 

Emanuel zögerte einen Augenblick, doch das Verlangen, sie mit einem einzigen Schlage und ohne Verzug zu bestimmen, gewann die Oberhand, und er sagte: Hören Sie! Nicht wahr, um elf Uhr soll Ihr Vater gegen 300 000 Franken bezahlen? Nun, er hat keine 15 000 in der Kasse. Wenn also Ihr Vater bis heute vor elf Uhr nicht jemand gefunden hat, der ihm zu Hilfe kommt, so ist er um Mittag genötigt, sich zahlungsunfähig zu erklären.

 

Ah! kommen Sie, rief Julie und zog den jungen Mann mit sich fort.

 

Mittlerweile hatte Frau Morel ihrem Sohne alles auseinandergesetzt. Der junge Mann wußte wohl, daß wiederholte Unglücksfälle dem Wohlstand des Hauses schwere Wunden geschlagen hatten, hatte aber keine Vorstellung von dem vollen Umfang der Gefahr. Er blieb wie vernichtet; dann eilte er plötzlich aus dem Zimmer und stieg rasch die Treppe hinauf, denn er glaubte, sein Vater sei in seinem Kabinett, aber er klopfte vergebens. Als er vor der Tür des Kabinetts stand, hörte er die untere Wohnung sich öffnen; er wandte sich um und sah seinen Vater. Dieser stieß einen Schrei der Überraschung aus, als er Maximilian erblickte: er blieb unbeweglich auf der Stelle und preßte mit dem linken Arme einen Gegenstand, den er unter seinem Oberrock verborgen hielt. Maximilian stieg rasch die Treppe hinab und warf sich seinem Vater um den Hals; aber plötzlich wich er zurück und ließ nur seine linke Hand auf Morels Brust ruhen.

 

Vater, sagte er, bleich wie der Tod, warum haben Sie ein paar Pistolen unter Ihrem Oberrock?

 

Oh! das befürchtete ich, versetzte Morel. Vater! Vater! Im Namen des Himmels, rief der junge Mann, wozu diese Waffen?

 

Maximilian, antwortete Morel, seinen Sohn starr anschauend, du bist ein Mann, du bist ein Ehrenmann; komm, und ich werde es dir sagen!

 

Und mit sicherem Schritte stieg Morel in sein Kabinett hinauf, während ihm sein Sohn wankend folgte. Morel öffnete die Tür und schloß sie wieder hinter seinem Sohne; dann durchschritt er das Vorzimmer, näherte sich dem Büro, legte seine Pistolen auf die Ecke des Tisches und bezeichnete Maximilian mit der Fingerspitze ein offenes Buch. In diesem Buche war der Stand der Dinge genau eingetragen. Morel hatte in einer halben Stunde 287 500 Franken zu bezahlen und besaß im ganzen nur 15 227 Franken. Der junge Mann las und war einen Augenblick völlig niedergeschmettert. Morel sprach kein Wort; was hätte er zu dem unerbittlichen Urteile der Zahlen noch hinzufügen können?

 

Und Sie haben alles getan, um diesem Unglück zu begegnen, mein Vater? fragte der junge Mann. – Ja.

 

Sie haben alle Ihre Quellen erschöpft? – Alle.

 

Und in einer halben Stunde ist unser Name entehrt? fügte der Sohn mit düsterem Tone hinzu.

 

Blut wäscht die Schande ab, sprach Morel.

 

Sie haben recht, Vater, ich verstehe Sie. Dann seine Hand nach den Pistolen ausstreckend, fuhr Maximilian fort: Eine für Sie, eine für mich.

 

Morel hielt seine Hand zurück.

 

Und deine Mutter … deine Schwester … wer wird sie ernähren?

 

Ein Schauder durchlief den Leib des jungen Mannes.

 

Vater, sagte er, bedenken Sie, daß Sie mich leben heißen?

 

Ja, ich sage es dir, denn es ist deine Pflicht; du hast einen starken, ruhigen Geist, Maximilian … Maximilian, du bist kein gewöhnlicher Mensch; ich befehle dir nichts, ich schreibe dir nichts vor, ich sage dir nur: Untersuche die Lage der Dinge, als ob du ein Fremder wärst, und urteile dann selbst!

 

Der junge Mann dachte einen Augenblick nach, dann trat ein Ausdruck erhabener Resignation auf seinem Antlitz hervor; nur zuckte er mit einer langsamen, traurigen Bewegung die Schulter.

 

Wohl, sagte er, Morel die Hand reichend, sterben Sie in Frieden, ich werde leben, mein Vater.

 

Morel warf sich seinem Sohne an die Brust, Maximilian zog ihn an sich, und die zwei edlen Herzen schlugen einen Augenblick fest aneinander gepreßt.

 

Du weißt, daß es nicht meine Schuld ist, sagte Morel.

 

Maximilian lächelte.

 

Ich weiß, mein Vater, daß Sie der ehrlichste Mann sind den ich kennen gelernt habe.

 

Wohl, alles ist abgemacht; kehre nun zu deiner Mutter und zu deiner Schwester zurück!

 

Vater, sagte der junge Mann, die Knie beugend, segnen Sie mich!

 

Morel nahm den Kopf seines Sohnes zwischen seine Hände und drückte wiederholt seine Lippen darauf.

 

Ja, ja, rief er, ich segne dich in meinem Namen und im Namen dreier Generationen vorwurfsfreier Menschen. Höre, was sie dir durch meine Stimme sagen: Das Gebäude, das das Unglück zerstört hat, kann die Vorsehung wieder aufbauen. Wenn sie mich einen solchen Tod sterben sehen, werden die Unerbittlichsten Mitleid mit mir haben; dir wird man vielleicht die Zeit gönnen, die man mir verweigert hat. Dann strebe vor allem danach, daß das Wort ehrlos nicht ausgesprochen werde; schreite zum Werke, arbeite, junger Mann, kämpfe heiß und mutig! Lebet, du, deine Mutter und deine Schwester, vom Notwendigsten, damit Tag für Tag das Gut derer, denen ich schuldig bin, wachse und unter deinen Händen Früchte trage! Bedenke, daß es ein schöner Tag, ein großer Tag, ein feierlicher Tag sein wird, der Tag, wo du in diesem Zimmer sagen wirst: Mein Vater ist gestorben, weil er nicht tun konnte, was ich heute tue, doch er ist ruhig und getrost gestorben, weil er wußte, ich würde es tun!

 

Oh! Vater, Vater, wenn Sie dennoch leben könnten!

 

Wenn ich lebe, ist alles verloren, wenn ich lebe, verwandelt sich die Teilnahme in Zweifel, das Mitleid in Erbitterung; wenn ich lebe, bin ich nur ein Mensch, der sein Wort gebrochen hat, der seiner Verbindlichkeit nicht nachgekommen ist; ich bin nichts anderes, als ein Bankerottierer. Sterbe ich dagegen, bedenke wohl, Maximilian, so ist mein Leichnam der eines unglücklichen, aber ehrlichen Mannes. Bleibe ich am Leben, so werden meine besten Freunde mein Haus meiden. Bin ich tot, so folgt mir ganz Marseille weinend zu meiner letzten Ruhestätte. Lebe ich, so mußt du dich meines Namens schämen; sterbe ich, so erhebe stolz das Haupt und sprich: Ich bin der Sohn des Mannes, der sich getötet hat, weil er zum erstenmal im Leben sein Wort nicht halten konnte.

 

Der junge Mann stieß einen Seufzer aus, doch er schien sich zu fügen. Zum zweiten Male erfüllte die Überzeugung nicht sein Herz, aber seinen Geist.

 

Und nun laß mich allein, sagte Morel, und suche die Frauen zu entfernen!

 

Wollen Sie nicht meine Schwester noch einmal sehen? fragte Maximilian, indem er eine letzte, schwache Hoffnung auf diese Zusammenkunft setzte.

 

Herr Morel schüttelte den Kopf und erwiderte: Ich habe sie heute morgen gesehen und ihr Lebewohl gesagt.

 

Haben Sie mir keinen besonderen Auftrag zu erteilen, mein Vater? fragte Maximilian mit bebender Stimme.

 

Allerdings, mein Sohn, einen heiligen Auftrag.

 

Sprechen Sie, Vater!

 

Das Haus Thomson und French ist das einzige, das aus Menschlichkeit, vielleicht aus Selbstsucht – es kommt mir nicht zu, in den Herzen der Menschen zu lesen, – Mitleid mit mir gehabt hat. Sein Vertreter, der in zehn Minuten erscheinen wird, um den Betrag von 287 500 Franken in Empfang zu nehmen, hat mir drei Monate nicht bewilligt, sondern angeboten. – Dieses Haus werde zuerst befriedigt, mein Sohn, dieser Mann sei dir heilig.

 

Ja, Vater.

 

Und nun noch einmal Lebewohl, mein Sohn; geh, geh, ich muß allein sein. Du findest mein Testament in dem Schreibpult in meinem Schlafzimmer.

