Das Verhör.

 

Das Verhör.

 

Kaum hatte Villefort den Speisesaal verlassen, als er seine heitere Miene ablegte und die ernste Maske eines Mannes annahm, der zu dem erhabenen Amt, über das Leben von seinesgleichen zu entscheiden, berufen ist. Trotz der Beweglichkeit seiner Gesichtszüge, die der Staatsanwalt wie ein geschickter Schauspieler vor seinem Spiegel geübt hatte, fiel es ihm diesmal schwer, eine ernste Miene und einen düstern Ausdruck beizubehalten. Abgesehen von der Erinnerung an die politische Laufbahn seines Vaters, die seiner Zukunft in den Weg treten konnte, war Gérard von Villefort in diesem Augenblick so glücklich, als es einem Menschen zu sein vergönnt ist. Schon an sich reich, nahm er mit siebenundzwanzig Jahren ein hohes Amt ein. Er war im Begriff, ein junges hübsches Mädchen, das er liebte, zu heiraten. Neben ihrer Schönheit hatte seine Braut noch den Vorzug, einer von den Familien anzugehören, die am Hofe im höchsten Ansehen standen, und außer dem politisch förderlichen Einflusse ihrer Eltern brachte sie ihrem Gatten eine Mitgift von 50 000 Talern, die sich eines Tages durch eine Erbschaft von einer halben Million vermehren sollte. Dies alles zusammen erhob den Staatsanwalt in einen solchen Zustand von Glückseligkeit, daß er sich jeden Augenblick zusammennehmen mußte, um die gewollte, seinem Amte angemessene Miene zur Schau zu tragen.

 

Vor der Tür fand er den Polizeikommissar, der auf ihn wartete. Beim Anblick des schwarzgekleideten Mannes viel er sofort aus der Höhe des dritten Himmels auf die materielle Erde, auf der wir einhergehen. Er brachte nun sein Gesicht leichter in die gehörige Verfassung, näherte sich dem Beamten und sagte: Hier bin ich, ich habe den Brief gelesen; Sie taten wohl daran, diesen Menschen zu verhaften. Geben Sie mir nun über ihn und über die Meuterei alle einzelnen Umstände an, die Sie in Erfahrung gebracht haben!

 

Über die Meuterei, mein Herr, wissen wir noch nichts; alle Papiere, die man bei ihm bekommen hat, sind in Ihrem Bureau versiegelt niedergelegt worden. Was den Angeschuldigten betrifft, so haben Sie aus dem Briefe, der ihn denunziert, ersehen, daß er Edmond Dantes heißt und Sekond an Bord des Dreimasters »der Pharao« ist, der Baumwollenhandel mit Alexandrien und Smyrna treibt und dem Hause Morel und Sohn in Marseille gehört.

 

Hat er bei der Kriegsmarine gedient, ehe er bei der Handelsmarine diente?

 

Nein, er ist ein ganz junger Mensch.

 

In diesem Augenblicke, als Villefort, an die Ecke der Rue des Conseils gelangt war, redete ihn ein Mann an, der ihn zu erwarten schien; es war Herr Morel.

 

Ah, Herr von Villefort! rief der brave Mann, ich bin sehr glücklich, Sie zu treffen. Denken Sie, daß man den seltsamsten, den unerhörtesten Mißgriff begangen hat; man hat den Sekond meines Schiffes, Edmond Dantes, verhaftet.

 

Ich weiß es, mein Herr, antwortete Villefort, und werde ihn sogleich verhören.

 

Oh, Herr, fuhr Morel, hingerissen von seiner Freundschaft für den jungen Mann, fort, Sie kennen den nicht, den man anklagt, aber ich kenne ihn. Denken Sie sich den sanftesten, den redlichsten Menschen, und ich wage wohl zu behaupten, einen der besten Seeleute bei der ganzen Handelsmarine. Oh, Herr von Villefort, ich empfehle Ihnen denselben aufrichtig und von ganzem Herzen.

 

Villefort gehörte, wie wir gesehen haben, der aristokratischen Partei der Stadt an und Morel der demokratischen. Der erste war Ultraroyalist, der zweite des Bonapartismus verdächtig. Villefort schaute Morel mißtrauisch an und antwortete ihm mit kaltem Tone:

 

Sie wissen, mein Herr, daß man im Umgang sanftmütig, als Händler ehrlich, im Berufe geschickt und nichtsdestoweniger politisch ein großer Verbrecher sein kann. Sie wissen das, nicht wahr, mein Herr?

 

Der Beamte legte auf diese letzten Worte einen besondern Nachdruck, als wollte er sie auf den Reeder selbst anwenden, während sein forschender Blick dem bis in die Tiefe des Herzens dringen zu wollen schien, der so kühn war, für einen andern einzutreten, während er wissen mußte, daß er selbst der Nachsicht bedurfte.

 

Morel errötete, denn er fühlte, daß sein Gewissen in Bezug auf seine politische Gesinnung nicht ganz rein war, und überdies beunruhigte seinen Geist einigermaßen die vertrauliche Mitteilung, die ihm Dantes über die Zusammenkunft mit dem Großmarschall gemacht hatte, und die Worte, die vom Kaiser an Dantes gerichtet worden waren. Er fügte indessen mit dem Tone der tiefsten Teilnahme hinzu: Ich bitte Sie inständig, Herr von Villefort, seien Sie gerecht, wie Sie es sein müssen, gut, wie Sie es immer sind, und geben Sie uns schleunigst diesen armen Dantes zurück!

 

Das »geben Sie uns« klang in dem Ohre des Staatsanwalts ganz revolutionär.

 

Ei, ei, sagte er ganz leise zu sich selbst, geben Sie uns! … sollte dieser Dantes zu irgend einer Massenverschwörung gehören, daß sein Beschützer sich unwillkürlich der Mehrzahl bedient? Man hat ihn, wie man mir sagte, in zahlreicher Gesellschaft verhaftet, das werden wohl seine Genossen gewesen sein! Laut fügte er hinzu: Mein Herr, Sie können vollkommen ruhig sein. Sie werden nicht vergeblich an meine Gerechtigkeit appelliert haben, wenn der Angeklagte unschuldig ist. Ist er dagegen schuldig, so werde ich genötigt sein, meine Pflicht zu tun.

 

Da er inzwischen die Tür seines unmittelbar an den Justizpalast stoßenden Hauses erreicht hatte, grüßte er mit eisiger Höflichkeit den unglücklichen Reeder, der wie versteinert auf dem Platze blieb, und trat würdevoll in seine Wohnung. Das Vorzimmer war voll von Gendarmen und Polizeiagenten. Mitten unter ihnen stand, streng bewacht, ruhig und unbeweglich der Gefangene.

 

Villefort schritt durch das Vorzimmer, warf einen flüchtigen Blick auf Dantes, nahm ein Bündel Akten, das ihm ein Agent überreichte, und verschwand mit den Worten: Man führe den Gefangenen vor!

 

So rasch sein Blick auch gewesen war, so genügte er doch für Villefort, ihm einen Begriff von dem Menschen zu geben, den er verhören sollte. Auf dieser breiten, offenen Stirn las er Verstand, im festen Auge Mut, in den fleischigen halbgeöffneten und elfenbeinweiße Zähne zeigenden Lippen Treuherzigkeit.

 

Einen Augenblick nach ihm trat Dantes ein. Der junge Mann war immer noch bleich, aber ruhig und sorglos. Er verbeugte sich vor seinem Richter mit ungezwungener Artigkeit und suchte dann mit den Augen einen Stuhl, als befände er sich im Zimmer des Reeders Morel.

 

Jetzt erst begegnete er Villeforts düsterm Blicke, dem Blicke, der den Männern des Gesetzes eigentümlich ist, die nicht in ihren Gedanken lesen lassen wollen. Dieser Blick belehrte ihn, daß er sich vor der strengen Justiz befand.

 

Wer sind Sie und wie heißen Sie? fragte Villefort, in den Akten blätternd, die bereits sehr umfangreich geworden waren.

 

Ich heiße Edmond Dantes und bin Sekond an Bord des Schiffes Pharao.

 

Was taten Sie in dem Augenblick, wo Sie verhaftet wurden?

 

Ich wohnte meinem Verlobungsmahle bei, mein Herr, sagte Dantes mit leicht bewegter Stimme, so schmerzlich war der Kontrast jener Augenblicke der Freude mit der traurigen Szene, in der er hier auftrat, so sehr ließ Herrn von Villeforts, düsteres Gesicht seiner Mercedes‘ strahlendes Antlitz in um so hellerem Lichte erglänzen.

 

Sie wohnten Ihrem Verlobungsmahle bei? sagte Villefort, unwillkürlich bebend. So unempfindlich er gewöhnlich war, so erregte ihn doch dies Zusammentreffen lebhaft, und Dantes‘ bewegte Stimme erweckte eine sympathische Fiber im Grunde seiner Seele. Er heiratete auch, er war auch glücklich, wie Dantes, und man hatte ihn in seinem Glücke gestört, damit er zur Vernichtung der Freude eines Menschen beitrüge, der, wie er, seiner Seligkeit so nahe stand.

 

Man sagt, Sie haben sehr auffallende politische Ansichten? fuhr nach einigen Augenblicken Villefort fort, der gern die Frage in die Form einer Anklage kleidete.

 

Meine politischen Ansichten, mein Herr? Ach! ich schäme mich beinahe, es zu gestehen, aber ich habe das nie gehabt, was man eine Ansicht nennt. Ich bin kaum neunzehn Jahre alt, ich weiß nichts, ich bin nicht bestimmt, irgend eine Rolle zu spielen; das wenige aber, was ich weiß und sein werde, wenn man mir die Stelle bewilligt, nach der ich trachte, habe ich Herrn Morel zu verdanken. Alle meine Ansichten, ich sage nicht politische, sondern Privatansichten, beschränken sich auf folgende drei Gefühle: ich liebe meinen Vater, ich ehre Herrn Morel und bete Mercedes an. Das ist alles, was ich über meine Ansichten vor Gericht erklären kann, und Sie sehen, daß es nicht eben sehr interessant ist.

 

Während Dantes so sprach, schaute Villefort sein zugleich sanftes und offenes Gesicht an und erinnerte sich zugleich der Worte Renées, die, ohne den Gefangenen zu kennen, um Nachsicht für ihn gebeten hatte. Mit dem gewohnten Scharfblick, den er in der Erforschung des Verbrechens und der Verbrecher bereits besaß, erkannte er in jedem Worte Dantes‘ den Beweis seiner Unschuld.

 

Bei Gott, sagte Villefort zu sich selbst, das ist ein guter Bursche, und ich werde hoffentlich nicht viel Mühe haben, mich bei Renée willkommen zu machen, indem ich ihrer Empfehlung Folge leiste. Das trägt mir einen guten Händedruck vor aller Welt und insgeheim einen herzlichen Kuß ein.

 

Bei dieser doppelten Hoffnung erheiterte sich Villeforts Antlitz so, daß Dantes, der allen Bewegungen in der Physiognomie seines Richters gefolgt war, lächelnd die große Veränderung in seinem Aussehen bemerkte.

 

Ist Ihnen bekannt, sagte Villefort, daß Sie Feinde haben?

 

Feinde, ich? erwiderte Dantes, ich habe das Glück, noch zu wenig zu sein, als daß mir meine Stellung Feinde verschafft haben sollte. Was meinen vielleicht etwas lebhaften Charakter betrifft, so suche ich ihn stets meinen Untergeordneten gegenüber zu mildern. Ich habe zehn bis zwölf Matrosen unter meinem Befehle; und diese werden Ihnen auf Befragen sagen, daß sie mich lieben und achten, nicht wie einen Vater, dazu bin ich noch zu jung, sondern wie einen Bruder.

 

Aber in Ermanglung von Feinden haben Sie vielleicht Neider; Sie sollen mit neunzehn Jahren Kapitän werden, das ist ein hoher Posten in Ihrem Stande; Sie sollen ein hübsches Mädchen heiraten, das Sie liebt, das ist ein seltenes Glück bei allen Ständen der Erde. Diese zwei Vorzüge des Schicksals konnten Ihnen Neider zuziehen.

 

Ja, Sie haben recht. Sie müssen wohl die Menschen besser kennen, als ich. Sollten aber diese Neider unter meinen Freunden sein, so gestehe ich, daß ich sie lieber nicht kennen lernen will, um sie nicht Hassen zu müssen.

 

Sie haben unrecht; man muß so klar als möglich um sich her sehen. In der Tat, Sie scheinen mir ein so ehrenwerter Mann zu sein, daß ich von der gewöhnlichen Regel des Gerichtsverfahrens abgehen und Ihnen zum Lichte verhelfen will, indem ich Ihnen die Anzeige mitteile, die Sie vor mich gebracht hat. Hier ist das Papier. Erkennen Sie die Handschrift?

 

Villefort zog den Brief aus seiner Tasche und reichte ihn Dantes. Dieser schaute und las. Eine Wolke zog über seine Stirn, und er sagte: Nein, ich kenne diese Handschrift nicht, sie ist verstellt, und dennoch hat sie eine sehr freie Form. Jedenfalls ist es eine geschickte Hand, die dies geschrieben hat; ich bin sehr glücklich, fügte er, Villefort dankbar anschauend, hinzu, daß ich es mit einem Manne, wie Sie sind, zu tun habe, denn in der Tat, mein Neider ist ein wahrer Feind.

 

Und an dem Blitze, der in den Augen des jungen Mannes zuckte, als er diese Worte sprach, konnte Villefort erkennen, wieviel heftige Energie unter dieser äußeren Sanftmut verborgen lag.

 

Und nun antworten Sie mir offenherzig, sagte der Staatsanwalt, nicht wie ein Angeklagter seinem Richter, sondern wie ein Mensch in einer falschen Stellung einem andern Menschen antwortet, der sich für ihn interessiert. Was ist wahr an dieser anonymen Anklage?

 

Villefort warf den Brief, den ihm Dantes zurückgegeben hatte, mit einer Gebärde des Widerwillens auf den Schreibtisch.

 

Alles oder nichts, mein Herr. Hören Sie die reine Wahrheit, bei meiner Seemannsehre, bei meiner Liebe für Mercedes, bei dem Leben meines Vaters. Als wir Neapel verließen, wurde der Kapitän Leclère von einer Hirnentzündung befallen. Unerwartet rasch verschlimmerte sich seine Krankheit, so daß er nach drei Tagen sein Ende herannahen fühlte und mich zu sich berief. Er ließ mich schwören, alles zu tun, was er von mir verlange, befahl mir, nach der Insel Elba zu steuern, dort dem Großmarschall einen Ring und Brief zu überbringen und schließlich eine Sendung zu erfüllen, mit der mich der Großmarschall beauftragen würde. Es war die höchste Zeit; zwei Stunden nachher erfaßte ihn das Delirium; am andern Tage war er tot. Ich steuerte also nach der Insel Elba, wo ich am andern Tage anlangte, und stieg allein an das Land. Unverzüglich sandte ich dem Großmarschall den Ring, der mir als Erkennungszeichen dienen sollte, und alle Türen öffneten sich vor mir. Er empfing mich, fragte mich nach dem Tode des unglücklichen Leclère und übergab mir einen Brief, den er mich persönlich nach Paris zu bringen beauftragte. Ich versprach es ihm, denn es galt, den letzten Willen meines Kapitäns zu erfüllen. Ich stieg hier an das Land, ordnete rasch alles, was das Schiff betraf, und lief dann zu meiner Braut, die ich liebevoller und schöner als je wiederfand. Ich feierte endlich, wie ich Ihnen sagte, mein Verlobungsmahl, sollte mich in einer Stunde verheiraten und gedachte morgen nach Paris abzureisen, als ich auf die Denunziation hin verhaftet wurde.

 

Ja, ja, murmelte Villefort, dies alles scheint mir der Wahrheit gemäß, und wenn Sie schuldig sind, so sind Sie nur einer Unklugheit schuldig, und diese entschuldigt sich noch durch die Befehle Ihres Kapitäns. Geben Sie uns den Brief, den man Ihnen auf Elba eingehändigt hat! Verpfänden Sie mir Ihr Ehrenwort, sich bei der ersten Vorladung zu stellen, und kehren Sie zu Ihren Freunden zurück.

 

Ich bin also frei! rief Dantes im Übermaß der Freude.

 

Ja, nur geben Sie mir den Brief!

 

Er muß vor Ihnen liegen, mein Herr, denn man hat ihn mir mit meinen andern Papieren genommen.

 

Warten Sie, sagte Villefort zu Dantes, der seine Handschuhe und seinen Hut nahm; warten Sie! An wen war er adressiert?

 

An Herrn Noirtier, Rue Coq-Héron in Paris.

 

Wie vom Blitz getroffen sank Villefort auf seinen Stuhl zurück. Aber mit krampfhafter Anstrengung erhob er sich bald wieder, um den Stoß Papiere, die man Dantes abgenommen, zu erreichen, und zog nach kurzem Suchen den unseligen Brief hervor, auf den er einen Blick voll unsäglichen Schreckens warf.

 

Herr Noirtier, Rue Coq-Héron Nr. 13, murmelte er, immer mehr erbleichend.

 

Ja, antwortete Dantes erstaunt. Kennen Sie ihn?

 

Nein, verfetzte Villefort lebhaft; ein treuer Diener des Königs kennt keine Verschwörer.

 

Es handelt sich also um eine Verschwörung? sagte Dantes, der von einer noch größeren Bangigkeit als zuvor erfaßt wurde. Jedenfalls wußte ich, wie ich Ihnen vorhin sagte, durchaus nichts von der Depesche, deren Träger ich war.

 

Ja, versetzte Villefort mit dumpfem Tone, aber Sie wissen den Namen des Adressaten.

 

Um ihm selbst den Brief zu überbringen, mußte ich ihn wohl wissen.

 

Und Sie haben diesen Brief niemand gezeigt? fragte Villefort, während er las und immer mehr erbleichte.

 

Niemand, mein Herr, auf Ehre!

 

Niemand weiß, daß Sie der Träger eines von Elba kommenden und an Herrn Noirtier adressierten Briefes waren?

 

Niemand, mit Ausnahme dessen, der ihn mir zugestellt hat.

 

Das ist zuviel, das ist noch zuviel! murmelte Villefort, und seine Stirn verdüsterte sich immer mehr, je näher er dem Ende des Briefes kam. Seine bleichen Lippen, seine zitternden Hände, seine glühenden Augen erregten in Dantes die traurigsten Befürchtungen. Nachdem Villefort vollends ausgelesen hatte, ließ er sein Haupt in seine Hände sinken und blieb einen Augenblick unbeweglich.

 

Oh, mein Gott! was ist Ihnen denn? fragte Dantes schüchtern.

 

Villefort antwortete nicht; aber nach einer Minute richtete er seinen bleichen, verstörten Kopf wieder auf, las den Brief zum zweitenmale und sagte dann: Und Sie sagen, Sie wissen nichts von dem Inhalte des Briefes?

 

Ich wiederhole Ihnen bei meiner Ehre, ich weiß nichts davon, antwortete Dantes; aber mein Gott, was haben Sie denn? Sie sind unwohl! Soll ich läuten? Soll ich rufen?

 

Nein, antwortete Villefort, rasch aufstehend, rühren Sie sich nicht, sprechen Sie kein Wort! Ich brauche nichts, ein vorübergehender Schwindel, nichts mehr. Antworten Sie!

 

Dantes erwartete das Verhör, das diese Frage ankündigte, aber vergebens. Villefort fiel auf seinen Stuhl zurück, fuhr mit eisiger Hand über seine mit Schweiß übergossene Stirn, las den Brief zum drittenmale und sagte zu sich selbst: Ah, wenn er weiß, was dieser Brief enthält, und wenn er je erfährt, daß Noirtier mein Vater ist, so bin ich verloren, auf immer verloren.

 

Und von Zeit zu Zeit schaute er Edmond an, als hätte sein Blick die unsichtbare Schranke durchbrechen können, welche im Herzen die Geheimnisse verbirgt, die der Mund bewahrt.

 

Wir dürfen nicht mehr daran zweifeln! rief er plötzlich.

 

Aber in des Himmels Namen, sagte der unglückliche junge Mann, wenn Sie an mir zweifeln, wenn Sie einen Verdacht gegen mich haben, so fragen Sie mich, und ich bin bereit zu antworten. i

 

Villefort raffte sich mit einer heftigen Anstrengung auf und sagte mit einem Tone, dem er Sicherheit verleihen wollte: Herr Dantes, die schwersten Anschuldigungen entspringen für Sie aus diesem Verhöre. Es steht also nicht in meiner Gewalt, wie ich anfangs gehofft habe, Sie in Freiheit zu setzen. Ehe ich eine solche Maßregel treffe, muß ich mich mit dem Untersuchungsrichter beraten. Sie haben ja bisher gesehen, wie ich gegen Sie verfahren bin.

 

Ja, mein Herr! rief Dantes, und ich danke Ihnen, denn Sie sind für mich eher ein Freund als ein Richter gewesen.

 

Nun wohl, ich werde Sie noch einige Zeit, doch so kurze Zeit als nur immer möglich, gefangen halten. Die Hauptanklage gegen Sie liegt in diesem Briefe, und Sie sehen …

 

Villefort näherte sich dem Kamin, warf ihn ins Feuer und blieb dabei stehen, bis er völlig in Asche verwandelt war.

 

Und Sie sehen, fuhr er fort, daß ich ihn vernichte. Doch hören Sie mich, nach einer solchen Handlung müssen Sie natürlich Zutrauen zu mir haben, nicht wahr?

 

Oh, befehlen Sie, ich werde Ihre Befehle befolgen!

 

Nein, sagte Villefort, sich dem jungen Mann nähernd, nein, ich will Ihnen keinen Befehl, sondern einen guten Rat geben. Ich will Sie bis heute abend hier im Justizpalaste behalten; vielleicht wird ein anderer kommen und Sie befragen. Sagen Sie ihm alles, was Sie mir gesagt haben, aber kein Wort von diesem Briefe!

 

Ich verspreche es Ihnen.

 

Villefort sprach in bittendem Tone, und der Angeklagte beruhigte den Richter.

 

Sie begreifen, sagte er, einen Blick auf die Asche werfend, die noch die Form des Papiers bewahrte, nun, da dieser Brief vernichtet ist, wissen nur Sie und ich allein von seiner Existenz, und er kann Ihnen nie wieder vorgelegt werden. Verleugnen Sie ihn, wenn man davon spricht, verleugnen Sie ihn keck, und Sie sind gerettet!

