Das Kabinett des Staatsanwalts.

 

Das Kabinett des Staatsanwalts.

 

Lassen wir den Bankier in scharfem Trabe seiner Pferde nach Hause fahren und folgen Frau Danglars bei ihrem Morgenausfluge. Sie war, wie gesagt, um halb zwei Uhr ausgefahren und ließ bei der Passage du Pout-Neuf halten. Sie stieg aus und ging durch die Passage. Ihre Kleidung war sehr einfach, wie es sich für eine Frau von Geschmack geziemt, wenn sie sich morgens auf der Straße zeigt.

 

In der Rue Génégaut stieg sie in einen Fiaker und bezeichnete als Ziel die Rue de Harlay. Kaum war sie in dem Wagen, als sie aus ihrer Tasche einen sehr dichten schwarzen Schleier zog, den sie an ihrem Strohhute befestigte; dann setzte sie ihren Hut wieder auf und bemerkte mit Vergnügen, als sie sich in einem kleinen Taschenspiegel beschaute, daß man von ihr nichts als ihre weiße Haut und die funkelnden Augensterne sehen konnte. Der Fiaker fuhr zum Justizpalast. Hier eilte Frau Danglars zur Treppe, stieg diese leicht hinauf und gelangte bald in den Saal des Pas-Perdus.

 

Am Morgen gibt es im Justizpalast sehr viel geschäftige Leute, die sich wenig umeinander kümmern. Frau Danglars durchschritt daher den Saal des Pas-Perdus, ohne von andern bemerkt zu werden, als von zwei Frauen, die hier auf ihren Advokaten warteten.

 

Das Vorzimmer des Herrn von Villefort war gedrängt voll von Menschen, doch Frau Danglars hatte nicht einmal nötig, ihren Namen zu nennen. Sobald sie erschien, stand ein Gerichtsdiener auf, ging ihr entgegen und fragte sie, ob sie nicht die Person sei, die der Herr Staatsanwalt beschieden habe. Auf ihre bejahende Antwort führte er sie durch einen besonderen Gang in Herrn von Villeforts Kabinett.

 

Der Beamte schrieb, in seinem Lehnstuhl sitzend, den Rücken der Tür zuwendend. Er hörte die Tür sich öffnen, den Diener die Worte: Treten Sie ein, gnädige Frau! aussprechen und die Tür sich wieder schließen, ohne die geringste Bewegung zu machen. Doch kaum bemerkte er, daß sich die Tritte des Gerichtsdieners verloren, als er sich rasch umwandte, die Riegel vorschob, die Vorhänge herabließ und jeden Winkel des Kabinetts untersuchte. Sobald er Gewißheit erlangt hatte, daß er weder gehört, noch gesehen werden konnte, sagte er: Gnädige Frau, meinen innigen Dank für Ihre Pünktlichkeit. Und er bot Frau Danglars einen Stuhl, den sie annahm, denn ihr Herz schlug so gewaltig, daß sie sich dem Ersticken nahe fühlte.

 

Es ist schon lange, sagte der Staatsanwalt, während er sich Frau Danglars gegenübersetzte, daß ich nicht mehr das Glück gehabt habe, mit Ihnen allein zu sprechen, und zu meinem großen Bedauern finden wir uns wieder zusammen, um eine sehr peinliche Unterredung zu pflegen.

 

Sie sehen jedoch, mein Herr, daß ich auf Ihre erste Aufforderung gekommen bin, obgleich diese Unterredung für mich noch peinlicher sein muß, als für Sie.

 

Es ist also wahr, sagte er, mehr auf seine eigenen Gedanken als auf Frau Danglars‘ Worte erwidernd, daß alle unsere Schritte in diesem Leben dem Zuge der Schlangen auf dem Sande gleichen und eine Furche machen! Ach! für viele ist dies eine Tränenfurche.

 

Mein Herr, sagte Frau Danglars, nicht wahr, Sie begreifen meine Erschütterung? Schonen Sie mich also, ich bitte Sie. Dieses Zimmer, durch das so viele Schuldige zitternd und voll Scham gekommen sind, dieser Stuhl, auf den ich mich ebenfalls beschämt und zitternd setze! … Oh! ich bedarf meiner ganzen Vernunft, um nicht in mir eine sehr schuldige Frau und in Ihnen einen drohenden Richter zu sehen; schon habe ich gestern eine schwere Strafe für meine Schuld erlitten.

 

Arme Frau! sagte Villefort, ihr die Hand drückend. Sie war zu schwer für Ihre Kräfte, denn zweimal waren Sie nahe daran, zu unterliegen, und doch müssen Sie Ihren Mut zusammenraffen, gnädige Frau, denn Sie sind noch nicht am Ziele!

 

Mein Gott! rief Frau Danglars erschrocken, was gibt es denn noch?

 

Sie sehen nur die Vergangenheit, und diese ist allerdings düster. Doch stellen Sie sich eine Zukunft vor, die vielleicht noch viel blutiger ist!

 

Die Baronin kannte Villeforts Ruhe, sie war so erschrocken über seinen gereizten Zustand, daß sie den Mund öffnete, um zu schreien, aber der Schrei erstarb in ihrer Kehle.

 

Wie ist sie wiedererwacht, diese furchtbare Vergangenheit? rief Villefort; wie ist sie aus der Tiefe des Grabes und aus der Tiefe unserer Herzen, wo sie schlummerte, hervorgetreten, einem Gespenst ähnlich, um unsere Wangen erbleichen und unsere Stirnen erröten zu lassen?

 

Ach! ohne Zweifel durch Zufall! sagte Herminie.

 

Durch Zufall! versetzte Villefort: nein, nein, nein, gnädige Frau, es gibt keinen Zufall!

 

Doch wohl; ist es nicht ein Zufall, allerdings ein unseliger, aber immerhin ein Zufall, der dies alles herbeigeführt hat? Hat nicht durch Zufall der Graf von Monte Christo dieses Haus gekauft? Hat er nicht durch Zufall die Erde ausgraben lassen? Ist nicht endlich durch Zufall das unglückliche Kind unter den Bäumen ausgegraben worden? Armes, unschuldiges, mir entsprossenes Geschöpf, dem ich nie einen Kuß geben konnte, während ich ihm viele Tränen weihte. Ach! mein ganzes Herz flog dem Grafen entgegen, als er von der teuren Hülle sprach, die man unter den Blumen fand.

 

Nein, nein, gnädige Frau; das ist es gerade, was ich Ihnen Furchtbares zu sagen habe, erwiderte Villefort mit dumpfer Stimme; nein, man hat keine Hülle unter den Bäumen gefunden; nein, es war dort kein vergrabenes Kind; nein, Sie dürfen nicht weinen; nein, Sie dürfen nicht seufzen, Sie müssen zittern.

 

Was wollen Sie damit sagen? rief Frau Danglars schauernd.

 

Ich will damit sagen, daß Herr von Monte Christo, als er am Fuße der Bäume graben ließ, weder das Skelett eines Kindes, noch die Beschläge einer Kiste finden konnte, weil unter diesen Bäumen weder das eine noch das andere vorhanden war.

 

Es war weder das eine noch das andere vorhanden! wiederholte Frau Danglars, auf den Staatsanwalt Augen heftend, deren furchtbar erweiterter Stern den tiefsten Schrecken andeutete; es war weder das eine noch das andere vorhanden, wiederholte sie noch einmal, wie eine Person, die durch den Klang ihrer Worte und das Geräusch ihrer Stimme ihre Gedanken festzuhalten versucht.

 

Nein! rief Villefort, während er seine Stirn in seine Hände sinken ließ; nein, hundertmal nein … Sie hatten also das arme Kind nicht dort niedergelegt, mein Herr? Warum täuschten Sie mich, sprechen Sie, in welcher Absicht taten Sie dies?

 

Hören Sie mich, gnädige Frau, und Sie werden mich beklagen, mich, der ich zwanzig Jahre lang, ohne den geringsten Teil auf Sie zu werfen, eine Last von Schmerzen getragen habe. Sie wissen, wie jene schmerzhafte Nacht verging, wo Sie, mit dem Tode ringend, auf Ihrem Bette in jenem Zimmer von rotem Damast lagen, während ich, fast ebenso keuchend wie Sie, Ihre Entbindung erwartete. Das Kind kam, wurde mir ohne Bewegung, ohne Atem, ohne Stimme übergeben, wir hielten es für tot.

 

Frau Danglars machte eine rasche Bewegung, als wollte sie vom Stuhle aufspringen. Doch Villefort hielt sie zurück, indem er, die Hände faltend, sie gleichsam um Aufmerksamkeit anflehte.

 

Wir hielten es für tot, wiederholte er; ich legte es in ein Kistchen, das den Sarg ersetzen sollte, ging in den Garten, grub ein Grab und verscharrte es in Eile. Kaum hatte ich das Kistchen mit Erde bedeckt, als sich der Arm des Korsen nach mir ausstreckte. Ich sah es wie einen Schatten sich emporrichten, wie einen Blitz leuchten. Ich fühlte einen Schmerz, ich wollte schreien, ein eisiger Schauer durchlief meinen ganzen Leib und schnürte mir die Kehle zusammen. Ich glaubte, meine letzte Minute sei gekommen, und brach zusammen. Nie werde ich Ihren erhabenen Mut vergessen, als ich mich, wieder zu mir gekommen, mit der größten Anstrengung bis unten an die Treppe schleppte, und Sie mir, selbst sterbend, entgegenkamen. Wir mußten völliges Stillschweigen über diese Katastrophe beobachten; Sie kehrten, von Ihrer Amme unterstützt, in Ihr Haus zurück; ein Duell diente als Vorwand für meine Wunde. Gegen alle Erwartung blieb unser Geheimnis bewahrt. Drei Monate lang kämpfte ich gegen den Tod; endlich, da ich wieder zum Leben zurückzukehren schien, verordnete man mir die Sonne und die Luft des Südens. Ich wurde nach Marseille gebracht, und Frau von Villefort folgte mir. Meine Wiedergenesung dauerte zehn Monate; ich hörte nichts von Ihnen und wagte nicht, mich zu erkundigen, was aus Ihnen geworden sei. Als ich nach Paris zurückkehrte, erfuhr ich, Sie hätten nach Herrn von Nargonnes Tode Herrn Danglars geheiratet.

 

Woran hatte ich, seitdem bei mir das Bewußtsein wiedergekehrt war, gedacht? Immer an dasselbe, immer an den Leichnam des Kindes, der jede Nacht in meinen Träumen dem Schoße der Erde entstieg und, mich mit Blick und Gebärde bedrohend, über dem Grabe schwebte. Kaum war ich nach Paris zurückgekehrt, als ich mich erkundigte; das Haus war, seitdem wir es verlassen, nicht wieder bewohnt, jedoch kurz zuvor auf neun Jahre vermietet worden. Ich suchte den Mieter auf, ich stellte mich, als hätte ich ein großes Verlangen, dieses Haus, das dem Vater und der Mutter meiner Frau gehörte, nicht in fremde Hände übergehen zu sehen, ich bot eine Entschädigung, wenn man den Vertrag aufheben wolle. Man verlangte 6000 Franken von mir; ich hätte 10, ja 20 000 gegeben. Ich trug die Summe bei mir, ließ auf der Stelle den Rücktritt unterzeichnen und ritt, sobald ich die ersehnte Abtretung in Händen hatte, im Galopp nach Auteuil. Niemand hatte das Haus betreten, seitdem ich es verlassen hatte. – Es war fünf Uhr nachmittags; ich ging in das rote Zimmer und wartete die Nacht ab. Alles, was ich mir seit einem Jahre in beständigem Todeskampfe sagte, stellte sich hier bedrohlicher vor mich als je in meinen Gedanken.

 

Der Korse, der mir die Vendetta erklärt hatte, der mir von Nimes nach Paris gefolgt war, der sich im Garten verborgen, mir den Stoß versetzt, mich das Grab hatte bereiten sehen, er hatte auch gesehen, wie ich das Kind verscharrt; es konnte ihm gelingen, Sie kennen zu lernen; er kannte Sie vielleicht bereits … Würde er sich nicht eines Tages das Geheimnis dieser furchtbaren Geschichte bezahlen lassen? … Wäre es nicht für ihn eine süße Rache, wenn er erführe, sein Dolchstich habe mich nicht getötet? Es war daher vor allem dringend, daß ich unter jeder Bedingung die Spuren der Vergangenheit verschwinden ließ. Aus diesem Grunde hob ich den Mietsvertrag auf, deshalb war ich gekommen, deshalb wartete ich.

 

Als die Nacht dicht und düster genug geworden war, ging ich ans Werk. Ich stand ohne Licht in jenem Zimmer, wo Windstöße die Türvorhänge zittern ließen, hinter denen ich beständig irgend einen verborgenen Spion zu sehen glaubte: von Zeit zu Zeit bebte ich, es kam mir vor, als hörte ich hinter mir, in jenem Bette, Ihre Klagen, und ich wagte nicht, mich umzuwenden. Mein Herz pochte laut, und ich fühlte es so heftig schlagen, daß ich glaubte, meine Wunde wolle sich wieder öffnen; endlich schienen alle Geräusche umher erstorben zu sein. Ich sah, daß ich nichts mehr zu befürchten hatte, daß ich weder gesehen, noch gehört werden konnte, und entschloß mich, hinabzugehen.

 

Hören Sie, Herminie, ich hielt mich für so mutig, wie ein Mann sein kann; als ich aber aus meiner Brusttasche jenen kleinen Treppenschlüssel hervorzog, jenen Schlüssel, den wir beide so sehr liebten, und den Sie an einem goldenen Ring befestigen ließen, – als ich die Tür öffnete, als ich den bleichen Mond einen langen Streifen weißen Lichtes, einem Gespenste ähnlich, durch die Fenster auf die schneckenförmigen Stufen werfen sah, da hielt ich mich an der Mauer und war nahe daran, zu schreien. Es war mir, als würde ich verrückt.

 

Es gelang mir, wieder meiner Herr zu werden. Ich stieg Stufe für Stufe die Treppe hinab; das einzige, was ich nicht zu überwinden vermochte, war ein seltsames Zittern in den Knien. Ich hielt mich an dem Geländer, hätte ich es nur einen Augenblick losgelassen, so wäre ich hinabgestürzt. Ich gelangte an die untere Tür. Außen lehnte ein Spaten an der Mauer; ich nahm ihn und schritt dem Gebüsche zu. Ich hatte mich mit einer Blendlaterne versehen; mitten auf dem Rasen blieb ich stehen, um sie anzuzünden, und setzte dann meinen Weg fort. – Der November war seinem Ende nahe; alles Grüne des Gartens war verschwunden, und das dürre Laub raschelte mit dem Sande unter meinen Tritten. Die Angst schnürte mir so gewaltig das Herz zusammen, daß ich, als ich mich den Bäumen näherte, eine Pistole aus der Tasche zog und den Hahn spannte. Beständig glaubte ich die Gestalt des Korsen durch die Zweige zu sehen.

 

Ich beleuchtete das Gebüsch mit meiner Blendlaterne; es war leer; ich schaute rings umher und fand mich allein; kein Geräusch störte die Stille der Nacht. Das Gras war den Sommer hindurch hier sehr hoch gewachsen, und niemand hatte es gemäht. Eine weniger bewachsene Stelle fesselte meine Aufmerksamkeit; hier hatte ich offenbar die Erde ausgegraben.

 

Ich schritt zum Werke. Endlich war ich zu dem Ziele gelangt, das ich seit mehr als einem Jahr ersehnte! Doch wie ich auch hoffte, wie ich arbeitete, wie ich jedes Stückchen Rasen untersuchte, im Glauben, ich würde am Ende meines Spatens Widerstand finden … nichts! Und ich machte doch ein Loch, zweimal so groß, als das erste gewesen war. Ich glaubte mich in der Stelle getäuscht zu haben, ich schaute mich um, ich betrachtete die Bäume, ich suchte die einzelnen Gegenstände, die mir früher in das Auge gefallen waren, wiederzuerkennen.

 

Ein kalter, scharfer Wind strich durch die entblätterten Zweige, und dennoch floß der Schweiß von meiner Stirn. Ich erinnerte mich, daß ich den Dolchstoß in dem Augenblick erhalten hatte, wo ich die Erde einstampfte, um das Grab wieder zu füllen. Beim Einstampfen hielt ich mich an einer Bauhinie; hinter mir war ein künstlicher Fels, der als Bank diente, denn als ich niedersank, fühlte meine Hand, die den Baum losgelassen hatte, diesen Stein. Zu meiner Rechten war die Bauhinie, hinter mir der Fels; ich fiel, indem ich mich setzen wollte; ich stand wieder auf und fing an, aufs neue zu graben und das Loch zu erweitern; – nichts, abermals nichts; das Kistchen war nicht da.

 

Das Kistchen war nicht da? murmelte Frau Danglars, vom Schrecken beinahe erstickt.

 

Glauben Sie nicht, daß ich mich auf diesen ersten Versuch beschränkte, fuhr Villefort fort, nein, ich durchwühlte das ganze Gebüsch; ich dachte, der Mörder habe im Glauben, es sei ein Schatz, das Kistchen ausgegraben, sodann, nachdem er seinen Irrtum wahrgenommen, selbst ein anderes Loch gemacht, und es dort hineingelegt … nichts! Dann kam mir der Gedanke, er sei nicht so vorsichtig zu Werke gegangen, und habe das Kistchen in einen Winkel geworfen. Um dies feststellen zu können, mußte ich aber den Tag abwarten. Ich ging wieder ins Zimmer hinauf und wartete. Bei Tagesanbruch ging ich abermals hinab. Zuerst begab ich mich wieder zu der Baumgruppe, wo ich Spuren zu finden hoffte, die mir in der Dunkelheit entgangen wären. Ich hatte die Erde in einer Oberfläche von mehr als zwanzig Quadratfuß und zwei Fuß tief umgewühlt. Es war ein reichliches Tagewerk eines bezahlten Arbeiters, was ich in einer Stunde getan hatte. Nichts, ich sah nicht das geringste.

 

Dann forschte ich nach, ob das Kistchen vielleicht weggeworfen worden sei. Es mußte dies auf dem Wege geschehen sein, der zu der kleinen Ausgangstür führte; aber diese neue Nachforschung war ebenso vergeblich, wie die erste, und mit gepreßtem Herzen kehrte ich zu der Baumgruppe zurück.

 

Oh! das war, um wahnsinnig zu werden! rief Frau Danglars.

 

Ich hoffte dies einen Augenblick, aber ich war nicht so glücklich, sagte Villefort. Indem ich aber meine Kräfte und damit meine Gedanken zusammenraffte, fragte ich mich: Warum sollte dieser Mensch den Leichnam mitgenommen haben?

 

 

Sie sagten ja selbst, um einen Beweis zu haben, versetzte Frau Danglars. Nein, das konnte es nicht mehr sein; man behält einen Leichnam nicht ein Jahr lang, man zeigt ihn einem Beamten, man macht seine Anzeige; doch nichts von dem war geschehen, Nun, und also? fragte Herminie stammelnd.

 

Dann gibt es noch etwas Furchtbareres, Unseligeres, Schrecklicheres für uns: das Kind lebt vielleicht, und der Mörder hat es gerettet.

 

Frau Danglars stieß einen gräßlichen Schrei aus, ergriff Villefort bei den Händen und sagte: Mein Kind lebte! Sie haben mein Kind lebendig begraben! Sie wußten nicht gewiß, ob es tot war, und begruben es! oh! …

 

Frau Danglars hatte sich aufgerichtet und stand drohend vor dem Staatsanwalt, dessen Fäuste sie mit ihren zarten Händen preßte.

 

Was weiß ich? Ich sage Ihnen dies, wie ich etwas anderes sagen würde, erwiderte Villefort mit einer Starrheit des Blickes, die andeutete, daß dieser kraftvolle Mann nahe daran war, die Grenzen der Verzweiflung und des Wahnsinns zu erreichen.

 

Oh! mein Kind, mein armes Kind! rief die Baronin, auf ihren Stich! zurücksinkend und ihr Schluchzen in ihrem Taschentuche erstickend.

 

Villefort kam wieder zu sich, er fühlte, daß er, um den mütterlichen Sturm abzuwenden, der sich über seinem Haupte sammelte, bei Frau Danglars den Schrecken, den er selbst fühlte, wirken lassen mußte.

 

Sie begreifen, wenn sich die Sache so verhält, sagte er, ebenfalls aufstehend und sich der Baronin nähernd, um leiser mit ihr zu sprechen, Sie begreifen, dann sind wir verloren! Dieses Kind lebt, es weiß jemand, daß es lebt, es ist jemand im Besitze unseres Geheimnisses, und da Monte Christo von einem Kinde spricht, das an einer Stelle vergraben worden sein soll, wo dieses Kind nicht war, so besitzt er dieses Geheimnis.

 

Gott! gerechter Gott! rächender Gott! Villefort antwortete nur durch eine Art von Röcheln.

 

Doch dieses Kind, mein Herr, dieses Kind? versetzte hartnäckig die Mutter.

 

Oh! wie habe ich es gesucht! erwiderte Villefort, die Hände ringend; wie oft habe ich es in meinen langen, schlaflosen Nächten gerufen! Wie oft habe ich mir einen königlichen Reichtum gewünscht, um einer Million Menschen eine Million Geheimnisse abzukaufen und das meinige darunter zu finden! Eines Tages endlich, als ich zum hundertsten Male den Spaten nahm, fragte ich mich auch zum hundertsten Male, was der Korse mit dem Kinde habe tun können? Ein Kind setzt einen Flüchtigen in Verlegenheit; vielleicht hatte er es, als er wahrnahm daß es noch lebte, in den Fluß geworfen.

 

Unmöglich! rief Frau Danglars; man ermordet einen Menschen aus Rache, aber man ertränkt nicht ein Kind mit kaltem Blute.

 

Vielleicht hatte er es zu den Findelkindern gebracht.

 

Oh! ja, ja, mein Kind ist dort.

 

Ich lief in das Hospiz und erfuhr, daß man in eben dieser Nacht, in der Nacht vom 20. September, ein Kind dort niedergelegt hatte; es war in die Hälfte einer absichtlich zerrissenen Serviette von feiner Leinwand eingewickelt. Diese Hälfte der Serviette zeigte die Hälfte einer Baronenkrone und den Buchstaben H.

 

So ist es, so ist es! rief Frau Danglars, alle meine Wäsche war so gezeichnet. Herr von Nargonne war Baron, und ich heiße Herminie. Ich danke Gott, mein Kind war nicht tot! – Nein, es war nicht tot. –

 

Und Sie sagen mir das! Sie sagen es, ohne zu befürchten, ich werde vor Freude sterben! Wo ist es? Wo ist mein Kind?

 

Villefort zuckte die Achseln und erwiderte: Weiß ich es? Glauben Sie, wenn ich es wüßte, ließe ich Sie alles dies durchmachen? Nein, ach! nein, ich weiß es nicht. Eine Frau war ungefähr sechs Monate zuvor, um das Kind zurückzufordern, mit der andern Hälfte der Serviette gekommen. Die Frau hatte alle vom Gesetze vorgeschriebenen Garantien geliefert, und man gab es ihr.

 

Sie hätten sich nach dieser Frau erkundigen, sie entdecken müssen.

 

Und glauben Sie, ich hätte das nicht getan? Ich schützte eine Kriminaluntersuchung vor und ließ durch alles, was die Polizei an geschickten Spürhunden, an gewandten Agenten besitzt, Nachforschungen anstellen. Man fand ihre Spur bis Chalons; in Chalons hat man sie verloren.

 

Frau Danglars hatte jeden einzelnen Umstand dieser Erzählung mit einem Seufzer, mit einer Träne, mit einem Schrei begleitet.

 

Und das ist alles? sagte sie, und hierbei ließen Sie es bewenden?

 

Oh! nein, erwiderte Villefort, ich habe nie aufgehört, zu suchen, mich zu erkundigen, nachzuforschen. Erst seit ein paar Tagen ließ ich ein wenig nach. Heute aber will ich mit mehr Beharrlichkeit und Schärfe als je wieder anfangen, und es wird mir gelingen, denn es ist nicht das Gewissen, was mich antreibt, sondern die Furcht.

 

Der Graf von Monte Christo weiß nichts, entgegnete Frau Danglars, sonst würde er Sie nicht so bevorzugen und zu gewinnen suchen, wie er dies tut.

 

Oh! die Bosheit der Menschen ist sehr tief, denn sie ist tiefer, als die Güte Gottes. Haben Sie die Augen dieses Mannes wahrgenommen, während er mit uns sprach? – Nein.

 

Haben Sie ihn zuweilen genauer betrachtet?

 

Er ist allerdings bizarr, mehr nicht; nur ist mir aufgefallen, daß er von dem ganzen kostbaren Mahle, das er uns vorgesetzt hat, nicht das geringste berührte.

 

Ja! ja! bestätigte Villefort. Ich habe dies ebenfalls bemerkt. Wenn ich gewußt hätte, was ich jetzt weiß, würde ich auch nichts berührt haben; ich hätte geglaubt, er wolle uns vergiften. Und Sie hätten sich getäuscht, wie Sie sehen.

 

Ja wohl; doch glauben Sie mir, dieser Mensch hat andere Pläne. Deshalb wollte ich Sie sehen, deshalb bat ich Sie um eine Unterredung, deshalb wollte ich Sie vor aller Welt und besonders vor ihm warnen. Sagen Sie mir, fuhr Villefort, seine Augen noch schärfer als bis jetzt auf die Baronin heftend, fort, Sie haben mit niemand von unserer Verbindung gesprochen?

 

Niemals mit irgend einem Menschen.

 

Sie verstehen mich, ich sage mit niemand? sagte Villefort liebevoll; verzeihen Sie mir diese dringende Frage, nicht wahr, mit niemand auf der ganzen Welt?

 

Oh! ja, ja, ich verstehe sehr gut, sagte die Baronin errötend, niemals, ich schwöre es Ihnen.

 

Sie haben nicht die Gewohnheit, am Abend aufzuschreiben, was am Morgen vorgefallen ist? Sie führen kein Tagebuch?

 

Nein! Ach! vom Leichtsinn fortgerissen, vergesse ich selbst mein vergangenes Leben.

 

Sie träumen nicht laut, soviel Sie wissen?

 

Ich habe den Schlaf eines Kindes; erinnern Sie sich dessen nicht mehr?

 

Purpur stieg in das Gesicht der Baronin, und Blässe übergoß Villeforts Antlitz.

 

Es ist wahr, sagte er so leise, daß man es kaum hörte.

 

Nun? fragte die Baronin.

 

Nun! ich sehe, was ich zu tun habe, versetzte Villefort; ehe acht Tage vergehen, weiß ich, wer Herr von Monte Christo ist, woher er kommt, wohin er geht, und warum er in unserer Gegenwart von Kindern spricht, die man in seinem Garten begräbt.

 

Villefort sprach diese Worte mit einem Tone, der den Grafen hätte schaudern lassen, wenn er ihn hätte hören können. Dann drückte er die Hand, die ihm die Baronin nur mit Widerstreben gab, und geleitete sie achtungsvoll bis an die Tür.

 

Ein Sommerball.

 

Ein Sommerball.

 

An demselben Tage, ungefähr zu der Stunde, wo Frau Danglars die Unterredung mit dem Staatsanwalt hatte, lenkte eine Kalesche in die Rue du Helder ein, fuhr durch das Tor von Nr. 27 und hielt im Hofe an.

 

Nach einem Augenblick öffnete sich der Kutschenschlag, und Frau von Morcerf stieg, auf den Arm ihres Sohnes gestützt, aus. Kaum hatte Albert seine Mutter in ihre Wohnung zurückgeleitet, als er seine Pferde verlangte und sich nach den Champs-Elisées zu dem Grafen von Monte Christo führen ließ.

 

Der Graf empfing ihn mit seinem gewöhnlichen Lächeln. Es war seltsam; nie schien man einen Schritt im Herzen oder Geiste dieses Mannes vorwärtszutun. Wer sich, so zu sagen, den Zugang zu seinem Vertrauen erzwingen wollte, fand eine eherne Mauer. Morcerf, der mit geöffneten Armen auf ihn zulief, ließ, als er ihn anschaute, trotz seines freundschaftlichen Lächelns, die Arme wieder sinken und wagte es kaum, ihm die Hand zu reichen.

 

Monte Christo berührte sie wie immer, ohne sie zu drücken.

 

Hier bin ich wieder, lieber Graf, sagte Albert. Ich bin erst vor einer Stunde von Treport zurückgekehrt, und mein erster Besuch gehört Ihnen.

 

Das ist sehr liebenswürdig, sagte Monte Christo gleichmütig.

 

Nun, was gibt es Neues in Paris? Wie war Ihr Fest in Auteuil?

 

Oh, nichts weiter, ein einfaches Diner, Herr von Danglars und Andrea Cavalcanti …

 

Ihr italienischer Fürst?

 

Wir wollen nicht übertreiben, Herr Andrea gibt sich nur den Titel eines Grafen. – Er ist es also nicht? – Weiß ich es? Er gibt sich, ich gebe ihm, man gibt ihm diesen Titel; ist das nicht, als ob er ihn hätte? – Sie sind ein seltsamer Mann! Nun, Herr Danglars hat also bei Ihnen zu Mittag gespeist?

 

Ja. Mit dem Grafen Andrea Cavalcanti, dem Marquis seinem Vater, mit Frau Danglars, Herrn und Frau von Villefort, reizenden Leuten, Herrn Debray, Maximilian Morel und dann noch mit wem … warten Sie … ah! mit Herrn von Chateau-Renaud. – Man hat von mir gesprochen?

 

Kein Wort. – Desto schlimmer, denn wenn man nicht von mir sprach, so dachte man viel an mich, und dann bin ich in Verzweiflung.

 

Was ist Ihnen daran gelegen, da Fräulein Danglars nicht unter der Zahl derer war, die hier an Sie dachten? Ah! sie konnte allerdings zu Hause an Sie denken.

 

Oh! was das betrifft, nein, dessen bin ich gewiß; oder wenn sie an mich dachte, so geschah es auf dieselbe Weise, wie ich an sie denke.

 

Eine rührende Sympathie! Sie hassen sich also?

 

Hören Sie, sagte Morcerf, wenn Fräulein Danglars geeignet wäre, Mitleid mit dem Märtyrertum zu empfinden, das ich für sie erdulde, und mich außerhalb des von unsern Familien beschlossenen Ehebundes belohnen wollte, so würde mir dies vortrefflich zusagen. Kurz, ich glaube, Fräulein Danglars wäre eine entzückende Geliebte, doch als Frau, Teufel! …

 

Das ist also die Art und Weise, wie Sie über Ihre Zukünftige denken? sagte Monte Christo lachend.

 

Oh! mein Gott, ja, zwar etwas roh, aber wenigstens klar. Da man jedoch aus diesem Traume keine Wirklichkeit machen kann, da, eines gewissen Zieles wegen, Fräulein Danglars meine Frau werden, das heißt mit mir leben, bei mir denken, bei mir singen, zehn Schritte von mir Verse und Musik machen muß, und dies mein ganzes Leben hindurch, so erschrecke ich. Eine Geliebte, lieber Graf, verläßt man, aber eine Frau, zum Teufel! das ist was anderes, die behält man, und zwar ewig, nahe oder ferne; Fräulein Danglars aber stets zu behalten, und wäre es auch nur in der Ferne, ist in der Tat schrecklich.

 

Sie sind schwer zu befriedigen, Vicomte.

 

Ja, denn häufig denke ich an etwas Unmögliches. Ich wünsche, eine Frau für mich zu finden, wie mein Vater eine gefunden hat.

 

Monte Christo erbleichte und schaute Albert an, während er mit prächtigen Pistolen spielte, deren Federn er knacken ließ.

 

Ihr Vater ist also sehr glücklich gewesen? sagte er.

 

Sie wissen, wie ich von meiner Mutter denke, Herr Graf: ein Engel des Himmels, immer noch schön, besser als je. Ich komme von Treport zurück. Für einen andern Sohn wäre die Begleitung seiner Mutter eine Gefälligkeit oder ein Frondienst gewesen, ich aber habe acht Tage unter vier Augen mit ihr zufriedener, ruhiger, poetischer, sage ich Ihnen, zugebracht, als wenn ich Titania nach Treport geführt hätte.

 

Das ist eine erschreckliche Vollkommenheit, und Sie machen denen, die Sie hören, große Lust, Junggesellen zu bleiben.

 

Gerade weil ich weiß, daß es auf der Welt eine vollkommene Frau gibt, getraue ich mir nicht, Fräulein Danglars zu heiraten. Haben Sie zuweilen bemerkt, wie unsere Selbstsucht alles, was uns gehört, in glänzende Farben kleidet? Der Diamant, den wir im Schaufenster des Juweliers funkeln sahen, wird viel schöner, sobald er unser Diamant ist. Doch wie schmerzlich ist es, wenn man weiß, daß es einen von reinerem Wasser gibt, während man selbst verurteilt ist, den geringeren Diamanten ewig zu tragen?

 

Weltmensch! murmelte der Graf.

 

Deshalb werde ich vor Freude springen an dem Tage, wo Fräulein Eugenie wahrnimmt, daß ich ein dürftiges Atom bin und kaum so viele 100 000 Franken besitze als sie Millionen hat.

 

Monte Christo lächelte.

 

Ich hatte wohl einen Gedanken, fuhr Albert fort; Franz liebt das Exzentrische, und ich wollte ihn in Fräulein Danglars verliebt machen; doch obgleich ich ihm vier Briefe lockendsten Inhalts schrieb, antwortete er mir stets und unabänderlich: Ich bin allerdings exzentrisch, aber das geht bei mir nicht so weit, daß ich mein Wort zurücknehme, wenn ich es einmal gegeben habe.

 

Das nenne ich eine aufopfernde Freundschaft, einem andern eine Frau geben, die man selbst nur zur Geliebten haben möchte.

 

Albert lächelte.

 

Wissen Sie, daß dieser liebe Franz zurückkommt? sagte Morcerf; doch es ist Ihnen wenig daran gelegen, Sie lieben ihn, glaube ich, nicht?

 

Ich! ei mein lieber Vicomte, woher glauben Sie denn, daß ich Franz nicht liebe? Ich liebe die ganze Menschheit.

 

Und ich bin in dieser Menschheit mit einbegriffen … Ich danke.

 

Wir wollen die Sache nicht verwirren, sagte Monte Christo, ich liebe die ganze Menschheit so, wie wir nach Gottes Befehl unsern Nächsten lieben sollen, das heißt auf eine christliche Weise; doch ich hasse nur gewisse Personen. Kommen wir aber auf Herrn d’Epinay zurück. Sie sagen, er kehre zurück?

 

Ja, von Herrn von Villefort zurückgerufen, der, wie es scheint, ebenso begierig ist, Fräulein Valentine zu verheiraten, wie Herr Danglars, Fräulein Eugenie zu verehelichen. Der Zustand eines Vaters, der erwachsene Töchter besitzt, muß recht angreifend sein; es scheint, er verursacht ihnen Fieber, und ihr Puls schlägt neunzigmal in der Minute, bis sie die Tochter los sind.

 

Herr d’Epinay gleicht Ihnen nicht, er nimmt, wie ich glaube, sein Unglück in Geduld hin.