 

Höre, Maximilian, sprach der Vater, als er sah, daß der Sohn immer noch zauderte, denke dir, ich sei Soldat, wie du, ich habe den Befehl erhalten, eine Schanze zu nehmen, und du wissest, ich müsse beim Erstürmen fallen, würdest du mir nicht sagen: Gehen Sie, Vater, denn Sie entehren sich, wenn Sie bleiben, und besser der Tod, als die Schande!

 

Ja, ja, sagte der junge Mann, Morel krampfhaft in seine Arme schließend; ja, gehen Sie!

 

Und er stürzte aus dem Kabinett.

 

Morel blieb ein paar Sekunden, die Augen starr auf die Tür heftend, stehen; dann läutete er. Alsbald erschien Cocles, der seinem früheren Selbst nicht mehr glich; die drei letzten Tage hatten ihn gelähmt. Der Gedanke: das Hans Morel ist im Begriff, seine Zahlungen einzustellen, beugte ihn mehr nieder, als es zwanzig Jahre getan hätten.

 

Mein guter Cocles, sagte Morel mit einem Tone, dessen Ausdruck sich nicht beschreiben läßt, du wirst im Vorzimmer bleiben. Wenn der Herr, der bereits vor drei Monaten hier gewesen ist, der Vertreter von Thomson und French, kommt, meldest du ihn. Cocles antwortete nicht; er machte ein Zeichen mit dem Kopfe, setzte sich in das Vorzimmer und wartete. Morel fiel in seinen Lehnstuhl zurück; seine Augen wandten sich nach der Pendeluhr; es blieben ihm nur noch sieben Minuten; der Zeiger rückte mit unglaublicher Geschwindigkeit vor; es schien ihm, er sehe ihn fortschreiten. Was nun in dem Geiste dieses Mannes vorging, der, noch jung, sich von allem, was er auf der Welt liebte, trennen und das Leben verlassen wollte, vermag keine Feder zu schildern; man hätte, um einen Begriff zu bekommen, seine mit Schweiß bedeckte und dennoch ruhige Stirn, seine von Tränen befeuchteten und dennoch zum Himmel aufgeschlagenen Augen sehen müssen.

 

Der Zeiger rückte immer weiter vor, die Pistolen waren geladen; er streckte die Hand aus, ergriff eine und murmelte den Namen seiner Tochter; dann legte er die tödliche Waffe wieder nieder, nahm eine Feder und schrieb ein paar Worte. Es kam ihm vor, als hätte er seinem geliebten Kinde nicht genug Lebewohl gesagt; dann wandte er sich wieder nach der Pendeluhr … er zählte nicht mehr nach Minuten, sondern nach Sekunden. Er faßte abermals die Waffe, den Mund halb geöffnet und die Augen starr auf den Zeiger geheftet; und er bebte bei dem Geräusch, das er selbst, den Hahn spannend, machte. Der Schweiß lief ihm immer kälter über die Stirn, immer tödlicher schnürte ihm die Angst das Herz zusammen; er hörte, wie die Tür der Treppe auf ihren Angeln knarrte und sich sodann die seines Kabinetts öffnete; die Pendeluhr war auf dem Punkte, die elfte Stunde zu schlagen.

 

Morel wandte sich nicht um, er erwartete von Cocles die Worte zu hören: Der Vertreter des Hauses Thomson und French! und näherte die Waffe seinem Munde. Plötzlich hörte er einen Schrei … es war die Stimme seiner Tochter.

 

Er kehrte sich um und erblickte Julie; die Pistole entglitt seinen Händen.

 

»Vater!« rief das Mädchen atemlos und beinahe sterbend vor Freunde, »gerettet! Sie sind gerettet!«

 

Und sie warf sich, mit der Hand eine rote seidene Börse emporhaltend, in seine Arme.

 

»Gerettet, mein Kind?« sagte Morel, »was willst du damit sagen?«

 

»Ja, gerettet! Sehen Sie, sehen Sie!«

 

 

Morel ergriff die Börse und bebte, denn eine dunkle Erinnerung sagte ihm, daß sie einst ihm gehört habe. Auf der einen Seite fand er die Tratte von 287 00O Franken; die Tratte war quittiert. Auf der andern gewahrte er einen Diamanten von der Größe einer Haselnuß, mit den auf ein Stück Pergament geschriebenen drei Worten: Mitgift für Julie.

 

Morel fuhr mit der Hand über seine Stirn; er glaubte zu träumen. In diesem Augenblick schlug die Pendeluhr die elfte Stunde. Der Klang durchbebte ihn, als ob jeder Schlag des stählernen Hammers an seinem eigenen Herzen widertönte.

 

Sprich, Kind, sagte Morel, erkläre dich! Wo hast du diese Börse gefunden?

 

In einem Hause der Allées de Meillan, Nr. 15, auf der Ecke des Kamins eines armseligen Zimmers im fünften Stocke.

 

Diese Börse gehört aber nicht dir! rief Morel.

 

Julie reichte dem Vater den Brief, den sie am Morgen empfangen hatte.

 

Und du bist allein in jenem Hause gewesen? sagte er, nachdem er gelesen hatte.

 

Emanuel begleitete mich, Vater; er sollte an der Ecke der Rue du Musée auf mich warten, war aber seltsamerweise bei meiner Rückkehr nicht dort.

 

Herr Morel! … rief man auf der Treppe, Herr Morel!

 

Zu gleicher Zeit trat Emanuel, das Gesicht vor Freude und Aufregung ganz verstört, ein.

 

Der Pharao! rief er, der Pharao!

 

Was, der Pharao? Sind Sie verrückt, Emanuel? Sie wissen, daß er zu Grunde gegangen ist!

 

Der Pharao! Herr, man signalisiert den Pharao! Der Pharao läuft in den Hafen ein!

 

Morel fiel in seinen Stuhl zurück; die Kräfte verließen ihn; sein Verstand weigerte sich, diese Folge unglaublicher, unerhörter, fabelhafter Ereignisse zu fassen. Aber Maximilian trat ebenfalls ein und rief: Vater, was sagten Sie denn, der Pharao sei zu Grunde gegangen? Die Wache hat ihn signalisiert, und er läuft, wie ich höre, in den Hafen ein.

 

Meine Freunde, sagte Morel, wenn dies der Fall wäre, so müßte man an ein Wunder des Himmels glauben. Unmöglich! Unmöglich!

 

Was aber wirklich war und nicht minder unglaublich erschien, das war die Börse, die er in der Hand hielt, das war der quittierte Wechsel, das war der prachtvolle Diamant.

 

Oh, Herr, sagte Cocles, was soll das bedeuten, der Pharao?

 

Auf, Kinder, sagte Morel sich erhebend, wir wollen sehen, und Gott sei uns barmherzig, wenn es eine falsche Nachricht ist.

 

Sie gingen hinab; mitten auf der Treppe wartete Frau Morel; die arme Frau hatte es nicht gewagt, hinaufzugehen. In einem Augenblick befanden sie sich auf der Cannebière. Es war eine Menge von Menschen versammelt. Alles Volk gab Raum für Morel.

 

Der Pharao! Der Pharao! riefen alle Stimmen.

 

Wunderbar, unerhört! Ein Schiff, an dessen Vorderteil in weißen Buchstaben die Worte: Der Pharao, Morel und Sohn in Marseille, geschrieben waren, und das ganz die Gestalt des Pharao hatte und wie dieser mit Indigo und Cochenille beladen war, ging in der Tat vor dem Saint-Jean-Turme vor Anker. Aus dem Verdecke gab der Kapitän Gaumard seine Befehle, und Meister Penelon machte Herrn Morel Zeichen. Es ließ sich nicht mehr zweifeln, die Sinne bezeugten, und zehntausend Menschen bestätigten es. Als Morel und sein Sohn auf dem Hafendamm unter dem Beifallsgeschrei der ganzen diesem Schauspiel beiwohnenden Stadt sich umarmten, murmelte ein Mann, dessen Kopf halb von einem schwarzen Barte bedeckt war, indem er, hinter einem Schilderhäuschen verborgen, voll Rührung diese Szene betrachtete, die Worte: Sei glücklich, edles Herz; sei gesegnet für alles Gute, was du getan hast und noch tun wirst, und meine Dankbarkeit bleibe im Dunkeln, wie deine Wohltat. Und mit einem Lächeln, in dem sich Freude und Glück ausprägten, verließ er den Ort, an dem er sich verborgen gehalten hatte, stieg, ohne daß jemand darauf achtete, eine von den kleinen Treppen hinab, die zum Landen benutzt werden, und rief dreimal: Jacopo!

 

Eine Schaluppe kam auf ihn zu, nahm ihn an Bord und führte ihn zu einer reich ausgerüsteten Jacht, auf deren Verdeck er mit der Gelenkigkeit eines Seemanns sprang; von hier aus betrachtete er noch einmal Morel, der vor Freude weinend herzliche Händedrücke an alle Welt austeilte und mit suchendem Blicke dem unsichtbaren Wohltäter dankte, den er im Himmel zu vermuten schien.