 

Seien Sie unbesorgt, ich werde leugnen, sagte Dantes.

 

Gut, gut, versetzte Villefort und fuhr mit der Hand nach einer Klingelschnur. In dem Augenblicke aber, wo er läuten wollte, hielt er wieder inne und sagte: Es war der einzige Brief, den Sie hatten?

 

Der einzige.

 

Schwören Sie?

 

Dantes streckte die Hand aus und sagte: Ich schwöre.

 

Villefort läutete. Der Polizeikommissar trat ein. Villefort sagte dem Beamten einige Worte ins Ohr. Der Kommissar antwortete mit einer Bewegung des Kopfes.

 

Folgen Sie dem Herrn! sagte Villefort zu Dantes.

 

Dantes verbeugte sich, warf einen Blick der Dankbarkeit auf Villefort und ging ab.

 

Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen, als Villefort die Kräfte schwanden und er wie ohnmächtig auf einen Stuhl fiel.

 

Nach einem Augenblick aber murmelte er: Oh, mein Gott! Woran hängen Leben und Glück! Wäre der Erste Staatsanwalt in Marseille gewesen, hätte man den Untersuchungsrichter statt meiner gerufen, so war ich verloren, und dieses Papier, dieses verfluchte Papier stürzte mich in den Abgrund. Oh, Vater, wirst du denn immer als Hindernis zwischen mich und das Glück treten? Muß ich denn ewig mit deiner Vergangenheit kämpfen?

 

Dann schien plötzlich ein unerwarteter Gedanke seinen Geist zu durchzucken, sein Antlitz erleuchtete sich, ein Lächeln umspielte seine noch zusammengepreßten Lippen, und seine Augen gewannen wieder ihre Festigkeit. Ja, so ist es, sagte er; dieser Brief, der mich zu Grunde richten sollte, wird vielleicht mein Glück machen. Auf, Villefort, ans Werk!

 

 

Und nachdem er sich versichert hatte, daß der Angeschuldigte sich nicht mehr im Vorzimmer befand, entfernte er sich ebenfalls und ging rasch nach dem Hause seiner Braut.

 

Das Kastell If.

 

Das Kastell If.

 

Das Vorzimmer durchschreitend, machte der Polizeikommissar zwei Gendarmen ein Zeichen. Man öffnete eine Tür, durch die die Wohnung des Staatsanwalts mit dem Justizpalast in Verbindung stand, und folgte einem durch die ganze Länge des Justizgebäudes führenden Gange nach dem Gefängnisse. Endlich kam man an eine Tür mit einem eisernen Gitter, an die der Polizeikommissar dreimal mit einem eisernen Hammer klopfte. Die Tür öffnete sich, und die Gendarmen schoben den Gefangenen, der abermals zögerte, mit Gewalt vorwärts. Dantes überschritt die furchtbare Schwelle, und die Tür schloß sich hinter ihm. Man führte ihn in ein ziemlich reines, aber mit Gittern und Riegeln versehenes Zimmer. Der Anblick seiner neuen Wohnung machte ihm nicht zu sehr bange. Die Worte des teilnehmenden Staatsanwalts klangen in seinem Ohre wie ein süßer Hoffnungston.

 

Es war bereits vier Uhr, als Dantes in sein Zimmer geführt wurde. Es war der erste März, die Tage waren noch kurz, und der Gefangene befand sich frühzeitig im Dunkeln. Sein Gehör schärfte sich nun immer mehr, je mehr der Gesichtssinn versagte. Bei dem geringsten Geräusche erhob er sich lebhaft und machte, in der Hoffnung, man käme, ihn in Freiheit zu setzen, einen Schritt nach der Tür; aber bald erstarb das Geräusch in einer andern Richtung, und Dantes fiel wieder auf seinen Schemel zurück.

 

Endlich gegen zehn Uhr abends, in dem Augenblick, wo er die Hoffnung zu verlieren anfing, ließ sich ein neues Geräusch vernehmen, und diesmal schien es sich seinem Zimmer zuzuwenden. Es erschollen wirklich Tritte im Gange, die vor seiner Türe anhielten. Ein Schlüssel wurde im Schlosse gedreht, die Riegel klirrten, die massige Schranke von Eichenholz öffnete sich und ließ plötzlich in dem düsteren Zimmer das blendende Licht zweier Fackeln aufleuchten.

 

Bei dem Schimmer dieser Fackeln sah Dantes die Säbel und Musketen von vier Gendarmen glänzen. Er hatte zwei Schritte vorwärts gemacht, blieb aber nun, als er diese Menschen gewahrte, auf der Stelle und fragte: Wollt ihr mich holen?

 

Ja, antwortete einer von den Gendarmen.

 

Auf Befehl des Herrn Staatsanwaltsvertreters?

 

Ich denke wohl.

 

Gut, sagte Dantes, ich bin bereit, euch zu folgen.

 

Der Gedanke, daß man ihn auf Befehl des Herrn von Villefort hole, benahm dem Unglücklichen jede Furcht; er schritt ruhig und festen Schrittes vorwärts und stellte sich mitten unter die Gendarmen. Vor der Tür wartete ein Wagen, auf dem neben dem Kutscher ein Gefreiter saß. Der Kutschenschlag wurde geöffnet, und Dantes fühlte, daß man ihn hineinschob. Er war weder im stande, noch hatte er die Absicht, Widerstand zu leisten. In einem Augenblick saß er im Hintergrunde des Wagens zwischen zwei Gendarmen; die andern setzten sich auf den Vordersitz, und der schwere Wagen rollte mit dumpfem Lärm vorwärts.

 

Der Gefangene schaute nach den Öffnungen; sie waren vergittert, und kaum konnte er durch die dichten Stäbe seine Hand strecken. Er hatte nur sein Gefängnis verändert, das aber jetzt forteilte und ihn einem unbekannten Ziele immer näher brachte. Dantes erkannte jedoch, daß man durch die Rue Tamaris nach dem Kai hinabfuhr.

 

Bald sah er durch seine Gitter die Lichter des Hafenwachtlokals glänzen. Der Wagen hielt still, der Gefreite stieg ab und näherte sich der Wachtstube. Ein Dutzend Soldaten kamen heraus und stellten sich in Reih und Glied; Dantes sah bei dem Schimmer der Lichter ihre Flinten glänzen.

 

Sollte man meinetwegen eine solche militärische Macht entwickeln? sagte er zu sich selbst.

 

Den Schlag öffnend, beantwortete der Gefreite diese Frage, ohne ein Wort zu sprechen, denn Dantes sah, daß für ihn nur zwischen den zwei Reihen Soldaten ein Weg vom Wagen nach dem Hafen übrig gelassen war. Die zwei Gendarmen, die auf dem Vordersitze saßen, stiegen zuerst aus, dann ließ man ihn aussteigen, und endlich folgten die, welche an seiner Seite gesessen hatten. Man ging auf eine Barke zu, die ein Zollbeamter an dem Kai mittels einer Kette befestigt hielt. Die Soldaten sahen Dantes mit einer Miene alberner Neugierde an. In wenigen Augenblicken befand er sich im Hinterteile des Kahnes, immer zwischen den vier Gendarmen, während sich der Gefreite auf dem Vorderteile hielt. Ein kräftiger Stoß entfernte das Fahrzeug vom Lande, und vier Ruderer arbeiteten mit aller Macht. Auf einen Ruf von der Barke her senkte sich die Kette, die den Hafen schließt, und Dantes befand sich außerhalb desselben.

 

Die erste Regung des Gefangenen war, sobald er sich in freier Luft sah, die der Freude. Freie Luft ist die halbe Freiheit. Er atmete also mit voller Brust den Wind ein, der auf seinen Flügeln alle die unbekannten Gerüche der Nacht und des Meeres dahertrug. Bald jedoch stieß er einen Seufzer aus. Er kam an der Reserve vorüber, wo er am selben Tage bis zu seiner Verhaftung so glücklich gewesen war, und durch zwei offene Fenster drang der Freudenlärm eines Balles zu ihm.

 

Dantes faltete die Hände, schlug die Augen zum Himmel auf und betete, während die Barke ihren Weg fortsetzte. Sie war an der Tête-de-More vorübergefahren und nun im Begriff, um die Batterie zu rudern; Dantes konnte dieses Manöver nicht begreifen und sagte daher: Wohin führt ihr mich?

 

Sie werden es sogleich erfahren. – Aber …

 

Es ist verboten, Ihnen eine Erklärung zu geben.

 

Dantes schwieg, aber die seltsamsten Gedanken durchkreuzten nun seinen Geist. Da man in einer solchen Barke keine lange Fahrt machen konnte, da kein Schiff in der Richtung, in der man fuhr, vor Anker lag, so dachte er, man würde ihn an einem entfernten Punkte der Küste ans Ufer setzen und ihm bedeuten, er sei frei. Er war nicht gebunden, was ihm als ein gutes Vorzeichen erschien. Hatte ihm nicht überdies der Staatsanwalt, der ihn so gut behandelt hatte, gesagt, wenn er den unseligen Namen Noirtier nicht ausspräche, hätte er nichts zu befürchten? Hatte nicht Villefort in seiner Gegenwart den gefährlichen Brief, den einzigen Beweis, der gegen ihn vorlag, vernichtet? Er wartete also, stumm und in Gedanken versunken, und suchte mit dem an die Finsternis gewöhnten Auge des Seemanns trotz der Dunkelheit der Nacht den Raum zu durchdringen.

 

Man hatte die Insel Ratonneau, auf der ein Leuchtfeuer brannte, zur Rechten gelassen und war, an der Küste hinfahrend, bis zur Höhe der Bucht der Katalonier gelangt. Hier verdoppelten die Blicke des Gefangenen ihre Kraft, hier wohnte Mercedes, und es kam ihm jeden Augenblick vor, als erschaute er an dem düsteren Ufer die schwankende, unbestimmte Form eines weiblichen Wesens.

 

Warum sollte Mercedes nicht eine Ahnung sagen, ihr Geliebter komme auf dreihundert Schritte vorüber? Ein einziges Licht brannte bei den Kataloniern, und indem Dantes den Ausgangspunkt dieses Lichtes genau festzustellen suchte, erkannte er, daß es aus dem Zimmer seiner Braut stammte. Mercedes war also die einzige Person in der ganzen Kolonie, die noch wachte. Wenn er einen kräftigen Schrei ausstieß, konnte der junge Mann von seiner Verlobten gehört werden; aber eine falsche Scham hielt ihn zurück. Was würden seine Wächter sagen, wenn sie ihn wie einen Wahnsinnigen schreien hörten? Er blieb also stumm, die Augen auf das Licht heftend. Inzwischen setzte die Barke ihren Weg fort; aber der Gefangene dachte nicht an die Barke, er dachte an Mercedes.

 

Eine Wendung des Fahrzeugs ließ das Licht verschwinden. Dantes drehte sich um und bemerkte, daß die Barke auf das hohe Meer segelte.

 

Während er, in seine eigenen Gedanken versunken, hinausschaute, hatte man die Ruder durch Segel ersetzt, und die Barke fuhr, vom Winde getrieben, vorwärts. Obgleich es Dantes widerstrebte, neue Fragen an die Gendarmen zu richten, näherte er sich doch dem einen, nahm ihn bei der Hand und sagte: Kamerad, bei Ihrem Gewissen, bei Ihrer Eigenschaft als Soldat beschwöre ich Sie, haben Sie Mitleid und antworten Sie mir! Ich bin der Kapitän Dantes, ein guter und rechtschaffener Franzose, wenn auch irgend eines Verrats angeklagt; wohin führen Sie mich? Sprechen Sie, und auf Seemanns Wort, ich unterziehe mich meiner Pflicht und füge mich in mein Schicksal.

 

Der Gendarm kratzte sich hinter dem Ohr und schaute seinen Kameraden an. Dieser machte eine Bewegung, die etwa sagen wollte: Aber mein Befehl?

 

Der Befehl verbietet Ihnen nicht, mir mitzuteilen, was ich in zehn Minuten oder in einer Stunde erfahren werde. Nur ersparen Sie mir bis dahin Jahrhunderte der Ungewißheit. Ich frage Sie, als ob Sie mein Freund wären. Glauben Sie mir, ich will mich weder wehren, noch fliehen. Übrigens kann ich das auch gar nicht. Wohin führen Sie mich?

 

So schauen Sie um sich her!

 

Dantes stand auf und blickte natürlich zuerst in der Richtung, nach der das Fahrzeug sich bewegte. Da sah er hundert Klafter vor sich den schwarzen Felsen, auf dem sich das düstere Kastell If erhebt. Die seltsame, öde Form und der Gedanke an das Gefängnis daselbst, das ein furchtbarer Schrecken umschwebte und das seit dreihundert Jahren Marseille Stoff zu den unseligsten Überlieferungen bot, wirkten auf Dantes, wie auf den zum Tod Verurteilten der Anblick des Schafotts.

 

Oh! mein Gott! rief er, das Kastell If! Was sollen wir dort?

 

Der Gendarm lächelte.

 

Aber man fährt mich doch nicht dahin, um mich einzukerkern? rief Dantes. Das Kastell If ist ein Staatsgefängnis und nur für gefährliche politische Verbrecher bestimmt. Ich habe kein Verbrechen begangen. Gibt es dort Untersuchungsrichter, Beamte?

 

Soviel ich weiß, antwortete der Gendarm, findet man dort nur einen Gouverneur, Kerkermeister, eine Garnison und gute Mauern. Freund, spielen Sie nicht den Erstaunten; denn in der Tat, ich muß sonst glauben, Sie wollen meine Gefälligkeit dadurch belohnen, daß Sie meiner spotten.

 

Dantes drückte dem Gendarmen die Hand zum Zerquetschen.

 

Sie behaupten also, sagte er, man führe mich nach dem Kastell If, um mich einzukerkern?

 

Das ist sehr wahrscheinlich, erwiderte der Gendarm.

 

Ohne Untersuchung, ohne Förmlichkeiten?

 

Die Förmlichkeiten sind erfüllt, die Untersuchung ist fertig.

 

Also trotz des Versprechens des Herrn von Villefort?

 

Ich weiß nicht, ob Herr von Villefort Ihnen etwas versprochen hat, aber ich weiß, daß wir nach dem Kastell If fahren. Aber was machen Sie denn? Holla, Kameraden, herbei!

 

Mit einer Bewegung so schnell wie der Blitz, der jedoch das geübte Auge des Gendarmen zuvorgekommen war, hatte sich Dantes in das Meer stürzen wollen. Aber vier kräftige Fäuste hielten ihn in dem Augenblicke zurück, wo seine Füße den Boden des Schiffes verließen. Brüllend vor Wut fiel er in die Barke nieder.

 

Schön, rief der Gendarm, indem er ihm das Knie auf die Brust setzte, schön, so halten Sie Ihr Seemannswort! Man traue doch den freundlichen Leuten! Machen Sie nur noch die geringste Bewegung, mein lieber Freund, so jage ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf. Ich bin meinem ersten Befehle untreu gewesen, ich werde den zweiten wortgetreu befolgen.

 

Und er senkte seinen Karabiner gegen Dantes, der das Ende des Laufes an seiner Schläfe fühlte. Einen Augenblick hatte er wirklich den Gedanken, die verbotene Bewegung zu machen und so dein entsetzlichen Unglück, das ihn plötzlich mit seinen Geierkrallen gepackt hatte, ein Ende zu bereiten. Aber gerade weil dieses Unglück so unerwartet gekommen war, dachte Dantes, es könnte nicht lange währen. Dann erinnerte er sich wieder der Versprechungen des Herrn von Villefort, und endlich kam ihm der Tod auf dem Boden eines Fahrzeugs von der Hand eines Gendarmen häßlich, ekelhaft vor. – Er fiel also nieder auf den Grund der Barke, stieß ein Geheul der Wut aus und zernagte sich wie ein Wahnsinniger die Hände.

 

Beinahe in demselben Augenblicke erschütterte ein heftiger Stoß das Schiff. Einer von den Ruderern sprang auf den Felsen, den das Vorderteil der Barke berührt hatte. Ein Seil ächzte, sich um einen Block abwindend, und Dantes erkannte, daß man angelangt war und das Schiff anband.

 

Seine Wächter, die ihn zugleich am Arme und am Kragen hielten, nötigten ihn aufzustehen, zwangen ihn ans Land zu steigen und zogen ihn zu den Stufen, die nach dem Tore der Zitadelle führen. Dantes leistete übrigens keinen Widerstand. Sein langsamer Gang war eher die Folge von Willenlosigkeit, als von Widerstreben. Er war betäubt und schwankte wie ein Betrunkener; er sah abermals Soldaten, er fühlte Stufen, die ihn nötigten, seine Füße aufzuheben, er bemerkte, daß er unter einen Torweg kam und daß das Tor sich hinter ihm schloß, aber dies alles nahm er nur unwillkürlich wahr wie durch einen Nebel, ohne etwas Bestimmtes zu unterscheiden. Er sah sogar das Meer nicht mehr, denn es faßte ihn der ungeheure Schmerz der Gefangenen, die das furchtbare Gefühl übermannt, daß sie gegen ihre Umgebung völlig ohnmächtig sind.

 

 

Einen Augenblick wurde ein Halt gemacht, während dessen er seinen Geist zusammenzufassen suchte. Er befand sich in einem viereckigen, von vier hohen Mauern gebildeten Hofe. Man hörte den langsamen, regelmäßigen Tritt der Schildwachen und sah den Lauf ihrer Flinten funkeln. Hier wartete man ungefähr zehn Minuten. Überzeugt, daß Dantes nicht mehr entfliehen konnte, hatten ihn die Gendarmen losgelassen.

 

Geh, sagten die Gendarmen, Dantes fortschiebend. Der Gefangene folgte seinem Führer, der ihn nun in ein unterirdisches Gemach geleitete, dessen nackte, feuchte Wände von Tränen geschwängert zu sein schienen. Eine Art von Lampe auf einem Schemel, deren Docht in stinkendem Fett schwamm, beleuchtete die glänzenden Mauern dieses abscheulichen Aufenthaltes und zeigte Dantes seinen Führer, einen schlecht gekleideten, gemein aussehenden Gefangenwärter.

 

Das ist Ihr Zimmer für diese Nacht, sagte er, es ist schon spät, und der Herr Gouverneur hat sich bereits zu Bett gelegt. Wenn er morgen erwacht und von den Sie betreffenden Befehlen Kenntnis genommen hat, wird er Ihnen vielleicht eine andere Wohnung anweisen. Inzwischen finden Sie hier Brot, Wasser in diesem Kruge und Stroh in einem Winkel da unten. Das ist alles, was ein Gefangener wünschen kann.

 

Und ehe Dantes daran dachte, seinen Mund zu einer Antwort zu öffnen, ehe er bemerkte, wohin der Kerkerknecht dieses Brot gelegt hatte, hatte der Gefangenwärter die Lampe genommen und, indem er die Tür schloß, den bläulichen Widerschein entzogen, der ihm, wie bei dem Schimmer eines Blitzes, die feuchten Wände seines Gefängnisses gezeigt hatte.

 

Er befand sich nun allein in der Finsternis und in einer Stille, so stumm und so düster, wie diese Gewölbe, deren eisige Kälte er auf seine glühende Stirn sich herabsenken fühlte.

 

Als die ersten Strahlen des Morgens etwas Klarheit in diese Höhle gebracht hatten, kam der Gefangenwärter mit dem Befehle zurück, den Gefangenen zu lassen, wo er war. Dantes hatte den Platz nicht verändert. Eine eiserne Hand schien ihn an die Stelle genagelt zu haben, auf der er am Abend zuvor gestanden hatte. Die ganze Nacht hatte er so, stehend und ohne einen Augenblick zu schlafen, zugebracht. Der Gefangenwärter näherte sich ihm, ging um ihn herum, aber Dantes schien ihn nicht zu sehen. Er schlug ihm auf die Schulter; Dantes bebte und schüttelte den Kopf.

 

Haben Sie denn nicht geschlafen? fragte der Gefangenwärter.

 

Ich weiß es nicht, antwortete Dantes.

 

Der Gefangenwärter schaute ihn erstaunt an. Haben Sie keinen Hunger? fuhr er fort.

 

Ich weiß es nicht, antwortete Dantes abermals.

 

Wünschen Sie etwas?

 

Ich wünsche den Gouverneur zu sehen.

 

Der Gefangenwärter zuckte die Achseln und entfernte sich. Dantes folgte ihm mit den Augen und streckte die Hände nach der halb geöffneten Tür aus, aber die Tür schloß sich wieder. Dann schien sich seine Brust in einem langen Schluchzen zu zerreißen. Seine Tränen, von denen seine Augenlider anschwollen, flossen reichlich. Er warf sich mit der Stirn auf die Erde, betete lange, durchlief in seinem Geiste sein ganzes vergangenes Leben und fragte sich, welches Verbrechen er, noch so jung, begangen hätte, das eine so grausame Bestrafung verdiente. So ging der Tag hin. Kaum aß er einige Bissen Brot und trank ein paar Tropfen Wasser. Bald saß er in Gedanken versunken, bald lief er im Gefängnis umher wie ein wildes Tier, das in einem eisernen Käfig eingeschlossen ist.

 

Ein Gedanke besonders ließ ihn immer wieder auffahren, daß er nämlich während der Überfahrt zehnmal imstande gewesen wäre, sich ins Meer zu werfen, bei seiner Geschicklichkeit im Schwimmen unter dem Wasser zu verschwinden, seinen Wächtern zu entgehen, die Küste zu erreichen, zu fliehen, sich in irgend einer verlassenen Bucht zu verbergen, ein genuesisches oder katalanisches Schiff zu erwarten, Italien oder Spanien zu erreichen und von dort aus Mercedes zu schreiben, sie möge zu ihm kommen. Wegen seines Fortkommens brauchte er nirgends besorgt zu sein; gute Seeleute sind überall gesucht. Er sprach Italienisch wie ein Toskaner, Spanisch wie ein Kind Altkastiliens. Er hätte frei und glücklich mit Mercedes und seinem Vater gelebt, denn sein Vater wäre ihm auch nachgefolgt, während er nun als Gefangener im Kastell If eingeschlossen war und nicht wußte, was aus seinem Vater, was aus Mercedes wurde, und dies alles, weil er an Villeforts Wort geglaubt hatte. Dantes wälzte sich wütend und wie wahnsinnig auf dem frischen Stroh, das ihm der Gefangenwärter gebracht hatte.

