Das Protokoll.

 

Das Protokoll.

 

Noirtier wartete, schwarz gekleidet, in seinem Lehnstuhle. Als die drei Personen, die er kommen zu sehen hoffte, eingetreten waren, schloß sein Kammerdiener sogleich wieder die Tür.

 

Merke Wohl auf, sagte leise Villefort zu Valentine, die ihre Freude nicht verbergen konnte, wenn Herr Noirtier Dinge mitteilen will, welche deine Heirat verhindern, so verbiete ich dir, ihn zu verstehen.

 

Valentine errötete, antwortete aber nicht.

 

Villefort näherte sich Noirtier und sagte zu ihm: Hier ist Herr Franz d’Epinay; Sie haben nach ihm verlangt, mein Herr, und er fügt sich Ihrem Verlangen. Allerdings wünschten wir diese Zusammenkunst seit geraumer Zeit, und ich werde entzückt sein, wenn sie Ihnen beweist, wie wenig Ihr Widerstreben gegen Valentines Heirat begründet war.

 

Noirtier antwortete nur durch einen Blick, bei dem Villeforts Adern ein Schauer durchlief. Er bedeutete Valentine durch ein Zeichen mit dem Auge, sie möge sich nähern.

 

Durch die Mittel, deren sie sich in ihren Unterhaltungen mit ihrem Großvater zu bedienen pflegte, hatte sie in einem Augenblick das von ihm gewünschte Wort Schlüssel gefunden. Dann befragte sie den Blick des Gelähmten, der sich auf die Schublade eines kleinen, zwischen zwei Fenstern stehenden Schrankes heftete. Als sie diesen Schlüssel herausgenommen, wandten sich die Augen des Gelähmten nach einem alten, seit Jahren vergessenen Sekretär.

 

Soll ich den Sekretär öffnen? fragte Valentine. Ja, machte der Greis.

 

Soll ich die Schubladen öffnen? – Ja.

 

Die mittlere? – Ja.

 

Valentine öffnete und zog ein Bündel Papiere heraus.

 

Ist das, was Sie wünschen, guter Vater? fragte sie.

 

Der Greis schüttelte den Kopf, und sie zog nach und nach alle anderen Papiere heraus.

 

Aber die Schublade ist nun leer, sagte sie.

 

Noirtiers Augen hefteten sich auf das Wörterbuch.

 

Ja, guter Vater, ich begreife Sie, sagte das Mädchen.

 

Und sie fing an die Buchstaben des Alphabets nacheinander herzusagen; bei dem Buchstaben G hielt sie Noirtier an.

 

Ah! Ein geheimes Fach? – Ja, machte Noirtier.

 

Und wer kennt es?

 

Noirtier schaute nach der Tür, durch welche der Bediente weggegangen war.

 

Barrois? sagte sie. – Ja, machte Noirtier.

 

Valentine ging an die Tür und rief Barrois. Während dieser Zeit floß der Schweiß der Ungeduld von Villeforts Stirn, während Franz im höchsten Maße erstaunt zu sein schien. Der alte Diener trat ein.

 

Barrois, sagte Valentine, mein Großvater hat mir befohlen, diesen Sekretär zu öffnen und dieses Schubfach herauszuziehen; nun ist bei diesem Schubfach ein Geheimnis, das Sie, wie es scheint, kennen; öffnen Sie!

 

Barrois gehorchte; ein doppelter Boden öffnete sich, und es wurden mehrere mit schwarzem Band umwickelte Papiere sichtbar.

 

Wünschen Sie das, mein Herr? fragte Barrois. – Ja.

 

Wem soll ich diese Papiere übergeben, Herrn von Villefort? – Nein.

 

Fräulein Valentine? – Nein.

 

Herrn Franz d’Epinay? – Ja.

 

Franz machte erstaunt einen Schritt vorwärts und sagte:

 

Mir, mein Herr? – Ja.

 

 

Franz empfing die Papiere aus Barrois‘ Händen und las die Aufschrift: Nach meinem Tode bei meinem Freunde, dem General Durand, zu hinterlegen, der sterbend dieses Paket seinem Sohne mit der Einschärfung vermachen wird, dasselbe, da es ein Papier von der größten Wichtigkeit enthält, aufzubewahren.

 

Nun, mein Herr? fragte Franz, was soll ich mit diesem Papier machen?

 

Sie sollen es ohne Zweifel versiegelt, wie es ist, behalten, sagte der Staatsanwalt.

 

Nein, nein, erwiderte der Greis lebhaft.

 

Sie wünschen vielleicht, daß es der Herr lesen möge? fragte Valentine.

 

Ja, antwortete der Greis.

 

Sie hören, Herr Baron? Mein Großvater bittet Sie, dieses Papier zu lesen, sagte Valentine.

 

So setzen wir uns, sagte Villefort voll Ungeduld, denn das wird lange dauern.

 

Villefort setzte sich, aber Valentine blieb neben ihrem Großvater, auf seinen Lehnstuhl gestützt, stehen, und Franz stand vor ihr und hielt das geheimnisvolle Papier in der Hand.

 

Lesen Sie! sagten die Augen des Greises.

 

Franz machte den Umschlag los, und es trat eine tiefe Stille in dem Zimmer ein. Inmitten dieser Stelle las er:

 

Auszug aus den Protokollen einer Sitzung des bonapartistischen Klubs der Rue Saint-Jacques, gehalten im 5. Febr. 1815.

 

Franz hielt inne.

 

Am 5. Februar 1815, sagte er, das ist der Tag, an dem mein Vater ermordet wurde!

 

Valentine und Villefort blieben stumm; nur das Auge des Greises sprach klar: Fahren Sie fort! Franz las weiter:

 

Die Unterzeichneten, Louis Beauregard, Generalleutnant der Artillerie, Etienne Duchampy, Brigadegeneral, und Claude Lecharpale, Direktor der Forsten, erklären, daß am 4. Februar 1815 ein Brief von der Insel Elba ankam, der dem Wohlwollen und dem Vertrauen der Mitglieder des bonapartistischen Klubs den General Flavier von Quesnel empfahl, der dem Kaiser von 1805 bis 1814 gedient hatte und der Napoleonischen Dynastie trotz des Baronentitels, den ihm Ludwig XVIII. soeben unter Benutzung des Namens seines Landgutes Epinay verliehen hatte, völlig ergeben sein mußte. Demzufolge wurde ein Schreiben an den General von Quesnel gerichtet, worin man ihn bat, der Sitzung am fünften beizuwohnen. Das Schreiben gab weder die Straße noch die Hausnummer an, wo die Versammlung stattfinden sollte: es hatte seine Unterschrift und teilte dem General nur mit, wenn er sich bereit halten wolle, so werde man ihn um neun Uhr abends abholen. Um neun Uhr abends erschien der Präsident des Klubs bei dem General: der General war bereit. Der Präsident bemerkte ihm, es sei eine der Bedingungen seiner Einführung, daß er nie den Ort der Zusammenkunft wüßte, daß er sich die Augen verbinden ließe und schwüre, er werde die Binde nicht abzunehmen suchen. Der General von Quesnel nahm die Bedingung an und machte sich bei seinem Ehrenwort anheischig, nicht sehen zu wollen, wohin man ihn führte. Der General hatte seinen Wagen anspannen lassen, aber der Präsident erklärte ihm, man könnte sich seiner unmöglich bedienen, da es sich nicht der Mühe lohne, die Augen des Herrn zu verbinden, wenn dem Kutscher die Augen offen blieben, und er zu erkennen vermöchte, durch welche Straßen man käme.

 

Was ist dann zu tun? fragte der General. –

 

Ich habe meinen Wagen bei mir, sagte der Präsident. –

 

Sind Sie Ihres Kutschers so sicher, daß Sie ihm ein Geheimnis anvertrauen, das Sie dem meinigen anzuvertrauen für unklug halten?

 

Unser Kutscher ist ein Mitglied des Klubs, erwiderte der Präsident, wir werden von einem Staatsrate gefahren.

 

Dann sind wir einer andern Gefahr ausgesetzt, nämlich der, umgeworfen zu werden, sagte der General lachend.

 

Wir bezeichnen diesen Scherz als einen Beweis dafür, daß der General nicht entfernt gezwungen war, der Sitzung beizuwohnen, und daß er sie durchaus freiwillig besuchte. Sobald man in den Wagen gestiegen war, erinnerte der Präsident den General an sein Versprechen, sich die Augen verbinden zu lassen. Der General machte keine Einwendung gegen diese Förmlichkeit. Der Wagen hielt vor einem Hause der Rue Saint-Jacques. Der General stieg aus und stützte sich dabei auf den Arm des Präsidenten, ohne dessen Würde zu kennen; man durchschritt den Gang, stieg einen Stock hinauf und trat in das Beratungszimmer.

 

Die Sitzung hatte begonnen. Von der Einladung des Barons benachrichtigt, waren die Mitglieder des Klubs vollzählig versammelt. Als der General die Mitte des Saales erreicht hatte, wurde er aufgefordert, seine Binde abzunehmen. Er entsprach sogleich dieser Ausforderung und schien sehr erstaunt, eine so große Anzahl von bekannten Gesichtern in einer Gesellschaft zu finden, von deren Dasein er bis dahin nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Man befragte ihn über seine Gesinnung, doch er begnügte sich zu antworten, der Brief von der Insel Elba habe dieselbe bekannt machen müssen …

 

Franz unterbrach sich mit den Worten: Mein Vater war Royalist, man hatte nicht nötig, ihn um seine Gesinnung zu befragen, sie war bekannt.

 

Und daher rührte meine Verbindung mit Ihrem Vater, mein lieber Herr Franz, sagte Villefort; man verbindet sich leicht, wenn man gleicher Meinung ist.

 

Lesen Sie, sprach abermals das Auge des Greises. Franz fuhr fort:

 

Der Präsident nahm nun das Wort und forderte den General auf, sich deutlicher zu erklären; doch Herr von Quesnel antwortete, er wünschte vor allem zu wissen, was man von ihm verlange. Es wurde nun dem General eben dieser Brief von der Insel Elba mitgeteilt, der ihn dem Klub als einen Mann empfahl, auf dessen Mitwirkung man zählen könne. Es war sodann von der beabsichtigten Rückkehr von der Insel Elba die Rede, worauf ein neuer Brief mit umfassenderen Einzelheiten angekündigt wurde, den der Pharao, ein dem Reeder Morel in Marseille gehörendes Schiff mit einem dem Kaiser ganz und gar ergebenen Kapitän, überbringen würde. Während der Vorlesung des Briefes gab der General, auf den man wie auf einen Bruder zählen zu können glaubte, im Gegenteil Zeichen der Unzufriedenheit und des sichtbaren Widerstrebens von sich.

 

Als der Brief zu Ende war, verharrte er schweigend und mit gerunzelter Stirn.

 

Nun! fragte der Präsident, was sagen Sie zu diesem Briefe, Herr General?

 

Ich sage, soeben hat man erst dem König Ludwig XVIII. einen Eid geleistet und will ihn nun schon wieder um des Exkaisers willen brechen.

 

Diese Antwort war zu klar, als daß man sich über seine Gesinnung täuschen konnte.

 

General, sagte der Präsident, es gibt für uns ebensowenig einen König Ludwig XVIII. wie einen Exkaiser; es gibt nur Seine Majestät den Kaiser und König, der seit zehn Monaten aus Frankreich, seinem Staate, durch Gewalt und Verrat entfernt worden ist.

 

Verzeihen Sie, meine Herren, sagte der General, es ist möglich, daß es für Sie keinen Ludwig XVIII. gibt, aber es gibt einen für mich, da er mich zum Baron und zum Feldmarschall gemacht hat, und da ich nie vergessen werde, daß ich diese Titel seiner glücklichen Rückkehr nach Frankreich zu danken habe.

 

Mein Herr, sagte der Präsident mit äußerst strengem Tone, während er sich erhob, geben Sie wohl acht auf das, was Sie reden; Ihre Worte sagen uns deutlich, daß man sich auf der Insel Elba in Ihnen getäuscht, und daß man uns getäuscht hat! Die Mitteilung, die man Ihnen gemacht, ist Folge des Vertrauens, das man in Sie setzte, und somit eines Gefühles, das Sie ehrt. Wir waren im Irrtum; ein Titel und ein Amt haben Sie mit der neuen Regierung ausgesöhnt, die wir umstürzen wollen. Wir werden Sie nicht zwingen, uns Ihren Beistand zu leihen, wir reihen niemand wider sein Gewissen und wider seinen Willen ein; doch wir werden Sie zwingen, als ein ehrenhafter Mann zu handeln, selbst wenn Sie nicht dazu geneigt sein sollen.

 

Sie nennen als ein ehrenwerter Mann handeln Ihre Verschwörung kennen und sie nicht enthüllen! Ich nenne das Ihr Mitschuldiger sein. Sie sehen, daß ich noch offenherziger bin, als Sie …

 

Ah! mein Vater, sagte Franz, sich unterbrechend, ich begreife nun, warum Sie dich ermordet haben.

 

Valentine konnte sich nicht enthalten, einen Blick auf Franz zu werfen; der junge Mann war wirklich schön in der Begeisterung des Sohnes. Villefort ging im Zimmer auf und ab.

 

Noirtier verfolgte mit den Augen den Ausdruck jedes Anwesenden und beobachtete seine würdige, starre Haltung. Franz fuhr fort:

 

Mein Herr, sagte der Präsident, man hat Sie gebeten, sich in den Schoß der Versammlung zu begeben, und schleppte Sie durchaus nicht mit Gewalt hierher; man forderte von Ihnen, Sie sollten Ihre Augen verbinden, und Sie willigten ein. Als Sie diesem doppelten Verlangen entsprachen, wußten Sie vollkommen, daß wir uns nicht damit beschäftigten, Ludwig XVIII. den Thron zu sicher, sonst wären wir nicht so bemüht gewesen, uns vor der Polizei zu verbergen. Sie begreifen, es wäre nur zu bequem, eine Maske vorzunehmen, mit deren Hilfe man die Geheimnisse der Leute erforscht, und dann ganz einfach die Maske abzulegen, um die zu Grunde zu richten, deren Vertrauen man genossen hat. Nein, nein, Sie werden uns vor allem offenherzig sagen, ob Sie für den Zufallskönig sind, der in diesem Augenblick regiert, oder für Seine Majestät den Kaiser?

 

Ich bin Royalist, antwortete der General, ich habe Ludwig XVIII. einen Eid geschworen und werde ihn halten. Auf diese Worte erfolgte ein allgemeines Gemurmel, und man konnte aus den Blicken einer großen Anzahl von Mitgliedern des Clubs ersehen, daß sie in ihrem Innern die Frage verhandelten, ob sie nicht Herrn d’Epinay diese unklugen Worte bereuen lassen sollten. Der Präsident stand abermals auf und gebot Stillschweigen.

 

Mein Herr, sagte er, Sie sind ein zu ernster und zu verständiger Mann, um nicht die Folgen der Lage zu begreifen, in der wir uns gegenseitig befinden, und Ihre Offenherzigkeit gerade diktiert uns die Bedingungen, die wir stellen müssen: Sie werden uns schwören, nichts von dem zu enthüllen, was Sie gehört haben.

 

Der General fuhr mit der Hand nach seinem Degen und rief: Wenn Sie von Ehre sprechen, so fangen Sie damit an, daß Sie die Gesetze nicht mißachten und nicht Gewalt anwenden.

 

Und Sie, mein Herr, fuhr der Präsident mit einer Ruhe fort, die vielleicht furchtbarer war, als der Zorn des Generals, berühren Sie Ihren Degen nicht, das rate ich Ihnen. Der General warf Blicke umher, die einige Unruhe verrieten. Er beugte sich jedoch noch nicht, sondern sagte, seine ganze Kraft sammelnd: Ich schwöre nicht.

 

Dann müssen Sic sterben, erwiderte ruhig der Präsident. Herr d’Epinay wurde sehr bleich; er schaute einen Augenblick umher; mehrere Mitglieder des Klubs wisperten und suchten Waffen unter ihren Mänteln.

 

General, sagte der Präsident, seien Sie unbesorgt, Sie sind unter Männern von Ehre, die jedes Mittel versuchen werden, um Sie zu überzeugen, ehe sie zum Äußersten schreiten; doch Sie sind auch unter Verschworenen; Sie besitzen unser Geheimnis und müssen es uns zurückgeben.

 

Ein bedeutungsvolles Schweigen folgte auf diese Worte, und als der General nicht antwortete, sagte der Präsident zu den Dienern: Schließt die Türen.

 

Abermals trat eine Totenstille ein. Da schritt der General vor und sagte heftig: Ich habe einen Sohn und muß, da ich mich unter Mördern befinde, an ihn denken.

 

General, sagte voll Adel das Haupt der Versammlung, ein einziger Mensch hat immer das Recht fünfzig zu beleidigen; es ist das Recht des Schwachen. Nur hat er unrecht, von diesem Rechte Gebrauch zu machen. Glauben Sie mir, General, schwören Sie und beleidigen Sie nicht. Abermals von der Hoheit des Vorsitzenden überwältigt, zögerte der General einen Augenblick; doch endlich schritt er zum Tische des Präsidenten und fragte: Wie lautet die Formel? Hören Sie: Ich schwöre bei meiner Ehre, nie irgend einem Menschen auf der Welt zu enthüllen, was ich am 5. Februar 1815 abends zwischen neun und zehn Uhr gesehen und gehört habe, und ich erkläre, daß ich den Tod verdiene, wenn ich meinen Schwur verletze.

 

Der General schien von einem nervösen Zittern ergriffen zu werden, das ihn einige Sekunden lang verhinderte zu antworten; endlich aber sprach er, ein sichtbares Widerstreben überwindend, den verlangten Eid, doch so leise, daß man es kaum hörte; es begehrten auch mehrere Mitglieder, daß er ihn mit lauterer Stimme und deutlicher wiederhole, was geschah.

 

Nun wünsche ich, mich entfernen zu dürfen, sagte der General, bin ich endlich frei? Der Präsident stand auf, bezeichnete drei Mitglieder der Versammlung, die ihn begleiten sollten, und stieg mit dem General in den Wagen, nachdem er ihm die Augen verbunden hatte. Unter den drei Mitgliedern war der Kutscher, der sie gebracht hatte. Die andern Mitglieder des Klubs trennten sich in der Stille.

 

Wohin sollen wir Sie führen? fragte der Präsident.

 

Überallhin, wo ich von Ihrer Gegenwart befreit werde, antwortete d’Epinay.

 

Mein Herr, versetzte der Präsident, nehmen Sie sich in acht, Sie sind hier nicht mehr in der Versammlung, Sie haben es mit einzelnen Menschen zu tun; beleidigen Sie sie nicht, wenn Sie nicht für die Beleidigung verantwortlich gemacht werden wollen.

 

Doch statt diese Sprache zu verstehen, erwiderte d’Epinay: Sie sind immer noch so mutig in Ihrem Wagen, wie in Ihrem Klub, aus dem einfachen Grunde, mein Herr, weil vier Männer stets stärker sind als ein einziger.

 

Der Präsident ließ den Wagen halten.

 

Man war gerade an der Ecke des Quai des Ormes, wo sich die Treppe findet, die zu dem Flusse hinabführt. Warum lassen Sie hier halten? fragte der General d’Epinay.

 

Weil Sie einen Mann beleidigt haben, mein Herr, antwortete der Präsident, und weil dieser Mann keinen Schritt mehr tun will, ohne auf loyale Weise Genugtuung von Ihnen zu verlangen.

 

Abermals eine Art zu morden, sagte der General, die Achseln zuckend.

 

Keinen Lärm, mein Herr, entgegnete der Präsident, wenn ich Sie nicht als einen von den Menschen betrachten soll, die Sie soeben bezeichneten, nämlich für einen Feigen, der seine Schwäche zum Schild nimmt. Sie sind allein, ein einziger wird Ihnen antworten; Sie haben einen Degen an der Seite, ich habe einen in meinem Stocke; Sie haben keinen Zeugen, einer von diesen Herren wird Ihnen als solcher dienen. Nun mögen Sie die Binde abnehmen, wenn es Ihnen beliebt. Der General riß sich auf der Stelle das Taschentuch von den Augen.

 

Endlich, sagte er, endlich werde ich erfahren, mit wem ich es zu tun habe.

 

Man öffnete den Wagen, und die vier Männer stiegen aus.

 

Franz unterbrach sich abermals und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn; es war furchtbar anzuschauen, wie er, bleich und zitternd, mit lauter Stimme die bis dahin unbekannten Umstände von dem Tode seines Vaters las. Valentine faltete die Hände, als ob sie betete. Noirtier schaute Villefort mit einem erhabenen Ausdruck der Verachtung und des Stolzes an.

 

 

Franz fuhr fort:

 

Es geschah dies, wie gesagt, am 5. Februar; es war eine finstere Nacht, der Boden der Treppe war bis zum Fluß feucht von Schnee und Rauhreif; man sah das Wasser schwarz und von Eisschollen bedeckt dahinfließen. Einer von den Zeugen suchte eine Laterne in einem Kohlenschiffe, und beim Scheine dieser Laterne prüfte man die Waffen. Der Degen des Präsidenten, ein einfacher Stockdegen, war fünf Zoll kürzer als der seines Gegners und hatte kein Stichblatt. Der General d’Epinay machte den Vorschlag, die Degen auszulosen; doch der Präsident erwiderte, von ihm gehe die Herausforderung aus, und er habe von vornherein in der Absicht gefordert, daß jeder sich seiner Waffe bediene. Die Zeugen wollten Einsprache tun, doch der Präsident gebot Ihnen Schweigen. Man setzte die Laterne auf den Boden; die Gegner stellten sich einander gegenüber; der Kampf begann. Das Licht machte aus den Degen zwei Blitze; die Männer gewahrte man kaum, so dicht war der Schatten. Der General d’Epinay galt für eine der besten Klingen der Armee. Aber er wurde bei den ersten Stößen so lebhaft bedrängt, daß er zurückwich, wobei er zu Falle kam.

 

Die Zeugen hielten ihn für tot, doch sein Gegner wußte, daß er ihn nicht berührt hatte, und bot ihm die Hand, um ihm ausstehen zu helfen. Statt ihn zu beschwichtigen, brachte dies den General so auf, daß er ebenfalls auf seinen Gegner eindrang. Doch sein Gegner wich nicht eine Linie. Dreimal zog sich der General vor der Degenspitze seines Gegners zurück und griff dann immer wieder an. Beim dritten Male fiel er abermals. Man glaubte, er sei ausgeglitten, wie das erste Mal; da ihn jedoch die Zeugen nicht wieder aufstehen sahen, näherten sie sich ihm und versuchten, ihn auf die Beine zu bringen; doch als man ihn um den Leib faßte, fühlte man Blut.

 

Der General, der halb ohnmächtig war, kam wieder zu sich und rief: Oh! einen Raufer, einen Fechtmeister hat man mir hinterlistig gegenüber gestellt. Ohne zu antworten, näherte sich der Präsident der Laterne, schlug seinen Ärmel zurück und zeigte seinen von zwei Degenstichen durchbohrten Arm; dann öffnete er seinen Rock, knöpfte seine Weste auf und ließ an seiner Seite eine dritte Wunde sehen. Er hatte keinen Seufzer ausgestoßen. Bei dem General d’Epinay trat der Todeskampf ein, und fünf Minuten nachher war er verschieden.

 

Franz las diese letzten Worte mit so gepreßter Stimme, daß man sie kaum hören konnte, und als er sie gelesen, fuhr er sich mit der Hand über die Augen, als wollte er eine Wolke vertreiben. Nach kurzem Schweigen las er fort:

 

Der Präsident stieg wieder die Treppe hinauf, nachdem er zuvor seinen Degen in den Stock gestoßen hatte; eine Blutspur bezeichnete seinen Weg auf dem Schnee. Er hatte noch nicht die oberste Stufe der Treppe erreicht, als er ein dumpfes Platschen hörte, es war der Körper des Generals, den die Zeugen, nachdem sie seines Todes gewiß waren, in den Fluß gestürzt hatten.

 

Der General ist folglich in einem ehrlichen Duell gefallen und nicht etwa meuchlings getötet worden.

 

Zur Beglaubigung dessen haben wir Gegenwärtiges unterzeichnet, um den wahren Tatbestand festzustellen, in der Befürchtung, es könnte ein Augenblick kommen, wo eine von den handelnden Personen dieser furchtbaren Szene des Mordes mit Vorbedacht oder der Verletzung der Gesetze der Ehre beschuldigt würde. Unterzeichnet

 

Beauregard, Duchampy und Lecharpale.

 

Als Franz die für ihn als Sohn so schreckliche Schrift gelesen, als Valentine, bleich vor Erschütterung, eine Träne getrocknet, als Villefort, zitternd und in einen Winkel gedrückt, durch flehende dem unversöhnlichen Greise zugesandte Blicke den Sturm zu beschwören versucht hatte, sagte d’Epinay zu Noirtier: Da Sie diese furchtbare Geschichte in allen ihren Einzelheiten kennen, da Sie sie durch ehrenwerte Unterschriften haben bezeugen lassen, da Sie sich für mich zu interessieren scheinen, obgleich sich Ihr Interesse bis jetzt nur durch den Schmerz kundgegeben hat, so verweigern Sie mir nicht eine letzte Genugtuung, nennen Sie mir den Namen des Präsidenten, damit ich endlich den kenne, der meinen armen Vater getötet hat.

 

Villefort suchte wie verwirrt die Türklinke; Valentine, welche die Antwort des Greises vorausahnte, da sie oft auf seinem Vorderarme die Spur von zwei Degenstichen wahrgenommen hatte, wich einen Schritt zurück.

 

Ich beschwöre Sie, mein Fräulein, sagte Franz, sich an seine Braut wendend, verbinden Sie Ihre Bitten mit den meinen, daß ich den Namen des Mannes erfahre, der mich im Alter von zwei Jahren zur Waise gemacht hat, Valentine blieb stumm und unbeweglich.

 

Ich bitte Sie, mein Herr, sagte Villefort, verlängern Sic diese Szene nicht; die Namen sind überdies absichtlich nie bekannt gegeben worden. Mein Vater kennt selbst den Präsidenten nicht, und wenn er ihn auch kennt, so vermag er ihn nicht zu nennen, da sich die Eigennamen nicht im Wörterbuch finden.

 

Oh weh! Die einzige Hoffnung, die mich beim Lesen dieser Schrift aufrecht erhalten und mir die Kraft gegeben hat, bis zum Ende auszuharren, war die, wenigstens den Namen dessen, der meinen Vater getötet, kennen zu lernen! Mein Herr! rief er, sich zu dem Greise umwendend, im Namen des Himmels! Tun Sie, was Sie können, bemühen Sie sich, ich flehe Sie an, mir begreiflich zu machen …

 

Ja, antwortete Noirtier.

 

Oh, mein Fräulein, rief Franz, Ihr Großvater bedeutet mir durch ein Zeichen, er könne mir diesen Namen angeben … helfen Sie mir … Sie verstehen ihn … leihen Sie mir Ihren Beistand!

 

Noirtier schaute das Wörterbuch an. Franz nahm es zitternd und sprach hintereinander die Buchstaben des Alphabets bis zum I aus.

 

Bei diesem Buchstaben machte der Greis ein bejahendes Zeichen.

 

I? wiederholte Franz.

 

Der Finger des jungen Mannes glitt über die Wörter hin, während Noirtier von Zeit zu Zeit ein verneinendes Zeichen machte und Valentine ihren Kopf in ihren Händen verbarg.

 

Bald gelangte Franz zu dem Worte: Ich.

 

Ja! machte der Greis.

 

Sie? rief Franz, dessen Haare sich auf seinem Haupte sträubten; Sie, Herr Noirtier, Sie haben meinen Vater getötet?

 

Ja, antwortete Noirtier, einen majestätischen Blick auf den jungen Mann heftend.

 

Franz fiel wie gelähmt auf einen Stuhl, Villefort aber öffnete die Tür und entfloh.

 

Die Fortschritte des Herrn Cavalranti Sohn.

 

Die Fortschritte des Herrn Cavalranti Sohn.

 

Herr Cavalcanti Vater war abgereist, um seinen Dienst wieder anzutreten, nicht in der Armee Seiner Majestät des Kaisers von Österreich, sondern an der Roulette der Bäder von Lucca, zu deren eifrigsten Kunden er gehörte. Es versteht sich von selbst, daß er gewissenhaft bis auf den letzten Heller die Summe mitgenommen hatte, die ihm für seine Reise und als Belohnung für die majestätische Art und Weise, wie er seine Vaterrolle gespielt, angewiesen worden war.

 

Andrea erbte bei dieser Abreise alle Papiere, die bestätigten, daß er wirklich die Ehre hatte, der Sohn des Marchese Bartolomeo und der Marchesa Oliva Corsinari zu sein.

 

Er hatte inzwischen gleichsam Anker geworfen in der Pariser Gesellschaft, die so leicht und nachsichtig die Fremden aufnimmt und sie nicht nach dem behandelt, was sie sind, sondern nach dem, was sie sein wollen. So nahm Andrea schon nach vierzehn Tagen eine recht hübsche Stellung ein; man nannte ihn Herr Graf, man sagte, er habe fünfzigtausend Franken Rente, und sprach von den ungeheuren Schätzen seines Vaters, die in den Steinbrüchen von Saravezza vergraben seien.

 

In dieser Zeit machte Monte Christo eines Abends einen Besuch bei Herrn Danglars. Dieser war ausgegangen; aber man schlug dem Grafen vor, ihn bei der Baronin anzumelden, was er auch annahm.