 

Er tut noch etwas Besseres, er nimmt die Sache ernst, zieht weiße Halsbinden an und spricht bereits von seiner Familie. Übrigens hegt er eine große Achtung vor den Villeforts.

 

Nicht wahr, eine wohlverdiente? Ich glaube, Herr von Villefort galt immer für einen strengen, aber gerechten Mann.

 

Das lasse ich mir gefallen, sagte Monte Christo, es ist doch wenigstens einer, den Sie nicht wie den armen Herrn Danglars behandeln.

 

Dies kommt vielleicht daher, daß ich nicht genötigt bin, seine Tochter zu heiraten, entgegnete Albert lachend.

 

In der Tat, mein Herr, sagte Monte Christo, ich wundere mich über Sie.

 

Und warum?

 

Weil Sie sich gegen eine Heirat mit Fräulein Danglars sträuben. Mein Gort! lassen Sie die Dinge ihren Gang gehen, und Sie brauchen vielleicht gar nicht zuerst Ihr Wort zurückzunehmen.

 

Bah! rief Albert mit großen Augen.

 

Allerdings, mein lieber Vicomte, man wird Ihnen nicht mit Gewalt den Kopf zwischen Tür und Angel stecken! Sprechen Sie im Ernste, sagte Monte Christo, den Ton ändernd, haben Sie Lust zu brechen?

 

Ich gebe 100 000 Franken dafür.

 

Wohl, so seien Sie froh! Herr Danglars ist bereit, das Doppelte zu geben, um zu demselben Ziele zu gelingen.

 

Ist dieses Glück wahr? sagte Albert, der es indessen, während er so sprach, nicht verhindern konnte, daß eine unmerkliche Wolke über seine Stirn hinzog. Doch, mein lieber Herr Graf, Herr Danglars hat also Gründe?

 

Ah! hier kommt die stolze, selbstsüchtige Natur zu Tage. Gut, ich finde hier wieder den Menschen, der die Eitelkeit eines andern mit der Axt totschlagen will und schreit, wenn man die seinige mit einer Nadel ansticht.

 

Nein! doch es scheint mir, Herr Danglars …

 

Sollte von Ihnen entzückt sein, nicht wahr? Ei! Herr Danglars ist entschieden ein Mann von schlechtem Geschmacke und noch mehr entzückt von einem andern … Studieren Sie, schauen Sie, ergreifen Sie die Anspielungen im Fluge, und ziehen Sie Nutzen daraus!

 

Gut, ich begreife; hören Sie, meine Mutter … nein! nicht meine Mutter, mein Vater hat den Gedanken gehabt, einen Ball zu geben. – Einen Ball zu dieser Jahreszeit? – Die Bälle sind stets in der Mode. – Wären sie es nicht, so dürfte die Gräfin nur wollen, und sie würde sie in Mode bringen.

 

Nicht übel; Sie begreifen, es sind Vollblutbälle; die, welche im Monat Juli in Paris bleiben, sind wahre Pariser. Wollen Sie eine Einladung für die Herren Cavalcanti übernehmen? – Wann wird der Ball stattfinden? – Sonnabend. – Herr Cavalcanti Vater wird abgereist sein. – Doch Herr Cavalcanti Sohn bleibt; wollen Sie es übernehmen, Herrn Cavalcanti Sohn zu bringen? – Hören Sie, Vicomte, ich kenne ihn nicht. – Sie kennen ihn nicht? – Nein, ich habe ihn vor drei oder vier Tagen zum erstenmal gesehen und stehe in keiner Beziehung zu ihm. – Doch Sie empfangen ihn?

 

Ja, das ist etwas anderes; er ist mir durch einen braven Abbé empfohlen worden, den man getäuscht haben kann. Laden Sie ihn immerhin selbst ein, sagen Sie mir aber nicht, ich soll ihn bei Ihnen vorstellen. Sollte er später Fräulein Danglars heiraten, so könnten Sie mich eines Schleichwegs beschuldigen und Lust bekommen, sich auf Leben und Tod mit mir zu schlagen; überdies weiß ich nicht, ob ich selbst auf Ihren Ball kommen werde.

 

Warum werden Sie nicht kommen?

 

Einmal, weil ich noch nicht eingeladen bin.

 

Ich erscheine ausdrücklich hier, um Ihnen Ihre Einladung persönlich zu überbringen.

 

Oh! das ist entzückend; doch ich kann verhindert sein.

 

Wenn ich Ihnen eines gesagt habe, sind Sie liebenswürdig genug, um uns alle Hindernisse zum Opfer zu bringen.

 

Sprechen Sie! Meine Mutter bittet Sie.

 

Die Frau Gräfin von Morcerf? versetzte Monte Christo bebend. In der Tat, Sie überhäufen mich mit Artigkeiten!

 

Sehen Sie, diesen Vorzug hat man, wenn man ein lebendiges Problem ist! Sie kommen also Sonnabend?

 

Da mich Frau von Morcerf darum bittet.

 

Sie sind bezaubernd.

 

Und Herr Danglars?

 

Oh! er hat bereits eine dreifache Einladung erhalten; mein Vater übernahm dies. Wir werden auch bemüht sein, Herrn von Villefort heranzuziehen, doch es ist zweifelhaft, ob er zusagt. Tanzen Sie, Herr Graf?

 

Nein, ich tanze nicht, aber ich sehe gern tanzen. Tanzt Frau von Morcerf?

 

Niemals; Sie plaudert gern und hat große Lust, mit Ihnen zu plaudern.

 

Wirklich?

 

Bei meinem Ehrenwort! Ich erkläre Ihnen, Sie sind der erste Mann, für den meine Mutter Interesse zeigt.

 

Albert nahm seinen Hut und stand auf; der Graf führte ihn an die Tür.

 

Ich mache mir einen Vorwurf, sagte er, ihn oben an der Freitreppe zurückhaltend, ich war indiskret, ich hätte nicht von Herrn Danglars sprechen sollen.

 

Im Gegenteil, sprechen Sie abermals, sprechen Sie oft, sprechen Sie immer davon, doch immer auf die gleiche Weise.

 

Gut! Sie beruhigen mich, Sagen Sie mir, wann kommt Herr d’Epinay?

 

Spätestens in fünf bis sechs Tagen.

 

Und wann heiratet er?

 

Sobald Herr und Frau von Saint-Meran eingetroffen find.

 

Bringen Sie ihn zu mir, wenn er in Paris ist. Obgleich Sie behaupten, ich liebe ihn nicht, erkläre ich Ihnen doch, daß ich mich freuen werde, ihn wiederzusehen.

 

Ihre Befehle sollen vollzogen werden, Herr Graf. Auf Wiedersehen!

 

Der Graf grüßte Albert mit der Hand und folgte ihm mit den Augen. Als der Vicomte in seinen Phaeton gestiegen war, wandte sich Monte Christo um und fragte, da er Bertuccio hinter sich fand: Nun? – Sie ist in den Justizpalast gefahren. – Ist sie lange dort geblieben? – Anderthalb Stunden. – Und dann nach Hause zurückgekehrt? – Unmittelbar.

 

Wohl, mein lieber Herr Bertuccio, wenn ich Ihnen nun einen Rat geben soll, so sehen Sie in der Normandie nach, ob Sie nicht das kleine Landgut finden, von dem ich mit Ihnen sprach.

 

Herr Bertuccio verbeugte sich, und da seine Wünsche mit dem Befehle, den er erhalten, vollkommen im Einklang standen, so reiste er noch an demselben Abend ab.

 

Nachforschungen.

 

Nachforschungen.

 

Herr von Villefort hielt Frau Danglars und besonders sich selbst Wort, indem er zu erfahren suchte, wie der Graf von Monte Christo Kenntnis von der Geschichte des Hauses in Auteuil erlangt habe.

 

Er schrieb an demselben Tage an einen gewissen Herrn von Boville, der, nachdem er einst Inspektor der Gefängnisse gewesen war, jetzt eine höhere Stellung bei der Sicherheitspolizei einnahm, um von diesem die gewünschte Auskunft zu erhalten. Herr von Boville verlangte zwei Tage, um in Erfahrung zu bringen, bei wem man genaue Kunde einziehen könnte. Nach zwei Tagen erhielt Herr von Villefort folgende Note:

 

Die Person, die man den Grafen von Monte Christo nennt, ist besonders dem Lord Wilmore, einem reichen Fremden, bekannt, den man zuweilen in Paris sieht, und der sich in diesem Augenblick hier befindet? sie ist ebenfalls bekann! dem Abbé Busoni, einem sizilianischen Priester, der im Orient viele gute Werke verrichtet hat und dort einen großen Ruf genießt.

 

Herr von Villefort antwortete durch einen Befehl, über diese beiden Fremden auf das schleunigste und genaueste Erkundigungen einzuziehen; am andern Abend waren seine Befehle vollzogen, und er erhielt folgende Notizen:

 

Der Abbé, der nur auf einen Monat in Paris war, bewohnte hinter Saint-Sulpice ein kleines Haus, bestehend aus einem Stocke und einem Erdgeschoß; vier Zimmer, zwei oben, zwei unten, bildeten die ganze Wohnung, deren einziger Mieter er war.

 

Die zwei unteren Zimmer bestanden aus einem Speisesaal mit Tischen, Stühlen und Büfett von Nußbaumholz und einem Salon mit weiß angemaltem Getäfel, ohne Zieraten, ohne Teppiche und ohne Uhr. Man sah, daß sich der Abbé für seine Person auf das Notwendigste beschränkte. Der Abbé bewohnte vorzugsweise den Salon im ersten Stocke, der ganz mit theologischen Büchern und Pergamenten, unter denen man ihn, wie sein Kammerdiener sagte, sich Monate lang vergraben sah, ausgestattet war.

 

Sein Diener betrachtete die Besucher durch eine Art von Gitter, und wenn ihm ihr Gesicht unbekannt war oder mißfiel, so antwortete er, der Abbé sei nicht in Paris, womit sich viele begnügten, denn man wußte, daß er häufig reiste und zuweilen lange auf der Reise blieb. Mochte er übrigens zu Hause sein oder nicht, so gab der Abbé doch immer reichliche und ständige Almosen. Das andere Zimmer, das neben der Bibliothek lag, war ein Schlafzimmer. Ein Bett ohne Vorhänge, vier Lehnstühle und ein Sofa bildeten nebst einem Betpult seine ganze Ausstattung.

 

Lord Wilmore wohnte in der Rue Saint-George, Er gehörte zu den englischen Touristen, die ihr ganzes Vermögen auf der Reise verzehren. Er mietete eine möblierte Wohnung, in der er nur zwei bis drei Stunden des Tages zubrachte und sehr selten schlief. Er hatte unter andern die Manie, durchaus nicht französisch sprechen zu wollen, jedoch soll er ziemlich korrekt französisch geschrieben haben.

 

Am andern Tage, nachdem diese kostbare Auskunft bei dem Staatsanwalt eingetroffen war, klopfte ein Mensch, der an der Ecke der Rue Férou aus dem Wagen stieg, an eine olivengrün angemalte Tür, fragte nach dem Abbé Busoni und erhielt von einem Diener die Antwort, der Herr Abbé sei ausgegangen.

 

Ich kann mich mit dieser Antwort nicht begnügen, sagte der Besuch, denn ich komme im Auftrage einer Person, für die man immer zu Hause ist. Doch wollen Sie dem Herrn Abbé Busoni …

 

Ich habe Ihnen bereits gesagt, er sei nicht zu Hause, wiederholte der Diener.

 

So geben Sie ihm, wenn er zurückkehrt, diese Karte und dieses versiegelte Papier. Wird der Herr Abbé heute abend um acht Uhr zu Hause sein?

 

Ohne allen Zweifel, mein Herr.

 

Ich werde heute abend zur genannten Stunde wiederkommen, versetzte der Besuch und entfernte sich.

 

Zur bestimmten Stunde kam derselbe Mensch in demselben Wagen, der, statt an der Ecke der Rue Férou anzuhalten, diesmal vor der grünen Tür anhielt. Er klopfte, man öffnete ihm, und er trat ein.

 

Aus den Zeichen der Ehrfurcht, die ihm der Diener erwies, ersah er, daß der Brief die gewünschte Wirkung hervorgebracht hatte.

 

Ist der Herr Abbé zu Hause? fragte er.

 

Ja, er arbeitet in seiner Bibliothek; doch er erwartet den Herrn, sagte der Diener.

 

Der Fremde stieg eine ziemlich schlechte Treppe hinauf und erblickte an einem Tische, dessen Oberfläche mit der Helle übergossen war, die ein weiter Lichtschirm konzentrierte, während der Rest des Zimmers im Schatten lag, den Abbé in geistlicher Kleidung, den Kopf mit einer von jenen Kappen bedeckt, wie sie im Mittelalter die Gelehrten trugen. Habe ich die Ehre, mit Herrn Busoni zu sprechen? fragte der Fremde.

 

Ja, antwortete der Abbé, und Sie sind die Person, die Herr von Boville, der ehemalige Intendant der Gefängnisse, im Auftrage des Herrn Polizeipräfekten zu mir schickt? – Ganz richtig, mein Herr. – Einer von den Agenten, die für die Sicherheit von Paris zu sorgen haben? – Ja, mein Herr, antwortete der Fremde mit einem gewissen Zögern und etwas errötend.

 

Der Abbé richtete die große Brille zurecht, die nicht nur seine Augen, sondern auch, seine Schläfe bedeckte, setzte sich wieder und bedeutete dem Fremden durch ein Zeichen, er möge sich ebenfalls setzen.

 

Ich höre Sie, mein Herr, sagte der Abbé mit scharf italienischem Akzente.

 

Die Sendung, die ich übernommen habe, mein Herr, sagte der Besuch, jedes seiner Worte so langsam aussprechend, als hätten sie Mühe aus dem Munde zu gehen, gereicht sowohl dem zum Vertrauen, der sie vollzieht, wie dem, bei dem sie vollzogen wird.

 

Der Abbé verbeugte sich.

 

Ja, mein Herr, fuhr der Fremde fort, Ihre Redlichkeit ist dem Herrn Polizeipräfekten so wohl bekannt, daß er als Beamter von Ihnen eine Sache erfahren will, bei der die öffentliche Sicherheit beteiligt ist, in deren Namen ich bei Ihnen erscheine. Wir hoffen, Herr Abbé, daß weder Bande der Freundschaft, noch menschliche Rücksichten Sie veranlassen werden, der Justiz die Wahrheit zu verbergen.

 

Vorausgesetzt, daß die Dinge, die Sie zu erfahren wünschen, in keiner Beziehung die Bedenklichkeiten meines Gewissens berühren. Ich bin Priester, und die Geheimnisse der Beichte, zum Beispiel, müssen mir und der Gerechtigkeit Gottes und nicht mir und der menschlichen Gerechtigkeit vorbehalten bleiben. Oh, seien Sie unbesorgt, Herr Abbé, sagte der Fremde, jedenfalls werden wir Ihr Gewissen nicht belasten.

 

Bei diesen Worten drückte der Abbé auf seiner Seite auf den Lichtschirm nieder und hob ihn auf der andern Seite, so daß das Gesicht des Fremden völlig beleuchtet wurde, das seinige aber ganz im Schatten blieb.

 

Verzeihen Sie, Herr Abbé, sagte der Abgeordnete des Polizeipräfekten, dieses Licht ist höchst schmerzhaft für meine Augen.

 

Der Abbé drückte den grünen Pappendeckel nieder.

 

Sprechen Sie nun!

 

Ich komme zur Sache. Sie kennen ohne Zweifel den Grafen von Monte Christo?

 

Sie meinen Herrn Zaccone?

 

Zaccone … heißt er denn nicht Monte Christo?

 

Monte Christo ist der Name eines Gutes, oder vielmehr eines Felsens und kein Familienname.

 

Wohl, es mag sein; streiten wir nicht über Worte, und da Herr von Monte Christo und Herr Zaccone derselbe Mensch ist, so wollen wir von Herrn Zaccone sprechen; kennen Sie ihn? – Genau. – Wer ist er? – Er ist der Sohn eines reichen Reeders in Malta. – Ja, ich weiß, das sagt man; doch Sie begreifen, die Polizei kann sich nicht mit einem ›man sagt‹ begnügen!

 

Wenn aber, versetzte der Abbé mit sehr freundlichem Lächeln, dieses man sagt die Wahrheit ist, so muß sich die ganze Welt damit begnügen, und die Polizei ebenfalls.

 

Sind Sie dessen, was Sie sagen, gewiß?

 

Ob ich dessen gewiß bin!

 

Bemerken Sie wohl, mein Herr, ich, setze durchaus keinen Zweifel in Ihre Glaubwürdigkeit. Ich frage Sie: Sind Sie Ihrer Sache gewiß?

 

Hören Sie, ich habe Herrn Zaccone, den Vater, gekannt und habe mit dem Sohne, als er noch ein Kind war, wohl zehnmal auf den Werften gespielt.

 

Doch dieser Grafentitel? …

 

Sie wissen, so was läßt sich kaufen.

 

Doch diese Reichtümer, welche, wie man sagt, ungeheuer sind …

 

Oh! was das betrifft, erwiderte der Abbé, ungeheuer, das ist das richtige Wort.

 

Wieviel glauben Sie, daß er besitzt?

 

Oh! er hat gewiß 200 000 Franken Rente.

 

Ah! das läßt sich hören, versetzte der Fremde, aber man sprach von drei, von vier Millionen Rente!

 

Oh, das ist nicht glaublich!

 

Und Sie kennen seine Insel Monte Christo?

 

Gewiß: jeder, der von Palermo, von Neapel oder Rom nach Frankreich reist, kennt diese Felseninsel, weil er sie im Vorüberfahren sehen muß.

 

Und warum hat der Graf diese Felsen gekauft?

 

Gerade, um Graf zu sein. Um in Italien Graf zu werden, bedarf man auch einer Grafschaft.

 

Sie haben ohne Zweifel von den Jugendabenteuern des Herrn Zaccone sprechen hören?

 

Ah! hier fängt die Ungewißheit bei mir an, denn hier habe ich meinen Kameraden aus dem Gesichte verloren.

 

Sie sind nicht sein Beichtvater?

 

Nein, mein Herr? ich glaube, er ist Lutheraner.

 

Wie? Lutheraner?

 

Ich sage, ich glaube; ich weiß es nicht genau. Übrigens war ich der Ansicht, in Frankreich bestehe Freiheit des Kultus.

 

Allerdings, auch beschäftigen wir uns in diesem Augenblick nicht mit seinem Glauben, sondern mit seinen Handlungen; im Namen des Herrn Polizeipräfekten fordere ich Sie auf, zu sagen, was Sie davon wissen.

 

Er gilt für einen sehr wohltätigen und menschenfreundlichen Mann. Unser heiliger Vater, der Papst, hat ihn, eine Gunst, die er kaum Fürsten bewilligt, zum Ritter des Christusordens für die großen Dienste ernannt, die er den Christen im Orient geleistet; er hat so fünf bis sechs Großkreuze für Dienste erhalten, die von ihm den Fürsten oder den Staaten erwiesen worden sind.

 

Und er trägt sie? – Nein, doch er ist stolz darauf; er sagt, er liebe mehr die den Wohltätern der Menschheit geltenden Belohnungen, als die, welche man den Zerstörern der Menschen zubilligt. – Weiß man, daß er Freunde hat? – Ja, denn es sind alle die seine Freunde, die ihn kennen. – Doch hat er gar keinen Feind? – Einen einzigen. – Wie heißt er? – Lord Wilmore. – Wo ist er? Kann er mir Auskunft geben? – Kostbare. Er war zu gleicher Zeit mit Zaccone in Indien und wohnt, glaube ich, jetzt irgendwo in der Chaussée d’Antin.

 

Sie stehen schlecht mit diesem Engländer?

 

Ich liebe Zaccone, und er haßt ihn; unser Verhältnis ist darum nicht das beste.

 

Mein Herr Abbé, glauben Sie, der Graf von Monte Christo sei je in Frankreich gewesen, vor der Reise, die er jetzt nach Paris gemacht hat?

 

Nein, mein Herr, er ist nie hier gewesen, denn er hat sich vor sechs Monaten an mich gewendet, um die erforderliche Auskunft zu erhalten. Da ich meinerseits nicht wußte, wann ich in Paris sein würde, so wies ich ihn an Herrn Bartolomeo Cavalcanti.

 

Sehr gut, mein Herr; ich habe Sie nur noch eines zu fragen und fordere Sie im Namen der Menschheit, der Ehre und der Religion auf, mir ohne Umschweife zu antworten.

 

Sprechen Sie, mein Herr!

 

Wissen Sie, in welcher Absicht Herr von Monte Christo ein Haus in Auteuil kaufte?

 

Gewiß, denn er hat es mir gesagt. Um daraus ein Hospiz für Geisteskranke nach Art dessen zu machen, das der Baron von Pisari in Palermo gegründet hat.

 

Kennen Sie dieses Hospiz?

 

Ich habe davon gehört; es soll eine herrliche Anstalt sein. Hierauf grüßte der Abbé den Fremden, wie ein Mensch, der zu verstehen geben will, es sei ihm nicht unangenehm, eine unterbrochene Arbeit wiederaufnehmen zu können.

 

Begriff der Besuch das Verlangen des Abbés, oder war er mit seinen Fragen zu Ende … er stand ebenfalls auf. Der Abbé begleitete ihn bis zur Tür, und der Fremde entfernte sich.

 

Der Wagen führte ihn geradeswegs zu Herrn von Villefort.

 

Eine Stunde nachher kam der Wagen abermals heraus, und diesmal wandte er sich nach der Rue Fontaine-Saint-George, bei Nr. 5 hielt er an. Hier wohnte Lord Wilmore. Der Fremde hatte Lord Wilmore schriftlich um eine Zusammenkunft gebeten, die dieser auf zehn Uhr bestimmte. Als der Abgesandte des Polizeipräfekten zehn Minuten vor zehn Uhr ankam, antwortete man ihm, Lord Wilmore, die Pünktlichkeit und Genauigkeit in Person, sei noch nicht zurückgekehrt, aber er werde sicher Punkt zehn Uhr erscheinen.

 

Der Besuch wartete im Salon. Dieser Salon hatte nichts Merkwürdiges und war wie alle Salons in einem Hotel garni. Ein Kamin mit zwei schönen Porzellanvasen, eine Pendeluhr mit einem Amor, der seinen Bogen spannt; ein Spiegel, auf jeder Seite dieses Spiegels ein Kupferstich, eine Tapete in Grau: das war der Salon des Lord Wilmore.

 

Er wurde durch Kugeln von geschliffenem Glase beleuchtet, die nur ein mattes Licht verbreiteten, das ausdrücklich für die schwachen Augen des Abgeordneten des Herrn Polizeipräfekten berechnet zu sein schien.

 

Nachdem dieser zehn Minuten gewartet hatte, schlug es zehn Uhr; beim fünften Schlage öffneten sich die Türen, und Lord Wilmore erschien.

 

 

Lord Wilmore war ein Mann, mehr groß als klein, mit dünnem, rotem Backenbarte, weißer Gesichtsfarbe und blonden, gräulich werdenden Haaren. Er war auf echt englisch-bizarre Weise gekleidet, das heißt, er trug einen blauen Frack mit goldenen Knöpfen und einem hohen, gesteppten Kragen, wie sie 1811 Mode waren, eine weiße Weste und Hosen von Nankin, die drei Zoll zu kurz waren, aber durch Stege von demselben Stoffe verhindert wurden, bis an die Knie zurückzuweichen. Sein erstes Wort beim Eintritt war: Sie wissen mein Herr, daß ich nicht Französisch spreche?

 

Ich weiß wenigstens, daß Sie es nicht gern sprechen, antwortete der Bote des Herrn Polizeipräfekten.

 

Doch Sie können es sprechen, versetzte Lord Wilmore, denn wenn ich es auch nicht spreche, so verstehe ich es doch.

 

Und ich, sagte der Besuch, das Idiom wechselnd, spreche leicht genug Englisch, um eine Unterredung in dieser Sprache führen zu können. Tun Sie sich also keinen Zwang an, mein Herr.

 

Oh! rief Lord Wilmore mit jenem Tone, der nur den reinsten Eingeborenen Großbritanniens angehört.

 

Der Abgeordnete des Polizeipräfekten übergab Lord Wilmore sein Beglaubigungsschreiben. Dieser las es mit englischem Phlegma … Als er damit zu Ende war, sagte er englisch: Ich begreife, ich begreife sehr gut.

 

Nun begannen die Fragen.

 

Es waren ungefähr dieselben, die man dem Abbé Busoni vorgelegt hatte. Da jedoch Lord Wilmore als Feind des Grafen von Monte Christo nicht mit derselben Zurückhaltung antwortete, wie der Abbé Busoni, so wurden sie vervielfacht. Er erzählte von der Jugend Monte Christos, der, seiner Behauptung nach, in einem Alter von zehn Jahren in den Dienst eines der kleinen indischen Fürsten getreten war, die mit England beständig im Streite liegen; hier traf ihn Wilmore seiner Aussage nach zum ersten Male, und sie kämpften gegeneinander. Und in eben diesem Kriege wurde Zaccone zum Gefangenen gemacht, nach England geschickt und auf die Pontons gebracht, von wo er schwimmend entfloh. Hierauf folgten seine Reisen, seine Zweikämpfe, seine Leidenschaften; es kam der Aufstand in Griechenland, und er diente in den Reihen der Hellenen. Während er in ihren Diensten war, entdeckte er eine Silbermine in den Gebirgen Thessaliens; doch er hütete sich, mit irgend jemand davon zu sprechen. Nach der Schlacht bei Navarin, und nachdem sich die griechische Regierung befestigt hatte, verlangte er von König Otto ein Privilegium zur Ausbeutung dieser Miene, das ihm bewilligt wurde. Daher rührte sein Vermögen, das sich nach der Ansicht Lord Wilmores auf eine bis zwei Millionen Einkünfte belaufen mochte, ein Vermögen, das nichtsdestoweniger versiegen konnte, wenn sein Bergwerk versiegte.

 

Doch wissen Sie, warum er nach Frankreich gekommen ist?

 

Er will in Eisenbahnen spekulieren, sagte Lord Wilmore; und als geschickter Chemiker und nicht minder ausgezeichneter Physiker hat er einen Telegraphen erfunden, dessen praktische Ausbeutung er im Auge hat.

 

Wieviel gibt er ungefähr jährlich aus? fragte der Abgeordnete des Polizeipräfekten.

 

Oh! höchstens 5 bis 600 000 Franken, er ist geizig. Offenbar ließ der Haß den Engländer so sprechen; er wußte nicht, was er dem Grafen zum Vorwurf machen sollte, und warf ihm Geiz vor.

 

Wissen Sie etwas von seinem Hause in Auteuil?

 

Sie fragen, warum er es gekauft hat? – Ja.

 

Der Graf ist ein Spekulant, der sich in Versuchen und Utopien zu Grunde richten wird. Er behauptet, es gebe in Auteuil, in der Gegend des von ihm erkauften Hauses, eine Mineralquelle, die den ersten französischen Wassern gleich komme. Er will aus seiner Erwerbung ein Badehaus machen. Bereits hat er zwei bis dreimal seinen ganzen Garten umgewühlt, und weil er die berühmte Quelle nicht finden konnte, so werden Sie sehen, daß er binnen kurzem alle Häuser kauft, die an das seinige grenzen. Da ich ihm grolle und hoffe, daß er sich mit seiner Eisenbahn, mit seinem elektrischen Telegraphen oder seiner Bäderspekulation zu Grunde richten wird, so folge ich ihm, um mich an seiner Niederlage zu weiden, die früher oder später eintreten muß.

 

Und warum grollen Sie ihm? fragte der Besuch.

 

Ich grolle ihm, antwortete Lord Wilmore, weil er bei einem Aufenthalte in England die Frau eines meiner Freunde verführt hat.

 

Doch wenn Sie feindselig gegen ihn gesinnt sind, warum suchen Sie sich nicht an ihm zu rächen?

 

Ich habe mich bereits dreimal mit ihm geschlagen, das erste Mal auf Pistolen, das zweite Mal mit dem Degen, das dritte Mal auf Säbel.

 

Und was war der Erfolg dieser Duelle?

 

Das erste Mal zerschmetterte er mir den Arm, das zweite Mal durchstieß er mir die Lunge, und das dritte Mal brachte er mir diese Wunde bei. Der Engländer schlug einen Hemdkragen zurück, der ihm bis an die Ohren ging, und zeigte eine anscheinend ziemlich frische Narbe.

 

Deshalb bin ich sein Feind, wiederholte der Engländer, und er wird sicherlich nur von meiner Hand sterben.

 

Doch es scheint mir, Sie schlagen nicht den rechten Weg ein, um ihn zu töten, bemerkte der Fremde.

 

Ao! rief der Engländer, ich gehe jeden Tag zum Schießen, und Grisier kommt alle zwei Tage zu mir.

 

Das war alles, was der Fremde wissen wollte, oder es war vielmehr alles, was der Engländer zu wissen schien. Der Agent stand auf und entfernte sich, nachdem er Lord Wilmore gegrüßt hatte, der ihm mit englischer Steifheit und Höflichkeit vergalt.

 

Als Lord Wilmore hörte, daß sich die Tür nach der Straße wieder hinter dem Fremden schloß, kehrte er in sein Schlafzimmer zurück, wo er in einer Sekunde seine blonden Haare, seinen roten Backenbart, seine falsche Kinnlade und seine Narbe verlor, um die schwarzen Haare und die matte Gesichtsfarbe des Grafen von Monte Christo wieder anzunehmen.

 

Allerdings war es Herr von Villefort und kein Bote des Polizeipräfekten, der in die Wohnung des Staatsanwaltes zurückkehrte. Dieser fühlte sich durch diesen doppelten Besuch, der ihm wenigstens nichts Beunruhigendes eröffnet hatte, ein wenig beschwichtigt. Die Folge davon war, daß er zum erstenmal seit dem Fest in Auteuil in der nächsten Nacht sich eines friedlichen Schlafes erfreute.

 

Der Schatz.

 

Der Schatz.

Die Sonne hatte ungefähr ein Drittel ihres Tageslaufes zurückgelegt, und ihre Strahlen fielen warm und belebend auf die Felsen. Tausende von Grillen ließen im Heidekraut ihr eintöniges, unablässiges Zirpen vernehmen, und in der Ferne sah man auf den Felsen wilde Ziegen springen, die zuweilen einen Jäger auf die Insel locken; mit einem Worte, das Eiland war voll Leben. Dennoch fühlte sich Edmond allein in Gottes Hand, und es erfaßte ihn etwas wie Furcht. Dieses Gefühl war so stark, daß er, als er zur Arbeit schreiten wollte, innehielt, seine Hacke niederlegte, die Flinte wieder aufnahm, zum letztenmal den höchsten Felsen der Insel erstieg und einen weiten Blick über seine Umgebung warf. Alles, was er sah, beruhigte ihn; die Brigantine, die bei Tagesanbruch die Anker gelichtet hatte, war am Horizont verschwunden, die Tartane fuhr in entgegengesetzter Richtung an Korsika hin. Er faßte nun seine nähere Umgebung ins Auge. Kein Mensch war auf der Insel sichtbar, keine Barke an ihrem Gestade, nichts als das azurblaue Meer, das den Strand peitschte. Dann stieg er mit raschen Schritten, aber vorsichtig hinab; er hütete sich ängstlich vor einem Unfall, wie er ihn so geschickt und erfolgreich seinen Gefährten vorgetäuscht hatte.

 

Dantes war, wie gesagt, den Spuren der in den Felsen gehauenen Zeichen rückwärts gefolgt und hatte gesehen, daß sie zu einer kleinen, verborgenen Bucht führten, die tief genug war, daß ein kleines Fahrzeug darin ankern konnte. Er sagte sich, der Kardinal Spada sei, in der Absicht, nicht bemerkt zu werden, in dieser Bucht gelandet, habe sein kleines Fahrzeug darin versteckt, die gezeichnete Linie verfolgt und an ihrem Ende seinen Schatz vergraben. In dieser Annahme war Dantes wieder zu dem runden Felsen gelangt. Nur eins beunruhigte ihn und machte ihn wankend in seiner Vermutung. Wie hatte man ohne gewaltige Kraftanstrengung diesen Felsen, der etwa fünfzig Zentner schwer war, auf die Stelle hinaufbringen können, auf der er jetzt ruhte?

 

Plötzlich kam Dantes ein Gedanke. Konnte man den Felsen nicht auch von oben heruntergebracht haben? Und er eilte hinaus, um die Stelle des ersten Standortes zu suchen. Er erkannte in der Tat bald, daß der Fels herabgeglitten war und an der Stelle Halt gemacht hatte, wo ihm ein anderer Fels als Untersatz diente. Steine und Kiesel waren sorgfältig wieder so gelegt worden, daß man die vorgenommene Änderung nicht merkte. Pflanzenerde war darauf gedeckt worden. Gras war gewachsen, und Moos hatte sich ausgebreitet. Dantes nahm vorsichtig die Erde weg und erkannte, wie sinnreich die Sache angelegt war. Dann fing er an, mit der Hacke die im Laufe der Zeit dicht gewordene Zwischenmauer anzugreifen.

 

Nach einer Arbeit von zehn Minuten gab die Mauer nach, und es entstand ein Loch, durch das man den Arm schieben konnte. Dantes fällte nun einen starken Olivenbaum, steckte ihn in das Loch und machte so einen Hebel daraus; aber der Fels war zu schwer und zu fest durch den unteren Felsen unterlegt, als daß eine menschliche Kraft ihn hätte erschüttern können. Da wurde ihm klar, daß er diese Unterlage selbst angreifen müsse, aber durch welches Mittel? Er schaute spähend umher, und sein Blick fiel auf sein Pulverhorn, das ihm sein Freund Jacopo zurückgelassen hatte; er lächelte: des Pulvers Kraft sollte das Werk verrichten.

 

Mit Hilfe seiner Hacke grub Dantes zwischen dem oberen und unteren Felsen einen Minengang, dann stopfte er ihn mit Pulver voll, fädelte sein Taschentuch aus, rollte es in Salpeter und machte eine Lunte daraus. Sobald die Lunte brannte, entfernte er sich. Die Explosion ließ nicht auf sich warten; der obere Fels wurde einen Augenblick durch die gewaltige Kraft aufgehoben, der untere zersprang in Stücke.

 

Dantes näherte sich. Nunmehr ohne Stütze, neigte sich der obere Fels gegen den Abgrund. Der unermüdliche Sucher ging um ihn herum, wählte eine von den schwankendsten Stellen, stützte seinen Hebel an eine der Ecken und stemmte sich mit ganzer Kraft gegen den Felsen. Schon wankte dieser, und als Dantes seine Anstrengung verdoppelte, gab er endlich nach, rollte, stürzte nieder und verschwand, im Meer versinkend. Er ließ einen kreisförmigen Platz entblößt und brachte einen eisernen Ring an den Tag, der mitten in eine Platte von viereckiger Form gelötet war.

 

Dantes stieß bei diesem glänzenden Erfolge einen Schrei der Freude und des Erstaunens aus. Dann steckte er seinen Hebel in den Ring und hob ihn kräftig empor. Die Platte öffnete sich, und eine Art von Treppe wurde sichtbar, die sich im Schatten einer immer dunkler werdenden Grotte verlor.