 

Am andern Tage erschien dieser zu derselben Stunde.

 

Nun, sagte er, sind Sie heute vernünftiger als gestern?

 

Dantes antwortete nicht.

 

Auf, sagte der Gefangenwärter, Mut gefaßt! Wünschen Sie etwas, worüber ich zu verfügen habe, so sagen Sie es.

 

Ich wünsche den Gouverneur zu sprechen.

 

Ei, erwiderte der Gefangenwärter ungeduldig, ich sage Ihnen, das ist ganz unmöglich. Nach der Vorschrift des Gefängnisses ist eine solche Bitte den Gefangenen nicht gestattet.

 

Und was ist denn hier erlaubt? fragte Dantes.

 

Eine bessere Kost gegen Bezahlung, ein Spaziergang und zuweilen Bücher.

 

Ich brauche keine Bücher, ich habe keine Lust spazieren zu gehen und finde meine Nahrung gut. Ich will also nur eines: den Gouverneur sehen.

 

Wenn Sie mich dadurch ärgern, daß Sie beständig dasselbe wiederholen, sagte der Gefangenwärter, so bringe ich Ihnen nichts mehr zu essen.

 

Gut, erwiderte Dantes, wenn du mir nichts mehr zu essen bringst, so sterbe ich Hungers.

 

Der Ton, in dem Dantes diese Worte sprach, bewies dem Schließer, daß sein Gefangener den Tod herbeisehnte. Da nun jeder Gefangene seinem Wärter täglich ungefähr zehn Sous einträgt, so dachte der Schließer an den Verlust, den für ihn ein solcher Todesfall bedeutete, und er versetzte freundlicher: Hören Sie mich! Was Sie wünschen ist unmöglich, verlangen Sie es also nicht mehr von mir, denn es gibt kein Beispiel, daß der Gouverneur in das Zimmer eines Gefangenen auf dessen Bitte gekommen wäre. Seien Sie nur vernünftig, und man wird Ihnen den Spaziergang erlauben, dann ist es möglich, daß der Gouverneur einmal, während Sie spazieren gehen, vorüberkommt. Sie können ihn hierbei anreden, und wenn er antworten will, ist das seine Sache.

 

Aber, wie lange kann ich warten, bis dieser Zufall eintritt? sagte Dantes.

 

Bei Gott! einen Monat, drei Monate, sechs Monate, ein Jahr, jenachdem.

 

Das ist zu lange, erwiderte Dantes, ich will ihn sogleich sehen.

 

Erschöpfen Sie sich nicht in einem einzigen, unmöglichen Wunsche, sagte der Gefangenwärter, oder Sie sind, ehe vierzehn Tage vergehen, ein Narr.

 

Ha, du glaubst! rief Dantes.

 

Ja, ein Narr; so fängt die Narrheit immer an; wir haben hier ein Beispiel davon. Der Abbé, der vor Ihnen dieses Zimmer bewohnte, wurde verrückt und bot immer wieder dem Gouverneur eine Million für seine Freilassung an.

 

Wann hat er dieses Zimmer verlassen? – Vor zwei Jahren. – Hat man ihn in Freiheit gesetzt? – Nein, man hat ihn in einen Kerker gebracht.

 

Höre, sagte Dantes, ich bin kein Abbé, ich bin kein Narr. Vielleicht werde ich es; zu dieser Stunde aber habe ich leider noch meinen Verstand und will dir einen andern Vorschlag machen: Ich werde dir keine Million bieten, denn ich könnte sie dir nicht geben; aber ich biete dir hundert Taler, wenn du das erstemal, wo du nach Marseille gehst, dich zu den Kataloniern begeben und einem jungen Mädchen, namens Mercedes, nur zwei Zeilen geben willst.

 

Wenn ich diesen Brief überbrächte, und man entdeckte es, würde ich meine Stelle verlieren, die tausend Livres jährlich einträgt, abgesehen von dem Kostgelde. Sie sehen also, daß ich ein großer Tor wäre, wenn ich tausend Livres wagen wollte, um dreihundert zu gewinnen.

 

Nun, so höre und behalte es wohl in deinem Gedächtnis: Wenn du dich weigerst, den Gouverneur davon in Kenntnis zu setzen, daß ich ihn zu sprechen wünsche, wenn du dich weigerst, Mercedes zwei Zeilen zu bringen, oder wenigstens sie davon zu benachrichtigen, daß ich hier bin, so erwarte ich dich eines Tages hinter der Tür und zerschmettere dir in dem Augenblicke, wo du eintrittst, den Schädel mit diesem Schemel!

 

Drohungen! rief der Kerkermeister, einen Schritt zurückweichend und sich in Verteidigungsstand setzend; offenbar ist es in Ihrem Kopfe nicht richtig. Der Abbé hat angefangen wie Sie, und in drei Tagen sind Sie ein Narr, daß man Sie binden muß. Zum Glücke gibt es noch Kerker im Kastell If.

 

Dantes nahm den Schemel und schwang ihn um seinen Kopf.

 

Gut, gut, rief der Kerkermeister, gut, da Sie durchaus wollen, so wird man den Gouverneur benachrichtigen.

 

Dann ist es recht, sagte Dantes, stellte seinen Schemel auf den Boden und setzte sich darauf, den Kopf senkend mit starren Augen, als ob er wirklich wahnsinnig würde.

 

Der Gefangenwärter entfernte sich und kehrte einen Augenblick nachher mit vier Soldaten und einem Korporal zurück.

 

Auf Befehl des Gouverneurs, sagte er, bringt den Gefangenen ein Stockwerk tiefer, man muß die Narren mit den Narren zusammensperren.

 

Die vier Soldaten ergriffen Dantes, der in eine Art von Stumpfsinn verfiel und ihnen ohne Widerstand folgte. Man ließ ihn fünfzehn Stufen hinabsteigen und öffnete eine Tür, durch die er eintrat.

 

Er hat recht, murmelte er, man muß die Narren mit den Narren zusammensperren.

 

 

Die Tür schloß sich wieder, und Dantes ging mit ausgestreckten Händen vorwärts, bis er die Mauer fühlte. Dann setzte er sich in eine Ecke und blieb unbeweglich, während seine Augen, sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnend, die Gegenstände zu unterscheiden anfingen. Der Gefangenwärter hatte recht, es fehlte nicht mehr viel, und Dantes wurde ein Narr.

 

Der Verlobungsabend.

 

Der Verlobungsabend.

 

Herr von Villefort war nach Dantes‘ Verhör wieder zu seinem unterbrochenen Verlobungsmahl zurückgekehrt, hatte die zahlreichen Fragen seiner Braut und ihrer Verwandten nur kurz und ausweichend beantwortet und verabschiedete sich schleunigst von der erstaunten Familie, um sofort mit Extrapost eine – wie er sagte – für seine Zukunft ungemein wichtige Dienstreise nach Paris anzutreten.

 

Als er eben den Wagen besteigen wollte, erblickte er aber eine Gestalt, die unbeweglich seiner harrte. Es war die schöne Katalonierin, die, da sie keine Nachricht von Edmond erhielt, bei Einbruch der Nacht sich selbst nach der Ursache der Verhaftung ihres Geliebten erkundigen wollte. Als Villefort sich näherte, entfernte sie sich von der Mauer, an die sie sich gelehnt hatte, und versperrte ihm den Weg. Da der Staatsanwalt Dantes von seiner Braut hatte sprechen hören, brauchte sie sich nicht zu nennen, um von ihm erkannt zu werden. Er war erstaunt über ihre Schönheit und Würde, und als sie ihn fragte, was aus ihrem Geliebten geworden sei, hatte er die Empfindung, als wäre er der Angeklagte und sie der Richter.

 

Der Mann, von dem Sie sprechen, sagte er, ist ein großer Verbrecher, und ich kann nichts für ihn tun, Fräulein.

 

Mercedes schluchzte, und als Villefort an ihr vorüberzugehen versuchte, hielt sie ihn zum zweiten Male zurück.

 

Aber sagen Sie mir wenigstens, wo er ist, fragte sie, ich will mich nur erkundigen, ob er lebt oder ob er tot ist.

 

Ich weiß es nicht, er gehört mir nicht mehr an.

 

Von dem rührenden Blicke und der flehenden Haltung bewegt, schob er Mercedes zurück, bestieg den Wagen und schloß eiligst die Tür, als wollte er den Schmerz, den man ihm brachte, draußen lassen. Doch der Schmerz läßt sich nicht so zurückstoßen, und es entstand im Grunde dieses kranken Herzens der erste Keim zu einem tödlichen Geschwür. Der Unschuldige, den er seinem Ehrgeize opferte, und der für seinen schuldigen Vater büßen mußte, erschien ihm bleich und drohend, seiner ebenfalls bleichen Braut die Hand reichend; und mit ihm kamen die Gewissensbisse, nicht die, welche den Kranken wie rasend aufspringen lassen, sondern der dumpfe, schmerzliche Klang, der in gewissen Augenblicken das Herz berührt und es mit der Erinnerung an eine vergangene Handlung peinigt … eine Pein, deren nagende Qualen eine wunde Stelle schaffen, die bis zum Tode immer empfindlicher wird.

 

Da trat in der Seele dieses Mannes noch einmal ein Augenblick des Zögerns ein. Schon mehrmals hatte er, und zwar mit dem ausschließlichen Bewußtsein eines juristischen Kampfes mit dem Angeklagten, den Tod der Angeschuldigten gefordert. Die Hinrichtung dieser Angeschuldigten, die seiner überwältigenden, Richter und Geschworene hinreißenden Beredsamkeit zuzuschreiben war, hatte nicht einmal eine Wolke auf seiner Stirn zurückgelassen, denn diese Angeklagten waren Schuldige, oder Villefort hielt sie wenigstens dafür. Aber diesmal war es etwas ganz anderes; er hatte die lebenslängliche Gefängnisstrafe auf einen Unschuldigen herabgerufen, dem er nicht nur seine Freiheit, sondern auch sein verdientes Glück zerstörte: diesmal war er nicht Richter, sondern Henker.

 

Wenn in diesem Augenblick Renées sanfte Stimme an sein Ohr geklungen hätte, um Gnade zu erbitten, wenn die schöne Mercedes eingetreten wäre und zu ihm gesagt hätte: Im Namen Gottes, der uns sieht und richtet, geben Sie mir meinen Bräutigam wieder! – ja dann würde diese Stirn, die sich schon halb unter dem moralischen Drange beugte, sich gänzlich gebeugt haben, und er hätte ohne Zweifel mit eisigen Händen, trotz allem, was daraus für ihn entspringen konnte, den Befehl unterzeichnet, Dantes in Freiheit zu setzen. Aber keine Stimme lispelte in der Stille, und der unglückliche Dantes blieb verurteilt.

 

Die arme Mercedes hatte an der Ecke der Rue de la Loge Fernand wiedergefunden, der ihr gefolgt war. Sie kehrte zu den Kataloniern zurück und warf sich in Verzweiflung auf ihr Bett. Vor diesem Bett kniete Fernand nieder, und er drückte ihre eisige Hand, ohne daß Mercedes daran dachte, sie zurückzuziehen. Er bedeckte sie mit brennenden Küssen, die Mercedes nicht einmal fühlte.

 

So brachte sie die Nacht hin. Die Lampe erlosch, als kein Öl mehr darin war. Sie bemerkte ebensowenig die Dunkelheit, als sie das Licht wahrgenommen hatte, und der Tag kehrte zurück, ohne daß sie ihn sah. Der Schmerz hatte eine Binde um ihre Augen gelegt, die sie nur Edmond sehen ließ.

 

Ah! Ihr seid hier, sagte sie endlich, nach Fernand sich wendend.

 

Seit gestern habe ich Euch nicht verlassen, antwortete Fernand mit einem schmerzlichen Seufzer. –

 

Herr Morel hielt sich nicht für geschlagen; er erfuhr, daß man Dantes infolge eines Verhörs ins Gefängnis gebracht hatte; da lief er zu allen seinen Freunden, besuchte die Personen in Marseille, die Einfluß haben konnten; aber bereits hatte sich das Gerücht verbreitet, der junge Mann sei als bonapartistischer Agent verhaftet worden, und da selbst die Verwegensten damals noch jeden Versuch Napoleons, den Thron sofort wiederzubesteigen, als wahnsinnigen Traum betrachteten, so fand er nur Kälte, Furcht, Weigerung. Er kehrte voll Verzweiflung nach Hause zurück und gestand sich, die Lage der Dinge sei sehr ernst und niemand vermöge etwas zu tun.

 

Caderousse war äußerst unruhig und von den peinlichsten Gefühlen gequält; statt wie Herr Morel sich zu rühren und etwas zu Dantes‘ Gunsten zu versuchen, für den er übrigens nichts zu tun imstande war, schloß er sich mit zwei Flaschen Wein ein und trachtete danach, in diesen seine Unruhe zu ersäufen.

 

Danglars allein fühlte weder Qual noch Unruhe; er empfand sogar Freude, denn er hatte sich an einem Feinde gerächt und seinen Platz an Bord des Pharao gesichert, den er zu verlieren befürchtete; er gehörte zu den berechnenden Menschen, die mit einer Feder hinter dem Ohre und einem Tintenfasse an der Stelle des Herzens geboren werden. Alles war für ihn in dieser Welt Subtraktion oder Multiplikation, und eine Zahl erschien ihm viel kostbarer, als ein Mensch, wenn diese Zahl die Summe seines eigenen Guthabens vermehrte, die dieser Mensch vermindern konnte.

 

Dantes‘ Vater starb beinahe vor Schmerz und Unruhe.

 

Das Zimmer des Abbés.

 

Das Zimmer des Abbés.

 

Nachdem Dantes, sich bückend, aber doch ohne große Beschwerde, den unterirdischen Gang durchschritten hatte, gelangte er an das entgegengesetzte Ende der Aushöhlung, die in das Zimmer des Abbés führte. Hier verengte sich der Gang und bot kaum Raum genug, daß ein Mann kriechend hineinschlüpfen konnte. Das Zimmer war mit Platten belegt. Unter einer im dunkelsten Winkel liegenden Platte hatte der Abbé die mühsame Arbeit begonnen, die ihn schließlich mit Dantes zusammenführen sollte. Sobald der junge Mann drinnen war und sich wieder aufgerichtet hatte, betrachtete er das geheimnisvolle Zimmer mit der größten Aufmerksamkeit. Beim ersten Blicke bot sich ihm nichts Besonderes dar.

 

 

Gut, sagte der Abbé, es ist erst ein Viertel auf ein Uhr, und wir haben noch ein paar Stunden vor uns. Dantes schaute umher und suchte nach der Uhr, auf der der Abbé die Stunde hatte so genau lesen können.

 

Schauen Sie diesen Tagesstrahl an, der durch mein Fenster dringt, und sehen Sie an der Wand die Linien, die ich gezogen habe. Diese Linien geben mir die Stunde genauer an, als wenn ich eine Uhr hätte, denn die Uhr kann in Unordnung geraten, Sonne und Erde aber nicht, sagte der Abbé als Antwort auf Edmonds staunenden und fragenden Blick.

 

Dantes verstand diese Erklärung nicht. Ich bitte, sagte er, es drängt mich, Ihre Schätze zu betrachten.

 

Der Abbé ging nach dem Kamine und hob mit dem Meißel, den er beständig in der Hand hielt, den Stein aus, der einst den Herd bildete und nun eine ziemlich tiefe Aushöhlung verbarg, in der alle Gegenstände eingeschlossen waren, von denen er gesprochen hatte.

 

Was wollen Sie zuerst sehen? fragte er.

 

Zeigen Sie mir Ihr großes Werk über Italien.

 

Faria zog aus dem kostbaren Schranke drei bis vier wie Papyrusblätter umeinander gewundene Leinwandrollen hervor. Es waren ungefähr vier Zoll breite und achtzehn Zoll lange Bänder. Sehen Sie, sagte er, hier ist alles. Vor ungefähr acht Tagen habe ich das Wort Ende unten an das hundert und achtundsechzigste Band geschrieben. Zwei von meinen Hemden und was ich an Taschentüchern besaß, wurde dazu verwendet, und werde ich je wieder frei und es findet sich in ganz Italien ein Drucker, der mein Werk zu veröffentlichen wagt, so ist mein wissenschaftlicher Ruf für alle Zeiten begründet.

 

Ja, antwortete Dantes, ich sehe es wohl. Und nun bitte ich Sie, zeigen Sie mir die Federn, mit denen Sie dieses Werk geschrieben haben!

 

Faria zeigte dem jungen Mann ein kleines, sechs Zoll langes Stäbchen, etwa so dick wie der Stiel eines Haarpinsels; am Ende desselben war mittels eines Fadens einer von den Knorpeln angebunden, von denen der Abbé gesprochen hatte. Er war schnabelförmig zugeschnitten und wie eine gewöhnliche Feder geschlitzt. Dantes schaute ihn an und suchte mit den Augen nach dem Instrument, mit dem der Abbé den Knorpel so fein geschnitten haben könnte.

 

Ah, ja, das Federmesser, nicht wahr? Das ist mein Meisterwerk. Ich habe es, sowie das Messer, das Sie hier sehen, aus einem alten eisernen Leuchter gemacht.

 

Das Federmesser schnitt wie ein Rasiermesser: das Messer hatte den Vorteil, daß es zugleich als Messer und Dolch dienen konnte. Dantes untersuchte diese Gegenstände mit derselben Aufmerksamkeit, mit der er in den Raritätenhandlungen in Marseille die von Wilden verfertigten und von Schiffskapitänen aus der Südsee zurückgebrachten Werkzeuge untersucht hatte.

 

Was die Tinte betrifft, sagte Faria, so wissen Sie, wie ich dabei zu Werke gehe; ich mache sie nach meinem Bedarf.

 

Nun staune ich nur über eins, sagte Dantes, darüber, daß die Tage Ihnen für diese Arbeit genügten.

 

Ich hatte die Nächte, antwortete Faria.

 

Die Nächte? Besitzen Sie die Natur der Katzen und sehen Sie bei Nacht?

 

Nein, aber Gott hat dem Menschen den Verstand gegeben, um die Armut seiner Sinne zu unterstützen. Ich habe mir Licht verschafft. Von dem Fleische, das man mir bringt, trenne ich das Fett; ich lasse es schmelzen und ziehe eine Art von verdicktem Öl daraus. Sehen Sie hier meine Kerze!

 

Und der Abbé zeigte Dantes eine Art von Lämpchen, denen ähnlich, deren man sich bei öffentlichen Illuminationen bedient.

 

Aber wie machen Sie Feuer?

 

Hier sind zwei Kieselsteine und verbrannte Leinwand.

 

Dantes legte die Gegenstände, die er in der Hand hielt, auf den Tisch und neigte das Haupt, ganz niedergebeugt von der Kraft und Ausdauer dieses beharrlichen Geistes.

 

Das ist noch nicht alles, fuhr Faria fort; denn man darf nicht alle seine Schätze in ein Versteck legen; verschließen wir dieses!

 

Sie brachten die Platte wieder an ihre Stelle; der Abbé streute etwas Staub darauf, fuhr mit seinem Fuße darüber, ging dann auf sein Bett zu und rückte es von der Stelle.

 

Hinter dem Kopfkissen, unter einem Stein verborgen, der es fast völlig verschloß, war ein Loch und unter diesem Loch eine etwa fünfundzwanzig bis dreißig Fuß lange Strickleiter. Dantes untersuchte sie; sie war von tadelloser Festigkeit.

 

Wer hat Ihnen die zu diesem vortrefflichen Werke erforderliche Schnur geliefert? fragte Dantes.

 

Zuerst einige Hemden, die ich besaß, dann meine Betttücher, die ich während einer dreijährigen Gefangenschaft in Fenestrelle ausfädelte. Als man mich nach dem Kastell If brachte, fand ich Mittel, das ausgefädelte Zeug mitzunehmen. Hier setzte ich meine Arbeit fort.

 

Ich hatte anfangs den Gedanken, diese Stangen loszumachen und durch dieses Fenster zu entfliehen, das, wie Sie sehen, etwas breiter ist, als das Ihrige, und von mir im Augenblicke meiner Entweichung noch erweitert worden wäre. Aber ich bemerkte, daß dieses Fenster auf einen innern Hof geht, und leistete auf diesen Fluchtversuch als zu unsicher Verzicht. Die Strickleiter war aber einmal gemacht, und ich hebe sie mir für alle Fälle auf.

 

Während es schien, als untersuchte Dantes noch länger die Strickleiter, dachte er an etwas ganz anderes. Der Gedanke durchzog seinen Geist, daß dieser so außerordentlich scharfsinnige Mann vielleicht das Dunkel seines eigenen Unglücks zu durchdringen vermöchte.

 

Woran denken Sie? fragte der Abbé lächelnd. Er hielt Dantes‘ Versunkenheit für eine auf den höchsten Grad gesteigerte Bewunderung.

 

Ich denke vor allem an die ungeheure Summe von Verstand, die Sie aufwenden mußten, um zu einem solchen Ziele zu gelangen. Was hätten Sie erst getan, wenn Sie frei gewesen wären!

 

Vielleicht nichts, diese Überfülle meines Gehirns wäre in Kleinlichkeiten verpufft. Es bedarf des Unglücks, um gewisse geheimnisvolle, im menschlichen Verstande verborgene Minen zu graben; es bedarf des Druckes, um das Pulver zum Ausbruch zu bringen. Die Gefangenschaft hat alle meine dahin und dorthin flatternden Geisteskräfte in einem einzigen Punkte vereinigt.

 

Der Abbé verschloß sein Versteck wieder und sagte: Nun erzählen Sie mir Ihre Geschichte!

 

Dantes erzählte das, was er seine Geschichte nannte, was sich jedoch auf eine Reise nach Indien und auf ein paar Reisen nach der Levante beschränkte. Endlich gelangte er zu seiner letzten Fahrt, zu dem Tode des Kapitäns Leclère, zu dem von ihm dem Großmarschall übergebenen Paket, zu seiner Zusammenkunft mit dem Großmarschall, zu dem Briefe, den ihm dieser gegeben hatte, zu seiner Ankunft in Marseille, zu seiner Zusammenkunft mit seinem Vater, zu seiner Liebschaft mit Mercedes, zu seinem Verlobungsmahle, zu seiner Verhaftung, zu seinem Verhör, zu seiner vorläufigen Gefangenschaft im Justizpalaste und schließlich zu seiner endgültigen Gefangenschaft im Kastell If. Sobald Dantes diesen Punkt erreicht hatte, wußte er nichts mehr genau anzugeben, nicht einmal mehr die Zeit, die er Gefangener geblieben. Als die Erzählung zu Ende war, versank der Abbé in Gedanken.