 

Und nun, sagte der Unbekannte, fahret wohl, Güte, Menschlichkeit, Dankbarkeit … fahret wohl alle Gefühle, die das Herz schwellen lassen! … Ich habe die Stelle der Vorsehung eingenommen, um die Guten zu belohnen … jetzt trete mir der rächende Gott seinen Platz ab, um die Bösen zu bestrafen!

 

Nach diesen Worten machte er ein Signal, und die Jacht ging, als hätte sie nur auf dieses Signal gewartet, sogleich in See.

 

Simbad der Seefahrer

 

Simbad der Seefahrer

 

Am Anfang des Jahres 1838 befanden sich in Florenz zwei junge Leute, die der elegantesten Gesellschaft von Paris angehörten. Der eine war der Vicomte Albert von Morcerf, der andere der Baron Franz d’Epinay. Sie hatten verabredet, den Karneval dieses Jahres in Rom zuzubringen, wo Franz, der seit beinahe vier Jahren in Italien lebte, Albert als Cicerone dienen sollte. Albert wollte die Zeit, die er noch vor sich hatte, benutzen und reiste nach Neapel ab. Franz blieb in Florenz. Als er einige Zeit das Leben, das die Stadt der Medici bietet, genossen hatte, kam es ihm in den Kopf, da er Korsika, Bonapartes Wiege, bereits besucht hatte, auch Elba, diese berühmte napoleonische Station, zu sehen.

 

Eines Abends machte er daher eine Barchetta von dem eisernen Ringe los, an dem sie im Hafen von Livorno befestigt war, legte sich, in seinen Mantel gehüllt, darin nieder und sagte zu den Schiffern nur die Worte: Nach Elba! Die Barke verließ den Hafen, wie der Meervogel sein Nest verläßt, und landete am andern Tage in Porto Ferrajo. Nachdem Franz allen Spuren gefolgt war, die der Tritt des korsischen Riesen auf der Insel zurückgelassen hatte, schiffte er sich in Marciana wieder ein. Zwei Stunden später stieg er in Pianosa, wo seiner, wie man ihm versicherte, zahllose Schwärme von Rothühnern warteten, abermals ans Land. Die Jagd war schlecht, Franz schoß nur ein paar magere Hühner und kehrte übler Laune in seine Barke zurück.

 

Oh! wenn Euere Exzellenz wollte, sagte der Patron zu ihm, könnte sie eine schöne Jagd machen.

 

Wo denn?

 

Sehen Sie jene Insel? sagte der Patron, den Finger nach Süden ausstreckend und auf eine kegelförmige Masse deutend, die in den schönsten Farben mitten aus dem Meere aufstieg.

 

Was für eine Insel ist denn das? fragte Franz.

 

Die Insel Monte Christo, antwortete der Livornese.

 

Was für Wildpret werde ich dort finden?

 

Tausende von wilden Ziegen.

 

Die davon leben, daß sie an den Steinen lecken? versetzte Franz mit ungläubigem Lächeln.

 

Nein, davon, daß sie Heidekraut, Myrten und Brombeerstauden abweiden.

 

Aber wo soll ich schlafen?

 

Auf der Erde, in den Grotten, oder an Bord in Ihrem Mantel. Auch können wir, wenn es Eure Exzellenz so haben will, unmittelbar nach der Jagd wieder absegeln? sie weiß, daß wir bei Nacht wie bei Tag fahren können und neben den Segeln auch Ruder haben.

 

Da Franz noch Zeit genug blieb, um wieder zu seinem Gefährten zurückzukehren, nahm er den Vorschlag an und rief dem Patron zu: Also vorwärts nach Monte Christo!

 

Der Kapitän gab die geeigneten Befehle; man legte sich gegen die Insel und näherte sich ihr rasch. Je näher man kam, desto mehr trat das Eiland wachsend aus dem Schoße des Meeres hervor, und durch die klare Atmosphäre der letzten Strahlen des Tages unterschied man die Masse der aufeinander gehäuften Felsen, in deren Zwischenräumen das rötliche Heidekraut und die grünenden Bäume sichtbar wurden. Sie waren noch ungefähr fünfzehn Meilen von Monte Christo entfernt, als die Sonne hinter Korsika, dessen Berge rechts zum Vorschein kamen, unterzugehen anfing. Eine halbe Stunde nachher herrschte völlige Finsternis. Zum Glück befanden sich die Schiffer in einer Gegend des toskanischen Archipels, die sie aufs genaueste kannten, denn inmitten der Dunkelheit, welche die Barke umhüllte, wäre Franz sonst etwas beunruhigt gewesen.

 

Es war ungefähr eine Stunde seit Sonnenuntergang vorüber, als Franz auf eine Viertelmeile links eine dunkle Masse zu erblicken glaubte; doch es ließ sich durchaus nicht unterscheiden, was es war, und er schwieg, weil er dachte, es seien vielleicht nur schwebende Wolken, und die Matrosen würden ihn auslachen. Nun wurde aber ein Heller Schimmer sichtbar, und Franz rief:

 

Was bedeutet jenes Licht?

 

Still! sagte der Patron, es ist ein Feuer.

 

Ich glaubte doch, die Insel sei unbewohnt?

 

Sie hat keine feste Bevölkerung, doch dient sie manchmal als Aufenthaltsort für Schmuggler und für Seeräuber, fuhr Gaetano fort; deshalb habe ich Befehl gegeben, daran vorbeizufahren, denn das Feuer ist, wie Sie sehen, nunmehr hinter uns.

 

Mir scheint, dieses Feuer muß uns eher Sicherheit gewähren, als Unruhe verursachen; Leute, die gesehen zu werden befürchten, zünden kein Feuer an.

 

Oh! das will nichts sagen, entgegnete Gaetano; wenn Ihnen die Lage der Insel genau bekannt wäre, würden Sie wissen, daß dieses Feuer weder von Korsika noch von Pianosa, sondern nur von der offenen See aus bemerkt werden kann.

 

Ihr fürchtet also, das Feuer kündige uns schlimme Gesellschaft an?

 

Darüber muß man sich Gewißheit verschaffen, erwiderte Gaetano, die Augen beständig darauf heftend.

 

Hierauf beratschlagte Gaetano mit seinen Gefährten, und nach einer kurzen Unterredung wendete man stillschweigend das Schiff; nun war das Feuer nicht mehr sichtbar. Dann gab der Lotse dem kleinen Fahrzeug, das bald nur noch fünfzig Schritte von der Insel entfernt war, eine neue Richtung. Gaetano zog das Segel ein, und die Barke blieb stehen.

 

Dies alles war mit der größten Stille vor sich gegangen, und man hatte seit Änderung der Richtung keine Silbe an Bord gesprochen. Gaetano, der die Expedition vorgeschlagen, hatte auch die ganze Verantwortlichkeit übernommen. Die drei andern Matrosen wandten kein Auge von ihm, während sie die Ruder richteten und sich offenbar bereit hielten, die Flucht zu ergreifen, was bei der großen Dunkelheit nicht schwer sein konnte. Franz untersuchte seine Gewehre, zwei Doppelflinten und eine Büchse, mit seiner gewöhnlichen Kaltblütigkeit; dann wartete er, auf alles gefaßt.

 

Inzwischen zog der Patron seine Kleider bis auf die Hosen aus und legte einen Finger auf die Lippen, um den andern Stillschweigen anzuempfehlen, ließ sich in das Meer hinabgleiten und schwamm mit solcher Vorsicht nach dem Ufer, daß es nicht möglich war, auch nur das geringste Geräusch zu hören. Man konnte seine Spur nur an der leuchtenden Furche verfolgen, die seine Bewegungen verursachten. Bald verschwand auch diese Furche; Gaetano hatte offenbar das Land erreicht.

 

Eine halbe Stunde lang blieben alle auf dem Schiffe unbeweglich; nach Verlauf dieser Zeit sah man dieselbe leuchtende Furche wiedererscheinen und sich der Barke nähern. Mit einigen Stößen war Gaetano wieder bei der Barke.

 

Nun? fragten gleichzeitig Franz und die drei Matrosen.

 

Es sind drei spanische Schmuggler, die zwei korsische Banditen bei sich haben.

 

Gut, so viel sind wir auch gerade; unsere Kräfte sind, falls die Herren schlimme Absichten haben sollten, gleich. Also, auf nach Monte Christo!

 

Ja, Exzellenz; doch Sie werden mir ohne Zweifel erlauben, daß ich einige Vorsichtsmaßregeln nehme?

 

Freilich, mein Teurer. Seid weise wie Nestor und klug wie Ulysses! Ich erlaube es Euch nicht nur, sondern ich ermahne Euch dazu.

 

Still also! sagte Gaetano. Alle schwiegen.