 

Dantes blieb eine Minute unbeweglich. Dann aber stieg er hinab, ein Lächeln auf den Lippen, und murmelte das letzte Wort der menschlichen Weisheit: Vielleicht …

 

Aber statt der Finsternis, die er zu finden erwartet hatte, statt einer undurchsichtigen, schlechten Atmosphäre, sah er nur einen Schimmer sanften, bläulichen Tageslichtes. Luft und Licht drangen nicht nur durch die Öffnung, die er gemacht hatte, sondern auch durch Felsspalten des oberen Bodens, durch die man das Azur des Himmels erblickte, auf dem die zitternden Zweige der grünen Eichen und die dornigen Brombeerstauden spielten. Nach einem Aufenthalte von ein paar Sekunden, vermochte sein an die Finsternis gewöhnter Blick die entferntesten Winkel der aus glitzerndem Granit bestehenden Höhle zu erforschen. Dantes erinnerte sich des Testaments, das er auswendig wußte: In der entferntesten Ecke der zweiten Öffnung.

 

Er war aber nur in die erste Grotte gedrungen und mußte nun den Eingang in die zweite suchen. Diese mußte natürlich in das Innere der Insel verlaufen. Er untersuchte die Steinlagen und schlug an eine Wand, von der er bestimmt glaubte, daß sich hinter ihr die zweite Höhle befinde. Die Hacke entlockte dem Felsen einen matten Ton. Endlich kam es dem beharrlichen Gräber vor, als ob ein Teil der Granitmauer ein dumpferes, tieferes Echo gebe. Er näherte seinen glühenden Blick der Wand und erkannte mit den scharfen Augen des Gefangenen, daß hier eine Öffnung sein mußte. Um sich jedoch keine unnötige Arbeit zu machen, untersuchte er auch die anderen Wände mit seiner Hacke, prüfte den Boden mit dem Schafte seiner Flinte, durchwühlte den Sand an verdächtigen Stellen und kehrte, als er nichts fand, nichts erkannte, zu dem Teile der Wand zurück, der den tröstlichen Ton von sich gab. Hier mußte er wühlen und ging kräftig an die Arbeit. Nach einigen Schlägen bemerkte er, daß die Steine nicht festgemauert, sondern nur übereinander gelegt und mit einem Anwurf bedeckt waren. Edmond steckte das Eisen der Hacke in eine Spalte, drückte auf den Stiel und sah zu seiner großen Freude den Stein wie auf Angeln rollen und zu seinen Füßen fallen. Nun hatte er nur noch jeden Stein mit dem eisernen Zahn der Hacke an sich zu ziehen, und einer nach dem andern rollte zu dem ersten.

 

Die zweite Grotte war niedriger, düsterer und sah furchtbarer aus als die erste. Die Luft, die nur durch die soeben gemachte Öffnung eindrang, erfüllte schwefliger Geruch, den Dantes zu seinem Erstaunen in der ersten nicht gefunden hatte. Er ließ der äußeren Luft Zeit, diese tote Atmosphäre wieder zu beleben, und trat dann ein. Links von der Öffnung war eine tiefe, finstere Ecke, die jedoch für Dantes‘ scharfe Augen nicht undurchdringlich war. Er untersuchte die zweite Grotte, aber auch sie war leer wie die erste. Der Schatz mußte also, wenn überhaupt vorhanden, in der düstern Ecke vergraben sein.

 

Nun ergriff ihn aber die Angst der Bangigkeit; er hatte nur noch zwei Fuß Erde zu durchwühlen, und der Erfolg mußte ihm entweder die höchste Freude oder die höchste Verzweiflung bereiten. Unverzüglich griff er zur Hacke und schlug auf den Boden. Beim fünften oder sechsten Hiebe erklang Eisen. Daneben fand er denselben Widerstand, aber nicht denselben Ton. Es ist eine hölzerne Kiste mit eisernen Reifen, sagte er.

 

In diesem Augenblick zog ein rascher Schatten vorüber. Dantes ließ seine Hacke fallen, ergriff seine Flinte, schlüpfte durch die Öffnung und stürzte hinaus. Eine wilde Ziege war beim Eingang zur ersten Grotte vorüber gesprungen und weidete einige Schritte davon. Dantes schnitt einen harzigen Baum ab, entzündete ihn an dem noch rauchenden Feuer, an dem die Schmuggler ihr Frühstück bereitet hatten, und kehrte mit dieser Fackel zurück. Er näherte die Fackel der Ecke und erkannte, daß er sich nicht getäuscht hatte. Seine Streiche hatten abwechselnd das Eisen und das Holz getroffen. Er steckte nun seine Fackel in die Erde und ging wieder ans Werk. In einem Augenblicke war eine drei Fuß lange und etwa zwei Fuß breite Stelle frei, und Dantes vermochte eine Kiste zu erkennen, die mit Reifen von ziseliertem Eisen umlegt war. In der Mitte des Deckels glänzte auf silberner Platte das Wappen der Familie Spada, ein pfahlartig auf ovalem Wappenschild ruhendes Schwert und darüber ein Kardinalshut.

 

Im Augenblick war die ganze Umgebung der Kiste abgeräumt, und Dantes sah nach und nach das mittlere Schloß, das zwischen zwei Vorlegschlössern angebracht war, und die beiden Griffe an der Seite erscheinen. Er faßte die Kiste an den Griffen und suchte sie aufzuheben; es war unmöglich. Er wollte sie öffnen, aber die Schlösser waren geschlossen und schienen als getreue Wächter ihren Schatz nicht herausgeben zu wollen. Er schob die schneidende Seite seiner Hacke zwischen die Kiste und den Deckel, drückte auf den Stiel, und der Deckel krachte und zersprang.

 

 

Ein schwindelartiges Fieber ergriff Dantes, er nahm seine Flinte und stellte sie mit gespanntem Hahn neben sich. Anfangs schloß er die Augen, wie es Kinder tun, um in der funkelnden Nacht ihrer Einbildungskraft mehr Sterne zu sehen, als sie am gestirnten Himmel zählen können, dann öffnete er sie wieder und blieb geblendet.

 

Drei Abteilungen enthielt die Kiste; in der ersten glänzten die Goldtaler mit ihren rötlichgelben Reflexen, in der zweiten befanden sich in guter Ordnung aufgereihte, aber schlecht geglättete Goldstangen, aus der dritten endlich, die halb voll war, zog Dantes handvollweise Diamanten, Perlen, Rubine heraus. Nachdem er berührt, betastet, seine bebenden Hände in Gold und Edelsteinen gebadet hatte, erhob er sich wieder und lief durch die Höhlen, vor Erregung zitternd, wie ein Mensch, der dem Wahnsinne nahe ist. Er sprang auf einen Felsen, von wo er das Meer überschauen konnte, und sah nichts; er war allein, ganz allein mit diesen unberechenbaren, unerhörten, fabelhaften Reichtümern, die ihm gehörten. Er war ungewiß, ob er wache oder träume. War es ein flüchtiger Traum, oder umfaßte er die Wirklichkeit?

 

Er mußte sein Gold wiedersehen, und dennoch fühlte er, daß er in dieser Minute nicht die Kraft hatte, seinen Anblick zu ertragen. Er drückte einen Augenblick beide Hände an den Kopf, als wollte er die Vernunft nicht entfliehen lassen; dann stürzte er durch die Insel, ohne einer bestimmten Richtung zu folgen, scheuchte die wilden Ziegen auf und erschreckte die Seevögel durch sein Geschrei und seine heftigen Gebärden. Endlich kehrte er noch zweifelnd auf einem Umwege zurück, eilte von der ersten Grotte in die zweite und befand sich wieder im Angesichte der ungeheuren Gold- und Diamantenmine. Diesmal fiel er auf die Knie, preßte seine Hände krampfhaft an sein springendes Herz und murmelte ein für Gott allein verständliches Gebet. Bald fühlte er sich ruhiger und folglich auch glücklicher, denn jetzt erst fing er an, an sein Glück zu glauben.

 

Er begann, sein Vermögen zu zählen; er fand tausend Goldstangen, jede von zwei bis drei Pfund; dann häufte er fünfundzwanzigtausend Goldtaler auf, je im Werte von etwa achtzig Franken und alle mit dem Bildnis Papst Alexanders VI. und seiner Vorgänger, und er bemerkte, daß das Fach nur halb leer war; endlich maß er zweimal die Weite seiner beiden Hände in Perlen, in Edelsteinen, in Diamanten, von denen viele, von den besten Goldschmieden ihrer Zeit gefaßt, abgesehen von ihrem Preise an sich, einen besonderen Wert durch die Arbeit besaßen.

 

Dantes sah den Tag sich neigen und allmählich erlöschen. Er befürchtete, überrascht zu werden, wenn er in der Höhle bliebe, und ging, seine Flinte in der Hand, hinaus. Ein Stück Zwieback und einige Schluck Wein waren sein Abendbrot. Dann setzte er den Stein wieder an seine Stelle, legte sich darauf und schlief, mit seinem Leibe den Eingang der Höhle bedeckend, nur wenige Stunden.

 

Römische Banditen.

 

Römische Banditen.

 

Am nächsten Tage nach ihrer Ankunft beabsichtigten die beiden Freunde noch nach dem Abendessen bei Mondschein eine Spazierfahrt vor die Tore der ewigen Stadt zu machen. Aber der Wirt Pastrini, der einen Wagen besorgen sollte, machte alle möglichen Ausflüchte und riet ernstlich von einer so gefährlichen, nächtlichen Partie ab. Als die neugierig gemachten Freunde energisch nach dem wahren Grunde seines ängstlichen Zögerns fragten, erklärte er endlich, daß die Kampagna gerade in letzter Zeit der Schauplatz häufiger Raubanfälle gewesen sei, und daß der bekannte Räuberhauptmann Luigi Vampa mit seinen gefährlichen Banditen die ganze Umgegend unsicher mache.

 

Die ungläubigen Zuhörer baten ihren Wirt um ausführlichere Auskunft über den berüchtigten Räuber, worauf Pastrini anfing:

 

Luigi Vampa war ein einfacher Hirtenknabe auf dem Gute des Grafen San Felice, das zwischen Palestrina und dem Gabri-See liegt. In Pampinara geboren, trat er in einem Alter von fünf Jahren in den Dienst des Grafen. Sein Vater, selbst ein Hirte, hatte eine eigene kleine Herde und lebte von der Wolle seiner Hammel und der Einnahme aus der Milch seiner Schafe, die er in Rom verkaufte. Luigi war gelehrig, und ein hervorragender Nachahmungstrieb befähigte ihn, alles rasch aufzufassen; so lernte er spielend lesen und schreiben, zeichnen und hübsche Holzschnitzereien anfertigen.

 

Ein Mädchen, etwas jünger als Vampa, hütete ebenfalls seine Schafe in der Nähe von Palestrina; die Kleine war Waise, in Valmontone geboren und hieß Teresa. Die Kinder trafen sich, setzten sich nebeneinander, ließen ihre Herden zusammen weiden, plauderten, lachten und spielten; am Abend trennte man die Schafe des Grafen San Felice von denen des Barons von Cervetri, und die Kinder kehrten nach Hause zurück mit dem gegenseitigen Versprechen, sich am nächsten Morgen wieder aufzusuchen. Bei diesem Leben wurde der Knabe zwölf, das Mädchen elf Jahre alt.

 

Inzwischen entwickelten sich ihre natürlichen Gaben. Bei seinen künstlerischen Neigungen, seinem feinen Geschmack für die Kunst zeigte sich Luigi eigensinnig, leidenschaftlich, unberechenbar und stets höhnisch. Kein Knabe aus Pampinara, Palestrina oder Valmontone vermochte je einen Einfluß auf ihn zu gewinnen oder sein Kamerad zu werden. Denn immer herrisch stieß er mit seinem eigenwilligen Temperament jede freundschaftliche Regung zurück. Teresa allein beherrschte mit einem Worte, mit einem Blick diesen festen Charakter, der sich unter eine weibliche Hand schmiegte, aber unter dem Einfluß eines Mannes bis zum Brechen starr geworden wäre. Teresa ihrerseits war lebhaft, munter, heiter, aber im Übermaß gefallsüchtig; die zwei Piaster, die Luigi als Monatslohn erhielt, gingen für allerlei Schmuck- und Putzgegenstände auf. Die Kinder wuchsen heran, brachten alle Tage miteinander zu und überließen sich ohne Widerstand dem Zuge und der Phantasie ihrer unverdorbenen Natur; so sah sich Vampa in seinen Gesprächen und Träumen stets als Schiffskapitän, als General eines Heeres, als Gouverneur einer Provinz; Teresa wähnte sich reich, in den schönsten Kleidern und von Bedienten umgeben.

 

Eines Tages sagte der junge Hirt dem Intendanten des Grafen, er habe einen Wolf aus dem Sabinergebirge hervorkommen und um seine Herde schweifen sehen. Der Intendant gab ihm eine Flinte; damit hatte sich Luigis langgehegter Wunsch verwirklicht. Von diesem Augenblick an widmete er jede freie Zeit den Übungen im Gebrauch seiner Flinte; er kaufte Pulver und Blei, und nichts war vor seiner Kugel sicher. Bald war er so geschickt, daß Teresa mit Vergnügen zusah, wie ihr Gefährte jedes Ziel unfehlbar traf. Eines Tages kam in der Nähe der jungen Leute ein Wolf aus einem Fichtenwalde hervor, den Luigis Kugel nach kaum zehn Schritten tot niederstreckte. Stolz auf den ersten Erfolg, lud Vampa den Wolf auf seine Schultern und trug ihn nach Hause. Dies alles verschaffte ihm einen gewissen Ruf in der Gegend, der junge Hirte galt als der geschickteste, stärkste, mutigste Bursche weit und breit in der Runde, und obgleich Teresa eines der hübschesten Mädchen des Sabinerlandes war, wagte doch niemand, ihr ein Wort von Liebe zu sagen, denn man wußte, daß sie von Vampa geliebt wurde.

 

Als Teresa sechzehn, Vampa siebzehn Jahre alt waren, fing man an, viel von einer Räuberbande zu sprechen, die sich in den Lepinerbergen bildete. Die Räuberei ist in der Nähe der ewigen Stadt nie ernstlich ausgerottet worden. Es fehlt oft an Anführern, aber wenn sich ein Anführer zeigt, fehlt es selten an einer Bande. In den Abruzzen umstellt, aus dem Königreiche Neapel, wo er geradezu einen Feldzug geführt hatte, vertrieben, durchzog Cucumetto das Garigliano, eine neue Bande bildend. Mehrere junge Leute von Palestrina, Frascati und Pampinara verschwanden, und bald erfuhr man, daß sie sich an Cucumettos Bande angeschlossen hatten. Nach einiger Zeit wurde Cucumetto der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. Man erzählte sich von diesem Banditenanführer Züge von außerordentlicher Kühnheit und von empörender Roheit.

 

Eines Tages raubte er ein junges Mädchen, die Tochter des Feldmessers von Frosinone. Nach dem Brauch der Banditen gehört ein junges Mädchen zuerst dem, der es raubt, dann ziehen die anderen das Los, und die Unglückliche dient der ganzen Bande zum Vergnügen, bis sie verlassen wird oder stirbt. Sind die Eltern reich genug, um sie loszukaufen, so schickt man einen Boten ab, der um das Lösegeld unterhandelt; der Kopf der Gefangenen haftet für die Sicherheit des Abgesandten. Wird das Lösegeld verweigert, so ist die Gefangene unwiderruflich verurteilt. Das Mädchen hatte seinen Liebhaber in Cucumettos Bande, er hieß Carlini. Als die Unglückliche den jungen Mann erkannte, streckte sie die Hände nach ihm aus; doch dem armen Carlini brach das Herz bei ihrem Anblick, denn er wußte, welches Los ihrer harrte.

 

Da er indessen Cucumettos Liebling war, mit dem er seit drei Jahren alle Gefahren geteilt, und dem er das Leben gerettet hatte, hoffte er, Cucumetto würde Mitleid haben. Er bat daher den Hauptmann, zu seinen Gunsten eine Ausnahme zu machen und Rita zu schonen, wobei er ihm bemerkte, der Vater sei reich und würde ein gutes Lösegeld bezahlen. Cucumetto schien auch wirklich den Bitten seines Freundes nachzugeben. Da trat Carlini freudig zu seiner Geliebten, sagte ihr, sie sei gerettet, und forderte sie auf, ihrem Vater einen Brief zu schreiben und ihm zu sagen, das Lösegeld sei auf dreihundert Piaster festgesetzt. Man gab dem Vater eine Frist bis zum andern Morgen um neun Uhr.

 

 

Sobald der Brief geschrieben war, lief Carlini fort, um einen Boten zu suchen. Er fand einen jungen Hirten, der sich sogleich mit dem Versprechen entfernte, in einer Stunde in Frosinone zu sein. Carlini kam ganz heiter zurück, um wieder mit seiner Geliebten zusammenzutreffen und ihr die frohe Kunde mitzuteilen. Er fand die Bande auf einer Lichtung, wo sie lustig die Mundvorräte verzehrte, welche die Banditen wie einen Tribut von den Bauern erhoben; doch vergebens suchte er unter den fröhlichen Gästen Cucumetto und Rita. Er fragte, wo sie wären; die Banditen antworteten mit einem schallenden Gelächter. Ein kalter Schweiß lief Carlini über die Stirn, und er fühlte, wie ihn die Angst bei den Haaren faßte. Er wiederholte seine Frage. Einer von den Genossen füllte ein Glas mit Orvieto-Wein, reichte es ihm und sagte: Auf die Gesundheit des braven Cucumetto und der schönen Rita!

 

In diesem Augenblick glaubte Carlini den Schrei einer Frau zu hören, und er erriet alles. Er nahm das Glas, zerschmetterte es am Gesichte dessen, der es ihm reichte, und eilte in der Richtung des Schreies fort. Nachdem er hundert Schritte gelaufen war, fand er in einem Gebüsche Rita ohnmächtig in Cucumettos Armen. Als dieser Carlini erblickte, erhob er sich, in jeder Hand eine Pistole haltend. Die Banditen schauten einander einen Augenblick an, der eine mit dem Lächeln der Unzucht auf den Lippen, der andre mit der Blässe des Todes auf der Stirn. Es war, als sollte etwas Furchtbares zwischen den beiden Männern vorgehen, aber allmählich verloren Carlinis Züge ihre Spannung, und seine Hand, die er an eine Pistole in seinem Gürtel gelegt hatte, fiel an der Seite nieder; Rita lag zwischen beiden. Der Mond beleuchtete die Szene.

 

Nun! sagte Cucumetto, hast du deinen Auftrag besorgt?

 

Ja, Kapitän, antwortete Carlini; morgen vor neun Uhr wird Ritas Vater mit dem Gelde hier sein.

 

Vortrefflich. Inzwischen wollen wir die Nacht lustig zubringen. Das Mädchen ist reizend, und du hast wahrhaftig einen guten Geschmack, Carlini. Da ich nicht eigennützig bin, so wollen wir zu den Kameraden zurückkehren und das Los ziehen, wem sie nun gehören soll.

 

Ihr seid also entschlossen, sie allen zu überantworten? fragte Carlini.

 

Warum sollte man bei ihr eine Ausnahme machen? – Ich glaubte auf meine Bitte … – Bist du etwa mehr, als die andern? – Das ist richtig. – Doch sei unbesorgt, früher oder später kommt ja auch die Reihe an dich.

 

Bei diesen Worten preßte Carlini krampfhaft die Zähne zusammen.

 

Nun vorwärts, sagte Cucumetto, einen Schritt nach den Genossen zu machend, kommst du?

 

Ich folge Euch.

 

Cucumetto entfernte sich, jedoch ohne Carlini aus dem Gesichte zu verlieren, denn er fürchtete ohne Zweifel, er könnte von hinten auf ihn schießen; doch nichts deutete bei dem Banditen eine feindselige Absicht an. Er stand mit gekreuzten Armen bei der immer noch ohnmächtigen Rita. Einen Augenblick dachte Cucumetto, der junge Mann würde sie in seine Armen nehmen und mit ihr fliehen. Es war ihm nun auch wenig mehr daran gelegen, denn er hatte von Rita, was er haben wollte, und auch das geringe Lösegeld ließ ihn gleichgültig. Er setzte daher seinen Weg nach der Lichtung fort, ohne umzuschauen; doch zu seinem großen Erstaunen kam Carlini beinahe mit ihm hier an. Das Los gezogen! riefen die Banditen, als sie ihren Anführer erblickten. Man legte alle Namen, den Carlinis wie die der andern, in einen Hut, und der jüngste der Bande zog ein Zettelchen aus der improvisierten Urne. Auf diesem Zettelchen stand der Name Diavolaccio. Es war derselbe, dem Carlini, als er ihm auf die Gesundheit des Anführers zutrank, das Glas im Gesichte zerschmettert hatte. Als Diavolaccio sich so vom Glücke begünstigt sah, brach er in ein schallendes Gelächter aus.

 

Alle glaubten, Carlini werde losbrechen; aber zum allgemeinen Erstaunen nahm er ein Glas und rief mit vollkommen ruhiger Stimme: Auf deine Gesundheit, Diavolaccio! und leerte das Glas, ohne daß seine Hand zitterte. Dann setzte er sich ans Feuer, aß und trank, als ob nichts vorgefallen wäre, während sich Diavolaccio entfernte.

 

Die Banditen schauten ihn voll Erstaunen an, denn sie begriffen diese Unempfindlichkeit nicht, als sie hinter sich den Boden unter einem schweren Tritte erdröhnen hörten. Sie wandten sich um und sahen Diavolaccio, der Rita in seinen Armen hielt; ihr Kopf war zurückgeworfen und ihre langen Haare hingen bis zur Erde herab. Als Diavolaccio mehr in den Kreis des vom Feuer sich verbreitenden Lichtes trat, sah man, daß das Mädchen wie der Bandit ausfallend bleich waren. Erstaunt und beunruhigt standen alle auf mit Ausnahme von Carlini, der sitzen blieb und zu trinken und zu essen fortfuhr, als ob ihn alles nichts anginge. Diavolaccio näherte sich unter dem tiefsten Stillschweigen und legte Rita zu den Füßen des Kapitäns nieder.

 

Jetzt sahen alle, daß in Ritas linker Brust ein Messer stak, bis ans Heft eingebohrt. Alle Augen richteten sich auf Carlini; die Scheide hing leer an seinem Gürtel.

 

Auch rohe Naturen sind imstande, eine kraftvolle Handlung zu würdigen; obgleich schwerlich ein anderer von den Banditen die gleiche Tat ausgeführt hätte, so begriffen sie doch, was er getan.

 

Nun, sagte Carlini, ebenfalls aufstehend und dem Leichnam sich nähernd, während er die Hand an den Kolben einer Pistole legte, ist vielleicht noch einer hier, der mir diese Frau streitig machen will?

 

Nein, erwiderte der Anführer, sie gehört dir.

 

Carlini nahm sie nun in seine Arme und trug sie aus dem Lichtkreise fort.

 

Am Fuße einer alten Eiche fand ihn am Morgen Ritas Vater, der herbeigeeilt war, das Lösegeld zu bringen.

 

Elender! rief der Greis, was hast du getan?

 

Und er blickte voll Schrecken auf Rita, die bleich, unbeweglich, mit einem blutigen Messer in der Brust, da lag.

 

Cucumetto hatte deine Tochter geschändet, sagte der Bandit, und da ich sie liebte, mußte ich sie töten, denn nach ihm hätte sie der ganzen Bande zum Spielzeug gedient.

 

Der Greis sprach kein Wort, er wurde nur bleich wie ein Gespenst.

 

Räche sie nun, wenn ich unrecht gehabt habe, fügte Carlini hinzu.

 

Und er riß das Messer aus dem Busen des Mädchens und reichte es dem Greise mit der einen Hand, während er mit der andern seine Weste auf die Seite schob und ihm seine nackte Brust darbot.

 

Du hast wohl getan, sprach der Greis mit dumpfer Stimme, umarme mich, mein Sohn!

 

Carlini warf sich schluchzend in die Arme des Vaters seiner Geliebten. Es waren die ersten Tränen, die dieser Blutmensch vergoß.

 

Dann begruben sie das Mädchen, und Carlini schwur blutige Rache; doch er konnte seinen Schwur nicht halten, denn zwei Tage nachher wurde er in einem Kampfe von römischen Carabinieri getötet. Man wunderte sich nur, daß er, dem Feinde das Gesicht bietend, eine Kugel zwischen die Schultern bekommen hatte. Das Erstaunen hörte aber auf, als einer von den Banditen gegen seine Kameraden bemerkte, Cucumetto habe zehn Schritte hinter Carlini gestanden. Man erzählt sich von diesem Räuberhauptmann noch zehn andere, ebenso grauenvolle Geschichtchen, und es zitterte auch alles von Fondi bis Perugia, wenn man nur Cucumettos Namen nannte.

 

Diese Geschichten boten Luigi und Teresa oft Stoff zur Unterhaltung. Das Mädchen hörte immer diese Erzählungen bebend an, aber Vampa beruhigte sie mit einem Lächeln und schlug an seine nie fehlende Flinte. War sie dann noch nicht völlig beruhigt, so zeigte er ihr auf hundert Schritte einen Raben, der auf einem dürren Aste saß, schlug an, drückte los, und das Tier fiel wohlgetroffen an dem Fuß des Baumes nieder.

 

Mittlerweile verlief die Zeit; die jungen Leute hatten beschlossen, sich zu heiraten, wenn Vampa zwanzig Jahre alt wäre. Sie waren beide Waisen und hatten nur ihre Herren um Erlaubnis zu bitten; sie baten darum und erhielten auch die Einwilligung.

 

Als sie eines Tages von ihren Zukunftsplänen sprachen, vernahmen sie ein paar Schüsse; dann trat plötzlich ein Mann aus dem Gehölze hervor, bei dem die jungen Leute ihre Herden zu werden pflegten, lief auf sie zu und rief: Ich werde verfolgt, könnt ihr mich verbergen?

 

Die jungen Leute erkannten sogleich, daß der Flüchtige ein Bandit war; doch zwischen dem römischen Bauern und dem römischen Banditen herrscht eine angeborene Sympathie, weshalb der erste immer bereit ist, dem zweiten Dienste zu leisten. Luigi lief, ohne ein Wort zu sagen, nach dem Steine, der den Eingang einer nahen Grotte verstopfte, entblößte diesen Eingang, hieß den Flüchtling durch ein Zeichen in dieses nur ihm und Teresa bekannte Asyl schlüpfen, stieß den Stein wieder an seine vorige Stelle, kehrte zu Teresa zurück und setzte sich neben sie. Beinahe im selben Augenblick erschienen vier Carabinieri zu Pferde am Saume des Waldes. Sie gewahrten die jungen Leute, sprengten im Galopp auf sie zu und befragten sie; doch diese gaben an, sie hätten nichts gesehen.

 

Das ist ärgerlich, sagte der Brigadier; denn der, den wir suchen, ist der Anführer.

 

Cucumetto? riefen Teresa und Luigi unwillkürlich.

 

Ja, antwortete der Brigadier, und da ein Preis von 1000 Talern auf seinen Kopf gesetzt ist, so wären 500 euch zugekommen, wenn ihr mir geholfen hättet, ihn aufzufinden.

 

Die jungen Leute wechselten einen Blick. Der Brigadier hatte eine Minute lang Hoffnung. 500 römische Taler sind ein Vermögen für arme Waisen, die sich heiraten wollen.

 

Ja, das ist schade, erwiderte Vampa, doch wir haben ihn nicht gesehen. Die Carabinieri durchstreiften nun die Gegend in verschiedenen Richtungen, aber vergebens; dann verschwanden sie allmählich. Vampa zog den Stein zurück, und Cucumetto trat hervor.

 

Er hatte durch eine Spalte die jungen Leute mit den Carabinieri sprechen hören und den Gegenstand ihres Gespräches vermutet. Jetzt zog er aus seiner Tasche eine Börse voll Gold und bot sie ihnen zum Lohn an. Aber Vampa hob stolz das Haupt empor, während Teresas Augen bei dem Gedanken all alles das glänzten, was sie sich für dieses Gold an reichen Juwelen und schönen Kleidern kaufen könnte. Cucumetto war ein listiger Teufel. Er erhaschte diesen Blick, erkannte in Teresa eine würdige Tochter Evas und kehrte voll böser Lust in den Wald zurück, wobei er sich wiederholt, als wolle er seine Befreier noch einmal grüßen, umdrehte. Es vergingen mehrere Tage, ohne daß man Cucumetto wiedersah oder von ihm sprechen hörte. Der Karneval nahte heran, und der Graf von San Felice veranstaltete einen Ball, wozu die ganze elegante Welt Roms eingeladen war. Teresa hatte große Lust, diesen Ball zu sehen. Luigi bat seinen Beschützer, den Intendanten, um Erlaubnis für sie und für sich, unter den Dienern des Hauses verborgen, dem Feste beiwohnen zu dürfen, was ihm auch zugestanden ward.

 

Der Ball wurde von dem Grafen hauptsächlich gegeben, um seiner Tochter Carmela, die er anbetete, ein Vergnügen zu bereiten. Carmela war gerade von Teresas Alter und Wuchs, und Teresa war wenigstens ebenso schön, als Carmela. Am Abend des Balles wählte Teresa ihre schönste Toilette, ihre reichsten Nadeln, ihren glänzendsten Glasschmuck. Sie trug die Tracht der Frauen von Frascati, Luigi die malerische Festkleidung der römischen Bauern. Beide mischten sich, wie man es ihnen erlaubt hatte, unter die zuschauenden Diener und Bauern. Das Fest war prachtvoll. Nicht nur die Villa war glänzend beleuchtet, sondern es hingen auch Tausende von farbigen Lampen an den Bäumen im Garten. Bald strömte der Festjubel vom Palast auch auf die Terrassen über, und von den Terrassen wogte es in den Alleen. An jedem Kreuzweg gab es ein Orchester, Trinktische und Erfrischungen aller Art; die Spaziergänger blieben stehen, es bildeten sich Quadrillen, und man tanzte, wo einem die Lust dazu ankam. Carmela war wie die Frauen von Sonnino gekleidet; sie trug eine mit Perlen gestickte Mütze, die Nadeln in ihren Haaren waren von Gold und Diamanten, ihr Gürtel war von türkischer Seide, ihr Oberrock von Kaschmir, ihre Schürze von indischem Musselin, dir Knöpfe ihres Mieders bestanden aus Edelsteinen. Zwei andere Gefährtinnen von ihr hatten, die eine die Tracht der Frauen von Nettuno, die andere die der Riccianerinnen.

 

Vier junge Männer aus den edelsten und reichsten Familien Roms begleiteten sie mit jener italienischen Zwanglosigkeit, die in keinem andern Lande der Welt ihresgleichen hat; sie waren als Bauern gekleidet. Carmela kam der Gedanke, eine Quadrille zu bilden; es fehlte nur noch an einer Teilnehmerin. Carmela schaute umher, keine von den Eingeladenen hatte eine der ihrigen und der ihrer Gefährtinnen entsprechende Tracht. Da zeigte ihr der Graf von San Felice mitten unter den Bäuerinnen Teresa, die sich auf Luigis Arm stützte.

 

Erlauben Sie mir, mein Vater? sagte Carmela.

 

Allerdings, erwiderte der Graf; sind wir nicht im Karneval? Carmela neigte sich an das Ohr eines jungen Mannes, der sie plaudernd begleitete, und sagte ihm leise ein paar Worte, wobei sie mit dem Finger auf Teresa deutete. Der junge Mann lud Teresa ein, an der von der Tochter des Grafen geleiteten Quadrille teilzunehmen. Teresa fühlte es wie eine Flamme über ihr Gesicht hinziehen, sie befragte Luigi mit dem Blicke – es war ihr nicht möglich, zu widerstreben; Luigi ließ langsam ihren Arm los, und Teresa entfernte sich, geführt von ihrem zierlichen Kavalier, und nahm zitternd ihren Platz in der aristokratischen Quadrille an. Bei ihrer Eitelkeit und Putzsucht war sie von den feinen Stickereien, dem Glanz des Kaschmirs ganz geblendet, und das Feuer der Diamanten und Saphire machte sie toll. Luigi seinerseits fühlte ein unbekanntes Etwas in sich entstehen, es war anfangs wie ein dumpfer Schmerz, der ihm das Herz durchzuckte. Er verfolgte mit den Augen jede Bewegung Teresas und ihres Kavaliers. Wenn ihre Hände sich berührten, flimmerte es vor seinen Augen, und das Blut hämmerte in seinen Adern. Zwar hörte Teresa, wenn sie miteinander sprachen, nur schüchtern und mit niedergeschlagenen Augen zu, aber Luigi, der in den glühenden Blicken des schönen jungen Mannes las, daß seine Reden Schmeicheleien waren, kam es dennoch vor, als drehte sich die Erde unter ihm, und als flüsterten ihm alle Stimmen der Hölle Mordgedanken zu. Dann klammerte er sich, aus Furcht, sich von seinem Wahnsinn hinreißen zu lassen, mit einer Hand an der nahen Buche an, erfaßte mit der andern in krampfhafter Bewegung seinen Dolch und zog ihn, ohne es gewahr zu werden, mehrmals fast ganz aus der Scheide.

 

Als endlich der Tanz zu Ende war, führte ihr schöner Kavalier Teresa mit vielen Artigkeiten an den Platz zurück, wo Luigi ihrer harrte. Wiederholt hatte Teresa während des Kontertanzes einen Blick auf Luigi geworfen, und jedesmal waren ihr seine verstörten Züge aufgefallen. So faßte sie zitternd den Arm ihres Geliebten wieder, der sie, ohne ein Wort zu sagen, mit sich fortzog. Erst als sie eben in ihre Wohnung traten, fragte er: Teresa, woran dachtest du, als du der jungen Gräfin von San Felice gegenüber tanztest?

 

Ich dachte, ich würde die Hälfte meines Lebens für eine Kleidung geben, wie sie die Gräfin trägt.

 

Und was sagte dir dein Kavalier?

 

Er sagte mir, es hinge nur von mir ab, eine solche zu haben, und es koste mich nur ein Wort.

 

Er hatte recht, sagte Luigi. Wünschest du eine solche Tracht so glühend, wie du sagst? – Ja. – Wohl, du sollst sie haben.

 

Erstaunt schaute Teresa empor, um ihn zu befragen; aber sein Gesicht war so düster und furchtbar, daß das Wort auf ihren Lippen erstarb. Übrigens entfernte sich Luigi sogleich. Teresa folgte ihm in der Dunkelheit mit den Augen, solange sie ihn sehen konnte. Als er verschwunden war, trat sie in ihre Wohnung.