 

Seit dem Mittagsmahle in Auteuil und den Ereignissen, die darauf folgten, hörte Frau Danglars den Namen Monte Christo nie ohne nervöse Erregung aussprechen. Blieb dann der Graf in Person aus, so steigerte sich die schmerzliche Empfindung noch; erschien er dagegen, so zerstreuten sein offenes Gesicht, seine glänzenden Augen, seine Liebenswürdigkeit und Höflichkeit gar bald den letzten Eindruck von Furcht bei der Dame.

 

Als Monte Christo in das Boudoir trat, betrachtete die Baronin eben Zeichnungen, die ihr ihre Tochter hinreichte, nachdem diese sie mit Herrn Cavalcanti Sohn besehen hatte. Der Graf, von der Baronin nach Überwindung des ersten Schrecks bei Nennung seines Namens mit einem Lächeln begrüßt, übersah die ganze Szene mit einem Blicke. Neben der Baronin saß Eugenie in halb liegender Stellung auf einem Lehnsessel, und Cavalcanti stand vor ihr. Schwarz gekleidet mit lackierten Schuhen und durchbrochenen seidenen Strümpfen, fuhr sich der junge Mann mit einer ziemlich weißen und gepflegten Hand in seine blonden Haare, wobei ein Diamant an seiner Hand funkelte.

 

Diese Bewegung war von mörderisch verliebten Blicken auf Fräulein Danglars begleitet und von Seufzern, die sich an dieselbe Adresse richteten. Fräulein Danglars war immer dieselbe, das heißt schön, kalt und spöttisch. Kein Blick, kein Seufzer entging ihr, doch es war, als glitten sie am Panzer der Minerva ab.

 

Eugenie begrüßte den Grafen kalt, und sobald die Unterhaltung allgemein und etwas lauter wurde, benutzte sie dies, um sich in ihr Studierzimmer zurückzuziehen, wo bald zwei lachende Stimmen, vermischt mit den Akkorden eines Pianos, dem Grafen bewiesen, daß Fräulein Danglars seiner Gesellschaft und der des Herrn Cavalcanti die von Fräulein Luise d’Armilly, ihrer Gesanglehrerin, vorzog. Während der Graf mit Frau Danglars plauderte und sich ganz dem Reiz der Unterhaltung hinzugeben schien, bemerkte er doch die Unruhe des Herrn Andrea Cavalcanti, der, um zu horchen, bis an die Tür des Zimmers von Fräulein Eugenie ging, aber die Schwelle nicht zu überschreiten wagte.

 

Bald kehrte der Bankier zurück. Sein erster Blick galt Monte Christo, sein zweiter Andrea.

 

Haben Sie die Fräulein nicht eingeladen, mit Ihnen zu musizieren? fragte Danglars Andrea.

 

Nein, mein Herr, antwortete Andrea mit einem Seufzer, der noch auffälliger war als die früheren. Danglars ging sogleich zur Tür und öffnete sie, so daß man die beiden Mädchen auf demselben Sitze nebeneinander vor dem Piano sitzen sah. Fräulein d’Armilly besaß eine interessante Schönheit, oder vielmehr eine ausgesuchte Zierlichkeit. Es war eine kleine, feenartig schlanke und blonde Dame mit langen, gelockten Haaren, welche auf einen etwas zu gestreckten Hals fielen, und mit einem etwas matten, verschleierten Blick. Man sagte, sie habe eine schwache Brust und würde wie Antonia in der ›Cremoneser Geige‹ eines Tages beim Singen sterben.

 

Monte Christo warf einen raschen, neugierigen Blick in dieses Frauengemach; er sah zum ersten Male Fräulein d’Armilly, von der er so oft im Hause hatte sprechen hören.

 

Nun! fragte der Bankier seine Tochter, sind wir ausgeschlossen?

 

Dann führte er den jungen Mann in den kleinen Salon, und – war es nun Zufall, war es Absicht – hinter Andrea wurde die Tür so zugestoßen, daß Monte Christo und die Baronin von dem Orte, wo sie saßen, nichts mehr sehen konnten.

 

Bald darauf hörte der Graf Andreas Stimme zu den Akkorden des Klaviers ein korsisches Lied singen. Während der Graf lächelnd auf dieses Lied horchte, das ihn Andrea vergessen ließ und an Benedetto erinnerte, rühmte Frau Danglars die Seelenstärke ihres Mannes, der an demselben Morgen bei einem Bankerott in Mailand abermals 3-400 000 Franken verloren hatte. Und dieses Lob war in der Tat verdient; denn wenn es der Graf nicht durch die Baronin oder durch ein anderes ihm zu Gebot stehendes Mittel erfahren hätte, das Gesicht des Barons würde ihm kein Wort davon gesagt haben.

 

Gut! dachte Monte Christo, er ist bereits so weit, daß er verbirgt, was er verliert, während er sich vor einem Monat noch seiner Verluste rühmte.

 

Dann sagte der Graf laut: Oh! gnädige Frau, Herr Danglars kennt die Börse so gut, daß er dort stets wieder gewinnen wird, was er anderswo verlieren mag.

 

Ich sehe, daß Sie den allgemeinen Irrtum, Herr Danglars spiele, teilen. Das ist nicht der Fall.

 

Ach ja! das ist wahr. Gnädige Frau, ich erinnere mich dessen, was mir Herr Debray gesagt hat … Doch was ist eigentlich aus Herrn Debray geworden? Ich. habe ihn seit drei oder vier Tagen mit keinem Auge gesehen.

 

Ich auch nicht, sagte Frau Danglars mit der gelassensten Miene. Was haben Sie von Herrn Debray gehört?

 

Er hat mir gesagt, Sie selbst opferten dem Dämon des Spieles.

 

Ich gestehe, das Börsenspiel lockte mich eine Zeitlang; aber ich habe den Geschmack daran verloren.

 

Darin haben Sie unrecht, gnädige Frau. Mein Gott, die Wechselfälle des Glücks sind unberechenbar, und wäre ich ein Weib und zufällig Frau eines Bankiers geworden, so würde ich trotz allen Vertrauens zu meinem Manne mir doch ein unabhängiges Vermögen zu sichern suchen.

 

Frau Danglars errötete unwillkürlich.

 

Hören Sie, fuhr Monte Christo fort, als ob er nichts gesehen hätte, haben Sie gehört, wie gestern die Neapolitaner gestiegen sind?

 

Ich habe keine und habe nie welche gehabt, sagte rasch die Baronin; doch nun ist genug von der Börse gesprochen, Herr Graf, wir gleichen zwei Wechselagenten; reden wir lieber von den armen Villeforts, die in diesem Augenblick so sehr vom Unglück heimgesucht werden.

 

Was ist ihnen denn widerfahren? fragte Monte Christo mit gutgespielter Unwissenheit.

 

Sie wissen doch, daß sie nach dem plötzlichen Tode des Herrn von Saint-Meran auch die Marquise drei Tage nach ihrer Ankunft verloren haben.

 

Ah! es ist wahr, versetzte Monte Christo, ich habe davon gehört; doch das ist, wie Claudius zu Hamlet sagt, das Gesetz der Natur: ihre Väter sind vor ihnen gestorben, und sie haben sie beweint; sie werden vor ihren Söhnen sterben, und ihre Söhne werden sie beweinen.

 

Doch das ist noch nicht alles. Sie wissen doch, daß sie ihre Tochter verheiraten wollten? An Herrn Franz d’Epinay … Hat die Heirat nicht stattgefunden? – Gestern morgen hat ihnen Franz, scheint es, ihr Wort zurückgegeben. – Ah! wirklich … Kennt man die Ursache dieses Bruches? – Nein. – Und wie nimmt Herr von Villefort alle diese Unglücksfälle auf? – Wie immer, als Philosoph.

 

In diesem Augenblick kehrte Danglars zurück.

 

Wie! rief die Baronin, Sie lassen Herrn Cavalcanti mit Ihrer Tochter allein?

 

Und als was sehen Sie denn Fräulein d’Armilly an? erwiderte der Bankier und bemerkte sodann, sich an Monte Christo wendend: Ein reizender junger Mann, nicht wahr, Herr Graf, dieser Prinz Cavalcanti? Nur fragt es sich, ob er wirklich Prinz ist?

 

Ich stehe nicht dafür. Man hat mir seinen Vater als Marquis vorgestellt; demnach wäre er Graf. Doch ich glaube nicht, daß er sich viel auf seinen Titel einbildet.

 

Warum? Wenn er Prinz ist, so hat er unrecht, sich dessen nicht zu rühmen. Jedem sein Recht! Ich liebe es nicht, daß man seinen Ursprung verleugnet.

 

Aber sehen Sie, welcher Unannehmlichkeit Sie sich aussetzen, sagte die Baronin. Wenn Herr von Morcerf zufällig käme, so würde er Herrn Cavalcanti in einem Zimmer finden, in das er, der Bräutigam, nie eintreten durfte.

 

Sie tun recht, zufällig zu sagen, erwiderte der Bankier, denn man sieht ihn so selten, daß es in der Tat nur der Zufall zu sein scheint, der ihn zu uns führt.

 

Wenn er aber käme und diesen jungen Mann bei Ihrer Tochter träfe, so würde er mit Recht darüber aufgebracht sein.

 

Er! mein Gott, Sie täuschen sich; Herr Albert tut uns nicht die Ehre an, eifersüchtig auf seine künftige Frau zu sein, dazu liebt er sie nicht genug. Was liegt mir auch daran, ob er aufgebracht ist oder nicht.

 

Doch bei dem Verhältnis, in dem wir zu einander stehen …

 

Wollen Sie wissen, in welchem Verhältnis wir stehen? Auf dem Balle seiner Mutter tanzte er ein einziges Mal mit meiner Tochter, während Herr Cavalcanti dreimal mit ihr tanzte, und er hat es gar nicht bemerkt.

 

Der Herr Vicomte Albert von Morcerf, meldete der Kammerdiener.

 

Die Baronin stand rasch auf. Sie wollte ihre Tochter schnell benachrichtigen, aber Danglars hielt sie am Arme zurück und sagte:

 

Lassen Sie das!

 

Sie schaute ihn erstaunt an. Monte Christo stellte sich, als hätte er dieses Zwischenspiel nicht bemerkt.

 

Albert trat ein; er war sehr schön und sehr heiter, grüßte die Baronin mit Leichtigkeit, Danglars mit Vertraulichkeit, Monte Christo mit Liebe und sagte sodann, sich wieder zur Baronin wendend: Wollen Sie mir erlauben, mich bei Ihnen nach dem Befinden von Fräulein Danglars zu erkundigen?

 

Sie befindet sich sehr wohl, antwortete rasch Danglars, sie musiziert soeben in ihrem kleinen Salon mit Herrn Cavalcanti.

 

Albert behielt seine ruhige, gleichgültige Miene; er empfand vielleicht einen inneren Ärger, aber er fühlte Monte Christos Blick auf sich geheftet und bezwang sich.

 

Herr Cavalcanti hat eine sehr schöne Tenorstimme, sagte er, und Fräulein Danglars einen prachtvollen Sopran. Es muß ein entzückendes Konzert sein.

 

Sie stimmen allerdings vortrefflich zusammen, sagte Danglars.

 

Ich bin auch musikalisch, wenigstens wie meine Lehrer sagten, fuhr der junge Mann fort; doch seltsamerweise konnte ich meine Stimme nie mit einer andern Stimme in Einklang bringen.

 

Danglars lächelte auf eine Weise, die wohl bedeuten sollte: Ärgere dich doch! Dann sagte er laut: Der Prinz und meine Tochter haben auch gestern die allgemeine Bewunderung erregt. Waren Sie gestern nicht hier, Herr von Morcerf?

 

Welcher Prinz? fragte Albert.

 

Der Prinz Cavalcanti, erwiderte Danglars, der dem jungen Italiener hartnäckig diesen Titel gab.

 

Verzeihen Sie, ich wußte nicht, daß er Prinz ist. Also der Prinz Cavalcanti hat gestern mit Fräulein Eugenie gesungen! Das muß in Wahrheit entzückend gewesen sein, und ich bedaure lebhaft, es nicht gehört zu haben. Doch ich konnte Ihrer Einladung nicht entsprechen, da ich Frau von Morcerf zur Baronin Chateau-Renaud, wo die Deutschen sangen, begleiten mußte.

 

Dann wiederholte er nach einem Stillschweigen: Wird es mir erlaubt sein, Fräulein Danglars meine Achtung zu bezeigen?

 

Oh! warten Sie, warten Sie, ich bitte Sie, erwiderte der Bankier, den jungen Mann zurückhaltend, hören Sie die köstliche Cavatine: Ta, ta, ta, ti, ta, ti, ta, ta; es ist entzückend, sie sind sogleich fertig … nur eine Sekunde, vortrefflich! Bravo! bravo! bravi!

 

Und der Bankier fing an, wie wütend Beifall zu klatschen.

 

In der Tat, rief Albert, das ist vortrefflich, und man kann unmöglich die italienische Musik charakteristischer wiedergeben als der Prinz Cavalcanti. Nicht wahr, Sie sagten Prinz? Wenn er übrigens nicht Prinz ist, so wird man ihn schon noch dazu machen, denn das hält in Italien nicht schwer. Doch um auf unsere anbetungswürdigen Sänger zurückzukommen … Sie sollten uns das Vergnügen machen, Herr Danglars, Fräulein Danglars und Herrn Cavalcanti, ohne etwas von der Anwesenheit eines Fremden zu sagen, zu bitten, ein anderes Stück anzufangen. Es ist so köstlich, die Musik zu genießen, ohne daß man sieht, oder gesehen wird, und folglich, ohne den Musiker zu beengen, der sich ganz dem Instinkt seines Genies oder dem Ergusse seines Herzens überlassen kann.

 

Diesmal wurde Danglars durch das Phlegma des jungen Mannes aus dem Sattel gehoben. Er nahm Monte Christo beiseite und sagte zu ihm: Nun, was denken Sie von unserem Verliebten?

 

Verdammt, er kommt, mir ziemlich kalt vor; doch, was wollen Sie? Sie haben sich nun einmal verbindlich gemacht!

 

Allerdings habe ich mich verbindlich gemacht, aber nur, meine Tochter einem Manne zu geben, der sie liebt, und nicht einem Manne, der sie nicht liebt. Sehen Sie ihn an, er ist kalt wie Marmor, stolz wie sein Vater. – Wenn er noch reich wäre, wenn er das Vermögen der Cavalcanti besäße, könnte man darüber hinwegsehen! Meiner Treu, wenn meine Tochter jedoch einen guten Geschmack hätte …

 

Ich weiß nicht, ob meine Freundschaft für ihn mich verblendet, erwiderte Monte Christo, doch ich versichere Ihnen, Herr von Morcerf ist ein liebenswürdiger junger Mann, der Ihre Tochter glücklich machen und früher oder später etwas erreichen wird; denn die Stellung seines Vaters ist im ganzen ausgezeichnet.

 

Hm! machte Dauglars.

 

Warum dieser Zweifel?

 

Es ist da immer noch die Vergangenheit … die dunkle Vergangenheit.

 

Doch die Vergangenheit des Vaters geht den Sohn nichts an. – Warum nicht?

 

Seien Sie nicht eigensinnig! Vor einem Monat fanden Sie diese Verbindung vortrefflich. Sie begreifen, ich bin in Verzweiflung, denn bei mir haben Sie diesen Cavalcanti gesehen, den ich, ich wiederhole es, nicht kenne.

 

Ich kenne ihn, das genügt.

 

Sic kennen ihn? Haben Sie Erkundigungen über ihn eingezogen?

 

Bedarf es deren? Weiß man nicht beim ersten Blicke, mit wem man es zu tun hat? … Einmal ist er reich. – Ich kann keine Versicherung hierüber geben.

 

Sie haften doch für ihn? – Bis fünfzigtausend Franken, eine Lappalie.

 

Er hat eine ausgezeichnete Erziehung. – Hm!

 

Er ist musikalisch. – Alle Italiener sind das.

 

Hören Sie, Graf, Sie sind nicht gerecht gegen diesen jungen Mann.

 

Ja, ich gestehe es; da ich Ihre Verbindlichkeit Herrn Morcerf gegenüber kenne, sehe ich zu meinem Schmerze, daß er so dazwischentritt und sein Vermögen mißbraucht!

 

Danglars schlug ein Gelächter aus und rief: Was für ein Puritaner Sie sind! Das kommt täglich vor.

 

Sie können aber doch so nicht brechen, lieber Danglars; die Morcerf rechnen auf diese Heirat.

 

Sie rechnen darauf? – Bestimmt.

 

Dann mögen sie sich erklären. Sie, Herr Graf, sollten ein paar Worte hierüber bei dem Vater fallen lassen, da Sie im Hause so gut angeschrieben sind.

 

Ich? zum Teufel, wo haben Sie das gesehen?

 

Auf ihrem Balle, mir scheint. Wie! die Gräfin, die stolze Mercedes, die hochmütige Katalonierin, die sich kaum herabläßt, den Mund für ihre ältesten Bekannten zu öffnen, hat Sie am Arme genommen, ist mit Ihnen in den Garten und in die kleinen Alleen gegangen und erst nach einer halben Stunde zurückgekommen!

 

Ah! Baron, Baron, unterbrach Albert das leise geführte Gespräch, Sie hindern uns, zu hören; wie kann ein Musikfreund wie Sie so barbarisch sein!

 

Gut, gut, Herr Spötter, rief Danglars und fügte leise, zu Monte Christo gewandt, hinzu: Sie übernehmen es, dies dem Vater zu sagen?

 

Gern, wenn Sie wünschen.

 

Doch es muß bestimmt und unumwunden geschehen; er soll meine Tochter von mir verlangen, eine Zeit festsetzen, seine pekuniären Bedingungen nennen, damit man sich verständigt oder nicht verständigt, aber Sie begreifen, Aufschub gibt es nicht mehr!

 

Gut, ich werde den Schritt tun.

 

 

Ich sage nicht, daß ich ihn mit Vergnügen erwarte, aber ich erwarte ihn. Sie wissen, ein Bankier muß der Sklave seines Wortes sein. Hier stieß Danglars einen Seufzer aus.

 

Bravo! bravo! bravo! rief Morcerf, den Bankier parodierend und am Schlusse des Stückes Beifall klatschend.

 

Danglars schaute Albert erstaunt von der Seite an, als ein Diener eintrat und ihm ein paar Worte zuflüsterte.

 

Ich komme zurück, sagte der Bankier zu Monte Christo, erwarten Sie mich, ich habe Ihnen vielleicht sogleich etwas zu sagen. Und er ging hinaus.

 

Die Baronin benutzte die Abwesenheit ihres Mannes, um die Tür des Zimmers ihrer Tochter wieder auszustoßen, worauf man Andrea, der mit Fräulein Danglars vor dem Klavier saß, wie eine Feder ausspringen sah.

 

Albert verbeugte sich lächelnd vor Fräulein Danglars, die ihm ohne jede Verlegenheit, wie gewöhnlich, einen kalten Gruß zurückgab.

 

Cavalcanti war sichtbar verlegen; er grüßte Morcerf, der seine Begrüßung mit geringschätzender Miene erwiderte und sich sodann in den ausgesuchtesten Lobeserhebungen über Fräulein Danglars‘ Stimme erging.

 

Nun haben wir genug Musik und Komplimente gehabt, sagte Frau Danglars; wir wollen den Tee nehmen.

 

Komm, Luise, sagte Fräulein Danglars zu ihrer Freundin, worauf alle in den anstoßenden Salon gingen, in dem schon der Tee bereit stand.

 

In dem Augenblick, als man sich niedersetzte, öffnete sich die Tür wieder, und Danglars erschien sichtlich bewegt.

 

Auf einen fragenden Blick des Grafen erwiderte der Bankier: Ich habe einen Kurier von Griechenland bekommen.

 

Ah! ah! deshalb hat man Sie gerufen!

 

Wie geht es König Otto? fragte Albert munter.

 

Danglars schaute ihn von der Seite an, ohne ihm zu antworten, und Monte Christo wandte sich ab, um den Ausdruck des Mitleids zu verbergen, der auf seinem Gesichte hervortrat, bald aber wieder verschwand.

 

Nicht wahr, wir gehen miteinander? fragte Albert den Grafen.

 

Ja, wenn Sie wollen, antwortete dieser.

 

Albert verstand den Blick des Bankiers nicht und sagte erstaunt zu Monte Christo, der ihn vollkommen verstanden hatte: Haben Sie gesehen, wie er mich anschaute, und was will er mit seinen Nachrichten aus Griechenland sagen?

 

Wie soll ich das wissen?

 

Ich setze voraus, Sie stehen in einer gewissen Beziehung zu diesem Lande.

 

Monte Christo lächelte, wie man lächelt, wenn man sich einer Antwort überheben will.

 

Sehen Sie, er nähert sich Ihnen, sagte Albert; ich will Fräulein Danglars ein Kompliment über ihre Kamee machen, inzwischen hat der Vater Zeit, mit Ihnen zu sprechen.

 

Wollen Sie ihr ein Kompliment machen, so tun Sie es wenigstens über ihre Stimme, versetzte Monte Christo.

 

Nein, das tut jeder.

 

Mein lieber Vicomte, erwiderte Monte Christo, Ihr Benehmen kommt mir etwas sonderbar vor.

 

Albert trat mit lächelnden Lippen auf Eugenie zu.

 

Inzwischen neigte sich Danglars dem Grafen zu und flüsterte: Sie haben mir einen guten Rat gegeben, es liegt eine ganz furchtbare Geschichte in den Worten: Fernand und Janina, – Ah! bah!

 

Ja, ich werde es Ihnen erzählen; doch nehmen Sie den jungen Mann mit! Es wäre mir unangenehm, mit ihm zusammen zu bleiben.

 

Er begleitet mich; muß ich Ihnen immer noch den Vater schicken? … Mehr als je.

 

Gut.

 

Der Graf machte Albert ein Zeichen.

 

Beide verbeugten sich vor den Damen und gingen weg, wobei Albert sich Fräulein Danglars‘ geringschätzender Art gegenüber völlig gleichgültig verhielt, während Monte Christo Frau Danglars seine Ratschläge wiederholte, wie sich die Frau eines Bankiers klüglich ihre Zukunft sichern müßte.

 

Andrea Cavalcanti blieb Herr des Schlachtfeldes.

 

Haydee.

 

Haydee.

 

Kaum lenkte der Wagen um die Ecke, als sich Albert mit einem Gelächter, das zu lärmend war, um natürlich zu sein, an den Grafen wandte und sagte: Ich frage Sie, wie Karl IX. nach der Bartholomäus-Nacht Katharina von Medici fragte: Wie habe ich meine Rolle gespielt?

 

In welcher Hinsicht?

 

Hinsichtlich der Einsetzung meines Nebenbuhlers bei Herrn Danglars …

 

Welches Nebenbuhlers?

 

Bei Gott! Ihres Schützlings, des Herrn Cavalcanti.

 

Oh! keine schlechten Späße, Vicomte, Andrea ist nicht mein Schützling, am wenigsten bei Herrn Danglars.

 

Und das würde ich Ihnen zum Vorwurf machen, wenn der junge Mann eines Schutzes bedürfte; doch zu meinem Glücke kann er dessen entbehren.

 

Wie, Sie glauben, er mache den Hof?

 

Ich stehe Ihnen dafür; er seufzt, wälzt die Augen im Kopfe umher und gibt verliebte Töne von sich, kurz, er strebt mit allen Mitteln nach der Hand der stolzen Eugenie.

 

Was tut’s, wenn man nur an Sie denkt!

 

Sagen Sie das nicht, lieber Graf, man stößt mich von zwei Seiten zurück.

 

Wie, von zwei Seiten?

 

Fräulein Eugenie hat mir kaum geantwortet, und Fräulein d’Armilly, ihre Vertraute, gar nicht.

 

Ja … aber der Vater betet Sie an …

 

Er? im Gegenteil, er hat mir tausend Dolche ins Herz gestoßen; Dolche, die in das Heft zurückfuhren, Theaterdolche, die er aber für wahr und wirklich hielt.

 

Die Eifersucht deutet Zuneigung an.

 

Ja, doch ich bin nicht eifersüchtig.

 

Er ist es!

 

Auf wen, auf Debray?

 

Nein, auf Sie.

 

Auf mich? Ich wette, daß er mir, ehe acht Tage vergehen, die Tür vor der Nase zumacht.

 

Sie täuschen sich, lieber Vicomte.

 

Haben Sie einen Beweis?

 

Wollen Sie ihn?

 

Ja.

 

Ich bin beauftragt, den Herrn Grafen von Morcerf zu bitten, einen entscheidenden Schritt bei dem Baron zu tun.

 

Nicht wahr, das werden Sie nicht tun, lieber Graf?

 

Sie täuschen sich, Albert, ich werde es tun, da ich es versprochen habe.

 

Es scheint, es ist Ihnen alles daran gelegen, mich zu verheiraten, versetzte Albert mit einem Seufzer.

 

Es liegt mir daran, mit jedermann gut zu stehen. Aber, sagen Sie mir, was ist das eigentlich mit Debray? Ich sehe ihn nicht mehr bei der Baronin.

 

Es hat Streit gegeben.

 

Mit ihr?

 

Nein, mit dem Baron.

 

Er hat also etwas bemerkt?

 

Sie scherzen!

 

Glauben Sie, er habe es vermutet? versetzte Monte Christo naiv.

 

Ei, woher kommen Sie denn, lieber Graf?

 

Vom Kongo, wenn Sie wollen.

 

Das ist noch nicht fern genug.

 

Kenne ich die Pariser Ehemänner?

 

Die Ehemänner sind überall dieselben. Wenn Sie sie in irgend einem Lande studiert haben, kennen Sie das ganze Geschlecht.

 

Doch was konnte denn Danglars und Debray entzweien? Sie schienen sich so gut zu verstehen, sagte Monte Christo mit gleicher Naivität.

 

Ah! wir kommen zu den Geheimnissen der Isis, und ich bin nicht eingeweiht. Wenn Herr Cavalcanti Sohn zur Familie gehört, so fragen Sie ihn danach.

 

Der Wagen hielt an.

 

Wir sind an Ort und Stelle, sagte Monte Christo, es ist erst halb elf Uhr, kommen Sie mit herauf, mein Wagen wird Sie zurückfahren.

 

Ich danke, mein Coupé muß uns gefolgt sein.

 

In der Tat, hier ist es, sagte Monte Christo und sprang zu Boden.

 

Beide traten in das Haus. Lassen Sie uns Tee machen, Baptistin, sagte Monte Christo, sobald sie im hell beleuchteten Salon waren.

 

Baptistin entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen. Wenige Sekunden nachher erschien er wieder mit Tee und allem erdenklichem Zubehör.

 

In der Tat, mein lieber Graf, was ich an Ihnen bewundere, ist nicht Ihr Reichtum, es gibt vielleicht reichere Leute als Sie; es ist nicht Ihr Geist, Beaumarchais hatte nicht mehr, aber ebensoviel. Es ist die Art und Weise, wie Sie auf die Sekunde bedient werden, als ob man schon an Ihrem Läuten erriete, was Sie zu haben wünschen, und als ob das, was Sie haben wollen, stets bereit wäre.

 

An dem, was Sie sagen, ist etwas Wahres. Man kennt meine Gewohnheiten. Passen Sie auf! Wünschen Sie nicht irgend etwas zu tun, während Sie Tee trinken?

 

Bei Gott! ich wünsche zu rauchen.

 

Monte Christo näherte sich dem Glöckchen und tat einen Schlag.

 

Nach einer Sekunde öffnete sich eine besondere Tür, und Ali erschien mit zwei mit vortrefflichem Latakie gestopften Tschibuks.

 

Das ist wunderbar, sagte Morcerf.

 

Nein, das ist ganz einfach, versetzte Monte Christo. Ali weiß, daß ich gewöhnlich rauche, wenn ich Kaffee oder Tee trinke; er weiß, daß ich Tee verlangt habe; er weiß, daß ich mit Ihnen nach Hause gekommen bin, er hört, daß ich rufe, er vermutet die Ursache, und da er aus einem Lande stammt, wo die Gastfreundschaft besonders mittels der Pfeife geübt wird, so bringt er statt eines Tschibuks zwei.

 

Das ist allerdings eine gute Erklärung; darum scheint es mir aber nicht minder wahr, daß nur Sie … Doch was höre ich?

 

Morcerf neigte sich nach der Tür, durch welche Töne wie von einer Guitarre drangen.

 

Meiner Treu, lieber Vicomte, Sie sind heute ein Opfer der Musik; Sie entgehen dem Piano Fräulein Danglars‘ nur, um in Haydees Guzla zu fallen.

 

Haydee! welch bewunderungswürdiger Name! Es gibt also wirklich auch außer in Lord Byrons Gedichten Frauen, die Haydee heißen?

 

Gewiß; Haydee ist ein in Frankreich sehr seltener, doch in Albanien und Epirus sehr gewöhnlicher Vorname, es ist, wie wenn man zum Beispiel sagte: Keuschheit, Schamhaftigkeit, Unschuld.

 

Oh! wie reizend! rief Albert; wie gern hörte ich unsere Französinnen sich Fräulein Güte, Fräulein Schweigen, Fräulein Nächstenliebe nennen! Wie wirkungsvoll müßte es sein, wenn es bei einem Heiratsaufgebot, statt Claire Marie Eugenie, Fräulein Keuschheit-Schamhaftigkeit-Unschuld Danglars heißen würde!

 

Sie sind verrückt! sagte der Graf; reden Sie nicht so laut! Haydee könnte es hören.

 

Und sie würde sich darüber ärgern?

 

Nein, sagte der Graf kalt.

 

Sie ist gut?

 

Es ist nicht Güte, es ist Pflicht; eine Sklavin ärgert sich nicht über ihren Herrn.

 

Scherzen Sie nicht! Es gibt keine Sklavinnen mehr!

 

Sicher, da Haydee die meinige ist.