 

Es gibt, sagte er nach einem Augenblick des Stillschweigens, einen bewährten und wohlbegründeten Rechtsgrundsatz: Willst du den Schuldigen entdecken, so suche zuerst den, dem das begangene Verbrechen nützlich sein kann! Wem konnte Ihr Verbrechen Nutzen bringen?

 

Mein Gott! Niemand, ich war zu unbedeutend.

 

Antworten Sie nicht so, denn Ihre Antwort ermangelt zugleich der Logik und der Philosophie; alles ist beziehungsweise, mein lieber Freund, von dem König, der seinem Nachfolger im Wege steht, bis zu dem untersten Beamten, der dem Anwärter als ein Hindernis erscheint. Stirbt dieser Beamte, so erbt der Anwärter zwölfhundert Franken Gehalt; diese zwölfhundert Franken Gehalt sind seine Zivilliste; sie sind ihm zum Leben ebenso notwendig, wie einem König seine zwölf Millionen. Jeder Mensch, von der niedrigsten bis zur höchsten Stufe der gesellschaftlichen Leiter, gruppiert um sich her eine kleine Welt von Interessen, die ihre Wirbel und ihre hakenförmigen Atome hat, wie Descartes‘ Welten. Nur werden diese Welten, in je höhere Schichten wir steigen, um so umfangreicher. Es ist eine auf der Spitze stehende Pyramide, die sich durch das Spiel der Kräfte im Gleichgewicht erhält. Kehren wir jedoch zu Ihrer Welt zurück! Sie sollten zum Kapitän des »Pharao« ernannt werden und ein hübsches junges Mädchen heiraten? Hatte jemand ein Interesse daran, daß Sie nicht Kapitän wurden, daß Sie Mercedes nicht heirateten?

 

Nein; ich war an Bord sehr beliebt. Hätten die Matrosen einen Kapitän wählen können, so würden sie sicherlich mich gewählt haben. Ein einziger Mensch hatte Grund, mir zu grollen; ich geriet einige Zeit vorher mit ihm in Streit und schlug ihm ein Duell vor, das er nicht annahm. Es war Danglars, der Rechnungsführer auf dem Pharao.

 

Hätten Sie ihn als Kapitän auf seinem Posten erhalten?

 

Nein, wenn es von mir abgehangen hätte, denn ich glaubte, Ungenauigkeiten in seinen Rechnungen wahrzunehmen.

 

Gut. Konnte jemand Ihre letzte Unterredung mit dem Kapitän Leclère hören?

 

Ja, die Türen waren offen und sogar … warten Sie … ja, Danglars ging sogar gerade in dem Augenblick vorüber, wo mir der Kapitän Leclère das für den Großmarschall bestimmte Paket übergab.

 

Gut, sagte der Abbé, wir sind auf dem Wege. Haben Sie jemand mit ans Land genommen, als Sie an der Insel Elba anhielten? – Niemand. – Man hat Ihnen einen Brief übergeben? – Ja, der Großmarschall. – Was taten Sie mit dem Briefe, als Sie den Pharao wieder bestiegen? – Ich hielt ihn in der Hand. – Es konnte also jeder, auch Danglars, sehen, daß Sie einen Brief trugen? – Ja, jeder. – Nun hören Sie wohl, drängen Sie alle Ihre Erinnerungen zusammen: Wissen Sie noch, in welchen Ausdrücken die Denunziation abgefaßt war? – Oh ja; ich habe sie dreimal gelesen, und jedes Wort ist mir im Gedächtnis geblieben. – Wiederholen Sie mir dieselbe!

 

Dantes sammelte sich einen Augenblick und sagte:

 

Der Herr Staatsanwalt wird von einem Freunde des Thrones und der Religion benachrichtigt, daß Edmond Dantes, Sekond des Schiffes Pharao, heute morgen von Smyrna angelangt ist, nachdem er Neapel und Porto Ferrajo auf Elba berührt hat, von Murat einen Brief für den Usurpator und von dem Usurpator einen Brief für das bonapartistische Komitee in Paris übernommen hat. Den Beweis für sein Verbrechen wird man erlangen, wenn man ihn verhaftet; denn man findet diesen Brief entweder bei ihm oder bei seinem Vater oder in seiner Kajüte an Bord des Pharao.

 

Das ist klar, wie der Tag, sagte der Abbé und zuckte die Achseln, und Sie müssen ein sehr gutes und reines Herz haben, daß Sie es nicht von Anfang an erraten haben.

 

Sie glauben? rief Dantes. Ah, das wäre heillos!

 

Wie war Danglars‘ gewöhnliche Handschrift?

 

Eine schöne Kursivschrift.

 

Wie war die Schrift des anonymen Briefes?

 

Es war eine verkehrte Schrift. – Der Abbé lächelte, nahm seine Feder und schrieb mit der linken Hand auf ein Stück Leinwand zwei oder drei Zeilen der Denunziation.

 

Dantes schaute den Abbé erschrocken an und rief: Oh! es ist erstaunlich, wie diese Schrift jener gleicht!

 

Die Anzeige war mit der linken Hand geschrieben. Ich habe beobachtet, fuhr der Abbé fort, daß alle rechtshändigen Schriften voneinander abweichen, alle linkshändigen sich gleichen.

 

Es ist, als hätten Sie alles gesehen, alles beobachtet.

 

Fahren wir fort und gehen wir zur zweiten Frage über: Hatte jemand ein Interesse daran, daß Sie Mercedes nicht heirateten?

 

Ja, Fernand, ein junger Katalonier, der sie liebte.

 

Glauben Sie, daß er fähig war, den Brief zu schreiben?

 

Nein, er hätte mir einen Messerstich gegeben und nichts sonst.

 

Das liegt in der spanischen Natur; ein Mord, ja; eine Feigheit, nein.

 

Überdies, fuhr Dantes fort, kannte er die in der Anzeige enthaltenen einzelnen Umstände nicht. Sie haben sie niemand mitgeteilt?

 

Nicht einmal meiner Braut.

 

Es ist Danglars.

 

Oh! nun bin ich davon überzeugt.

 

Warten Sie, kannte Danglars Fernand?

 

Zwei Tage vor meiner Hochzeit sah ich sie miteinander an einem Tische unter der Laube des Vaters Pamphile. Danglars war freundschaftlich und spöttisch, Fernand bleich und verstört.

 

Sie waren allein?

 

Nein, es war ein dritter, mir wohlbekannter Mensch bei ihnen, der sie ohne Zweifel zusammengeführt hatte, ein Schneider, namens Caderousse; aber dieser war bereits betrunken. Doch halt … halt … warum erinnerte ich mich dieses Umstandes nicht? Auf dem Tische, wo sie tranken, waren Papier, Tinte und Federn. Oh, dort, dort wird der Brief geschrieben worden sein! Oh, die Schändlichen!

 

Wollen Sie noch etwas wissen? fragte der Abbé lachend.

 

Ja, ja, da Sie alles ergründen und in allen Dingen klar sehen. Ich will wissen, warum ich nur einmal verhört worden bin; warum man mir keinen Richter gegeben hat, und wie man mich ohne Spruch verurteilen konnte.

 

Oh! was das betrifft, erwiderte der Abbé, das ist schwieriger; die Justiz hat finstere, geheimnisvolle Wege, die schwer zu durchdringen sind. Was wir bis jetzt in Beziehung auf Ihre zwei Feinde getan haben, war nur ein Kinderspiel. Sie müssen mir in dieser Hinsicht genauere Andeutungen geben.

 

Ich bitte, fragen Sie mich; denn Sie sehen in der Tat klarer in meinem Leben, als ich selbst.

 

Wer hat Sie verhört? Der Staatsanwalt oder der Untersuchungsrichter?

 

Der Vertreter des Staatsanwalts.

 

Jung oder alt?

 

Jung, siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt. Gut! noch nicht verdorben, aber bereits ehrgeizig. Wie benahm er sich gegen Sie?

 

Mehr sanft als streng.

 

Haben Sie ihm alles erzählt? – Alles.

 

Hat sich sein Benehmen im Verlaufe des Verhörs verändert?

 

Einen Augenblick, als er den mich gefährdenden Brief gelesen hatte, schien er wie niedergeschmettert durch mein Unglück.

 

Wissen Sie ganz gewiß, daß es Ihr Unglück war, was er beklagte?

 

Er hat mir einen großen Beweis von Mitgefühl gegeben; er verbrannte den Brief, das einzige, was mich wirklich gefährden konnte.

 

Halt, nicht so voreilig! Dieser Mensch könnte ein größerer Verbrecher sein, als Sie glauben.

 

Bei meiner Ehre, Sie lassen mich zittern, sagte Dantes; die Welt ist also mit Tigern und Krokodilen bevölkert?

 

Ha, nur sind die zweibeinigen Tiger und Krokodile gefährlicher, als die andern. Also er hat den Brief verbrannt, sagen Sie?

 

Ja, und er sagte dabei zu mir: Sehen Sie, es ist nur dieser Beweis gegen Sie vorhanden, und ich vernichte ihn.

 

Dieses Benehmen ist zu edel, um natürlich zu sein. An wen war der Brief adressiert?

 

An Herrn Noirtier, Rue Coq-Héron, Nr. 13 in Paris.

 

Können Sie annehmen, Ihr Staatsanwalt habe ein Interesse an dem Verschwinden dieses Papiers gehabt?

 

Vielleicht, denn er ließ mich mehrmals, in meinem Interesse, wie er sagte, geloben, mit niemand von diesem Briefe zu sprechen, ja, er ließ mich sogar schwören, nie den auf die Adresse geschriebenen Namen auszusprechen.

 

Noirtier? erwiderte der Abbé, Noirtier? Ich kannte einen Noirtier am Hofe der ehemaligen Königin von Etrurien, einen Noirtier, der während der Revolution Girondist gewesen war. Wie hieß der Staatsanwalt? Von Villefort.

 

Der Abbé brach in ein Gelächter aus. Dantes schaute ihn erstaunt an. Was haben Sie? fragte er.

 

Alles ist mir jetzt klar. Armes Kind, armer junger Mann! Und dieser Beamte ist gut gegen Sie gewesen? Dieser würdige Mann hat den Brief verbrannt, vernichtet? Dieser ehrliche Lieferant des Henkers ließ Sie schwören, nie den Namen Noirtier auszusprechen? Dieser Noirtier, armer Blinder, wissen Sie, wer dieser Noirtier war? Dieser Noirtier … war sein Vater.

 

Hätte der Blitz zu Dantes‘ Füßen eingeschlagen und vor ihm einen Abgrund gegraben, in dessen Tiefe sich die Hölle öffnete, es hätte keine raschere, keine niederschmetterndere Wirkung hervorgebracht, als diese unerwarteten Worte. Er stand auf und nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, als wollte er verhindern, daß er zerspringe.

 

Sein Vater! Sein Vater! rief er.

 

Ja, sein Vater, der Noirtier von Villefort heißt.

 

Ein Licht durchzuckte das Gehirn des Gefangenen; was ihm bis dahin dunkel geblieben war, wurde in einem Augenblick klar wie der Tag. Villeforts Worte während des Verhörs, der vernichtende Brief, die fast flehende Stimme des Beamten, der statt zu drohen, zu bitten schien, alles kam ihm ins Gedächtnis. Er stieß einen Schrei aus, wankte einen Augenblick, wie ein Betrunkener, und stürzte dann nach der Öffnung, die aus der Zelle des Abbés in die seinige führte. Oh! sagte er, ich muß einen Augenblick allein sein, um alles zu überdenken. Als er wieder in seinem Kerker war, fiel er auf sein Bett, wo ihn der Schließer am Abend mit starren Augen und zusammengezogenem Gesicht unbeweglich und stumm wie eine Bildsäule sitzend fand. Während dieser Stunden des Nachsinnens, die wie Sekunden verliefen, hatte er einen furchtbaren Entschluß gefaßt und einen schrecklichen Eid geleistet.

 

Diesem Brüten wurde er durch die Stimme des Abbés entzogen, der zu Dantes kam, um ihn zum Abendbrot einzuladen. Seine Eigenschaft als anerkannter Narr und besonders als belustigender Narr gab dem alten Gefangenen einige Vorrechte; so erhielt er etwas weißeres Brot und Sonntags ein Fläschchen Wein. Es war aber gerade Sonntag, und der Abbé wollte seinen jungen Gefährten einladen, sein Brot und seinen Wein mit ihm zu teilen.

 

Dantes folgte ihm. Alle Linien seines Gesichtes hatten sich wieder geglättet und die gewöhnlichen Formen angenommen, aber es sprach aus ihnen die Starrheit und Festigkeit eines unwiderruflichen Entschlusses. Der Abbé schaute ihn aufmerksam an. Es tut mir leid, daß ich Sie in Ihren Nachforschungen unterstützt und Ihnen gesagt habe, was ich sagte, sprach er.

 

Warum? fragte Dantes.

 

Weil ich in Ihr Herz eine Leidenschaft brachte, die noch nicht darin war: die der Rache.

 

Dantes versetzte lächelnd: Sprechen wir von etwas anderem!

 

Der Abbé schaute ihn einen Augenblick an und schüttelte traurig den Kopf. Dann redete er, wie ihn Dantes gebeten hatte, von anderen Dingen.

 

Der alte Gefangene war ein Mann, dessen Unterhaltung lehrreich und anziehend und dabei von jeder Selbstsucht frei war, denn der Unglückliche sprach nie von seinen Leiden.

 

Dantes hörte jedes seiner Worte mit Bewunderung; zum Teil standen sie im Zusammenhange mit den Begriffen, die er bereits besaß, und mit den Kenntnissen, die er sich als Seemann erworben, zum Teil berührten sie unbekannte Dinge und zeigten, wie der Nordschein, der manchmal den Schiffern in den südlichen Breiten leuchtet, dem jungen Manne mit phantastischem Licht erhellte neue Landschaften und Horizonte. Dantes begriff das Glück, dessen ein vernunftbegabter Mensch teilhaftig werden müßte, wenn er diesem erhabenen Geiste auf die moralischen, philosophischen und sozialen Höhen folgte, auf denen er sich zu ergehen pflegte.

 

Sie sollten mich etwas von dem lehren, was Sie wissen, sagte Dantes, und wäre es nur, damit Sie sich nicht mit mir langweilen. Es scheint mir jetzt, Sie müssen die Einsamkeit dem Umgang mit einem Gefährten ohne Bildung, wie ich es bin, vorziehen. Willigen Sie in das, was ich mir von Ihnen erbitte, so mache ich mich anheischig, nicht mehr von Flucht zu reden.

 

Der Abbé erwiderte lächelnd: Ach, mein Kind! Die menschliche Wissenschaft ist sehr beschränkt, und habe ich Sie die Mathematik, die Physik und die paar lebenden Sprachen gelehrt, die ich spreche, so wissen Sie alles, was ich weiß. Um all dieses Wissen von meinem Geiste in den Ihrigen zu ergießen, werde ich kaum zwei Jahre brauchen.

 

Zwei Jahre! sagte Dantes, Sie glauben, ich könnte dies alles in zwei Jahren lernen? Was wollen Sie mich zuerst lehren? Es drängt mich zu beginnen, ich habe einen Durst nach Wissenschaft.

 

Die Gefangenen entwarfen wirklich noch an demselben Abend einen Lehrplan, dessen Ausführung am andern Tage begann. Dantes besaß ein wunderbares Gedächtnis und eine außerordentliche Fassungsgabe. Die mathematische Anlage seines Geistes befähigte ihn, alles durch Berechnung zu begreifen, während die Poesie des Seemannes da einsetzte, wo die auf die Trockenheit der Zahlen und die Genauigkeit der Linien zurückgeführte und beschränkte Auseinandersetzung sich zu sehr im Materiellen verlor. Er verstand überdies bereits Italienisch und etwas Neugriechisch, was er bei seinen Reisen nach dem Orient gelernt hatte. Mittels dieser zwei Sprachen begriff er bald den Organismus aller andern, und nach Verlauf von sechs Monaten fing er an, Spanisch, Englisch und Deutsch zu sprechen.

 

Mochte nun die Zerstreuung, die ihm das Studieren gewährte, einigermaßen die Freiheit ersetzen, oder war es gewissenhafte Befolgung des gegebenen Wortes, jedenfalls sprach er, wie er dem Abbé Faria zugesagt, nicht mehr von Flucht, und die Tage vergingen ihm rasch und lehrreich. Nach Verlauf eines Jahres war er ein anderer Mensch. Was den Abbé Faria betrifft, so bemerkte Dantes, daß er, trotz der Zerstreuung, die ihm seine Gegenwart gebracht hatte, täglich düsterer wurde. Ein unablässiger Gedanke schien seinen Geist zu belasten. Er versank in tiefe Träumerei, seufzte unwillkürlich, stand auf, kreuzte die Arme und ging finster in seinem Zimmer umher.

 

Eines Tages blieb er mitten in einem von den hundertmal wiederholten Kreisen stehen, die er in seinem Kerker beschrieb, und rief: Oh! wenn keine Wache da wäre!

 

Es wird keine Wache da sein, sobald Sie es nur wollen, sagte Dantes, der seinen Gedanken gefolgt war.

 

Ich habe Ihnen bereits gesagt, versetzte der Abbé, ein Mord widerstrebt mir.

 

Und dennoch wird dieser Mord durch den Instinkt unserer Selbsterhaltung, durch das Bewußtsein der Selbstverteidigung gerechtfertigt.

 

Gleichviel, ich werde es nicht vermögen.

 

Sie denken noch daran?

 

Unablässig, unablässig, murmelte der Abbé.

 

Und Sie haben ein Mittel gefunden, nicht wahr? sagte Dantes lebhaft und wollte ihn bei diesem Gegenstande festhalten, aber der Abbé schüttelte den Kopf und weigerte sich, zu antworten.

 

Drei Monate verliefen.

 

Sind Sie stark? fragte eines Tages der Abbé Dantes.

 

Dantes nahm, ohne ein Wort zu erwidern, den Meißel, bog ihn wie ein Hufeisen und bog ihn wieder zurück.

 

Würden Sie sich anheischig machen, die Schildwache nur im äußersten Notfalle zu töten?

 

Ja, bei meiner Ehre.

 

Dann können wir unsern Plan ausführen, sagte der Abbé. Wie lange brauchen wir dazu?

 

Wenigstens ein Jahr.

 

Oh, sehen Sie, wir haben ein Jahr verloren! rief Dantes.

 

Finden Sie, daß wir es verloren haben? sagte der Abbé.

 

Ich bitte um Vergebung, rief Edmond errötend.

 

Still; der Mensch ist immer nur ein Mensch, und Sie sind einer von den besseren, die ich kennen gelernt habe. Vernehmen Sie meinen Plan!

 

Der Abbé zeigte nun Dantes eine Zeichnung, die er entworfen hatte; es war der Plan seines Zimmers, des von Dantes und des Ganges, der beide miteinander verband. Mitten in diesem Gange brachte er einen Schacht an, denen ähnlich, die man in Bergwerken macht. Dieser Schacht führte die Gefangenen unter die Galerie, wo die Schildwache auf- und abging. Hier machten sie eine breite Aushöhlung und lösten eine von den Platten, die den Boden der Galerie bildeten. Im gegebenen Augenblick fiel die Platte unter dem Gewichte des Soldaten ein, und dieser stürzte in die Höhlung. Dantes warf sich in dem Momente auf ihn, wo er, von seinem Falle betäubt, sich nicht verteidigen konnte, band, knebelte ihn, und beide drangen durch ein Fenster dieser Galerie, stiegen mit Hilfe der Strickleiter an der äußeren Mauer hinab und flüchteten sich. Dantes schlug in die Hände, und seine Augen funkelten vor Freude; dieser Plan war so einfach, daß er gelingen mußte.

 

Noch an demselben Tage gingen die Minierer mit um so mehr Eifer ans Werk, als die Arbeit auf eine lange Ruhe folgte, und aller Wahrscheinlichkeit nach nur die Ausführung eines innigen, geheimen Gedankens jedes von beiden bildete. Nichts unterbrach sie, als die Stunde, zu der sich beide zurückziehen mußten, um jeder in seinem Kerker den Besuch des Wärters zu empfangen. Sie hatten sich übrigens daran gewöhnt, an dem fast unmerklichen Geräusch von Tritten den Augenblick wahrzunehmen, wo dieser Mensch herabkam, und nie war einer von ihnen überrascht worden. Die Erde, welche sie aus der neuen Galerie zogen, wurde in kleinen Staubteilchen und mit unerhörter Behutsamkeit durch das eine oder das andere Kerkerfenster von Dantes oder von Faria geworfen. Der Nachtwind trug sie dann in die Ferne, ohne daß Spuren davon übrig blieben.

 

Mehr als ein Jahr verging bei dieser Arbeit, die, in Ermangelung aller anderen Werkzeuge, mit einem Meißel, einem Messer und einem hölzernen Hebel ausgeführt wurde, und während dieser Arbeit fuhr Faria fort, Dantes zu unterrichten, wobei er bald in der einen, bald in der andern Sprache sich mit ihm unterhielt und ihn die Geschichte der Nationen und der großen Menschen lehrte. Der Abbé, ein Mann der Welt, und zwar der großen Welt, besaß überdies in seinen Manieren eine gewisse hoheitsvolle Würde, die sich auf den von Natur so empfänglichen Dantes übertrug und ihn die elegante Artigkeit und die aristokratischen Manieren lehrte, die uns sonst nur durch längeren Umgang mit den höheren Klassen oder in der Gesellschaft edler Männer zur Gewohnheit werden.

 

Nach Verlauf von fünfzehn Monaten war das Loch vollendet und die Höhlung unter der Galerie angebracht. Man hörte bereits die Schildwache hin und her gehen, und die beiden Arbeiter, die eine dunkle Nacht ohne Mondschein abwarten mußten, um ihre Flucht zu sichern, befürchteten nur eines: es könnte der Boden zu früh von selbst unter den Füßen des Soldaten einstürzen. Man begegnete diesem Mißgeschick dadurch, daß man einen kleinen Balken, den man im Boden gefunden hatte, als Stütze aufstellte.