 

In derselben Nacht ereignete sich ein großes Unglück, ohne Zweifel durch die Unvorsichtigkeit eines Bedienten, der die Lichter auszulöschen vergaß. Es brach unmittelbar neben den Gemächern der schönen Carmela Feuer aus. Mitten in der Nacht durch den Schein der Flammen aufgeweckt, sprang sie aus dem Bette, hüllte sich in ihr Nachtkleid und suchte zu entfliehen; aber der Hausflur, durch den sie gehen mußte, war schon vom Feuer ergriffen. Da kehrte sie in ihr Zimmer zurück und rief aus Leibeskräften um Hilfe, als plötzlich ihr zwanzig Fuß über dem Boden liegendes Fenster sich öffnete, ein junger Bauer in das Gemach stürzte, sie in seine Arme nahm und mit übermenschlicher Kraft und Gewandtheit auf den Rasen vor der Villa schleppte, wo sie ohnmächtig niedersank. Als sie wieder zu sich kam, war ihr Vater bei ihr. Alle Diener umgaben sie, um ihr Hilfe zu leisten. Ein ganzer Flügel der Villa war abgebrannt; doch was lag daran, Carmela war unversehrt. Man suchte überall ihren Retter, aber der Retter fand sich nirgends; niemand hatte ihn gesehen. Carmela war so sehr von Angst ergriffen gewesen, daß sie ihn nicht erkannt hatte.

 

Am andern Tage fanden sich die jungen Leute zur gewöhnlichen Stunde am Saume des Waldes ein. Luigi war zuerst gekommen. Er ging dem Mädchen mit großer Heiterkeit entgegen und schien die Szene vom vorhergehenden Abend völlig vergessen zu haben. Teresa war sichtlich nachdenkend; als sie aber Luigi so gestimmt sah, heuchelte sie eine lachende Sorglosigkeit, die den Grundzug ihres Charakters bildete, wenn sie nicht von irgend einer Leidenschaft ergriffen war. Luigi nahm Teresa beim Arm und führte sie zum Eingang der erwähnten Grotte. Hier blieb er stehen. Das Mädchen begriff, daß etwas Außerordentliches bevorstand, und schaute ihn fest an.

 

Teresa, sagte Luigi, gestern hast du mir gesagt, du würdest alles in der Welt darum geben, eine Kleidung wie die der Grafentochter zu besitzen?

 

Allerdings, erwiderte Teresa erstaunt, aber ich war toll, daß ich einen solchen Wunsch hegte.

 

Und ich antwortete dir: Gut, du sollst sie haben. – Ich habe dir nie etwas versprochen, Teresa, ohne es dir zu geben, geh in die Grotte und kleide dich an.

 

Bei diesen Worten zog er den Stein heraus und zeigte Teresa die Grotte, die von zwei Kerzen beleuchtet war, zwischen denen ein prachtvoller Spiegel stand; auf dem von Luigi verfertigten rohen Tische waren Diamantnadeln und ein Perlenhalsband ausgebreitet; auf einem Stuhle daneben lag die übrige Kleidung. Teresa stieß einen Freudenschrei aus und stürzte, ohne zu fragen, woher diese wertvollen Dinge kämen, ohne sich Zeit zu lassen, Luigi zu danken, in die Grotte. Luigi drückte den Stein wieder hinter ihr hinein, denn er erblickte auf der Höhe eines kleinen Hügels einen Reisenden zu Pferd, der einen Augenblick anhielt, als wäre er des Weges nicht kundig. Luigi hatte sich nicht getäuscht, der Reisende, der von Palestrina nach Tivoli ritt, war im Zweifel über seinen Weg. Der junge Mann wies ihn zurecht, und der Reisende bat Luigi, ihm ein kleines Stück als Führer zu dienen. Luigi begleitete ihn bis zum nächsten Kreuzweg und sagte: Hier ist Ihr Weg, Exzellenz, Sie können, nun nicht mehr fehlen.

 

Und hier ist deine Belohnung, sagte der Reisende und bot dem jungen Hirten einige kleine Münzen.

 

Ich danke, versetzte Luigi, seine Hand zurückziehend, ich leiste Dienste, ich verkaufe sie nicht.

 

Wohl, entgegnete der Reisende, wenn du eine Belohnung ausschlägst, so nimmst du wenigstens ein Geschenk an.

 

Oh! ja, das ist etwas anderes.

 

So nimm diese zwei venetianischen Zechinen und gib sie deiner Braut, die sich ein paar Ohrringe dafür kaufen soll.

 

Und Sie nehmen diesen Dolch, sagte der junge Hirt, und reichte ihm die von seiner eigenen kunstfertigen Hand geschnitzte Waffe. Sie finden von Albano bis Civita Castellana keinen, dessen Griff besser geschnitzt wäre.

 

Ich nehme ihn an, sagte der Reisende. Wie heißt du?

 

Luigi Vampa. Und Sie?

 

Ich? Ich heiße Simbad der Seefahrer.

 

Franz d’Epinay stieß einen Schrei des Erstaunens aus.

 

Simbad der Seefahrer? wiederholte er.

 

Ja, diesen Namen nannte der Reisende.

 

Was haben Sie gegen diesen Namen einzuwenden? fragte Albert, es ist ein sehr schöner Name, und die Abenteuer des Ersten dieses Namens haben mich in meiner Jugend ungemein belustigt.

 

Franz antwortete nicht. Der Name Simbad der Seefahrer hatte bei ihm eine ganze Welt von Erinnerungen geweckt.

 

Vampa, fuhr der Wirt fort, steckte verächtlich die Zechinen in die Tasche und schlug langsam den Rückweg wieder ein. Zwei- bis dreihundert Schritte von der Grotte glaubte er einen Schritt zu hören. Er sprang wie eine Gemse, spannte den Hahn seiner Flinte im Laufe und gelangte in weniger als einer Minute auf die Spitze des kleinen Hügels dem gegenüber, wo er den Reisenden erblickt hatte. Hier hörte er rufen: Zu Hilfe! Er schaute sich um und sah, wie ein Mann Teresa fortschleppte. Der Unbekannte war wenigstens zweihundert Schritte vor ihm voraus, und er hatte keine Hoffnung, ihn einzuholen, ehe er das Gehölz erreichte. Der junge Hirt blieb stehen, als hätten seine Füße Wurzel gefaßt. Er stützte den Schaft seiner Flinte an seine Schulter, hob sacht das Rohr in der Richtung des Räubers und gab Feuer. – Der Räuber hielt an, seine Knie bogen sich, und er fiel, Teresa mit sich zur Erde ziehend; Teresa erhob sich sogleich wieder. Als Luigi sich überzeugt hatte, daß sie unversehrt war, wandte er sich gegen den Verwundeten um, der mit geballten Fäusten und schmerzverzogenem Munde tot dalag. Vampa erkannte Cucumetto. Der Bandit hatte sich an dem Morgen, wo ihn die jungen Leute retteten, in Teresa verliebt und geschworen, das Mädchen sollte ihm gehören. Seit jenem Morgen spähte er nach ihr, und im Augenblick, wo Luigi Teresa allein ließ, um dem Reisenden den Weg zu zeigen, packte er sie und betrachtete sie bereits als seine Beute, als Vampas Kugel ihm das Herz durchdrang. Vampa schaute ihn ohne die geringste Bewegung an, während Teresa, noch ganz zitternd, sich dem toten Banditen nur mit kleinen Schritten zu nähern wagte und zögernd über die Schulter ihres Geliebten einen Blick auf den Leichnam warf. Nach ein paar Sekunden wandte sich Vampa zu dem Mädchen um und rief: Ah! das ist gut, du bist angekleidet; nun muß ich mich ebenfalls putzen. Teresa erschien in der Tat vom Kopf bis zu den Füßen in der Tracht der Tochter des Grafen von San Felice. Vampa nahm Cucumettos Leiche in seine Arme und trug ihn in die Grotte, während Teresa außen blieb.

 

Es war ein sonderbarer Anblick: eine Schäferin, die ihre Lämmer im Kaschmirkleide, mit Ohrringen und Halsband von Perlen, mit Diamantnadeln und Knöpfen von Saphiren, Smaragden und Rubinen hütete. Nach einer Viertelstunde kam Vampa ebenfalls aus der Grotte heraus. Seine Tracht war in ihrer Art nicht minder zierlich, als die Teresas. Er hatte ein Wams von granatfarbigem Samt mit ziselierten goldenen Knöpfen, eine mit Stickereien bedeckte seidene Weste, eine um den Hals geknüpfte römische Schärpe, eine mir Gold und roter und grünen Seide gesteppte Patronentasche, Hosen von himmelblauem Samt, die über dem Knie mit Diamantschnallen befestigt waren, bunte Gamaschen von Damhirschleder und einen Hut, woran Bänder von allen Farben flatterten; zwei Uhren hingen an seinem Gürtel, und ein prachtvoller Dolch stak in seinem Patronenleder.

 

Teresa stieß einen Schrei aus; Vampa hatte Cucumettos Kleidung angelegt. Der junge Mann bemerkte die Wirkung, die er auf seine Braut hervorbrachte; ein Lächeln des Stolzes umspielte seinen Mund, und er sagte zu Teresa: Bist du nun bereit, mein Schicksal zu teilen, wie es auch sein mag?

 

Oh ja! rief das Mädchen voll Begeisterung.

 

So nimm meinen Arm und vorwärts, denn wir haben keine Zeit zu verlieren.

 

Teresa schlang ihren Arm durch den ihres Geliebten, ohne ihn nur zu fragen, wohin er sie führte; denn in diesem Augenblick kam er ihr schön, stolz und mächtig vor, wie ein Gott. Und beide schritten dem Walde zu, dessen Saum sie nach ein paar Minuten hinter sich hatten. Vampa kannte alle Pfade des Gebirges; er wanderte daher, ohne zu zögern, im Walde fort. Nach ungefähr anderthalb Stunden erreichten sie eine tiefe Schlucht. Plötzlich erschien, zehn Schritte vor ihnen, ein Mann, der auf Vampa zielte und rief: Keinen Schritt weiter, oder du bist tot!

 

Ruhig, sagte Vampa, die Hand mit einer verächtlichen Gebärde aufhebend, während Teresa sich schreckhaft an ihn drängte; zerreißen sich die Wölfe untereinander?

 

Wer bist du? fragte die Wache.

 

Ich bin Luigi Vampa, der Hirte von dem Gute San Felice, und will mit deinen Genossen sprechen, die auf der Lichtung von Rocca Bianca versammelt sind.

 

So folge mir, sagte die Wache, oder geh vielmehr voraus, da du weißt, wo es ist.

 

Vampa lächelte über diese Vorsichtsmaßregel und ging mit gleichmäßig festen, ruhigen Schritten, von Teresa begleitet, voran. Nach fünf Minuten hieß sie der Bandit durch ein Zeichen stille stehen; die jungen Leute gehorchten. Der Bandit ahmte dreimal das Krächzen des Raben nach, und ein ähnliches Geschrei beantwortete diesen Ruf.

 

Gut, sagte der Bandit. Du kannst nun weiter gehen. Luigi und Teresa machten sich wieder auf den Weg, doch je mehr sie vorrückten, desto fester preßte sich die zitternde Teresa an ihren Geliebten an, denn man sah nun durch die Bäume Menschen erscheinen und Flintenläufe funkeln. Die Lichtung von Rocea Bianca lag oben auf einem kleinen Berge. Teresa und Luigi erreichten die Anhöhe und befanden sich in demselben Augenblick zwanzig Banditen gegenüber.

 

Dieser junge Mann sucht euch und will euch sprechen, sagte die Wache.

 

Und was will er uns sagen?

 

Ich will euch sagen, daß ich es satt habe, die Schafe zu hüten, antwortete Vampa.

 

Ah! ich begreife, sagte ein anderer, und du kommst, uns um Aufnahme in unsere Reihen zu bitten?

 

Er sei willkommen! riefen mehrere Banditen von Ferrusino, Pampinara und Anagni, die Luigi Vampa erkannten.

 

Ja, nur will ich euch um etwas anderes bitten, als um die Gunst, euer Gefährte zu sein.

 

Was verlangst du von uns? fragten die Banditen erstaunt.

 

Ich will euer Kapitän werden.

 

Die Banditen brachen in ein Gelächter aus.

 

Was berechtigt dich, auf diese Ehre Anspruch zu machen? fragte der Leutnant.

 

Ich habe euren Anführer Cucumetto getötet, dessen Nachlaß ihr an mir seht, und Feuer an die Villa San Felice gelegt, um meiner Braut ein Hochzeitskleid zu schenken.

 

Eine Stunde nachher war Luigi Vampa an Cucumettos Stelle zum Kapitän erwählt. –

 

Nun, mein lieber Albert, sagte Franz, sich an seinen Freund wendend, was denken Sie von Luigi Vampa?

 

Ich sage, es ist eine Mythe, und er hat gar nie existiert.

 

Was ist das, eine Mythe? fragte Pastrini.

 

Es wäre zu lang, Ihnen dies zu erklären, mein lieber Wirt, antwortete Franz. Und Sie sagen, Herr Vampa treibe sein Gewerbe in diesem Augenblick in der Gegend von Rom?

 

Ja, und zwar mit einer Kühnheit, von der nie ein Bandit vor ihm ein Beispiel gegeben hat.

 

Die Polizei hat seiner also nicht habhaft werden können?

 

Was wollen Sie? Er ist zugleich mit den Hirten der Ebene, mit den Fischern des Tiber und den Schmugglern an der Küste im Einverständnis. Sucht man ihn auf dem Gebirge, so ist er auf dem Fluß; verfolgt man ihn auf dem Fluß, so erreicht er die offene See; und glaubt man, er habe sich auf die Isola del Giglio, del Gnanuti oder nach Monte Christo geflüchtet, so sieht man ihn plötzlich in Albano, in Tivoli oder la Riccia auftauchen.

 

Und wie verfährt er gegen die Reisenden?

 

Oh, mein Gott! Das ist ganz einfach. Je nach der Entfernung, in der man sich von der Stadt befindet, gibt er ihnen acht Stunden, zwölf Stunden oder einen Tag, das Lösegeld zu bezahlen; ist diese Zeit abgelaufen, so gewährt er noch eine Stunde Gnadenfrist. Hat er nach sechzig Minuten das Geld noch nicht, so schießt er dem Gefangenen eine Kugel vor den Kopf oder stößt ihm seinen Dolch ins Herz, und alles ist abgemacht.

 

Nun, Albert, fragte Franz seinen Gefährten, sind Sie immer noch geneigt, vor die Stadt zu fahren?

 

Allerdings, wenn der Weg malerisch ist.

 

In diesem Augenblick schlug es neun Uhr, die Tür ging auf, und der Kutscher erschien.

 

Exzellenz, sagte er, der Wagen erwartet Sie.

 

Wohl! rief Franz, also nur in das Kolosseum.

 

Ah! mein Lieber, versetzte Albert, ebenfalls aufstehend und eine Zigarre anzündend, ich hielt Sie in der Tat für mutiger.

 

Hierauf gingen die jungen Leute die Treppe hinab und stiegen in den Wagen.

 

Erscheinungen.

 

Erscheinungen.

 

Auf der Fahrt durch die dunkle Stadt sprach Franz kein Wort, sein Geist beschäftigte sich mit dem, was er über Luigi Vampa gehört hatte, denn es war ihm befremdlich erschienen, daß Pastrini dabei den Namen seines Gastgebers auf Monte Christo genannt und diese Insel als Schlupfwinkel der Banditen bezeichnet hatte. Dabei erinnerte er sich, daß er bei seiner Landung auf Monte Christo bei den Matrosen auch zwei flüchtige Banditen getroffen hatte. So sehr auch alles dies seinen Geist beschäftigte, so war es doch völlig vergessen in dem Augenblick, wo er das düstere, riesige Gespenst des Kolosseums, auf das der Mond seine langen, bleichen Strahlen warf, vor sich sah. Der Wagen hielt, die jungen Leute sprangen heraus und standen vor einem Führer. Franz kannte das Kolosseum, denn er hatte es bereits mehr als zehnmal besucht; aber auf seinen Gefährten, der das gewaltige Monument zum erstenmal betrat, brachte der Anblick einen mächtigen Eindruck hervor. Man hat in der Tat, wenn man es nicht gesehen, keinen Begriff von der Majestät einer solchen Ruine, deren Verhältnisse in dieser geheimnisvollen Beleuchtung des südlichen Mondes verdoppelt erscheinen.

 

Kaum hatte Franz gedankenvoll hundert Schritt unter den inneren Säulengängen gemacht, als er, Albert seinem Führer überlassend, der ihm den Löwengraben, die Loge der Gladiatoren, das Podium der Cäsaren zeigen wollte, eine halb in Trümmer zerfallene Treppe hinaufstieg und sich im Schatten einer Säule vor einem Ausschnitte niederließ, der ihm den Granitriesen in seiner ganzen majestätischen Ausdehnung zu erfassen gestattete. Franz war ungefähr eine Viertelstunde hier und blickte jetzt nach Albert hinüber, der, begleitet von zwei Fackelträgern, aus einer Vertiefung am andern Ende des Kolosseums hervorkam. Die Führer stiegen eben wie Schatten, die einem Irrlichte folgen, von Stufe zu Stufe zu den den Vestalinnen vorbehaltenen Plätzen hinab, als es ihm schien, als hörte er in die Tiefen des Gebäudes einen von der gegenüberliegenden Treppe abgestürzten Stein rollen. Es kam ihm vor, als wäre der Stein unter dem Fuße eines Menschen gewichen, und als vernähme er ein Geräusch.

 

Nach einen: Augenblick erschien wirklich ein Mensch; er trat allmählich aus dem Schatten hervor, während er die von dem Monde beleuchtete Treppe hinaufstieg. Es konnte ein Reisender sein, wie er, der eine einsame Betrachtung dem Geschwätz seiner Führer vorzog, aber aus dem vorsichtigen Zögern, mit dem er die letzten Stufen erstieg, aus der Art und Weise, wie er, auf der Plattform angelangt, still stand und zu horchen schien, ging klar hervor, daß er zu einem besonderen Zwecke gekommen war und auf jemand wartete. Unwillkürlich verbarg sich Franz so viel als möglich hinter der Säule. Zehn Schritte davon war das Gewölbe ausgebrochen, und eine runde Öffnung ließ den mit Sternen besäten Himmel hereinschauen. Um diese Öffnung her, die vielleicht schon seit Jahrhunderten den Mondstrahlen Durchgang gestattete, wuchsen Gesträuche, deren grüne Umrisse sich kräftig von dem matten Azur des Firmaments abhoben, während große Lianen und mächtige Efeuranken von der obern Terrasse herabhingen und sich, schwelgendem Tauwerk ähnlich, unter dem Gewölbe wiegten.

 

Der Mann, dessen geheimnisvolles Erscheinen Franzens Aufmerksamkeit erregt hatte, stand so im Halbdunkel, daß man seine Züge nicht zu unterscheiden vermochte, doch war die Tracht des Unbekannten zu erkennen: er war in einen großen braunen Mantel gehüllt, dessen rechte Spitze, über die linke Schulter geworfen, den unteren Teil seines Gesichtes verbarg, während sein breitkrempiger Hut seinen Kopf bedeckte. Nur das äußerste Ende seiner Kleidung wurde von dem schiefen Lichte beleuchtet, das durch die Öffnung drang und ein schwarzes, einen Lackstiefel zierlich umschließendes Beinkleid gewahren ließ. Der Mann gehörte offenbar, wenn nicht der Aristokratie, doch wenigstens der guten Gesellschaft an. Er war ungefähr zehn Minuten anwesend und gab sichtbare Zeichen der Ungeduld von sich, als sich ein leichtes Geräusch auf der obern Terrasse hören ließ. In demselben Augenblick verdeckte ein Schatten den Lichtschein, ein Mann zeigte sich an der Öffnung, tauchte seinen durchdringenden Blick in die Finsternis und gewahrte den Mann im Mantel; sogleich ergriff er eine Handvoll herabhängender Lianen und Efeuranken, ließ sich hinabgleiten und sprang, sobald er nur noch drei Fuß vom Boden entfernt war, leicht zur Erde. Dieser Mann zeigte die vollständige Tracht eines Trasteveriners.

 

 

Entschuldigen Sie, Exzellenz, sagte er in römischem Dialekt, ich ließ Sie warten, doch nur ein paar Minuten, denn es hat soeben zehn Uhr geschlagen.

 

Ich kam zu früh und nicht Ihr zu spät, antwortete der Fremde, also keine Umstände; hättet Ihr mich übrigens auch warten lassen, so würde ich vermutet haben, ein von Eurem Willen unabhängiger Beweggrund halte Euch zurück.

 

Und Sie hätten recht gehabt, Exzellenz, ich komme vom Kastell St. Angelo, wo ich die größte Mühe hatte, bis es mir endlich gelang, mit Beppo zu sprechen.

 

Wer ist Beppo?

 

Beppo ist ein Angestellter beim Gefängnis, dem ich eine kleine Rente dafür zukommen lasse, daß ich erfahre, was im Innern der Burg Seiner Heiligkeit vorgeht.

 

Ah! ah! ich sehe, Ihr seid ein vorsichtiger Mann, mein Lieber.

 

Man weiß nicht, was geschehen kann, Exzellenz; vielleicht werde ich auch eines Tages im Netze gefangen, wie der arme Peppino, und bedarf einer Ratte, um einige Maschen meines Gefängnisses zu durchnagen.

 

Sprecht, was habt Ihr in Erfahrung gebracht?

 

Dienstag um zwei Uhr sollen zwei Hinrichtungen stattfinden, wie dies in Rom bei Eröffnung großer Feste gebräuchlich ist; einer von den Verurteilten wird durch Totschlag hingerichtet ( mezzolato); er ist ein Elender, der einen Priester umgebracht hat, von dem er erzogen worden ist, und der keine Teilnahme verdient; der andere wird mit der Guillotine enthauptet, das ist der arme Peppino.

 

Was wollt Ihr, mein Lieber. Ihr flößt nicht nur der päpstlichen Regierung, sondern auch den benachbarten Staaten einen so großen Schrecken ein, daß man durchaus ein Beispiel geben muß.

 

Aber Peppino gehört nicht einmal zur Bande, er ist ein armer Hirte, der kein anderes Verbrechen beging, als daß er uns Lebensmittel lieferte.

 

Was ihn vollkommen zu Eurem Mitschuldigen macht. Es wird also ein Schauspiel stattfinden, das den Geschmack des römischen Volkes befriedigen wird.

 

Dazu soll dann noch ein unerwartetes Schauspiel kommen, das ich mir vorbehalte, versetzte der Trasteveriner.

 

Mein lieber Freund, entgegnete der Mann im Mantel, erlaubt mir die Bemerkung, daß Ihr mir ganz geneigt zu sein scheint, irgend eine Albernheit zu begehen.

 

Ich bin zu allem geneigt, um die Hinrichtung des armen Teufels zu verhindern, der in der Klemme steckt, weil er mir gedient hat. Bei der heiligen Jungfrau, ich müßte mich als feig betrachten, wenn ich nicht etwas für den braven Jungen unternähme.

 

Und was gedenkt Ihr zu tun?

 

Ich stelle etwa zwanzig Mann um das Schafott, und in dem Augenblick, wo man ihn herbeibringt, stürzen wir auf ein Signal, das ich geben werde, mit dem Dolche in der Faust auf die Eskorte los und entführen ihn.

 

Das scheint mir sehr unsicher, und mein Plan taugt entschieden mehr, als der Eurige.

 

Und worin besteht dieser Plan, Exzellenz?

 

Ich gebe irgend einem, den ich kenne, zweitausend Piaster; dafür bewirkt er, daß Peppinos Hinrichtung auf das nächste Jahr verschoben wird; im Verlaufe des Jahres gebe ich sodann weitere zweitausend Piaster einem andern, den ich ebenfalls kenne, und bringe es dahin, daß man ihn entschlüpfen läßt.

 

Sind Sie des Gelingens sicher?

 

Mein Lieber, ich sage, ich werde mit meinem Golde mehr bewirken, als Ihr und Eure Leute mit allen ihren Dolchen, Pistolen und Büchsen. Laßt mich also machen!

 

Vortrefflich; doch wenn Sie scheitern, sind wir immer noch bereit.

 

Haltet Euch immerhin bereit, wenn es Euch Vergnügen macht, doch seid überzeugt, daß ich die Freiheit für ihn erlange.

 

Vergessen Sie nicht, daß schon übermorgen Dienstag ist. Sie haben nur noch morgen.

 

Wohl, aber ein Tag besteht aus 24 Stunden, jede Stunde aus 60 Minuten, jede Minuten aus 60 Sekunden, und in 86 400 Sekunden bringt man viel zu Wege.

 

Wie werden wir es erfahren, Exzellenz, wenn es Ihnen gelungen ist?

 

Das ist ganz einfach: die drei letzten Fenster des Palastes Rospoli sind von mir gemietet; habe ich den Aufschub erlangt, so sollen die zwei Fenster an der Ecke mit gelbem, das in der Mitte aber mit weißem Damast mit rotem Kreuz behängt werden.

 

Gut; und durch wen werden Sie die Begnadigung in die betreffenden Hände gelangen lassen?

 

Schickt mir einen von Euren Leuten, als Büßer verkleidet, und ich gebe sie ihm. Mit seinem Gewande wird er bis zum Fuße des Schafotts vordringen, wo er die Bulle dem Obersten der Brüderschaft übergibt, der sie dem Nachrichter einhändigt. Mittlerweile laßt diese Kunde Peppino zu Ohren kommen, daß er nicht vor Angst stirbt oder ein Narr wird, sonst hätten wir eine unnötige Ausgabe für ihn gemacht.

 

Hören Sie, Exzellenz, sagte der Trasteveriner, ich bin Ihnen ergeben, und davon sind Sie überzeugt, nicht wahr?

 

Ich hoffe es wenigstens.

 

Nun! Wenn Sie Peppino retten, so wird meine Ergebenheit sich in Gehorsam wandeln.

 

Gebt wohl acht auf das, was Ihr sagt, mein Lieber! Ich werde Euch eines Tages daran erinnern, denn vielleicht bedarf ich Euer einst ebenfalls.

 

Wohl, Exzellenz, dann sollen Sie mich zur Stunde der Not finden, wie ich Sie zu derselben Stunde gefunden habe. Wären Sie am andern Ende der Welt, so brauchen Sie mir nur zu schreiben: Tue dies, und ich werde es tun, so wahr ich …

 

Still! sagte der Unbekannte, ich höre Geräusch.

 

Es sind Reisende, die das Kolosseum mit Fackeln besuchen.

 

Sie sollen uns nicht beisammen finden. Diese Spione von Führern könnten Euch erkennen, und so ehrenwert auch Eure Freundschaft ist, mein Lieber, so befürchte ich doch, es dürfte mir meinen Kredit nehmen, wenn man erführe, in welchem Grade wir miteinander verbunden sind.

 

Also, wenn Sie den Aufschub haben?

 

So ist am mittleren Fenster ein Damastvorhang mit rotem Kreuze.

 

Wenn Sie die Bulle nicht haben?

 

Drei gelbe Vorhänge.

 

Und dann?

 

Dann spielt mit dem Dolche nach Eurem Belieben, ich erlaube es Euch und werde da sein, um Euch zuzusehen.

 

Gott befohlen, Exzellenz, ich zähle auf Sie, zählen Sie auf mich!

 

Nach diesen Worten verschwand der Trasteveriner auf der Treppe, während der Unbekannte, sein Gesicht noch mehr als zuvor mit dem Mantel verhüllend, zwei Schritte entfernt an Franz vorüberging und auf den äußeren Stufen in die Arena hinabstieg. Eine Sekunde nachher hörte Franz seinen Namen unter dem Gewölbe erschallen; es war Albert, der ihn rief. Er wartete, um zu antworten, bis sich die beiden Männer entfernt hätten, denn er wollte nicht, daß sie erführen, sie hätten einen Zeugen gehabt, der, wenn er auch ihr Gesicht nicht sehen konnte, wenigstens kein Wort von ihrem Gespräche verlor. Kaum waren zehn Minuten vergangen, als Franz nach dem Hotel Stadt London zurückfuhr. Er ließ Albert seine Eindrücke erzählen, ohne viel zu erwidern, denn er wollte sobald als möglich allein sein, um ungestört das, was in seiner Gegenwart vorgefallen war, überlegen zu können.

 

Von den beiden Männern war ihm der eine offenbar fremd, und er sah und hörte ihn zum erstenmal; nicht so war es mit dem andern, und obgleich Franz sein beständig im Schatten oder durch den Mantel verborgenes Gesicht nicht hatte unterscheiden können, so war ihm doch der Ton dieser Stimme sofort zu sehr aufgefallen, als daß sie in ihm nicht bestimmte Erinnerungen geweckt hätten. Es lag in dieser Stimme etwas Scharfes, Metallisches, das ihn ebensosehr im Kolosseum, wie in der Grotte von Monte Christo hatte erbeben lassen; er war auch vollkommen überzeugt, daß dieser Mann Simbad der Seefahrer war.

 

Unter allen andern Umständen hätte er sich bei der Neugierde, die ihm dieser Mann eingeflößt, ihm zu erkennen gegeben; aber das Gespräch, das er bei dieser Veranlassung gehört, war so vertraulicher Natur, daß ihn die Überzeugung, seine Erscheinung müßte ihm unangenehm sein, zurückhielt. Doch während er fern blieb, gelobte er sich, daß er sich eine zweite Gelegenheit mit ihm zu sprechen, nicht entschlüpfen lassen wollte.

 

Franz war zu sehr von seinen Gedanken in Anspruch genommen, um zu schlafen. Er brachte die Nacht damit hin, daß er alle Umstände, die sich auf den Mann in der Grotte und den Unbekannten im Kolosseum bezogen und die auf die Gleichheit beider Personen deuteten, in Erwägung zog; und je mehr Franz nachdachte, desto mehr wurde er in seiner Meinung, es sei ein und dieselbe Person, bestärkt. Er entschlummerte bei Tagesanbruch und erwachte daher sehr spät. Albert hatte als echter Pariser bereits seine Maßregeln für den Abend getroffen und eine Loge im Theater Argentina genommen. Franz mußte mehrere Briefe schreiben und überließ deshalb Albert den Wagen für den ganzen Tag. Um fünf Uhr kehrte Albert zurück; er hatte seine Empfehlungsbriefe abgegeben, Einladungen für alle Abende erhalten und Rom gesehen.

 

Albert war in der letzten Zeit sehr unzufrieden, denn seit den vier Monaten, wo er Italien in allen Richtungen durchkreuzte, hatte er nicht ein einziges galantes Abenteuer gehabt. Die Sache war um so peinlicher, als er, nach der bescheidenen Anschauung seiner Landsleute, von Paris mit der Überzeugung abgereist war, er würde in Italien die größten Erfolge erringen. Ach! es war dem nicht so gewesen; die reizenden genuesischen, florentinischen und neapolitanischen Gräfinnen hielten sich zwar nicht an ihre Ehemänner, aber an ihre Liebhaber, und Albert erlangte die grausame Überzeugung, die Italienerinnen hätten vor den Französinnen wenigstens den Vorzug, daß die meisten in ihrer Untreue treu blieben.

 

Und dennoch war Albert nicht nur ein vollkommen eleganter Kavalier, sondern auch ein Mann von viel Geist; ferner war er Vicomte, allerdings Vicomte von neuem Adel; doch heutzutage, wo man keine Ahnenproben mehr zu liefern hat, was liegt daran, ob der Adelstitel von 1399 oder von 1815 datiert? Dabei hatte er, was schwerer ins Gewicht fiel, fünfzigtausend Franken Rente, und das war mehr, als man brauchte, um in Paris Mode zu sein. Es erschien also einigermaßen demütigend, daß er in keiner von den Städten, die er besucht, Aufsehen erregt hatte.

 

Er hoffte sich in Rom zu entschädigen, da der Karneval in allen Ländern der Erde, die dieses herrliche Fest feiern, eine Zeit der Freiheit ist, wo sich die Strengsten zu einer Tollheit hinreißen lassen. Weil nun der Karneval am andern Tage begann, so war es für Albert von großer Wichtigkeit, sich der vornehmen Welt noch vorher bemerklich zu machen. Er hatte daher eine von den am meisten ins Auge fallenden Logen des Theaters gemietet, und eine tadellose Toilette gemacht. Indes hegte er noch eine andere Hoffnung: er dachte, wenn es ihm gelänge, einen Platz im Herzen einer schönen Römerin zu erobern, so würde er damit natürlich auch einen Platz in einem Wagen erlangen und er dann in der Lage sein, den Karneval von der Höhe eines aristokratischen Gefährtes oder eines fürstlichen Balkons herab zu genießen.

 

Alle diese Gedanken trugen dazu bei, Albert lebhafter zu machen, als er es je gewesen war. Er wandte den Schauspielern den Rücken zu, neigte sich mit halbem Leibe aus der Loge heraus, lorgnettierte alle jungen Frauen, was aber keine bewog, ihn mit einem einzigen Blicke zu belohnen. Alle Plauderten von ihren eigenen Angelegenheiten, von ihren Liebschaften, von ihren Vergnügungen, vom Karneval, von der nächsten heiligen Woche, ohne nur einen Augenblick den darstellenden Künstlern oder dem Stücke die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Gegen das Ende des ersten Aktes öffnete sich die Tür einer Loge, die bis jetzt leer geblieben war, und Franz sah eine Dame eintreten, der er in Paris vorgestellt zu werden die Ehre gehabt hatte; bis dahin war er der Meinung gewesen, sie befände sich noch in Frankreich. Albert sah, daß sein Freund beim Erscheinen der Dame erregt wurde, wandte sich zu ihm und fragte: Kennen Sie diese Frau?

 

Ja; wie finden Sie sie?

 

Reizend, mein Lieber. Es ist eine Französin?

 

Nein, eine Venetianerin!

 

Und sie heißt?

 

Gräfin***.

 

Ah! ich kenne sie dem Namen nach, rief Albert; man sagt, sie sei ebenso geistreich als hübsch. Teufel! Wenn ich bedenke, daß ich mich ihr bei dem letzten Ball von Frau von Villefort hätte vorstellen lassen können, und daß ich Dummkopf dies versäumte!

 

In diesem Augenblick gewahrte die Gräfin Franz und machte ihm mit der Hand ein anmutiges Zeichen, das er mit einer höflichen Verbeugung erwiderte.

 

Ah! es scheint mir, Sie stehen sehr gut mit ihr? sagte Albert.

 

Mein Lieber, was Sie hier täuscht und was uns Franzosen im Auslande tausend Albernheiten begehen läßt, ist, daß wir alles von unserm Pariser Gesichtspunkt betrachten. In Spanien und in Italien besonders dürfen Sie die Vertrautheit der Leute nie nach der Freiheit in ihren Umgangsformen beurteilen. Wir haben eine gewisse Sympathie zu einander gehegt, das ist alles.

 

Endlich fiel der Vorhang zur großen Freude des Vicomte von Morcerf, der seinen Hut nahm und seinen Freund bat, ihn der Gräfin vorzustellen. Die beiden Freunde betraten die Loge der Gräfin, und Franz stellte Albert als einen durch gesellschaftliche Stellung und Geist ausgezeichneten Kavalier vor. Er fügte hinzu, in Verzweiflung darüber, daß er den Aufenthalt der Gräfin in Paris nicht benutzt, um sich ihr vorstellen zu lassen, habe er ihn beauftragt, diesen Fehler gutzumachen, und er entledige sich dieses Auftrags, indem er die Gräfin, bei der er selbst eines Fürsprechers bedurft hätte, bitte, seine Unbescheidenheit entschuldigen zu wollen. Die Gräfin antwortete, Albert anmutig begrüßend und Franz die Hand reichend. Von ihr eingeladen, nahm Albert den leeren Platz vorn ein, und Franz setzte sich in die zweite Reihe hinter die Gräfin.