 

Für einen Mann wie Franz, der alles vom richtigen Gesichtspunkte aus betrachtete, ermangelte die Lage der Dinge, ohne gefährlich zu sein, doch nicht eines gewissen Ernstes. Er befand sich in der tiefsten Finsternis mitten auf dem Meere mit Schiffern, die ihn nicht kannten und keinen Grund hatten, ihm ergeben zu sein, die wußten, daß in seinem Gürtel tausend Franken waren, und wenigstens zehnmal, wenn nicht mit Lüsternheit, doch mit Neugierde seine wirklich schönen Gewehre untersucht hatten. Sodann sollte er ohne anderes Geleit, als diese Menschen, auf einer Insel landen, auf der Schmuggler und Banditen ihr Wesen trieben. Zwischen diese doppelte, vielleicht eingebildete, vielleicht wirkliche Gefahr gestellt, ließ er seine Leute nicht aus den Augen, seine Flinte nicht aus der Hand.

 

Die Matrosen hatten indessen ihre Segel wieder gehißt, und die Barke fuhr das Ufer entlang; bald erblickte man das Feuer deutlicher und fünf daran sitzende Personen. Der Wiederschein der Glut erstreckte sich auf etwa hundert Schritt ins Meer hinaus. Gaetano fuhr längs dem Feuer hin, wobei er jedoch die Barke in dem nicht beleuchteten Teile hielt; als er sich endlich gerade vor dem Feuer befand, richtete er das Vorderteil seines Fahrzeugs auf dieses zu und fuhr mutig in den beleuchteten Kreis, wobei er ein Fischerlied anstimmte, dessen Refrain seine Gefährten im Chor wiederholten.

 

Bei dem ersten Worte des Liedes erhoben sich die um das Feuer sitzenden Männer und näherten sich dem Strand, ihre Augen auf die Barke heftend, deren Besatzung zu erkennen und deren Absicht zu erraten sie sich sichtbar anstrengten. Sobald sie sich genügend überzeugt hatten, setzten sie sich, einen Mann ausgenommen, der am Ufer stehen blieb, wieder um das Feuer, an dem man eine junge Ziege briet.

 

Als das Schiff bis auf zwanzig Schritte zum Land gelangt war, rief der Mann am Ufer in sardinischer Mundart: Wer da?

 

Franz spannte kaltblütig seine Doppelflinte.

 

Gaetano wechselte mit dem Manne am Ufer ein paar Worte, von denen der Reisende nichts verstand, die aber offenbar seine Person betrafen.

 

Will Eure Exzellenz sich nennen oder ihr Inkognito beibehalten? fragte der Patron.

 

Mein Name muß diesen Leuten völlig unbekannt bleiben, antwortete Franz; sagt ihnen ganz einfach, ich sei ein Franzose, der zu seinem Vergnügen reise.

 

Als Gaetano diese Worte wiederholt hatte, gab die Schildwache einem von den am Feuer sitzenden Männern einen Befehl; dieser stand sogleich auf und verschwand in den Felsen. Es herrschte tiefe Stille. Jeder schien mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, Franz mit dem Ausschiffen, die Matrosen mit ihren Segeln, die Schmuggler mit ihrer jungen Ziege. Doch bei aller scheinbaren Sorglosigkeit beobachtete man sich gegenseitig scharf.

 

Der Mann, der sich durch die Felsen entfernt hatte, erschien plötzlich wieder von der entgegengesetzten Seite; er machte der Schildwache mit dem Kopfe ein Zeichen, diese wandte sich um und sprach nur die Worte: s'accommodi.

 

Das italienische s'accommodi läßt sich nicht übersetzen. Es bedeutet zugleich: Kommt, tretet ein, seid willkommen. tut, als ob Ihr zu Hause wäret, Ihr habt zu gebieten. Die Matrosen ließen sich das nicht zweimal sagen; mit vier Ruderschlägen berührte die Barke das Land. Gaetano sprang ans Ufer, wechselte leise noch ein paar Worte mit der Schildwache, seine Gefährten stiegen ebenfalls nacheinander aus, und die Reihe kam an Franz.

 

Er trug selbst eine von seinen Flinten, Gaetano hatte die andere, einer von den Matrosen hielt seine Büchse. Seine Tracht hielt die Mitte zwischen der eines Künstlers und der eines Stutzers, was den Leuten auf der Insel keinen Verdacht und folglich keine Unruhe einflößte. Man band die Barke am Ufer an und ging einige Schritte vorwärts, um ein bequemes Biwak zu suchen; aber ohne Zweifel paßte die Stelle, wo man suchte, dem Schmuggler, der Wache stand, nicht, denn er rief Gaetano zu: Nein, nicht dort!

 

Gaetano stammelte eine Entschuldigung und schritt ohne Widerspruch in entgegengesetzter Richtung fort, während zwei Matrosen, um den Weg zu beleuchten, Fackeln am Feuer anzündeten. Man machte ungefähr dreißig Schritte und hielt auf einem freien Platze an, der ganz von Felsen umgeben war.

 

Sobald Franz einmal den Fuß auf die Erde gesetzt und die, wenn nicht gerade freundschaftliche, doch wenigstens gleichgültige Stimmung seiner Wirte wahrgenommen hatte, verschwand bei ihm jede Unruhe, und der Geruch der an dem nahen Biwak bratenden Ziege verwandelte seine Unruhe sogar in Appetit.

 

Er erwähnte dies gegen Gaetano, der ihm erwiderte, es gebe nichts Einfacheres, als ein Abendbrot, wenn man, wie sie, in der Barke Brot, Wein, sechs Feldhühner und ein gutes Feuer zum Braten besäße.

 

Überdies, fügte er bei, wenn Eure Exzellenz den Geruch der Ziege so verführerisch findet, so kann ich hingehen und unsern Nachbarn zwei von unsern Vögeln für eine Schnitte von ihrem Vierfüßigen bieten.

 

Tut das, Gaetano, antwortete Franz. Während dieser Zeit hatten die Matrosen Arme voll Heidekraut ausgerissen und Bündel von Myrten und grünen Eichen gemacht, woran sie Feuer legten, was bald einen sehr ansehnlichen Brand gab. Franz erwartete, beständig den Geruch der jungen Ziege einatmend, die Rückkehr des Patrons. Dieser erschien und ging mit sehr unruhiger Miene auf ihn zu.

 

Nun, fragte Franz, was Neues? Man weist unser Anerbieten zurück?

 

Im Gegenteil, erwiderte Gaetano, der Anführer, dem man gesagt hat, Sie seien ein junger französischer Edelmann, lädt Sie zum Abendbrot zu sich ein.

 

Gut! Tiefer Anführer ist ein sehr höflicher Mann, und ich weiß nicht, warum ich seiner Einladung nicht entsprechen sollte, um so mehr, als ich meinen Teil zum Abendbrot mitbringe.

 

Oh, das ist es nicht, denn es findet sich dort genug zum Abendbrot; aber er stellt eine sonderbare Bedingung, unter der er Sie bei sich empfangen will.

 

Bei sich! versetzte der junge Mann; er hat sich also ein Haus bauen lassen?

 

Nein, er besitzt aber darum nichtsdestoweniger ein sehr behagliches Heim, wenigstens wie man mir versichert hat.

 

Ihr kennt also diesen Anführer?

 

Ich habe von ihm sprechen hören.

 

Und wie heißt die Bedingung, die er mir stellt?

 

Sie sollen sich die Augen verbinden lassen und die Binde nicht eher abnehmen, als bis er Sie selbst dazu auffordert.

 

Franz schaute forschend in Gaetanos Augen, um zu erfahren, was hinter diesem Vorschlage verborgen sein könnte.

 

Ah! bei Gott! sagte dieser, auf Franzens Blick antwortend, ich weiß wohl, die Sache verdient Überlegung.

 

Was würdet Ihr an meiner Stelle tun? fragte der junge Mann.

 

Ich, der nichts zu verlieren hat, ginge hin, und wär’s nur aus Neugierde. Es ist also etwas Merkwürdiges bei diesem Anführer zu sehen?

 

Hören Sie, sagte Gaetano, die Stimme dämpfend, ich weiß nicht, ob das, was man sagt, wahr ist. Er schwieg und schaute umher, ob kein Fremder ihn behorchte. Man sagt, dieser Anführer besitze einen unterirdischen Palast, im Vergleich zu dem der Palast Pitti gar nichts sei.

 

Welche Phantasie! rief Franz.

 

Oh, es ist keine Phantasie, es ist Wahrheit. Cama, der Lotse des Ferdinando, ist einmal darin gewesen; er kam voll Verwunderung zurück und sagte, dergleichen Schätze finden sich nur in Feenmärchen.

 

Franz dachte einen Augenblick nach, er begriff, daß ein so reicher Mann gegen ihn, der nur ein paar tausend Franken bei sich hatte, nichts im Schilde führen konnte; und da ihm im Augenblick vor allem an einem vortrefflichen Abendbrot lag, so willigte er ein. Gaetano überbrachte seine Antwort.