 

Dantes war eben dabei, den Balken festzustellen, als er hörte, wie ihn der Abbé, der in seinem Zimmer geblieben war und sich damit beschäftigte, einen Pflock zuzuspitzen, der die Strickleiter halten sollte, mit schmerzlichem Tone rief. Dantes kehrte rasch zurück und sah den Abbé bleich, mit schweißbedeckter Stirn und krampfhaft zusammengezogenen Händen, mitten im Zimmer stehen.

 

 

Oh, mein Gott! rief Dantes, was haben Sie?

 

Rasch, rasch! sagte der Abbé, hören Sie mich!

 

Dantes erblickte das leichenbleiche Gesicht Farias, seine von einem bläulichen Kreise umzogenen Augen, seine weißen Lippen, seine gesträubten Haare und ließ aus Schrecken den Meißel, den er in der Hand hielt, auf den Boden fallen.

 

Ich bin verloren, sagte der Abbé; ein furchtbares, vielleicht tödliches Übel erfaßt mich. Der Anfall kommt, ich fühle es. Schon einmal wurde ich davon, ein Jahr vor meiner Einkerkerung, ergriffen. Für dieses Übel gibt es nur ein Mittel, ich will es Ihnen nennen. Heben Sie den Fuß des Bettes auf! Der Fuß ist hohl, Sie finden darin ein Kristallfläschchen, mit einer roten Flüssigkeit halb gefüllt.

 

Dantes verlor den Kopf nicht, obgleich ihm das Unglück, das ihm drohte, unermeßlich schien; er zog das Fläschchen aus dem Bettfuße und legte dann den an allen Gliedern zitternden Abbé auf das Bett.

 

Das Übel tritt ein, rief Faria, ich verfalle in Starrsucht; vielleicht werde ich keine Bewegung machen, keine Klage ausstoßen; vielleicht werde ich aber auch schäumen, schreien. Suchen Sie zu bewirken, daß man mein Geschrei nicht hört; es ist von Wichtigkeit, denn man könnte mir dann ein anderes Zimmer geben und uns für immer trennen. Wenn Sie mich unbeweglich, kalt und gleichsam tot sehen, dann, aber auch dann erst, hören Sie wohl, drücken Sie mir die Zähne mit dem Messer auseinander, flößen mir acht bis zehn Tropfen von diesem Tranke in den Mund, und vielleicht komme ich wieder zu mir.

 

Vielleicht, rief Dantes schmerzlich.

 

Zu Hilfe, zu Hilfe! rief der Abbé, ich … ich … Ärm …

 

Der Anfall kam so rasch und so heftig, daß der unglückliche Gefangene nicht einmal das begonnene Wort vollenden konnte. Eine Wolke zog schnell und düster wie die Stürme des Meeres über seine Stirn hin. Die Krise erweiterte seine Augen, verdrehte seinen Mund, färbte seine Wangen purpurrot. Er arbeitete mit Händen und Füßen, schäumte, brüllte; aber Dantes erstickte, wie es ihm Faria selbst empfohlen hatte, das Geschrei unter der Decke. Dies dauerte zwei Stunden. Dann aber fiel der Greis, träger als eine tote Masse, kälter als der Marmor, zurück, erstarrte in einem letzten Krampfanfall und wurde leichenbleich.

 

Edmond wartete, bis dieser scheinbare Tod den Körper erfaßt und bis zum Herzen vereist hatte. Dann nahm er das Messer, schob die Klinge zwischen die Zähne, löste mit unsäglicher Mühe die zusammengepreßten Kinnbacken, zählte, einen nach dem andern, zehn Tropfen von dem rötlichen Safte und wartete.

 

Es verlief eine Stunde, ohne daß der Greis die geringste Bewegung machte. Dantes fürchtete, zu lange gewartet zu haben, und betrachtete ihn, beide Hände in seinen Haaren haltend. Endlich erschien eine leichte Färbung auf seinen Wangen; seine Augen gewannen ihren Blick wieder; ein leichter Seufzer entstieg seinem Munde, und er machte eine Bewegung.

 

Gerettet! gerettet! rief Dantes.

 

Der Kranke konnte noch nicht sprechen, aber er streckte mit sichtbarer Angst die Hand nach der Tür aus. Dantes horchte und vernahm die Tritte des Gefangenwärters! es war nahe an sieben Uhr. Der junge Mann sprang zur Öffnung, drang hinein, legte die Platte wieder über seinen Kopf und kehrte in sein Zimmer zurück. Einen Augenblick nachher öffnete sich seine Tür, und der Kerkermeister fand den Gefangenen wie gewöhnlich auf seinem Bette sitzend.

 

Kaum hatte er ihm den Rücken gewendet, kaum hatte sich das Geräusch der Tritte im Gang verloren, als Dantes, von Ungeduld verzehrt, ohne an das Essen zu denken, in das Zimmer des Abbés zurückkehrte.

 

Dieser war wieder zum Bewußtsein gekommen; aber er lag immer noch träge und kraftlos auf seinem Bette ausgestreckt.

 

Ich dachte, ich würde Sie nicht wiedersehen, sagte er zu Dantes.

 

Warum? fragte der junge Mann. Glaubten Sie sterben zu müssen?

 

Nein, aber alles ist zu Ihrer Flucht bereit, und ich glaubte, Sie würden fliehen.

 

Die Röte der Entrüstung färbte Dantes‘ Wangen.

 

Ohne Sie! rief er. Hielten Sie mich wirklich dessen fähig?

 

Jetzt sehe ich, daß ich mich getäuscht habe, sagte der Kranke. Oh! ich bin sehr, sehr schwach.

 

Mut! Ihre Kräfte werden wiederkehren, sagte Dantes, setzte sich neben sein Bett und nahm ihn bei den Händen.

 

Der Abbé schüttelte den Kopf und erwiderte:

 

Das letztemal dauerte der Anfall eine halbe Stunde, wonach ich Hunger hatte und allein aufstand; heute kann ich weder mein Bein, noch meinen rechten Arm rühren, mein Kopf ist eingenommen, was auf einen Erguß im Gehirn hindeutet. Das drittemal werde ich völlig gelähmt bleiben oder auf der Stelle sterben.

 

Nein, nein, beruhigen Sie sich, Sie werden nicht sterben; der dritte Anfall wird Sie, wenn er wirklich kommt, frei finden; wir werden Sie retten, wie diesmal und besser als diesmal, denn es steht uns dann jede erforderliche Hilfe zu Gebote.

 

Mein Freund, sagte der Greis, täuschen Sie sich nicht! Die Krise, die soeben vorübergegangen ist, hat mich zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt; um zu fliehen, muß man gehen können.

 

Nun, wir warten acht Tage, einen Monat, zwei Monate, wenn es sein muß! Inzwischen erlangen Sie Ihre Kräfte wieder. Alles ist zur Flucht vorbereitet, und wir können nach unserm Belieben die Stunde und den Augenblick dazu wählen. An dem Tage, wo Sie sich kräftig genug fühlen, um zu schwimmen, bringen wir unsern Plan in Ausführung.

 

Ich werde nie mehr schwimmen, erwiderte Faria, dieser Arm ist gelähmt, nicht für einen Tag, sondern für immer. Heben Sie ihn selbst auf und sehen Sie, wie schwer er ist!

 

Der junge Mann hob ihn auf, und der Arm viel unempfindlich wieder zurück. Er stieß einen Seufzer aus.

 

Sie sind nun überzeugt, nicht wahr, Edmond? sagte der Abbé; glauben Sie mir, ich weiß, was ich sage; seit dem ersten Anfall dachte ich unablässig darüber nach. Ich erwartete es, denn es ist eine Familienerbschaft; mein Vater starb an der dritten Krise, mein Großvater ebenfalls. Der berühmte Arzt Cabanis, der mir diesen Trank bereitete, weissagte mir dasselbe Schicksal.

 

Der Arzt täuscht sich, rief Dantes. Ihre Lähmung aber hindert mich nicht, ich nehme Sie auf meine Schultern und schwimme so mit Ihnen.

 

Kind, entgegnete der Abbé, Sie sind ein Seemann, Sie sind ein Schwimmer und müssen folglich wissen, daß ein Mensch mit einer solchen Last nicht fünfzig Klafter weit kommen würde. Lassen Sie sich nicht länger durch Hirngespinste täuschen, von denen nicht einmal Ihr vortreffliches Herz betört wird. Ich werde hier bleiben, bis die Stunde meiner Befreiung schlägt, die jetzt nur die des Todes sein kann. Was Sie betrifft … fliehen Sie! Sie sind jung, stark und gewandt; kümmern Sie sich nicht um mich; ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück.

 

Gut, sagte Dantes, gut, so bleibe ich auch hier.

 

Dann stand er auf, streckte feierlich eine Hand gegen den Greis aus und rief: Bei dem Blute Christi schwöre ich, daß ich Sie nur bei Ihrem Tode verlasse!

 

Faria schaute den edeln, einfachen und in seiner entsagungsvollen Liebe so erhabenen jungen Mann an und las in seinen von dem Ausdrucke der reinsten Ergebenheit belebten Zügen die Aufrichtigkeit seiner Zuneigung und die Redlichkeit seines Schwures.

 

Gut, sagte der Kranke, ich nehme es an und danke.

 

Hierauf Edmond die Hand reichend, fuhr er fort: Sie werden vielleicht für diese uneigennützige Ergebenheit belohnt; zunächst müssen wir unbedingt die Höhlung verstopfen, die wir unter der Galerie gemacht haben; dem Soldaten kann der hohle Klang auffallen, er bringt die Sache zur Anzeige, und wir werden entdeckt und getrennt. Vollbringen Sie diese Aufgabe, wobei ich Sie leider nicht mehr unterstützen kann; verwenden Sie die ganze Nacht dazu, wenn es sein muß, und kommen Sie erst morgen nach dem Besuche des Gefangenwärters zurück; ich habe Ihnen, denke ich, etwas Wichtiges zu sagen …

 

Dantes nahm den Abbé bei der Hand; dieser beruhigte ihn durch ein Lächeln, und er entfernte sich mit dem Gehorsam und der Achtung, die er für seinen alten Freund hegte.

 

Das Brevier.

 

Das Brevier.

 

Als Dantes am andern Morgen in das Zimmer seines Leidensgefährten zurückkehrte, fand er Faria mit ruhigem Antlitz unter dem Strahle sitzend, der durch das enge Fenster seiner Zelle glitt. Er hielt in seiner linken Hand ein Stück Papier und zeigte es, ohne etwas zu sagen, seinem jungen Freunde.

 

Was ist das? fragte dieser.

 

Schauen Sie es recht an, erwiderte der Abbé lächelnd.

 

Ich sehe nichts, als ein halbverbranntes Papier, auf dem gotische Zeichen mit einer seltsamen Tinte gezeichnet find.

 

Dieses Papier, mein Freund, ist mein Schatz, von dem von heute an die Hälfte Ihnen gehört.

 

Kalter Schweiß lief über Dantes‘ Stirn. Bis auf diesen Tag hatte er es vermieden, mit Faria über diesen Schatz zu sprechen, von dem sich die Ansicht vom Wahnsinn des armen Abbés herleitete. Voll Zartgefühl, wie er war, zog es Edmond immer vor, diese schmerzlich tönende Saite nicht zu berühren; Faria schwieg ebenfalls, und Dantes hielt das Stillschweigen des Greises für eine Rückkehr zur Vernunft. Heute aber schienen die Worte, die Faria nach einer so peinvollen Krise entschlüpften, einen schweren Rückfall geistiger Bewölkung anzukündigen.

 

Ihr Schatz? stammelte Dantes.

 

Faria lächelte. Ja, Sie sind in jeder Hinsicht ein edles Herz, Edmond, und ich erkenne aus Ihrer Blässe und Ihrem Schauer, was in diesem Augenblick in Ihnen vorgeht. Nein, seien Sie ruhig, ich bin kein Narr; dieser Schatz besteht, Dantes, und wenn es mir nicht gegeben gewesen ist, ihn zu besitzen, so werden Sie ihn wenigstens besitzen. Niemand wollte mich hören, niemand wollte mir glauben, weil man mich für verrückt hielt; aber Sie, der Sie wissen, daß ich es nicht bin, Sie werden mir bald glauben.

 

Ach! er leidet also an einem Rückfall; dieses Unglück fehlte mir noch, murmelte Edmond, nahm das Papier, von dem die Hälfte, die offenbar durch irgend einen Zufall zerstört worden war, fehlte, und las die darauf stehenden Worte.

 

Nun? sagte Faria, als er zu Ende war.

 

Ich sehe da nur verstümmelte Zeilen, Worte ohne Zusammenhang, erwiderte Dantes; die Schriftzeichen sind unterbrochen und bleiben unverständlich.

 

Für Sie, mein Freund, der Sie es zum erstenmal lesen, aber nicht für mich, der ich viele Nächte hindurch darüber gebrütet, der ich jeden Satz wieder ausgebaut, jeden Gedanken vervollständigt habe.

 

Und Sie glauben den Sinn wiedergefunden zu haben?

 

Ich bin dessen gewiß; Sie sollen selbst urteilen! Vernehmen Sie aber zuerst die Geschichte dieses Papiers!

 

Still! rief Dantes; Tritte! – man naht – ich gehe.

 

Glücklich, der Geschichte und der Erläuterung zu entgehen, die ihm, wie er meinte, unfehlbar das Unglück seines Freundes bestätigen würden, schlüpfte Dantes in den engen Gang, während Faria, sich mit aller Macht aufraffend, mit einem Fuße die Platte zurückstieß, die er mit einer Matte bedeckte.

 

Es war der Gouverneur, dem der Kerkermeister über Farias Unfall berichtet hatte, und der sich selbst von dem Zustand des Gefangenen überzeugen wollte. Faria empfing ihn sitzend, vermied jede verräterische Gebärde, und so gelang es ihm, vor dem Gouverneur die Lähmung zu verbergen, die bereits die Hälfte seines Körpers ergriffen hatte. Er befürchtete hauptsächlich, der Gouverneur könnte ihn aus Mitleid in ein gesünderes Gefängnis bringen lassen und dadurch von seinem jungen Gefährten trennen. Seine Furcht war jedoch unbegründet, und der Gouverneur entfernte sich, überzeugt, sein armer Narr, für den er im Grunde seines Herzens eine gewisse Teilnahme hegte, sei nur von einer leichten Unpäßlichkeit heimgesucht.

 

Mittlerweile suchte Edmond, auf seinem Bette sitzend und den Kopf in seinen Händen, seine Gedanken zu sammeln; alles schien an Faria, seitdem er ihn kannte, so vernünftig, so groß und so logisch, daß er gar nicht fassen konnte, wie diese sonst allgemeine Klarheit der Erkenntnis in dem einen Punkte, nämlich in dem Wahn eines Schatzes, völlig versage.

 

Dantes blieb den ganzen Tag in seinem Kerker, ohne daß er zu seinem Freunde zurückzukehren wagte. Er wollte so den Augenblick verschieben, wo er die für ihn entsetzliche Gewißheit erlangen sollte, daß der Abbé ein Narr sei. Doch gegen Abend, nach der Stunde des gewöhnlichen Besuches, versuchte es Faria, als er den jungen Mann nicht zurückkehren sah, seinerseits den Raum zurückzulegen, der ihn von demselben trennte. Edmond schauderte, als er hörte, welche schmerzlichen Anstrengungen der Greis machte, um sich fortzuschleppen; sein Bein war lahm, und er konnte sich nicht mehr mit seinem Arme helfen. Edmond mußte ihn heraufziehen, denn er hätte sonst nie aus der schmalen Öffnung, die in Dantes‘ Kerker führte, herauskommen können.

 

Ich verfolge Sie mit unbarmherziger Ausdauer, sagte Faria mit einem von Wohlwollen strahlenden Lächeln; Sie glaubten meiner Freigebigkeit entgehen zu können, aber dem wird nicht so sein. Hören Sie also!

 

Edmond sah, daß er nicht ausweichen konnte; er ließ den Greis auf seinem Bett sitzen und setzte sich zu ihm auf seinen Schemel.

 

Sie wissen, sagte der Abbé, daß ich der Sekretär, der Vertraute, der Freund des Grafen Spada, des letzten der Fürsten dieses Namens, war. Ich verdanke diesem guten Herrn das Glück, das ich in diesem Leben genossen habe. Er war nicht reich, obgleich der Reichtum seiner Familie sprichwörtlich war, und ich oft sagen hörte: Reich wie ein Spada. Aber er lebte und starb im Rufe des Überflusses. Sein Palast wurde mir zum Paradies. Ich unterrichtete seine Neffen, die starben, und als er allein auf der Welt war, gab ich ihm dadurch, daß ich nur für ihn und ganz und gar nach seinem Willen lebte, zurück, was er seit zehn Jahren für mich getan hatte.

 

Das Haus des Grafen hatte bald keine Geheimnisse mehr für mich. Oft sah ich den Gebieter emsig in alten Büchern nachschlagen und Familienhandschriften durchwühlen. Als ich ihm eines Tages wegen der unnützen Nachtwachen Vorwürfe machte, schaute er mich bitter lächelnd an und schlug ein Buch auf, das die Geschichte der Stadt Rom enthielt. Hier, im 20. Kapitel, das vom Leben des Papstes Alexander VI. handelte, standen folgende Zeilen, die ich nie habe vergessen können:

 

Die großen Kriege der Romagna waren beendigt; Cäsar Borgia brauchte nach Beendigung seiner Eroberungskriege Geld, um ganz Italien zu erkaufen; sein Vater, der Papst, hatte ebenfalls Geld nötig, um mit dem König von Frankreich, Ludwig XII., der trotz seiner letzten Unfälle immer noch mächtig war, fertig zu werden. Es handelte sich also darum, durch eine gute Spekulation Mittel zu gewinnen, was in dem armen, erschöpften Italien eine schwierige Sache war.

 

Seine Heiligkeit hatte einen Gedanken, sie beschloß, zwei Kardinäle zu ernennen. Wählte der heilige Vater zwei vornehme und besonders zwei reiche Personen Roms, so ergab sich für ihn folgender Gewinn: Zuerst hatte er die wertvollen Stellen und Ämter zu verkaufen, in deren Besitz die beiden zukünftigen Kardinäle bisher waren; sodann konnte er auf einen glänzenden Preis für den Verkauf der beiden Kardinalshüte rechnen. Der Papst und Cäsar Borgia suchten vor allem die beiden zukünftigen Kardinäle aus; es waren Giovanni Rospigliosi, der für sich allein vier von den höchsten Würden des heiligen Stuhles inne hatte, und Cäsar Spada, einer der edelsten und reichsten Römer. Beide fühlten den Wert einer solchen Gunst des Papstes; sie waren ehrgeizig, und es floßen 800 000 Taler in die Kassen der Spekulanten.

 

Nachdem der Papst Rospigliosi und Spada mit Schmeicheleien überhäuft und ihnen die Insignien der Kardinalswürde übertragen hatte, lud er sie in Gemeinschaft mit Cäsar Borgia zum Mittagsmahle ein. In Bezug auf dieses Mahl bestand eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem heiligen Vater und seinem Sohne. Cäsar dachte, man könnte hierbei eines von den Mitteln gebrauchen, die er stets für seine innigsten Freunde bereit hielt: nämlich einmal den berüchtigten Schlüssel, mit dem man den Geladenen aufforderte, einen gewissen Schrank zu öffnen. Dieser Schlüssel hatte eine kleine eiserne Spitze – scheinbar infolge der Nachlässigkeit des Verfertigers. Wandte man Gewalt an, um den Schrank zu öffnen, dessen schwieriges Schloß sonst nicht nachgab, so stach man sich mit dieser Spitze und starb am andern Tage. Sodann stand noch der Ring mit dem Löwenkopfe zur Verfügung, den Cäsar an den Finger steckte, wenn er gewisse Händedrücke gab. Der Löwe biß in die Oberhaut dieser des Drucks für würdig erachteten Hände, und der Biß hatte nach vierundzwanzig Stunden den Tod zur Folge. Cäsar Borgia schlug nun seinem Vater vor, die Kardinäle entweder den Schrank öffnen zu lassen, oder jedem von ihnen einen herzlichen Händedruck zu geben. Aber Alexander VI. erwiderte ihm: Es soll uns nicht auf ein Mittagsmahl ankommen, wenn es sich um die vortrefflichen Kardinäle Spada und Rospigliosi handelt. Eine innere Stimme sagt mir, daß wir das Geld dafür schon wieder herausschlagen werden. Überdies vergeßt Ihr, Cäsar, daß eine Unverdaulichkeit sogleich wirkt, während ein Stich oder ein Biß erst nach einem oder zwei Tagen ihre Folgen haben.

 

Cäsar fügte sich diesen Gründen, und die Kardinäle wurden zum Mittagsessen eingeladen. Man bereitete die Tafel in einer reizenden Villa, die der Papst unfern von Rom besaß. Ganz betäubt von seiner neuen Würde, machte Rospigliosi seinen Magen bereit und setzte seine beste Miene auf; Spada aber, ein kluger Mann, der einzig und allein seinen Neffen, einen jungen Kapitän, liebte, machte sein Testament. Er ließ sodann seinem Neffen sagen, er möge ihn in der Gegend der Villa erwarten; aber es scheint, der Diener fand ihn nicht. Spada begab sich gegen zwei Uhr nach der Villa. Der Papst erwartete ihn, und das erste Gesicht, das dem neuen Kardinal in die Augen viel, war das seines herrlich geschmückten Neffen, an den Cäsar Borgia alle möglichen Artigkeiten verschwendete.

 

Spada erbleichte, und Cäsar, der ihm einen Blick voll Ironie zuwarf, ließ ihn merken, daß er alles vorhergesehen habe. Man speiste. Spada konnte nur seinen Neffen fragen: Hast du meine Botschaft erhalten? Der Neffe verneinte und begriff vollkommen das Gewicht dieser Frage. Es war zu spät, denn er hatte bereits ein Glas vortrefflichen, von dem Mundschenken des Papstes für ihn besonders aufgestellten Wein getrunken. Spada sah in demselben Augenblick eine andere Flasche kommen, von der man ihm gastfreundlich anbot. Eine Stunde nachher erklärte ein Arzt, beide seien vom Genuß giftiger Pilze gestorben. Spada starb auf der Schwelle der Villa, der Neffe verschied an seiner Haustür.