 

Albert fand einen vortrefflichen Gegenstand zur Unterhaltung: Paris; er sprach mit der Gräfin von ihren gemeinschaftlichen Bekannten. Franz seinerseits ließ sich von seinem Freunde dessen Riesenlorgnette geben und fing ebenfalls an, sich im Saal umzusehen. Allein, auf dem Vordersitze einer Loge, im dritten Rang ihnen gegenüber, saß eine bewunderungswürdig hübsche Frau in griechischem Kostüm, das sie mit so viel Anmut trug, daß es offenbar ihre Landestracht sein mußte. Hinter ihr saß ein Mann, dessen Gesicht sich jedoch nicht erkennen ließ. Franz unterbrach das Gespräch Alberts mit der Gräfin, um diese zu fragen, ob sie die schöne Albanesin kenne, die wohl würdig wäre, nicht nur die Aufmerksamkeit der Männer, sondern auch die der Frauen zu erregen.

 

Nein, sagte sie, ich weiß nur, daß sie seit dem Anfange der Saison in Rom ist, denn bei Eröffnung des Theaters habe ich sie da gesehen, wo sie jetzt sitzt, und seit einem Monat versäumt sie keine Vorstellung; bald begleitet sie der Mann, der in diesem Augenblick bei ihr ist, bald folgt ihr nur ein schwarzer Diener.

 

Franz und die Gräfin tauschten ein Lächeln aus, dann setzte die Gräfin ihr Gespräch mit Albert fort, während Franz wieder seine Albanesin betrachtete. Die Ouverture des zweiten Aktes begann. Bei den ersten Bogenstrichen sah Franz den Herrn aufstehen und sich der Griechin nähern, die sich umwandte, um einige Worte an ihn zu richten, und sich abermals mit dem Ellenbogen auf die Brüstung der Loge stützte. Das Gesicht ihres Begleiters war immer noch im Schatten, und Franz vermochte seine Züge nicht zu unterscheiden.

 

Der Vorhang ging auf, Franzens Aufmerksamkeit richtete sich nun selbstverständlich auf die Schauspieler, und seine Augen verließen für kurze Zeit die Loge der schönen Griechin, um sich nach der Szene zu richten.

 

Als der zweite Akt zu Ende war, wollte er eben Beifall spenden, als das Bravo, das seinem Munde entschlüpfen wollte, auf seinen Lippen erstarb.

 

Der Mann in der Loge war völlig aufgestanden, und Franz erkannte nun in ihm, da sein Kopf vom Licht getroffen wurde, den geheimnisvollen Bewohner von Monte Christo, den Mann, dessen Stimme er am Abend zuvor in den Ruinen des Kolosseums wiederzuhören geglaubt hatte. Es unterlag keinem Zweifel, der fremde Reisende wohnte in Rom. Wahrscheinlich drückte sich auf Franzens Gesicht die Unruhe aus, die diese Erscheinung in seinem Innern hervorrief, denn die Gräfin schaute ihn an und fragte ihn, was er hätte.

 

Frau Gräfin, antwortete Franz, wenn ich Sie vorhin fragte, ob Sie jene albanesische Frau kennen, so frage ich Sie nun, ob Sie ihren Gatten kennen.

 

Ebensowenig als sie. Jedenfalls, sagte sie, mit Alberts Glas nach der Loge sehend, muß es aber ein Abgeschiedener sein, der mit Erlaubnis des Totengräbers aus seinem Sarge gestiegen ist, denn er sieht furchtbar blaß aus.

 

So sieht er immer aus, sagte Franz.

 

Sie kennen ihn also? sagte die Gräfin; dann ist es an mir, Sie zu fragen, wer er ist.

 

Ich habe ihn, glaube ich, bereits gesehen und erkenne ihn wieder.

 

In der Tat, sagte die Gräfin, während sie mit den Schultern eine Bewegung machte, als durchliefe ein Schauer ihre Adern, ich begreife, daß man einen solchen Menschen nie vergißt, wenn man ihn einmal gesehen hat.

 

Die Wirkung, die Franz an sich empfunden, war also keine besondere, da sie sich auch bei einer andern Person fühlbar machte.

 

Nun! fragte Franz die Gräfin, als sie zum zweiten Male zu dem Fremden hinübersah, was denken Sie von diesem Manne?

 

Hören Sie, erwiderte die Gräfin, der verstorbene Lord Byron hat mir geschworen, er glaube an Vampire, er sagte mir sogar, er habe welche gesehen. Er schilderte mir ihr Gesicht, und wahrhaftig, gerade so, wie ich’s dort drüben sehe: die schwarzen Haare, die großen, von seltsamem Feuer glänzenden Augen, die Totenblässe; bemerken Sie ferner, daß er mit keiner gewöhnlichen Frau zusammen ist, es ist eine Fremde, eine Griechin, … eine Abtrünnige … eine Magierin ohne Zweifel, wie er …

 

Die Gräfin war in der Tat sehr erregt, und Franz selbst konnte sich einem gewissen abergläubischen Schrecken nicht entziehen, der um so natürlicher erschien, als das, was bei der Gräfin die Folge eines instinktartigen Eindrucks war, bei ihm durch bestimmte Erinnerungen hervorgebracht wurde. Er fühlte, daß sie zitterte, als sie in den Wagen stieg. Er begleitete sie nach Hause; es war niemand da, und sie wurde nicht erwartet; Franz machte ihr darüber einen Vorwurf.

 

In der Tat, sagte sie zu ihm, ich fühle mich nicht wohl und bedarf der Einsamkeit; der Anblick dieses Menschen hat mich völlig verstört.

 

Franz versuchte zu lachen.

 

Lachen Sie nicht, sagte die Gräfin; Sie haben auch gar keine Lust dazu. Aus Gründen, die ich Ihnen nicht sagen kann, wünschte ich zu erfahren, wer dieser Mann ist, woher er kommt und wohin er geht. Aber nun guten Abend! Schlafen Sie wohl, ich weiß, wer nicht schlafen wird.

 

Als Franz in den Gasthof kam, fand er Albert im Schlafrock eine Zigarre rauchend und wütend darüber, daß ihm der Hotelbesitzer wiederholt erklärt hatte, daß zu dem Karneval weder ein Wagen noch ein Fenster zum Zuschauen mehr zu bekommen sei.

 

Auch Franz bedauerte lebhaft das Mißgeschick, als der Wirt nochmals eintrat und sagte: Der Graf von Monte Christo, der auf dem gleichen Stocke mit Ihnen wohnt, hat durch mich von der Verlegenheit, in der Sie sich befinden, gehört und bietet Ihnen zwei Plätze in seinem Wagen und zwei an seinen Fenstern im Palaste Rospoli an.

 

Albert und Franz schauten einander ins Gesicht.

 

Können wir das Anerbieten eines Fremden, eines uns völlig unbekannten Mannes annehmen? fragte Albert.

 

Wer ist dieser Graf von Monte Christo? fragte Franz den Wirt.

 

Ein vornehmer Herr aus Sizilien oder Malta, ich weiß nicht genau, aber edel wie ein Borghese und reich wie eine Goldmine.

 

In diesem Augenblick klopfte man an die Tür.

 

Auf Franzens Herein erschien ein Diener in sehr zierlicher Livree auf der Schwelle und sprach: Von dem Grafen von Monte Christo für Herrn Franz d’Epinay und den Herrn Vicomte Albert von Morcerf.

 

Und er reichte dem Wirte zwei Karten, die dieser den jungen Leuten zustellte.

 

Der Herr Graf von Monte Christo, fuhr der Diener fort, läßt die Herren um Erlaubnis bitten, sich ihnen als Nachbar morgen früh vorstellen zu dürfen; er wird die Ehre haben, sich bei den Herren erkundigen zu lassen, um welche Stunde sie zu sprechen sind.

 

Sagen Sie dem Grafen, antwortete Franz, wir werden die Ehre haben, ihm unsern Besuch zu machen.

 

Der Bediente entfernte sich.

 

Das nenne ich mit Artigkeit erstürmen, rief Albert; Sie haben offenbar recht, Herr Wirt, Ihr Graf von Monte Christo ist ein Mann von der besten Lebensart.

 

Das Anerbieten von zwei Plätzen an einem Fenster des Palastes Rospoli erinnerte Franz an das Gespräch, das er in den Ruinen des Kolosseums zwischen seinem Unbekannten und dem Trasteveriner gehört, wobei der Mann mit dem Mantel die Verbindlichkeit übernommen hatte, Begnadigung für einen Verurteilten zu erlangen. War aber der Mann im Mantel, wie Franz allem Anschein nach glauben mußte, derselbe, dessen Erscheinen im Theater Argentina ihn so sehr in Anspruch genommen hatte, so erkannte er ihn ohne Zweifel wieder, und nichts sollte ihn dann abhalten, seine Neugierde in Bezug auf seine Person zu befriedigen.

 

Franz brachte einen Teil der Nacht damit zu, daß er von dem zweimaligen Auftauchen des Grafen träumte und den andern Tag herbeiwünschte. Der andere Tag sollte wirklich alles aufklären, und diesmal – besäße sein Wirt von Monte Christo nicht den Ring des Gyges und damit die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen – würde er ihm sicherlich nicht entgehen. Er erwachte vor acht Uhr und ließ sogleich den Wirt rufen.

 

Herr Wirt, sagte er zu ihm, soll nicht heute eine Hinrichtung stattfinden?

 

Ja, aber wenn Sie mich fragen, um einen Platz dazu zu bekommen, so wird es zu spät sein.

 

Wahrscheinlich werde ich nicht hingehen; doch möchte ich gern die Anzahl der Verurteilten, ihre Namen und die Art der Hinrichtung wissen.

 

Das trifft sich gut, Exzellenz, man hat mir soeben die Tavolette gebracht.

 

Was ist das: Tavolette?

 

Die Tavolette sind hölzerne Täfelchen, die man am Tage vor einer Hinrichtung an allen Straßenecken anhängt, und worauf die Namen der Verurteilten, der Grund ihrer Verurteilung und die Art ihrer Hinrichtung angegeben sind. Damit werden die Gläubigen aufgefordert, zu Gott zu beten, er möge den Schuldigen eine aufrichtige Reue verleihen. Ich will sie Ihnen gleich holen.

 

Einen Augenblick später brachte er Franz die Tafel. Auf dieser stand wörtlich:

 

Es wird hiermit männiglich zu wissen getan, daß Dienstag den 22. Februar am ersten Tage des Karnevals durch Spruch des Tribunals der Rota auf der Piazza del popolo Andrea Rondolo, schuldig des Mordes an der Person des hochwürdigen und hochverehrten Don Cäsar Torlini, Kanonikus der Kirche St. Giovanni in Laterano, und Peppino, genannt Rocca Priori, überwiesen der Genossenschaft mit dem verabscheuungswürdigen Banditen Luigi Vampa und den Leuten seiner Bande, hingerichtet werden sollen. Der erste wird mazzolato (totgeschlagen) und der zweite decapitato (enthauptet). Mitleidige Seelen wollen Gott um aufrichtige Reue für diese unglücklichen Verurteilten bitten.

 

Das war genau dasselbe, was Franz zwei Tage vorher in den Ruinen des Kolosseums gehört hatte. Somit war aller Wahrscheinlichkeit nach der Trasteveriner kein anderer, als der Bandit Luigi Vampa, und der Mann im Mantel Simbad der Seefahrer, der in Rom, wie in Porto Vecchio und Tunis als Menschenfreund in den Gang der Gerichte eingriff.

 

Indessen war es neun Uhr geworden, und Franz schickte sich an, Albert zu wecken, als dieser zu seinem großen Erstaunen ganz angekleidet aus seinem Zimmer trat. Der Karneval ließ ihn nicht länger schlafen und hatte ihn früher auf die Beine gebracht, als sein Freund dies hoffte.

 

Franz und Albert hatten, um zum Grafen von Monte Christo zu gelangen, dem sie ihre Aufwartung machen wollten, nur den Flur zu durchschreiten. Der Wirt ging voran und klingelte für sie; ein Diener öffnete, verbeugte sich und bedeutete durch ein Zeichen, sie möchten eintreten. Sie durchschritten zwei Zimmer, die mit einem Luxus ausgestattet waren, den sie in Pastrinis Gasthofe nicht vermutet hätten, und gelangten endlich in einen Salon von vollkommener Eleganz. Ein türkischer Teppich war auf dem Boden ausgebreitet, und die behaglichsten Möbel mit schwellenden Kissen und zurückgebogenen Lehnen luden zum Sitzen ein. Herrliche Gemälde hingen neben kunstvollen Waffen an den Wänden, und große gestickte Vorhänge wogten von allen Fenstern und Türen.

 

Wollen sich Eure Exzellenzen setzen, sagte der Diener, ich werde den Herrn benachrichtigen. Und er verschwand durch eine der Türen.

 

Nun, fragte Franz seinen Freund, was sagen Sie zu all diesen Herrlichkeiten?

 

Meiner Treu, mein Lieber, unser Nachbar muß ein Wechselagent sein, der auf das Fallen der spanischen Papiere spekuliert hat, oder ein Fürst, der inkognito reist.

 

Still! Wir werden es bald erfahren, denn hier kommt er. Eine Tür öffnete sich, der Vorhang hob sich, und der Besitzer dieser Reichtümer erschien. Albert ging ihm entgegen, Franz aber blieb wie an seinen Platz genagelt.

 

Der Eintretende war kein andrer, als der Mann mit dem Mantel im Kolosseum, der Unbekannte der Loge, der geheimnisvolle Wirt von Monte Christo.

 

Mazzolalo

 

Mazzolalo

 

Meine Herren, sagte der Graf von Monte Christo eintretend, ich bitte Sie tausendmal um Entschuldigung, daß ich mir zuvorkommen ließ, aber ich fürchtete, wenn ich früher bei Ihnen erschiene, unbescheiden zu sein.

 

Franz und ich sind Ihnen den größten Dank schuldig, Herr Graf, erwiderte Albert; Sie entziehen uns in der Tat einer großen Verlegenheit.

 

Ei! mein Gott, erwiderte der Graf, indem er die beiden jungen Männer ersuchte, sich auf einen Diwan zu setzen, es ist Pastrinis Fehler, wenn ich Sie so lange in Verlegenheit ließ; er sagte mir kein Wort von Ihrer mißlichen Lage, während ich nur eine Gelegenheit suchte, mit meinen Nachbarn Bekanntschaft zu machen. Sie haben auch gesehen, wie ich im ersten Augenblick, wo ich erfuhr, ich könnte Ihnen in irgend einer Beziehung nützlich sein, mit allem Eifer diese Veranlassung ergriff, um Ihnen meine Achtung zu beweisen.

 

Die jungen Leute verbeugten sich. Franz hatte noch kein Wort sprechen können, er hatte auch noch keinen Entschluß gefaßt, und da nichts bei dem Grafen seinen Willen, ihn zu erkennen, oder den Wunsch, von ihm erkannt zu werden, andeutete, so wußte er nicht, ob er mit irgend einem Worte auf die Vergangenheit anspielen, oder es der Zukunft überlassen sollte, ihm neue Beweise an die Hand zu geben. Völlig überzeugt, daß derselbe Mann am Tage vorher in der Loge gewesen, konnte er nicht ebenso bestimmt dafür stehen, daß er zwei Tage vorher im Kolosseum verweilt hatte. Er beschloß daher, die Dinge ihren Gang gehen zu lassen, ohne dem Grafen irgend eine bestimmte Eröffnung zu machen. Überdies war er ihm in gewisser Beziehung überlegen, da er Herr seines Geheimnisses war. Mittlerweile wollte er jedoch das Gespräch auf einen Punkt bringen, der einiges Licht in das Dunkel werfen könnte, und er sagte:

 

Herr Graf, Sie haben uns Plätze in Ihrem Wagen und an Ihren Fenstern im Palaste Rospoli angeboten, können Sie uns nun auch noch sagen, wie wir uns einen Platz auf der Piazza del popolo verschaffen?

 

Ah! das ist wahr, entgegnete der Graf mit zerstreuter Miene, zugleich aber Morcerf mit besonderer Aufmerksamkeit anschauend, findet auf der Piazza del popolo nicht eine Hinrichtung oder dergleichen statt?

 

Ja, antwortete Franz, als er sah, daß der Graf von selbst dahin kam, wohin er ihn bringen wollte.

 

Ah! ich glaube, ich habe gestern meinen Intendanten beauftragt, hierfür zu sorgen; vielleicht kann ich Ihnen noch einen kleinen Dienst leisten.

 

Er streckte die Hand nach einer Klingelschnur aus.

 

Es trat ein Mann von 50 Jahren ein, der fast aufs Haar dem Schmuggler glich, durch den Franz in die Grotte geführt wurde, der ihn aber durchaus nicht zu erkennen schien.

 

Herr Bertuccio, sagte der Graf, haben Sie sich meinem Auftrag gemäß bemüht, mir ein Fenster auf der Piazza del popolo zu verschaffen?

 

Ja, Exzellenz, es ist das, welches vom Fürsten Lobanieff gemietet worden war; doch ich mußte hundert …

 

Gut, gut, Herr Bertuccio, erlassen Sie uns diese Berechnungen; Sie haben das Fenster, weiteres ist nicht nötig. Geben Sie dem Kutscher die Adresse des Hauses, und stellen Sie sich auf die Treppe, um uns zu führen!

 

Der Intendant verbeugte sich und machte einen Schritt, um sich zu entfernen.

 

Oh! fügte der Graf hinzu, tun Sie mir den Gefallen und fragen Sie Pastrini, ob er die Tavoletta erhalten habe und ob er mir das Programm der Hinrichtung schicken wolle.

 

Das ist nicht nötig, versetzte Franz, seine Schreibtafel aus der Tasche ziehend, ich habe den Zettel gelesen und kopiert; hier ist er.

 

Sie können gehen, Herr Bertuccio, ich bedarf Ihrer nicht mehr. Man melde uns nur, wenn das Frühstück aufgetragen ist. Diese Herren, fuhr er, sich an die beiden Freunde wendend, fort, werden mir die Ehre erzeigen, mit mir zu frühstücken?

 

In der Tat, Herr Graf, das hieße Ihre Güte mißbrauchen, erwiderte Albert.

 

Im Gegenteil, Sie machen mir ein großes Vergnügen; einer oder der andere von Ihnen, vielleicht beide, vergelten mir das alles einmal in Paris.

 

Er nahm die Schreibtafel aus Franzens Händen und las mit einem Tone, als seien es »Kleine Anzeigen«, die uns bekannte Ankündigung von der Hinrichtung der beiden Verurteilten. Ja, in der Tat, sagte er dann, so sollte die Sache anfangs vor sich gehen; aber ich glaube, seit gestern hat man sich zu einer Programmänderung entschlossen.

 

Bah! rief Franz.

 

Ja, gestern war bei dem Kardinal Rospigliosi, wo ich den Abend zubrachte, glaub‘ ich, die Rede von einem Aufschube, der einem von den Verurteilten bewilligt sein soll.

 

Andrea Rondolo? fragte Franz.

 

Nein, dem andern, erwiderte gleichgültig der Graf, dem andern – er warf einen Blick auf die Schreibtafel, als suchte er sich des Namens zu erinnern – Peppino, genannt Rocca Priori. Sie verlieren also eine Guillotinierung, aber es bleibt Ihnen noch die Mazzolata, die eine interessante Art von Hinrichtung ist, wenn man die Sache zum erstenmal sieht, und selbst noch zum zweitenmal, während die andre, Ihnen jedenfalls auch bekannte Art, zu einfach, zu einförmig erscheint, um das Zuschauen zu lohnen. Oh! fügte der Graf verächtlich hinzu, reden Sie mir nicht von den Europäern, was Hinrichtungen betrifft, sie verstehen nichts davon und stecken wahrhaftig in dieser Beziehung noch in den Kinderjahren oder vielmehr im Greisenalter.

 

In der Tat, Herr Graf, erwiderte Franz, man sollte glauben, Sie hätten das Hinrichtungsverfahren bei den verschiedenen Völkern der Welt zum Gegenstand eines vergleichenden Studiums gemacht.

 

Es gibt wenige Arten, die ich nicht gesehen habe, antwortete kalt der Graf.

 

Und Sie fanden ein Vergnügen daran, so furchtbaren Schauspielen beizuwohnen?

 

Mein erstes Gefühl war Widerstreben, mein zweites Gleichgültigkeit, mein drittes Neugierde.

 

Neugierde? Das Wort ist schrecklich!

 

Warum? Es gibt im Leben nur eine ernste Sache, die unser ganzes Wesen erfaßt, und das ist der Tod. Ist nun nicht das Studium anziehend, auf welch verschiedene Arten die Seele aus dem Leibe gehen kann, und wie nach den Charakteren, nach den Temperamenten und selbst nach den Sitten der Länder die einzelnen Menschen diesen Übergang vom Sein zum Nichts ertragen? Ich meinesteils stehe Ihnen für eines: je mehr man sterben gesehen hat, desto leichter wird es einem zu sterben; meiner Ansicht nach ist der Tod vielleicht eine Strafe, aber keine Sühne.

 

Ich begreife Sie nicht ganz, sprach Franz.

 

Hören Sie, versetzte der Graf, und sein Gesicht unterlief sich mit Galle. Wenn ein Mensch durch unerhörte Qualen, unter endlosen Martern Ihren Vater, Ihre Mutter, Ihre Geliebte, kurz eines von den Wesen hätte sterben lassen, die, aus Ihrem Herzen gerissen, eine ewige Leere, eine stets blutende Wunde darin zurücklassen, würden Sie die Genugtuung, die Ihnen das Gesetz durch die Guillotine gewährt, für hinreichend erachten, weil der, welcher Sie jahrelang moralische Leiden erdulden ließ, ein paar Sekunden lang körperliche Schmerzen ausgestanden hat?

 

Ja, ich weiß, versetzte Franz, die menschliche Gerechtigkeit ist als Trösterin ungenügend; sie kann Blut für Blut vergießen, und mehr nicht; man muß nicht mehr von ihr verlangen, als sie zu tun vermag.

 

Und ich setze noch den Fall, wo die Gesellschaft, durch den Tod eines Menschen in der Grundlage angegriffen, worauf sie beruht, den Tod durch den Tod rächt. Gibt es aber nicht Millionen von Schmerzen, von denen die Eingeweide des Menschen zerrissen werden können, ohne daß sich die Welt nur im geringsten darum kümmert, und ohne daß sie ihm auch nur das ungenügende Mittel einer Rache bietet, von der wir soeben gesprochen haben? Gibt es nicht Verbrechen, für die der Pfahl der Türken, die Nervenzerrung der Irokesen noch zu gelinde Strafen wären, während sie die gleichgültige Gesellschaft völlig straflos läßt … antworten Sie mir, gibt es nicht solche Verbrechen?

 

Ja, versetzte Franz, und um sie zu bestrafen, ist das Duell geduldet.

 

Ah! das Duell, rief der Graf, eine schöne Art, zu seinem Ziele zu gelangen, wenn das Ziel Rache ist. Es hat Ihnen ein Mensch Ihre Geliebte geraubt, Ihre Frau verführt, Ihre Tochter entehrt; er hat aus einem ganzen langen Leben ein Dasein des Schmerzes, des Elends oder der Schande gemacht, und Sie halten sich für gerächt, weil Sie diesem Menschen, der Ihnen Wahnsinn in den Geist, Verzweiflung ins Herz pflanzte, einen Degenstich in die Brust gegeben oder eine Kugel vor den Kopf geschaffen haben? Abgesehen davon, daß er oft siegreich aus dem Kampfe hervorgeht, in den Augen der Welt rein gewaschen und von Gott gleichsam freigesprochen wird. Nein, nein, wenn ich mich je zu rächen hätte, würde ich mich nicht auf diese Art rächen.

 

Sie mißbilligen also das Duell, Sie würden sich nicht auf einen Zweikampf einlassen? fragte Albert, erstaunt, eine so seltsame Theorie aussprechen zu hören.

 

Oh! doch wohl, erwiderte der Graf. Verstehen wir uns recht! Ich würde mich schlagen wegen einer Erbärmlichkeit, wegen einer Beleidigung, wegen einer Ohrfeige, wenn man mich einer Lüge bezichtigen wollte, und dies mit um so mehr Kaltblütigkeit, als ich infolge der Gewandtheit, die ich in allen körperlichen Übungen erlangt habe, infolge langer Gewöhnung an die Gefahr so gut wie sicher wäre, meinen Mann zu töten. Aber für einen tiefen, endlosen, ewigen Schmerz würde ich, wenn es möglich wäre, einen ähnlichen Schmerz dem bereiten wollen, der ihn mir verursacht hätte. Auge um Auge, Zahn um Zahn, wie die Orientalen sagen … unsere Meister in allen Dingen, diese Auserwählten der Schöpfung, die sich ein Leben der Träume und ein Paradies der Wirklichkeit zu bereiten gewußt haben. – Aber auf Ehre, meine Herren, wir führen da ein sonderbares Gespräch für einen Karnevalstag; setzen wir uns vor allem zu Tische, denn man meldet, daß aufgetragen ist.

 

Ein Diener öffnete eine von den vier Türen des Salons. Die jungen Männer standen auf und gingen in den Speisesaal. Während des Frühstücks, das aus allen möglichen Leckerbissen bestand und mit dem feinsten Luxus serviert wurde, suchte Franz mit den Augen Alberts Blick, um darin den Eindruck zu lesen, den die Worte ihres Wirtes, wie er nicht zweifelte, auf ihn hervorgebracht haben mußten. Er fand aber seinen Gefährten nicht im geringsten ergriffen; er erwies im Gegenteil dem Mahle die schuldige Ehre. Der Graf dagegen, den Alberts Person merkwürdig zu beunruhigen schien, berührte die Schüsseln kaum. Es war, als erfüllte er, wenn er sich mit seinen Gästen zu Tische setzte, nur eine einfache Pflicht der Höflichkeit, und als erwarte er ihr Fortgehen, um sich irgend ein besonderes Gericht vorsetzen zu lassen. Dies erinnerte Franz unwillkürlich an den Schrecken, den der Graf der Gräfin G*** eingeflößt, und an ihre Überzeugung, der Mann, den er ihr in der Loge gegenüber der ihrigen gezeigt, sei ein Vampir. Als das Frühstück zu Ende war, zog Franz seine Uhr.

 

Nun! … sagte der Graf zu ihm, was machen Sie denn?

 

Sie werden uns entschuldigen, Herr Graf, erwiderte Franz, wir haben noch tausenderlei zu besorgen. Wir besitzen zum Beispiel noch keine Maskenanzüge, und heute ist die Verkleidung strengstes Gebot.

 

Sorgen Sie nicht hierfür! Wir haben auf der Piazza del popolo ein besonderes Zimmer; ich lasse dahin die Kostüme bringen, die Sie mir gefälligst bezeichnen wollen, und wir maskieren uns, während wir dort verweilen.

 

Nach der Hinrichtung? rief Franz.

 

Nachher, während derselben oder vorher, wie Sie wollen.

 

Im Angesicht des Schafotts?

 

Das Schafott bildet einen Teil des Festes.

 

Vorwärts also, da Sie es so wollen, sagte Franz; doch wünschte ich beim Gange nach der Piazza del popolo über den Korso zu kommen.

 

Gut, über den Korso! Wir schicken den Wagen voraus mit dem Befehl, uns auf der Piazza del popolo zu erwarten; überdies ist es nur auch nicht unangenehm, wenn wir den Korso passieren, denn ich kann mich bei dieser Gelegenheit überzeugen, ob meine Befehle vollzogen worden sind.

 

In diesem Augenblick öffnete ein Diener die Tür und meldete: Exzellenz, ein Mensch in der Tracht eines Büßers wünscht Sie zu sprechen.

 

Ah ja, sagte der Graf, ich weiß. Meine Herren, wollen Sie in den Salon zurückkehren, Sie finden auf dem Tische einige Havanna; ich folge Ihnen sogleich.

 

Die jungen Männer standen auf und gingen zu einer Tür hinaus, während sich der Graf, nachdem er seine Entschuldigung wiederholt hatte, durch die andere entfernte.

 

Nun, sagte Franz zu Albert, was denken Sie von dem Grafen von Monte Christo?

 

Was ich denke? erwiderte dieser, sichtbar erstaunt, daß Franz eine solche Frage an ihn richtete. Ich denke, er ist ein sehr angenehmer Mann, der vortrefflich die Honneurs seines Hauses macht, viel gesehen, viel nachgedacht, viel studiert hat, der einem Brutus der stoischen Schule gleicht, und der, fügte er hinzu, indem er eine Rauchwolke ausstieß, die in einer Schneckenlinie zum Plafond aufstieg, und der ausgezeichnete Zigarren besitzt.

 

Dies war die Ansicht, die Albert über den Grafen äußerte. Da Franz aber wußte, sein Freund urteile nur nach eigener Überzeugung, er bilde seine Ansicht über Menschen und Dinge erst nach reiflicher Erwägung, so bemerkte er nichts dagegen und fragte nur: Doch haben Sie die Aufmerksamkeit bemerkt, mit der er Sie betrachtete?

 

Albert dachte nach.

 

Ah! rief er, einen Seufzer ausstoßend, darüber darf man sich nicht wundern. Ich bin fast ein Jahr von Paris abwesend und muß Kleider wie ein Hinterwäldler haben. Der Graf wird mich für einen Menschen aus der Provinz halten; ich bitte Sie, klären Sie ihn darüber bei der nächsten Gelegenheit auf.

 

Franz lächelte; einen Augenblick nachher kehrte der Graf zurück.

 

Hier bin ich, meine Herren, sagte er, und ich stehe nun ganz zu Ihren Diensten. Nehmen Sie von diesen Zigarren, Herr von Morcerf, fügte er hinzu, indem er einen seltsamen Nachdruck auf diesen Namen legte, den er zum erstenmal aussprach.

 

Mit großem Vergnügen; wenn Sie nach Paris kommen, werde ich es Ihnen vergelten.

 

Ich weise das nicht von mir ab, denn ich gedenke eines Tages dorthin zu gehen und werde dann, wenn Sie es mir erlauben, an Ihre Tür klopfen.

 

Alle drei gingen hinab und schlugen den Weg über die Piazza di Spagna nach der Via Frattina ein, die sie gerade an den Palast Rospoli führte. Franz schaute nach diesem Palaste; er hatte das im Kolosseum zwischen dem Manne mit dem Mantel und dem Trasteveriner verabredete Signal nicht vergessen.

 

Welche Fenster gehören Ihnen? fragte er den Grafen mit dem natürlichsten Tone, den er anzunehmen vermochte.

 

Die drei letzten, erwiderte der Graf mit einer Nachlässigkeit, die nichts Geheucheltes hatte.

 

Franzens Augen richteten sich rasch nach den drei Fenstern. An den beiden Seitenfenstern erblickte er Vorhänge von gelbem Damast, an dem mittleren einen Vorhang von weißem Damast mit rotem Kreuz. Der Mann mit dem Mantel hatte dem Trasteveriner Wort gehalten; es unterlag keinem Zweifel mehr, der Mann mit dem Mantel war der Graf. Die drei Fenster waren noch leer. Man traf übrigens auf allen Seiten Vorbereitungen, man stellte Stühle, schlug Gerüste auf und behing die Fenster. Erst mit dem Klange der Glocke durften die Masken erscheinen und die Wagen fahren.

 

Franz, Albert und der Graf setzten ihren Weg auf dem Korso fort. Je mehr sie sich der Piazza del popolo näherten, desto dichter wurde die Menge, und schon sah man über den Häuptern des Volkes zwei Gegenstände emporragen: im Mittelpunkt des Platzes den Obelisken, überragt von einem Kreuze, und davor die beiden obersten Balken des Schafotts, zwischen denen das runde Eisen glänzte.

 

An der Ecke der Straße fand man den Intendanten des Grafen, der seinen Herrn erwartete. Das gemietete Fenster gehörte zu dem zweiten Stocke des zwischen der Strada del Babuino und dem Monte Pincio liegenden großen Palastes. Es lag in einem Ankleidekabinett, das in ein Schlafzimmer ging; schloß man die Tür des Schlafzimmers, so waren die Mieter des Kabinetts für sich allein; auf den Stühlen lagen die zierlichsten Bajazzo-Anzüge von weiß-blauem Atlas.

 

Da Sie mir die Wahl der Tracht überließen, so wählte ich diese, sagte der Graf. Einmal wird sie in diesem Jahre am meisten Mode sein, und dann ist sie das Bequemste für die Konfetti, da man das Mehl nicht darauf bemerkt.

 

Franz hörte kaum die Worte des Grafen, denn seine ganze Aufmerksamkeit war von dem Schauspiel, das die Piazza del popolo bot, und von dem furchtbaren Werkzeuge gefesselt, das zu dieser Stunde ihren Hauptzierrat bildete. Er sah zum erstenmal eine Guillotine.

 

Zwei Männer, die Gehilfen des Nachrichters, die auf dem Brette saßen, woraus man den Verurteilten legt, frühstückten in Erwartung der Dinge und aßen, soviel Franz sehen konnte, Brot und Würste; der eine hob das Brett auf, zog eine Flasche Wein hervor, trank einen Schluck und reichte sie seinem Kameraden. Schon bei diesem Anblick fühlte Franz den Schweiß an den Wurzeln seiner Haare hervorbrechen.

 

Am Abend zuvor von den neuen Gefängnissen in die kleine Kirche Santa-Maria-del-Popolo geführt, hatten die Verurteilten, jeder unter dem Beistande von zwei Priestern, die Nacht in einer schwarz ausgeschlagenen Kapelle zugebracht, die mit einem Gitter verschlossen war, vor dem Schildwachen auf und ab gingen. Eine doppelte Reihe von Carabinieri stand von der Kirchentür bis zum Blutgerüst, um das herum sich diese Doppelreihe schloß. Der ganze übrige Platz war mit Männer- und Frauenköpfen wie gepflastert, während viele Frauen ihre Kinder auf den Schultern hielten.

 

Der Monte Pincio sah aus wie ein weites Amphitheater, dessen Plätze insgesamt mit Zuschauern überfüllt waren; die Balkone der Kirchen waren von bevorzugten Neugierigen vollgepfropft; jeder Mauervorsprung trug lebendige Statuen. Was der Graf sagte, entsprach also der Wahrheit: das Interessanteste im Leben ist das Schauspiel des Todes. Und dennoch stieg statt des Stillschweigens, das die Feierlichkeit dieser Szene zu fordern schien, ein Geräusch aus dieser Menge empor, das sich aus Gelächter, Gezisch und freudigem Geschrei zusammensetzte; die Hinrichtung war eben, wie der Graf ebenfalls gesagt hatte, für all dieses Volk nichts anderes, als der Anfang des Karnevals.