 

In der Tat, Sie tun nichts und haben nichts, wie andere Menschen. Sklavin des Grafen Monte Christo! Das ist auch eine Stellung. Nach der Art und Weise, wie Sie das Geld in Bewegung setzen, muß es ein Platz sein, der hunderttausend Taler jährlich einträgt.

 

Hunderttausend Taler! Die Arme hat mehr als dies besessen. Die Schätze ihres Vaters konnten den Vergleich mit denen aus Tausendundeiner Nacht aushalten.

 

Sie ist also wirklich von Geburt eine Prinzessin?

 

Gewiß, und zwar eine der reichsten ihres Landes.

 

Ich vermutete es. Doch wie ist aus der vornehmen Prinzessin eine Sklavin geworden?

 

Wie ist Dionys, der Tyrann von Syrakus, Schulmeister geworden? Der Zufall des Krieges, lieber Vicomte, die Laune des Schicksals.

 

Und ihr Name ist ein Geheimnis?

 

Ja, für alle, aber nicht für Sie, lieber Vicomte, der Sie zu meinen Freunden gehören, und der Sie schweigen, nicht wahr, wenn Sie mir zu schweigen versprechen?

 

Bei meinem Ehrenwort.

 

Sie kennen die Geschichte des Paschas von Janina?

 

Von Ali Tependelini? Ganz gewiß, denn mein Vater hat in seinen Diensten sein Glück gemacht.

 

Es ist wahr, ich hatte es vergessen.

 

Nun, in welcher Beziehung steht Haydee zu Ali Tependelini?

 

Sie ist ganz einfach seine Tochter.

 

Wie, die Tochter von Ali Pascha?

 

Ja, von der schönen Wasiliki.

 

Und sie ist Ihre Sklavin?

 

Mein Gott, ja!

 

Wie ist dies zugegangen?

 

Als ich eines Tages über den Markt von Konstantinopel ging, kaufte ich sie.

 

Das ist herrlich! Bei Ihnen, lieber Graf, lebt man nicht, sondern träumt. Doch hören Sie, was ich Sie nun fragen werde, ist sehr unbescheiden.

 

Sprechen Sie immerhin.

 

Da Sie mit ihr ausgehen, da Sie Haydee in die Oper führen, so kann ich mich wohl erdreisten …

 

Sie können sich erdreisten, alles von mir zu verlangen.

 

Wohl, lieber Graf, stellen Sie mich Ihrer Prinzessin vor.

 

Gern; doch unter zwei Bedingungen.

 

Ich nehme sie zum voraus an.

 

Einmal dürfen Sie diese Vorstellung niemand mitteilen.

 

Sehr gut. Ich schwöre.

 

Und sodann dürfen Sie ihr nicht sagen, Ihr Vater habe dem ihrigen gedient.

 

Ich schwöre abermals.

 

Vortrefflich. Vicomte, nicht wahr, Sie werden sich dieser beiden Schwüre erinnern?

 

Oh! gewiß.

 

Gut, ich weiß, daß Sie ein Mann von Ehre sind.

 

Der Graf schlug abermals auf das Glöckchen; Ali erschien.

 

Melde Haydee, sagte er zu ihm, daß ich den Kaffee bei ihr trinken will, und mache ihr begreiflich, daß ich sie um Erlaubnis bitte, ihr einen von meinen Freunden vorzustellen.

 

Ali verbeugte sich und trat ab.

 

Es ist also abgemacht, wandte er sich wieder an Albert, keine unmittelbare Frage, lieber Vicomte. Wenn Sie etwas wissen wollen, so fragen Sie mich, und ich werde Haydee fragen.

 

Abgemacht!

 

Ali erschien zum dritten Male und hielt den Türvorhang aufgehoben, um seinem Herrn und Albert anzudeuten, daß sie kommen könnten.

 

Treten wir ein! sagte Monte Christo.

 

Albert fuhr mit der Hand in seine Haare und kräuselte seinen Schnurrbart. Der Graf nahm seinen Hut, zog seine Handschuhe an und ging Albert in die Wohnung voran, die von Ali wie von einem Vorposten bewacht und von den drei Myrtho untergebenen französischen Kammerfrauen verteidigt wurde.

 

Haydee wartete im ersten Zimmer, dem Salon, mit großen Augen, in denen sich das Erstaunen deutlich ausprägte, denn es geschah zum erstenmal, daß ein anderer Mann als Monte Christo zu ihr drang. Sie saß mit gekreuzten Beinen in der Ecke eines Sofas wie in einem Nest aus den reichsten gestickten und gestreiften orientalischen Seidenstoffen; neben ihr lag das Instrument, dessen Töne sie verraten hatten. Sie war reizend anzuschauen.

 

Als sie Monte Christo erblickte, stand sie auf, mit dem doppelten Lächeln der Tochter und der Liebenden, das nur ihr eigen war; Monte Christo ging auf sie zu und reichte ihr seine Hand, auf die sie, wie gewöhnlich, ihre Lippen drückte.

 

Albert war beim Anblick dieser seltsamen Schönheit, die er zum erstenmal sah, und von der sich ein Franzose keinen Begriff machen konnte, bei der Tür stehen geblieben.

 

Wen bringst du? fragte das Mädchen in neugriechischer Sprache, einen Bruder, einen Freund, einen Bekannten oder einen Feind?

 

Einen Freund, antwortete Monte Christo in derselben Sprache.

 

Wie heißt er?

 

Graf Albert, derselbe, den ich in Rom den Händen der Banditen entrissen habe.

 

In welcher Sprache soll ich mit ihm reden?

 

Monte Christo wandte sich zu Albert und fragte den jungen Mann:

 

Kennen Sie das Neugriechische?

 

Ach, nicht einmal das Altgriechische, versetzte Albert; Homer und Plato haben einen erbärmlichen Schüler an mir gehabt.

 

Nun wohl, sagte Haydee und bewies durch ihre Worte, daß sie Monte Christos Frage und Alberts Antwort gehört und verstanden hatte, ich werde Französisch oder Italienisch sprechen, wenn es überhaupt meines Herrn Wille ist, daß ich spreche.

 

Monte Christo dachte einen Augenblick nach und erwiderte: Du wirst Italienisch sprechen. Dann sagte er zu Albert: Es ist ärgerlich, daß Sie weder das Neugriechische, noch das Altgriechische verstehen, denn Haydee spricht beides vortrefflich; die Arme ist genötigt, Italienisch mit Ihnen zu reden, was Ihnen vielleicht einen falschen Begriff von ihr geben wird.

 

Er machte Haydee ein Zeichen.

 

Sei willkommen, Freund, der du mit meinem Herrn und Gebieter erscheinst, sagte das Mädchen in vortrefflichem Toskanisch und mit weichem, römischem Akzent. Ali, Kaffee und Pfeifen!

 

Monte Christo zeigte Albert zwei Stühle, die sie an ein mit natürlichen Blumen, Zeichnungen und Musikalien bedecktes Tischchen rückten.

 

Ali kehrte bald mit dem Kaffee und den Tschibuks zurück; Baptistin war das Betreten dieses Teils der Wohnung verboten.

 

Albert wies die Pfeife zurück, die ihm der Nubier bot.

 

Oh! nehmen Sie, nehmen Sie, sagte Monte Christo; Haydee ist beinahe ebenso zivilisiert wie eine Pariserin; eine Havanna ist ihr unangenehm, weil sie die schlechten Gerüche nicht liebt, doch der orientalische Tabak gibt einen Wohlgeruch, wie Sie wissen.

 

Ali verließ das Zimmer.

 

Der Kaffee war zum Genusse völlig bereitet, nur hatte man für Albert eine Zuckerdose zur Verfügung gestellt. Monte Christo und Haydee nahmen den arabischen Trank nach Art der Araber, nämlich ohne Zucker.

 

 

Haydee streckte ihre Hand aus und faßte mit der Spitze ihrer zarten, rosigen Finger die Tasse von japanischem Porzellan, die sie mit dem naiven Vergnügen eines Kindes, das Angenehmes ißt oder trinkt, an ihre Lippen führte.

 

Zu gleicher Zeit traten zwei Frauen ein und brachten zwei andere Platten, beladen mit Eis und Sorbet, die sie auf kleine, eigens dafür bestimmte Tische setzten.

 

Mein lieber Wirt und Sie, Signora, sagte Albert Italienisch, entschuldigen Sie mein Erstaunen. Ich bin ganz verwirrt, und das ist natürlich; ich finde hier den Orient, den wahren Orient, nicht wie ich ihn gesehen, sondern wie ich ihn geträumt, im Schoße von Paris geträumt habe. Oh! Signora, daß ich nicht Griechisch sprechen kann, Ihre Rede, verbunden mit dieser feenhaften Umgebung, wurde für mich einen Abend bilden, dessen ich mich stets erinnern müßte.

 

Ich spreche gut genug Italienisch, um mich mit Ihnen zu unterhalten, mein Herr, sagte Haydee gelassen, und ich werde nach Kräften dafür sorgen, daß Sie den Orient hier wiederfinden, wenn Sie ihn lieben.

 

Wovon kann ich mit ihr sprechen? fragte Albert ganz leise Monte Christo.

 

Wovon Sie wollen, von ihrem Vaterland, von ihrer Jugend, von ihren Erinnerungen, oder wenn Sie lieber wollen, von Rom, von Neapel, von Florenz.

 

Oh! es wäre nicht der Mühe wert, eine Griechin vor sich zu haben, um mit ihr von dem zu reden, wovon man mit einer Pariserin reden würde; lassen Sie mich mit ihr vom Orient sprechen.

 

Tun Sie das, mein lieber Albert, es ist für sie die angenehmste Unterhaltung.

 

Albert wandte sich an Haydee und fragte: In welchem Alter hat Signora Griechenland verlassen?

 

Mit fünf Jahren.

 

Und Sie erinnern sich Ihres Vaterlandes?

 

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich alles wieder, was ich gesehen habe.

 

Und was ist die fernste Zeit, deren Sie sich erinnern?

 

Ich konnte kaum gehen; meine Mutter, die Wasiliki hieß – was königlich bedeutet, fügte das Mädchen stolz hinzu – meine Mutter nahm mich bei der Hand, und wir gingen beide, nachdem wir in unsere Börse alles Gold getan hatten, das wir besaßen, mit Schleiern bedeckt umher und forderten mit den Worten: Wer den Armen gibt, leiht dem Ewigen, Almosen für die Gefangenen. Wenn dann unsere Börse voll war, kehrten wir in den Palast zurück und schickten, ohne meinem Vater ein Wort zu sagen, alles Gold, das man uns, im Glauben, wir seien arme Frauen, gegeben hatte, dem Hegumenos des Klosters, der es unter die Gefangenen austeilte.

 

Wie alt waren Sie damals?

 

Drei Jahre, sagte Haydee.

 

Sie erinnern sich also alles dessen, was seit Ihrem dritten Lebensjahre um sie her sich zugetragen hat?

 

Gewiß.

 

Graf, sagte leise Morcerf zu Monte Christo, Sie sollten ihr erlauben, uns etwas von ihrer Geschichte zu erzählen. Sie haben mir verboten, von meinem Vater mit ihr zu sprechen, doch vielleicht spricht sie von ihm, und Sie können sich gar nicht denken, wie glücklich ich wäre, seinen Namen aus einem so schönen Munde nennen zu hören.

 

Monte Christo wandte sich an Haydee und sagte zu ihr mit scharfer Betonung auf griechisch: Erzähle uns das Schicksal deines Vaters, aber nenne nicht den Namen des Verräters. Haydee stieß einen langen Seufzer aus, und eine düstere Wolke zog über ihre reine Stirn hin.

 

Was sagen Sie ihr? fragte ganz leise Morcerf.

 

Ich wiederhole ihr, daß Sie ein Freund von mir sind, und daß sie Ihnen gegenüber nichts zu verbergen habe.

 

Das ist also Ihre erste Erinnerung? sagte Albert, was schwebt Ihnen sonst noch vor?

 

Ich sehe mich unter dem Schatten von Ahornbäumen, in der Nähe eines Sees, dessen zitternden Spiegel ich noch durch das Blätterwerk erblicke. An dem ältesten und buschreichsten Baume saß mein Vater auf Kissen, und während meine Mutter zu seinen Füßen lag, spielte ich mit seinem weißen Barte, der bis auf seine Brust herabhing, und mit dem in seinem Gürtel steckenden Kandschar mit dem Diamantgriffe. Von Zeit zu Zeit kam ein Albanese zu ihm und sagte ein Paar Worte, auf die mein Vater gleichmütige Tötet! oder begnadigt! antwortete.

 

Ich war vier Jahre alt, als ich eines Abends von meiner Mutter aufgeweckt wurde. Wir befanden uns in dem Palaste von Janina; sie nahm mich von den Kissen, auf denen ich ruhte, und als ich die Augen öffnete, sah ich die ihrigen voll schwerer Tränen. Sie trug mich fort, ohne etwas zu sagen. Als ich wahrnahm, daß sie weinte, fing ich ebenfalls an zu weinen. Still, Kind! sagte sie. Trotz der mütterlichen Tröstungen oder Drohungen fuhr ich, launenhaft wie alle Kinder, fort zu weinen; doch schließlich lag in der Stimme meiner armen Mutter ein solcher Ausdruck von Schrecken, daß ich schwieg.

 

Sie trug mich rasch weiter. Wir stiegen eine breite Treppe hinab; alle Frauen meiner Mutter stiegen oder stürzten vielmehr, Kisten, Sacke, Putzsachen, Juwelen, Goldbörsen tragend, dieselbe Treppe hinab. Hinter den Frauen kam eine Wache von zwanzig Mann, bewaffnet mit langen Flinten und Pistolen.

 

Glauben Sie, sagte Haydee, den Kopf schüttelnd und schon bei dieser Erinnerung erbleichend, es lag etwas Unseliges in der langen Reihe von Sklaven und Frauen, die halb schlaftrunken waren, – wenigstens bildete ich es mir ein, denn ich hielt vielleicht die andern für schläfrig, weil ich selbst nur halb wach war. Auf der Treppe liefen riesige Schatten, welche der Schein der tannenen Fackeln an den Gewölben zittern ließ. Eilt! rief eine Stimme im Hintergrunde der Galerie. Bei dieser Stimme beugte sich alles, wie der Wind, der über die Ebene hinstreicht, das Ährenfeld sich beugen läßt.

 

Ich aber zitterte.

 

Die Stimme war die meines Vaters. Er kam zuletzt in seinen glänzenden Gewändern und den Karabiner in der Hand haltend, den Ihr Kaiser ihm geschenkt hatte. Auf seinen Liebling Selim gestützt, trieb er uns vor sich her, wie ein Hirt seine verirrte Herde.

 

Mein Vater, fuhr Haydee, das Haupt erhebend, fort, mein Vater war der berühmte Mann, den Europa unter dem Namen Ali Tependelini, Pascha von Janina, gekannt hat, und vor dem die Türken zitterten.

 

Ohne zu wissen warum, bebte Albert, als er diese Worte mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Hoheit und Würde aussprechen hörte. Es kam ihm vor, als strahlte etwas Düsteres, Furchtbares in den Augen des griechischen Mädchens; einer Zauberin ähnlich, die ein Gespenst heraufbeschwört, erweckte Haydee die Erinnerung an die blutige Gestalt, deren gräßlicher Tod sie in den Augen des damaligen Europa riesenhaft erscheinen ließ.

 

Bald hielt man an, fuhr Haydee fort, wir waren unten an der Treppe und am Rande eines Sees. Meine Mutter drückte mich an ihre pochende Brust, und ich sah zwei Schritte hinter uns meinen Vater, der unruhig nach allen Seiten umherschaute. Vor uns lagen vier Marmorstufen, und unten an der letzten Stufe schaukelte eine Barke. Von dem Orte aus, wo wir waren, sah man mitten im See eine schwarze Masse sich erheben; es war der Kiosk, nach dem wir uns begaben. Dieser Kiosk schien mir sehr weit entfernt zu sein, vielleicht wegen der Dunkelheit. Wir stiegen in die Birke hinab. Außer den Ruderern waren in der Barke nur die Frauen, mein Vater, meine Mutter, Selim und ich. Die Palikaren waren, bereit, den Rückzug zu decken, am Rande des Sees geblieben; sie knieten auf der untersten Stufe und machten sich so für den Fall, daß sie verfolgt würden, einen Wall aus den drei andern. Unsere Barke ging wie der Wind.

 

Warum geht die Barke so geschwind? fragte ich meine Mutter.

 

Still, mein Kind! sagte sie, wir fliehen.

 

Ich begriff das nicht. Warum floh mein Vater? Er, der Allmächtige, vor dem gewöhnlich die andern flohen, er, dessen Wahlspruch es war: Sie mögen mich hassen, wenn sie mich nur fürchten!

 

Es war aber in der Tat eine Flucht. Man sagte mir seitdem, eines langen Dienstes müde, habe die Garnison von Janina …

 

Hier heftete Haydee ihren ausdrucksvollen Blick auf Monte Christo, dessen Augen die ihrigen nicht mehr verließen. Das Mädchen fuhr langsam fort, wie jemand, der erfindet oder unterdrückt.

 

Sie sagten, Signora, erinnerte Albert, der mit der größten Aufmerksamkeit dieser Erzählung zuhörte, des langen Dienstes müde, habe die Garnison von Janina …

 

Mit dem Seraskier Kurschid unterhandelt, der von dem Sultan abgeschickt war, meinen Vater festzunehmen. Damals faßte mein Vater den Entschluß, nachdem er an den Sultan einen fränkischen Offizier, dem er sein ganzes Zutrauen schenkte, abgeschickt hatte, sich nach dem Asile zurückzuziehen, das er sich seit langer Zeit bereitet hatte.

 

Und Sie erinnern sich des Namens dieses Offiziers?

 

Nein, ich entsinne mich dessen nicht, antwortete Haydee, durch einen Blick des Grafen gewarnt, doch er wird mir vielleicht später einfallen, und ich werde ihn dann nennen. Albert wollte den Namen seines Vaters aussprechen, als Monte Christo langsam den Finger aufhob; der junge Mann erinnerte sich seines Schwures und schwieg.

 

Wir segelten auf den Kiosk zu. Ein mit Arabesken verziertes Erdgeschoß badete seine Terrassen im Wasser; dieses Erdgeschoß und ein Stockwerk darüber war alles, was der Palast den Augen Sichtbares bot. Aber unter dem Erdgeschosse war, sich nach der Insel ausdehnend, ein Gewölbe, eine weite Höhle, in die man uns, meine Mutter, mich und unsere Frauen, führte und wo auf einem einzigen Haufen sechzigtausend Beutel und zweihundert Fässer lagen. In diesen Beuteln waren fünfundzwanzig Millionen in Gold, in den Fässern dreißiglausend Pfund Pulver enthalten. Bei den Fässern stand Selim, der von mir erwähnte Liebling meines Vaters. Er wachte Tag und Nacht, mit einem Spieße in der Hand, an dessen Ende eine Lunte brannte, und hatte Befehl, auf das erste Zeichen meines Vaters alles, Kiosk, Waffen, Pascha, Frauen und Gold, in die Luft zu sprengen.

 

Ich kann nicht sagen, wie lange wir so blieben; zuweilen, jedoch selten, ließ mein Vater mich und meine Mutter auf die Terrasse des Palastes rufen; das waren die festlichsten Stunden für mich. Mein Vater heftete beständig seinen düsteren Blick in den Umkreis des Horizontes und befragte jeden schwarzen Punkt, der auf dem See erschien, während meine Mutter in halb liegender Stellung ihren Kopf auf seine Schulter stützte und ich, zu seinen Füßen spielend, mit erstaunten Kinderaugen, welche die Gegenstände noch vergrößern, die Abdachungen des am Horizont sich erhebenden Pindus betrachtete. Aus dem blauen Wasser des Sees traten weiß und eckig die Schlösser von Janina und die ungeheuren, schwarzgrünen Baumgruppen, die wie Schlingpflanzen am Gebirge hingen und aus der Ferne wie Moose aussahen.

 

Eines Morgens ließ uns mein Vater holen; meine Mutter hatte die ganze Nacht geweint; wir fanden ihn ziemlich ruhig, aber bleicher als gewöhnlich.

 

Fasse Geduld, Wasiliki, sagte er, heute wird alles vorüber sein; heute kommt der Ferman des Herrn, und mein Schicksal entscheidet sich. Bin ich völlig begnadigt, so kehren wir nach Janina zurück, ist die Nachricht schlimm, so fliehen wir in dieser Nacht.

 

Aber wenn sie uns nicht fliehen lassen? entgegnete meine Mutter.

 

Oh, sei unbesorgt! sagte Ali lächelnd; Selim und seine Lunte haften mir dafür. Es wäre ihnen lieb, wenn ich sterben müßte, doch nicht, wenn sie mit mir sterben müssen.

 

Meine Mutter antwortete auf diese Tröstungen, die nicht aus dem Herzen meines Vaters kamen, nur durch Seufzer. Sie bereitete ihm das Eiswasser, das er jeden Augenblick trank, denn seit dem Rückzuge nach dem Kiosk verzehrte ihn ein glühendes Fieber; sie zündete den Tschibuk an, dessen in der Luft verfliegendem Rauche seine zerstreuten Blicke zuweilen ganze Stunden lang folgten.

 

Plötzlich machte er eine so ungestüme Bewegung, daß mir bange wurde. Dann verlangte er, ohne die Augen von dem Gegenstand abzuwenden, der seine Aufmerksamkeit fesselte, ein Fernglas.

 

Meine Mutter, bleicher als die Wand, an die sie sich lehnte, gab es ihm.

 

Ich sah die Hand meines Vaters zittern. Eine Barke! … zwei … drei … murmelte mein Vater; vier! … und er stand auf und ergriff seine Waffen und schüttete, wie ich mich genau erinnere, Pulver auf die Pfannen seiner Pistolen.

 

Wasiliki, sagte er bebend zu meiner Mutter, der entscheidende Augenblick ist gekommen; in einer halben Stunde wissen wir die Antwort des Großherrn; begib dich mit Haydee in das unterirdische Gewölbe.

 

Ich will Euch nicht verlassen, entgegnete Wasiliki, sterbt Ihr, Herr, so will ich mit Euch sterben.

 

Geht zu Selim, rief mein Vater.

 

Gott befohlen, Herr! murmelte meine Mutter, gehorchend und wie gelähmt, als nahte ihr der Tod.

 

Ich aber lief auf meinen Vater zu und streckte meine Arme nach ihm aus; er sah mich, neigte sich auf mich herab und drückte meine Stirn an seine Lippen. Oh! dieser Kuß war der letzte, und ich fühle ihn noch hier auf meiner Stirn.

 

Beim Hinabsteigen erblickten wir durch die Gitter der Terrasse die Barken, die auf dem See immer größer wurden, und kaum erst schwarzen Punkten ähnlich, nun bereits die Oberfläche der Wellen streifenden Vögeln glichen. Zu den Füßen meines Vaters sitzend und durch das Geräusch verborgen, beobachteten mittlerweile zwanzig Palikaren mit blutigem Auge die Ankunft der Schiffe und hielten ihre langen, mit Perlmutter und Silber eingelegten Flinten bereit. Patronen lagen in großer Anzahl auf dem Boden zerstreut; mein Vater schaute auf seine Uhr und ging ängstlich hin und her. Meine Mutter und ich gingen durch das unterirdische Gewölbe. Selim war immer noch an seinem Posten; er lächelte uns traurig zu, und obgleich noch Kind, fühlte ich doch, daß eine große Gefahr über unsern Häuptern schwebte.

 

Albert hatte oft, nicht von seinem Vater, der nie darüber sprach, sondern von Fremden die letzten Augenblicke des Wesirs von Janina erzählen hören; doch diese durch die Person und die Stimme des Mädchens zu neuem Leben erweckte Geschichte, der gefühlvolle Ausdruck, die klagende Elegie durchdrangen ihn zugleich mit einem unbeschreiblichen Zauber und mit einem unaussprechlichen Schmerz.

 

Ganz ihren furchtbaren Erinnerungen hingegeben, hatte Haydee einen Augenblick zu sprechen ausgehört; wie eine Blume, die sich vor dem Sturme neigt, beugte sich ihre Stirn auf die Hand, und ihre im weiten Räume verlorenen Augen schienen noch am Horizont den grünen Pindus und die blauen Wasser des Sees zu schauen, der, ein magischer Spiegel, das düstere Gemälde, das sie entwarf, widerstrahlte.

 

Monte Christo schaute sie voll Teilnahme und Mitleid an.

 

Endlich erhob Haydee die Stirn und fuhr fort: Es war vier Uhr abends; aber obgleich der Tag außen rein und glänzend war, blieben wir doch in den Schatten des unterirdischen Gewölbes versenkt. Ein einziger Schein glänzte in der Höhle, ähnlich einem am Grunde eines schwarzen Himmels zitternden Stern, es war Selims Lunte. Meine Mutter war eine Christin und betete. Selim wiederholte von Zeit zu Zeit die geheiligten Worte: Allah ist groß! Meine Mutter hatte jedoch noch einige Hoffnung. Als sie hinabstieg, hatte sie den Franken zu erkennen geglaubt, den man nach Konstantinopel geschickt, und in den mein Vater sein ganzes Vertrauen setzte, denn er wußte, daß die Soldaten des französischen Sultans gewöhnlich edel und hochherzig sind. Sie ging einige Schritte zur Treppe hin und horchte. Sie nahen, sagte sie; wenn sie nur den Frieden und das Leben bringen! Was befürchtest du, Wasiliki, entgegnete Selim mit seiner zugleich weichen und stolzen Stimme; bringen sie uns nicht den Frieden, so geben wir ihnen den Krieg; bringen sie uns nicht das Leben, so geben wir ihnen den Tod. Und er fachte die Flamme seines Spießes von neuem an. Aber ich, die noch ganz Kind war, fürchtete mich vor diesem Mute, den ich wild und unsinnig fand, und erschrak vor dem furchtbaren Tode in der Luft und in den Flammen. Meine Mutter mußte wohl dasselbe empfinden, denn ich fühlte ihre Hand beben.

 

Mein Gott! mein Gott! Mama, rief ich, müssen wir sterben? Und bei dem Tone meiner Stimme verdoppelten sich die Tränen und die Gebete der Sklavinnen. Kind, sagte meine Mutter, Gott behüte dich, daß du dir je den Tod wünschest, vor dem dir heute bange ist!

 

Selim, sagte sie, wie lautet der Befehl des Herrn?

 

Schickt er mir seinen Dolch, so weigert sich der Sultan, ihn in Gnade zu empfangen, und ich lege Feuer an; schickt er mir seinen Ring, so verzeiht ihm der Sultan, und ich lösche meine Flamme aus.

 

Freund, versetzte meine Mutter, wenn der Befehl des Herrn kommt er schickt dir den Dolch, so reichen wir dir, statt eines Todes zu sterben, der uns erschreckt, die Brust, und du tötest uns mit diesem Dolche.

 

Ja, Wasiliki, antwortete Selim ruhig.

 

Plötzlich vernahmen wir ein Geschrei; wir horchten: es war ein Freudengeschrei; der Name des Franken, den man nach Konstantinopel, geschickt, erscholl wiederholt aus dem Munde unserer Palikaren; offenbar brachte er die Antwort des Großherrn, und die Antwort lautete günstig.

 

Und Sie erinnern sich dieses Namens nicht? fragte Morcerf.

 

Monte Christo machte ihr ein Zeichen.

 

Ich erinnere mich seiner nicht, sagte Haydee.

 

Der Lärm vermehrte sich, es erschollen immer näher kommende Tritte; man stieg die Stufen des unterirdischen Gewölbes hinab. Selim hielt seinen Spieß bereit. Bald erschien ein Schatten in der bläulichen Dämmerung, mit welcher die durch den Eingang des unterirdischen Gewölbes eindringenden Strahlen den Raum erfüllten. Wer bist du? rief Selim. Wer du auch sein magst, tue keinen Schritt weiter.

 

Ehre dem Sultan! sagte der Schatten. Dem Wesir Ali ist volle Begnadigung zugestanden, und man hat ihm nicht nur das Leben gesichert, sondern man gibt ihm auch sein Vermögen und seine Güter zurück. Meine Mutter stieß einen Freudenschrei aus und drückte mich an ihr Herz. Halt! sagte Selim, als er sah, daß sie forteilen wollte, du weißt, daß ich den Ring haben muß.

 

Es ist richtig, sagte meine Mutter, und fiel auf die Knie und hob mich betend zum Himmel empor.

 

Wieder schwieg Haydee, von einer so furchtbaren Erschütterung überwältigt, daß ihr der Schweiß von der bleichen Stirn floß und ihre zusammengepreßte Stimme nicht mehr durch die Kehle dringen zu können schien. Monte Christo goß ein wenig Eiswasser in ein Glas, bot es ihr und sprach mit weichem, aber doch auch ein wenig gebieterischem Tone: Mut gefaßt, meine Tochter!

 

Haydee trocknete ihre Augen und fuhr fort: An die Dunkelheit gewöhnt, hatten mittlerweile unsere Augen den Abgesandten des Paschas erkannt; es war ein Freund. Selim hatte ihn ebenfalls wahrgenommen, doch der brave junge Mann kannte nur eines: Gehorsam.

 

In wessen Namen kommst du? fragte er.

 

Ich komme im Namen deines Herrn, Ali Tependelini, Wenn du im Namen Alis kommst, so weißt du, was du mir zu übergeben hast.

 

Ja, sagte der Abgeordnete, ich bringe dir seinen Ring, Gleichzeitig hob er seine Hand empor, aber er stand zu weit entfernt, und es war nicht hell genug, als daß Selim den Gegenstand, den er ihm zeigte, zu unterscheiden vermochte. Ich weiß nicht, was du in der Hand hältst, sagte Selim.