 

Sogleich fielen Cäsar und der Papst, unter dem Vorwande, die Papiere untersuchen zu müssen, über die Erbschaft her. Aber diese Erbschaft bestand nur aus einem Stück Papier, auf das Spada geschrieben hatte: Ich vermache meinem Neffen meine Kisten, meine Bücher, darunter mein vergoldetes Brevier, mit dem Wunsche, daß er mich im Andenken behalten möge. Die Erben suchten überall, bewunderten das Brevier, durchsuchten, ja zertrümmerten alle Schränke und Kästen, in denen sie etwas Wertvolles vermuteten, und fanden staunend, daß der reiche Spada in Wirklichkeit der ärmste aller Oheime war; nirgends ein Schatz, außer den in der Bibliothek oder in den Laboratorien enthaltenen Schätzen der Wissenschaft. Das war alles. Cäsar und sein Vater suchten, wühlten, spähten; man fand nichts oder nur wenig; für tausend Taler Goldschmiedearbeiten und für ungefähr ebensoviel gemünztes Silber. Der Neffe hatte jedoch, als er auf der Schwelle seines Hauses zusammenbrach, Zeit gehabt, seiner Frau zuzurufen: Suche unter den Papieren meines Oheims, es ist ein wirkliches Testament vorhanden.

 

Man suchte vielleicht noch emsiger, als es die erhabenen Erben getan hatten, aber es war vergebens. Es waren noch zwei Paläste und eine Villa hinter dem Palatino vorhanden; zu jener Zeit hatten jedoch die unbeweglichen Güter einen geringen Wert, und die beiden Paläste und die Villa verblieben der Familie als der Raubgier des Papstes und seines Sohnes unwürdig. Monate und Jahre verliefen, Alexander VI. starb vergiftet, man weiß durch welchen Mißgriff; zugleich mit ihm vergiftet, wechselte Cäsar nur die Haut, wie eine Schlange, und nahm eine neue Hülle an, worauf das Gift Flecken, denen ähnlich, die man an einem Tigerfelle sieht, zurückließ. Als er sich endlich gezwungen sah, Rom zu meiden, wurde er, ein fast vergessener Mann, in einem nächtlichen Scharmützel getötet. Nach dem Tode des Papstes und der Verbannung seines Sohnes erwartete man allgemein, die Familie würde wieder in fürstlichem Glanze erscheinen, den sie zur Zeit des Kardinals besessen hatte; aber dem war nicht so. Die Spada blieben in einem zweifelhaften Wohlstande, ein beständiges Geheimnis ruhte auf dieser dunkeln Angelegenheit, und es ging das Gerücht, Cäsar, ein besserer Politiker, als sein Vater, habe dem Papst das Vermögen des Kardinals gestohlen.

 

Scheint Ihnen dies, unterbrach sich Faria lächelnd, sehr unsinnig?

 

Oh! mein Freund, sagte Dantes, es kommt mir im Gegenteil vor, als läse ich eine interessante Chronik. Fahren Sie fort, ich bitte Sie!

 

Die Familie gewöhnte sich an diesen Zustand der Dinge. Jahre vergingen. Von den Nachkommen wurden die einen Soldaten, die andern Diplomaten; diese Geistliche, jene Bankiers; die einen bereicherten sich, die andern richteten sich vollends zu Grunde. Ich komme zu dem letzten der Familie, zu dem Grafen Spada, dessen Sekretär ich war. Oft hörte ich ihn über das Mißverhältnis seines Ranges und seines Vermögens sich beklagen und riet ihm deshalb, das wenige, was ihm blieb, in Leibrenten anzulegen; er folgte diesem Rate und verdoppelte dadurch seine Einkünfte. Das berühmte Brevier war in der Familie geblieben, und der Graf Spada besaß es damals, da es immer als Reliquie vom Vater auf den Sohn übergegangen war. Es war ein mit den schönsten gotischen Figuren ausgemaltes Buch und so schwer an Gold, daß es an großen Festtagen stets ein Diener vor dem Kardinal hertrug.

 

Bei dem Anblick von Papieren aller Art, von Verträgen und Pergamenten, die man im Familienarchiv aufbewahrte, und die insgesamt von dem vergifteten Kardinal herrührten, machte ich es mir, wie zwanzig Sekretäre vor mir, zur Aufgabe, diese gewaltigen Stöße nach dem Testament zu durchforschen. Trotz meiner emsigen und gewissenhaften Nachsuchungen fand ich durchaus nichts; alles war vergeblich; ich blieb erfolglos und der Graf arm. Mein Patron starb. Er hatte von seiner Leibrente seine Familienpapiere, seine aus fünftausend Bänden bestehende Bibliothek und sein berühmtes Brevier ausgenommen; er vermachte mir dies alles nebst tausend römischen Talern, die er in barem Gelde besaß, unter der Bedingung, alljährlich Messen lesen zu lassen und einen Stammbaum, sowie eine Geschichte seines Hauses zu entwerfen, was ich auch gewissenhaft ausführte. Im Jahre 1807, einen Monat vor meiner Verhaftung, am 25. Dezember, las ich zum tausendsten Male die Familienpapiere, die ich in Ordnung brachte. Da der Palast nunmehr einem Fremden gehörte, war ich im Begriff, von Rom zu scheiden, um mich in Florenz niederzulassen, wohin ich meine Bibliothek und mein berühmtes Brevier mitnehmen wollte, als ich, ermüdet durch das anhaltende Lesen und mißgestimmt durch ein unverdauliches Mittagsessen, meinen Kopf in beide Hände fallen ließ und entschlummerte. Es war drei Uhr nachmittags. Ich erwachte, als die Uhr sechs schlug. Sobald ich den Kopf emporhob, sah ich, daß ich mich in der tiefsten Finsternis befand. Ich klingelte, damit man mir Licht bringe, niemand kam. Nun beschloß ich, mich selbst zu bedienen, nahm mit einer Hand die Kerze, die bereit stand, und suchte mit der andern ein Papier, das ich an dem im Herde noch glimmenden Feuer anzuzünden gedachte. Aber aus Furcht, in der Dunkelheit ein kostbares Papier statt eines unnützen zu nehmen, zögerte ich, als mir einfiel, daß ich in dem berühmten Brevier, das auf dem Tische neben mir lag, ein altes vergilbtes Papier gesehen hatte, welches ohne Zweifel als Buchzeichen gebraucht und Jahrhunderte hindurch aus Ehrfurcht von den Erben an seinem Platze gelassen worden war. Ich suchte tastend nach diesem Papier, fand es, wickelte es zusammen, streckte es nach der Flamme aus und zündete es an; doch unter meinen Fingern sah ich, je mehr das Feuer zunahm, wie durch einen Zauber gelbliche Schriftzeichen auf dem weißen Papier hervorkommen und auf dem Blatte erscheinen. Da erfaßte mich der Schrecken; ich drückte mit beiden Händen das Papier zusammen, erstickte das Feuer und zündete sodann die Kerze unmittelbar am Herd an; mit einer nicht zu schildernden Bewegung öffnete ich das zerknitterte Schreiben und erkannte, daß die Buchstaben, die erst in der Hitze zum Vorschein kamen, mit einer geheimnisvollen Tinte geschrieben worden waren; etwas über ein Drittel des Papiers hatte die Flamme schon verzehrt. Es ist das Papier, das Sie heute morgen gelesen haben, Dantes; lesen Sie es noch einmal, und ich werde Ihnen dann die abgebrochenen Sätze vervollständigen.

 

 

Und triumphierend bot Faria das Papier Dantes, der diesmal gierig die mit einer rötlichen, rostähnlichen Tinte geschriebenen Worte las:

 

»Heute, den 25. April 1498 zum

Alexander VI. und befürchtend, nicht zu

ließ, wolle sie von mir erben und be

und Bentivoglio, welche an Gift

meinem Universalerben, daß ich vergr

mit mir besucht hat, nämlich in

Insel Monte Christo, alles, was ich

Diamanten, Juwelen, bes

dieses Schatzes, der sich auf zwei Mil

allein bekannt ist, und daß er ihn find
zwanzigsten Stein von der Bucht öst

Zwei Oeffnungen sind in diesen Grott

Der Schatz liegt in der entfernt

und diesen Schatz vermache ich ihm und trete

einzigen Erben.

 

25. Apr. 1498.

 

Cä …

 

Nun lesen Sie das andere Papier, sagte der Abbé und reichte Dantes ein zweites Blatt mit Bruchstücken von Zeilen.

 

Und nun halten Sie die Bruchstücke aneinander und urteilen Sie selbst, fügte er hinzu, als er sah, daß Dantes zu der letzten Zeile gelangt war.

 

Dantes gehorchte; aneinander gehalten, gaben die beiden Bruchstücke folgendes:

 

»Heute, den 25. April 1498, zum … Mittagessen eingeladen

von Seiner Heiligkeit Alexander Vl. und befürchtend, nicht zu …

frieden damit, daß sie mich meinen Hut bezahlen ließ, wolle sie von

mir erben und be … reite mir das Schicksal der Kardinäle Caprara

und Bentivoglio, welche an Gift … starben, erkläre ich meinem

Neffen Guido Spada, meinem Universalerben, daß ich vergr … aben

habe, an einem Orte, den er kennt, weil er ihn mit mir besucht hat,

nämlich in … den Grotten der kleinen Insel Monte Christo, alles,

was ich … an Goldstangen, gemünztem Golde, Edelsteinen, Diamanten,

Juwelen bes … aß, daß das Vorhandensein dieses Schatzes, der sich

auf zwei Mil … lionen röm. Taler beläuft, mir allein bekannt

ist, und daß er ihn find … en wird, wenn er den zwanzigsten Stein

von der Bucht öst … lich angefangen weggehoben hat. Zwei Öffnungen

sind in diesen Grotten … angebracht worden. Der Schatz

liegt in der entfernt … esten Ecke der zweiten; und diesen Schatz

vermache ich ihm und trete … ich ihm in das volle Eigentum ab,

als meinem einzigen Erben.

 

25. Apr. 1498.

 

Cäsar Spada

 

Nun, begreifen Sie endlich? fragte Faria.

 

Ja, tausendmal ja. Wer hat es wieder so hergestellt?

 

Ich, der mit Hilfe des übriggebliebenen Bruchstückes den Rest erriet, indem ich die Länge der Zeilen mit denen des Papiers maß und in den verborgenen Sinn mittels des dem Auge Sichtbaren eindrang.

 

Und was taten Sie, als Sie diese Überzeugung erlangt zu haben glaubten?

 

Ich wollte abreisen und reiste auch sogleich ab, wobei ich den Anfang meiner großen Arbeit über ein einiges Königreich Italien mit mir nahm; aber die kaiserliche Politik, die damals, im Widerspruch mit der früheren Absicht Napoleons, seitdem ihm ein Sohn geboren ward, die Teilung der Provinzen wollte, hatte seit langer Zeit die Augen auf mich gerichtet. Meine eilige Abreise, deren Ursache man nicht entfernt ahnte, erregte Verdacht, und ich wurde in dem Augenblicke, wo ich mich in Piombino einschiffte, verhaftet. Nun, mein Freund, fuhr Faria fort, indem er Dantes mit einem beinahe väterlichen Ausdrucke anschaute, nun wissen Sie soviel als ich. Wenn wir uns je miteinander flüchten, so gehört die Hälfte meines Schatzes Ihnen; sterbe ich hier und Sie fliehen allein, so gehört er Ihnen ganz.

 

Aber, fragte Dantes zögernd, ist in der Welt nicht irgend jemand, der mehr rechtlichen Anspruch auf diesen Schatz hätte, als wir?

 

Nein, nein, beruhigen Sie sich, die Familie ist völlig ausgestorben. Der letzte Graf von Spada hat mich überdies zu seinem Erben eingesetzt. Indem er mir dieses symbolische Brevier vermachte, vermachte er mir auch, was es enthielt. Nein, nein, seien Sie unbesorgt! Wenn wir von diesem Vermögen Besitz ergreifen, können wir es ohne Gewissensbisse genießen.

 

Und Sie sagen, dieser Schatz belaufe sich … ?

 

Auf zwei Millionen römische Taler, also ungefähr dreizehn Millionen Franken.

 

Unmöglich! rief Dantes, erschrocken über diese ungeheure Summe.

 

Unmöglich! Und warum? versetzte der Greis. Die Familie der Spada war eine der ältesten und mächtigsten Familien des fünfzehnten Jahrhunderts. Überdies sind in Zeiten, denen es gänzlich an Spekulation und Gewerbefleiß gebricht, solche Anhäufungen von Gold und Juwelen nicht selten; noch heutigen Tages gibt es römische Familien, welche fast Hungers sterben und gegen eine Million in Diamanten und Edelsteinen besitzen, die sich durch Majorat vererbt haben und von ihnen nicht veräußert werden dürfen.

 

Edmond glaubte zu träumen: er schwebte zwischen Zweifel und Freude.

 

Ich habe die Sache nur so lange vor Ihnen geheim gehalten, fuhr Faria fort, einmal um Sie zu prüfen und dann um Sie zu überraschen. Wären wir vor meinem Starrsuchtsanfall geflohen, so hätte ich Sie nach Monte Christo geführt; nun aber, fügte er mit einem Seufzer hinzu, werden Sie mich führen. Wie, Dantes, Sie danken mir nicht?

 

Dieser Schatz gehört Ihnen, mein Freund, sagte Dantes; er gehört Ihnen allein, und ich habe kein Recht darauf; ich bin kein Verwandter von Ihnen.

 

Sie sind mein Sohn, Dantes, rief der Greis. Sie sind das Kind meiner Gefangenschaft. Mein Stand verurteilt mich zum Zölibat; Gott hat Sie mir geschickt, um zugleich den Mann, der nicht Vater, und den Gefangenen, der nicht frei sein konnte, zu trösten.

 

Faria streckte den Arm, der ihm noch ungelähmt geblieben war, nach Dantes aus, und dieser fiel ihm weinend um den Hals.

 

Der dritte Anfall.

 

Der dritte Anfall.

 

Nun, da dieser Schatz das zukünftige Glück dessen sichern konnte, den der Abbé wirklich wie seinen Sohn liebte, hatte er in seinen Augen einen doppelten Wert. Jeden Tag redete er davon und setzte Dantes auseinander, was ein Mensch in unseren Zeiten mit einem Vermögen von dreizehn bis vierzehn Millionen seinen Freunden Gutes tun könnte. Dann verfinsterte sich Dantes‘ Antlitz, denn sein Racheschwur trat vor sein Inneres, und er bedachte, wieviel Schlimmes in unseren Zeiten ein Mensch mit einem Vermögen von dreizehn bis vierzehn Millionen seinen Feinden zuzufügen vermöchte.

 

Der Abbé kannte die Insel Monte Christo nicht, aber Dantes kannte sie; er war oft an dieser Insel vorübergekommen, die 25 Meilen von Pianosa zwischen Korsika und der Insel Elba liegt, und einmal hatte er daselbst auch angehalten. Die Insel ist völlig öde; sie ist ein fast regelmäßiger Felskegel vulkanischen Ursprungs. Dantes entwarf Faria einen Plan der Insel, und Faria gab Dantes Ratschläge über die Mittel, wie er den Schatz am sichersten auffinden könnte.

 

Aber Dantes war bei weitem nicht so enthusiastisch und vertrauensvoll wie der Greis. Allerdings hatte er sich nun überzeugt, daß Faria kein Verrückter war, und die Art, wie er die Entdeckung gemacht hatte, der zufolge man ihn für einen Wahnwitzigen hielt, vermehrte noch seine Bewunderung für ihn. Er konnte jedoch nicht glauben, daß das vergrabene Gut, wenn überhaupt jemals, jetzt noch vorhanden sei.

 

In dieser Zeit traf die beiden Unglücklichen ein neues Unglück. Die Galerie am Rande des Meeres, die seit langer Zeit einzustürzen drohte, war wieder aufgebaut worden; man hatte die Schichten wiederhergestellt und mit Felsblöcken das von Dantes bereits halb gefüllte Loch verstopft; ohne diese Vorsichtsmaßregel wäre ihr Unglück noch viel größer gewesen, denn man hätte ihren Entweichungsversuch entdeckt und sie unzweifelhaft getrennt.

 

Sie sehen, sagte Dantes mit sanfter Traurigkeit, daß mir Gott sogar das Verdienst dessen, was Sie meine Ergebenheit für Sie nennen, nehmen will. Ich habe Ihnen versprochen, ewig bei Ihnen zu bleiben, und es steht mir nun nicht mehr frei, mein Versprechen zu halten. Ich werde den Schatz ebensowenig haben, wie Sie, denn weder ich noch Sie sollen von hier wegkommen. Übrigens mein wahrer Schatz, Freund, der mir unter den düsteren Mauern dieses Gefängnisses zu teil ward, ist Ihre Gegenwart, ist unser tägliches fünf- bis sechsstündiges Beisammensein. Es sind die Verstandesstrahlen, die Sie in mein Gehirn ergossen, es sind die Sprachen, die Sie in meinen Geist gepflanzt haben, damit haben Sie mich reich und glücklich gemacht. Glauben Sie mir und trösten Sie sich; dies ist für mich mehr wert, als Tonnen Goldes und Kisten voll Diamanten. Sie so lange als möglich bei mir zu haben, Ihre beredte Stimme zu hören, meinen Geist zu schmücken, mein Gemüt zu stählen, mich zu Großem fähig zu machen für den Fall, daß ich je frei werde: das ist mein Vermögen, und jedenfalls kein eingebildetes, wie vielleicht Ihr Schatz; ich habe es wirklich von Ihnen erworben, und alle Fürsten der Erde vermöchten es mir nicht zu entreißen.

 

Die darauffolgenden Tage waren für die Leidensgenossen, wenn nicht gerade glückliche, so doch kurzweilige Tage. Faria, der so lange Zeit das tiefste Stillschweigen über den Schatz beobachtet hatte, kam, wie gesagt, jetzt bei jeder Gelegenheit darauf zu sprechen. Er blieb, wie er es vorhergesehen, am rechten Arme und am linken Beine gelähmt und verlor beinahe jede Hoffnung, jemals wieder davon Gebrauch machen zu können: aber er träumte beständig für seinen jungen Gefährten entweder von einer Befreiung oder einer Entweichung, und er ergötzte sich dann daran für ihn. Aus Furcht, das Papier könnte eines Tages verloren gehen, nötigte er Dantes, die Aufschrift auswendig zu lernen. Zuweilen gingen ganze Stunden damit hin, daß Faria Dantes Lehren gab, die ihm am Tage seiner Freiheit ersprießlich sein konnten.

 

In einer Nacht erwachte Edmond plötzlich und glaubte seinen Namen gehört zu haben. Er öffnete die Augen und suchte die dichte Finsternis zu durchdringen. Sein Name oder vielmehr eine klagende Stimme, die sich mühte, seinen Namen auszusprechen, drang an seine Ohren. Er erhob sich angstvoll in seinem Bette und horchte. Die Klagelaute kamen aus dem Kerker seines Gefährten.

 

Großer Gott! murmelte Dantes, sollte es … ?

 

Und er rückte sein Bett ab, zog den Stein heraus, eilte in den Gang und gelangte zu dem entgegengesetzten Ende; die Platte war aufgehoben. Bei dem Schimmer der flackernden Lampe, von der wir früher gesprochen haben, sah Edmond den Greis bleich, noch stehend und sich an dem Holze seines Bettes anklammernd. Seine Züge waren verstört durch die Dantes bereits bekannten Symptome, die ihn so sehr erschreckt hatten, als er sie zum erstenmal wahrnahm.

 

Nun, mein Freund, sagte Faria gelassen, nicht wahr, Sie begreifen, und ich brauche Ihnen nichts zu erklären?

 

Edmond stieß einen schmerzlichen Schrei aus, stürzte, völlig den Kopf verlierend, nach der Tür und rief um Hilfe.

 

Faria hatte noch die Kraft, ihn am Arme zurückzuhalten.

 

Still! sagte er, oder Sie sind verloren. Wir wollen nur an Sie denken, mein Freund, um Ihre Gefangenschaft erträglich oder Ihre Flucht möglich zu machen. Sie brauchten Jahre, um all das wiederherzustellen, was ich hier gefertigt habe und was auf der Stelle zerstört würde, wenn unsere Wächter von unserem Einverständnis Kenntnis erhielten. Seien Sie übrigens unbesorgt, mein Freund! Das Gefängnis, das ich verlasse, wird nicht lange leer bleiben; ein anderer Unglücklicher wird meinen Platz einnehmen. Diesem andern werden Sie wie ein rettender Engel erscheinen. Vielleicht ist er jung, stark und geduldig wie Sie und kann Sie in Ihrer Flucht unterstützen, während ich Sie hinderte. Sie werden nicht mehr einen halben Leichnam an sich gefesselt haben, der alle Ihre Bewegungen lähmte. Gott tut offenbar endlich etwas für Sie; er gibt Ihnen mehr, als er Ihnen nimmt, und es ist Zeit, daß ich sterbe.

 

Edmond vermochte nur die Hände zu falten und auszurufen: Oh! mein Freund, mein Freund, schweigen Sie!

 

Dann raffte er seinen gesunkenen Mut wieder zusammen und sagte: Oh! ich habe Sie bereits einmal gerettet und werde Sie gewiß zum zweitenmale retten.

 

Er hob den Fuß des Bettes auf und zog die von dem roten Saft noch halb volle Flasche hervor.

 

Sehen Sie, es ist noch von dem rettenden Tranke übrig. Geschwind, sagen Sie mir, was habe ich zu tun?

 

Es ist keine Hoffnung mehr vorhanden, erwiderte Faria, den Kopf schüttelnd, doch gleichviel, Gott will, daß der Mensch, den er geschaffen hat und in dessen Herzen er die Liebe zum Leben so tiefe Wurzeln schlagen ließ, alles tue, was er vermag, um dieses zuweilen so peinliche, stets aber so teure Dasein zu erhalten.

 

Oh! ja! ja! rief Dantes, und ich werde Sie retten.

 

Wohl! versuchen Sie es, die Kälte übermannt mich, ich fühle, wie das Blut meinem Gehirn zuströmt; der furchtbare Schauder, der meine Zähne klappern läßt und meine Knochen auseinanderzureißen scheint, beginnt an meinem Körper zu rütteln. In fünf Minuten wird das Übel ausbrechen, in einer Viertelstunde bin ich eine Leiche.