 

Plötzlich hörte der Lärm wie durch einen Zauberschlag auf; die Tür der Kirche hatte sich geöffnet. Mönche von der Brüderschaft der Büßer, deren Mitglieder insgesamt in graue, nur an den Augen ausgehöhlte Säcke gekleidet waren und eine angezündete Kerze in der Hand hielten, erschienen zuerst. Hinter den Büßern kam ein Mensch von hoher Gestalt; dieser Mensch war nackt, abgesehen von einer Leinwandhose, an deren linker Seite er ein großes in seiner Scheide verborgenes Messer befestigt hatte; auf der Schulter trug er eine schwere eiserne Keule. Es war der Henker. Unter den Füßen hatte er noch mit Stricken angebundene Sandalen. Hinter dem Henker marschierten in der Ordnung, in der sie hingerichtet werden sollten, zuerst Peppino und dann Andrea, jeder von zwei Priestern begleitet. Keiner hatte die Augen verbunden. Peppino ging festen Schrittes einher; ohne Zweifel hatte er Kunde von dem, was sich für ihn vorbereitete. Andrea wurde unter dem Arme durch einen Priester unterstützt. Beide küßten von Zeit zu Zeit das Kruzifix, das ihnen der Beichtiger darbot.

 

Franz fühlte, wie ihm bei diesem Anblick die Beine den Dienst versagten; er schaute Albert an. Dieser war blaß wie sein Hemd und warf unwillkürlich seine Zigarre von sich. Nur der Graf allein sah unempfindlich aus. Mehr noch, es schien sogar eine leichte Röte die Leichenblässe seiner Wangen durchdringen zu wollen. Seine Nase erweiterte sich wie die eines wilden Tieres, das Blut riecht. Bei alledem hatte sein Antlitz einen Ausdruck lächelnder Sanftmut, den Franz nie an ihm wahrgenommen; seine Augen besonders waren von bewunderungswürdiger Weichheit und Milde.

 

Die Verurteilten setzten indessen den Weg nach dem Schafott fort, und ihre Gesichtszüge ließen sich nach und nach deutlicher unterscheiden. Peppino war ein hübscher Junge von etwa 25 Jahren, mit sonnverbranntem Gesichte und freiem, wildem Blicke. Er trug den Kopf hoch und schien den Wind einzuziehen, als wollte er sehen, von welcher Seite sein Befreier käme. Andrea war dick und kurz; sein gemein grausames Gesicht ließ das Alter nicht genau erkennen; er mochte jedoch ungefähr dreißig Jahre zählen. Im Gefängnis hatte er seinen Bart wachsen lassen. Der Kopf fiel ihm auf eine Schulter herab, seine Beine bogen sich unter der Last; sein Körper schien nur einem mechanischen Triebe zu gehorchen, an dem sein Wille keinen Teil mehr hatte.

 

Wie mir scheint, kündigten Sie uns an, es würde nur eine Hinrichtung stattfinden? sagte Franz zu dem Grafen.

 

Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, antwortete er kalt.

 

Hier sind aber zwei Verurteilte.

 

Ja, doch von den zwei Verurteilten ist der eine dem Tode nahe, während der andere noch lange Jahre zu leben hat.

 

Soll die Gnade kommen, so ist meiner Ansicht nach keine Zeit zu verlieren.

 

Sie kommt schon, sehen Sie dort! sagte der Graf.

 

In dem Augenblick, wo Peppino am Fuße des Schafotts anlangte, drang ein Büßer, der sich verspätet zu haben schien, durch die Hecke der Soldaten, ohne daß diese Widerstand leistete, eilte auf den Anführer der Brüderschaft zu und überreichte ihm ein zusammengelegtes Papier. Peppinos glühender Blick war diesem Vorgang mit äußerster Spannung gefolgt. Der Anführer der Brüderschaft entfaltete das Papier, las es, hob die Hand auf und sagte mit lauter, verständlicher Stimme:

 

Der Herr sei gesegnet und Seine Heiligkeit sei gelobt! Man hat dem Leben eines Gefangenen Gnade angedeihen lassen.

 

Gnade! rief das Volk mit einem Schrei; begnadigt!

 

Bei dem Worte schien Andrea emporzuspringen und den Kopf aufzurichten.

 

Gnade für wen? rief er.

 

Die Todesstrafe ist Peppino, genannt Rocca Priori, erlassen. antwortete der Anführer der Priesterschaft und übergab das Papier dem die Carabinieri befehligenden Kapitän, der es ihm, nachdem er es gelesen hatte, zurückstellte.

 

Gnade für Peppino! rief Andrea, völlig aus der Starrheit erwachend, in die er versunken zu sein schien. Warum Gnade für ihn und nicht für mich? Wir sollten miteinander sterben, man versprach mir, er würde vor mir sterben, man darf mich nicht allein sterben lassen; ich will nicht allein sterben, nein, ich will nicht.

 

Und er hing sich an die Arme der Priester und krümmte sich und heulte und brüllte und strengte sich wahnsinnig an, die Stricke zu zerreißen, mit denen seine Hände gebunden waren. Der Henker machte seinen Gehilfen ein Zeichen: sie sprangen vom Schafott herab und bemächtigten sich des Verurteilten.

 

Was gibt es denn? fragte Franz den Grafen, denn da alles in römischer Mundart gesprochen wurde, hatte er’s nicht gut verstanden.

 

 

Was es gibt? erwiderte der Graf, erraten Sie es nicht? Dieser Mensch, der sterben soll, ist wütend darüber, daß der andre nicht mit ihm stirbt, und wenn man ihn gewähren ließe, würde er ihn eher mit seinen Nägeln und Zähnen zerreißen, als ihn das Leben genießen lassen, dessen er selbst beraubt werden soll. Oh! Menschen, Menschen! Krokodilenbrut, wie Karl Moor sagt, rief er, seine beiden Fäuste nach der Menge ausstreckend, wie erkenne ich euch hier, und wie sehr seid ihr jeder Zeit euer selbst würdig.

 

Andrea und die beiden Gehilfen des Henkers wälzten sich wirklich im Staube, wobei der Verurteilte fortwährend ausrief: Er muß sterben, ich will, daß er sterbe, man hat nicht das Recht, mich allein umzubringen. Die Knechte trugen Andrea schließlich auf das Schafott, alles Volk nahm gegen ihn Partei, und zwanzigtausend Stimmen riefen wie mit einem Schrei: Tötet ihn! tötet ihn! Franz warf sich zurück, aber der Graf ergriff ihn am Arm und hielt ihn am Fenster fest.

 

Was machen Sie denn? sagte er zu ihm; Mitleid? Das wäre in der Tat gut angebracht! Wenn Sie rufen hörten: Dort ist ein wütender Hund! so würden Sie Ihr Gewehr nehmen, auf die Straße eilen und das arme Tier niederschießen, dessen ganze Schuld am Ende darin bestände, daß es, von einem andern Hunde gebissen, das, was man ihm getan, vergilt. Und Sie haben Mitleid mit einem Menschen, den kein anderer Mensch gebissen, und der dennoch seinen Wohltäter umgebracht hat, und nun, da er nicht mehr umbringen kann, weil seine Hände gebunden sind, mit aller Gewalt seinen Kerkergefährten, seinen Unglückskameraden sterben sehen will? Sehen Sie, sehen Sie!

 

Diese Ausforderung war überflüssig geworden, Franz war von dem furchtbaren Schauspiel wie von einem Blendwerk ergriffen. Die Knechte hatten den Verurteilten auf das Schafott geschleppt und ihn hier, trotz seines Widerstrebens, seines Beißens, seines Geschreis, genötigt, sich auf die Knie zu werfen; währenddessen stellte sich der Henker an seine Seite und hielt die Keule empor; auf ein Zeichen zogen sich die Gehilfen zurück. Der Verurteilte wollte sich erheben, doch ehe er dazu Zeit hatte, fiel die Keule auf seine linke Schläfe; man hörte ein dumpfes, mattes Geräusch, und der Verbrecher stürzte mit dem Gesicht voran wie ein geschlagener Ochs zur Erde. Der Henker ließ nun die Keule aus seinen Händen sinken, zog das Messer aus seinem Gürtel und öffnete dem Opfer mit einem Schnitte die Gurgel.

 

Nun konnte es Franz nicht mehr aushalten; er warf sich zurück und fiel halb ohnmächtig in einen Lehnstuhl. Albert blieb mit geschlossenen Augen auf seinen Füßen, klammerte sich aber an den Vorhängen an, ohne deren Unterstützung er gewiß gefallen wäre.

 

Der Graf stand aufrecht und triumphierend wie der Racheengel.

 

Das Protokoll.

 

Das Protokoll.

 

Noirtier wartete, schwarz gekleidet, in seinem Lehnstuhle. Als die drei Personen, die er kommen zu sehen hoffte, eingetreten waren, schloß sein Kammerdiener sogleich wieder die Tür.

 

Merke Wohl auf, sagte leise Villefort zu Valentine, die ihre Freude nicht verbergen konnte, wenn Herr Noirtier Dinge mitteilen will, welche deine Heirat verhindern, so verbiete ich dir, ihn zu verstehen.

 

Valentine errötete, antwortete aber nicht.

 

Villefort näherte sich Noirtier und sagte zu ihm: Hier ist Herr Franz d’Epinay; Sie haben nach ihm verlangt, mein Herr, und er fügt sich Ihrem Verlangen. Allerdings wünschten wir diese Zusammenkunst seit geraumer Zeit, und ich werde entzückt sein, wenn sie Ihnen beweist, wie wenig Ihr Widerstreben gegen Valentines Heirat begründet war.

 

Noirtier antwortete nur durch einen Blick, bei dem Villeforts Adern ein Schauer durchlief. Er bedeutete Valentine durch ein Zeichen mit dem Auge, sie möge sich nähern.

 

Durch die Mittel, deren sie sich in ihren Unterhaltungen mit ihrem Großvater zu bedienen pflegte, hatte sie in einem Augenblick das von ihm gewünschte Wort Schlüssel gefunden. Dann befragte sie den Blick des Gelähmten, der sich auf die Schublade eines kleinen, zwischen zwei Fenstern stehenden Schrankes heftete. Als sie diesen Schlüssel herausgenommen, wandten sich die Augen des Gelähmten nach einem alten, seit Jahren vergessenen Sekretär.

 

Soll ich den Sekretär öffnen? fragte Valentine. Ja, machte der Greis.

 

Soll ich die Schubladen öffnen? – Ja.

 

Die mittlere? – Ja.

 

Valentine öffnete und zog ein Bündel Papiere heraus.

 

Ist das, was Sie wünschen, guter Vater? fragte sie.

 

Der Greis schüttelte den Kopf, und sie zog nach und nach alle anderen Papiere heraus.

 

Aber die Schublade ist nun leer, sagte sie.

 

Noirtiers Augen hefteten sich auf das Wörterbuch.

 

Ja, guter Vater, ich begreife Sie, sagte das Mädchen.

 

Und sie fing an die Buchstaben des Alphabets nacheinander herzusagen; bei dem Buchstaben G hielt sie Noirtier an.

 

Ah! Ein geheimes Fach? – Ja, machte Noirtier.

 

Und wer kennt es?

 

Noirtier schaute nach der Tür, durch welche der Bediente weggegangen war.

 

Barrois? sagte sie. – Ja, machte Noirtier.

 

Valentine ging an die Tür und rief Barrois. Während dieser Zeit floß der Schweiß der Ungeduld von Villeforts Stirn, während Franz im höchsten Maße erstaunt zu sein schien. Der alte Diener trat ein.

 

Barrois, sagte Valentine, mein Großvater hat mir befohlen, diesen Sekretär zu öffnen und dieses Schubfach herauszuziehen; nun ist bei diesem Schubfach ein Geheimnis, das Sie, wie es scheint, kennen; öffnen Sie!

 

Barrois gehorchte; ein doppelter Boden öffnete sich, und es wurden mehrere mit schwarzem Band umwickelte Papiere sichtbar.

 

Wünschen Sie das, mein Herr? fragte Barrois. – Ja.

 

Wem soll ich diese Papiere übergeben, Herrn von Villefort? – Nein.

 

Fräulein Valentine? – Nein.

 

Herrn Franz d’Epinay? – Ja.

 

Franz machte erstaunt einen Schritt vorwärts und sagte:

 

Mir, mein Herr? – Ja.

 

 

Franz empfing die Papiere aus Barrois‘ Händen und las die Aufschrift: Nach meinem Tode bei meinem Freunde, dem General Durand, zu hinterlegen, der sterbend dieses Paket seinem Sohne mit der Einschärfung vermachen wird, dasselbe, da es ein Papier von der größten Wichtigkeit enthält, aufzubewahren.

 

Nun, mein Herr? fragte Franz, was soll ich mit diesem Papier machen?

 

Sie sollen es ohne Zweifel versiegelt, wie es ist, behalten, sagte der Staatsanwalt.

 

Nein, nein, erwiderte der Greis lebhaft.

 

Sie wünschen vielleicht, daß es der Herr lesen möge? fragte Valentine.

 

Ja, antwortete der Greis.

 

Sie hören, Herr Baron? Mein Großvater bittet Sie, dieses Papier zu lesen, sagte Valentine.

 

So setzen wir uns, sagte Villefort voll Ungeduld, denn das wird lange dauern.

 

Villefort setzte sich, aber Valentine blieb neben ihrem Großvater, auf seinen Lehnstuhl gestützt, stehen, und Franz stand vor ihr und hielt das geheimnisvolle Papier in der Hand.

 

Lesen Sie! sagten die Augen des Greises.

 

Franz machte den Umschlag los, und es trat eine tiefe Stille in dem Zimmer ein. Inmitten dieser Stelle las er:

 

Auszug aus den Protokollen einer Sitzung des bonapartistischen Klubs der Rue Saint-Jacques, gehalten im 5. Febr. 1815.

 

Franz hielt inne.

 

Am 5. Februar 1815, sagte er, das ist der Tag, an dem mein Vater ermordet wurde!

 

Valentine und Villefort blieben stumm; nur das Auge des Greises sprach klar: Fahren Sie fort! Franz las weiter:

 

Die Unterzeichneten, Louis Beauregard, Generalleutnant der Artillerie, Etienne Duchampy, Brigadegeneral, und Claude Lecharpale, Direktor der Forsten, erklären, daß am 4. Februar 1815 ein Brief von der Insel Elba ankam, der dem Wohlwollen und dem Vertrauen der Mitglieder des bonapartistischen Klubs den General Flavier von Quesnel empfahl, der dem Kaiser von 1805 bis 1814 gedient hatte und der Napoleonischen Dynastie trotz des Baronentitels, den ihm Ludwig XVIII. soeben unter Benutzung des Namens seines Landgutes Epinay verliehen hatte, völlig ergeben sein mußte. Demzufolge wurde ein Schreiben an den General von Quesnel gerichtet, worin man ihn bat, der Sitzung am fünften beizuwohnen. Das Schreiben gab weder die Straße noch die Hausnummer an, wo die Versammlung stattfinden sollte: es hatte seine Unterschrift und teilte dem General nur mit, wenn er sich bereit halten wolle, so werde man ihn um neun Uhr abends abholen. Um neun Uhr abends erschien der Präsident des Klubs bei dem General: der General war bereit. Der Präsident bemerkte ihm, es sei eine der Bedingungen seiner Einführung, daß er nie den Ort der Zusammenkunft wüßte, daß er sich die Augen verbinden ließe und schwüre, er werde die Binde nicht abzunehmen suchen. Der General von Quesnel nahm die Bedingung an und machte sich bei seinem Ehrenwort anheischig, nicht sehen zu wollen, wohin man ihn führte. Der General hatte seinen Wagen anspannen lassen, aber der Präsident erklärte ihm, man könnte sich seiner unmöglich bedienen, da es sich nicht der Mühe lohne, die Augen des Herrn zu verbinden, wenn dem Kutscher die Augen offen blieben, und er zu erkennen vermöchte, durch welche Straßen man käme.

 

Was ist dann zu tun? fragte der General. –

 

Ich habe meinen Wagen bei mir, sagte der Präsident. –

 

Sind Sie Ihres Kutschers so sicher, daß Sie ihm ein Geheimnis anvertrauen, das Sie dem meinigen anzuvertrauen für unklug halten?

 

Unser Kutscher ist ein Mitglied des Klubs, erwiderte der Präsident, wir werden von einem Staatsrate gefahren.

 

Dann sind wir einer andern Gefahr ausgesetzt, nämlich der, umgeworfen zu werden, sagte der General lachend.

 

Wir bezeichnen diesen Scherz als einen Beweis dafür, daß der General nicht entfernt gezwungen war, der Sitzung beizuwohnen, und daß er sie durchaus freiwillig besuchte. Sobald man in den Wagen gestiegen war, erinnerte der Präsident den General an sein Versprechen, sich die Augen verbinden zu lassen. Der General machte keine Einwendung gegen diese Förmlichkeit. Der Wagen hielt vor einem Hause der Rue Saint-Jacques. Der General stieg aus und stützte sich dabei auf den Arm des Präsidenten, ohne dessen Würde zu kennen; man durchschritt den Gang, stieg einen Stock hinauf und trat in das Beratungszimmer.

 

Die Sitzung hatte begonnen. Von der Einladung des Barons benachrichtigt, waren die Mitglieder des Klubs vollzählig versammelt. Als der General die Mitte des Saales erreicht hatte, wurde er aufgefordert, seine Binde abzunehmen. Er entsprach sogleich dieser Ausforderung und schien sehr erstaunt, eine so große Anzahl von bekannten Gesichtern in einer Gesellschaft zu finden, von deren Dasein er bis dahin nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Man befragte ihn über seine Gesinnung, doch er begnügte sich zu antworten, der Brief von der Insel Elba habe dieselbe bekannt machen müssen …

 

Franz unterbrach sich mit den Worten: Mein Vater war Royalist, man hatte nicht nötig, ihn um seine Gesinnung zu befragen, sie war bekannt.

 

Und daher rührte meine Verbindung mit Ihrem Vater, mein lieber Herr Franz, sagte Villefort; man verbindet sich leicht, wenn man gleicher Meinung ist.

 

Lesen Sie, sprach abermals das Auge des Greises. Franz fuhr fort:

 

Der Präsident nahm nun das Wort und forderte den General auf, sich deutlicher zu erklären; doch Herr von Quesnel antwortete, er wünschte vor allem zu wissen, was man von ihm verlange. Es wurde nun dem General eben dieser Brief von der Insel Elba mitgeteilt, der ihn dem Klub als einen Mann empfahl, auf dessen Mitwirkung man zählen könne. Es war sodann von der beabsichtigten Rückkehr von der Insel Elba die Rede, worauf ein neuer Brief mit umfassenderen Einzelheiten angekündigt wurde, den der Pharao, ein dem Reeder Morel in Marseille gehörendes Schiff mit einem dem Kaiser ganz und gar ergebenen Kapitän, überbringen würde. Während der Vorlesung des Briefes gab der General, auf den man wie auf einen Bruder zählen zu können glaubte, im Gegenteil Zeichen der Unzufriedenheit und des sichtbaren Widerstrebens von sich.

 

Als der Brief zu Ende war, verharrte er schweigend und mit gerunzelter Stirn.

 

Nun! fragte der Präsident, was sagen Sie zu diesem Briefe, Herr General?

 

Ich sage, soeben hat man erst dem König Ludwig XVIII. einen Eid geleistet und will ihn nun schon wieder um des Exkaisers willen brechen.

 

Diese Antwort war zu klar, als daß man sich über seine Gesinnung täuschen konnte.

 

General, sagte der Präsident, es gibt für uns ebensowenig einen König Ludwig XVIII. wie einen Exkaiser; es gibt nur Seine Majestät den Kaiser und König, der seit zehn Monaten aus Frankreich, seinem Staate, durch Gewalt und Verrat entfernt worden ist.

 

Verzeihen Sie, meine Herren, sagte der General, es ist möglich, daß es für Sie keinen Ludwig XVIII. gibt, aber es gibt einen für mich, da er mich zum Baron und zum Feldmarschall gemacht hat, und da ich nie vergessen werde, daß ich diese Titel seiner glücklichen Rückkehr nach Frankreich zu danken habe.

 

Mein Herr, sagte der Präsident mit äußerst strengem Tone, während er sich erhob, geben Sie wohl acht auf das, was Sie reden; Ihre Worte sagen uns deutlich, daß man sich auf der Insel Elba in Ihnen getäuscht, und daß man uns getäuscht hat! Die Mitteilung, die man Ihnen gemacht, ist Folge des Vertrauens, das man in Sie setzte, und somit eines Gefühles, das Sie ehrt. Wir waren im Irrtum; ein Titel und ein Amt haben Sie mit der neuen Regierung ausgesöhnt, die wir umstürzen wollen. Wir werden Sie nicht zwingen, uns Ihren Beistand zu leihen, wir reihen niemand wider sein Gewissen und wider seinen Willen ein; doch wir werden Sie zwingen, als ein ehrenhafter Mann zu handeln, selbst wenn Sie nicht dazu geneigt sein sollen.

 

Sie nennen als ein ehrenwerter Mann handeln Ihre Verschwörung kennen und sie nicht enthüllen! Ich nenne das Ihr Mitschuldiger sein. Sie sehen, daß ich noch offenherziger bin, als Sie …

 

Ah! mein Vater, sagte Franz, sich unterbrechend, ich begreife nun, warum Sie dich ermordet haben.

 

Valentine konnte sich nicht enthalten, einen Blick auf Franz zu werfen; der junge Mann war wirklich schön in der Begeisterung des Sohnes. Villefort ging im Zimmer auf und ab.

 

Noirtier verfolgte mit den Augen den Ausdruck jedes Anwesenden und beobachtete seine würdige, starre Haltung. Franz fuhr fort:

 

Mein Herr, sagte der Präsident, man hat Sie gebeten, sich in den Schoß der Versammlung zu begeben, und schleppte Sie durchaus nicht mit Gewalt hierher; man forderte von Ihnen, Sie sollten Ihre Augen verbinden, und Sie willigten ein. Als Sie diesem doppelten Verlangen entsprachen, wußten Sie vollkommen, daß wir uns nicht damit beschäftigten, Ludwig XVIII. den Thron zu sicher, sonst wären wir nicht so bemüht gewesen, uns vor der Polizei zu verbergen. Sie begreifen, es wäre nur zu bequem, eine Maske vorzunehmen, mit deren Hilfe man die Geheimnisse der Leute erforscht, und dann ganz einfach die Maske abzulegen, um die zu Grunde zu richten, deren Vertrauen man genossen hat. Nein, nein, Sie werden uns vor allem offenherzig sagen, ob Sie für den Zufallskönig sind, der in diesem Augenblick regiert, oder für Seine Majestät den Kaiser?

 

Ich bin Royalist, antwortete der General, ich habe Ludwig XVIII. einen Eid geschworen und werde ihn halten. Auf diese Worte erfolgte ein allgemeines Gemurmel, und man konnte aus den Blicken einer großen Anzahl von Mitgliedern des Clubs ersehen, daß sie in ihrem Innern die Frage verhandelten, ob sie nicht Herrn d’Epinay diese unklugen Worte bereuen lassen sollten. Der Präsident stand abermals auf und gebot Stillschweigen.

 

Mein Herr, sagte er, Sie sind ein zu ernster und zu verständiger Mann, um nicht die Folgen der Lage zu begreifen, in der wir uns gegenseitig befinden, und Ihre Offenherzigkeit gerade diktiert uns die Bedingungen, die wir stellen müssen: Sie werden uns schwören, nichts von dem zu enthüllen, was Sie gehört haben.

 

Der General fuhr mit der Hand nach seinem Degen und rief: Wenn Sie von Ehre sprechen, so fangen Sie damit an, daß Sie die Gesetze nicht mißachten und nicht Gewalt anwenden.

 

Und Sie, mein Herr, fuhr der Präsident mit einer Ruhe fort, die vielleicht furchtbarer war, als der Zorn des Generals, berühren Sie Ihren Degen nicht, das rate ich Ihnen. Der General warf Blicke umher, die einige Unruhe verrieten. Er beugte sich jedoch noch nicht, sondern sagte, seine ganze Kraft sammelnd: Ich schwöre nicht.

 

Dann müssen Sic sterben, erwiderte ruhig der Präsident. Herr d’Epinay wurde sehr bleich; er schaute einen Augenblick umher; mehrere Mitglieder des Klubs wisperten und suchten Waffen unter ihren Mänteln.

 

General, sagte der Präsident, seien Sie unbesorgt, Sie sind unter Männern von Ehre, die jedes Mittel versuchen werden, um Sie zu überzeugen, ehe sie zum Äußersten schreiten; doch Sie sind auch unter Verschworenen; Sie besitzen unser Geheimnis und müssen es uns zurückgeben.

 

Ein bedeutungsvolles Schweigen folgte auf diese Worte, und als der General nicht antwortete, sagte der Präsident zu den Dienern: Schließt die Türen.

 

Abermals trat eine Totenstille ein. Da schritt der General vor und sagte heftig: Ich habe einen Sohn und muß, da ich mich unter Mördern befinde, an ihn denken.

 

General, sagte voll Adel das Haupt der Versammlung, ein einziger Mensch hat immer das Recht fünfzig zu beleidigen; es ist das Recht des Schwachen. Nur hat er unrecht, von diesem Rechte Gebrauch zu machen. Glauben Sie mir, General, schwören Sie und beleidigen Sie nicht. Abermals von der Hoheit des Vorsitzenden überwältigt, zögerte der General einen Augenblick; doch endlich schritt er zum Tische des Präsidenten und fragte: Wie lautet die Formel? Hören Sie: Ich schwöre bei meiner Ehre, nie irgend einem Menschen auf der Welt zu enthüllen, was ich am 5. Februar 1815 abends zwischen neun und zehn Uhr gesehen und gehört habe, und ich erkläre, daß ich den Tod verdiene, wenn ich meinen Schwur verletze.

 

Der General schien von einem nervösen Zittern ergriffen zu werden, das ihn einige Sekunden lang verhinderte zu antworten; endlich aber sprach er, ein sichtbares Widerstreben überwindend, den verlangten Eid, doch so leise, daß man es kaum hörte; es begehrten auch mehrere Mitglieder, daß er ihn mit lauterer Stimme und deutlicher wiederhole, was geschah.

 

Nun wünsche ich, mich entfernen zu dürfen, sagte der General, bin ich endlich frei? Der Präsident stand auf, bezeichnete drei Mitglieder der Versammlung, die ihn begleiten sollten, und stieg mit dem General in den Wagen, nachdem er ihm die Augen verbunden hatte. Unter den drei Mitgliedern war der Kutscher, der sie gebracht hatte. Die andern Mitglieder des Klubs trennten sich in der Stille.

 

Wohin sollen wir Sie führen? fragte der Präsident.

 

Überallhin, wo ich von Ihrer Gegenwart befreit werde, antwortete d’Epinay.

 

Mein Herr, versetzte der Präsident, nehmen Sie sich in acht, Sie sind hier nicht mehr in der Versammlung, Sie haben es mit einzelnen Menschen zu tun; beleidigen Sie sie nicht, wenn Sie nicht für die Beleidigung verantwortlich gemacht werden wollen.

 

Doch statt diese Sprache zu verstehen, erwiderte d’Epinay: Sie sind immer noch so mutig in Ihrem Wagen, wie in Ihrem Klub, aus dem einfachen Grunde, mein Herr, weil vier Männer stets stärker sind als ein einziger.

 

Der Präsident ließ den Wagen halten.

 

Man war gerade an der Ecke des Quai des Ormes, wo sich die Treppe findet, die zu dem Flusse hinabführt. Warum lassen Sie hier halten? fragte der General d’Epinay.

 

Weil Sie einen Mann beleidigt haben, mein Herr, antwortete der Präsident, und weil dieser Mann keinen Schritt mehr tun will, ohne auf loyale Weise Genugtuung von Ihnen zu verlangen.

 

Abermals eine Art zu morden, sagte der General, die Achseln zuckend.

 

Keinen Lärm, mein Herr, entgegnete der Präsident, wenn ich Sie nicht als einen von den Menschen betrachten soll, die Sie soeben bezeichneten, nämlich für einen Feigen, der seine Schwäche zum Schild nimmt. Sie sind allein, ein einziger wird Ihnen antworten; Sie haben einen Degen an der Seite, ich habe einen in meinem Stocke; Sie haben keinen Zeugen, einer von diesen Herren wird Ihnen als solcher dienen. Nun mögen Sie die Binde abnehmen, wenn es Ihnen beliebt. Der General riß sich auf der Stelle das Taschentuch von den Augen.

 

Endlich, sagte er, endlich werde ich erfahren, mit wem ich es zu tun habe.

 

Man öffnete den Wagen, und die vier Männer stiegen aus.

 

Franz unterbrach sich abermals und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn; es war furchtbar anzuschauen, wie er, bleich und zitternd, mit lauter Stimme die bis dahin unbekannten Umstände von dem Tode seines Vaters las. Valentine faltete die Hände, als ob sie betete. Noirtier schaute Villefort mit einem erhabenen Ausdruck der Verachtung und des Stolzes an.

 

 

Franz fuhr fort:

 

Es geschah dies, wie gesagt, am 5. Februar; es war eine finstere Nacht, der Boden der Treppe war bis zum Fluß feucht von Schnee und Rauhreif; man sah das Wasser schwarz und von Eisschollen bedeckt dahinfließen. Einer von den Zeugen suchte eine Laterne in einem Kohlenschiffe, und beim Scheine dieser Laterne prüfte man die Waffen. Der Degen des Präsidenten, ein einfacher Stockdegen, war fünf Zoll kürzer als der seines Gegners und hatte kein Stichblatt. Der General d’Epinay machte den Vorschlag, die Degen auszulosen; doch der Präsident erwiderte, von ihm gehe die Herausforderung aus, und er habe von vornherein in der Absicht gefordert, daß jeder sich seiner Waffe bediene. Die Zeugen wollten Einsprache tun, doch der Präsident gebot Ihnen Schweigen. Man setzte die Laterne auf den Boden; die Gegner stellten sich einander gegenüber; der Kampf begann. Das Licht machte aus den Degen zwei Blitze; die Männer gewahrte man kaum, so dicht war der Schatten. Der General d’Epinay galt für eine der besten Klingen der Armee. Aber er wurde bei den ersten Stößen so lebhaft bedrängt, daß er zurückwich, wobei er zu Falle kam.

 

Die Zeugen hielten ihn für tot, doch sein Gegner wußte, daß er ihn nicht berührt hatte, und bot ihm die Hand, um ihm ausstehen zu helfen. Statt ihn zu beschwichtigen, brachte dies den General so auf, daß er ebenfalls auf seinen Gegner eindrang. Doch sein Gegner wich nicht eine Linie. Dreimal zog sich der General vor der Degenspitze seines Gegners zurück und griff dann immer wieder an. Beim dritten Male fiel er abermals. Man glaubte, er sei ausgeglitten, wie das erste Mal; da ihn jedoch die Zeugen nicht wieder aufstehen sahen, näherten sie sich ihm und versuchten, ihn auf die Beine zu bringen; doch als man ihn um den Leib faßte, fühlte man Blut.

 

Der General, der halb ohnmächtig war, kam wieder zu sich und rief: Oh! einen Raufer, einen Fechtmeister hat man mir hinterlistig gegenüber gestellt. Ohne zu antworten, näherte sich der Präsident der Laterne, schlug seinen Ärmel zurück und zeigte seinen von zwei Degenstichen durchbohrten Arm; dann öffnete er seinen Rock, knöpfte seine Weste auf und ließ an seiner Seite eine dritte Wunde sehen. Er hatte keinen Seufzer ausgestoßen. Bei dem General d’Epinay trat der Todeskampf ein, und fünf Minuten nachher war er verschieden.

 

Franz las diese letzten Worte mit so gepreßter Stimme, daß man sie kaum hören konnte, und als er sie gelesen, fuhr er sich mit der Hand über die Augen, als wollte er eine Wolke vertreiben. Nach kurzem Schweigen las er fort:

 

Der Präsident stieg wieder die Treppe hinauf, nachdem er zuvor seinen Degen in den Stock gestoßen hatte; eine Blutspur bezeichnete seinen Weg auf dem Schnee. Er hatte noch nicht die oberste Stufe der Treppe erreicht, als er ein dumpfes Platschen hörte, es war der Körper des Generals, den die Zeugen, nachdem sie seines Todes gewiß waren, in den Fluß gestürzt hatten.

 

Der General ist folglich in einem ehrlichen Duell gefallen und nicht etwa meuchlings getötet worden.

 

Zur Beglaubigung dessen haben wir Gegenwärtiges unterzeichnet, um den wahren Tatbestand festzustellen, in der Befürchtung, es könnte ein Augenblick kommen, wo eine von den handelnden Personen dieser furchtbaren Szene des Mordes mit Vorbedacht oder der Verletzung der Gesetze der Ehre beschuldigt würde. Unterzeichnet

 

Beauregard, Duchampy und Lecharpale.

 

Als Franz die für ihn als Sohn so schreckliche Schrift gelesen, als Valentine, bleich vor Erschütterung, eine Träne getrocknet, als Villefort, zitternd und in einen Winkel gedrückt, durch flehende dem unversöhnlichen Greise zugesandte Blicke den Sturm zu beschwören versucht hatte, sagte d’Epinay zu Noirtier: Da Sie diese furchtbare Geschichte in allen ihren Einzelheiten kennen, da Sie sie durch ehrenwerte Unterschriften haben bezeugen lassen, da Sie sich für mich zu interessieren scheinen, obgleich sich Ihr Interesse bis jetzt nur durch den Schmerz kundgegeben hat, so verweigern Sie mir nicht eine letzte Genugtuung, nennen Sie mir den Namen des Präsidenten, damit ich endlich den kenne, der meinen armen Vater getötet hat.

 

Villefort suchte wie verwirrt die Türklinke; Valentine, welche die Antwort des Greises vorausahnte, da sie oft auf seinem Vorderarme die Spur von zwei Degenstichen wahrgenommen hatte, wich einen Schritt zurück.

 

Ich beschwöre Sie, mein Fräulein, sagte Franz, sich an seine Braut wendend, verbinden Sie Ihre Bitten mit den meinen, daß ich den Namen des Mannes erfahre, der mich im Alter von zwei Jahren zur Waise gemacht hat, Valentine blieb stumm und unbeweglich.

 

Ich bitte Sie, mein Herr, sagte Villefort, verlängern Sic diese Szene nicht; die Namen sind überdies absichtlich nie bekannt gegeben worden. Mein Vater kennt selbst den Präsidenten nicht, und wenn er ihn auch kennt, so vermag er ihn nicht zu nennen, da sich die Eigennamen nicht im Wörterbuch finden.

 

Oh weh! Die einzige Hoffnung, die mich beim Lesen dieser Schrift aufrecht erhalten und mir die Kraft gegeben hat, bis zum Ende auszuharren, war die, wenigstens den Namen dessen, der meinen Vater getötet, kennen zu lernen! Mein Herr! rief er, sich zu dem Greise umwendend, im Namen des Himmels! Tun Sie, was Sie können, bemühen Sie sich, ich flehe Sie an, mir begreiflich zu machen …

 

Ja, antwortete Noirtier.

 

Oh, mein Fräulein, rief Franz, Ihr Großvater bedeutet mir durch ein Zeichen, er könne mir diesen Namen angeben … helfen Sie mir … Sie verstehen ihn … leihen Sie mir Ihren Beistand!

 

Noirtier schaute das Wörterbuch an. Franz nahm es zitternd und sprach hintereinander die Buchstaben des Alphabets bis zum I aus.