 

Nähere dich! sagte der Bote, oder ich werde mich dir nähern.

 

Weder das eine noch das andere, entgegnete der junge Soldat, lege auf die Stelle, wo du bist, und unter den Lichtstrahl den Gegenstand, den du mir zeigst, und ziehe dich zurück, bis ich ihn gesehen habe.

 

Es sei, sagte der Bote.

 

Und er zog sich zurück, nachdem er das Erkennungszeichen niedergelegt hatte. Unser Herz schlug gewaltig, denn es schien wirklich ein Ring zu sein. Nur fragte es sich, ob es der Ring meines Vaters war. Beständig die angezündete Lunte in der Hand haltend, ging Selim an die Öffnung, bückte sich unter den Lichtstrahl und hob das Zeichen auf. Der Ring des Herrn, sagte er, ihn küssend, es ist gut! Und die Lunte auf den Boden werfend, trat er darauf und löschte sie aus. Der Bote stieß einen Freudenschrei aus und klatschte in die Hände.

 

Auf dieses Zeichen liefen vier Soldaten des Seraskiers Kurschid herbei, und Selim stürzte, von fünf Dolchstößen durchbohrt, nieder.

 

Jeder hatte ihm einen Stoß versetzt. Und trunken von ihrem Verbrechen, obgleich noch bleich vor Schrecken, stürzten sie in das Gewölbe, suchten überall, ob Feuer da wäre, und wälzten sich auf den Goldsäcken.

 

Mittlerweile faßte mich meine Mutter in ihre Arme und gelangte zu einer Geheimtreppe des Kiosks, in dem ein furchtbarer Aufruhr herrschte. Die unteren Säle waren ganz gefüllt von den Tschodoars von Kurschid, das heißt von unseren Feinden. In dem Augenblick, wo meine Mutter die kleine Tür aufstoßen wollte, hörten wir furchtbar und drohend die Stimme des Paschas ertönen. Meine Mutter hielt ihr Auge an eine Spalte in den Brettern; auch ich fand eine und blickte hindurch.

 

Was wollt ihr? sagte mein Vater zu den Leuten, die ein Papier mit goldenen Buchstaben in der Hand hielten.

 

Was wir wollen? entgegnete einer von ihnen, dir den Willen Seiner Hoheit mitteilen. Siehst du diesen Ferman?

 

Ich sehe ihn.

 

So lies; er fordert deinen Kopf.

 

Mein Vater brach in ein Gelächter aus, das furchtbarer war, als irgend eine Drohung hätte sein können; doch er hatte noch nicht zu lachen aufgehört, als bereits von zwei Pistolenschüssen aus seinen Händen zwei Männer tot niedergestreckt waren. Die Palikaren, die, mit dem Gesicht zur Erde, um meinen Vater lagen, erhoben sich und gaben Feuer, das Gemach füllte sich mit Geschrei, Flammen und Rauch. Aus der Stelle begann das Feuer von der andern Seite, und die Kugeln durchlöcherten die Bretter um uns her. Oh! wie schön, wie groß er war, der Wesir Ali Tependelini, mein Vater, mitten unter den Kugeln, den Säbel in der Faust, das Gesicht von Pulver geschwärzt! Wie seine Feinde flohen!

 

Selim! Selim! schrie er, Feuerwächter, tu deine Pflicht!

 

Selim ist tot, antwortete eine Stimme, die aus den Tiefen des Kiosks zu kommen schien, und du, Herr, bist verloren!

 

Gleichzeitig vernahm man einen dumpfen Ton, und der Boden flog um meinen Vater in Stücke. Die Tschodoars schossen durch den Boden, und drei oder vier Palikaren brachen, schrecklich verwundet, zusammen. Mein Vater brüllte, streckte seine Finger durch die von den Kugeln gemachten Löcher und riß ein ganzes Brett aus. In demselben Augenblicke aber krachten durch diese Öffnung zwanzig Flintenschüsse, und wie aus dem Krater eines Vulkans hervorströmend, ergriff die Flamme die Tapeten und verzehrte sie.

 

Mitten unter diesem furchtbaren Aufruhr, mitten unter diesem gräßlichen Geschrei, ließen mich zwei besondere Schüsse, denen zwei herzzerreißende, alles andere übertönende Schreie folgten, vor Schrecken zu Eis erstarren: die Schüsse hatten meinen Vater tödlich getroffen, und er hatte die Schreie ausgestoßen. Trotzdem war er, sich an ein Fenster klammernd, aufrecht stehen geblieben. Meine Mutter rüttelte an der Tür, um mit ihm zu sterben, aber die Tür war verschlossen. Rings um ihn her krümmten sich Palikaren, im Todeskampfe zuckend; zwei oder drei, die ohne Wunden oder nur leicht verwundet waren, sprangen durch die Fenster. Zu gleicher Zeit krachte der ganze Boden, von unten zertrümmert. Mein Vater fiel auf ein Knie, zwanzig Arme streckten sich, mit Säbeln, Pistolen, Dolchen bewaffnet, nach ihm aus; zwanzig Streiche trafen in derselben Sekunde einen einzigen Mann, und mein Vater verschwand in einem von diesen brüllenden Teufeln angezündeten Feuerwirbel, als ob sich die Hölle unter seinen Füßen geöffnet hätte. Ich fühlte, wie ich zu Boden rollte; meine Mutter stürzte ohnmächtig nieder.

 

Haydee ließ, einen Seufzer ausstoßend, ihre Arme sinken und schaute den Grafen an, als wollte sie ihn fragen, ob er mit ihrem Gehorsam zufrieden sei.

 

Der Graf stand auf, faßte sie bei der Hand und sagte in neugriechischer Sprache zu ihr: Beruhige dich, liebes Kind, fasse Mut und bedenke, daß es einen Gott gibt, der die Verräter bestraft.

 

Das ist eine furchtbare Geschichte, Graf, sagte Albert, ganz erschrocken über Haydees Blässe; ich mache es mir zum Vorwurf, daß ich so grausam unbescheiden gewesen bin.

 

Es ist nichts, erwiderte Monte Christo und fuhr, seine Hand auf den Kopf des Mädchens legend, fort: Haydee ist mutig; sie hat in der Erzählung ihrer Schmerzen eine Erleichterung gefunden.

 

Weil mich meine Schmerzen an deine Wohltaten erinnern, mein Herr, versetzte rasch Haydee.

 

Albert schaute sie neugierig an, denn sie hatte noch nicht erzählt, was er am meisten zu wissen wünschte, nämlich, wie sie Sklavin des Grafen geworden war.

 

Haydee sah in den Blicken des Grafen wie in denen Alberts dasselbe Verlangen ausgedrückt und fuhr fort: Als meine Mutter wieder zu sich kam, befanden wir uns vor dem Seraskier. Töte mich, sagte sie, aber schone die Ehre der Witwe Alis. – Du mußt dich nicht an mich wenden, erwiderte Kurschid. – An wen denn? – An deinen neuen Herrn. – Wer ist dies? – Hier steht er. Und Kurschid deutete auf einen von denen, die am meisten zum Tode meines Vaters beigetragen hatten, fuhr das Mädchen mit dumpfem Zorne fort.

 

Ihr wurdet also das Eigentum dieses Mannes?

 

Nein, antwortete Haydee; er wagte nicht, uns zu behalten, und verkaufte uns an Sklavenhändler, die nach Konstantinopel zogen. Wir durchreisten Griechenland und kamen endlich sterbend an der kaiserlichen Pforte an, wo uns Neugierige bedrängten, als meine Mutter, den Blicken der Menge folgend, auf einmal einen Schrei ausstieß und, mir über der Pforte ein Haupt zeigend, niederstürzte. – Über diesem Haupte standen die Worte: Dies ist der Kopf Ali Tependelinis, Paschas von Janina. Weinend suchte ich meine Mutter aufzuheben, sie war tot. Man führte mich nach dem Basar; ein reicher Armenier kaufte mich, gab mir Lehrer, ließ mich unterrichten und verlauste mich wieder an den Sultan Mahmud, als ich dreizehn Jahre alt war.

 

Von dem ich sie um den Smaragd erkaufte, der dem ähnlich war, in dem meine Haschischkügelchen enthalten sind, sagte Monte Christo.

 

Oh! du bist gut! Du bist groß, mein Herr, sagte Haydee, des Grafen Hand küssend, und ich bin sehr glücklich, daß ich dir gehöre.

 

Albert war ganz betäubt von dem, was er vernommen hatte.

 

Leeren Sie Ihre Tasse, sagte der Graf zu ihm; die Geschichte ist zu Ende.

 

 

Gespenster.

 

Gespenster.

 

Beim ersten Anblick und von außen betrachtet, hatte das Haus in Auteuil nichts Glänzendes, nicht was man von einer Wohnung des prachtliebenden Grafen von Monte Christo erwartete. Jedoch diese Einfachheit lag in dem Willen des Besitzers, der den strengen Befehl gegeben hatte, nichts an dem Äußeren zu ändern. Sobald aber die Tür geöffnet war, änderte sich das Schauspiel.

 

Herr Bertuccio hatte sich in Bezug auf geschmackvolle Ausstattung und schnelle Ausführung selbst übertroffen. So hatte er in drei Tagen einen völlig nackten Hof bepflanzt, und schöne Pappelbäume und Sykomoren, welche mit ihren ungeheuren Wurzelblöcken angekommen waren, beschatteten die Hauptfassade des Hauses, vor der, statt eines halb unter Gras verborgenen Pflasters, ein frischgrüner Rasen sich ausbreitete und einen großen das Auge erquickenden Teppich bildete.

 

Die Befehle rührten übrigens bis ins einzelne vom Grafen her; er selbst hatte Bertuccio einen Plan eingehändigt, worauf die Zahl und die Stelle der Bäume, sowie die Form und der Umfang des Rasens angegeben waren.

 

So war das Innere des Hauses ganz unkenntlich geworden. Dem Intendanten wäre es nicht unangenehm gewesen, wenn er den Garten ebenfalls einigen Veränderungen hätte unterwerfen dürfen, aber der Graf hatte es aufs bestimmteste verboten, irgend etwas darin zu berühren. Bertuccio entschädigte sich dadurch, daß er die Vorzimmer, die Treppen und die Kamine mit Blumen überlud.

 

Die außerordentliche Gewandtheit des Intendanten und die große Umsicht des Besitzers zeigten sich darin, daß das seit zwanzig Jahren verlassene Haus in einem Tage den Anblick frischen Lebens gewonnen hatte. Der Graf fand zu seinem freudigen Erstaunen seine Bücher und seine Waffen bei der Hand, seine Lieblingsgemälde an günstigen Plätzen aufgehängt; in den Vorzimmern traf er die Hunde, deren Liebkosungen ihn erfreuten, und die Vögel, deren Gesang ihn ergötzte. Kurz das Haus war wie Dornröschens Schloß aus seinem langen Schlafe wiedererweckt; in allen Teilen lebte, sang, blühte es, wie in unserer Phantasie die von uns seit langem geliebten Häuser, in denen wir beim Scheiden einen Teil unserer Seele zurücklassen.

 

Die Diener gingen freudig in dem schönen Hofe hin und her, die einen besorgten Küche und Keller und schlüpften, als wären sie hier stets zu Hause gewesen, über die am Tage zuvor wiederhergestellten Treppen hin; die andern tummelten sich in den Stallungen, wo die numerierten Equipagen schon seit fünfzig Jahren aufgestellt zu sein schienen, und die Pferde ließen an der Raufe ein frohes Wiehern hören, als wollten sie auf den Zuruf der Knechte antworten, die mit unendlich mehr Achtung mit ihnen sprachen, als viele Diener mit ihren Herren.

 

Die Bibliothek war in einem Flügel aufgestellt und enthielt ungefähr zweitausend Bände; eine ganze Abteilung war für die moderne Novellistik bestimmt, und der am Tage zuvor erschienene Roman prunkte bereits an seiner Stelle in rotem Einband mit Goldschnitt.

 

Auf der andern Seite des Hauses fand sich, als Gegenstück zur Bibliothek, das Treibhaus, geschmückt mit den seltensten Pflanzen, die hier in großen japanischen Gefäßen blühten; und mitten in dem Treibhause, einem Wunder an Farbenpracht und Wohlgeruch, stand ein Billard, das aussah, als wäre es erst eine Stunde zuvor von den Spielern verlassen worden.

 

An einem einzigen Zimmer hatte Herr Bertuccio keine Veränderungen vorgenommen. Vor diesem Zimmer, das in der linken Ecke des ersten Stockes lag, und zu dem man auf der großen Treppe hinaufsteigen konnte, während eine geheime Treppe von dort herabführte, gingen die Diener mit Neugierde und Bertuccio mit Schrecken vorbei.

 

Schlag fünf Uhr fuhr der Graf, von Ali begleitet, vor. Bertuccio erwartete diese Ankunft ziemlich ungeduldig und ruhig; er hoffte auf einige Komplimente, während er zugleich ein Stirnrunzeln befürchtete.

 

Monte Christo stieg im Hofe aus, durchschritt das ganze Haus und ging im Garten umher, schweigsam und ohne das geringste Zeichen von Billigung oder Mißbilligung von sich zu geben.

 

Nur streckte er, als er in sein Schlafzimmer trat, das dem geschlossenen Zimmer gegenüber lag, die Hand nach der Schublade eines kleinen Schrankes von Rosenholz aus, den er bereits bei seiner ersten Reise wahrgenommen hatte, und sagte: Das kann nur als Handschuhbehälter dienen.

 

In der Tat, Exzellenz, erwiderte Bertuccio entzückt, öffnen Sie, und Sie werden Handschuhe darin finden.

 

In den andern Schränken fand der Graf ebenfalls, was er zu finden hoffte, Flacons, Zigarren, Juwelen.

 

Gut! sagte der Graf. Und Bertuccio entfernte sich mit dem freudigsten Gemüte; so groß und unwiderstehlich war Monte Christos Einfluß auf seine ganze Umgebung.

 

Pünktlich um sechs Uhr hörte man ein Pferd vor der Haustür. Es war unser Kapitän der Spahis, der auf Medea kam. Monte Christo erwartete ihn, ein Lächeln auf den Lippen, auf der Freitreppe.

 

Ich bin sicherlich der Erste, rief ihm Morel zu: ich richtete dies so ein, um Sie, ehe die andern Gäste da sind, einen Augenblick für mich allein zu haben. Julie und Emanuel sagen Ihnen tausend schöne Dinge. Doch wissen Sie, daß es hier herrlich ist?

 

In diesem Augenblick langte ein Wagen, dem Debray und Chateau-Renaud zu Pferde folgten, vor der Treppe an.

 

Debray sprang auf der Stelle von seinem Pferde, eilte an den Kutschenschlag und reichte seine Hand der Baronin Danglars, die ihm ein unmerkliches, aber dem Grafen von Monte Christo nicht entgehendes Zeichen machte.

 

Zugleich sah der Graf ein kleines Billett glänzen, das mit einer Leichtigkeit, welche von Übung in diesem Manöver zeugte, aus Frau Danglars‘ Hand in die des Sekretärs überging.

 

Hinter seiner Frau stieg der Bankier aus; er war so bleich, als käme er aus dem Grabe.

 

Man trat ins Haus und fing an, die Kunstwerke zu bewundern, als Baptistin den Major Bartolomeo Cavalcanti und den Grafen Andrea Cavalcanti anmeldete.

 

Mit einer Halsbinde von schwarzem Atlas, soeben erst aus den Händen des Fabrikanten kommend, das Kinn frisch rasiert, grauer Schnurrbart, sicheres Auge, Majorsuniform mit drei Sternen und fünf Kreuzen geschmückt, in Summa tadellose Haltung des alten Soldaten, … so erschien der Major Bartolomeo Cavalcanti, der uns wohlbekannte zärtliche Vater.

 

Neben ihm schritt in einem frischglänzenden Gewande, ein Lächeln auf den Lippen, der Graf Andrea Cavalcanti, der uns bekannte ehrfurchtsvolle Sohn.

 

Die drei, Debray, Morel und Renaud, plauderten miteinander; ihre Blicke richteten sich von dem Vater auf den Sohn und blieben natürlich länger auf dem letzteren haften, den sie zergliederten.

 

Cavalcanti! sagte Debray.

 

Pest! ein schöner Name, sagte Morel.

 

Ja, versetzte Chateau-Renaud, es ist wahr, diese Italiener nennen sich geschmackvoll, kleiden sich aber geschmacklos.

 

Sie sind sehr heikel, Chateau-Renaud, sagte Debray, diese Kleider sind von einem vortrefflichen Schneider und ganz neu.

 

Das ist es gerade, was ich ihnen zum Vorwurf mache. Der Herr sieht aus, als ob er sich heute zum erstenmal anständig kleidete.

 

Wer sind diese Herren? fragte Danglars den Grafen von Monte Christo.

 

Sie haben gehört, Cavalcanti.

 

Dadurch erfahre ich ihren Namen und sonst nichts.

 

Ah! es ist wahr, Sie sind nicht auf dem laufenden in Bezug auf den italienischen Adel; wer Cavalcanti sagt, sagt Fürstengeschlecht.

 

Schönes Vermögen? fragte der Bankier.

 

Fabelhaft.

 

Was machen sie?

 

Sie suchen es zu verzehren, ohne zum Ziele gelangen zu können. Übrigens haben sie Kreditbriefe auf Sie, wie mir diese Herren sagten, als sie mich vorgestern besuchten. Ich habe sie sogar Ihnen zuliebe eingeladen und werde Ihnen beide vorstellen.

 

Doch es scheint mir, sie sprechen das Französische sehr rein, bemerkte Danglars.

 

Der Sohn ist in einem Kolleg im Süden, ich glaube in Marseille oder in der Nähe, erzogen worden. Sie werden ihn ganz begeistert finden.

 

Wofür? fragte die Baronin.

 

Für die Französinnen, gnädige Frau. Er will durchaus eine Frau in Paris nehmen.

 

Wahrlich ein schöner Gedanke! sagte Danglars, die Achseln zuckend.

 

Der Baron scheint heute sehr düster, sagte Monte Christo zu Frau Danglars; sollte man ihn etwa zum Minister machen wollen?

 

Nein, nicht daß ich wüßte. Ich glaube eher, daß er an der Börse gespielt, dabei verloren hat, und noch nicht weiß, wem er die Schuld daran beimessen soll.

 

Herr und Frau von Villefort! rief Baptistin.

 

Die zwei gemeldeten Personen traten ein; Herr von Villefort war trotz seiner Selbstbeherrschung sichtbar erschüttert. Als Monte Christo seine Hand berührte, fühlte er, daß sie zitterte.

 

Offenbar nur die Frauen wissen sich zu verstellen, sagte Monte Christo zu sich selbst, während er Frau Danglars anschaute, die dem Staatsanwalt zulächelte und dessen Frau umarmte.

 

Nach den ersten Begrüßungen sah der Graf, wie Bertuccio in einen kleinen Salon schlüpfte, der unmittelbar an den stieß, in dem die Gesellschaft versammelt war.

 

Der Graf fragte ihn: Was wollen Sie, Herr Bertuccio?

 

Seine Exzellenz hat mir die Zahl der Gäste nicht genannt.

 

Ah! das ist wahr. Zählen Sie selbst.

 

Bertuccio warf einen Blick durch die halbgeöffnete Tür, Monte Christo beobachtete ihn mit scharfem Auge.

 

Oh, mein Gott! rief er.

 

Was denn? fragte der Graf.

 

Diese Frau … diese Frau …

 

Welche?

 

Die mit dem weißen Kleide und den vielen Diamanten … die Blonde …

 

Frau Danglars?

 

Ich weiß nicht, wie sie heißt. Doch sie ist es! Sie ist es!

 

Wer, sie?

 

Die Frau aus dem Garten! Die, welche in andern Umständen war, spazieren ging … und wartete … und wartete auf …

 

Bertuccio erbleichte und schaute, den Mund geöffnet und die Haare gesträubt, hinaus.

 

Und wartete auf wen?

 

Bertuccio deutete, ohne zu antworten, mit dem Finger auf Villefort, ungefähr mit derselben Gebärde, mit der einst Macbeth auf Banco deutete.

 

Oh! … oh! … murmelte er endlich, sehen Sie?

 

Ihn! … den Herrn Staatsanwalt Villefort? Allerdings sehe ich ihn.

 

Ich habe ihn also nicht getötet?

 

Ich glaube, Sie werden ein Narr, mein braver Herr Bertuccio, sprach der Graf.

 

Er ist also nicht tot?

 

Ei, nein, er ist nicht tot, wie Sie sehen; statt ihn zwischen die sechste und siebente linke Rippe zu stoßen, wie dies Ihre Landsleute zu tun pflegen, haben Sie ihn etwas höher oder tiefer getroffen, und bei diesen Männern der Justiz ist die Seele gleichsam mit Pflöcken im Körper befestigt. Oder es ist vielleicht nichts Wirkliches an dem, was Sie mir sagten, es ist ein Traum Ihrer Einbildungskraft, eine Täuschung Ihrer Sinne; Sie werden, nachdem Sie Ihre Rache schlecht verdaut haben, eingeschlafen sein, sie hat Sie wohl auf den Magen gedrückt, und ein Alpdruck hat Ihnen etwas vorgespiegelt … Das ist das Ganze. Sammeln Sie sich, beruhigen Sie sich und zählen Sie: Herr und Frau von Villefort zwei; Herr und Frau Danglars vier; Herr von Chateau-Renaud, Herr Tebray, Herr Morel sieben; der Herr Major Bartolomeo Cavalcanti …

 

Acht, wiederholte Bertuccio.

 

Warten Sie doch! Warten Sie doch! Sie haben große Eile! Den Teufel! Sie vergessen einen von meinen Gästen. Schauen Sie ein wenig links … dort … Herr Andrea Cavalcanti, der junge Mann im schwarzen Frack, der die Jungfrau von Murillo betrachtet und sich eben umdreht.

 

Diesmal stieß Bertuccio einen Schrei aus, den der Blick Monte Christos auf seinen Lippen erstickte.

 

Benedetto, murmelte er ganz leise, oh Verhängnis!

 

Es hat halb sieben Uhr geschlagen, Herr Bertuccio, sagte der Graf mit strengem Tone; dies ist die Stunde, zu der man sich meinem Befehl gemäß zur Tafel setzt; Sie wissen, ich liebe das Warten nicht.

 

Monte Christo kehrte in den Salon zurück, wo die Gäste seiner harrten, während Bertuccio, sich an den Wänden haltend, den Speisesaal wieder zu erreichen suchte.

 

Fünf Minuten nachher öffneten sich die beiden Türen des Salons. Bertuccio erschien und sagte mit einer letzten heldenmütigen Anstrengung: Herr Graf, es ist aufgetragen.

 

Monte Christo bot Frau von Villefort seinen Arm.

 

Herr von Villefort, sagte er, ich bitte Sie, seien Sie der Kavalier der Frau Baronin Danglars.

 

Villefort gehorchte, und man ging in den Speisesaal.

 

Das Mittagsmahl.

 

Das Mittagsmahl.

 

Offenbar belebte dasselbe Gefühl alle Gäste, als man in den Speisesaal trat. Sie fragten sich, welch ein seltsamer Einfluß sie alle in dieses Haus geführt habe, und so erstaunt und sogar so unruhig auch einige darüber waren, daß sie sich darin befanden, so hatten sie doch keineswegs den Wunsch, nicht hier zu sein.

 

Gleichwohl machten es die kurze Bekanntschaft mit dem Grafen, die sonderbare Ausnahmestellung, die er einnahm, das seiner Herkunft nach unbekannte und fast fabelhafte Vermögen des Grafen den Männern zur Pflicht, behutsam zu sein. Die Damen aber hätten ein Haus nicht betreten sollen, wo sich keine Frauen fanden, um sie zu empfangen; und dennoch hatten Männer und Frauen, die einen die Vorsicht, die andern die Schicklichkeit aus den Augen gesetzt, indem die Neugierde mit unwiderstehlichem Zuge jedes Widerstreben überwand.

 

Alle Anwesenden ohne Ausnahme, sogar Cavaleanti, der Vater, trotz seiner Steifheit, und Cavalcanti der Sohn, trotz seiner Leichtfertigkeit, schienen darüber beunruhigt, daß sie sich bei einem Manne, dessen Zwecke sie nicht begreifen konnten, mit andern Menschen zusammen befanden, die sie zum erstenmal sahen.

 

Frau Danglars machte eine Bewegung, als sie gewahrte, daß Herr von Villefort auf Monte Christos Einladung sich ihr näherte, um ihr den Arm zu bieten; und Herr von Villefort empfand, daß sich sein Blick unter seiner goldenen Brille verwirrte, als er fühlte wie sich der Arm der Baronin auf den seinigen legte.

 

Keine dieser Bewegungen war dem Grafen entgangen, und es lag schon in dieser einfachen Berührung der beiden Menschen für den Beobachter dieser Szene ein großes Interesse.

 

Herr von Villefort hatte zu seiner Rechten Frau von Danglars und zu seiner Linken Morel.

 

Der Graf saß zwischen Frau von Villefort und Danglars.

 

Die andern Zwischenräume wurden ausgefüllt durch Debray, der zwischen Cavalcanti Vater und Cavalcanti Sohn, und durch Chateau-Renaud, der zwischen Frau von Villefort und Morel saß.

 

Das Mahl war prachtvoll; Monte Christo hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Pariser Symmetrie völlig umzustürzen und mehr noch der Neugierde als dem Appetit seiner Gäste die gewünschte Nahrung zu geben. Es war ein orientalischer Schmaus, was man ihnen bot, doch orientalisch auf eine Weise, wie man sie sich nur bei Festen arabischer Feen vorstellt.

 

Alle Früchte, welche die vier Weltteile unversehrt und wohlschmeckend in das europäische Füllhorn zu spenden vermögen, waren in Pyramiden in chinesischen Vasen und auf japanischen Schalen aufgehäuft. Seltene Vögel mit glänzendem Gefieder, riesenhafte Fische auf silbernen Platten, alle Weine des Archipels, von Kleinasien und vom Kap, in Flaschen von bizarren Formen, zogen gleich wie bei jenen gastronomischen Wunderschmäusen, welche die römischen Schlemmer der üppigsten Kaiserzeit ihren Gästen boten, vor diesen Parisern vorüber, welche meinten, man könne tausend Louisd’or für ein Mittagsmahl von zehn Personen nur ausgeben, wenn man wie Cleopatra Perlen verschluckte.

 

Monte Christo sah das allgemeine Erstaunen und fing an zu lachen und zu spotten.

 

Meine Herren, sagte er, Sie werden mir eines wohl zugeben, daß es nämlich, wenn man zu einem gewissen Grade des Vermögens gelangt ist, nichts so sehr Notwendiges gibt, als das Überflüssige. Was ist eigentlich ein wahrhaft wünschenswertes Gut? Ein Gut, das wir nicht haben können. Dinge sehen, die ich nicht begreifen kann, mir Dinge verschaffen, die unmöglich zu haben sind, das ist nun das einzige Streben meines Lebens. Ich gelange hierzu durch zwei Mittel, durch das Geld und durch den Willen. Um eine Laune zu verfolgen, wende ich zuweilen die Beharrlichkeit an, die Sie anwenden, Herr Danglars, um eine neue Eisenbahnlinie herzustellen; Sie, Herr von Villefort, um einen Menschen zum Tode verurteilen zu lassen; Sie, Herr Debray, um ein Diplomatenkunststück zu vollbringen; Sie, Herr von Chateau-Renaud, um einer Frau zu gefallen; Sie, Herr Morel, um ein Pferd zu bändigen, das sonst niemand zu bändigen vermag. Sehen Sie zum Beispiel diese Fische an, von denen der eine fünfzig Meilen von St. Petersburg, der andere fünf Meilen von Neapel das Licht der Welt erblickt hat. Ist es nicht belustigend, sie auf derselben Tafel zu vereinigen?

 

Was für Fische sind dies? fragte Danglars.

 

Hier ist Herr von Chateau-Renaud, der sich in Rußland aufgehalten hat und Ihnen den Namen des einen sagen wird, antwortete Monte Christo, und hier ist Herr Major von Cavalcanti, ein Italiener, der Ihnen wohl den Namen des andern nennt.

 

Dieser hier ist, glaube ich, ein Sterlet, sagte Chateau-Renaud.

 

Und dieser hier ist, wenn ich mich nicht täusche, eine Lamprete, versetzte Cavalcanti.

 

So ist es. Mein lieber Herr Danglars, fragen Sie nun die beiden Herren, wo man diese Fische fängt.

 

Die Sterlets fängt man nur in der Wolga, sagte Chateau-Renaud.

 

Nur der Fusaro-See liefert meines Wissens Lampreten von dieser Größe, sagte Cavalcanti. Ganz richtig: der eine kommt aus der Wolga, der andere aus dem Fusaro-See.

 

Unmöglich! riefen zugleich alle Gäste.

 

Sehen Sie, das ist es gerade, was mich belustigt, sagte Monte Christo. Ich bin wie Nero, das Unmögliche zieht mich an, und das ist es auch, was Sie ergötzt, denn daß Ihnen dieses Fleisch, das in Wirklichkeit vielleicht nicht so viel wert ist, als das des Barsches oder des Salms, ausgezeichnet erscheint, rührt wohl bloß davon her, daß es Ihnen unmöglich schien, es sich zu verschaffen, und daß es nun doch da ist.

 

Doch wie hat man es fertig gebracht, diese Fische nach Paris zu transportieren?

 

Oh, mein Gott! Es gibt nichts Einfacheres; man hat jeden in ein großes Faß getan, von denen das eine mit Schilfrohr und Meergras, das andere mit Binsen und Seepflanzen ausgepolstert war. Man legte sie sodann auf einen besonders hierzu gebauten Packwagen, und so lebte der Sterlet zwölf Tage und die Lamprete acht; und beide waren noch völlig lebendig, als sie meinem Koch in die Hände fielen, der den einen in Milch, den andern in Wein sterben ließ.