 

Oh! rief Dantes, das Herz von Schmerzen zerrissen.

 

Sie machen es wie das erstemal, nur warten Sie nicht so lange! Alle Federn des Lebens sind schon mächtig abgenutzt, und der Tod, fuhr er, auf seine gelähmten Glieder deutend, fort, wird nur noch die halbe Arbeit haben. Sehen Sie, nachdem Sie mir zwölf Tropfen statt zehn eingeflößt, daß ich nicht zu mir komme, so flößen Sie mir den Rest ein. Nun tragen Sie mich auf mein Bett, denn ich vermag nicht mehr zu stehen!

 

Edmond nahm den Greis in seine Arme und legte ihn auf sein Bett.

 

Mein Freund, sagte Faria, einziger Trost meines elenden Lebens, den mir der Himmel ein wenig spät gegeben, aber dennoch gegeben, als ein unschätzbares Geschenk, wofür ich ihm danke! In dem Augenblick, wo wir uns für immer trennen, wünsche ich Ihnen alles Glück, alles Wohlergehen, das Sie verdienen. Mein Sohn, ich segne Sie.

 

Der junge Mann warf sich auf die Knie und stützte den Kopf an das Bett des Greises.

 

Hören Sie wohl, was ich Ihnen in diesem Augenblicke sage. Der Schatz der Spada ist vorhanden; Gott läßt vor meinen Augen alle Hindernisse schwinden. Ich sehe ihn im Hintergrund der zweiten Grotte, meine Augen durchdringen die Tiefen der Erde und sind geblendet von so vielen Reichtümern … Wenn Ihnen die Flucht gelingt, so erinnern Sie sich, daß der alte Abbé, den die ganze Welt für verrückt hielt, es nicht war. Eilen Sie nach Monte Christo, benutzen Sie unser Vermögen, Sie haben genug gelitten.

 

Eine heftige Erschütterung unterbrach den Greis. Dantes richtete den Kopf auf und sah, wie seine Augen rot unterliefen; es war, als stiege eine Blutwoge aus seiner Brust nach seiner Stirn auf.

 

Gott befohlen, murmelte der Greis, indem er krampfhaft nach der Hand des jungen Mannes griff; Gott befohlen!

 

Oh! noch nicht, noch nicht, rief Dantes. Oh, mein Gott, verlaß uns nicht, steh ihm bei …

 

Und mit einer letzten Anstrengung, wobei er alle seine Kräfte zusammenraffte, sich erhebend, stieß der Abbé seine letzten Worte hervor: Monte Christo! Vergessen Sie Monte Christo nicht!

 

Danach fiel er auf sein Bett zurück.

 

Die Krise war furchtbar. Als Dantes glaubte, es sei Zeit, drückte er die Zähne auseinander, die weniger Widerstand boten, als das erstemal, zählte zwölf Tropfen und wartete; die Phiole enthielt ungefähr noch das Doppelte von dem, was er eingeflößt hatte. Er wartete zehn Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, nichts rührte sich. Zitternd, mit starrem Haar und von kaltem Schweiß bedeckter Stirn zählte er die Sekunden an den Schlägen seines Herzens.

 

Er dachte, nun sei der Augenblick gekommen, um den letzten Versuch zu machen, und flößte ihm den ganzen Trank ein. Das Mittel brachte eine galvanische Wirkung hervor, ein heftiges Zittern schüttelte die Glieder des Greises, seine Augen öffneten sich, er stieß einen Seufzer aus, der einem Schrei glich; dann kehrte der bebende Körper allmählich zur Unbeweglichkeit zurück; die Augen allein blieben offen. Eine halbe Stunde, eine Stunde, anderthalb Stunden vergingen. Während dieser bangen Zeit fühlte Edmond, wie nach und nach das immer dumpfere und schwächere Schlagen dieses Herzens erlosch. Endlich lebte nichts mehr, das letzte Beben des Herzens hörte auf, das Gesicht wurde bleifarbig, die Augen blieben offen, aber der Blick verglaste sich.

 

Es war sechs Uhr morgens, der Tag fing an zu grauen, und sein matter Strahl ließ das sterbende Licht der Lampe erbleichen. Seltsame Lichter zogen über das Antlitz des Leichnams hin und gaben ihm von Zeit zu Zeit einen Anschein von Leben. Solange dieser Streit zwischen Tag und Nacht währte, konnte Dantes noch zweifeln; aber sobald der Tag gesiegt hatte, begriff er, daß er mit einer Leiche allein war. Da bemächtigte sich seiner ein heftiger, unüberwindlicher Schrecken; er löschte die Lampe aus, verbarg sie sorgfältig und entfloh, indem er die Platte so gut als möglich wieder über seinem Haupte einzufügen suchte. Es war übrigens Zeit, denn der Kerkermeister kam unmittelbar nach ihm.

 

Dantes erfaßte nun eine unsägliche Ungeduld, zu erfahren, was in dem Kerker seines Freundes vorgehe. Er kehrte in den Gang zurück und kam zu rechter Zeit, um die Stimme des Schließers zu hören, der nach Hilfe rief. Bald traten die andern Schließer ein; dann vernahm man den schweren Tritt der Soldaten. Hinter den Soldaten kam der Gouverneur. Edmond hörte das Geräusch des Bettes, auf dem man den Leichnam hin und her bewegte; er hörte, wie der Gouverneur Befehl gab, ihm Wasser ins Gesicht zu spritzen, und als er sah, daß der Gefangene bei der Benetzung nicht zu sich kam, den Arzt holen ließ. Der Gouverneur entfernte sich, und einige Worte des Mitleids, mit spöttischem Lachen vermischt, drangen zu dem Ohre des Lauschers.

 

Seht ihr, sagte der eine, der Narr hat sich zu seinen Schätzen begeben; glückliche Reise!

 

Mit allen seinen Millionen wird er nicht einmal ein Leintuch bezahlen können, sagte der andere.

 

Oh! versetzte ein dritter, die Leintücher vom Kastell If kosten nicht viel.

 

Vielleicht wird man einigen Aufwand für ihn machen, sagte der, welcher zuerst gesprochen hatte. Es wird ihm vielleicht die Ehre des Sackes zuteil werden.

 

Bald erloschen die Stimmen, und es kam Edmond vor, als ob die Leute die Zelle verließen. Er wagte es jedoch nicht, hineinzugehen, denn man konnte einen Schließer zur Bewachung des Toten zurückgelassen haben. Nach Verlauf einer Stunde belebte sich die Stille durch ein Geräusch, das bald zunahm. Es war der Gouverneur, der, vom Arzte und mehreren Offizieren begleitet, zurückkehrte. Es wurde wieder einen Augenblick still; der Arzt näherte sich offenbar dem Bette und untersuchte den Leichnam. Bald begannen die Fragen. Der Arzt schilderte das Leiden, dem der Kranke unterlegen war, und erklärte ihn für tot. Fragen und Antworten wurden mit einer Gleichgültigkeit gemacht, die Dantes empörte. Es schien ihm, als müßte die ganze Welt für den armen Abbé einen Teil der Zuneigung fühlen, die er für ihn hegte.

 

Was Sie da sagen, tut mir leid, sagte der Gouverneur in Erwiderung auf die Todeserklärung. Er war ein sanfter, harmloser und durch seine Narrheit belustigender Gefangener. Nicht wahr, Sie haben sich nie über ihn zu beklagen gehabt? fragte er den Schließer, der dem Abbé die Lebensmittel zu bringen beauftragt gewesen war.

 

Nie, Herr Gouverneur, antwortete dieser, nie, gar nie; ich habe ihm immer gern zugehört, wenn er mir früher Geschichten erzählte; als meine Frau krank war, hat er mir sogar ein Rezept gegeben, das sie heilte.

 

Ah! ah! rief der Arzt, ich wußte nicht, daß ich es mit einem Kollegen zu tun hatte. Ich hoffe, Herr Gouverneur, fügte er lachend hinzu, Sie werden ihn standesgemäß bestatten.

 

Ja, ja, seien Sie unbesorgt; er soll anständig in dem neuesten Sack, den man finden kann, begraben werden.

 

Neues Kommen und Gehen ließ sich vernehmen; einen Augenblick nachher drang ein Geräusch wie von Leinwand, die aneinander gerieben wird, an Dantes‘ Ohr, das Bett krachte auf seinen Federn, ein schwerer Tritt, wie der eines Mannes, der eine Last aufhebt, drückte auf die Platte, dann krachte das Bett abermals unter der Last, die man ihm zurückgab.

 

Heute abend, sagte der Gouverneur, als man damit zu Ende war.

 

Soll man bei dem Toten wachen? fragte der Schließer.

 

Warum? Man schließt den Kerker, als ob er lebte.

 

Hierauf entfernten sich die Tritte, die Stimmen wurden schwächer, das Geräusch der Tür mit ihrem knarrenden Schlosse und ihren ächzenden Riegeln ließ sich vernehmen. Ein Stillschweigen, düsterer als das der Einsamkeit, ergriff alles, selbst die erstarrte Seele des jungen Mannes. Dann hob er sacht die Platte mit seinem Kopfe auf und warf einen forschenden Blick in die Zelle; sie war leer.

 

Der Friedhof des Kastells If.

 

Der Friedhof des Kastells If.

 

Auf dem Bett sah man einen Sack von grober Leinwand, unter dessen verworrenen Falten sich eine lange, steife Gestalt hervorhob. Somit war alles vorbei; Dantes konnte diese Augen nicht mehr sehen, die offen geblieben waren, als wollten sie über den Tod hinaus schauen; er konnte diese fleißige Hand nicht mehr drücken, die für ihn den Schleier verborgener Dinge gelüftet hatte. Faria, der gute, der hilfreiche Gefährte, an den er sich so innig angeschlossen hatte, war nur noch in seiner Erinnerung vorhanden. Da setzte er sich an den Kopf des Bettes und versank in düstere, bittere Schwermut.

 

Allein! Er war wieder allein! Nicht einmal mehr der Anblick, nicht einmal mehr die Stimme des einzigen menschlichen Wesens, durch das er noch mit der Erde zusammenhing, war ihm, als einziger Trost, geblieben!

 

Wenn ich sterben könnte, sagte er, so ginge ich, wohin er geht, und würde ihn sicherlich finden. Aber wie sterben? Das ist sehr leicht, fuhr er spöttisch lachend fort. Ich bleibe hier, werfe mich auf den ersten, der eintritt, erdrossele ihn, und man guillotiniert mich.

 

Aber da bei den großen Schmerzen, wie bei den schweren Stürmen, der Abgrund sich zwischen zwei Wellengipfeln findet, schrak Dantes vor dem Gedanken an diesen entehrenden Tod zurück und ging plötzlich von seiner Verzweiflung zu einem glühenden Durst nach Leben und Freiheit über.

 

Sterben! Oh nein! Es lohnt sich nicht der Mühe, so viel gelebt, so viel gelitten zu haben, um jetzt zu sterben. Sterben, das war gut, als ich den Entschluß dazu faßte, früher, vor Jahren; doch nun hieße es wahrlich, mein elendes Geschick noch elender machen. Nein, ich will leben, ich will bis zum Ende kämpfen; ich will das Glück, das man mir gestohlen hat, wieder erringen. Ich vergaß, daß ich, ehe ich sterbe, meine Henker zu bestrafen und, wer weiß, vielleicht auch einige Freunde zu belohnen habe; aber nun vergißt man mich hier, und ich werde meinen Kerker nur wie Faria verlassen.

 

Bei diesem Worte blieb Dantes unbeweglich, die Augen starr, wie ein Mensch, der von einem Gedanken erfaßt wird. Plötzlich stand er auf, fuhr mit der Hand nach der Stirn, als ob er den Schwindel hätte, ging einigemal in der Zelle auf und ab und blieb dann wieder vor dem Bette stehen. Als wollte er seinem Geiste keine Zeit lassen, den verzweifelten Gedanken, der ihn gepackt hatte, zu zerstören, neigte er sich über den häßlichen Sack, öffnete ihn mit dem Messer, das Faria gemacht hatte, zog den Leichnam heraus, trug ihn in seine Zelle, legte ihn auf sein Bett, umwickelte den Kopf mit dem linnenen Fetzen, dessen er sich gewöhnlich bediente, bedeckte ihn mit seiner Decke, küßte zum letztenmale die eisige Stirn und drehte den Kopf gegen die Wand, damit der Schließer, wenn er das Abendbrot brächte, glaube, er sei schlafen gegangen, wie er es oft getan hatte. Dann kehrte er in den Gang zurück, zog das Bett an die Wand, ging in das andere Zimmer, holte aus dem Schranke Nadel und Faden, warf seine Lumpen ab, damit man unter der Leinwand das nackte Fleisch fühle, schlüpfte in den ausgeleerten Sack, brachte sich in die Lage, die der Leichnam gehabt hatte, und schloß die Naht wieder von innen. Wäre jemand unglücklicherweise in diesem Augenblick eingetreten, so hätte er sein Herz schlagen hören können.

 

Dantes würde vielleicht bis nach dem Abendbesuche gewartet haben, aber er fürchtete, der Gouverneur möchte bis dahin seinen Entschluß ändern, und man könnte den Leichnam wegnehmen. Dann war seine letzte Hoffnung verloren. In jedem Falle war sein Plan nun festgestellt: Erkannten die Totengräber unterwegs, daß sie einen Lebendigen statt eines Toten trugen, so ließ ihnen Dantes keine Zeit, sich zu besinnen; mit einem kräftigen Messerschnitte öffnete er den Sack von oben bis unten, benutzte ihren Schrecken und entfloh; wollten sie ihn festnehmen, so wehrte er sich mit seinem Messer. Brachten sie ihn bis auf den Friedhof und legten ihn in ein Grab, so ließ er sich mit Erde bedecken; sobald hernach die Totengräber den Rücken gewendet hatten, machte er sich durch die weiche Erde Raum und entfloh. Er hoffte, das Gewicht der Erde würde nicht so groß sein, daß er sie nicht aufheben könnte. Täuschte er sich, war die Erde zu schwer und wurde er dadurch erstickt: desto besser, so war alles vorbei.

 

Dantes hatte seit dem vorhergehenden Tage nichts gegessen; am Morgen hatte er nicht an den Hunger gedacht, und er dachte auch jetzt noch nicht daran. Die erste große Gefahr, die ihm jedoch drohte, war, daß der Schließer, wenn er um sieben Uhr sein Abendbrot brachte, die Verwechslung wahrnahm. Zum Glück hatte Dantes aus menschenfeindlicher Laune oder aus Müdigkeit sehr oft im Bette gelegen, wenn der Schließer kam, und dann setzte dieser gewöhnlich das Brot und die Suppe auf den Tisch und entfernte sich, ohne mit ihm zu sprechen. Aber diesmal konnte der Schließer gegen seine Gewohnheit mit Dantes sprechen wollen, und wenn er sah, daß dieser ihm nicht antwortete, sich dem Bette nähern und alles entdecken.

 

Als sieben Uhr abends herannahte, packte ihn wirklich die Angst. An das Herz gedrückt, suchte die eine Hand dessen Schläge zurückzudrängen, während die andre den Schweiß abwischte, der an den Schläfen herabrieselte; zuweilen durchlief ein Schauer seinen ganzen Körper und preßte ihm das Herz wie in einem eisernen Schraubstock zusammen. Dann glaubte er, er müsse sterben. Aber die Stunden verrannen, ohne eine Bewegung im Kastell herbeizuführen, und Dantes erkannte, daß er dieser ersten Gefahr entgangen war. Das galt ihm als gutes Vorzeichen. Zu der vom Gouverneur bestimmten Stunde ließen sich endlich Tritte auf der Treppe hören. Edmond sah, daß der Augenblick gekommen war, raffte seinen ganzen Mut zusammen und hielt den Atem an sich … und wünschte nur, zugleich auch die hastigen Pulsschläge seiner Arterien zurückhalten zu können.

 

An der Tür machte der doppelte Tritt Halt, und Dantes sagte sich, daß es die beiden Totengräber waren, die ihn holen sollten. Diese Mutmaßung verwandelte sich in Gewißheit, als er das Geräusch hörte, das sie beim Niederstellen der Tragbahre machten. Die Tür öffnete sich, ein verschleiertes Licht drang zu Dantes‘ Augen; durch die Leinwand, die ihn bedeckte, sah er, wie sich zwei Schatten seinem Bette näherten. Ein dritter blieb, eine Stocklaterne in der Hand haltend, an der Tür. Jeder von den beiden Männern, die sich dem Bett genähert hatten, faßte den Sack an einem Ende.

 

Der ist schwer genug für einen so magern Alten, sagte der eine, indem er ihn beim Kopfe aufhob.

 

Man sagt, jedes Jahr werden die Knochen ein halb Pfund schwerer, sagte der andre und faßte ihn bei den Füßen.

 

Hast du deinen Knoten gemacht? fragte der erste.

 

Es wäre dumm, wenn wir uns eine unnütze Last aufladen wollten, erwiderte der zweite, ich werde ihn unten machen.

 

Du hast recht, vorwärts!

 

Warum einen Knoten? fragte sich Dantes.

 

Man legte den vermeintlichen Toten vom Bett auf die Tragbahre; Edmond machte sich steif, um die Rolle des Hingeschiedenen besser zu spielen, und beleuchtet von dem Manne mit der Stocklaterne, der vorausging, marschierte der Zug die Treppe hinab. Plötzlich überströmte Edmond die frische, scharfe Nachtluft, an der er den herrschenden Mistral (Nordwestwind im Mittelländischen Meere) erkannte. Die Träger machten ungefähr zwanzig Schritte, dann blieben sie still stehen und setzten die Tragbahre auf die Erde. Einer von ihnen entfernte sich, und Dantes hörte seine Schuhe auf den Platten dröhnen.

 

Wo bin ich denn? fragte er sich.

 

Weißt du, daß er gar nicht leicht ist? sagte der, welcher bei Dantes geblieben war, und setzte sich auf den Rand der Tragbahre.

 

Dantes‘ erster Gedanke war, sich freizumachen; zum Glück hielt er an sich.

 

Leuchte mir doch, sagte der eine Träger, oder ich kann’s nicht finden.

 

Der Mann mit der Stocklaterne gehorchte diesem Befehle.

 

Was sucht er denn? fragte sich Dantes. Vermutlich einen Spaten.

 

Ein Ausruf der Zufriedenheit deutete an, daß der Totengräber gefunden hatte, was er suchte.

 

Endlich, sagte der andre, das kostete Mühe.

 

Ja, aber er wird beim Warten nichts verloren haben.

 

Bei diesen Worten näherte er sich Edmond, der einen schweren schallenden Körper neben sich niederlegen hörte; zu gleicher Zeit umgab ein Strick mit schmerzhaftem Drucke seine Füße.

 

Nun, ist der Knoten gemacht?

 

Und zwar gut gemacht, dafür steh‘ ich dir.

 

 

Und die Tragbahre wurde wieder aufgehoben und fortgeschleppt. Man machte ungefähr fünfzig Schritte, blieb abermals stehen, um eine Tür zu öffnen, und setzte sich dann wieder in Marsch; das Tosen der Wellen, die sich an den Felsen brachen, woraus das Kastell gebaut ist, schlug immer deutlicher an Dantes‘ Ohr, je mehr man vorrückte.

 

Schlimmes Wetter! sagte einer von den Trägern, es wird heute nacht nicht gut in der See sein.

 

Ja, der Abbé läuft große Gefahr, naß zu werden, sagte der andre, und sie brachen in ein schallendes Gelächter aus.

 

Dantes verstand den Scherz nicht, aber seine Haare sträubten sich.

 

Gut! wir sind an Ort und Stelle, sagte der erste.

 

Weiter, weiter, rief der andere; du weißt noch, daß der letzte unterwegs an den Felsen zerschellt ist, und daß uns der Gouverneur am andern Tage gelaust hat.

 

Es ging noch fünf bis sechs Schritte bergan; dann fühlte Dantes, daß man ihn beim Kopfe und bei den Füßen nahm und schaukelte.

 

Eins! sprachen die Totengräber, zwei! drei!

 

Zu gleicher Zeit fühlte sich Dantes wirklich in den ungeheuren leeren Raum geschleudert; er durchschnitt die Luft wie ein verwundeter Vogel und fiel immer tiefer mit einem Schrecken, der ihm das Herz starr machte. Obgleich sein rascher Flug noch durch irgend eine ziehende Gewalt beschleunigt wurde, kam es ihm doch vor, als währte sein Sturz ein Jahrhundert. Endlich schoß er mit einem furchtbaren Getöse wie ein Pfeil in das kalte Wasser, das ihm einen, in demselben Augenblick durch die über ihm zusammenschlagenden Wellen unterdrückten Schrei auspreßte.

 

Dantes war ins Meer geschleudert worden, in dessen Tiefe ihn eine an seine Füße gebundene Kugel von 36 Pfund hinabzog, denn das Meer ist der Friedhof des Kastells If.

 

Vater und Sohn.

 

Vater und Sohn.

 

Überlassen wir es dem gehässigen Danglars, dem Reeder einen boshaften Argwohn gegen Dantes ins Ohr zu flüstern, und folgen wir diesem, der den Weg in die Rue de Noilles einschlägt, in ein kleines auf der rechten Seite der Allee de Meillan gelegenes Haus tritt, rasch die vier Stockwerke einer dunkeln Treppe hinaussteigt und, sich mit der einen Hand am Geländer haltend, mit der andern die Schläge seines Herzens zurückdrängend, vor einer halb geöffneten Tür stehen bleibt.

 

Hier wohnte sein Vater. Die Nachricht von der Ankunft des Pharao war noch nicht bis zu dem Greise gedrungen, der, auf einem Stuhle sitzend, mit zitternder Hand Kapuzinerkresse, vermischt mit Rebwinden, die sich am Gitter seines Fensters hinaufrankten, durch Stäbe zusammenzuhalten suchte. Plötzlich fühlte er sich von Armen umfaßt, und eine wohlbekannte Stimme rief hinter ihm: Mein Vater, mein guter Vater!

 

Mit einem Schrei wandte sich der Alte um, und als er seinen Sohn erblickte, warf er sich bebend und bleich in seine Arme. Was hast du denn Vater? rief der junge Mann beunruhigt, du bist doch nicht krank?