 

Franz war indessen, wie gesagt, klug; er wollte soviel als möglich über seinen seltsamen, geheimnisvollen Wirt in Erfahrung bringen, wandte sich deshalb gegen den Matrosen um, der beständig mit dem Ernste eines auf sein Amt stolzen Mannes die Feldhühner gerupft hatte, und fragte ihn, wie diese Leute hätten landen können, da kein Schiff sichtbar sei.

 

Das beunruhigt mich nicht, antwortete der Matrose, ich kenne das Schiff, worauf sie fahren.

 

Ist es ein hübsches Schiff?

 

Ich wünsche Eurer Exzellenz ein ähnliches, um damit die Reise um die Welt zu machen.

 

Wie groß?

 

Etwa hundert Tonnen. Es ist eine Jacht, aber so gebaut, daß sie sich bei jedem Wetter auf der See halten kann.

 

Wo ist sie gebaut worden?

 

Ich weiß es nicht, doch ich glaube in Genua.

 

Und wie kann es ein Anführer von Schmugglern wagen, eine für sein Gewerbe bestimmte Jacht in Genua bauen zu lassen?

 

Ich sagte gar nicht, der Eigentümer dieser Jacht sei ein Schmugglerführer.

 

Nein, aber Gaetano hat es gesagt, meine ich.

 

Gaetano hat das Schiffsvolk von fern gesehen, aber noch mit niemand gesprochen.

 

Doch was ist denn dieser Mensch, wenn er kein Schmuggler ist?

 

Ein reicher Herr, der zu seinem Vergnügen reist.

 

Bei so widersprechenden Aussagen wird diese Person immer geheimnisvoller, dachte Franz. Und wie heißt er?

 

Wenn man fragt, so sagt er, er heiße Simbad der Seefahrer; doch ich zweifle, daß dies sein wahrer Name ist.

 

Und wo wohnt dieser Herr? – Auf dem Meere. – Aus welchem Lande ist er? – Ich weiß es nicht. – Habt Ihr ihn gesehen? – Einige Male. – Was für ein Mann ist es? – Eure Exzellenz wird ihn selbst sehen. – Und wo wird er mich empfangen? – Ohne Zweifel in seinem unterirdischen Palaste.

 

Und wenn Ihr hier anhieltet und die Insel verlassen fandet, trieb Euch die Neugierde nie an, in diesen Zauberpalast zu dringen?

 

Oh! doch wohl, Exzellenz, erwiderte der Matrose, und zwar mehr als einmal, aber unsere Nachforschungen waren stets vergeblich; wir umwühlten die Grotte von allen Seiten, fanden aber nirgends einen Eingang. Übrigens sagt man, die Tür öffne sich nicht mit einem Schlüssel, sondern mittels eines magischen Wortes.

 

Ich bin offenbar in ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht versetzt, murmelte Franz.

 

Seine Exzellenz erwartet Sie, sprach hinter ihm eine Stimme, in welcher er die der Schildwache erkannte.

 

Der Vortretende war von zwei Personen von der Mannschaft der Jacht begleitet. Statt jeder Antwort zog Franz sein Taschentuch und reichte es dem, welcher ihn angeredet hatte. Ohne ein Wort zu sprechen, verband man ihm die Augen mit einer Sorgfalt, aus der man erkannte, wie sehr man eine Indiskretion fürchtete, und ließ ihn sodann schwören, daß er auf keine Weise versuchen würde, seine Binde abzunehmen, bevor man ihn dazu aufforderte.

 

Die beiden Männer nahmen ihn jeder an einem Arm, und er entfernte sich, von ihnen geleitet, die Schildwache voran. Nach etwa 50 Schritten fühlte er an der Veränderung der Atmosphäre, daß man in ein unterirdisches Gewölbe eintrat. Nachdem man noch einige Sekunden gegangen war, hörte er ein Krachen, und es kam ihm vor, als hätte sich die Atmosphäre wieder geändert und würde lau und wohlriechend; endlich fühlte er, haß seine Füße auf einen dicken, weichen Teppich traten; seine Führer verließen ihn. Nach kurzem Stillschweigen sagte eine Stimme in gutem Französisch, obgleich mit fremder Betonung: Ich heiße Sie willkommen; Sie können Ihre Binde abnehmen.

 

Franz kam dieser Aufforderung sofort nach, nahm das Tuch ab und befand sich einem Manne von vierzig Jahren in tunesischer Tracht gegenüber; der Unbekannte trug einen roten Fez mit einer langen Quaste von blauer Seide, eine reich mit Gold gestickte Jacke von schwarzem Tuch, weite, bauschige Beinkleider, goldgestickte Gamaschen von derselben Farbe und gelbe Pantoffeln. Ein prachtvoller Kaschmir umgürtete seine Hüften, und ein kleiner spitziger, gebogener Handschar stak in diesem Gürtel. Obgleich bleich, fast bleifarbig, hatte dieser Mann doch ein interessantes Gesicht; seine Augen waren lebhaft und durchdringend; seine gerade und die Stirnlinie fast fortsetzende Nase deutete den griechischen Typus in seiner ganzen Reinheit an, und seine perlweißen Zähne hoben sich von dem schwarzen Schnurrbart prächtig ab. Nur die Blässe war seltsam; man hätte glauben sollen, er habe lange im Grabe gelegen und könne nun die natürliche Farbe der Lebenden nicht wieder annehmen. Wenn auch nicht hoch gewachsen, war er doch wohlgebaut und hatte, wie die Südländer, kleine Hände und Füße. Am meisten aber erstaunte Franz über die Kostbarkeit der Ausstattung.

 

 

Das ganze Zimmer war mit einem türkischen Stoffe von karmesinroter Farbe austapeziert. In einer Vertiefung stand ein Diwan, über dem man eine Trophäe von arabischen Waffen erblickte, deren Scheiden und Griffe von Edelsteinen funkelten; an der Zimmerdecke hing eine Lampe von venetianischem Glas von reizender Form und Farbe, und die Füße ruhten auf einem türkischen Teppich, in dem sie bis an die Knöchel versanken. Vorhänge waren vor der Tür angebracht, durch die man Franz eingeführt hatte, und ebenso vor einer andern Tür, die nach einem zweiten Gemache ging, das glänzend erleuchtet zu sein schien. Der Wirt überließ Franz eine Zeit lang gänzlich seinem Staunen, prüfte ihn überdies auch seinerseits neugierig und hatte beständig seine Augen auf ihn geheftet.

 

Mein Herr, sagte er endlich, ich bitte Sie tausendmal um Entschuldigung wegen der Vorsichtsmaßregeln, die man von Ihnen verlangte. Da aber die Insel meist öde und verlassen ist, so fände ich, wenn das Geheimnis dieses Aufenthaltsortes bekannt würde, ohne Zweifel bei meiner Rückkehr mein Absteigequartier in schlimmem Zustand, was mir sehr unangenehm wäre, nicht wegen des Verlustes, den es mir verursachen würde, sondern weil ich nicht mehr die Gewißheit hätte, mich nach Belieben von der Welt abschließen zu können. Ich will mich nun bemühen, Sie diese kleine Unannehmlichkeit vergessen zu lassen, indem ich Ihnen anbiete, was Sie gewiß nicht zu finden hofften, nämlich ein erträgliches Abendbrot und gute Betten.

 

Wahrhaftig, mein lieber Wirt, Sie brauchen sich deshalb nicht zu entschuldigen. Ich habe immer gehört, daß man den Leuten, die in Zauberpaläste drangen, die Augen verband, auch geziemt es mir nicht, mich zu beklagen, denn das, was Sie mir zeigen, bildet offenbar die Fortsetzung von Tausendundeiner Nacht.

 

Ach! ich möchte Ihnen wie Lucullus sagen, wenn ich gewußt hätte, daß mir die Ehre Ihres Besuches zuteil würde, so hätte ich mich daraus vorbereitet. Doch ich stelle meine Einsiedelei, so wie sie ist, zu Ihrer Verfügung; mein Abendbrot ist Ihnen angeboten, so mager es auch sein mag. Ali, ist ausgetragen?

 

In demselben Augenblick wurde der Türvorhang ausgehoben, und ein nubischer Neger, so schwarz wie Ebenholz und in einen einfachen weißen Leibrock gekleidet, deutete seinem Herrn durch ein Zeichen an, er könnte sich in den Speisesaal begeben.

 

Ich weiß nicht, sagte der Unbekannte zu Franz, ob Sie meiner Ansicht sind, aber ich finde nichts unbehaglicher, als zwei bis drei Stunden einander unter vier Augen gegenüber zu bleiben, ohne zu wissen, mit welchem Namen oder welchem Titel man sich nennen soll. Ich achte indessen zu sehr die Gesetze der Gastfreundschaft, um Sie nach Ihrem Namen zu fragen, und bitte Sie nur, mir irgend eine Benennung zu bezeichnen, unter der ich das Wort an Sie richten kann. Mich nennt man gewöhnlich Simbad, den Seefahrer.