 

Sie sind in der Tat ein wunderbarer Mann! rief Danglars, und die Philosophen mögen sagen, was sie wollen, es ist doch herrlich, reich zu sein.

 

Das alles ist bewundernswürdig, sagte Chateau-Renaud; doch ich gestehe, was ich am meisten bewundere, ist die staunenswerte Schnelligkeit, mit der Sie bedient werden. Nicht wahr, Herr Graf, Sie haben dieses Haus erst vor fünf bis sechs Tagen gekauft?

 

Allerdings.

 

Nun wohl, ich bin überzeugt, daß es in acht Tagen völlig umgestaltet sein wird; denn wenn ich mich nicht täusche, hatte es einen ganz andern Eingang, als jetzt, und der Hof war gepflastert und leer, während er heute aus einem herrlichen Rasen besteht, eingefaßt von Bäumen, die über hundert Jahre alt zu sein scheinen.

 

Das ist natürlich, ich liebe das Grüne und den Schatten, versetzte Monte Christo.

 

In der Tat, sagte Frau von Villefort, früher kam man durch ein Tor, das auf die Straße ging, und am Tage meiner wunderbaren Rettung ließen Sie mich, wie ich mich erinnere, von der Straße aus in das Haus eintreten.

 

Ja, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo; doch seitdem zog ich einen Eingang vor, der mir erlaubt, das Bois de Boulogne durch mein Gitter zu sehen.

 

In vier Tagen, rief Morel, das ist ein Wunder!

 

Sie haben recht, sagte Chateau-Renaud, aus einem alten Hause ein neues zu machen, ist etwas höchst Wunderbares, denn das Haus war in der Tat sehr alt und hatte sogar ein sehr düsteres Aussehen; ich entsinne mich dessen, denn ich war von meiner Mutter beauftragt, es in Augenschein zu nehmen, als es Herr von Saint-Meran vor ein paar Jahren zum Verkaufe ausbot.

 

Herr von Saint-Meran! sagte Frau von Villefort, dieses Haus gehörte also Herrn von Saint-Meran, ehe Sie es kauften, Herr Graf?

 

Es scheint so, antwortete Monte Christo.

 

Wie, es scheint? Sie wissen nicht, wem Sie Ihr Haus abgekauft haben?

 

Meiner Treu, nein, mein Intendant besorgt alle diese Einzelheiten.

 

Es war wenigstens zehn Jahre gar nicht bewohnt, bemerkte Chateau-Renaud, und es bot einen gar traurigen Anblick mit seinen geschlossenen Läden und Türen und dem Grase im Hofe. Wahrlich, wenn es nicht dem Schwiegervater eines Staatsanwaltes gehört hätte, man wäre versucht gewesen, es für eines von jenen verfluchten Häusern zu halten, in denen ein großes Verbrechen begangen worden ist.

 

Villefort, der bis jetzt keines von den drei bis vier mit außerordentlichen Weinen gefüllten Gläsern berührt hatte, die vor ihm standen, nahm das nächststehende und leerte es in einem Zuge.

 

Monte Christo ließ einen Augenblick hingehen, dann sagte er, das Stillschweigen unterbrechend, das auf die Worte Chateau-Renauds gefolgt war: Es ist seltsam, Herr Baron, aber derselbe Gedanke ergriff mich, als ich es zum erstenmale betrat, und dieses Haus kam mir so düster vor, daß ich es nie gekauft haben würde, wenn nicht der Intendant die Sache für mich abgemacht hätte. Ohne Zweifel hat der Bursche vom Sachwalter ein hübsches Trinkgeld bekommen.

 

Das ist wahrscheinlich, stammelte Villefort, der zu lächeln suchte; glauben Sie mir jedoch, daß ich an dieser Bestechung keinen Teil habe. Es war der Wille des Herrn von Saint-Meran, daß dieses Haus, das zur Mitgift seiner Enkelin gehört, verkauft würde, denn wäre es noch drei oder vier Jahre unbewohnt geblieben, so müßte es in Trümmer zerfallen sein.

 

Nun erbleichte Morel ebenfalls.

 

Besonders ein Zimmer, fuhr Monte Christo fort, ein Zimmer, mein Gott! ein scheinbar ganz einfaches Zimmer, ein Zimmer wie alle anderen Zimmer, mit rotem Damast austapeziert, kam mir, ich weiß nicht warum, so tragisch vor, wie nur etwas sein kann.

 

Warum dies? fragte Debray, warum tragisch?

 

Gibt man sich Rechenschaft über unbewußte Eindrücke? Gibt es nicht Orte, an denen man geradezu Traurigkeit einzuatmen scheint? Warum? Man weiß es nichts durch eine Verkettung von Erinnerungen, durch eine Laune des Geistes, der uns in andere Zeiten, an andere Orte zurückführt, die vielleicht in gar keinem Zusammenhang mit den Zeiten und Orten stehen, wo wir uns befinden! Ich weiß nur gewiß, daß mich dieses Zimmer auf eine wunderbare Weise an das Zimmer der Desdemona erinnerte. Bei Gott, da wir mit dem Mittagsmahl fertig sind, muß ich es Ihnen zeigen, dann gehen wir in den Garten und nehmen dort den Kaffee. Monte Christo befragte seine Gäste durch ein Zeichen. Frau von Villefort stand auf, Monte Christo tat dasselbe, und die andern folgten dem Beispiel.

 

Villefort und Frau Danglars blieben einen Augenblick wie an ihre Plätze genagelt, sie befragten sich mit kalten, stummen, eisigen Augen.

 

Haben Sie gehört? fragte Frau Danglars.

 

Wir müssen gehen, antwortete Villefort, aufstehend und ihr den Arm reichend.

 

Es hatten sich bereits alle Gäste, von Neugierde getrieben, gesammelt, denn man dachte wohl, der Besuch würde sich nicht auf dieses Zimmer beschränken, und man würde zugleich die übrigen Teile der ehemaligen Baracke, aus der Monte Christo einen Palast gemacht hatte, durchwandern. Jeder eilte durch die offene Tür. Monte Christo wartete auf die Zögernden; als sie ebenfalls hinausgegangen waren, schloß er den Zug mit einem Lächeln, das seine Gäste, wenn sie es hätten begreifen können, ganz anders in Schrecken gesetzt haben würde, als das Zimmer, das man betreten sollte. Man durchschritt nach und nach die auf orientalische Weise ausgestatteten Räume und die mit den schönsten Gemälden alter Meister geschmückten Salons; endlich gelangte man in das berüchtigte Gemach.

 

Es zeigte nichts Besonderes, als daß es, obgleich der Tag sich neigte, nicht erleuchtet war und sein altes Aussehen beibehalten hatte, während alle übrigen Zimmer in gänzlich neuem Schmucke erschienen. Diese zwei Ursachen genügten in der Tat, ihm eine düstere Farbe zu verleihen.

 

Hu; rief Frau von Villefort, das ist in der Tat schauerlich.

 

Frau Danglars suchte ein paar Worte zu stammeln, die man nicht verstand. Verschiedene Bemerkungen flogen durcheinander und bestätigten insgesamt, das Zimmer mit dem roten Damast habe ein unheilschwangeres Aussehen.

 

Nicht wahr? sagte Monte Christo. Schauen Sie nur, wie dieses Bett sonderbar gestellt ist, welch eine düstere, blutige Tapete! Und diese beiden Porträts mit ihren infolge der Feuchtigkeit verblichenen Augen, scheinen ihre blassen Lippen und ihre irren Augen nicht zu sagen: Ich habe gesehen?

 

Villefort wurde leichenbleich, und Frau Danglars fiel auf einen in der Nähe des Kamins stehenden Stuhl.

 

Oh! haben Sie wirklich den Mut, sich auf diesen Stuhl zu setzen, worauf das Verbrechen vielleicht begangen worden ist? fragte Frau von Villefort lächelnd.

 

Frau Danglars stand rasch auf.

 

Und das ist noch nicht alles, sagte Monte Christo.

 

Was gibt es denn noch? fragte Debray, dem Frau Danglars Aufregung nicht entging.

 

Sehen Sie doch diese kleine Treppe, sagte Monte Christo, eine in der Tapete verborgene Tür öffnend, schauen Sie, und sagen Sie mir, was Sie davon denken!

 

Welch unheilschwangere Stufen! rief lachend Chateau-Renaud.

 

Ich weiß in der Tat nicht, ob es der Wein von Chios ist, der so schwermütig macht, aber ich sehe dieses Haus allerdings ganz schwarz, sagte Debray.

 

Morel war, seit von Valentines Mitgift die Rede gewesen war, traurig geblieben und hatte kein Wort mehr gesprochen.

 

Denken Sie sich einen Othello oder irgend einen Abbé von Ganges, sagte Monte Christo, der Schritt für Schritt in einer finstern, stürmischen Nacht mit einer unseligen Bürde, die er, wenn nicht dem Auge Gottes, doch dem Blicke der Menschen zu entziehen eilig bemüht wäre, diese Treppe hinabginge.

 

Frau Danglars wurde halb ohnmächtig am Arme Villeforts, der sich selbst an die Wand lehnen mußte.

 

Ah! mein Gott, gnädige Frau, was haben Sie denn? rief Debray, wie bleich werden Sie!

 

Was sie hat? Das ist ganz einfach, versetzte Frau von Villefort; Herr von Monte Christo erzählt uns schreckliche Geschichten, ohne Zweifel, damit wir vor Furcht sterben sollen. Ja wohl, sagte Villefort. In der Tat, Graf, Sie erschrecken die Damen.

 

Was haben Sie denn? fragte Debray wiederholt Frau Danglars.

 

Nichts, nichts, erwiderte diese, nicht ohne eine gewisse Anstrengung, ich bedarf nur der Luft.

 

Wollen Sie in den Garten hinabgehen? fragte Debray, Frau Danglars seinen Arm bietend und auf die Geheimtreppe zuschreitend.

 

Nein, nein, antwortete sie, ich will lieber hier bleiben!

 

Ist dieser Schrecken in der Tat ernst, gnädige Frau? sagte Monte Christo.

 

Nein, mein Herr, erwiderte Frau Danglars; doch Sie haben eine Art, die Dinge an die Wand zu malen, welche die Illusion zur Wirklichkeit macht.

 

Oh! Gott, ja, sagte Monte Christo lächelnd, und das ist alles ein Erzeugnis der Einbildungskraft; denn warum sollte man sich nicht ebensogut dieses Zimmer als ein ehrliches, gutes Zimmer einer biederen Hausfrau vorstellen, dieses Bett mit seinen purpurroten Vorhängen als ein von der fruchtbaren Göttin Lucina besuchtes Lager, und diese geheimnisvolle Treppe als den Gang, durch den sacht, und um den erquickenden Schlaf der Wöchnerin nicht zu stören, der Arzt geht, oder die Amme, oder der Vater, das schlummernde Kind auf dem Arme …?

 

Diesmal stieß Frau Danglars, statt sich zu beruhigen, einen Seufzer aus und fiel in Ohnmacht.

 

Frau Danglars befindet sich unwohl, stammelte Villefort; man sollte sie vielleicht in ihren Wagen bringen.

 

Oh, mein Gott! rief Monte Christo, ich habe meinen Flacon vergessen.

 

Hier ist der meinige, sagte Frau von Villefort und reichte Monte Christo einen Flacon voll eines roten Saftes, dem ähnlich, dessen wohltätige Wirkung der Graf an Eduard versucht hatte.

 

Ah! sagte Monte Christo, während er das Fläschchen aus Frau von Villeforts Händen nahm.

 

Ja, flüsterte ihm diese zu, ich habe es nach Ihren Angaben versucht.

 

Und es ist Ihnen gelungen?

 

Ich glaube.

 

Man hatte Frau Danglars in das Nebenzimmer gebracht. Monte Christo ließ einen Tropfen von dem roten Safte auf ihre Lippen fallen, und sie kam zu sich.

 

Oh! welch ein gräßlicher Traum! rief sie.

 

Villefort drückte ihr kräftig die Hand, um ihr zu verstehen zu geben, sie hätte nicht geträumt.

 

Man suchte Herrn Danglars; Monte Christo schien in Verzweiflung; er nahm Frau Danglars am Arm und führte sie in den Garten, wo man Herrn Danglars fand, zwischen den Herren Cavalcanti Vater und Sohn Kaffee schlürfend.

 

Habe ich Sie wirklich erschreckt? fragte Monte Christo.

 

Nein; aber Sie wissen, die Dinge bringen Eindrücke auf uns hervor, je nach der Stimmung, in der wir uns befinden.

 

Villefort zwang sich zu lachen. Und dann begreifen Sie, sagte er, es genügt eine Voraussetzung, eine Chimäre …

 

Nun wohl, sagte Monte Christo, Sie mögen nur glauben oder nicht, ich habe die feste Überzeugung, daß ein Verbrechen in diesem Hause begangen worden ist.

 

Nehmen Sie sich in acht, entgegnete Frau von Villefort, wir haben einen Staatsanwalt hier.

 

Meiner Treu, rief Monte Christo, da sich dies gerade so trifft, so werde ich es benutzen, um meine Angabe zu machen.

 

Ihre Angabe? fragte Villefort.

 

Ja, und zwar in Gegenwart von Zeugen.

 

Alles dies ist sehr interessant, bemerkte Debray, und wenn wirklich ein Verbrechen vorliegt, so werden wir vortrefflich verdauen.

 

 

Es liegt ein Verbrechen vor, sagte Monte Christo. Kommen Sie hierher, meine Herren, kommen Sie, Herr von Villefort; damit die Angabe gültig ist, muß sie bei der zuständigen Behörde gemacht werden. Monte Christo nahm Villefort am Arme, und während er zugleich Frau Danglars‘ Arm unter den seinigen drückte, zog er den Staatsanwalt bis unter die Platane, wo der Schatten am stärksten war. Die andern Gäste folgten insgesamt.

 

Sehen Sie, sagte Monte Christo, hier, gerade auf dieser Stelle – und er stieß mit dem Fuße auf die Erde – hier ließ ich, um die alten Bäume durch andere zu ersetzen, graben und Erde auslegen; bei dem Graben entdeckten meine Arbeiter ein Kistchen, oder vielmehr die eisernen Bande eines Kistchens, unter denen das Skelett eines neugeborenen Kindes lag. Das ist, denke ich, keine Sinnestäuschung?

 

Monte Christo fühlte, wie Frau Danglars‘ Arm erstarrte und Villeforts Hand zitterte.

 

Ein neugeborenes Kind, wiederholte Debray; Teufel! die Sache wird ernst, wie mir scheint.

 

Oh! wer kann sagen, daß es ein Verbrechen ist? versetzte Villefort mit einer letzten Anstrengung.

 

Wie? Ein Kind in einem Garten lebendig begraben und kein Verbrechen? rief Monte Christo. Wie nennen Sie denn diese Handlung, Herr Staatsanwalt?

 

Aber wer sagt denn, es sei lebendig begraben worden?

 

Warum es hier begraben, wenn es tot war? Dieser Garten ist nie ein Friedhof gewesen.

 

Was widerfährt den Kindesmördern in diesem Lande? fragte naiv der Major Cavalcanti.

 

Mein Gott, man schneidet ihnen ganz einfach, den Hals ab, antwortete Danglars.

 

Ah! man schneidet ihnen den Hals ab, rief Cavalcanti.

 

Ich glaube … nicht wahr, Herr von Villefort? fragte Monte Christo.

 

Ja, Herr Graf, antwortete dieser mit einem Ausdrucke, der nichts Menschliches mehr hatte.

 

Monte Christo sah, daß die beiden Personen, für welche er die Szene vorbereitet hatte, nicht mehr ertragen konnten, und sagte, da er die Sache nicht weiter treiben wollte: Doch, meine Herren, mir scheint, wir vergessen den Kaffee. Und er führte seine Gäste zu dem mitten auf dem Rasen stehenden Tische.

 

In der Tat, Herr Graf, sagte Frau Danglars, ich schäme mich, meine Schwäche zu gestehen, aber alle diese furchtbaren Geschichten haben mich gewaltig angegriffen; ich bitte, erlauben Sie, daß ich mich setze.

 

Und sie fiel auf einen Stuhl.

 

Monte Christo verbeugte sich vor ihr, trat zu Frau von Villefort und sagte zu dieser: Ich glaube, Frau Danglars bedarf abermals Ihres Flacons.

 

Doch ehe sich Frau von Villefort ihrer Freundin näherte, hatte der Staatsanwalt bereits Frau Danglars zugeflüstert:

 

Ich muß Sie morgen sprechen.

 

Wo?

 

Kommen Sie in mein Büro, das ist noch der sicherste Ort.

 

Ich werde kommen.

 

In diesem Augenblick kam Frau von Villefort.

 

Ich danke, liebe Freundin, sagte Frau Danglars, welche zu lächeln suchte, es ist nichts, und ich fühle mich bereits besser.

 

Der Bettler.

 

Der Bettler.

 

Der Abend rückte heran; Frau von Villefort äußerte den Wunsch, nach Paris zurückzukehren, was Frau Danglars trotz ihres augenscheinlichen Unbehagens nicht zu tun wagte.

 

Auf das Verlangen seiner Frau gab Herr von Villefort zuerst das Zeichen zum Aufbruch. Er bot Frau Danglars einen Platz in seinem Wagen, damit sie unter der Sorge seiner Frau wäre. In ein höchst interessantes gewerbliches Gespräch vertieft, schenkte Herr Danglars allem, was um ihn her vorging, nicht die geringste Aufmerksamkeit. Während Monte Christo von Frau von Villefort ihren Flacon verlangte, bemerkte er, daß sich Herr von Villefort Frau Danglars näherte, und erriet nach seiner Kenntnis der Sachlage, was der Staatsanwalt ihr sagte, obgleich dieser so leise sprach, daß es kaum Frau Danglars hörte.

 

Vom Grafen sich verabschiedend ritten Morel, Chateau-Renaud und Debray fort, während die beiden Damen in den Wagen des Herrn von Villefort stiegen und Herr Danglars, immer mehr entzückt von Herrn Cavalcanti dem Vater, diesen einlud, mit ihm in seinem Coupé zu fahren.

 

Was Andrea Cavalcanti betrifft, so benutzte dieser sein neues Tilbury, das ihn vor der Tür erwartete und dessen Eisenschimmel ein Reitknecht hielt. Andrea hatte während des Mittagsmahles nicht viel gesprochen, weil er ein ganz gescheiter Bursche war und die begründete Furcht hegte, es könnte ihm mitten unter diesen reichen und angesehenen Gästen, unter denen sein Auge wohl nicht ohne Bangen einen Staatsanwalt erblickte, eine Albernheit entschlüpfen.

 

Dann war er von Herrn Danglars in Beschlag genommen worden. Dieser glaubte beim Anblick des alten Majors mit dem steifen Kragen und seines noch etwas schüchternen Sohnes und in Hinsicht auf Monte Christos Gastfreundschaft, er habe es mit irgend einem Nabob zu tun, der nach Paris gekommen sei, um seinen einzigen Sohn sich im gesellschaftlichen Leben vervollkommnen zu lassen.

 

Er hatte mit unendlichem Wohlgefallen den ungeheuren Diamanten betrachtet, der an dem kleinen Finger des Majors glänzte, denn als ein kluger und erfahrener Mann hatte der Major, aus Furcht, es könnte seinen Banknoten ein Unglück widerfahren, diese sogleich in einen Wertgegenstand verwandelt. Nach dem Mittagsmahle befragte er, immer unter dem Vorwande industrieller und touristischer Interessen, den Vater und den Sohn über ihre Lebensweise, und da der Vater und der Sohn davon benachrichtigt waren, daß ihnen ihr Kredit, dem einen von 48 000 Franken ein für allemal, dem andern von 50 000 Franken jährlich, bei Danglars eröffnet werden sollte, so waren sie außerordentlich freundlich und zuvorkommend gegen den Bankier.

 

Ein Umstand besonders vermehrte die Achtung, wir möchten sogar sagen, die Verehrung Danglars‘ für Cavalcanti. Getreu dem Grundsatze von Horaz, nil mirari (Laß dich nicht verblüffen!), hatte sich dieser, wie man gesehen, begnügt, einen Beweis seines Wissens nur dadurch zu geben, daß er den See nannte, in dem man die Lampreten fängt. Dann hatte er seinen Teil an dem Fische gegessen, ohne ein Wort zu sagen. Daraus schloß Danglars, dergleichen Kostbarkeiten seien etwas ganz Gewöhnliches für den erhabenen Abkömmling der Cavalcanti.

 

Er nahm es auch mit sichtbarem Wohlgefallen auf, als Cavalcanti zu ihm die Worte sprach: Morgen, mein Herr, werde ich Ihnen in Geschäften einen Besuch machen.

 

Und ich, erwiderte Danglars, werde glücklich sein, Sie zu empfangen.

 

Hierauf schlug er Cavalcanti vor, ihn, wenn es ihm nicht zu unangenehm wäre, sich von seinem Sohne zu trennen, nach dem Hotel des Princes zurückzufahren. Cavalcanti antwortete ihm, sein Sohn sei seit langer Zeit gewohnt, ein Junggesellenleben zu führen, er habe folglich seine eigenen Pferde.

 

Der Major stieg also in Danglars‘ Wagen, und der Bankier setzte sich an seine Seite, immer mehr entzückt über das geordnete, ökonomische Wesen eines Mannes, der doch seinem Sohne jährlich 50 000 Franken gab, was ein Vermögen mit 5 bis 600 000 Franken Zinsen annehmen ließ.

 

Andrea fing, um sich ein vornehmes Ansehen zu geben, damit an, daß er seinem Reitknecht einen Verweis erteilte, weil er ihn, statt an der Freitreppe vorzufahren, an der Ausfahrt erwartet hatte. In diesem Augenblicke legte sich eine Hand auf seine Schulter. Der junge Mann wandte sich um und erblickte erstaunt ein seltsames von der Sonne verbranntes, in einen dichten Bart eingerahmtes Gesicht, wie Karfunkel glänzende Augen und ein spöttisches Lächeln, das einen Mund öffnete, in dem schneeweiße schakalartige Zähne sichtbar wurden.

 

Ein rotkarriertes Taschentuch umgab diesen Kopf mit seinen graulichen, starren Haaren, und ein im höchsten Maße fettiger und zerlumpter Oberrock bedeckte den großen, mageren, skelettartigen Körper darunter.

 

Erkannte der junge Mann dieses Gesicht bei dem Scheine der Laterne seines Tilbury, oder war er nur betroffen von dem furchtbaren Anblick des Menschen, der sich ihm näherte?

 

Was wollen Sie von mir? sagte er.

 

Um Verzeihung, antwortete der Mensch, indem er seine Hand an das rote Taschentuch legte, ich störe Sie vielleicht, habe aber mit Ihnen zu sprechen.

 

Man bettelt nicht am Abend, sagte der Reitknecht, mit einer Bewegung, als wollte er seinen Herrn von dem Lästigen befreien.

 

Ich bettle nicht, mein hübschem Junge, sagte der Unbekannte zu dem Diener mit einem so ironischen Lächeln und einem so furchtbaren Blicke, daß dieser zurückwich; ich will nur ein paar Worte mit Ihrem Herrn reden, der mir vor etwa vierzehn Tagen einen Auftrag gegeben hat.

 

Sprechen Sie, versetzte Andrea kräftig genug, um vor dem Diener seine Unruhe zu verbergen, was wollen Sie? Sagen Sie es geschwind, mein Freund.

 

Ich wünschte … ich wünschte … erwiderte ganz leise der Mann mit dem roten Tuch, ich wünschte, Sie würden mir die Mühe ersparen, zu Fuße nach Paris zurückzukehren. Ich bin sehr müde, habe nicht so gut zu Mittag gespeist wie du und kann mich kaum auf den Beinen halten.

 

Der junge Mann bebte bei dieser seltsamen Vertraulichkeit und entgegnete: Sprechen Sie doch endlich, was wollen Sie?

 

Nun, du sollst mich in deinen schönen Wagen steigen und zurückfahren lassen.

 

 

Andrea erbleichte, antwortete aber nicht.

 

Oh, mein Gott! ja, sagte der Mann, die Hände in seine Tasche steckend und Andrea mit herausfordernden Augen anschauend, es ist so ein Gedanke von mir, verstehst du, mein kleiner Benedetto?

 

Bei diesem Namen überlegte der junge Mann ohne Zweifel, denn er näherte sich seinem Reitknecht und sagte zu ihm: Dieser Mensch hat wirklich einen Auftrag von mir erhalten, über den er mir Bericht erstatten soll. Geh zu Fuß bis ans Tor und nimm dort einen Wagen, damit du nicht zu spät kommst.

 

Der Diener entfernte sich sehr erstaunt.

 

Lassen Sie mich wenigstens in den Schatten treten, sagte Andrea.

 

Oh! was das betrifft, erwiderte der Mann mit dem roten Tuch, ich will dich selbst an einen schönen Platz führen, warte nur.

 

Und er nahm das Pferd beim Gebiß und führte das Tilbury an eine Stelle, wo es wirklich keinem Menschen in der Welt möglich war, zu sehen, welche Ehre ihm Andrea erwies. Oh! es ist bei mir nicht der Stolz, in einen schönen Wagen steigen zu dürfen, sagte der Unbekannte: nein, es geschieht nur, weil ich müde bin und ein wenig in Geschäften mit dir zu sprechen habe.

 

Steigen Sie ein! sagte der junge Mann.

 

Zum Glück war es nicht Tag, denn es wäre ein seltsames Schauspiel gewesen, diesen Bettler breit auf gestickten Kissen neben dem jungen, zierlichen Führer des Tilbury sitzen zu sehen. Andrea ließ sein Pferd bis an das letzte Haus des Dorfes laufen, ohne nur ein Wort zu seinem Gefährten zu sagen, der seinerseits lächelte und schwieg, als sei er entzückt, in einem so schönen Wagen fahren zu dürfen.

 

Sobald Andrea außerhalb Auteuils war, schaute er umher, ohne Zweifel, um sich zu versichern, ob sie niemand sehen oder hören könnte, hielt dann sein Pferd an, kreuzte die Arme vor dem Mann mit dem roten Taschentuch und sagte zu ihm: Nun, Herr Caderousse! Warum kommen Sie und stören mich in meiner Ruhe?

 

Ei, mein Gott! ärgere dich nicht, Kleiner; du mußt doch wissen, was das Unglück bedeutet; das Unglück, sage ich dir, macht eifersüchtig. Ich glaubte, du liefest in Piemont und Toskana umher, genötigt, den Facchino oder Cicerone zu spielen; ich beklagte dich vom Grunde meines Herzens, wie ich mein Kind beklagen würde. Du weißt, daß ich dich stets mein Kind genannt habe.

 

Weiter! Weiter!

 

Und ich sehe dich plötzlich durch das Tor des Bons Hommes, mit einem Reitknecht, mit einem Tilbury und mit funkelneuen Kleidern fahren. Ah! Du hast also eine Goldmine entdeckt oder eine Stelle als Wechselagent gekauft?

 

Sie sind somit, wie Sie gestehen, eifersüchtig?

 

Nein, ich bin zufrieden, so zufrieden, daß ich dir meine Komplimente machen wollte. Kleiner; da ich jedoch nicht gut gekleidet war, nahm ich meine Vorsichtsmaßregeln, um dich nicht zu kompromittieren.

 

Schöne Vorsichtsmaßregeln, Sie reden mich in Gegenwart meines Bedienten an.

 

Ei, was willst du denn, mein Kind? Ich rede dich an, wo ich deiner habhaft werden kann. Du hast ein sehr lebhaftes Pferd, du bist von Natur schlüpfrig wie ein Aal; verfehlte ich dich heute abend, so lief ich Gefahr, dich nie mehr zu erwischen.

 

Sie sehen wohl, daß ich mich nicht verberge.

 

Du bist sehr glücklich, und ich wünschte dasselbe von mir sagen zu können; ich aber verberge mich. Zwar fürchtete ich, du würdest mich nicht erkennen; doch du hast mich erkannt, fügte Caderousse mit seinem schlimmen Lächeln hinzu; du bist sehr artig, mein Junge.

 

Was brauchen Sie? versetzte Andrea.

 

Du duzest mich nicht mehr, und das ist schlimm von einem alten Kameraden; Benedetto, nimm dich in acht, du wirst mich anspruchsvoll machen.

 

Bei dieser Drohung sank der Zorn des jungen Mannes; der Wind des Zwanges wehte ihn nieder. Er ließ sein Pferd wieder im Trab gehen und sagte: Es ist von dir selbst schlimm, Caderousse, daß du dich so gegen einen alten Kameraden benimmst, wie du mich soeben nanntest:; du bist ein Marseiller, ich bin …

 

Du weißt also nun, was du bist?

 

Nein, ich wurde in Korsika aufgezogen; du bist alt und halsstarrig, ich bin jung und starrköpfig. Unter Leuten, wie wir sind, tut eine Drohung nicht gut, und alles muß sich auf gütliche Weise abmachen. Ist es mein Fehler, wenn das Glück, das dir noch den Rücken zukehrt, mir eine freundliche Miene zeigt?

 

Das Glück ist dir also freundlich? Es ist kein entlehnter Reitknecht, es ist kein entlehntes Tilbury, es sind keine entlehnten Kleider, was ich da sehe? Gut, desto besser! sagte Caderousse, in dessen Augen Begierde und Lüsternheit glänzten.

 

Oh! Du siehst es wohl und weißt es wohl, da du mich anredest, sagte Andrea, immer lebhafter werdend. Hätte ich ein Taschentuch, wie du, um meinen Kopf, trüge ich einen fettigen Rock auf den Schultern und durchlöcherte Schuhe an den Füßen, so würdest du mich nicht kennen.