 

Bei diesem Buchstaben machte der Greis ein bejahendes Zeichen.

 

I? wiederholte Franz.

 

Der Finger des jungen Mannes glitt über die Wörter hin, während Noirtier von Zeit zu Zeit ein verneinendes Zeichen machte und Valentine ihren Kopf in ihren Händen verbarg.

 

Bald gelangte Franz zu dem Worte: Ich.

 

Ja! machte der Greis.

 

Sie? rief Franz, dessen Haare sich auf seinem Haupte sträubten; Sie, Herr Noirtier, Sie haben meinen Vater getötet?

 

Ja, antwortete Noirtier, einen majestätischen Blick auf den jungen Mann heftend.

 

Franz fiel wie gelähmt auf einen Stuhl, Villefort aber öffnete die Tür und entfloh.

 

Die Fortschritte des Herrn Cavalranti Sohn.

 

Die Fortschritte des Herrn Cavalranti Sohn.

 

Herr Cavalcanti Vater war abgereist, um seinen Dienst wieder anzutreten, nicht in der Armee Seiner Majestät des Kaisers von Österreich, sondern an der Roulette der Bäder von Lucca, zu deren eifrigsten Kunden er gehörte. Es versteht sich von selbst, daß er gewissenhaft bis auf den letzten Heller die Summe mitgenommen hatte, die ihm für seine Reise und als Belohnung für die majestätische Art und Weise, wie er seine Vaterrolle gespielt, angewiesen worden war.

 

Andrea erbte bei dieser Abreise alle Papiere, die bestätigten, daß er wirklich die Ehre hatte, der Sohn des Marchese Bartolomeo und der Marchesa Oliva Corsinari zu sein.

 

Er hatte inzwischen gleichsam Anker geworfen in der Pariser Gesellschaft, die so leicht und nachsichtig die Fremden aufnimmt und sie nicht nach dem behandelt, was sie sind, sondern nach dem, was sie sein wollen. So nahm Andrea schon nach vierzehn Tagen eine recht hübsche Stellung ein; man nannte ihn Herr Graf, man sagte, er habe fünfzigtausend Franken Rente, und sprach von den ungeheuren Schätzen seines Vaters, die in den Steinbrüchen von Saravezza vergraben seien.

 

In dieser Zeit machte Monte Christo eines Abends einen Besuch bei Herrn Danglars. Dieser war ausgegangen; aber man schlug dem Grafen vor, ihn bei der Baronin anzumelden, was er auch annahm.

 

Seit dem Mittagsmahle in Auteuil und den Ereignissen, die darauf folgten, hörte Frau Danglars den Namen Monte Christo nie ohne nervöse Erregung aussprechen. Blieb dann der Graf in Person aus, so steigerte sich die schmerzliche Empfindung noch; erschien er dagegen, so zerstreuten sein offenes Gesicht, seine glänzenden Augen, seine Liebenswürdigkeit und Höflichkeit gar bald den letzten Eindruck von Furcht bei der Dame.

 

Als Monte Christo in das Boudoir trat, betrachtete die Baronin eben Zeichnungen, die ihr ihre Tochter hinreichte, nachdem diese sie mit Herrn Cavalcanti Sohn besehen hatte. Der Graf, von der Baronin nach Überwindung des ersten Schrecks bei Nennung seines Namens mit einem Lächeln begrüßt, übersah die ganze Szene mit einem Blicke. Neben der Baronin saß Eugenie in halb liegender Stellung auf einem Lehnsessel, und Cavalcanti stand vor ihr. Schwarz gekleidet mit lackierten Schuhen und durchbrochenen seidenen Strümpfen, fuhr sich der junge Mann mit einer ziemlich weißen und gepflegten Hand in seine blonden Haare, wobei ein Diamant an seiner Hand funkelte.

 

Diese Bewegung war von mörderisch verliebten Blicken auf Fräulein Danglars begleitet und von Seufzern, die sich an dieselbe Adresse richteten. Fräulein Danglars war immer dieselbe, das heißt schön, kalt und spöttisch. Kein Blick, kein Seufzer entging ihr, doch es war, als glitten sie am Panzer der Minerva ab.

 

Eugenie begrüßte den Grafen kalt, und sobald die Unterhaltung allgemein und etwas lauter wurde, benutzte sie dies, um sich in ihr Studierzimmer zurückzuziehen, wo bald zwei lachende Stimmen, vermischt mit den Akkorden eines Pianos, dem Grafen bewiesen, daß Fräulein Danglars seiner Gesellschaft und der des Herrn Cavalcanti die von Fräulein Luise d’Armilly, ihrer Gesanglehrerin, vorzog. Während der Graf mit Frau Danglars plauderte und sich ganz dem Reiz der Unterhaltung hinzugeben schien, bemerkte er doch die Unruhe des Herrn Andrea Cavalcanti, der, um zu horchen, bis an die Tür des Zimmers von Fräulein Eugenie ging, aber die Schwelle nicht zu überschreiten wagte.

 

Bald kehrte der Bankier zurück. Sein erster Blick galt Monte Christo, sein zweiter Andrea.

 

Haben Sie die Fräulein nicht eingeladen, mit Ihnen zu musizieren? fragte Danglars Andrea.

 

Nein, mein Herr, antwortete Andrea mit einem Seufzer, der noch auffälliger war als die früheren. Danglars ging sogleich zur Tür und öffnete sie, so daß man die beiden Mädchen auf demselben Sitze nebeneinander vor dem Piano sitzen sah. Fräulein d’Armilly besaß eine interessante Schönheit, oder vielmehr eine ausgesuchte Zierlichkeit. Es war eine kleine, feenartig schlanke und blonde Dame mit langen, gelockten Haaren, welche auf einen etwas zu gestreckten Hals fielen, und mit einem etwas matten, verschleierten Blick. Man sagte, sie habe eine schwache Brust und würde wie Antonia in der ›Cremoneser Geige‹ eines Tages beim Singen sterben.

 

Monte Christo warf einen raschen, neugierigen Blick in dieses Frauengemach; er sah zum ersten Male Fräulein d’Armilly, von der er so oft im Hause hatte sprechen hören.

 

Nun! fragte der Bankier seine Tochter, sind wir ausgeschlossen?

 

Dann führte er den jungen Mann in den kleinen Salon, und – war es nun Zufall, war es Absicht – hinter Andrea wurde die Tür so zugestoßen, daß Monte Christo und die Baronin von dem Orte, wo sie saßen, nichts mehr sehen konnten.

 

Bald darauf hörte der Graf Andreas Stimme zu den Akkorden des Klaviers ein korsisches Lied singen. Während der Graf lächelnd auf dieses Lied horchte, das ihn Andrea vergessen ließ und an Benedetto erinnerte, rühmte Frau Danglars die Seelenstärke ihres Mannes, der an demselben Morgen bei einem Bankerott in Mailand abermals 3-400 000 Franken verloren hatte. Und dieses Lob war in der Tat verdient; denn wenn es der Graf nicht durch die Baronin oder durch ein anderes ihm zu Gebot stehendes Mittel erfahren hätte, das Gesicht des Barons würde ihm kein Wort davon gesagt haben.

 

Gut! dachte Monte Christo, er ist bereits so weit, daß er verbirgt, was er verliert, während er sich vor einem Monat noch seiner Verluste rühmte.

 

Dann sagte der Graf laut: Oh! gnädige Frau, Herr Danglars kennt die Börse so gut, daß er dort stets wieder gewinnen wird, was er anderswo verlieren mag.

 

Ich sehe, daß Sie den allgemeinen Irrtum, Herr Danglars spiele, teilen. Das ist nicht der Fall.

 

Ach ja! das ist wahr. Gnädige Frau, ich erinnere mich dessen, was mir Herr Debray gesagt hat … Doch was ist eigentlich aus Herrn Debray geworden? Ich. habe ihn seit drei oder vier Tagen mit keinem Auge gesehen.

 

Ich auch nicht, sagte Frau Danglars mit der gelassensten Miene. Was haben Sie von Herrn Debray gehört?

 

Er hat mir gesagt, Sie selbst opferten dem Dämon des Spieles.

 

Ich gestehe, das Börsenspiel lockte mich eine Zeitlang; aber ich habe den Geschmack daran verloren.

 

Darin haben Sie unrecht, gnädige Frau. Mein Gott, die Wechselfälle des Glücks sind unberechenbar, und wäre ich ein Weib und zufällig Frau eines Bankiers geworden, so würde ich trotz allen Vertrauens zu meinem Manne mir doch ein unabhängiges Vermögen zu sichern suchen.

 

Frau Danglars errötete unwillkürlich.

 

Hören Sie, fuhr Monte Christo fort, als ob er nichts gesehen hätte, haben Sie gehört, wie gestern die Neapolitaner gestiegen sind?

 

Ich habe keine und habe nie welche gehabt, sagte rasch die Baronin; doch nun ist genug von der Börse gesprochen, Herr Graf, wir gleichen zwei Wechselagenten; reden wir lieber von den armen Villeforts, die in diesem Augenblick so sehr vom Unglück heimgesucht werden.

 

Was ist ihnen denn widerfahren? fragte Monte Christo mit gutgespielter Unwissenheit.

 

Sie wissen doch, daß sie nach dem plötzlichen Tode des Herrn von Saint-Meran auch die Marquise drei Tage nach ihrer Ankunft verloren haben.

 

Ah! es ist wahr, versetzte Monte Christo, ich habe davon gehört; doch das ist, wie Claudius zu Hamlet sagt, das Gesetz der Natur: ihre Väter sind vor ihnen gestorben, und sie haben sie beweint; sie werden vor ihren Söhnen sterben, und ihre Söhne werden sie beweinen.

 

Doch das ist noch nicht alles. Sie wissen doch, daß sie ihre Tochter verheiraten wollten? An Herrn Franz d’Epinay … Hat die Heirat nicht stattgefunden? – Gestern morgen hat ihnen Franz, scheint es, ihr Wort zurückgegeben. – Ah! wirklich … Kennt man die Ursache dieses Bruches? – Nein. – Und wie nimmt Herr von Villefort alle diese Unglücksfälle auf? – Wie immer, als Philosoph.

 

In diesem Augenblick kehrte Danglars zurück.

 

Wie! rief die Baronin, Sie lassen Herrn Cavalcanti mit Ihrer Tochter allein?

 

Und als was sehen Sie denn Fräulein d’Armilly an? erwiderte der Bankier und bemerkte sodann, sich an Monte Christo wendend: Ein reizender junger Mann, nicht wahr, Herr Graf, dieser Prinz Cavalcanti? Nur fragt es sich, ob er wirklich Prinz ist?

 

Ich stehe nicht dafür. Man hat mir seinen Vater als Marquis vorgestellt; demnach wäre er Graf. Doch ich glaube nicht, daß er sich viel auf seinen Titel einbildet.

 

Warum? Wenn er Prinz ist, so hat er unrecht, sich dessen nicht zu rühmen. Jedem sein Recht! Ich liebe es nicht, daß man seinen Ursprung verleugnet.

 

Aber sehen Sie, welcher Unannehmlichkeit Sie sich aussetzen, sagte die Baronin. Wenn Herr von Morcerf zufällig käme, so würde er Herrn Cavalcanti in einem Zimmer finden, in das er, der Bräutigam, nie eintreten durfte.

 

Sie tun recht, zufällig zu sagen, erwiderte der Bankier, denn man sieht ihn so selten, daß es in der Tat nur der Zufall zu sein scheint, der ihn zu uns führt.

 

Wenn er aber käme und diesen jungen Mann bei Ihrer Tochter träfe, so würde er mit Recht darüber aufgebracht sein.

 

Er! mein Gott, Sie täuschen sich; Herr Albert tut uns nicht die Ehre an, eifersüchtig auf seine künftige Frau zu sein, dazu liebt er sie nicht genug. Was liegt mir auch daran, ob er aufgebracht ist oder nicht.

 

Doch bei dem Verhältnis, in dem wir zu einander stehen …

 

Wollen Sie wissen, in welchem Verhältnis wir stehen? Auf dem Balle seiner Mutter tanzte er ein einziges Mal mit meiner Tochter, während Herr Cavalcanti dreimal mit ihr tanzte, und er hat es gar nicht bemerkt.

 

Der Herr Vicomte Albert von Morcerf, meldete der Kammerdiener.

 

Die Baronin stand rasch auf. Sie wollte ihre Tochter schnell benachrichtigen, aber Danglars hielt sie am Arme zurück und sagte:

 

Lassen Sie das!

 

Sie schaute ihn erstaunt an. Monte Christo stellte sich, als hätte er dieses Zwischenspiel nicht bemerkt.

 

Albert trat ein; er war sehr schön und sehr heiter, grüßte die Baronin mit Leichtigkeit, Danglars mit Vertraulichkeit, Monte Christo mit Liebe und sagte sodann, sich wieder zur Baronin wendend: Wollen Sie mir erlauben, mich bei Ihnen nach dem Befinden von Fräulein Danglars zu erkundigen?

 

Sie befindet sich sehr wohl, antwortete rasch Danglars, sie musiziert soeben in ihrem kleinen Salon mit Herrn Cavalcanti.

 

Albert behielt seine ruhige, gleichgültige Miene; er empfand vielleicht einen inneren Ärger, aber er fühlte Monte Christos Blick auf sich geheftet und bezwang sich.

 

Herr Cavalcanti hat eine sehr schöne Tenorstimme, sagte er, und Fräulein Danglars einen prachtvollen Sopran. Es muß ein entzückendes Konzert sein.

 

Sie stimmen allerdings vortrefflich zusammen, sagte Danglars.

 

Ich bin auch musikalisch, wenigstens wie meine Lehrer sagten, fuhr der junge Mann fort; doch seltsamerweise konnte ich meine Stimme nie mit einer andern Stimme in Einklang bringen.

 

Danglars lächelte auf eine Weise, die wohl bedeuten sollte: Ärgere dich doch! Dann sagte er laut: Der Prinz und meine Tochter haben auch gestern die allgemeine Bewunderung erregt. Waren Sie gestern nicht hier, Herr von Morcerf?

 

Welcher Prinz? fragte Albert.

 

Der Prinz Cavalcanti, erwiderte Danglars, der dem jungen Italiener hartnäckig diesen Titel gab.

 

Verzeihen Sie, ich wußte nicht, daß er Prinz ist. Also der Prinz Cavalcanti hat gestern mit Fräulein Eugenie gesungen! Das muß in Wahrheit entzückend gewesen sein, und ich bedaure lebhaft, es nicht gehört zu haben. Doch ich konnte Ihrer Einladung nicht entsprechen, da ich Frau von Morcerf zur Baronin Chateau-Renaud, wo die Deutschen sangen, begleiten mußte.

 

Dann wiederholte er nach einem Stillschweigen: Wird es mir erlaubt sein, Fräulein Danglars meine Achtung zu bezeigen?

 

Oh! warten Sie, warten Sie, ich bitte Sie, erwiderte der Bankier, den jungen Mann zurückhaltend, hören Sie die köstliche Cavatine: Ta, ta, ta, ti, ta, ti, ta, ta; es ist entzückend, sie sind sogleich fertig … nur eine Sekunde, vortrefflich! Bravo! bravo! bravi!

 

Und der Bankier fing an, wie wütend Beifall zu klatschen.

 

In der Tat, rief Albert, das ist vortrefflich, und man kann unmöglich die italienische Musik charakteristischer wiedergeben als der Prinz Cavalcanti. Nicht wahr, Sie sagten Prinz? Wenn er übrigens nicht Prinz ist, so wird man ihn schon noch dazu machen, denn das hält in Italien nicht schwer. Doch um auf unsere anbetungswürdigen Sänger zurückzukommen … Sie sollten uns das Vergnügen machen, Herr Danglars, Fräulein Danglars und Herrn Cavalcanti, ohne etwas von der Anwesenheit eines Fremden zu sagen, zu bitten, ein anderes Stück anzufangen. Es ist so köstlich, die Musik zu genießen, ohne daß man sieht, oder gesehen wird, und folglich, ohne den Musiker zu beengen, der sich ganz dem Instinkt seines Genies oder dem Ergusse seines Herzens überlassen kann.

 

Diesmal wurde Danglars durch das Phlegma des jungen Mannes aus dem Sattel gehoben. Er nahm Monte Christo beiseite und sagte zu ihm: Nun, was denken Sie von unserem Verliebten?

 

Verdammt, er kommt, mir ziemlich kalt vor; doch, was wollen Sie? Sie haben sich nun einmal verbindlich gemacht!

 

Allerdings habe ich mich verbindlich gemacht, aber nur, meine Tochter einem Manne zu geben, der sie liebt, und nicht einem Manne, der sie nicht liebt. Sehen Sie ihn an, er ist kalt wie Marmor, stolz wie sein Vater. – Wenn er noch reich wäre, wenn er das Vermögen der Cavalcanti besäße, könnte man darüber hinwegsehen! Meiner Treu, wenn meine Tochter jedoch einen guten Geschmack hätte …

 

Ich weiß nicht, ob meine Freundschaft für ihn mich verblendet, erwiderte Monte Christo, doch ich versichere Ihnen, Herr von Morcerf ist ein liebenswürdiger junger Mann, der Ihre Tochter glücklich machen und früher oder später etwas erreichen wird; denn die Stellung seines Vaters ist im ganzen ausgezeichnet.

 

Hm! machte Dauglars.

 

Warum dieser Zweifel?

 

Es ist da immer noch die Vergangenheit … die dunkle Vergangenheit.

 

Doch die Vergangenheit des Vaters geht den Sohn nichts an. – Warum nicht?

 

Seien Sie nicht eigensinnig! Vor einem Monat fanden Sie diese Verbindung vortrefflich. Sie begreifen, ich bin in Verzweiflung, denn bei mir haben Sie diesen Cavalcanti gesehen, den ich, ich wiederhole es, nicht kenne.

 

Ich kenne ihn, das genügt.

 

Sic kennen ihn? Haben Sie Erkundigungen über ihn eingezogen?

 

Bedarf es deren? Weiß man nicht beim ersten Blicke, mit wem man es zu tun hat? … Einmal ist er reich. – Ich kann keine Versicherung hierüber geben.

 

Sie haften doch für ihn? – Bis fünfzigtausend Franken, eine Lappalie.

 

Er hat eine ausgezeichnete Erziehung. – Hm!

 

Er ist musikalisch. – Alle Italiener sind das.

 

Hören Sie, Graf, Sie sind nicht gerecht gegen diesen jungen Mann.

 

Ja, ich gestehe es; da ich Ihre Verbindlichkeit Herrn Morcerf gegenüber kenne, sehe ich zu meinem Schmerze, daß er so dazwischentritt und sein Vermögen mißbraucht!

 

Danglars schlug ein Gelächter aus und rief: Was für ein Puritaner Sie sind! Das kommt täglich vor.

 

Sie können aber doch so nicht brechen, lieber Danglars; die Morcerf rechnen auf diese Heirat.

 

Sie rechnen darauf? – Bestimmt.

 

Dann mögen sie sich erklären. Sie, Herr Graf, sollten ein paar Worte hierüber bei dem Vater fallen lassen, da Sie im Hause so gut angeschrieben sind.

 

Ich? zum Teufel, wo haben Sie das gesehen?

 

Auf ihrem Balle, mir scheint. Wie! die Gräfin, die stolze Mercedes, die hochmütige Katalonierin, die sich kaum herabläßt, den Mund für ihre ältesten Bekannten zu öffnen, hat Sie am Arme genommen, ist mit Ihnen in den Garten und in die kleinen Alleen gegangen und erst nach einer halben Stunde zurückgekommen!

 

Ah! Baron, Baron, unterbrach Albert das leise geführte Gespräch, Sie hindern uns, zu hören; wie kann ein Musikfreund wie Sie so barbarisch sein!

 

Gut, gut, Herr Spötter, rief Danglars und fügte leise, zu Monte Christo gewandt, hinzu: Sie übernehmen es, dies dem Vater zu sagen?

 

Gern, wenn Sie wünschen.

 

Doch es muß bestimmt und unumwunden geschehen; er soll meine Tochter von mir verlangen, eine Zeit festsetzen, seine pekuniären Bedingungen nennen, damit man sich verständigt oder nicht verständigt, aber Sie begreifen, Aufschub gibt es nicht mehr!

 

Gut, ich werde den Schritt tun.

 

 

Ich sage nicht, daß ich ihn mit Vergnügen erwarte, aber ich erwarte ihn. Sie wissen, ein Bankier muß der Sklave seines Wortes sein. Hier stieß Danglars einen Seufzer aus.

 

Bravo! bravo! bravo! rief Morcerf, den Bankier parodierend und am Schlusse des Stückes Beifall klatschend.

 

Danglars schaute Albert erstaunt von der Seite an, als ein Diener eintrat und ihm ein paar Worte zuflüsterte.

 

Ich komme zurück, sagte der Bankier zu Monte Christo, erwarten Sie mich, ich habe Ihnen vielleicht sogleich etwas zu sagen. Und er ging hinaus.

 

Die Baronin benutzte die Abwesenheit ihres Mannes, um die Tür des Zimmers ihrer Tochter wieder auszustoßen, worauf man Andrea, der mit Fräulein Danglars vor dem Klavier saß, wie eine Feder ausspringen sah.

 

Albert verbeugte sich lächelnd vor Fräulein Danglars, die ihm ohne jede Verlegenheit, wie gewöhnlich, einen kalten Gruß zurückgab.

 

Cavalcanti war sichtbar verlegen; er grüßte Morcerf, der seine Begrüßung mit geringschätzender Miene erwiderte und sich sodann in den ausgesuchtesten Lobeserhebungen über Fräulein Danglars‘ Stimme erging.

 

Nun haben wir genug Musik und Komplimente gehabt, sagte Frau Danglars; wir wollen den Tee nehmen.

 

Komm, Luise, sagte Fräulein Danglars zu ihrer Freundin, worauf alle in den anstoßenden Salon gingen, in dem schon der Tee bereit stand.

 

In dem Augenblick, als man sich niedersetzte, öffnete sich die Tür wieder, und Danglars erschien sichtlich bewegt.

 

Auf einen fragenden Blick des Grafen erwiderte der Bankier: Ich habe einen Kurier von Griechenland bekommen.

 

Ah! ah! deshalb hat man Sie gerufen!

 

Wie geht es König Otto? fragte Albert munter.

 

Danglars schaute ihn von der Seite an, ohne ihm zu antworten, und Monte Christo wandte sich ab, um den Ausdruck des Mitleids zu verbergen, der auf seinem Gesichte hervortrat, bald aber wieder verschwand.

 

Nicht wahr, wir gehen miteinander? fragte Albert den Grafen.

 

Ja, wenn Sie wollen, antwortete dieser.

 

Albert verstand den Blick des Bankiers nicht und sagte erstaunt zu Monte Christo, der ihn vollkommen verstanden hatte: Haben Sie gesehen, wie er mich anschaute, und was will er mit seinen Nachrichten aus Griechenland sagen?

 

Wie soll ich das wissen?

 

Ich setze voraus, Sie stehen in einer gewissen Beziehung zu diesem Lande.

 

Monte Christo lächelte, wie man lächelt, wenn man sich einer Antwort überheben will.

 

Sehen Sie, er nähert sich Ihnen, sagte Albert; ich will Fräulein Danglars ein Kompliment über ihre Kamee machen, inzwischen hat der Vater Zeit, mit Ihnen zu sprechen.

 

Wollen Sie ihr ein Kompliment machen, so tun Sie es wenigstens über ihre Stimme, versetzte Monte Christo.

 

Nein, das tut jeder.

 

Mein lieber Vicomte, erwiderte Monte Christo, Ihr Benehmen kommt mir etwas sonderbar vor.

 

Albert trat mit lächelnden Lippen auf Eugenie zu.

 

Inzwischen neigte sich Danglars dem Grafen zu und flüsterte: Sie haben mir einen guten Rat gegeben, es liegt eine ganz furchtbare Geschichte in den Worten: Fernand und Janina, – Ah! bah!

 

Ja, ich werde es Ihnen erzählen; doch nehmen Sie den jungen Mann mit! Es wäre mir unangenehm, mit ihm zusammen zu bleiben.

 

Er begleitet mich; muß ich Ihnen immer noch den Vater schicken? … Mehr als je.

 

Gut.

 

Der Graf machte Albert ein Zeichen.

 

Beide verbeugten sich vor den Damen und gingen weg, wobei Albert sich Fräulein Danglars‘ geringschätzender Art gegenüber völlig gleichgültig verhielt, während Monte Christo Frau Danglars seine Ratschläge wiederholte, wie sich die Frau eines Bankiers klüglich ihre Zukunft sichern müßte.

 

Andrea Cavalcanti blieb Herr des Schlachtfeldes.

 

Haydee.

 

Haydee.

 

Kaum lenkte der Wagen um die Ecke, als sich Albert mit einem Gelächter, das zu lärmend war, um natürlich zu sein, an den Grafen wandte und sagte: Ich frage Sie, wie Karl IX. nach der Bartholomäus-Nacht Katharina von Medici fragte: Wie habe ich meine Rolle gespielt?

 

In welcher Hinsicht?

 

Hinsichtlich der Einsetzung meines Nebenbuhlers bei Herrn Danglars …

 

Welches Nebenbuhlers?

 

Bei Gott! Ihres Schützlings, des Herrn Cavalcanti.

 

Oh! keine schlechten Späße, Vicomte, Andrea ist nicht mein Schützling, am wenigsten bei Herrn Danglars.

 

Und das würde ich Ihnen zum Vorwurf machen, wenn der junge Mann eines Schutzes bedürfte; doch zu meinem Glücke kann er dessen entbehren.

 

Wie, Sie glauben, er mache den Hof?

 

Ich stehe Ihnen dafür; er seufzt, wälzt die Augen im Kopfe umher und gibt verliebte Töne von sich, kurz, er strebt mit allen Mitteln nach der Hand der stolzen Eugenie.

 

Was tut’s, wenn man nur an Sie denkt!

 

Sagen Sie das nicht, lieber Graf, man stößt mich von zwei Seiten zurück.

 

Wie, von zwei Seiten?

 

Fräulein Eugenie hat mir kaum geantwortet, und Fräulein d’Armilly, ihre Vertraute, gar nicht.

 

Ja … aber der Vater betet Sie an …

 

Er? im Gegenteil, er hat mir tausend Dolche ins Herz gestoßen; Dolche, die in das Heft zurückfuhren, Theaterdolche, die er aber für wahr und wirklich hielt.

 

Die Eifersucht deutet Zuneigung an.

 

Ja, doch ich bin nicht eifersüchtig.

 

Er ist es!

 

Auf wen, auf Debray?

 

Nein, auf Sie.

 

Auf mich? Ich wette, daß er mir, ehe acht Tage vergehen, die Tür vor der Nase zumacht.

 

Sie täuschen sich, lieber Vicomte.

 

Haben Sie einen Beweis?

 

Wollen Sie ihn?

 

Ja.

 

Ich bin beauftragt, den Herrn Grafen von Morcerf zu bitten, einen entscheidenden Schritt bei dem Baron zu tun.

 

Nicht wahr, das werden Sie nicht tun, lieber Graf?

 

Sie täuschen sich, Albert, ich werde es tun, da ich es versprochen habe.

 

Es scheint, es ist Ihnen alles daran gelegen, mich zu verheiraten, versetzte Albert mit einem Seufzer.

 

Es liegt mir daran, mit jedermann gut zu stehen. Aber, sagen Sie mir, was ist das eigentlich mit Debray? Ich sehe ihn nicht mehr bei der Baronin.

 

Es hat Streit gegeben.

 

Mit ihr?

 

Nein, mit dem Baron.

 

Er hat also etwas bemerkt?

 

Sie scherzen!

 

Glauben Sie, er habe es vermutet? versetzte Monte Christo naiv.

 

Ei, woher kommen Sie denn, lieber Graf?

 

Vom Kongo, wenn Sie wollen.

 

Das ist noch nicht fern genug.

 

Kenne ich die Pariser Ehemänner?

 

Die Ehemänner sind überall dieselben. Wenn Sie sie in irgend einem Lande studiert haben, kennen Sie das ganze Geschlecht.

 

Doch was konnte denn Danglars und Debray entzweien? Sie schienen sich so gut zu verstehen, sagte Monte Christo mit gleicher Naivität.

 

Ah! wir kommen zu den Geheimnissen der Isis, und ich bin nicht eingeweiht. Wenn Herr Cavalcanti Sohn zur Familie gehört, so fragen Sie ihn danach.

 

Der Wagen hielt an.

 

Wir sind an Ort und Stelle, sagte Monte Christo, es ist erst halb elf Uhr, kommen Sie mit herauf, mein Wagen wird Sie zurückfahren.

 

Ich danke, mein Coupé muß uns gefolgt sein.

 

In der Tat, hier ist es, sagte Monte Christo und sprang zu Boden.

 

Beide traten in das Haus. Lassen Sie uns Tee machen, Baptistin, sagte Monte Christo, sobald sie im hell beleuchteten Salon waren.

 

Baptistin entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen. Wenige Sekunden nachher erschien er wieder mit Tee und allem erdenklichem Zubehör.

 

In der Tat, mein lieber Graf, was ich an Ihnen bewundere, ist nicht Ihr Reichtum, es gibt vielleicht reichere Leute als Sie; es ist nicht Ihr Geist, Beaumarchais hatte nicht mehr, aber ebensoviel. Es ist die Art und Weise, wie Sie auf die Sekunde bedient werden, als ob man schon an Ihrem Läuten erriete, was Sie zu haben wünschen, und als ob das, was Sie haben wollen, stets bereit wäre.

 

An dem, was Sie sagen, ist etwas Wahres. Man kennt meine Gewohnheiten. Passen Sie auf! Wünschen Sie nicht irgend etwas zu tun, während Sie Tee trinken?

 

Bei Gott! ich wünsche zu rauchen.

 

Monte Christo näherte sich dem Glöckchen und tat einen Schlag.

 

Nach einer Sekunde öffnete sich eine besondere Tür, und Ali erschien mit zwei mit vortrefflichem Latakie gestopften Tschibuks.

 

Das ist wunderbar, sagte Morcerf.

 

Nein, das ist ganz einfach, versetzte Monte Christo. Ali weiß, daß ich gewöhnlich rauche, wenn ich Kaffee oder Tee trinke; er weiß, daß ich Tee verlangt habe; er weiß, daß ich mit Ihnen nach Hause gekommen bin, er hört, daß ich rufe, er vermutet die Ursache, und da er aus einem Lande stammt, wo die Gastfreundschaft besonders mittels der Pfeife geübt wird, so bringt er statt eines Tschibuks zwei.

 

Das ist allerdings eine gute Erklärung; darum scheint es mir aber nicht minder wahr, daß nur Sie … Doch was höre ich?

 

Morcerf neigte sich nach der Tür, durch welche Töne wie von einer Guitarre drangen.

 

Meiner Treu, lieber Vicomte, Sie sind heute ein Opfer der Musik; Sie entgehen dem Piano Fräulein Danglars‘ nur, um in Haydees Guzla zu fallen.

 

Haydee! welch bewunderungswürdiger Name! Es gibt also wirklich auch außer in Lord Byrons Gedichten Frauen, die Haydee heißen?

 

Gewiß; Haydee ist ein in Frankreich sehr seltener, doch in Albanien und Epirus sehr gewöhnlicher Vorname, es ist, wie wenn man zum Beispiel sagte: Keuschheit, Schamhaftigkeit, Unschuld.

 

Oh! wie reizend! rief Albert; wie gern hörte ich unsere Französinnen sich Fräulein Güte, Fräulein Schweigen, Fräulein Nächstenliebe nennen! Wie wirkungsvoll müßte es sein, wenn es bei einem Heiratsaufgebot, statt Claire Marie Eugenie, Fräulein Keuschheit-Schamhaftigkeit-Unschuld Danglars heißen würde!

 

Sie sind verrückt! sagte der Graf; reden Sie nicht so laut! Haydee könnte es hören.

 

Und sie würde sich darüber ärgern?

 

Nein, sagte der Graf kalt.

 

Sie ist gut?

 

Es ist nicht Güte, es ist Pflicht; eine Sklavin ärgert sich nicht über ihren Herrn.

 

Scherzen Sie nicht! Es gibt keine Sklavinnen mehr!

 

Sicher, da Haydee die meinige ist.

 

In der Tat, Sie tun nichts und haben nichts, wie andere Menschen. Sklavin des Grafen Monte Christo! Das ist auch eine Stellung. Nach der Art und Weise, wie Sie das Geld in Bewegung setzen, muß es ein Platz sein, der hunderttausend Taler jährlich einträgt.

 

Hunderttausend Taler! Die Arme hat mehr als dies besessen. Die Schätze ihres Vaters konnten den Vergleich mit denen aus Tausendundeiner Nacht aushalten.

 

Sie ist also wirklich von Geburt eine Prinzessin?

 

Gewiß, und zwar eine der reichsten ihres Landes.

 

Ich vermutete es. Doch wie ist aus der vornehmen Prinzessin eine Sklavin geworden?

 

Wie ist Dionys, der Tyrann von Syrakus, Schulmeister geworden? Der Zufall des Krieges, lieber Vicomte, die Laune des Schicksals.

 

Und ihr Name ist ein Geheimnis?

 

Ja, für alle, aber nicht für Sie, lieber Vicomte, der Sie zu meinen Freunden gehören, und der Sie schweigen, nicht wahr, wenn Sie mir zu schweigen versprechen?

 

Bei meinem Ehrenwort.

 

Sie kennen die Geschichte des Paschas von Janina?

 

Von Ali Tependelini? Ganz gewiß, denn mein Vater hat in seinen Diensten sein Glück gemacht.

 

Es ist wahr, ich hatte es vergessen.

 

Nun, in welcher Beziehung steht Haydee zu Ali Tependelini?

 

Sie ist ganz einfach seine Tochter.

 

Wie, die Tochter von Ali Pascha?

 

Ja, von der schönen Wasiliki.

 

Und sie ist Ihre Sklavin?

 

Mein Gott, ja!

 

Wie ist dies zugegangen?

 

Als ich eines Tages über den Markt von Konstantinopel ging, kaufte ich sie.

 

Das ist herrlich! Bei Ihnen, lieber Graf, lebt man nicht, sondern träumt. Doch hören Sie, was ich Sie nun fragen werde, ist sehr unbescheiden.

 

Sprechen Sie immerhin.

 

Da Sie mit ihr ausgehen, da Sie Haydee in die Oper führen, so kann ich mich wohl erdreisten …

 

Sie können sich erdreisten, alles von mir zu verlangen.

 

Wohl, lieber Graf, stellen Sie mich Ihrer Prinzessin vor.

 

Gern; doch unter zwei Bedingungen.

 

Ich nehme sie zum voraus an.

 

Einmal dürfen Sie diese Vorstellung niemand mitteilen.

 

Sehr gut. Ich schwöre.

 

Und sodann dürfen Sie ihr nicht sagen, Ihr Vater habe dem ihrigen gedient.

 

Ich schwöre abermals.

 

Vortrefflich. Vicomte, nicht wahr, Sie werden sich dieser beiden Schwüre erinnern?

 

Oh! gewiß.

 

Gut, ich weiß, daß Sie ein Mann von Ehre sind.