 

Und ich denke, erwiderte Franz, ich kann mich, da mir, um in Aladins Lage zu sein, nur die berühmte Wunderlampe fehlt, für den Augenblick Aladin nennen.

 

Wohl, edler Herr Aladin, sagte der Fremde, Sie haben gehört, daß aufgetragen ist, wollen Sie also die Güte haben, in den Speisesaal einzutreten! Ihr untertäniger Diener geht voran, um Ihnen den Weg zu zeigen.

 

Bei diesen Worten hob Simbad den Türvorhang auf und ging Franz voran. Franz schritt von Zauber zu Zauber; die Tafel schien herrlich bestellt. Nachdem er sich von diesem wichtigen Punkte überzeugt hatte, schaute er umher. Der Speisesaal war nicht minder glänzend, als das Zimmer, das er soeben verlassen hatte; er war ganz von Marmor mit antiken Basreliefs vom höchsten Werte, und in den vier Ecken des länglichen Saales standen vier prächtige Statuen, die Körbchen auf ihren Köpfen trugen. Diese Körbchen enthielten Pyramiden von herrlichen Früchten, Ananas von Sizilien, Granaten von Malaga, Orangen von den balearischen Inseln, Pfirsiche aus Frankreich und Datteln aus Tunis. Das Abendbrot bestand aus gebratenem Fasan, mit korsischen Merlen garniert, einer Wildschweinskeule mit Gelee, einem Ziegenviertel, einem herrlichen Turbot und einer riesigen Languste. Daneben enthielten kleinere Platten die Nebengerichte. Die Platten waren von Silber, die Teller von japanischem Porzellan. Franz rieb sich die Augen, um sich zu überzeugen, daß er nicht träume. Ali allein war zur Bedienung zugelassen und entledigte sich vortrefflich seiner Pflichten. Der Gast sagte seinem Wirte hierüber ein Kompliment.

 

Ja, sagte dieser, er ist ein mir sehr ergebener Bursche, der nach seinen besten Kräften zu Werke geht. Er erinnert sich, daß ich ihm das Leben gerettet habe, und dafür bewahrt er mir die größte Dankbarkeit.

 

Wäre es nicht unbescheiden, edler Herr Simbad, sagte Franz, so möchte ich Sie fragen, bei welcher Gelegenheit Sie diese schöne Tat ausgeführt haben.

 

Mein Gott! Das ist ganz einfach, antwortete Simbad. Es scheint, der Bursche war dem Serail des Beis von Tunis nähergekommen, als es sich für einen Menschen seiner Farbe geziemt, und so sollten ihm Zunge, Hand und Kopf abgeschnitten werden, die Zunge am ersten Tag, die Hand am zweiten, der Kopf am dritten. Es gelüstete mich immer, einen Stummen in meinem Dienste zu haben; ich wartete daher, bis ihm die Zunge abgeschnitten war, und schlug dem Bei vor, mir ihn gegen eine herrliche Doppelflinte zu überlassen, die tags zuvor die Begierde Seiner Hoheit erregt hatte. Er schwankte einen Augenblick, so viel war ihm daran gelegen, mit dem armen Teufel ein Ende zu machen. Aber ich fügte zur Flinte noch ein englisches Jagdmesser, mit dem ich den Yatagan Seiner Hoheit durchhackt hatte, worauf der Bei sich entschloß, Ali zu begnadigen, jedoch unter der Bedingung, daß er nie mehr das Gebiet von Tunis betreten würde. Dies anzuempfehlen war unnötig. Wenn der Unglückliche nur von fern die Küste von Afrika erblickt, flüchtet er sich in den untersten Raum des Schiffes, und man kann ihn nicht mehr herausbringen, bis man den dritten Weltteil aus dem Gesichte verloren hat.

 

Franz blieb einen Augenblick stumm und nachdenklich, er überlegte sich, was er von der grausamen Gutmütigkeit denken sollte, mit der ihm sein Wirt diese Geschichte erzählte.

 

Und wie der ehrenwerte Seemann, dessen Namen Sie angenommen haben, sagte er, das Gespräch ändernd, bringen Sie Ihr Leben mit Reisen hin?

 

Ja, es ist ein Gelübde, das ich in einer Zeit getan habe, wo ich kaum glaubte, es je erfüllen zu können, sagte Simbad lächelnd! ich habe einige weitere getan, die, wie ich hoffe, wenn die Reihe an ihnen ist, ebenfalls erfüllt werden.

 

Obgleich Simbad diese Worte mit der größten Kaltblütigkeit sprach, schleuderten doch seine Augen dabei einen seltsam wilden Blick.

 

Sie haben viel gelitten, mein Herr? sprach Franz.

 

Simbad bebte, schaute ihn starr an und erwiderte: Woran sehen Sie dies?

 

An allem, an Ihrer Stirn, an Ihrem Blicke, an Ihrer Blässe und an dem Leben, das Sie führen.

 

Ich? Ich führe das glücklichste Leben, das ich kenne, ein wahres Pascha-Leben; ich bin der König der Schöpfung. Gefällt es mir an einem Orte, so bleibe ich; langweile ich mich, so reise ich ab; ich bin frei, wie der Vogel, ich habe Flügel, wie er. Die Leute meiner Umgebung gehorchen mir auf den Wink; von Zeit zu Zeit belustige ich mich damit, der menschlichen Gerechtigkeit zu spotten, indem ich ihr einen Banditen entziehe, den sie sucht, oder sonst einen Verbrecher, den sie verfolgt. Dann habe ich meine eigene Gerichtsbarkeit, hohe und niedere, ohne Frist und Appellation, eine Gerichtsbarkeit, die verurteilt und freispricht, während sich niemand um sie zu kümmern hat. Ah, hätten Sie mein Leben gekostet, Sie würden sich kein anderes mehr wünschen, und Sie kehrten nie mehr in die Welt zurück, wenn Sie nicht ein großes Vorhaben antriebe.

 

Eine Rache zum Beispiel! versetzte Franz.

 

Der Unbekannte heftete auf den jungen Mann einen von jenen Blicken, die in die tiefste Tiefe des Herzens und des Geistes eintauchen. Dann fragte er: Und warum eine Rache?

 

Weil Sie aussehen wie ein Mann, der, von der Gesellschaft verfolgt, eine furchtbare Rechnung mit ihr abzuschließen hat.

 

Sie irren sich, erwiderte Simbad mit seltsamem Lachen, wobei sich seine weißen spitzigen Zähne zeigten; so wie Sie mich sehen, bin ich eher ein Menschenfreund, und ich gehe vielleicht eines Tages nach Paris, um mich dort um den Tugendpreis zu bewerben.

 

Wird es das erste Mal sein, daß Sie diese Reise machen?

 

Mein Gott, ja. Nicht wahr, es scheint, daß ich sehr wenig neugierig bin? Doch ich versichere Ihnen, es ist nicht mein Fehler, daß ich so lange gezögert habe; jedenfalls wird es einmal geschehen.

 

Gedenken Sie diese Reise bald zu machen?

 

Ich weiß noch nicht; es hängt von verschiedenen Umständen ab.

 

Ich wünschte wohl, zur Zeit, wo Sie nach Paris kommen, ebenfalls dort zu sein; ich würde mich bemühen, Ihnen, soviel in meinen Kräften liegt, die Gastfreundschaft zu vergelten, die Sie mir so reichlich auf Monte Christo angedeihen ließen.

 

Ich würde Ihr Anerbieten mit großem Vergnügen annehmen, versetzte der Unbekannte; leider aber wird es, wenn ich dahin gehe, wohl inkognito geschehen.

 

Das Abendbrot nahm indessen seinen Fortgang; es schien nur für Franz bestimmt zu sein, denn Simbad kostete kaum voll ein paar Schüsseln des glänzenden Mahles, dem sein unerwarteter Gast alle Ehre antat. Endlich brachte Ali den Nachtisch, er nahm vielmehr die Körbchen aus den Händen der Statuen und setzte sie auf die Tafel. Zwischen zwei Körbchen stellte er einen Becher von Vermeil, der mit einem Deckel von demselben Metalle verschlossen war.

 

Die Ehrfurcht, mit der Ali diesen Becher herbeibrachte, stachelte Franzens Neugierde; er hob den Deckel auf und sah eine Art von grünlichem Teig, der ihm aber völlig unbekannt war. Er setzte den Deckel wieder auf und wußte ebensowenig wie zuvor, was der Becher enthielt; als er seine Augen zu seinem Wirte aufschlug, sah er, wie dieser über seine Neugier lächelte.

 

Sie können nicht erraten, sagte der Unbekannte, welche Art von eßbarem Stoffe diese kleine Vase enthält, und das setzt Sie in Verlegenheit?

 

Ich gestehe es.