 

Du täuschest dich, du hast unrecht; nun, da ich dich wiedergefunden, hindert mich nichts gekleidet zu sein, wie ein anderer, denn ich weiß, daß du ein gutes Herz hast. Besitzest du zwei Röcke, so wirst du mir wohl einen davon geben; ich gab dir auch eine Portion Suppe und Bohnen, als dich hungerte.

 

Das ist wahr, bestätigte Andrea.

 

Welch einen Appetit hattest du! Hast du immer noch einen so guten Appetit?

 

Ja wohl, sagte Andrea lachend.

 

Du mußt vortrefflich bei dem Fürsten gespeist haben, von dem du kommst.

 

Es ist kein Fürst, sondern nur ein Graf.

 

Ein Graf, und zwar ein reicher, nicht wahr?

 

Ja, doch traue ich ihm nicht, er ist ein Herr, der nicht ganz bequem aussieht.

 

Mein Gott, sei nur unbesorgt! Man hat keine Absichten auf deinen Grafen und überläßt dir ihn ganz allein. Doch, fügte Caderousse mit dem schlimmen Lächeln hinzu, das schon einmal seine Lippen gestreift hatte, doch du begreifst, du mußt etwas dafür geben.

 

Sprich, wieviel brauchst du?

 

Ich glaube, mit 100 Franken monatlich könnte ich leben …

 

Mit hundert Franken?

 

Allerdings schlecht, wie du ebenfalls begreifst!

 

Hier sind zweihundert, sagte Andrea. Und er legte in Caderousses Hand zehn Louisd’or.

 

Gut, sagte Caderousse.

 

Finde dich immer am Ersten des Monats beim Hausmeister ein, und du wirst ebensoviel finden.

 

Du demütigst mich abermals dadurch, daß du mich mit Bedientenvolk in Berührung bringst; nein, siehst du, ich will nur mit dir zu tun haben.

 

Es sei, frage nach mir, und am Ersten jeden Monats erhältst du deine Rente, wenigstens solange ich die meinige erhalte.

 

Schön, schön! ich sehe, daß ich mich nicht täuschte, du bist ein braver Junge, und es ist ein Segen, wenn das Glück bei Leuten deiner Art einkehrt. Erzähle doch, wie dein Glück gekommen ist.

 

Ich habe meinen Vater wieder gefunden. – Deinen wahren Vater? – Verdammt! Solange er bezahlt … – Wirst du es glauben und ihn ehren, das ist ganz richtig. Wie nennt sich dein Vater? – Major Cavalcanti. – Und wer half dir dazu, daß du deinen Vater wiederfandest? – Der Graf von Monte Christo. – Der, von dem du herkamst? – Ja. – Ei, so versuche es doch, mich bei ihm als nächsten Verwandten anzubringen, da er solche Geschäfte treibt.

 

Wohl; ich werde mit ihm über dich sprechen.

 

Du bist sehr gut, daß du es tun willst, sagte Caderousse.

 

Da du so viel Anteil an mir nimmst, versetzte Andrea, so erlaubst du wohl, mir auch einige Auskunft über dich zu erbitten.

 

Das ist richtig … Ich will ein Zimmer in einem ehrlichen Hause mieten, mich mit einem anständigen Kleide bedecken, mich alle Tage rasieren lassen und das Kaffeehaus besuchen, um die Zeitungen zu lesen. Am Abend gehe ich mit irgend einem Claqueur ins Schauspiel; ich sehe dann aus wie ein Bäcker, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat, und das ist mein Ideal.

 

Sehr gut! Willst du diesen Plan ausführen und vernünftig sein, so wird alles gut gehen. Und nun, da du hast, was du willst, und da wir an Ort und Stelle sind, springe aus meinem Wagen und verschwinde.

 

Nein, Kleiner, bedenke doch ein rotes Tuch auf dem Kopf, so gut wie keine Schuhe, keine Spur von Papieren und zehn Napoleons in Gold in der Tasche – man würde mich unfehlbar am Tor anhalten; zu meiner Rechtfertigung wäre ich dann genötigt, zu sagen, du habest mir diese zehn Napoleons gegeben. Dann erfolgt eine Nachforschung, eine Untersuchung; man erfährt, daß ich Toulon verlassen habe, ohne Abschied zu nehmen, und man führt mich ohne Gnade an das Mittelländische Meer zurück. Ich werde wieder ganz einfach Nr. 106, und dahin ist mein Ideal, einem ehemaligen Bäcker zu gleichen! Nein, mein Sohn, ich ziehe es vor, ganz ehrlich in der Hauptstadt zu bleiben.

 

Andrea runzelte die Stirn; der vermeintliche Sohn des Majors von Cavalcanti war, wie er sich dessen selbst gerühmt hatte, ein ziemlich schlimmer Kopf. Er hielt einen Augenblick an, warf einen raschen Blick umher und steckte dann die Hand verstohlen in seine Hosentasche, wo er den Bügel einer Taschenpistole zu streicheln begann.

 

Caderousse aber, der seinen Gefährten nicht aus den Augen verlor, griff mit seinen Händen hinter seinen Rücken und öffnete ganz sacht ein langes, spanisches Messer, das er für jeden Fall bei sich trug.

 

Die beiden würdigen Freunde verstanden einander, wie man sieht. Andreas Hand kam harmlos wieder aus der Tasche hervor und stieg bis zu seinem roten Schnurrbarte hinauf, den er eine Zeitlang zwischen den Fingern drehte.

 

Gut, Caderousse, sagte er, du willst also glücklich werden?

 

Ich werde mein möglichstes tun, erwiderte der Wirt vom Pont du Gard, während er sein Messer wieder in die Scheide steckte.

 

Vorwärts, fahren wir in die Stadt hinein! Doch wie willst du es machen, um durch das Tor zu kommen, ohne Verdacht zu erwecken? Mir scheint, mit deiner Tracht wagst du noch mehr im Wagen, als zu Fuß.

 

Warte, das wirst du sehen, erwiderte Caderousse.

 

Er nahm den Mantel mit großem Kragen, den der Bediente an seinem Platze zurückgelassen hatte, und legte ihn auf seine Schultern; dann griff er nach Cavalcantis Hut und setzte ihn sich auf, worauf er die Stellung eines Bedienten, dessen Herr selbst fährt, einnahm.

 

Und ich, sagte Andrea, soll ich etwa barhaupt bleiben?

 

Bah! Es weht ein so starker Wind, daß er dir wohl deinen Hut fortgenommen haben kann.

 

Vorwärts also, daß wir zu Ende kommen!

 

Sie gelangten ohne Unfall durch das Tor. Bei der ersten Querstraße hielt Andrea sein Pferd an, Caderousse sprang zu Boden.

 

Nun, sagte Andrea, und der Mantel und mein Hut?

 

Oh! erwiderte Caderousse, du wirst nicht wollen, daß ich den Schnupfen bekomme. Und er verschwand in einem Gäßchen.

 

Ach! kann man denn in dieser Welt nie ganz glücklich sein! sagte Andrea, einen Seufzer ausstoßend.

 

Brot und Salz.

 

Brot und Salz.

 

Frau von Morcerf trat mit ihrem Begleiter unter eine Lindenallee, die nach einem Treibhause führte. Nicht wahr, es war heiß im Salon, Herr Graf? sagte sie.

 

Ja, gnädige Frau, und Ihr Gedanke, die Türen und Läden öffnen zu lassen, war vortrefflich.

 

Als der Gras diese Worte sprach, bemerkte er, daß Mercedes‘ Hand zitterte.

 

Doch Sie, sagte er, mit diesem leichten Kleide und ohne ein anderes Schutzmittel um den Hals, als diesen Schal von Gaze, Ihnen ist wohl kalt?

 

Wissen Sie, wohin ich sie führe? sagte die Gräfin, ohne auf Monte Christos Frage zu antworten.

 

Nein, gnädige Frau, antwortete dieser, doch Sie sehen, ich leiste keinen Widerstand.

 

In das Treibhaus, das Sie dort am Ende der Allee erblicken. Der Graf schaute Mercedes an, als wollte er sie befragen; doch sie setzte ihren Weg fort, ohne etwas zu sagen, und Monte Christo blieb stumm.

 

Sie traten in das Gebäude, das ganz mit herrlichen Früchten geschmückt war, die schon Anfang Juli in dieser künstlichen Temperatur reiften.

 

Mercedes verließ den Arm des Grafen und pflückte an einem Weinstock eine Muskattraube.

 

Nehmen Sie, Herr Graf, sagte sie mit einem so traurigen Lächeln, daß man die Tränen am Rande ihrer Augen hätte können hervorbrechen sehen, ich weiß wohl, unsere französischen Trauben sind nicht mit denen von Sizilien und Cypern zu vergleichen, doch Sie werden gegen unsere nördliche Sonne nachsichtig sein.

 

Der Graf verbeugte sich und machte einen Schritt rückwärts.

 

Sie schlagen es mir ab? fragte Mercedes mit zitternder Stimme.

 

Gnädige Frau, antwortete Monte Christo, ich bitte Sie demütigst um Entschuldigung, aber ich esse nie Trauben.

 

Ein herrlicher Pfirsich hing, wie die Weinrebe, an einem durch die künstliche Hitze des Treibhauses erwärmten Spaliere. Mercedes näherte sich der samtartigen Frucht und pflückte sie.

 

Nehmen Sie diesen Pfirsich, sagte sie.

 

Doch der Graf machte dieselbe Gebärde der Weigerung.

 

Abermals! sagte sie mit einem schmerzlichen Tone, daß man fühlen konnte, wie dieser Ton ein Schluchzen unterdrückte, in der Tat, ich habe Unglück.

 

Ein banges Schweigen folgte auf diese Szene, der Pfirsich war wie die Traube auf den Sand gefallen.

 

Herr Graf, sagte Mercedes, Monte Christo mit flehendem Auge anschauend, es gibt eine rührende arabische Sitte, die auf ewig die zu Freunden macht, die Brot und Salz unter demselben Dache geteilt haben.

 

Ich kenne sie, gnädige Frau, antwortete der Graf, doch wir sind in Frankreich und nicht in Arabien, und in Frankreich gibt es ebensowenig ewige Freundschaften, wie eine Teilung von Salz und Brot.

 

Doch sprechen Sie, sagte die Gräfin, stammelnd und ihre Augen auf Monte Christos Augen heftend, den sie mit ihren beiden Händen am Arme faßte, nicht wahr, wir sind Freunde?

 

Das Blut floß zu dem Herzen des Grafen zurück, und er wurde bleich wie der Tod, dann stieg es vom Herzen aufwärts, überströmte seine Wangen, und seine Augen schwammen ein paar Sekunden lang im weiten Raume, wie die eines von einem Blendwerk getroffenen Menschen.

 

Gewiß sind wir Freunde, gnädige Frau, erwiderte er, warum sollten wir es auch nicht sein?

 

Dieser Ton war so weit von dem entfernt, den Frau von Morcerf zu hören wünschte, daß sie sich umwandte, um einen Seufzer entschlüpfen zu lassen, der einem Stöhnen glich.

 

Ich danke, sagte sie und schritt vorwärts.

 

So machten sie einen Gang durch den Garten, ohne ein einziges Wort zu sprechen.

 

Mein Herr, sagte plötzlich die Gräfin nach zehn Minuten einer schweigsamen Wanderung, ist es wahr, daß Sie so viel gesehen, so viele Reisen gemacht, so viel gelitten haben?

 

Ja, gnädige Frau, ich habe viel gelitten, antwortete er.

 

Aber nun sind Sie glücklich?

 

Allerdings, denn niemand hört mich klagen.

 

Und Ihr gegenwärtiges Glück hat Ihre Seele besänftigt?

 

Mein gegenwärtiges Glück kommt meinem vergangenen Unglück gleich.

 

Sind Sie nicht verheiratet? fragte die Gräfin.

 

Ich verheiratet? entgegnete Monte Christo bebend, wer konnte Ihnen dies sagen?

 

Man hat es mir nicht gesagt, aber man hat Sie wiederholt eine junge hübsche Person in die Oper führen sehen.

 

Es ist eine Sklavin, die ich in Konstantinopel gekauft habe; es ist die Tochter eines Fürsten, aus der ich meine Tochter mache, da ich keine andere Zuneigung auf Erden habe.

 

Sie leben also allein?

 

Ich lebe allein.

 

Sie haben keine Schwester … keinen Sohn … keinen Vater?

 

Ich habe niemand.

 

Wie können Sie so leben, ohne daß Sie etwas an das Dasein bindet?

 

Das ist nicht mein Fehler, gnädige Frau. In Malta hatte ich eine Geliebte, ich wollte sie heiraten, als der Krieg kam und mich wie ein Sturmwind von ihr fortführte. Ich hatte geglaubt, sie liebe mich hinreichend, um mich zu erwarten und sogar meinem Grabe treu zu bleiben. Bei meiner Rückkehr war sie verheiratet. Das ist die traurige Geschichte des damals zwanzigjährigen Mannes. Ich hatte vielleicht ein schwächeres Herz als die andern und litt mehr, als andere an meiner Stelle gelitten haben würden.

 

Die Gräfin blieb einen Augenblick stehen, als bedürfe sie eines Haltes, um Atem zu schöpfen.

 

 

Ja, sagte sie, und diese Liebe ist Ihnen im Herzen geblieben … Man liebt nur einmal wirklich … Und Sie haben diese Frau nie wiedergesehen?

 

Nie, ich bin nicht nach Malta, wo sie war, zurückgekehrt. – Sie ist also in Malta? – Ich glaube. – Und haben Sie ihr die Leiden vergeben, die sie Ihnen bereitete? – Ihr, ja, – Doch nur ihr; Sie hassen immer noch die, welche Sie von ihr getrennt haben? – Ich, keineswegs; warum sollte ich sie hassen?

 

Die Gräfin stellte sich Monte Christo gegenüber; sie hielt noch ein Stück von der duftenden Traube in der Hand.

 

Nehmen Sie, sagte Mercedes.

 

Ich esse nie Trauben, erwiderte Monte Christo noch einmal.

 

Die Gräfin schleuderte die Traube mit einer Gebärde der Verzweiflung in das nächste Gebüsch.

 

Unbeugsam! murmelte sie.

 

Monte Christo blieb so unempfindlich, als gälte der Vorwurf gar nicht ihm.

 

Albert lief in diesem Augenblick herbei und rief: Oh! meine Mutter, ein großes Unglück!

 

Was ist geschehen? fragte die Gräfin, und richtete sich, wie nach einem Traume zur Wirklichkeit erwachend, hoch auf; ein Unglück sagst du? In der Tat, es muß Unglück geschehen!

 

Herr von Villefort ist hier. – Nun? – Er kommt, um seine Frau und seine Tochter zu holen. – Warum?

 

Die Frau Marquise von Saint-Meran ist mit der Nachricht in Paris angelangt, Herr von Saint-Meran sei bei seiner Abreise von Marseille auf der ersten Station gestorben. Frau von Villefort, die sehr heiter war, wollte dieses Unglück weder begreifen, noch glauben, doch Fräulein von Villefort erriet, so vorsichtig ihr Vater auch zu Werke ging, bei den ersten Worten alles. Der Schlag traf sie wie der Donner, und sie sank ohnmächtig nieder.

 

Was ist denn Herr von Saint-Meran für Fräulein von Villefort? fragte der Graf.

 

Ihr Großvater mütterlicherseits. Er wollte hierherkommen, um die Heirat seiner Enkelin mit Franz zu beschleunigen.

 

Ah! wirklich?

 

Franz hat nun Aufschub, fiel Albert ein. Warum ist Herr von Saint-Meran nicht ebenso auch Fräulein Danglars‘ Großvater?

 

Albert! Albert! versetzte Frau von Morcerf im Tone zarten Vorwurfs, was sagst du da? Ah! Herr Graf, Sie, für den er so große Achtung hegt, sagen Sie ihm, daß er übel gesprochen habe!

 

Und sie machte einige Schritte vorwärts.

 

Monte Christo schaute sie so seltsam und mit einem zugleich so träumerischen und von liebevoller Bewunderung erfüllten Ausdruck an, daß sie zurückkehrte.

 

Dann nahm sie seine Hand, drückte zugleich die ihres Sohnes und sagte, beide aneinander pressend: Nicht wahr, wir sind Freunde?

 

Oh! Ihr Freund, gnädige Frau? erwiderte Monte Christo, ich habe nicht diese Anmaßung, doch jedenfalls bin ich Ihr ehrerbietiger Diener.

 

Die Gräfin entfernte sich mit unaussprechlich gepreßtem Herzen, und ehe sie zehn Schritte gemacht hatte, sah sie der Graf ihr Taschentuch an die Augen drücken.

 

Sind Sie uneins, meine Mutter und Sie? fragte Albert erstaunt.

 

Im Gegenteil, da sie mir in Ihrer Gegenwart gesagt hat, wir seien Freunde, antwortete der Graf. Und sie kehrten in den Salon zurück, den Valentine und Herr und Frau von Villefort soeben verlassen hatten.

 

Es versteht sich von selbst, daß Morel gleich nach ihnen weggegangen war.

 

Der fünfte Oktober.

 

Der fünfte Oktober.

 

Es war ungefähr sechs Uhr abends; ein opalfarbiges Licht, in das eine schöne Herbstsonne ihre goldenen Strahlen einwob, fiel auf das bläuliche Meer. Aus diesem ungeheuren Gewässer, das sich von Gibraltar bis zu den Dardanellen, und von Tunis bis nach Venedig ausdehnt, glitt eine leichte Jacht von reiner, zierlicher Form in dem ersten Dunste des Abends hin.

 

Nach und nach verschwanden am westlichen Horizont die letzten Strahlen der Sonne. Die Jacht rückte rasch vor, obgleich scheinbar der Wind kaum stark genug war, um das Lockenhaar eines Mädchens flattern zu lassen.

 

Auf dem Vorderteile stehend, sah ein Mann von hoher Gestalt, brauner Gesichtsfarbe und mit großem Auge das Land als düstere, kegelförmige Masse auf sich zukommen, die gleich einem ungeheuren katalanischen Hut sich aus den Wellen erhob.

 

Ist das Monte Christo? fragte mit ernster, von tiefer Traurigkeit zeugender Stimme der Reisende, dessen Befehlen die Jacht für den Augenblick unterstand.

 

Ja, Exzellenz, antwortete der Patron, wir kommen sogleich dahin.

 

Wir kommen dahin! murmelte der Reisende mit einem Ausdrucke unsäglicher Schwermut. Dann fügte er mit leiser Stimme hinzu: Ja, dort wird der Hafen sein.

 

Und er versenkte sich wieder in seine Gedanken, die sich durch ein unsäglich trauriges Lächeln kundgaben.

 

Zehn Minuten nachher geite man die Segel auf und warf den Anker fünfhundert Schritte von einem kleinen Hafen.

 

Das Boot war bereits mit den Ruderern und dem Lotsen im Meere. Der Reisende stieg hinab und blieb, statt sich auf das für ihn mit einem blauen Teppich geschmückte Vorderteil zu setzen, mit gekreuzten Armen stehen.

 

Die Ruderer warteten, ihre Ruder halb in die Höhe gehoben, wie Vögel, die ihre Flügel trocknen lassen.

 

Vorwärts! sprach der Reisende.

 

Die acht Ruderer setzten mit einem Schlage ein; dann glitt die Barke, dem Antriebe gehorchend, rasch dem Ufer zu.

 

In einem Augenblick befand man sich in der kleinen Bucht, die hier durch einen natürlichen Ausschnitt gebildet wurde. Die Barke berührte einen Grund von feinem Sand. Der junge Mann stieg aus und suchte mit seinen Augen um sich her den Weg, denn es war bereits völlig Nacht.

 

In dem Augenblick, wo er den Kopf umwandte, ruhte eine Hand auf seiner Schulter, und eine Stimme ließ ihn erbeben.

 

Guten Abend, Maximilian, sagte diese Stimme, Sie sind sehr pünktlich, und ich danke Ihnen.

 

Sie sind es, Graf! rief der junge Mann mit einer freudigen Bewegung und mit seinen beiden Händen die Hand Monte Christos drückend.

 

Ja, wie Sie sehen, nicht minder pünktlich; doch Sie triefen, lieber Freund. Sie müssen die Kleider wechseln, es findet sich hier eine für Sie bereitstehende Wohnung, in der Sie Müdigkeit und Kälte vergessen werden, sagte Monte Christo lächelnd.

 

Maximilian schaute den Grafen voll Erstaunen an.

 

Wie, sagte er, Sie sind hier nicht mehr derselbe, der Sie in Paris waren?

 

Warum dies?

 

Ja, hier lächeln Sie.

 

Monte Christos Stirn verdüsterte sich plötzlich, und er sagte: Sie haben recht, daß Sie mich an mich selbst erinnern, Maximilian; Sie wiederzusehen war ein Glück für mich, und ich vergaß, daß jedes Glück vorübergehend ist.

 

Oh! nein, nein, Graf, rief Morel, abermals die beiden Hände seines Freundes ergreifend; lachen Sie im Gegenteil, seien Sie glücklich, und beweisen Sie mir, daß das Leben nur für die Leidenden schlecht ist. Oh! Sie sind menschenfreundlich, Sie sind gut, Sie sind groß, mein Freund, und um mir Mut zu verleihen, heucheln Sie diese Heiterkeit.

 

Sie täuschen sich, Morel, erwiderte Monte Christo, ich war in der Tat glücklich.

 

Dann ist es um so besser, Sie vergessen mich.

 

Wieso?

 

Ja, denn Sie wissen, Freund, wie der Gladiator, der in den Zirkus trat, den erhabenen Kaiser begrüßte, so sage ich zu Ihnen: Der den Tod erleiden wird, grüßt dich.

 

Sie sind nicht getröstet? fragte Monte Christo mit einem seltsamen Blicke.

 

Haben Sie wirklich geglaubt, ich könnte es sein? rief Morel mit einem Tone voll Bitterkeit. Graf, hören Sie mich: Ich bin zu Ihnen gekommen, um in den Armen eines Freundes zu sterben. Allerdings gibt es noch Menschen, die ich liebe; ich liebe meine Schwester Julie, ich liebe ihren Gatten Emanuel; aber für mich ist es Bedürfnis, daß man mir starke Arme öffnet, daß man mir in meinen letzten Augenblicken zulächelt. Meine Schwester würde in Tränen zerfließen und ohnmächtig werden; ich würde sie leiden sehen und habe selbst genug gelitten. Emanuel würde mir die Waffe aus den Händen reißen und das Haus mit seinem Geschrei erfüllen. Sie, Graf, dessen Wort ich habe, Sie, der Sie mehr als ein Mensch sind, Sie werden mich sanft und zärtlich bis zu den Pforten des Todes geleiten? Oh! Graf, wie sanft und wollüstig werde ich im Tode ruhen!

 

Morel sprach diese letzten Worte mit einem Ausdrucke von Energie, der den Grafen beben ließ.

 

Mein Freund, fuhr Morel fort, als er sah, daß der Graf schwieg, Sie haben mir den fünften Oktober als das Ende der Frist bezeichnet, die Sie von mir verlangen … Mein Freund, heute ist der fünfte Oktober …

 

Morel zog seine Uhr.

 

Es ist neun Uhr, ich habe noch drei Stunden zu leben.

 

Es sei! sagte Monte Christo, kommen Sie!

 

Morel folgte mechanisch dem Grafen, und sie waren bereits in der Grotte, ehe es Maximilian bemerkte.

 

Er fand Teppiche unter seinen Füßen, eine Tür öffnete sich, Wohlgerüche umhüllten ihn, ein lebhaftes Licht traf seine Augen. Morel zögerte, weiterzugehen, und blieb stehen; er mißtraute den entnervenden Sinnenreizen, die ihn umgaben.

 

Monte Christo zog ihn sanft vorwärts und sagte: Geziemt es sich nicht, daß wir die drei Stunden, die uns noch bleiben, wie die alten Römer verwenden, die, von Nero, ihrem Kaiser und Erben, zum Tode verurteilt, sich mit Blumen bekränzt zu Tische setzten und den Tod mit dem Wohlgeruch von Heliotropen und Rosen einatmeten?

 

Morel lächelte.

 

Wie Sie wollen, sagte er; der Tod bleibt immer der Tod, das heißt die Ruhe, das heißt die Abwesenheit des Lebens nd folglich des Schmerzes. Er setzte sich, Monte Christo nahm seinen Platz ihm gegenüber.

 

Man befand sich in dem wundervollen, bereits von uns beschriebenen Speisesaal, wo Marmorstatuen auf ihren Häuptern stets mit Blumen und Früchten gefüllte Körbchen trugen.

 

Morel hatte alles flüchtig angeschaut und ohne Zweifel nichts gesehen. Reden wir als Männer! sagte er mit einem Blicke auf den Grafen.

 

Sprechen Sie!

 

Graf, Sie sind der Inbegriff aller menschlichen Kenntnisse, und Ihr Wesen macht den Eindruck auf mich, als kämen Sie aus einer Welt, die weiter vorgerückt und reicher ist, als die unsrige.

 

Es ist etwas Wahres daran. Morel, sagte der Graf mit jenem schwermütigen Lächeln, das ihn so schön erscheinen ließ; ich bin von einem Planeten herabgestiegen, den man den Schmerz nennt.

 

Ich glaube alles, was Sie mir sagen, ohne daß ich den Sinn davon zu ergründen suche. Zum Beweise hierfür mag dienen: Sie hießen mich leben, und ich lebte; Sie hießen mich hoffen, und ich hoffte beinahe. Ich wage es daher, Graf, sie zu fragen, als ob Sie schon einmal tot gewesen wären: Graf, tut das wehe?

 

Monte Christo schaute Morel mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an und erwiderte: Ja, allerdings, es tut sehr wehe. Wenn Sie auf eine rohe Weise die sterbliche Hülle zerreißen, die hartnäckig zu leben verlangt; wenn Sie Ihr Fleisch unter den unmerklichen Zähnen eines Dolches aufschreien lassen; wenn Sie mit einer unverständigen Kugel Ihr Hirn durchbohren, das bei dem geringsten Stoße von Schmerzen befallen wird, – so werden Sie sicher leiden und mit Widerwillen das Leben verlassen, das Sie mitten unter Ihrem verzweiflungsvollen Todeskampfe immer noch schöner finden, als eine so teuer erkaufte Ruhe.

 

Ja, ich begreife, sagte Morel; der Tod hat wie das Leben seine Geheimnisse des Schmerzes und der Wollust, und es kommt nur darauf an, sie kennen zu lernen.

 

Ganz richtig, Maximilian, Sie haben das große Wort ausgesprochen. Der Tod ist, je nachdem wir uns gut oder schlimm mit ihm stellen, entweder ein Freund, der uns ebenso sanft wiegt, wie eine Amme, oder ein Feind, der uns mit Gewalt die Seele aus dem Leibe reißt. Eines Tags, wenn unsere Welt noch tausend Jahre gelebt, wenn man sich aller zerstörenden Kräfte der Natur bemächtigt haben wird, um sie der allgemeinen Wohlfahrt der Menschheit dienstbar zu machen; wenn der Mensch einmal die Geheimnisse des Todes kennt, – wird dieser ebenso sanft, ebenso wollüstig sein, wie der Schlummer in den Armen unserer Geliebten.

 

Und wenn Sie sterben wollten, wüßten Sie so zu sterben? – Ja.

 

Morel reichte ihm die Hand und sagte: Ich begreife nun, warum Sie mich hierher beschieden haben, auf diese einsame Insel, mitten in den Ozean, in diesen unterirdischen Palast … ein Grab, das den Neid eines Pharao erregt haben würde; es geschah dies, weil Sie mich liebten, nicht wahr, Graf? Weil Sie mich hinreichend lieben, um mir einen Tod ohne Kampf zu gönnen, einen Tod, der mir gestattet, zu sterben, während ich den Namen Valentine ausspreche und Ihnen die Hand drücke?

 

Ja, Sie haben richtig erraten, Morel, sagte der Graf einfach, dies war meine Absicht.

 

Ich danke; die Hoffnung, daß ich morgen nicht mehr leben werde, ist so süß für mein armes Herz.

 

Bedauern Sie keinen Verlust? fragte Monte Christo.

 

Nein! antwortete Morel.

 

Bedauern Sie nicht, von mir scheiden zu müssen? fragte der Graf mit tiefer Rührung.

 

Morel hielt inne. Sein so reines Auge trübte sich plötzlich und glänzte dann wieder in ungewöhnlichem Feuer, eine große Träne strömte hervor und rollte an seiner Wange herab.

 

Wie! rief der Graf, Sie beklagen den Verlust von irgend etwas auf Erden und wollen sterben?

 

Oh! Ich flehe Sie an! rief Morel mit mattem Tone, kein Wort mehr, verlängern Sie meine Qualen nicht, Graf.

 

Hören Sie, Morel, sagte der Graf, im innersten Herzen bewegt, Ihr Schmerz ist ungeheuer, das sehe ich; aber dennoch glauben Sie an Gott und setzen das Heil Ihrer Seele nicht aufs Spiel!

 

Morel lächelte traurig und erwiderte: Graf, ich schwöre Ihnen, meine Seele gehört nicht mehr mir.

 

Hören Sie, Morel, ich habe keine Verwandten auf der Welt, ich habe mich daran gewöhnt, Sie als meinen Sohn zu betrachten; um meinen Sohn zu retten, würde ich mein Leben und noch viel mehr mein Vermögen opfern.

 

Was wollen Sie damit sagen?