 

Der Graf schlug abermals auf das Glöckchen; Ali erschien.

 

Melde Haydee, sagte er zu ihm, daß ich den Kaffee bei ihr trinken will, und mache ihr begreiflich, daß ich sie um Erlaubnis bitte, ihr einen von meinen Freunden vorzustellen.

 

Ali verbeugte sich und trat ab.

 

Es ist also abgemacht, wandte er sich wieder an Albert, keine unmittelbare Frage, lieber Vicomte. Wenn Sie etwas wissen wollen, so fragen Sie mich, und ich werde Haydee fragen.

 

Abgemacht!

 

Ali erschien zum dritten Male und hielt den Türvorhang aufgehoben, um seinem Herrn und Albert anzudeuten, daß sie kommen könnten.

 

Treten wir ein! sagte Monte Christo.

 

Albert fuhr mit der Hand in seine Haare und kräuselte seinen Schnurrbart. Der Graf nahm seinen Hut, zog seine Handschuhe an und ging Albert in die Wohnung voran, die von Ali wie von einem Vorposten bewacht und von den drei Myrtho untergebenen französischen Kammerfrauen verteidigt wurde.

 

Haydee wartete im ersten Zimmer, dem Salon, mit großen Augen, in denen sich das Erstaunen deutlich ausprägte, denn es geschah zum erstenmal, daß ein anderer Mann als Monte Christo zu ihr drang. Sie saß mit gekreuzten Beinen in der Ecke eines Sofas wie in einem Nest aus den reichsten gestickten und gestreiften orientalischen Seidenstoffen; neben ihr lag das Instrument, dessen Töne sie verraten hatten. Sie war reizend anzuschauen.

 

Als sie Monte Christo erblickte, stand sie auf, mit dem doppelten Lächeln der Tochter und der Liebenden, das nur ihr eigen war; Monte Christo ging auf sie zu und reichte ihr seine Hand, auf die sie, wie gewöhnlich, ihre Lippen drückte.

 

Albert war beim Anblick dieser seltsamen Schönheit, die er zum erstenmal sah, und von der sich ein Franzose keinen Begriff machen konnte, bei der Tür stehen geblieben.

 

Wen bringst du? fragte das Mädchen in neugriechischer Sprache, einen Bruder, einen Freund, einen Bekannten oder einen Feind?

 

Einen Freund, antwortete Monte Christo in derselben Sprache.

 

Wie heißt er?

 

Graf Albert, derselbe, den ich in Rom den Händen der Banditen entrissen habe.

 

In welcher Sprache soll ich mit ihm reden?

 

Monte Christo wandte sich zu Albert und fragte den jungen Mann:

 

Kennen Sie das Neugriechische?

 

Ach, nicht einmal das Altgriechische, versetzte Albert; Homer und Plato haben einen erbärmlichen Schüler an mir gehabt.

 

Nun wohl, sagte Haydee und bewies durch ihre Worte, daß sie Monte Christos Frage und Alberts Antwort gehört und verstanden hatte, ich werde Französisch oder Italienisch sprechen, wenn es überhaupt meines Herrn Wille ist, daß ich spreche.

 

Monte Christo dachte einen Augenblick nach und erwiderte: Du wirst Italienisch sprechen. Dann sagte er zu Albert: Es ist ärgerlich, daß Sie weder das Neugriechische, noch das Altgriechische verstehen, denn Haydee spricht beides vortrefflich; die Arme ist genötigt, Italienisch mit Ihnen zu reden, was Ihnen vielleicht einen falschen Begriff von ihr geben wird.

 

Er machte Haydee ein Zeichen.

 

Sei willkommen, Freund, der du mit meinem Herrn und Gebieter erscheinst, sagte das Mädchen in vortrefflichem Toskanisch und mit weichem, römischem Akzent. Ali, Kaffee und Pfeifen!

 

Monte Christo zeigte Albert zwei Stühle, die sie an ein mit natürlichen Blumen, Zeichnungen und Musikalien bedecktes Tischchen rückten.

 

Ali kehrte bald mit dem Kaffee und den Tschibuks zurück; Baptistin war das Betreten dieses Teils der Wohnung verboten.

 

Albert wies die Pfeife zurück, die ihm der Nubier bot.

 

Oh! nehmen Sie, nehmen Sie, sagte Monte Christo; Haydee ist beinahe ebenso zivilisiert wie eine Pariserin; eine Havanna ist ihr unangenehm, weil sie die schlechten Gerüche nicht liebt, doch der orientalische Tabak gibt einen Wohlgeruch, wie Sie wissen.

 

Ali verließ das Zimmer.

 

Der Kaffee war zum Genusse völlig bereitet, nur hatte man für Albert eine Zuckerdose zur Verfügung gestellt. Monte Christo und Haydee nahmen den arabischen Trank nach Art der Araber, nämlich ohne Zucker.

 

 

Haydee streckte ihre Hand aus und faßte mit der Spitze ihrer zarten, rosigen Finger die Tasse von japanischem Porzellan, die sie mit dem naiven Vergnügen eines Kindes, das Angenehmes ißt oder trinkt, an ihre Lippen führte.

 

Zu gleicher Zeit traten zwei Frauen ein und brachten zwei andere Platten, beladen mit Eis und Sorbet, die sie auf kleine, eigens dafür bestimmte Tische setzten.

 

Mein lieber Wirt und Sie, Signora, sagte Albert Italienisch, entschuldigen Sie mein Erstaunen. Ich bin ganz verwirrt, und das ist natürlich; ich finde hier den Orient, den wahren Orient, nicht wie ich ihn gesehen, sondern wie ich ihn geträumt, im Schoße von Paris geträumt habe. Oh! Signora, daß ich nicht Griechisch sprechen kann, Ihre Rede, verbunden mit dieser feenhaften Umgebung, wurde für mich einen Abend bilden, dessen ich mich stets erinnern müßte.

 

Ich spreche gut genug Italienisch, um mich mit Ihnen zu unterhalten, mein Herr, sagte Haydee gelassen, und ich werde nach Kräften dafür sorgen, daß Sie den Orient hier wiederfinden, wenn Sie ihn lieben.

 

Wovon kann ich mit ihr sprechen? fragte Albert ganz leise Monte Christo.

 

Wovon Sie wollen, von ihrem Vaterland, von ihrer Jugend, von ihren Erinnerungen, oder wenn Sie lieber wollen, von Rom, von Neapel, von Florenz.

 

Oh! es wäre nicht der Mühe wert, eine Griechin vor sich zu haben, um mit ihr von dem zu reden, wovon man mit einer Pariserin reden würde; lassen Sie mich mit ihr vom Orient sprechen.

 

Tun Sie das, mein lieber Albert, es ist für sie die angenehmste Unterhaltung.

 

Albert wandte sich an Haydee und fragte: In welchem Alter hat Signora Griechenland verlassen?

 

Mit fünf Jahren.

 

Und Sie erinnern sich Ihres Vaterlandes?

 

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich alles wieder, was ich gesehen habe.

 

Und was ist die fernste Zeit, deren Sie sich erinnern?

 

Ich konnte kaum gehen; meine Mutter, die Wasiliki hieß – was königlich bedeutet, fügte das Mädchen stolz hinzu – meine Mutter nahm mich bei der Hand, und wir gingen beide, nachdem wir in unsere Börse alles Gold getan hatten, das wir besaßen, mit Schleiern bedeckt umher und forderten mit den Worten: Wer den Armen gibt, leiht dem Ewigen, Almosen für die Gefangenen. Wenn dann unsere Börse voll war, kehrten wir in den Palast zurück und schickten, ohne meinem Vater ein Wort zu sagen, alles Gold, das man uns, im Glauben, wir seien arme Frauen, gegeben hatte, dem Hegumenos des Klosters, der es unter die Gefangenen austeilte.

 

Wie alt waren Sie damals?

 

Drei Jahre, sagte Haydee.

 

Sie erinnern sich also alles dessen, was seit Ihrem dritten Lebensjahre um sie her sich zugetragen hat?

 

Gewiß.

 

Graf, sagte leise Morcerf zu Monte Christo, Sie sollten ihr erlauben, uns etwas von ihrer Geschichte zu erzählen. Sie haben mir verboten, von meinem Vater mit ihr zu sprechen, doch vielleicht spricht sie von ihm, und Sie können sich gar nicht denken, wie glücklich ich wäre, seinen Namen aus einem so schönen Munde nennen zu hören.

 

Monte Christo wandte sich an Haydee und sagte zu ihr mit scharfer Betonung auf griechisch: Erzähle uns das Schicksal deines Vaters, aber nenne nicht den Namen des Verräters. Haydee stieß einen langen Seufzer aus, und eine düstere Wolke zog über ihre reine Stirn hin.

 

Was sagen Sie ihr? fragte ganz leise Morcerf.

 

Ich wiederhole ihr, daß Sie ein Freund von mir sind, und daß sie Ihnen gegenüber nichts zu verbergen habe.

 

Das ist also Ihre erste Erinnerung? sagte Albert, was schwebt Ihnen sonst noch vor?

 

Ich sehe mich unter dem Schatten von Ahornbäumen, in der Nähe eines Sees, dessen zitternden Spiegel ich noch durch das Blätterwerk erblicke. An dem ältesten und buschreichsten Baume saß mein Vater auf Kissen, und während meine Mutter zu seinen Füßen lag, spielte ich mit seinem weißen Barte, der bis auf seine Brust herabhing, und mit dem in seinem Gürtel steckenden Kandschar mit dem Diamantgriffe. Von Zeit zu Zeit kam ein Albanese zu ihm und sagte ein Paar Worte, auf die mein Vater gleichmütige Tötet! oder begnadigt! antwortete.

 

Ich war vier Jahre alt, als ich eines Abends von meiner Mutter aufgeweckt wurde. Wir befanden uns in dem Palaste von Janina; sie nahm mich von den Kissen, auf denen ich ruhte, und als ich die Augen öffnete, sah ich die ihrigen voll schwerer Tränen. Sie trug mich fort, ohne etwas zu sagen. Als ich wahrnahm, daß sie weinte, fing ich ebenfalls an zu weinen. Still, Kind! sagte sie. Trotz der mütterlichen Tröstungen oder Drohungen fuhr ich, launenhaft wie alle Kinder, fort zu weinen; doch schließlich lag in der Stimme meiner armen Mutter ein solcher Ausdruck von Schrecken, daß ich schwieg.

 

Sie trug mich rasch weiter. Wir stiegen eine breite Treppe hinab; alle Frauen meiner Mutter stiegen oder stürzten vielmehr, Kisten, Sacke, Putzsachen, Juwelen, Goldbörsen tragend, dieselbe Treppe hinab. Hinter den Frauen kam eine Wache von zwanzig Mann, bewaffnet mit langen Flinten und Pistolen.

 

Glauben Sie, sagte Haydee, den Kopf schüttelnd und schon bei dieser Erinnerung erbleichend, es lag etwas Unseliges in der langen Reihe von Sklaven und Frauen, die halb schlaftrunken waren, – wenigstens bildete ich es mir ein, denn ich hielt vielleicht die andern für schläfrig, weil ich selbst nur halb wach war. Auf der Treppe liefen riesige Schatten, welche der Schein der tannenen Fackeln an den Gewölben zittern ließ. Eilt! rief eine Stimme im Hintergrunde der Galerie. Bei dieser Stimme beugte sich alles, wie der Wind, der über die Ebene hinstreicht, das Ährenfeld sich beugen läßt.

 

Ich aber zitterte.

 

Die Stimme war die meines Vaters. Er kam zuletzt in seinen glänzenden Gewändern und den Karabiner in der Hand haltend, den Ihr Kaiser ihm geschenkt hatte. Auf seinen Liebling Selim gestützt, trieb er uns vor sich her, wie ein Hirt seine verirrte Herde.

 

Mein Vater, fuhr Haydee, das Haupt erhebend, fort, mein Vater war der berühmte Mann, den Europa unter dem Namen Ali Tependelini, Pascha von Janina, gekannt hat, und vor dem die Türken zitterten.

 

Ohne zu wissen warum, bebte Albert, als er diese Worte mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Hoheit und Würde aussprechen hörte. Es kam ihm vor, als strahlte etwas Düsteres, Furchtbares in den Augen des griechischen Mädchens; einer Zauberin ähnlich, die ein Gespenst heraufbeschwört, erweckte Haydee die Erinnerung an die blutige Gestalt, deren gräßlicher Tod sie in den Augen des damaligen Europa riesenhaft erscheinen ließ.

 

Bald hielt man an, fuhr Haydee fort, wir waren unten an der Treppe und am Rande eines Sees. Meine Mutter drückte mich an ihre pochende Brust, und ich sah zwei Schritte hinter uns meinen Vater, der unruhig nach allen Seiten umherschaute. Vor uns lagen vier Marmorstufen, und unten an der letzten Stufe schaukelte eine Barke. Von dem Orte aus, wo wir waren, sah man mitten im See eine schwarze Masse sich erheben; es war der Kiosk, nach dem wir uns begaben. Dieser Kiosk schien mir sehr weit entfernt zu sein, vielleicht wegen der Dunkelheit. Wir stiegen in die Birke hinab. Außer den Ruderern waren in der Barke nur die Frauen, mein Vater, meine Mutter, Selim und ich. Die Palikaren waren, bereit, den Rückzug zu decken, am Rande des Sees geblieben; sie knieten auf der untersten Stufe und machten sich so für den Fall, daß sie verfolgt würden, einen Wall aus den drei andern. Unsere Barke ging wie der Wind.

 

Warum geht die Barke so geschwind? fragte ich meine Mutter.

 

Still, mein Kind! sagte sie, wir fliehen.

 

Ich begriff das nicht. Warum floh mein Vater? Er, der Allmächtige, vor dem gewöhnlich die andern flohen, er, dessen Wahlspruch es war: Sie mögen mich hassen, wenn sie mich nur fürchten!

 

Es war aber in der Tat eine Flucht. Man sagte mir seitdem, eines langen Dienstes müde, habe die Garnison von Janina …

 

Hier heftete Haydee ihren ausdrucksvollen Blick auf Monte Christo, dessen Augen die ihrigen nicht mehr verließen. Das Mädchen fuhr langsam fort, wie jemand, der erfindet oder unterdrückt.

 

Sie sagten, Signora, erinnerte Albert, der mit der größten Aufmerksamkeit dieser Erzählung zuhörte, des langen Dienstes müde, habe die Garnison von Janina …

 

Mit dem Seraskier Kurschid unterhandelt, der von dem Sultan abgeschickt war, meinen Vater festzunehmen. Damals faßte mein Vater den Entschluß, nachdem er an den Sultan einen fränkischen Offizier, dem er sein ganzes Zutrauen schenkte, abgeschickt hatte, sich nach dem Asile zurückzuziehen, das er sich seit langer Zeit bereitet hatte.

 

Und Sie erinnern sich des Namens dieses Offiziers?

 

Nein, ich entsinne mich dessen nicht, antwortete Haydee, durch einen Blick des Grafen gewarnt, doch er wird mir vielleicht später einfallen, und ich werde ihn dann nennen. Albert wollte den Namen seines Vaters aussprechen, als Monte Christo langsam den Finger aufhob; der junge Mann erinnerte sich seines Schwures und schwieg.

 

Wir segelten auf den Kiosk zu. Ein mit Arabesken verziertes Erdgeschoß badete seine Terrassen im Wasser; dieses Erdgeschoß und ein Stockwerk darüber war alles, was der Palast den Augen Sichtbares bot. Aber unter dem Erdgeschosse war, sich nach der Insel ausdehnend, ein Gewölbe, eine weite Höhle, in die man uns, meine Mutter, mich und unsere Frauen, führte und wo auf einem einzigen Haufen sechzigtausend Beutel und zweihundert Fässer lagen. In diesen Beuteln waren fünfundzwanzig Millionen in Gold, in den Fässern dreißiglausend Pfund Pulver enthalten. Bei den Fässern stand Selim, der von mir erwähnte Liebling meines Vaters. Er wachte Tag und Nacht, mit einem Spieße in der Hand, an dessen Ende eine Lunte brannte, und hatte Befehl, auf das erste Zeichen meines Vaters alles, Kiosk, Waffen, Pascha, Frauen und Gold, in die Luft zu sprengen.

 

Ich kann nicht sagen, wie lange wir so blieben; zuweilen, jedoch selten, ließ mein Vater mich und meine Mutter auf die Terrasse des Palastes rufen; das waren die festlichsten Stunden für mich. Mein Vater heftete beständig seinen düsteren Blick in den Umkreis des Horizontes und befragte jeden schwarzen Punkt, der auf dem See erschien, während meine Mutter in halb liegender Stellung ihren Kopf auf seine Schulter stützte und ich, zu seinen Füßen spielend, mit erstaunten Kinderaugen, welche die Gegenstände noch vergrößern, die Abdachungen des am Horizont sich erhebenden Pindus betrachtete. Aus dem blauen Wasser des Sees traten weiß und eckig die Schlösser von Janina und die ungeheuren, schwarzgrünen Baumgruppen, die wie Schlingpflanzen am Gebirge hingen und aus der Ferne wie Moose aussahen.

 

Eines Morgens ließ uns mein Vater holen; meine Mutter hatte die ganze Nacht geweint; wir fanden ihn ziemlich ruhig, aber bleicher als gewöhnlich.

 

Fasse Geduld, Wasiliki, sagte er, heute wird alles vorüber sein; heute kommt der Ferman des Herrn, und mein Schicksal entscheidet sich. Bin ich völlig begnadigt, so kehren wir nach Janina zurück, ist die Nachricht schlimm, so fliehen wir in dieser Nacht.

 

Aber wenn sie uns nicht fliehen lassen? entgegnete meine Mutter.

 

Oh, sei unbesorgt! sagte Ali lächelnd; Selim und seine Lunte haften mir dafür. Es wäre ihnen lieb, wenn ich sterben müßte, doch nicht, wenn sie mit mir sterben müssen.

 

Meine Mutter antwortete auf diese Tröstungen, die nicht aus dem Herzen meines Vaters kamen, nur durch Seufzer. Sie bereitete ihm das Eiswasser, das er jeden Augenblick trank, denn seit dem Rückzuge nach dem Kiosk verzehrte ihn ein glühendes Fieber; sie zündete den Tschibuk an, dessen in der Luft verfliegendem Rauche seine zerstreuten Blicke zuweilen ganze Stunden lang folgten.

 

Plötzlich machte er eine so ungestüme Bewegung, daß mir bange wurde. Dann verlangte er, ohne die Augen von dem Gegenstand abzuwenden, der seine Aufmerksamkeit fesselte, ein Fernglas.

 

Meine Mutter, bleicher als die Wand, an die sie sich lehnte, gab es ihm.

 

Ich sah die Hand meines Vaters zittern. Eine Barke! … zwei … drei … murmelte mein Vater; vier! … und er stand auf und ergriff seine Waffen und schüttete, wie ich mich genau erinnere, Pulver auf die Pfannen seiner Pistolen.

 

Wasiliki, sagte er bebend zu meiner Mutter, der entscheidende Augenblick ist gekommen; in einer halben Stunde wissen wir die Antwort des Großherrn; begib dich mit Haydee in das unterirdische Gewölbe.

 

Ich will Euch nicht verlassen, entgegnete Wasiliki, sterbt Ihr, Herr, so will ich mit Euch sterben.

 

Geht zu Selim, rief mein Vater.

 

Gott befohlen, Herr! murmelte meine Mutter, gehorchend und wie gelähmt, als nahte ihr der Tod.

 

Ich aber lief auf meinen Vater zu und streckte meine Arme nach ihm aus; er sah mich, neigte sich auf mich herab und drückte meine Stirn an seine Lippen. Oh! dieser Kuß war der letzte, und ich fühle ihn noch hier auf meiner Stirn.

 

Beim Hinabsteigen erblickten wir durch die Gitter der Terrasse die Barken, die auf dem See immer größer wurden, und kaum erst schwarzen Punkten ähnlich, nun bereits die Oberfläche der Wellen streifenden Vögeln glichen. Zu den Füßen meines Vaters sitzend und durch das Geräusch verborgen, beobachteten mittlerweile zwanzig Palikaren mit blutigem Auge die Ankunft der Schiffe und hielten ihre langen, mit Perlmutter und Silber eingelegten Flinten bereit. Patronen lagen in großer Anzahl auf dem Boden zerstreut; mein Vater schaute auf seine Uhr und ging ängstlich hin und her. Meine Mutter und ich gingen durch das unterirdische Gewölbe. Selim war immer noch an seinem Posten; er lächelte uns traurig zu, und obgleich noch Kind, fühlte ich doch, daß eine große Gefahr über unsern Häuptern schwebte.

 

Albert hatte oft, nicht von seinem Vater, der nie darüber sprach, sondern von Fremden die letzten Augenblicke des Wesirs von Janina erzählen hören; doch diese durch die Person und die Stimme des Mädchens zu neuem Leben erweckte Geschichte, der gefühlvolle Ausdruck, die klagende Elegie durchdrangen ihn zugleich mit einem unbeschreiblichen Zauber und mit einem unaussprechlichen Schmerz.

 

Ganz ihren furchtbaren Erinnerungen hingegeben, hatte Haydee einen Augenblick zu sprechen ausgehört; wie eine Blume, die sich vor dem Sturme neigt, beugte sich ihre Stirn auf die Hand, und ihre im weiten Räume verlorenen Augen schienen noch am Horizont den grünen Pindus und die blauen Wasser des Sees zu schauen, der, ein magischer Spiegel, das düstere Gemälde, das sie entwarf, widerstrahlte.

 

Monte Christo schaute sie voll Teilnahme und Mitleid an.

 

Endlich erhob Haydee die Stirn und fuhr fort: Es war vier Uhr abends; aber obgleich der Tag außen rein und glänzend war, blieben wir doch in den Schatten des unterirdischen Gewölbes versenkt. Ein einziger Schein glänzte in der Höhle, ähnlich einem am Grunde eines schwarzen Himmels zitternden Stern, es war Selims Lunte. Meine Mutter war eine Christin und betete. Selim wiederholte von Zeit zu Zeit die geheiligten Worte: Allah ist groß! Meine Mutter hatte jedoch noch einige Hoffnung. Als sie hinabstieg, hatte sie den Franken zu erkennen geglaubt, den man nach Konstantinopel geschickt, und in den mein Vater sein ganzes Vertrauen setzte, denn er wußte, daß die Soldaten des französischen Sultans gewöhnlich edel und hochherzig sind. Sie ging einige Schritte zur Treppe hin und horchte. Sie nahen, sagte sie; wenn sie nur den Frieden und das Leben bringen! Was befürchtest du, Wasiliki, entgegnete Selim mit seiner zugleich weichen und stolzen Stimme; bringen sie uns nicht den Frieden, so geben wir ihnen den Krieg; bringen sie uns nicht das Leben, so geben wir ihnen den Tod. Und er fachte die Flamme seines Spießes von neuem an. Aber ich, die noch ganz Kind war, fürchtete mich vor diesem Mute, den ich wild und unsinnig fand, und erschrak vor dem furchtbaren Tode in der Luft und in den Flammen. Meine Mutter mußte wohl dasselbe empfinden, denn ich fühlte ihre Hand beben.

 

Mein Gott! mein Gott! Mama, rief ich, müssen wir sterben? Und bei dem Tone meiner Stimme verdoppelten sich die Tränen und die Gebete der Sklavinnen. Kind, sagte meine Mutter, Gott behüte dich, daß du dir je den Tod wünschest, vor dem dir heute bange ist!

 

Selim, sagte sie, wie lautet der Befehl des Herrn?

 

Schickt er mir seinen Dolch, so weigert sich der Sultan, ihn in Gnade zu empfangen, und ich lege Feuer an; schickt er mir seinen Ring, so verzeiht ihm der Sultan, und ich lösche meine Flamme aus.

 

Freund, versetzte meine Mutter, wenn der Befehl des Herrn kommt er schickt dir den Dolch, so reichen wir dir, statt eines Todes zu sterben, der uns erschreckt, die Brust, und du tötest uns mit diesem Dolche.

 

Ja, Wasiliki, antwortete Selim ruhig.

 

Plötzlich vernahmen wir ein Geschrei; wir horchten: es war ein Freudengeschrei; der Name des Franken, den man nach Konstantinopel, geschickt, erscholl wiederholt aus dem Munde unserer Palikaren; offenbar brachte er die Antwort des Großherrn, und die Antwort lautete günstig.

 

Und Sie erinnern sich dieses Namens nicht? fragte Morcerf.

 

Monte Christo machte ihr ein Zeichen.

 

Ich erinnere mich seiner nicht, sagte Haydee.

 

Der Lärm vermehrte sich, es erschollen immer näher kommende Tritte; man stieg die Stufen des unterirdischen Gewölbes hinab. Selim hielt seinen Spieß bereit. Bald erschien ein Schatten in der bläulichen Dämmerung, mit welcher die durch den Eingang des unterirdischen Gewölbes eindringenden Strahlen den Raum erfüllten. Wer bist du? rief Selim. Wer du auch sein magst, tue keinen Schritt weiter.

 

Ehre dem Sultan! sagte der Schatten. Dem Wesir Ali ist volle Begnadigung zugestanden, und man hat ihm nicht nur das Leben gesichert, sondern man gibt ihm auch sein Vermögen und seine Güter zurück. Meine Mutter stieß einen Freudenschrei aus und drückte mich an ihr Herz. Halt! sagte Selim, als er sah, daß sie forteilen wollte, du weißt, daß ich den Ring haben muß.

 

Es ist richtig, sagte meine Mutter, und fiel auf die Knie und hob mich betend zum Himmel empor.

 

Wieder schwieg Haydee, von einer so furchtbaren Erschütterung überwältigt, daß ihr der Schweiß von der bleichen Stirn floß und ihre zusammengepreßte Stimme nicht mehr durch die Kehle dringen zu können schien. Monte Christo goß ein wenig Eiswasser in ein Glas, bot es ihr und sprach mit weichem, aber doch auch ein wenig gebieterischem Tone: Mut gefaßt, meine Tochter!

 

Haydee trocknete ihre Augen und fuhr fort: An die Dunkelheit gewöhnt, hatten mittlerweile unsere Augen den Abgesandten des Paschas erkannt; es war ein Freund. Selim hatte ihn ebenfalls wahrgenommen, doch der brave junge Mann kannte nur eines: Gehorsam.

 

In wessen Namen kommst du? fragte er.

 

Ich komme im Namen deines Herrn, Ali Tependelini, Wenn du im Namen Alis kommst, so weißt du, was du mir zu übergeben hast.

 

Ja, sagte der Abgeordnete, ich bringe dir seinen Ring, Gleichzeitig hob er seine Hand empor, aber er stand zu weit entfernt, und es war nicht hell genug, als daß Selim den Gegenstand, den er ihm zeigte, zu unterscheiden vermochte. Ich weiß nicht, was du in der Hand hältst, sagte Selim.

 

Nähere dich! sagte der Bote, oder ich werde mich dir nähern.

 

Weder das eine noch das andere, entgegnete der junge Soldat, lege auf die Stelle, wo du bist, und unter den Lichtstrahl den Gegenstand, den du mir zeigst, und ziehe dich zurück, bis ich ihn gesehen habe.

 

Es sei, sagte der Bote.

 

Und er zog sich zurück, nachdem er das Erkennungszeichen niedergelegt hatte. Unser Herz schlug gewaltig, denn es schien wirklich ein Ring zu sein. Nur fragte es sich, ob es der Ring meines Vaters war. Beständig die angezündete Lunte in der Hand haltend, ging Selim an die Öffnung, bückte sich unter den Lichtstrahl und hob das Zeichen auf. Der Ring des Herrn, sagte er, ihn küssend, es ist gut! Und die Lunte auf den Boden werfend, trat er darauf und löschte sie aus. Der Bote stieß einen Freudenschrei aus und klatschte in die Hände.

 

Auf dieses Zeichen liefen vier Soldaten des Seraskiers Kurschid herbei, und Selim stürzte, von fünf Dolchstößen durchbohrt, nieder.

 

Jeder hatte ihm einen Stoß versetzt. Und trunken von ihrem Verbrechen, obgleich noch bleich vor Schrecken, stürzten sie in das Gewölbe, suchten überall, ob Feuer da wäre, und wälzten sich auf den Goldsäcken.

 

Mittlerweile faßte mich meine Mutter in ihre Arme und gelangte zu einer Geheimtreppe des Kiosks, in dem ein furchtbarer Aufruhr herrschte. Die unteren Säle waren ganz gefüllt von den Tschodoars von Kurschid, das heißt von unseren Feinden. In dem Augenblick, wo meine Mutter die kleine Tür aufstoßen wollte, hörten wir furchtbar und drohend die Stimme des Paschas ertönen. Meine Mutter hielt ihr Auge an eine Spalte in den Brettern; auch ich fand eine und blickte hindurch.

 

Was wollt ihr? sagte mein Vater zu den Leuten, die ein Papier mit goldenen Buchstaben in der Hand hielten.

 

Was wir wollen? entgegnete einer von ihnen, dir den Willen Seiner Hoheit mitteilen. Siehst du diesen Ferman?

 

Ich sehe ihn.

 

So lies; er fordert deinen Kopf.

 

Mein Vater brach in ein Gelächter aus, das furchtbarer war, als irgend eine Drohung hätte sein können; doch er hatte noch nicht zu lachen aufgehört, als bereits von zwei Pistolenschüssen aus seinen Händen zwei Männer tot niedergestreckt waren. Die Palikaren, die, mit dem Gesicht zur Erde, um meinen Vater lagen, erhoben sich und gaben Feuer, das Gemach füllte sich mit Geschrei, Flammen und Rauch. Aus der Stelle begann das Feuer von der andern Seite, und die Kugeln durchlöcherten die Bretter um uns her. Oh! wie schön, wie groß er war, der Wesir Ali Tependelini, mein Vater, mitten unter den Kugeln, den Säbel in der Faust, das Gesicht von Pulver geschwärzt! Wie seine Feinde flohen!

 

Selim! Selim! schrie er, Feuerwächter, tu deine Pflicht!

 

Selim ist tot, antwortete eine Stimme, die aus den Tiefen des Kiosks zu kommen schien, und du, Herr, bist verloren!

 

Gleichzeitig vernahm man einen dumpfen Ton, und der Boden flog um meinen Vater in Stücke. Die Tschodoars schossen durch den Boden, und drei oder vier Palikaren brachen, schrecklich verwundet, zusammen. Mein Vater brüllte, streckte seine Finger durch die von den Kugeln gemachten Löcher und riß ein ganzes Brett aus. In demselben Augenblicke aber krachten durch diese Öffnung zwanzig Flintenschüsse, und wie aus dem Krater eines Vulkans hervorströmend, ergriff die Flamme die Tapeten und verzehrte sie.

 

Mitten unter diesem furchtbaren Aufruhr, mitten unter diesem gräßlichen Geschrei, ließen mich zwei besondere Schüsse, denen zwei herzzerreißende, alles andere übertönende Schreie folgten, vor Schrecken zu Eis erstarren: die Schüsse hatten meinen Vater tödlich getroffen, und er hatte die Schreie ausgestoßen. Trotzdem war er, sich an ein Fenster klammernd, aufrecht stehen geblieben. Meine Mutter rüttelte an der Tür, um mit ihm zu sterben, aber die Tür war verschlossen. Rings um ihn her krümmten sich Palikaren, im Todeskampfe zuckend; zwei oder drei, die ohne Wunden oder nur leicht verwundet waren, sprangen durch die Fenster. Zu gleicher Zeit krachte der ganze Boden, von unten zertrümmert. Mein Vater fiel auf ein Knie, zwanzig Arme streckten sich, mit Säbeln, Pistolen, Dolchen bewaffnet, nach ihm aus; zwanzig Streiche trafen in derselben Sekunde einen einzigen Mann, und mein Vater verschwand in einem von diesen brüllenden Teufeln angezündeten Feuerwirbel, als ob sich die Hölle unter seinen Füßen geöffnet hätte. Ich fühlte, wie ich zu Boden rollte; meine Mutter stürzte ohnmächtig nieder.

 

Haydee ließ, einen Seufzer ausstoßend, ihre Arme sinken und schaute den Grafen an, als wollte sie ihn fragen, ob er mit ihrem Gehorsam zufrieden sei.

 

Der Graf stand auf, faßte sie bei der Hand und sagte in neugriechischer Sprache zu ihr: Beruhige dich, liebes Kind, fasse Mut und bedenke, daß es einen Gott gibt, der die Verräter bestraft.

 

Das ist eine furchtbare Geschichte, Graf, sagte Albert, ganz erschrocken über Haydees Blässe; ich mache es mir zum Vorwurf, daß ich so grausam unbescheiden gewesen bin.

 

Es ist nichts, erwiderte Monte Christo und fuhr, seine Hand auf den Kopf des Mädchens legend, fort: Haydee ist mutig; sie hat in der Erzählung ihrer Schmerzen eine Erleichterung gefunden.

 

Weil mich meine Schmerzen an deine Wohltaten erinnern, mein Herr, versetzte rasch Haydee.

 

Albert schaute sie neugierig an, denn sie hatte noch nicht erzählt, was er am meisten zu wissen wünschte, nämlich, wie sie Sklavin des Grafen geworden war.

 

Haydee sah in den Blicken des Grafen wie in denen Alberts dasselbe Verlangen ausgedrückt und fuhr fort: Als meine Mutter wieder zu sich kam, befanden wir uns vor dem Seraskier. Töte mich, sagte sie, aber schone die Ehre der Witwe Alis. – Du mußt dich nicht an mich wenden, erwiderte Kurschid. – An wen denn? – An deinen neuen Herrn. – Wer ist dies? – Hier steht er. Und Kurschid deutete auf einen von denen, die am meisten zum Tode meines Vaters beigetragen hatten, fuhr das Mädchen mit dumpfem Zorne fort.

 

Ihr wurdet also das Eigentum dieses Mannes?

 

Nein, antwortete Haydee; er wagte nicht, uns zu behalten, und verkaufte uns an Sklavenhändler, die nach Konstantinopel zogen. Wir durchreisten Griechenland und kamen endlich sterbend an der kaiserlichen Pforte an, wo uns Neugierige bedrängten, als meine Mutter, den Blicken der Menge folgend, auf einmal einen Schrei ausstieß und, mir über der Pforte ein Haupt zeigend, niederstürzte. – Über diesem Haupte standen die Worte: Dies ist der Kopf Ali Tependelinis, Paschas von Janina. Weinend suchte ich meine Mutter aufzuheben, sie war tot. Man führte mich nach dem Basar; ein reicher Armenier kaufte mich, gab mir Lehrer, ließ mich unterrichten und verlauste mich wieder an den Sultan Mahmud, als ich dreizehn Jahre alt war.

 

Von dem ich sie um den Smaragd erkaufte, der dem ähnlich war, in dem meine Haschischkügelchen enthalten sind, sagte Monte Christo.

 

Oh! du bist gut! Du bist groß, mein Herr, sagte Haydee, des Grafen Hand küssend, und ich bin sehr glücklich, daß ich dir gehöre.

 

Albert war ganz betäubt von dem, was er vernommen hatte.

 

Leeren Sie Ihre Tasse, sagte der Graf zu ihm; die Geschichte ist zu Ende.