 

Nun, diese Sorte von Zuckerwerk ist nichts mehr und nichts weniger als die Ambrosia, die Hebe an Jupiters Tafel reichte. Sind Sie ein materieller Mensch, ist das Gold Ihr Gott? Kosten Sie hiervon; und die Minen von Peru, Goleonda und Guzerate sind Ihnen geöffnet. Sind Sie ein Mann von Phantasie? Sind Sie ein Dichter? Kosten Sie abermals hiervon, und die Schranken des Möglichen werden verschwinden; die Gefilde des Unendlichen öffnen sich, und Sie wandeln, frei an Herz, frei an Geist, auf dem grenzenlosen Gebiete des Traumlebens umher. Sind Sie ehrgeizig, jagen Sie der irdischen Größe nach? In einer Stunde sind Sie König, nicht König eines kleinen Reiches, wie Spanien, Frankreich und England, sondern König der Welt, König des Weltalls. Sprechen Sie, ist es nicht verführerisch, was ich Ihnen da biete, und ist es nicht etwas Leichtes, da nur folgendes zu tun ist? Sehen Sie!

 

Bei diesen Worten hob er ebenfalls den Deckel von dem kleinen Becher ab, der den so gepriesenen Stoff enthielt, nahm einen Kaffeelöffel von dem magischen Zuckerwerk, führte ihn an den Mund und zog, die Augen halb geschlossen und den Kopf zurückgelegt, die wunderbare Speise langsam in den Mund. Franz ließ ihm Zeit, sein Lieblingsgericht zu verzehren; als er ihn aber wieder etwas zu sich kommen sah, sagte er zu ihm: Was für ein kostbares Gericht ist denn dies?

 

Haben Sie vom Alten vom Berge sprechen hören?

 

Allerdings.

 

Sie wissen, daß ihm ein reiches Tal gehörte, das der Berg beherrschte, von dem er seinen malerischen Namen genommen hatte. In diesem Tale waren herrliche, von Hassan Ben Saba angelegte Gärten, und in diesen Gärten einzeln stehende Pavillons. In diese Pavillons berief er seine Auserwählten, und hier ließ er sie ein gewisses Kraut essen, das sie in das Paradies, unter ewig blühende Pflanzen, stets reife Früchte und immer jungfräulich reizvolle Mädchen versetzte. Was aber die seligen jungen Leute für Wirklichkeit hielten, war ein Traum; doch ein so sanfter, so berauschender, so wollüstiger Traum, daß sie sich mit Leib und Seele an den verkauften, der sie darein versetzt hatte; daß sie, seinen Befehlen wie denen Gottes gehorchend, bis ans Ende der Welt gingen, um das bezeichnete Opfer zu schlagen; daß sie unter den gräßlichsten Martern, ohne zu klagen, einzig und allein in dem Gedanken starben, der Tod, den sie erlitten, sei nur ein Übergang zu dem köstlichen Leben, von dem ihnen das Kraut einen Vorgeschmack gegeben hatte.

 

Also ist es Haschisch, rief Franz; ich kenne dies wenigstens dem Namen nach.

 

Sie haben das richtige Wort ausgesprochen, Herr Aladin, es ist Haschisch aus Alexandrien.

 

Wissen Sie, daß ich große Lust habe, selbst ein Urteil über die Richtigkeit Ihrer Lobeserhebungen zu gewinnen?

 

Urteilen Sie selbst, mein Gast! Sie werden nie mehr leben und immer nur träumen wollen. Kosten Sie von dem Haschisch, mein Freund, kosten Sie davon!

 

Franz nahm, ohne zu antworten, einen Löffel voll von dem Wunderteig und führte ihn an den Mund.

 

Dann standen beide auf Simbads Vorschlag auf und traten in das anstoßende Zimmer. Dieses war einfacher, obwohl nicht minder reich ausgestattet. Es hatte eine runde Form, und ein großer Diwan prangte rings umher. Aber Diwan, Wände, Decken und Boden waren insgesamt mit prächtigem, weichem, teppichartigem Pelzwerk überzogen. Beide legten sich auf Diwans; Pfeifen in gehöriger Anzahl standen mit Jasminrohren und Bernsteinspitzen im Bereich der Hand. Jeder nahm eine. Ali zündete sie an und ging sodann hinaus, um Kaffee zu holen.

 

Während Wirt und Gast einen Augenblick schwiegen, überließ sich Simbad Gedanken, die ihn unablässig, selbst während des Gesprächs, zu beschäftigen schienen, und Franz gab sich jenen stummen Träumereien hin, in die man leicht verfällt, wenn man vortrefflichen Tabak raucht, wobei der Rauch alle Schmerzen des Geistes mitzunehmen und dem Raucher alle Goldträume der Seele dafür zu geben scheint. Ali brachte den Kaffee.

 

Ah! sehen Sie, unterbrach Simbad die Träumereien seines Gastes, die Orientalen sind die einzigen Menschen, die zu leben wissen. Ich für meine Person, fügte er mit seltsamem Lächeln bei, das dem jungen Manne nicht entging, ich werde, wenn meine Angelegenheiten in Paris beendigt sind, nach dem Orient ziehen, um dort zu sterben, und wenn Sie mich dann Wiedersehen wollen, so müssen Sie mich in Kairo, in Bagdad oder in Ispahan aufsuchen.

 

Wahrhaftig, sagte Franz, nichts kann in der Welt leichter sein, denn ich glaube, es wachsen mir Adlerflügel, und mit diesen Flügeln mache ich in 24 Stunden die Reise um die Welt.

 

Ah! ah! der Haschisch wirkt; wohl, so öffnen Sie die Flügel und fliegen Sie in überirdische Regionen; fürchten Sie nichts, man wacht über Ihnen.

 

Hierauf sagte er einige arabische Worte zu Ali, der ein Zeichen des Gehorsams machte und sich zurückzog, jedoch ohne sich zu entfernen. Bei Franz ging eine seltsame Veränderung vor: die ganze körperliche Ermattung, die ganze Unruhe seines Geistes verschwanden wie in einem ersten Augenblick der Ruhe, wo man noch genug lebt, um den Schlaf kommen zu fühlen. Sein Körper schien eine ätherische Leichtigkeit zu bekommen, sein Geist erleuchtete sich auf wunderbare Weise, seine Sinne schienen ihre Fähigkeiten zu verdoppeln. Der Horizont erweiterte sich immer mehr, aber es war nicht mehr der düstere Horizont, den er so oft vor seinem Entschlummern gesehen hatte, sondern ein blauer, durchsichtiger Horizont, mit allem, was das Meer an Azur, die Sonne an Goldfunken, der Abendwind an Wohlgeruch hat! Dann sah er mitten unter Gesängen seiner Matrosen die Insel Monte Christo erscheinen, nicht mehr wie eine über den Wellen drohende Klippe, sondern wie eine in der Wüste verlorene Oase.

 

Endlich berührte die Barke das Ufer, und es kam Franz vor, als trete er in die Grotte, ohne daß die bezaubernde Musik aufhörte. Er stieg hinab, eine frische, balsamische Lust einatmend, und er sah alles, was er vor seinem Schlummer gesehen hatte, von Simbad, dem phantastischen Wirte, bis auf Ali, den stummen Diener; dann schien sich alles unter seinen Augen zu verwischen und zu vermengen, wie die letzten Schatten einer Zauberlaterne, die man auslöscht, und er fand sich wieder in dem Zimmer mit den Statuen, das nur von einer jener antiken, blassen Lampen beleuchtet war, die mitten in der Nacht den Schlummer der Wollust bewachen.

 

Es waren wohl dieselben an Formen, Üppigkeit und Poesie reichen Statuen, mit den magnetischen Augen, mit dem verführerischen Lächeln, mit den überreichen Haupthaaren. Es waren Phryne, Kleopatra, Messalina, die drei großen Kurtisanen; dann glitt mitten unter diese unzüchtigen Schatten, wie ein reiner Engel, wie mitten im Olymp ein christlicher Engel, eine von den keuschen Gestalten, einer von den ruhigen Schatten, eine von den sanften Visionen, die ihre jungfräuliche Stirn unter allen diesen marmornen Unreinheiten zu verschleiern schien. Da kam es ihm vor, als hätten diese drei Statuen ihre dreifache Liebe für einen Menschen vereinigt, und dieser Mensch wäre er, als näherten sie sich dem Bette, wo er einen zweiten Schlaf träumte, die Füße in ihre langen, weißen Tuniken gehüllt, die Haare gleich Wellen sich entrollend, in einer von jenen Stellungen, denen die Heiligen widerstanden, denen aber die Götter unterlagen; mit einem jener unwiderstehlichen, glühenden Blicke, wie sie die Schlange auf den Vogel heftet, und als gäbe er sich diesen Blicken hin, die so schmerzlich waren wie ein gewaltiger Druck und zugleich so wollüstig wie ein Kuß.