 

Ich will damit sagen, Morel, daß Sie das Leben verlassen, weil Sie nicht alle Genüsse kennen, die es einem großen Vermögen verheißt. Morel, ich besitze hundert Millionen: mit einem solchen Vermögen können Sie jedes Ziel erreichen, das Sie sich vorsetzen. Sind Sie ehrgeizig? Jede Laufbahn ist Ihnen geöffnet. Setzen Sie die Welt in Aufruhr, vollführen Sie wahnsinnige Streiche, seien Sie ein Verbrecher, wenn es sein muß, aber leben Sie.

 

Graf, ich habe Ihr Wort, erwiderte Morel kalt, und, fügte er, seine Uhr ziehend, hinzu, es ist halb zwölf Uhr.

 

Morel! Bedenken Sie auch, unter meinen Augen, in meinem Hause?

 

Dann lassen Sie mich gehen, sprach Morel düster, oder ich fange an zu glauben, Sie lieben mich nicht meinetwegen, sondern Ihretwegen! Und er stand auf.

 

Es ist gut, sagte Monte Christo, dessen Gesicht sich bei diesen Worten aufklärte; Sie wollen es, Morel, und sind unbeugsam. Ja! Sie sind tief unglücklich, und es könnte Sie, wie Sie gesagt haben, nur ein Wunder heilen; setzen Sie sich, Morel, und warten Sie!

 

Morel gehorchte. Monte Christo stand ebenfalls auf und holte aus einem sorgfältig verschlossenen Schranke, dessen Schlüssel er an einer goldenen Kette an sich hängen hatte, ein kleines silbernes, wunderbar gearbeitetes Kästchen, dessen Ecken vier Figuren darstellten, Figuren von Frauen, Symbole von Engeln, die zum Himmel aufstreben.

 

Er stellte dieses Kästchen auf den Tisch, öffnete es und zog eine kleine goldene Kapsel daraus hervor, deren Deckel sich durch den Druck einer Feder hob.

 

Diese Kapsel enthielt eine salbenartige, halbfeste Substanz. Der Graf schöpfte eine kleine Menge davon mit einem goldenen Löffel und bot sie Morel mit einem langen Blicke.

 

Man konnte nun sehen, daß diese Substanz grünlich war.

 

Das ist es, was Sie von mir verlangten, sagte er, das ist es, was ich Ihnen versprochen habe.

 

Noch lebend, erwiderte der junge Mann, den Löffel aus den Händen Monte Christos nehmend, noch lebend danke ich Ihnen aus dem Grunde meines Herzens.

 

Der Graf nahm einen zweiten Löffel und schöpfte abermals aus der goldenen Kapsel.

 

Was wollen Sie machen, Freund? fragte Morel, seine Hand zurückhaltend.

 

Meiner Treu, Morel, erwiderte er lächelnd, Gott vergebe mir! Ich glaube, ich bin des Lebens so müde wie Sie, und da sich eine Gelegenheit bietet …

 

Halten Sie ein! rief der junge Mann. Oh! Sie, der Sie lieben, den man liebt, der Sie den Glauben und die Hoffnung haben, tun Sie nicht, was ich zu tun im Begriffe bin!

 

Von Ihrer Seite wäre es ein Verbrechen. Gott befohlen, mein edler und hochherziger Freund! Gott befohlen! Ich werde Valentine alles sagen, was Sie für mich getan haben.

 

Und ohne weiter zu zögern, schlürfte Morel die geheimnisvolle Substanz.

 

Dann schwiegen beide. Ali brachte still und aufmerksam den Tabak und die persischen Pfeifen, trug den Kaffee auf und verschwand. Allmählich erbleichten die Lampen in den Händen der Marmorstatuen, und der Geruch der Räucherflammen kam Morel minder durchdringend vor.

 

Ihm gegenübersitzend, schaute Monte Christo Maximilian aus der Tiefe des Schattens an, während Morel nur die Augen des Grafen glänzen sah.

 

Ein ungeheurer Schmerz bemächtigte sich des jungen Mannes; er fühlte die Pfeife seinen Händen entschlüpfen, die Gegenstände verloren unmerklich ihre Farbe, seinen getrübten Augen kam es vor, als öffneten sich die Türen und Vorhänge in der Wand.

 

Freund, sagte er, ich fühle, daß ich sterbe – Dank!

 

Er machte eine Anstrengung, um dem Grafen zum letzten Male die Hand zu reichen; aber die Hand fiel kraftlos an seiner Seite nieder.

 

Dann kam es ihm vor, als lächele Monte Christo, nicht mit seinem seltsamen, furchtbaren Lächeln, bei dem er wiederholt die Geheimnisse dieser tiefen Seele im Halbdunkel zu erkennen geglaubt hatte, sondern mit einem barmherzigen Wohlwollen, wie es Väter ihren kleinen Kindern zeigen, wenn diese unvernünftige Dinge reden.

 

Zu gleicher Zeit wuchs der Graf in seinen Augen; seine fast verdoppelte Gestalt trat auf den roten Tapeten hervor; er hatte seine schwarzen Haare zurückgeworfen und erschien aufrecht und stolz, wie einer von jenen Engeln, mit denen man die Bösen am Tage des jüngsten Gerichtes bedroht.

 

Gelähmt, gebändigt, warf sich Morel in seinen Stuhl zurück; eine sanfte Erstarrung durchdrang alle seine Adern.

 

 

Liegend, entkräftet, fühlte er nichts Lebendes mehr in sich als diesen Traum; es kam ihm vor, als liefe er mit vollen Segeln in den schwankenden Zustand ein, der dem unbekannten Dunkel vorhergeht, das man Tod nennt. Noch einmal versuchte er, dem Grafen seine Hand zu geben; diesmal aber rührte sich seine Hand nicht mehr. Er wollte ein letztes Lebewohl aussprechen; doch seine Zunge wälzte sich schwerfällig im Munde umher, wie ein Stein, der ein Grab verstopfen soll.

 

Seine mit betäubender Schlafsucht belasteten Augen schlossen sich unwillkürlich; hinter seinen Augenlidern aber bewegte sich ein Bild, das er erkannte, trotz der Dunkelheit, mit der er sich umhüllt glaubte. Es war der Graf, der eine Tür öffnete.

 

Sogleich übergoß eine unermeßliche, aus einem anstoßenden mit unendlicher Pracht geschmückten Gemache hervorstrahlende Klarheit den Saal, in dem sich Morel seinem süßen Todeskampfe hingab.

 

Da sah er auf der Schwelle dieses Saales zwischen beiden Gemächern eine Frau von wunderbarer Schönheit stehen, Bleich und sanft lächelnd, schien sie der Engel der Barmherzigkeit, der den Engel der Rache beschwört.

 

Öffnet sich schon der Himmel für mich? dachte der Sterbende; dieser Engel gleicht dem, welchen ich verloren habe.

 

Monte Christo bezeichnete der jungen Frau mit dem Finger das Sofa, auf dem Morel ruhte.

 

Sie ging auf ihn zu, die Hände gefaltet und ein Lächeln auf den Lippen.

 

Valentine! Valentine! rief Morel aus dem Grunde seiner Seele.

 

Aber sein Mund brachte keinen Ton hervor, und er stieß, als wären alle seine Kräfte in dieser inneren Bewegung vereinigt, einen Seufzer aus und schloß die Augen.

 

Valentine stürzte auf ihn zu.

 

Morels Lippen machten abermals eine Bewegung.

 

Er ruft Sie, sprach der Graf, er ruft Sie aus der Tiefe seines Schlummers, er, dem Sie Ihr Schicksal anvertraut hatten, und von dem Sie der Tod trennen wollte! Aber zum Glück war ich da; und ich habe den Tod besiegt! Valentine, fortan sollt ihr euch auf Erden nicht mehr trennen; denn damit ihr einander wiederfändet, stürzte er sich in das Grab. Ohne mich wäret ihr beide gestorben; ich gebe euch einander zurück: möge Gott mir das doppelte Dasein, das ich rettete, in Rechnung stellen!

 

Valentine ergriff die Hand Monte Christos und drückte sie in einem Ergusse unwiderstehlicher Freude an ihre Lippen.

 

Oh! Danken Sie mir sehr, sagte der Graf, oh! Wiederholen Sie mir, ohne des Wiederholens müde zu werden, daß ich Sie glücklich gemacht habe; Sie ahnen nicht, wie sehr ich dieser Gewißheit bedarf.

 

Oh! Ja, ja, ich danke Ihnen von ganzer Seele, sagte Valentine, und wenn Sie an der Aufrichtigkeit meines Dankes zweifeln, so fragen Sie Haydee, die mich seit unserer Abreise von Frankreich bewog, mit Gesprächen über Sie den glücklichen Tag, der heute für mich erglänzt, geduldig zu erwarten.

 

Sie lieben also Haydee? fragte Monte Christo mit einer Rührung, die er vergebens zu verbergen bemüht war.

 

Oh! Von ganzer Seele!

 

Nun wohl, so hören Sie, sagte der Graf, ich habe mir eine Gunst von Ihnen zu erbitten.

 

Von mir? Großer Gott! Bin ich so glücklich? …

 

Ja. Sie haben Haydee Ihre Schwester genannt, möge sie in der Tat Ihre Schwester sein, Valentine; geben Sie ihr alles zurück, was Sie mir schuldig zu sein glauben, beschützen Sie mit Morel die arme Haydee, denn sie wird fortan allein auf der Welt sein …

 

Allein auf der Welt! wiederholte eine Stimme hinter dem Grafen; und warum?

 

Monte Christo wandte sich um.

 

Haydee stand da, bleich und in Eis verwandelt, und schaute den Grafen mit einer Gebärde tödlicher Starrheit an.

 

Weil du morgen frei sein wirst, meine Tochter, antwortete der Graf; weil du in der Welt den dir gebührenden Platz einnehmen wirst; weil mein Verhängnis das deinige nicht verdunkeln soll. Fürstentochter! Ich gebe dir die Reichtümer und den Namen deines Vaters zurück!

 

Haydee erbleichte, öffnete ihre durchsichtigen Hände, wie es die Jungfrau tut, die sich Gott befiehlt, und sprach mit einer von Tränen heiseren Stimme: Also du verläßt mich, Herr?

 

Haydee! Du bist jung, du bist schön; vergiß mich bis auf meinen Namen und sei glücklich!

 

Es ist gut, sprach Haydee, deine Befehle sollen vollzogen werden, mein Herr, ich werde dich bis auf deinen Namen vergessen und glücklich sein. Und sie machte einen Schritt rückwärts, um sich zu entfernen.

 

Oh, mein Gott! rief Valentine, während sie den erstarrten Kopf Morels auf ihre Schulter hob, sehen Sie nicht, wie bleich sie ist? Begreifen Sie nicht, was sie leidet?

 

Haydee entgegnete mit einem herzzerreißenden Ausdrucke: Warum soll er mich begreifen? Er ist mein Herr, und ich bin seine Sklavin; er hat das Recht, nichts zu sehen.

 

Der Graf bebte bei den Tönen dieser Stimme, die selbst die geheimsten Fibern seines Herzens erweckte; seine Augen begegneten denen des jungen Mädchens und konnten ihren Glanz nicht ertragen.

 

Mein Gott! Mein Gott! rief Monte Christo, was ich ahnen durfte, wäre also wahr, Haydee, du wärest glücklich, wenn ich dich nicht verlassen würde?

 

Ich bin jung, antwortete sie mit sanftem Tone; ich liebe das Leben, das du mir stets so süß gemacht hast, und würde es beklagen, wenn ich sterben müßte.

 

Damit willst du mir sagen, wenn ich dich verließe, Haydee …

 

So würde ich sterben, Herr, ja!

 

Du liebst mich also?

 

Oh! Valentine, er fragt, ob ich ihn liebe! Valentine, sage ihm doch, ob du Maximilian liebst!

 

Der Graf fühlte, wie seine Brust sich erweiterte und sein Herz sich ausdehnte; er öffnete seine Arme, und Haydee fiel ihm, einen Schrei ausstoßend, um den Hals.

 

Oh! Ja, ich liebe dich! sprach sie, ich liebe dich, wie man seinen Vater, seinen Bruder, seinen Gatten liebt, ich liebe dich, wie man sein Leben, seinen Gott liebt, denn du bist für mich das Schönste, das Beste und das Größte der geschaffenen Wesen.

 

Also geschehe, wie du willst, mein geliebter Engel, sagte der Graf. Gott, der mich gegen meine Feinde angetrieben und mich zu ihrem Sieger gemacht hat, Gott will nicht diese Reue an das Ende meines Sieges setzen, das sehe ich nun. Ich wollte mich bestrafen; Gott will mir verzeihen. Liebe mich also, Haydee! Wer weiß? Deine Liebe wird mich vielleicht vergessen lassen, was ich vergessen muß.

 

Aber was sprichst du denn da, Herr? fragte das junge Mädchen.

 

Ich sage, daß ein Wort von dir, Haydee, mich mehr erleichtert hat, als zwanzig Jahre meiner lahmen Weisheit. Ich habe nur dich aus dieser Welt; durch dich kann ich leiden, durch dich kann ich glücklich sein.

 

Hörst du, Valentine? rief Haydee, er sagt, durch mich könne er leiden, durch mich, die ich mein Leben für ihn geben würde!

 

Der Graf sammelte sich einen Augenblick und sprach: Habe ich die Wahrheit erschaut? Oh, mein Gott, gleichviel, Belohnung oder Strafe, ich nehme diese Bestimmung an. Komm, Haydee, komm …

 

Seinen Arm um den Hals des Mädchens schlingend, drückte er Valentine die Hand und verschwand.

 

Es verging ungefähr eine Stunde, während deren Valentine, stöhnend, ohne Stimme und mit starren Augen bei Morel verharrte. Allmählich fühlte sie sein Herz schlagen, ein unmerklicher Atem öffnete seine Lippen, und dieses leichte, die Rückkehr des Lebens verkündende Beben durchlief den ganzen Leib des jungen Mannes.

 

Endlich öffneten sich seine Augen, aber starr und wie im Irrwahn; dann kehrte das Gesicht zurück, und mit dem Gesicht das Gefühl, mit dem Gefühl der Schmerz.

 

Oh! rief er im Tone der Verzweiflung, ich lebe noch, der Graf hat mich getäuscht! Und er streckte die Hand nach dem Tische aus und griff nach einem Messer.

 

Freund, sagte Valentine mit ihrem wunderbaren Lächeln, erwache und schaue mich an!

 

Morel stieß einen gewaltigen Schrei aus und fiel mit irrem Geiste, voll Zweifel, wie von einer himmlischen Erscheinung geblendet, auf seine Knie nieder …

 

Am andern Morgen, bei den ersten Strahlen des Tages, gingen Morel und Valentine Arm in Arm am Gestade hin. Valentine erzählte Morel, wie Monte Christo in ihrem Zimmer erschienen sei, wie er ihr alles entschleiert habe, wie er sie das Verbrechen mit dem Finger habe berühren lassen, und sie endlich auf eine wunderbare Weise, indem er die Leute in dem Glauben ließ, sie sei wirklich gestorben, vom Tode errettete.

 

Sie hatten die Tür der Grotte offen gefunden und waren hinausgetreten; der Himmel ließ in seinem Morgenazur die letzten Gestirne der Nacht erglänzen.

 

Da erblickte Morel in dem Halbschatten einer Gruppe von Felsen einen Menschen, der auf ein Zeichen wartete, um herbeizukommen; es war Jacopo, der Kapitän der Jacht.

 

Mit einer Gebärde rief Valentine ihn zu sich, und Maximilian fragte ihn: Ihr habt uns etwas zu sagen?

 

Ich habe Ihnen einen Brief vom Grafen zu übergeben. Vom Grafen! murmelten gleichzeitig die jungen Leute.

 

Ja, lesen Sie.

 

Morel öffnete den Brief und las:

 

Mein lieber Maximilian!

 

Eine Feluke liegt für Sie vor Anker. Jacopo wird Sie nach Livorno fahren, wo Herr Noirtier seine Enkelin erwartet, die er segnen will, ehe sie Ihnen zum Altare folgt. Alles, was sich in dieser Grotte findet, mein Freund, mein Haus in den Champs-Elysées und mein kleines Schloß in Treport sind Hochzeitsgeschenke von Edmond Dantes für den Sohn seines Patrons Morel. Fräulein von Villefort wird die Güte haben, die Hälfte davon zu nehmen, denn ich bitte sie, den Armen von Paris das ganze Vermögen zu schenken, das ihr von ihrem Vater, der wahnsinnig geworden, und von ihrem Bruder, der im vorigen September mit ihrer Stiefmutter verschieden ist, zukommt.

 

Sagen Sie dem Engel, der über Ihrem Leben wachen wird, Morel, er möge zuweilen für einen Menschen beten, der sich wie Satan einen Augenblick für Gottes gleichen gehalten, aber mit aller Demut eines Christen erkannt hat, daß in den Händen Gottes allein die oberste Macht und die unbegrenzte Weisheit liegen. Diese Gebete werden vielleicht die Gewissensbisse mildern, die er im Grunde seines Herzens mit sich trägt.

 

Was Sie betrifft, Morel, hören Sie das ganze Geheimnis meines Benehmens gegen Sie. Es gibt weder Glück noch Unglück auf dieser Welt, es gibt nur eine Vergleichung eines Zustandes mit einem anderen und mehr nicht. Der allein, der das äußerste Unglück erfahren hat, ist geeignet, die höchste Glückseligkeit zu empfinden. Man muß die Nähe des Todes empfunden haben, Maximilian, um zu wissen, wie schön das Leben ist.

 

Lebt also und seid glücklich, geliebte Kinder meines Herzens, und vergeßt nie: bis zu dem Tage, wo es Gott gefallen wird, den Menschen die Zukunft zu enthüllen, besteht die ganze menschliche Weisheit in den zwei Worten:

 

Warten und Hoffen!

 

Euer Freund

 

Edmond Dantes,

Graf von Monte Christo.

 

Während Maximilian diesen Brief las, der Valentine von dem Wahnsinn ihres Vaters und dem Tode ihres Bruders in Kenntnis setzte, erbleichte sie; ein schmerzlicher Seufzer entschlüpfte ihrer Brust, und stille, aber darum nicht minder brennende Zähren rollten an ihren Wangen herab. Ihr Glück war teuer erkauft.

 

Morel schaute unruhig umher und sprach: In der Tat, der Graf übertreibt seine Großmut, Valentine würde sich mit meinem bescheidenen Vermögen begnügt haben. Wo ist der Graf, mein Freund? Führt mich zu ihm!

 

Jacopo streckte die Hand nach dem Horizont aus. Die Augen der jungen Leute folgten der vom Seemann angegebenen Richtung, und auf einer dunkelblauen Linie, die am Horizont den Himmel vom Meere trennte, erblickten sie ein kleines weißes Segel.

 

Abgereist! rief Morel; abgereist! Gott befohlen, mein Freund! Fahre wohl, mein Vater!

 

Abgereist! rief Valentine: Gott befohlen, meine Freundin! Fahre wohl, meine Schwester! Wer weiß, ob wir sie je wiedersehen werden! sagte Morel, eine Träne trocknend.

 

Mein Freund! versetzte Valentine, hat uns der Graf nicht gesagt, die ganze menschliche Weisheit bestehe in den zwei Worten:

 

 

Das Wirtshaus zur Glocke.

 

Das Wirtshaus zur Glocke.

 

Jetzt lassen wir Fräulein Danglars und ihre Freundin auf der Straße nach Brüssel dahinfahren und kehren zu dem armen Andrea Cavalcanti zurück, der auf eine so unselige Weise mitten im Aufschwünge seines Glückes ausgehalten wurde. Er war trotz seines noch sehr wenig vorgerückten Alters ein äußerst gewandter und gescheiter Junge. Wir sahen ihn bei dem ersten Geräusche im Salon sich der Tür nähern, zwei Zimmer durchschreiten und endlich verschwinden. In einem von diesen Zimmern war der Brautschatz der Verlobten ausgestellt, Schmuckkästchen mit Diamanten, Kaschmirschale, Brüsseler Spitzen, englische Schleier, kurz alle jene lockenden Dinge, deren Name schon das Herz der jungen Mädchen hüpfen läßt.

 

Beim Durchschreiten dieses Zimmers raffte Andrea die wertvollsten Schmuckstücke an sich und fühlte sich nun, mit diesem Reisegeld versehen, um so leichter im stande, durch das Fenster zu springen und den Händen der Gendarmen zu entschlüpfen. Groß und schlank, dabei muskulös wie ein Spartaner, lief er eine Viertelstunde lang, ohne auf die Richtung zu achten, einzig und allein in der Absicht, sich von dem gefährlichen Orte zu entfernen, wo man ihn hatte festnehmen wollen.

 

Bin ich verloren? fragte er sich. Nein, wenn ich mehr hinter mich zu bringen vermag als meine Feinde. Meine Rettung ist folglich eine einfache Meilenfrage geworden.

 

In diesem Augenblick sah er einen Mietswagen vor sich, dessen schweigsamer Kutscher eine Pfeife rauchte.

 

He! Freund, rief Benedetto, ist Ihr Pferd müde?

 

Müde! Jawohl! es hat den ganzen lieben langen Tag nichts getan. Vier elende Fahrten machen mit Trinkgeld sieben Franken, und ich muß dem Besitzer zehn geben!

 

Wollen Sie zu den sieben Franken noch zwanzig verdienen?

 

Mit Vergnügen. Was muß ich tun?

 

Etwas sehr Leichtes, wenn Ihr Pferd nicht zu müde ist.

 

Ich sage Ihnen, es wird gehen, wie ein Zephir, ich brauche nur zu wissen, in welcher Richtung.

 

In der Richtung von Louvres. Es handelt sich einfach darum, einen von meinen Freunden wieder einzuholen, mit dem ich morgen bei Chapelle-en-Serval jagen soll. Wollen Sie es versuchen?

 

Mit größtem Vergnügen.

 

Wenn wir ihn nicht von hier bis Bourget einholen, so bekommen Sie zwanzig Franken, wenn wir ihn bis Louvres nicht einholen, dreißig.

 

Und wenn wir ihn einholen?

 

Vierzig! sagte Andrea, der einen Augenblick gezögert hatte, dann aber bedachte, daß er dabei nichts wage.

 

Gut! rief der Kutscher. Also vorwärts!

 

Andrea stieg ein, und der Kutscher fuhr schnell darauf los. Bald wurde sein Wagen von einer Kalesche überholt, die zwei Postpferde im Galopp fortzogen.

 

Ah! sagte Cavalcanti seufzend zu sich selbst, wenn ich diese Kalesche, diese guten Pferde und besonders den Paß hätte, dessen man bedurfte, um sie zu bekommen!

 

Diese Kalesche war aber die, welche Fräulein Danglars und Fräulein d’Armilly fortführte.

 

Als sie endlich in Louvres ankamen, sagte Andrea: Ich sehe jetzt offenbar, daß ich meinen Freund nicht einhole. Hier sind dreißig Franken, ich bleibe im Roten Rosse über Nacht und nehme in dem ersten Wagen, den ich finde, einen Platz.

 

Andrea legte dem Kutscher sechs Fünffrankenstücke in die Hand und sprang leicht auf das Straßenpflaster.

 

Der Kutscher steckte freudig die Summe in die Tasche und fuhr im Schritt wieder nach Paris zurück. Andrea stellte sich, als ob er nach dem Gasthofe zum Roten Rosse ginge, nachdem er aber einen Augenblick an der Tür stehen geblieben war und das Geräusch des Wagens in der Ferne sich hatte verlieren hören, setzte er seinen Weg fort, und machte mit gymnastischen Schritten einen Lauf von zwei Meilen. Hier – er mußte ganz nahe bei Chapelle-en-Serval sein – ruhte er aus, um einen Entschluß zu fassen und einen Plan zu entwerfen.

 

Ohne Paß die Eilpost oder die gewöhnliche Post zu nehmen, war unmöglich. Daß er in dem Departement der Oise, einem der bestbewachten Frankreichs, nicht bleiben konnte, war einem in Kriminalsachen so erfahrenen Menschen wie Andrea ebenfalls klar. Er setzte sich daher an den Rand eines Grabens, ließ seinen Kopf in die Hände fallen und dachte nach. Zehn Minuten nachher hob er den Kopf wieder empor; sein Entschluß war gefaßt.

 

Er bedeckte eine ganze Seite des Paletots, den er im Vorzimmer vom Haken zu nehmen und über seinen Ballstaat zu knöpfen Zeit gehabt hatte, mit Staub, ging nach Chapelle-en-Serval und klopfte kühn an die Tür des einzigen Wirtshauses der Gegend. Der Wirt öffnete.

 

Mein Freund, sagte Andrea, ich wollte von Mortefontaine nach Senlis reiten, als mein Pferd einen Seitensprung machte und mich abschleuderte. Ich muß notwendig noch heute nacht nach Compiegne, wenn ich nicht meiner Familie die größte Unruhe verursachen soll. Können Sie mir nicht ein Pferd leihen?

 

Wohl oder übel hat ein Wirt immer ein Pferd. Der Wirt rief den Hausknecht, befahl, den Schimmel zu satteln, und weckte seinen siebenjährigen Sohn, der hinter dem Herrn aufsitzen sollte.

 

Andrea gab dem Wirt 20 Franken und ließ, während er sie aus der Tasche zog, absichtlich eine Visitenkarte mit dem Namen eines vornehmen Bekannten auf den Boden fallen, um den Wirt zu dem Glauben zu bringen, er habe sein Pferd an diesen Herrn vermietet.

 

Der Schimmel ging nicht schnell, doch einen gleichmäßigen Schritt; in drei und einer halben Stunde war Andrea in Compiegne, es schlug vier, als er auf den Marktplatz kam. Hier entließ er das Kind und wandte sich zu dem Wirtshaus zur Glocke, wo er schon früher bei Jagdausflügen eingekehrt war; denn er bedachte ganz richtig, daß er drei bis vier Stunden vor sich habe, und daß es das beste sei, sich durch einen guten Schlaf und ein gutes Mahl gegen die künftigen Anstrengungen zu wappnen.

 

Mein Freund, sagte Andrea zu dem Kellner, der öffnete, ich komme von Saint-Jean-au-Bois, wo ich zu Mittag gespeist habe, ich wollte den Wagen nehmen, der um Mitternacht durchfährt, verirrte mich aber und laufe seit vier Stunden im Walde umher. Geben Sie mir eines von den hübschen Zimmern, die nach dem Hofe gehen, und bringen Sie mir ein kaltes Huhn nebst einer Flasche Bordeaux.

 

Andrea sprach mit der vollkommensten Ruhe; er hatte die Zigarre im Mund und die Hände in den Taschen seines Paletots, seine Kleider waren elegant, sein Bart frisch rasiert; er sah in der Tat aus wie ein verspäteter Edelmann aus der Nachbarschaft.

 

Während der ahnungslose Kellner sein Zimmer bereitete, stand die Wirtin auf. Andrea empfing sie mit dem reizendsten Lächeln; er fragte sie, ob er nicht Nr. 3 haben könnte, das er bei seinem letzten Aufenthalte in Compiegne gehabt habe. Leider war Nr. 3 von einem jungen Manne besetzt, der mit seiner Schwester reiste.

 

Andrea schien in Verzweiflung, er tröstete sich nur, als ihm die Wirtin versicherte, Nr. 7 habe ganz dieselbe Lage, wie Nr. 3. In seinem inzwischen vorbereiteten Zimmer fand Andrea ein zartes Huhn, eine Flasche alten Wein und ein helles knisterndes Feuer. Er speiste mit so gutem Appetit, als ob nichts vorgefallen wäre. Dann legte er sich nieder und versank bald in einen vortrefflichen Schlaf.

 

Andreas Plan war folgender: Mit Tagesanbruch stand er auf, verließ das Wirtshaus, erreichte den Wald, erkaufte, unter dem Vorwand, Malerstudien zu machen, die Gastfreundschaft eines Bauern und verschaffte sich den Anzug eines Holzhauers und eine Axt. Mit künstlich gebräunten Händen und Gesichtszügen wollte er, nur bei Nacht marschierend und tagsüber sich verbergend, von Wald zu Wald zur nächsten Grenze gelangen und sich dabei bewohnten Orten nur nähern, um von Zeit zu Zeit ein Stück Brot zu kaufen.

 

War die Grenze überschritten, so machte Andrea seine Diamanten zu Geld und war mit Einschluß von zehn Banknoten, die er für den Fall der Not immer bei sich trug, abermals im Besitze von 50 000 Franken. Dabei rechnete er darauf, die Familie Danglars werde alles aufbieten, den Lärm über die ihr peinliche Geschichte zu ersticken.

 

Um früher aufzuwachen hatte Andrea die Läden nicht geschlossen; er begnügte sich, den Riegel an der Tür vorzuschieben und auf seinem Nachttische ein gewisses sehr scharfes und spitziges Messer von vortrefflich gehärtetem Stahl bereit zu legen.

 

Als er nach langem, erquickendem Schlafe erwachte, war sein erster Gedanke, er habe zu lange geruht. Er sprang aus dem Bette, lief ans Fenster und sah einen Gendarm durch den Hof gehen.

 

Ein Gendarm ist schon für einen harmlosen Menschen eine bemerkenswerte Erscheinung, für jedes furchtsame Gewissen ist seine Uniform aber ein entsetzliches Schreckbild.

 

Warum ein Gendarm? fragte sich Andrea.

 

Dann sagte er sich plötzlich: Ein Gendarm in einem Gasthof ist nichts Auffälliges; ich will mich also nicht wundern, sondern rasch ankleiden; ich warte, bis er weggegangen ist, und mache mich sodann aus dem Staube. Bald darauf trat er abermals ans Fenster und hob zum zweiten Male den Musselinvorhang auf.

 

Der erste Gendarm war nicht nur nicht weggegangen, sondern der junge Mann erblickte eine zweite Uniform, unten an der Treppe, der einzigen, auf der er hinabgehen konnte, während ein dritter Gendarm, zu Pferde und den Karabiner in der Faust, als Schildwache am Hoftore hielt.