 

Franz schien es, als schlösse er die Augen und als gewahrte er durch den letzten Blick, den er umherwarf, die züchtige Statue, die sich gänzlich verschleierte; als sodann seine Augen für die wirklichen Dinge geschlossen waren, öffneten sich seine Sinne für unbeschreibliche Eindrücke. Dann trat eine Wollust ohne Unterlaß, eine Liebe ohne Rast ein, wie die, die der Prophet seinen Auserwählten verspricht. Dann belebten sich alle diese steinernen Wände dergestalt, daß für Franz, der zum erstenmal der Herrschaft des Haschisch unterlag, diese Liebe beinahe ein Schmerz, diese Wollust beinahe eine Marter wurde, als er über seinen bebenden Mund die Lippen dieser Statuen, kalt und geschmeidig wie die Ringe einer Schlange, hinschlüpfen fühlte. Aber je mehr seine Arme diese unbekannte Liebe zurückzustoßen strebten, desto mehr unterlagen seine Sinne dem Zauber des geheimnisvollen Traumes, und nach einem Kampf, für den er seine Seele geopfert hätte, gab er sich ohne Rückhalt hin und fiel endlich stöhnend, brennend vor Müdigkeit, unter den Zauber dieses unerhörten Traumes zurück.

 

Erwachen.

 

Erwachen.

 

Als Franz wieder zu sich kam, schien seine Umgebung den Traum fortzusetzen; er glaubte, in einem Grabe zu sein, in das kaum ein Sonnenstrahl wie ein Blick des Mitleids drang; er streckte die Hand aus und fühlte Stein, er setzte sich auf und fand, daß er in seinem Burnus auf getrocknetem Heidekraut gelegen hatte. Jede Vision war verschwunden, und die Statuen hatten, als wären sie nur während seines Traumes aus ihren Gräbern hervorgegangen, bei seinem Erwachen die Flucht ergriffen. Er machte einige Schritte nach dem Punkt zu, woher das Licht kam; auf die ganze Aufregung des Traumes folgten die Ruhe und die Wirklichkeit. Er sah sich in einer Grotte, schritt auf die Öffnung zu und erblickte durch die gewölbte Tür einen blauen Himmel und ein Azurmeer. Luft und Wasser erglänzten in den Strahlen der Morgensonne, auf dem Ufer saßen plaudernd und lachend die Matrosen, zehn Schritte in der See schaukelte sich anmutig die Barke an ihrem Anker.

 

Da kostete er eine Zeitlang den frischen, gelinden Wind, der seine Stirn umspielte; er horchte auf das geschwächte Geräusch der Welle, die am Strand erstarb und auf den Felsen eine Spitze von silberweißem Schaum zurückließ; er überließ sich ganz und ohne Rückhalt dem göttlichen Zauber, der in den Dingen der Natur liegt, besonders wenn man aus einem phantastischen Traume erwacht. Dann brachte ihm die stille, ungetrübte, großartige Umgebung allmählich die Unwahrscheinlichkeit eines Traumes zum Bewußtsein, und die Erinnerungen fingen an, in sein Gedächtnis wiederzukehren. Er erinnerte sich seiner Ankunft auf der Insel, seiner Vorstellung bei einem Anführer von Schmugglern, eines unterirdischen Palastes voll Pracht und Herrlichkeit, eines vortrefflichen Abendbrotes und eines Löffels voll Haschisch. Nur kam es ihm der Wirklichkeit des lichten Tages gegenüber vor, als sei dies alles schon vor einem Jahre gewesen, so lebendig war der Traum in seinem Geiste, so gewaltig hatte er sich seinem Innern eingeprägt. Von Zeit zu Zeit ließ auch seine Einbildungskraft einen von den Schatten, deren Blicke und Küsse seine Nacht durchleuchtet hatten, mitten unter den Matrosen erscheinen, oder über einen Felsen hinschreiten, oder auf der Barke sich wiegen. Im übrigen war sein Kopf völlig frei, sein Körper ganz ausgeruht; keine Schwerfälligkeit belastete das Gehirn, sondern im Gegenteil ein gewisses Wohlbehagen verlieh eine größere Fähigkeit als je, Luft und Licht einzusaugen. Er näherte sich daher heiter seinen Matrosen. Sobald sie ihn erblickten, standen sie auf, und der Patron kam ihm entgegen.

 

Herr Simbad, sagte er zu ihm, hat uns mit Empfehlungen für Eure Exzellenz beauftragt; wir sollen sein Bedauern ausdrücken, daß er nicht habe Abschied nehmen können; doch er hoffe, Sie werden ihn entschuldigen, wenn Sie erfahren, daß ihn eine sehr dringende Angelegenheit nach Malaga rufe.

 

Ah! mein lieber Gaetano, sagte Franz, dies alles ist also Wirklichkeit? Es hat mich jemand auf der Insel empfangen, mir königliche Gastfreundschaft gewährt, und ist während meines Schlafes abgereist!

 

Es ist so sehr Wahrheit, daß Sie dort seine kleine Jacht mit vollen Segeln hinfahren sehen können.

 

Franz zog sein Fernglas aus der Tasche, hielt es vor sein Auge und richtete es nach dem bezeichneten Punkte. Gaetano täuschte sich nicht. Auf dem Hinterteile des Schiffes stand der geheimnisvolle Fremde, nach der Insel gekehrt und ebenfalls ein Fernglas in der Hand haltend. Er war ganz so gekleidet, wie er sich am Abend vorher vor seinem Gaste gezeigt hatte, und schwenkte zum Zeichen des Abschieds ein Tuch in der Luft. Franz zog auch sein Taschentuch, ließ es flattern und erwiderte den Gruß. Nach einer Sekunde erschien eine leichte Rauchwolke auf dem Hinterteil des Schiffes, machte sich leicht vom Verdeck los und stieg langsam zum Himmel empor; dann traf ein schwacher Knall Franzens Ohr. Hören Sie? rief Gaetano, er nimmt von Ihnen Abschied. Der junge Mann ergriff seine Büchse und schoß sie in die Lust.

 

Was befiehlt nun Eure Exzellenz? fragte Gaetano.

 

Zündet mir vor allem eine Fackel an.

 

Ah! ja, ich begreife, um den Eingang in die Zaubergemächer zu suchen. Viel Vergnügen dabei, Exzellenz; die Fackel will ich Ihnen geben. Auch mich hat der Gedanke erfaßt, der Sie jetzt beschäftigt, drei- oder viermal habe ich gesucht, aber am Ende gab ich jede weitere Nachforschung auf. Giovanni, fügte er hinzu, zünde eine Fackel an und bringe sie Seiner Exzellenz! Giovanni gehorchte. Franz nahm die Fackel und trat mit Gaetano in den unterirdischen Raum.

 

Er erkannte den Platz, wo er erwacht war, an dem noch ganz zerdrückten Lager von Heidekraut; doch wenn er auch mit der Fackel die ganze äußere Oberfläche der Grotte ableuchtete, er sah nichts und erkannte nur an Spuren von Rauchschwärze, daß bereits andere vor ihm vergeblich in gleicher Weise gesucht hatten. Er ließ indessen keinen Fuß dieser undurchdringlichen Granitmauer ungeprüft. Er sah keine Spalte, in die er nicht die Klinge seines Jagdmessers stieß. Er bemerkte keinen hervorspringenden Punkt, auf den er nicht drückte, in der Hoffnung, er würde nachgeben; aber alles war umsonst, und nachdem er zwei Stunden vergeblich aufgewendet hatte, leistete er Verzicht. Gaetano triumphierte.

 

Franz hielt nichts mehr auf Monte Christo zurück; er hatte jede Hoffnung verloren, das Geheimnis der Grotte zu entdecken, beeilte sich zu frühstücken, und eine halbe Stunde nachher befand er sich an Bord seiner Barke. Er warf einen letzten Blick auf die Jacht, die im Begriff war, im Golf von Porto-Veechio zu verschwinden, und gab nun das Signal zur Abfahrt. In der Sekunde, wo die Barke sich in Bewegung setzte, verschwand die Jacht; mit ihr erlosch die letzte Wirklichkeit der vorhergehenden Nacht: Abendessen, Simbad, Haschisch und Statuen, alles fing an, sich für Franz im gleichen Traume zu vermengen.

 

Die Barke segelte den Tag und die ganze Nacht, und am Morgen bei Sonnenaufgang war die Insel Monte Christo ebenfalls verschwunden. Sobald Franz die Erde berührte, vergaß er, wenigstens für den Augenblick, die erlebten Ereignisse, um seine Angelegenheiten in Florenz abzumachen. Dann reiste er ab, seinen Gefährten in Rom aufzusuchen, wo bereits die ersten Karnevalsfestlichkeiten begonnen hatten.

 

Franz mußte sich durch die bereits in gehobener Feststimmung die Straßen Roms passierende Menge – es war der Sonnabend vor Beginn des Festes – drängen und kam endlich zu Pastrinis berühmtem Hotel zur Stadt London, wo er mit seinem ihn erwartenden Freunde Albert von Morcerf zusammentraf.