 

Teufel! Man sucht mich, war Andreas erster Gedanke.

 

Blässe überströmte seine Stirn, und er schaute ängstlich umher. Sein Zimmer hatte nur einen Ausgang nach der allen Blicken ausgesetzten äußeren Galerie.

 

Ich bin verloren! war sein zweiter Gedanke.

 

Für einen Menschen in Andreas Lage bedeutete Verhaftung: Schwurgericht, Verurteilung, Tod, ohne Barmherzigkeit.

 

Einen Augenblick preßte er krampfhaft seinen Kopf zwischen seine Hände. Während dieses Augenblicks wäre er vor Angst beinahe verrückt geworden. Doch bald sprang aus der Welt der seinen Kopf durchkreuzenden Gedanken ein Hoffnungsstrahl hervor; ein bleiches Lächeln trat auf seine entfärbten Lippen und auf seine zusammengezogenen Wangen. Er schaute umher: die Gegenstände, die er suchte, fanden sich auf dem Marmor eines Sekretärs, nämlich Feder, Tinte und Papier. Er tauchte die Feder in die Tinte und schrieb mit fester Hand folgende Zeilen aus ein Blatt Papier:

 

Ich habe kein Geld, um zu bezahlen, bin aber kein unehrlicher Mensch; ich lasse als Unterpfand diese Nadel zurück, die zehnmal mehr wert ist, als meine Zeche. Aus Scham habe ich mich schon mit Tagesanbruch davongemacht.

 

Er nahm seine Nadel aus seiner Halsbinde und legte sie auf das Papier. Hernach zog er den Riegel zurück, öffnete die Tür ein wenig, als ob er sie beim Weggehen offen gelassen hätte, schlüpfte in den Kamin wie ein Mensch, der an solche gymnastische Übungen gewöhnt ist, verwischte mit seinen Füßen die Spur seiner Tritte in der Asche und fing an, in der gebogenen Röhre, die ihm noch den einzigen Weg der Rettung bot, hinaufzuklettern.

 

In diesem Augenblick kam der erste Gendarm, der Andrea aufgefallen war, die Treppe herauf; der Polizeikommissar ging ihm voran, und unten an der Treppe blieb der zweite Gendarm stehen.

 

Welchem Umstände hatte Andrea diesen frühen Polizeibesuch zu verdanken? Mit Tagesanbruch spielten die Telegraphen in allen Richtungen und mahnten die Polizei, eifrig nach Caderousses Mörder zu forschen.

 

Compiegne ist eine königliche Residenz, eine Jagdstadt, eine Garnisonstadt und im Überfluß mit Behörden, Gendarmen und Polizeikommissaren versehen; die Nachsuchungen begannen also sogleich nach Ankunft des telegraphischen Befehls, und da das Gasthaus zur Glocke das erste Gasthaus der Stadt ist, so machte man natürlich hier den Anfang. Die Schildwache, die dem Gasthofe gegenüber vor dem Rathause stand, erinnerte sich, einige Minuten nach vier Uhr einen jungen Mann auf einem Schimmel mit einem Bauernknaben gesehen zu haben, der Mann sei auf dem Platze abgestiegen, habe den Bauernknaben und das Pferd entlassen, an den Gasthof geklopft und dort Einlaß gefunden.

 

Auf Grund dieser Angaben gingen der Polizeikommissar, der Gendarm und ein Brigadier auf Andreas Tür zu.

 

Oh! oh! rief der Brigadier, ein in Gaunerstreichen wohl erfahrener alter Fuchs, eine offene Tür ist ein schlechtes Zeichen! Ich wollte lieber, sie wäre dreifach verriegelt. Der Vogel ist ausgeflogen.

 

Der Zettel auf dem Tische und die wertvolle Nadel schienen die Annahme der Flucht zu bestätigen.

 

Der Brigadier schaute umher, senkte seinen Blick unter das Bett, öffnete die Vorhänge, die Schränke und stand endlich vor dem Kamin still.

 

Hier war die Möglichkeit eines Ausgangs gegeben und darum, obwohl Andreas Vorsicht jede Spur verwischt hatte, doch sorgfältige Nachforschung geboten.

 

Der Brigadier ließ sich ein Reisbündel und Stroh bringen und legte Feuer daran.

 

Das Feuer ließ die Backsteine krachen; eine undurchsichtige Rauchsäule drängte sich durch die Röhren und stieg zum Himmel empor, aber einen Erfolg hatte das Manöver nicht.

 

Seit seiner Jugend im Kampfe mit der Gesellschaft, stand Andrea einem Gendarmen an List nicht nach. Er hatte den Brand vorhergesehen, war auf das Dach geklettert und kauerte sich hinter den Schornstein.

 

Einen Augenblick hoffte er, gerettet zu sein, denn er hörte den Brigadier den Gendarmen zurufen: Er ist nicht mehr da! Doch als er behutsam den Hals ausstreckte, sah er, daß die Gendarmen, statt sich zurückzuziehen, wie es bei einer solchen Ankündigung natürlich gewesen wäre, im Gegenteil ihre Aufmerksamkeit verdoppelten.

 

Er schaute sich nun ebenfalls um: das Rathaus, ein kolossales Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, erhob sich wie ein düsterer Wall zu seiner Rechten, und durch die Öffnungen des Baudenkmals konnte man in alle Winkel und Ecken des Daches schauen, wie man von einem Berge herab ins Tal schaut.

 

Andrea sagte sich, er werde auf der Stelle den Kopf des Brigadiers an einer von den Öffnungen erscheinen sehen. War er einmal entdeckt, so war er auch verloren – eine Jagd auf den Dächern bot ihm keine Hoffnung auf Entkommen. Er beschloß also, nicht durch denselben Kamin, sondern durch einen ähnlichen hinabzusteigen.

 

Er suchte mit den Augen einen Kamin, aus dem er keinen Rauch hervorkommen sah, erreichte ihn, über das Dach hinkriechend, und verschwand durch seine Öffnung, ohne wahrgenommen worden zu sein.

 

In derselben Sekunde öffnete sich ein kleines Fenster des Rathauses und ließ den Kopf des Gendarmerie-Brigadiers erscheinen. Einen Augenblick blieb dieser Kopf unbeweglich, wie eines von den steinernen Reliefs, welche das Gebäude zieren; dann verschwand er wieder.

 

Kalt und ruhig wie das Gesetz, dessen Vertreter er war, ging der Brigadier, ohne auf die tausend Fragen der versammelten Menge zu antworten, über den Platz und kehrte in den Gasthof zurück.

 

Nun, wie steht es? fragten die Gendarmen.

 

Meine Söhne, antwortete der Brigadier, der Räuber muß sich wirklich sehr frühzeitig heute morgen aus dem Staube gemacht haben; doch wir schicken Leute auf die Straße von Villers-Cotterets und Noyon und durchstreifen den Wald, wo wir ihn zweifellos finden werden.

 

Der ehrenwerte Mann hatte kaum dieses Wort gesprochen, als ein langer Schreckensruf, begleitet von einem heftigen Klingeln einer Glocke, durch das Haus erscholl.

 

Oh! oh! was ist das? rief der Brigadier. Das ist ein Reisender, der große Eile zu haben scheint, sprach der Wirt. Wo läutet man? – In Nummer 3.

 

Laufe dahin, Kellner!

 

In diesem Augenblick verdoppelten sich das Geschrei und der Lärm der Glocke. Der Kellner wollte hinlaufen.

 

Nein, nein! sagte der Brigadier, den dienstbaren Geist zurückhaltend; es kommt mir vor, als wollte der, welcher läutet, etwas anderes, als einen Kellner; wir wollen ihm einen Gendarmen schicken. Wer wohnt in Nummer 3?

 

Der kleine junge Mann, der gestern abend mit seiner Schwester angekommen ist und ein Zimmer mit zwei Betten verlangt hat.

 

Die Glocke erscholl zum dritten Male mit angstvollen Tönen.

 

Herbei! Herr Kommissar! rief der Brigadier, folgen Sie mir und beschleunigen Sie Ihre Schritte.

 

Warten Sie einen Augenblick, sagte der Wirt; zu Nr. 3 führen zwei Treppen, eine äußere und eine innere.

 

Gut! sagte der Brigadier, ich wähle die innere, das ist mein Departement. Sind die Karabiner geladen?

 

Ja, Brigadier.

 

Gut! so wachen Sie an der äußern Treppe, und, wenn er fliehen will, geben Sie Feuer auf ihn! Es ist ein großer Verbrecher, wie der Telegraph sagt.

 

Mit dem Polizeikommissar verschwand der Brigadier auf der innern Treppe.

 

Andrea war sehr geschickt bis auf zwei Drittel des Kamines hinabgestiegen; doch hier war sein Fuß ausgeglitten, und er war mit größerer Schnelligkeit und besonders mit mehr Geräusch, als ihm lieb war, hinabgerutscht. Wäre das Zimmer verlassen gewesen, so hätte dies nichts zu bedeuten gehabt, doch zum Unglück war es bewohnt.

 

 

Zwei Frauen, die in einem Bett schliefen, wurden bei dem Geräusch wach. Ihre Blicke richteten sich nach dem Punkte, von wo der Lärm kam, und sie sahen durch die Öffnung des Kamins einen Menschen erscheinen.

 

Eine von den beiden Frauen, eine Blonde, war es gewesen, die den furchtbaren Schrei ausstieß, von dem das ganze Haus widerhallte, während die andere nach der Klingelschnur stürzte und mit aller Gewalt daran zog.

 

Andrea hatte, wie man sieht, Unglück.

 

Barmherzigkeit! rief er, bleich, verwirrt, ohne die Personen anzuschauen, an die er sich wandte, rufen Sie nicht, retten Sie mich! Ich will Ihnen nichts Böses tun.

 

Andrea, der Mörder! rief eine von den jungen Frauen.

 

Eugenie, Fräulein Danglars! murmelte Cavalcanti, vom Schrecken zum höchsten Erstaunen übergehend.

 

Zu Hilfe! zu Hilfe! schrie Fräulein d’Armilly, die Glocke aus Eugenies Händen nehmend und noch kräftiger läutend, als ihre Gefährtin.

 

Retten Sie mich, man verfolgt mich! sagte Andrea, die Hände faltend; Barmherzigkeit, Gnade, liefern Sie mich nicht aus!

 

Es ist zu spät, man kommt herauf, erwiderte Eugenie.

 

So verbergen Sie mich irgendwo! Sie sagen, Sie haben ohne Grund Furcht gehabt; Sie wenden den Verdacht ab und retten mir das Leben.

 

Gut! es sei, sagte Eugenie; kehren Sie in den Kamin zurück, durch den Sie gekommen sind, Unglücklicher; gehen Sie und wir werden nichts sagen.

 

Da ist er! Da ist er! rief eine Stimme auf dem Vorplatz, ich sehe ihn!

 

Der Brigadier hatte wirklich sein Auge an das Schlüsselloch gedrückt und gesehen, wie Andrea flehend vor den Frauen stand.

 

Ein heftiger Kolbenschlag sprengte das Schloß, zwei weitere Schläge sprengten die Riegel; die Tür fiel zerschmettert nach innen.

 

Andrea lief an die andere Tür, die nach der Galerie des Hofes ging, und öffnete sie, um hinauszustürzen.

 

Die beiden Gendarmen standen mit ihren Karabinern da und schlugen auf ihn an.

 

Andrea blieb stehen; bleich, mit etwas zurückgeneigtem Körper hielt er sein unnützes Messer in der krampfhaft zusammengepreßten Hand.

 

Fliehen Sie doch! rief Fräulein d’Armilly, in deren Herzen das Mitleid in demselben Maße zunahm, in dem der Schreck daraus verschwand, fliehen Sie doch!

 

Oder töten Sie sich! sagte Eugenie mit dem Tone und der Gebärde einer jener Vestalinnen, die im Zirkus dem siegreichen Gladiator mit dem Daumen befahlen, seinem niedergeworfenen Gegner das Lebenslicht vollends auszublasen.

 

Andrea bebte und schaute das Mädchen mit einem verächtlichen Lächeln an, welches bewies, daß sein verdorbenes Wesen diesen Appell an die Ehre nicht verstand.

 

Der Brigadier trat mit dem Säbel in der Faust auf ihn zu.

 

Vorwärts, sagte Cavalcanti, stecken Sie wieder ein, mein braver Mann! Es ist nicht der Mühe wert, so viel Lärm zu machen, da ich mich selbst ergebe.

 

Dabei streckte er seine Hände aus, um Schellen daran legen zu lassen.

 

Die jungen Mädchen schauten voll Schrecken die häßliche Metamorphose an, die vor ihren Augen vorging: der Mann aus der vornehmen Welt legte seine Hülle ab und wurde wieder der Bagnoflüchtling.

 

Andrea wandte sich gegen sie um und fragte mit unverschämtem Lächeln: Haben Sie keinen Auftrag an Ihren Herrn Vater, Fräulein Eugenie, denn aller Wahrscheinlichkeit kehre ich nach Paris zurück.

 

Eugenie verbarg ihren Kopf in ihren beiden Händen.

 

Oh! oh! sagte Andrea, Sic brauchen sich nicht zu schämen; ich bin Ihnen nicht böse, daß Sie mir mit der Post nachgeeilt sind; war ich nicht so gut wie Ihr Gatte?

 

Hierauf ging Andrea hinaus und ließ die Flüchtlinge der Scham und dem Spott der Menge preisgegeben zurück.

 

Eine Stunde nachher stiegen beide in ihren Frauenkleidern in die Reisekalesche. Man hatte das Tor des Gasthofes geschlossen, um sie den Blicken der Leute möglichst zu entziehen; doch sie mußten nichtsdestoweniger durch eine doppelte Hecke von Neugierigen mit flammenden Augen und murmelnden Lippen fahren. Eugenie ließ die Vorhänge herab, aber wenn sie nichts sah, so hörte sie doch, und das laute Hohngelächter drang bis zu ihr.

 

Oh! warum ist die Welt nicht eine Wüste? rief sie, sich an die Brust des Fräuleins d’Armilly werfend, während ihre Augen von Wut funkelten.

 

Am andern Tage stiegen sie im Hotel de Flandres in Brüssel ab. – Andrea war am Abend vorher in die Liste der Gefangenen der Conciergerie eingetragen worden.

 

Das Gesetz.

 

Das Gesetz.

 

Während Danglars mit schweißbedeckter Stirn beim Anschauen der vor ihm liegenden ungeheuren Kolonnen seiner Passiva dem Gespenste des Bankerotts entgegenstarrte, wollte die Baronin, nachdem sie sich von der ersten heftigsten Erschütterung des niederschmetternden Schlages, der sie getroffen, erholt hatte, bei Lucien Debray Rat holen, fand ihn aber nicht daheim.

 

Wieder in ihrem Zimmer angelangt, pochte sie an Eugenies Tür. Als sie keine Antwort erhielt, versuchte sie hineinzugehen; aber die Riegel waren vorgeschoben. Frau Danglars glaubte, von der furchtbaren Aufregung des Abends ermüdet, habe sich Eugenie zu Bette gelegt und sei eingeschlafen.

 

Fräulein Eugenie, antwortete die Kammerfrau auf ihre Frage, ist mit Fräulein d’Armilly in ihr Zimmer zurückgekehrt; dann tranken sie miteinander Tee, und hierauf verabschiedeten sie mich mit der Bemerkung, sie bedürften meiner nicht mehr.

 

Frau Danglars legte sich hierauf ohne einen Schatten von Verdacht nieder, konnte aber in Erinnerung an die Vorgänge des Tages nicht einschlafen. Der Vorfall erschien ihr in immer trüberem Lichte, je mehr sie darüber nachdachte. Eugenie, sagte sie sich, ist verloren, und wir sind es ebenfalls. Die Geschichte, so wie sie dargestellt werden wird, bedeckt uns mit Schmach, denn in einer Gesellschaft, wie die unsere, sind gewisse Lächerlichkeiten einfach unerträglich und nicht wieder gutzumachen. Welch ein Glück, murmelte sie, daß Gott Eugenie den seltsamen Charakter gegeben hat, der mir oft solche Sorge bereitete.

 

Dann dachte sie wieder an Cavalcanti. Dieser Andrea war ein Elender, ein Dieb, ein Mörder, und dennoch besaß er Manieren, die auf eine gute Erziehung hindeuteten. Er besaß anscheinend ein großes Vermögen; ehrenhafte Leute liehen ihm ihre Unterstützung.

 

Wie soll man klar in diesem Irrsale sehen? An wen sich wenden, um aus dieser grausamen Lage zu kommen? Da fiel ihr Herr von Villefort ein. An diesen beschloß sie sich zu wenden. Er würde ihr, in Erinnerung an die Vergangenheit, sicher beistehen, und er würde dann die Sache allmählich sich im Sande verlaufen oder wenigstens Cavalcanti fliehen lassen. Erst bei diesem Gedanken schlief sie ruhig ein.

 

Am andern Morgen um 9 Uhr stand sie auf und kleidete sich an, verließ heimlich das Hotel, stieg in einen Fiaker und ließ sich nach dem Hause des Herrn von Villefort fahren.

 

Seit einem Monat bot dieses Haus den finstern Anblick eines Lazaretts, in dem die Pest ausgebrochen ist. Ein Teil der Zimmer war von außen und von innen geschlossen, die Läden öffneten sich nur von Zeit zu Zeit einen Augenblick, um etwas Luft einzulassen; dann sah man am Fenster den verstörten Kopf eines Bedienten erscheinen; das Fenster schloß sich wieder, und die Nachbarn fragten sich ganz leise: Werden wir heute abermals einen Sarg aus dem Hause des Staatsanwalts kommen sehen?

 

Frau Danglars wurde bei dem Anblicke dieses verödeten Hauses von einem Schauer befallen; sie stieg aus, näherte sich mit zitternden Knien der geschlossenen Tür und läutete. Erst als zum dritten Male die Glocke ertönte, kam ein Portier und öffnete die Tür nur einen Zoll weit.

 

Öffnen Sie doch! sprach die Baronin.

 

Sagen Sie mir zuerst, gnädige Frau, wer sind Sie? fragte der Portier.

 

Wer ich bin? Sie kennen mich ja.

 

Wir kennen niemand mehr, gnädige Frau.

 

Sie sind ein Narr, rief die Baronin.

 

Gnädige Frau, es ist Befehl. Entschuldigen Sie mich! Sagen Sie Ihren Namen und was Sie wollen.

 

Oh, was soll das heißen? Ich werde mich bei Herrn von Villefort über die Unverschämtheit seiner Leute beklagen.

 

Gnädige Frau, das ist keine Unverschämtheit, es ist Vorsicht; niemand darf hier herein ohne Erlaubnis des Herrn Doktor d’Avrigny, oder ohne mit dem Herrn Staatsanwalt gesprochen zu haben.

 

Wohl! Gerade mit dem Herrn Staatsanwalt habe ich zu tun. Vorwärts! Hier ist meine Karte, bringen Sie sie Ihrem Herrn.

 

Der Portier schloß die Tür und ließ Frau Danglars auf der Straße. Einen Augenblick nachher öffnete sich die Tür abermals, diesmal hinreichend, um der Baronin Durchgang zu gewähren; sie ging hinein, und die Tür schloß sich hinter ihr.

 

So sehr Frau Danglars von ihrem eigenen Ungemach, das sie hergeführt hatte, beunruhigt war, so kam ihr doch der Empfang, der ihr hier zuteil geworden war, so unwürdig vor, daß sie sich vor allem hierüber beklagte.

 

Doch Villefort hob sein vom Schmerz gebeugtes Haupt empor und schaute sie mit einem so traurigen Lächeln an, daß die Klagen auf ihren Lippen erstarben.

 

Entschuldigen Sie meine Diener wegen eines Schreckens, aus dem ich ihnen keinen Vorwurf machen kann.

 

Sie sind also auch unglücklich? sagte die Baronin.

 

Ja, gnädige Frau. Und Sie begreifen, was mich hierher führt?

 

Sie wollen von dem sprechen, was vorgefallen ist, nicht wahr?

 

Ja, mein Herr, ein furchtbares Unglück.

 

Das heißt ein Unfall.

 

Ein Unfall!

 

Ach! gnädige Frau, entgegnete der Staatsanwalt mit unzerstörbarer Ruhe, ich bin dahin gekommen, daß ich nur unwiederbringliche Dinge ein Unglück nenne.

 

Glauben Sie, daß man es vergessen wird?

 

Alles vergißt sich. Ihre Tochter wird sich morgen verheiraten, wo nicht heute; in acht Tagen, wenn nicht morgen. Was aber den Verlust des Bräutigams betrifft, so glaube ich nicht, daß Sie diesen sehr zu beklagen haben.

 

Frau Danglars schaute Villefort an, denn sie war über diese beinahe spöttische Ruhe ganz, erstaunt.

 

Bin ich zu einem Freunde gekommen? fragte sie mit einem Tone voll schmerzlicher Würde.

 

Sie wissen, daß dies der Fall ist, antwortete Villefort, dessen bleiche Wangen sich bei dieser Versicherung mit einer leichten Röte bedeckten.

 

So seien Sie liebevoller, mein teurer Villefort, sagte die Baronin, sprechen Sie mit mir als Freund und nicht als Staatsbeamter, und wenn ich unendlich unglücklich bin, so sagen Sie mir nicht, ich solle heiter sein.

 

Villefort verbeugte sich und erwiderte: Gnädige Frau, ich habe seit drei Monaten, wenn ich von Unglück sprechen höre, die ärgerliche Gewohnheit, an das meinige zu denken, und unwillkürlich nimmt mein Geist eine selbstsüchtige Vergleichung vor. Darum kam mir Ihr Unglück gegen das meinige nur wie ein Unfall vor; darum erschien mir neben meiner traurigen Lage die Ihrige als beneidenswert; doch das verdrießt Sie, und wir wollen darüber weggehen. Sie sagten, gnädige Frau? Ich wollte von Ihnen erfahren, mein Freund, wie es mit dem Betrüger jetzt steht?

 

Betrüger! wiederholte Villefort; Sie wollen offenbar gewisse Dinge mildern und andere übertreiben; Herr Andrea Cavalcanti oder vielmehr Herr Benedetto ein Betrüger! Sie täuschen sich, gnädige Frau, Benedetto ist ein Mörder.

 

Mein Herr, ich leugne die Richtigkeit Ihrer Bemerkung nicht, doch je mehr Sie sich mit Strenge gegen diesen Unglücklichen waffnen, desto härter treffen Sie unsere Familie. Vergessen Sie ihn einen Augenblick, statt ihn zu verfolgen; lassen Sie ihn fliehen!

 

Sie kommen zu spät, die Befehle sind bereits gegeben.

 

Nun! wenn man ihn verhaftet … Glauben Sie, man werde ihn verhaften? – Ich hoffe es.

 

Wenn man ihn verhaftet; nun so lassen Sie ihn im Gefängnis!

 

Der Staatsanwalt machte ein verneinendes Zeichen.

 

Wenigstens bis meine Tochter verheiratet ist.

 

Unmöglich, gnädige Frau, die Justiz hat ihre strengen Formen.

 

Selbst für mich? versetzte die Baronin, halb ernst, halb lächelnd.

 

Für alle, und für mich, wie für die andern.

 

Ah! rief die Baronin, ohne in Worte umzusetzen, was sie bei diesem Ausruf dachte.

 

Ja, ich weiß, was Sie sagen wollen, versetzte Villefort, Sie spielen auf die in der Welt verbreiteten furchtbaren Gerüchte an, alle die Todesfälle, die mich seit drei Monaten in Trauer kleiden, auch Valentines schwere Erkrankung seien nicht natürlich?

 

Ich dachte nicht daran, erwiderte lebhaft Frau Danglars.

 

Doch, gnädige Frau, Sie dachten daran, und das war kein Unrecht, denn Sie mußten notwendig daran denken, und Sie sagten sich ganz leise: Du, der du das Verbrechen verfolgst, verantworte dich. Warum gibt es au deiner Seite Verbrechen, die unbestraft bleiben?

 

Die Baronin erbleichte.

 

Nicht wahr, Sie sagten sich das? – Ich gestehe es.

 

Ich will Ihnen antworten, und Villefort näherte seinen Stuhl dem der Frau Danglars; dann stützte er seine beiden Hände auf seinen Schreibtisch und sprach mit einem dumpferen Tone als gewöhnlich: Es gibt Verbrechen, die unbestraft bleiben, weil man die Verbrecher nicht kennt und ein unschuldiges Haupt statt eines schuldigen zu treffen befürchtet; doch wenn die Verbrecher bekannt sind, so sollen sie, bei dem lebendigen Gott, sterben, gnädige Frau, wer sie auch sein mögen. Nachdem Sie meinen Eid, den ich halten werde, gehört haben, wagen Sie es noch, mich um Gnade für den Elenden zu bitten?

 

Ei! mein Herr, sind Sie sicher, daß er so schuldig ist, wie man behauptet?

 

Hören Sie, hier liegen die ihn betreffenden Akten: Benedetto wurde zuerst im Alter von sechzehn Jahren zu fünf Jahren Galeeren wegen Fälschung verurteilt; Sie sehen, der junge Mensch versprach etwas; dann ist er entwichen, dann Mörder geworden.

 

Und wer ist dieser Unglückliche?

 

Weiß man das? Ein Vagabund, ein Korse.

 

Er ist also von niemand reklamiert worden?

 

Von niemand; man kennt seine Verwandten nicht.

 

Doch der andere war aus Lucca?

 

Auch ein Gauner, wie er, vielleicht sein Genosse.

 

Die Baronin faltete die Hände und flüsterte mit ihrem süßesten und einschmeichelndsten Tone: Villefort!

 

Um Gotteswillen, gnädige Frau, entgegnete der Staatsanwalt mit einer trockenen Festigkeit, um Gotteswillen, verlangen Sie doch von mir nicht die Begnadigung eines Schuldigen. Wer bin ich denn? Das Gesetz, das Gesetz. Hat das Gesetz Augen, Ihre Traurigkeit zu sehen? Hat das Gesetz Ohren, Ihre weiche Stimme zu hören? Hat das Gesetz ein Gedächtnis für Ihre zarten Gedanken? Nein, gnädige Frau, das Gesetz befiehlt, und wenn es befohlen hat, schlägt es! Sie werden mir sagen, ich sei ein lebendiges Wesen und kein Kodex, ein Mensch und kein Buch. Schauen Sie mich an, gnädige Frau, schauen Sie um mich her! Haben die Menschen mich als Bruder behandelt, haben sie mich geliebt? Haben sie mich geschont? Hat jemand Gnade für Herrn von Villefort verlangt? Nein! Nein! Nein! Geschlagen, stets geschlagen! Als Frau, das heißt als Sirene, schauen Sie mich beharrlich mit dem bezaubernden, ausdrucksvollen Auge an, das mich daran erinnert, daß ich erröten muß. Wohl! es sei, ja, erröten über das, was Sie wissen, und vielleicht noch über etwas anderes! Doch, seitdem ich gefehlt habe und vielleicht ärger als die andern gefehlt habe, habe ich die Kleider der andern geschüttelt, um das Geschwür darunter zu finden, und ich habe es immer gefunden; ich sage noch mehr, ich habe es mit Glück, mit Freude gefunden, dieses Siegel der Schwäche oder der menschlichen Verkehrtheit! Denn jeder Mensch, den ich als schuldig erkannte, und jeder Schuldige, den ich schlug, erschien mir als ein neuer Beweis dafür, daß ich selbst keine häßliche Ausnahme war! Ah! die ganze Welt ist böse, beweisen wir dies, und schlagen wir den Bösen!

 

Villefort sprach diese Worte mit einer fieberhaften Wut, die ihm eine wilde Beredsamkeit verlieh.

 

Oh, mein Herr! rief die Baronin, Sie sind unbarmherzig gegen die andern! Wohl, so sage ich Ihnen, man wird unbarmherzig gegen Sie sein!

 

Es sei! sagte Villefort, seine Arme mit drohender Gebärde zum Himmel emporstreckend.

 

Verschieben Sie wenigstens den Prozeß des Unglücklichen, wenn er verhaftet wird, bis zur nächsten Schwurgerichtstagung; das gibt doch sechs Monate zum Vergessen.

 

Nein, ich habe noch fünf Tage, und die Voruntersuchung ist fertig. Bedenken Sie auch, daß ich ebenfalls vergessen muß! Wenn ich arbeite, wie ich es Tag und Nacht tue, dann gibt es Augenblicke, wo ich mich nicht mehr erinnere, und dann bin ich glücklich nach Art der Toten, und das ist immer noch besser als leiden.

 

Er ist entflohen; so lassen Sie ihn entfliehen! Die Saumseligkeit ist eine geringe Nachsicht.

 

Aber ich sagte Ihnen bereits, daß es zu spät ist; mit Tagesanbruch hat der Telegraph gespielt, und zu dieser Stunde …

 

Herr Staatsanwalt, sagte der eintretende Kammerdiener, hier eine Depesche aus dem Ministerium.

 

Villefort nahm den Brief und entsiegelte ihn rasch.

 

Frau Danglars bebte vor Schrecken, Villefort vor Freude.

 

Verhaftet! rief Villefort; man hat ihn in Compiegne verhaftet, es ist vorbei.

 

Frau Danglars erhob sich kalt und bleich.

 

Leben Sie wohl, mein Herr! sagte sie.

 

Leben Sie wohl, gnädige Frau! erwiderte der Staatsanwalt fast freudig und führte sie bis zur Tür zurück.

 

Dann trat er an einen Schreibtisch, schlug mit dem Rücken seiner rechten Hand auf den Brief und sagte: Gut, ich hatte eine Fälschung, drei Diebstähle und zwei Brandstiftungen, es fehlte mir nur ein Mord – hier ist er; die Tagung wird hübsch sein.