 

Nein, nein, mein lieber Edmond, mein Sohn, mein Kind, nein, ich erwartete dich nicht, und die Freude bei deinem unvorhergesehenen Anblick … ach! mein Gott, ich glaube, ich sterbe.

 

Beruhige dich doch, mein Vater, ich bin es, ich! Man sagt, die Freude könne nicht schaden, und darum bin ich hier ohne Vorbereitung eingetreten. Ich komme zurück, Vater, und wir werden nun glücklich sein.

 

Ah, desto besser, mein Junge, versetzte der Greis; aber wie werden wir glücklich sein? Du verläßt mich also nicht mehr? Erzähle mir von deinem Glücke!

 

Der Herr verzeihe mir, erwiderte der junge Mann, daß ich mich über ein Glück freue, das mit der Trauer einer andern Familie erkauft ist, aber Gott weiß, daß ich dieses Glück nicht gewünscht habe. Der brave Kapitän Leclère ist gestorben, und durch Herrn Morels Fürsprache bekomme ich wahrscheinlich seinen Platz. Begreifst du, Vater, mit zwanzig Jahren Kapitän … mit hundert Louisd’or Gehalt und einem Anteil am Gewinn! Ist das nicht mehr, als ein armer Matrose wie ich hoffen durfte?

 

Ja, mein Sohn, ja, das ist ein großes Glück.

 

Von dem ersten Gelde, das ich verdiene, sollst du auch ein Häuschen mit einem Garten bekommen, um deine Reben und deine Kapuzinerkresse zu pflanzen. Aber was hast du denn, Vater? Man könnte glauben, du seiest unwohl.

 

Geduld, Geduld, das hat nichts zu sagen.

 

Aber schon schwanden dem Greise die Kräfte, und er sank rückwärts nieder.

 

Rasch, rasch, ein Glas Wein wird dich wiederbeleben; wo verwahrst du deinen Wein? sagte der junge Mann und öffnete zwei, drei Schränke.

 

Ach, sprach der Greis matt, es ist kein Wein mehr da.

 

Wie, kein Wein mehr da? rief, jetzt ebenfalls erbleichend, Dantes, indem er abwechselnd die hohlen Wangen des Greises und die leeren Schränke anschaute. Kein Wein mehr hier? Hat es dir etwa an Geld gefehlt?

 

Es fehlt mir an nichts, da du hier bist.

 

Ich habe dir doch bei meiner Abreise vor drei Monaten zweihundert Franken zurückgelassen, stammelte Dantes, sich den Schweiß abtrocknend, der von seiner Stirn lief.

 

Ja, ja, Edmond, das ist wahr; aber du hattest bei deinem Abgang eine kleine Schuld bei dem Nachbar Caderousse vergessen. Er erinnerte mich daran und sagte, wenn ich nicht für dich bezahlte, so würde er sich von Herrn Morel bezahlen lassen; du begreifst, aus Furcht, es könnte dir schaden …

 

Aber ich war ihm 140 Franken schuldig! rief Dantes. Und du hast sie ihm von den 200 Franken gegeben, die ich dir zurückließ?

 

Der Greis machte ein Zeichen mit dem Kopfe.

 

Du hast also drei Monate lang von sechzig Franken gelebt?

 

Du weißt, wie wenig ich bedarf, sagte der Greis.

 

Oh! mein Gott, mein Gott! vergib mir, rief Edmond und warf sich vor dem alten Mann auf die Knie.

 

Bah! Du bist hier, erwiderte lächelnd der Greis, und nun ist alles vergessen, alles ist nun gut.

 

Ja, ich bin hier, versetzte der junge Mann, ich bin hier mit einer schönen Zukunft vor mir und mit einigem Geld; hier, Vater, nimm, nimm und laß sogleich etwas holen!

 

Und er leerte auf den Tisch seine Taschen aus, die ein Dutzend Goldstücke und etwas kleinere Münze enthielten.

 

Sachte, sachte, sagte der Greis lächelnd, mit deiner Erlaubnis werde ich deine Börse nur bescheiden benützen; wenn man mich zu viele Dinge auf einmal kaufen sehen würde, könnte man glauben, ich hätte auf deine Ankunft warten müssen.

 

Ja, wie du willst; aber vor allem nimm eine Magd an! Du sollst nicht länger allein bleiben. Ich habe geschmuggelten Kaffee und vortrefflichen Tabak in einem Kistchen im Schiffsraum; morgen erhältst du beides. Doch still, hier kommt jemand.

 

Es ist Caderousse, der wohl deine Ankunft erfahren hat.

 

Gut, abermals Lippen, die etwas sagen, während das Herz etwas ganz anderes denkt! murmelte Edmond. Doch gleichviel, es ist ein Nachbar, der uns einst Dienste geleistet hat, darum soll er willkommen sein.

 

In dem Augenblick, wo Edmond seinen Satz mit leiser Stimme vollendete, sah man einen schwarzen bärtigen Kopf in der Tür erscheinen; es war Caderousse, ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, seines Standes ein Schneider.

 

Ah! Du bist endlich zurückgekehrt, Edmond? sagte er in echt Marseiller Mundart und mit breitem Lächeln.

 

Wie Sie sehen, Meister Caderousse, und bereit, Ihnen gefällig zu sein, antwortete Dantes, seine Kälte nur schlecht unter dieser höflichen Anrede verbergend.

 

Danke, danke, zum Glück brauche ich nichts, und zuweilen können mich sogar andere brauchen. Ich sage das nicht deinetwegen, fuhr er fort, als Dantes eine unwillkürliche Bewegung machte. Ich habe dir Geld geliehen; du hast mich bezahlt; das kommt unter guten Nachbarn vor, und wir sind quitt.

 

Wir sind nie quitt gegen die, welche uns Dienste geleistet haben, antwortete Dantes, denn wenn man ihnen sonst nichts mehr schuldet, so ist man ihnen doch Dank schuldig.

 

Wozu davon reden? Was geschehen ist, ist geschehen. Reden wir von deiner glücklichen Rückkehr, mein Junge. Ich war an den Hafen hinausgegangen und traf dort Danglars, der mir erzählte, daß ihr gut angekommen seid; und dann eilte ich hierher, um dir die Hand zu drücken. Nun, du stehst also aufs beste mit Herrn Morel, du Schlaukopf?

 

Herr Morel hat mir stets viel Güte erwiesen, und ich hoffe, sein Kapitän zu werden, antwortete Dantes.

 

Desto besser, desto besser! Das wird allen alten Freunden Freude machen, und ich kenne jemand da unten hinter der Zitadelle Saint-Nicolas, der nicht ärgerlich darüber sein wird. Mercedes? sagte der Greis.

 

Ja, Vater, versetzte Dantes, und jetzt, da ich gesehen habe, daß du dich wohl befindest und alles hast, was du brauchst, bitte ich dich um Erlaubnis, bei den Kataloniern meinen Besuch zu machen.

 

Geh, mein Sohn, geh, sagte der alte Dantes, und Gott segne deine Frau, wie er mich in meinem Sohne gesegnet hat.

 

Seine Frau! rief Caderousse, wie Ihr rasch zu Werke geht. Es scheint mir, sie ist es noch nicht.

 

Nein, aber aller Wahrscheinlichkeit nach, antwortete Edmond, wird sie es bald werden.

 

Gleichviel, gleichviel, sagte Caderousse, du hast wohl daran getan, dich zu beeilen, mein Sohn.

 

Warum?

 

Weil Mercedes ein hübsches Mädchen ist, und es den hübschen Mädchen nicht an Liebhabern fehlt. Ihr besonders laufen sie zu Dutzenden nach.

 

Wirklich? sagte Edmond mit einem Lächeln, unter dem sich ein leichter Schatten von Unruhe verbarg.

 

Oh ja, antwortete Caderousse, und sogar schöne Partien; aber du begreifst, du sollst Kapitän werden, und man wird sich wohl hüten, deine Hand auszuschlagen.

 

Still, sagte der junge Mann, ich habe eine bessere Meinung als Ihr von den Frauen im allgemeinen und von Mercedes insbesondere, ich bin überzeugt, daß sie mir, mag ich Kapitän sein oder nicht, treu bleiben wird.

 

Desto besser, desto besser, versetzte Caderousse, wenn man sich verheiraten will, tut man immer gut, zu glauben. Doch, wie gesagt, folge mir, mein Junge, verliere keine Zeit, melde ihr deine Ankunft und teile ihr deine Hoffnungen mit!

 

Ich gehe, sagte Edmond, umarmte seinen Vater, grüßte Caderousse und entfernte sich.

 

Caderousse blieb noch einen Augenblick, nahm dann von dem alten Dantes Abschied, ging ebenfalls die Treppe hinab und suchte Danglars wieder auf, der ihn an der Ecke der Rue Senac erwartete.

 

Nun, sagte Danglars, hast du ihn gesehen? Hat er von seiner Hoffnung, Kapitän zu werden, gesprochen?

 

Er spricht davon, als ob er es bereits wäre.

 

Geduld! Geduld! sagte Danglars, mir scheint, er hat’s gar zu eilig. Und er ist immer noch in die Katalonierin verliebt?

 

Wie toll; soeben ist er zu ihr gegangen. Doch wenn ich mich nicht sehr täusche, wird er hier auf Schwierigkeiten stoßen.

 

Sag einmal, du liebst Dantes nicht, wie? – Ich liebe die Anmaßenden nie. – Nun also, was weißt du von der Katalonierin? – Nichts Bestimmtes; nur habe ich gesehen, daß Mercedes, so oft sie in die Stadt kommt, von einem großen schwarzen Katalonier, den sie Vetter nennt, begleitet wird. – Ah, wirklich? Und glaubst du, dieser Vetter mache ihr den Hof? – Ich denke wohl. Was zum Teufel kann ein Bursche von einundzwanzig Jahren mit einem hübschen Mädchen von siebzehn weiter machen?

 

Und du sagst, Dantes sei zu den Kataloniern gegangen?

 

Ja, wenn wir ihm folgen, so können wir im Garten der Reserve bei einem Glase Wein das weitere abwarten.

 

Beide begaben sich mit raschen Schritten nach dem bezeichneten Orte und ließen sich eine Flasche Wein bringen. Der Vater Pamphile, der sie ihnen vorsetzte, hatte Dantes vor kaum zehn Minuten vorübergehen sehen.

 

Die Insel Tiboulen.

 

Die Insel Tiboulen.

 

Betäubt, fast erstickt, hatte Dantes noch die Geistesgegenwart, seinen Atem zurückzuhalten, und da seine rechte Hand, für alle Fälle bereit, sein Messer geöffnet hielt, so schlitzte er rasch den Sack auf und streckte zuerst den Arm und dann den Kopf heraus. Nun aber fühlte er sich, trotz seiner Bemühungen, die Kugel aufzuheben, fortwährend hinabgezogen. Da bückte er sich, suchte den Strick, der seine Beine zusammenhielt und durchschnitt diesen mit äußerster Anstrengung gerade in dem Augenblick, wo er zu ersticken drohte. Hierauf stieg er mittels eines kräftigen Fußstoßes auf die Oberfläche des Meeres, während die Kugel in unbekannte Tiefen das grobe Gewebe hinabzog, das ihm zum Leichentuche hatte dienen sollen. Dantes nahm sich nur Zeit, Atem zu holen, und tauchte zum zweiten Male unter, denn es mußte seine erste Vorsichtsmaßregel sein, spähenden Blicken zu entgehen.

 

Als er zum zweiten Male erschien, war er bereits wenigstens fünfzig Schritte von dem Orte seines Sturzes entfernt; er sah über seinem Haupte einen schwarzen stürmischen Himmel, an dessen Oberfläche der Wind eilige Wolken hinpeitschte, während zuweilen ein sternbesätes Stück Himmel sichtbar wurde. Vor ihm dehnte sich die düstere, tosende Fläche aus, deren Wogen wie beim Herannahen eines Sturmes zu brodeln anfingen, während hinter ihm, einem drohenden Gespenste ähnlich, der Granitriese sich erhob, dessen Spitze wie ein Arm anzuschauen war, der sich ausstreckte, seine Beute wiederzufassen. Auf dem höchsten Felsen erblickte er eine Stocklaterne, die zwei Schatten beleuchtete. Es kam ihm vor, als neigten sich diese Schatten unruhig zum Meere herab. Die Totengräber mußten wirklich den Schrei gehört haben, den er ausgestoßen hatte. Er tauchte abermals unter und legte eine ziemlich lange Strecke unterm Wasser zurück.

 

Als er wieder auf die Oberfläche kam, war die Laterne verschwunden. Er mußte sich orientieren. Von den Inseln, die das Schloß If umgeben, liegen Ratonneau und Pomègue am nächsten; aber sie sind bewohnt. Die sichersten Inseln waren daher die unbewohnten, Tiboulen oder Lemaire, die jedoch eine starke Stunde vom Kastell If entfernt sind. Dantes beschloß nichtsdestoweniger, eine von diesen beiden Inseln zu erreichen. Aber wie sie mitten in der Nacht finden? In diesem Augenblick erblickte er das Feuer des Leuchtturms von Planir. Wenn er gerade auf diesen Leuchtturm zuhielt, ließ er die Insel Tiboulen etwas links; er mußte also die Insel auf seinem Wege finden. Freilich betrug die Entfernung mindestens eine Meile, aber Dantes fand zu seiner Freude, daß ihm seine gezwungene Untätigkeit nichts von seiner Kraft und Behendigkeit genommen, und er fühlte, daß er noch Herr des Elementes war, in dem er sich schon als kleines Kind getummelt hatte. Die Furcht verdoppelte überdies seine Kräfte. So oft er sich auf der Spitze einer Woge erhob, umfaßte sein rascher Blick den sichtbaren Horizont und suchte in die dichte Finsternis zu tauchen. Es verging eine Stunde, während deren Dantes, vom Gefühl der Freiheit begeistert, die Wellen in der gewählten Richtung zu durchschneiden fortfuhr.

 

Nun schwimme ich bald eine Stunde, sagte er zu sich selbst; doch da mir der Wind entgegenbläst, muß ich eine Viertelstunde zugeben. Ich kann indessen, wenn ich mich nicht in der Richtung getäuscht habe, jetzt nicht mehr fern von der Insel Tiboulen sein. Wenn ich mich aber getäuscht hätte?

 

Ein Schauer durchlief den Körper des Schwimmers. Er suchte sich einen Augenblick auf den Rücken zu legen, um auszuruhen, aber das Meer wurde immer heftiger, und er sah, daß dieses Erleichterungsmittel, auf das er gerechnet hatte, unmöglich war.

 

Nun gut! sagte er, ich werde bis ans Ende aushalten, bis meine Arme nachlassen und meine Beine erstarren; dann sinke ich auf den Grund.

 

Und er schwamm wieder mit der Kraft und dem Antriebe der Verzweiflung. Plötzlich kam es ihm vor, als ob der bereits dunkle Himmel sich noch mehr verdüsterte, und als ob eine dichte, schwere, gedrängte Wolke sich auf ihn herabsenkte. Zu gleicher Zeit fühlte er einen heftigen Schmerz am Knie, er streckte die Hand aus und berührte die Erde. Nun sah er, was der Gegenstand war, den er für eine Wolke gehalten hatte. Zwanzig Schritte vor ihm stieg eine Felsenmasse empor, es war die Insel Tiboulen.

 

Dantes fühlte Land unter seinen Füßen, er machte ein paar Schritte vorwärts und streckte sich mit unsäglichem Dank gegen Gott auf den Granitkanten aus, die ihm zu dieser Stunde weicher schienen, als ihm je das weichste Bett vorgekommen war. Dann entschlummerte er, trotz des Windes, trotz des Sturmes, trotz des beginnenden Regens, völlig erschöpft durch die Anstrengung, und versank in den köstlichen Schlaf eines Menschen, dessen Körper erstarrt, dessen Seele aber im Bewußtsein eines unerwarteten Glückes fortglüht. Nach einer Stunde erwachte Edmond wieder unter dem ungeheuren Krachen des Donners; der Sturm war entfesselt und peitschte die Luft mit seinem geräuschvollen Flügelschlage. Dantes hatte sich mit seinem Seemannsblicke nicht getäuscht; er war wirklich auf der Insel Tiboulen gelandet; er wußte aber auch, daß sie kahl und öde war und nicht den geringsten Zufluchtsort bot. Nach Beendigung des Sturmes wollte er sich daher wieder in die See werfen und nach der zwar ebenfalls unfruchtbaren, aber viel größeren und deshalb gastlicheren Insel Lemaire schwimmen. Ein überhängender Fels bot ihm augenblicklichen Schutz: er flüchtete sich darunter, und beinahe gleichzeitig brach der Sturm in seiner ganzen Wut los. Edmond fühlte, wie der Fels zitterte, der ihn beschirmte; am Fuße der riesigen Pyramide sich brechend, sprangen die Wellen bis zu ihm herauf. Obgleich in Sicherheit, wurde er bei dem furchtbaren Tosen und den blendenden Blitzen von einer Art Schwindel ergriffen; nun erinnerte er sich auch, daß er seit 24 Stunden nichts gegessen, er hatte Hunger, er hatte Durst. Er streckte daher die Hände und den Kopf aus und trank das Wasser des Sturmes aus der Höhlung des Felsen.

 

Als er sich erhob, beleuchtete ein Blitz den weiten Raum. Bei dessen Schimmer sah Dantes zwischen der Insel Lemaire und dem Cap Croiselle, eine Viertelstunde entfernt, ein kleines Fischerfahrzeug erscheinen, das zugleich vom Sturme und der Woge fortgerissen wurde. Eine Sekunde nachher erschien das Schiff, mit furchtbarer Geschwindigkeit sich nähernd, auf dem Gipfel einer zweiten Welle. Gleichzeitig vernahm er ein furchtbares Krachen, und Todesgeschrei erreichte sein Ohr. Dann versank alles in Nacht. Nach und nach legte sich der Wind, der Himmel wälzte gegen Westen große graue Wolken; die dunkle Himmelsbläue erschien wieder mit Sternen, die heller funkelten als je; bald zeigte gegen Osten ein langer rötlicher Streifen am Horizont das Nahen des Morgens.

 

Dantes blieb unbeweglich und stumm vor diesem großen Schauspiel, als erblickte er es zum ersten Male – er hatte es in der Tat seit der Zeit, daß er im Kastell If war, nicht wieder gesehen. Es mochte ungefähr fünf Uhr sein, und das Meer beruhigte sich immer mehr. In zwei bis drei Stunden, sagte Edmond zu sich selbst, wird der Schließer in mein Zimmer kommen, den Leichnam meines armen Freundes finden, ihn erkennen, mich vergebens suchen und Lärm machen. Dann wird man das Loch in der Wand finden; man wird die Menschen befragen, die mich ins Meer schleuderten und die den Schrei, den ich ausstieß, hören mußten. Sobald die Barken mit bewaffneten Soldaten gefüllt sind, werden sie dem unglücklichen Flüchtling nachsetzen, da man wohl weiß, daß er nicht fern sein kann. Die Kanone wird der ganzen Küste Nachricht geben, daß man einem Menschen, der nackt und ausgehungert umherirrt, keine Zufluchtsstätte geben soll. Was soll dann aus mir werden? Ich hungere, ich friere, ich habe alles, selbst das rettende Messer, das mir im Schwimmen hinderlich war, weggeworfen; ich bin der Gnade des nächsten Bauern preisgegeben, der durch meine Auslieferung zwanzig Franken verdienen möchte; ich besitze weder Kraft, noch einen Gedanken, noch Entschlossenheit mehr.

 

In dem Augenblick, wo Edmond in völliger geistiger wie körperlicher Erschöpfung seinen Blick angstvoll dem Schlosse If zuwendete, sah er an der Spitze der Insel Pomègue ein lateinisches Segel vom Horizont sich abheben und ein kleines Fahrzeug erscheinen, in dem nur das Auge eines Seemanns eine genuesische Tartane auf der noch dunkeln Linie des Meeres zu erkennen vermochte. Sie kam aus dem Marseiller Hafen und gewann das offene Meer.

 

Oh! rief Edmond, wenn ich bedenke, daß ich in einer halben Stunde dieses Schiff erreichen könnte, befürchtete ich nicht, als Flüchtling erkannt und nach Marseille zurückgeführt zu werden! Was soll ich tun? Was soll ich sagen? Welche Fabel soll ich erfinden, mit der ich Glauben fände? Meist sind das Schleichhändler, halbe Piraten. Unter dem Vorwande der Küstenschiffahrt treiben sie Seeräuberei; sie werden mich lieber verkaufen als eine für sie nutzlose, wenn auch gute Handlung ausführen. Ich will warten … Doch das Warten ist etwas Unmögliches; ich sterbe vor Hunger, in ein paar Stunden wird das Wenige, was mir von Kraft übrig geblieben ist, vollends verschwunden sein. Überdies naht die Stunde des Besuchs, man hat noch nicht Lärm gemacht. Vielleicht haben die Leute keinen Argwohn; ich kann mich für einen von den Matrosen des kleinen Schiffes ausgeben, das in der Nacht gescheitert ist. Das klingt nicht unwahrscheinlich; keiner wird zurückkehren, um mir zu widersprechen, denn das Meer hat sie alle verschlungen.

Während Dantes diese Worte sprach, wandte er die Augen nach der Stelle, wo das kleine Schiff zerschellt war, und erbebte. Am Rande eines Felsens war die phrygische Mütze eines der schiffbrüchigen Matrosen hängen geblieben, und nahe dabei schwammen einige Trümmer des Kiels, träge Balken, die das Meer an den Fuß der Insel warf. Dantes‘ Entschluß war auf der Stelle gefaßt, er bedeckte sich den Kopf mit der Mütze, warf sich in die See, ergriff einen von den Balken und wandte sich, um in die Fahrtlinie des Schiffes zu gelangen.

 

Nun bin ich gerettet, murmelte er.

 

Indessen näherten sich Schiff und Schwimmer einander unmerklich. Da erhob sich Dantes aus den Wellen und bewegte seine Mütze als Notzeichen, aber niemand bemerkte ihn auf dem Schiffe. Er wollte rufen, erkannte jedoch, als er mit dem Auge die Entfernung maß, daß seine Stimme nicht bis zum Schiffe gelangen konnte. Er wünschte sich nun Glück, daß er so vorsichtig gewesen war, sich auf einem Balken auszustrecken. Geschwächt, wie er war, hätte er sich vielleicht nicht auf dem Meere halten können, bis er die Tartane erreicht hatte; und fuhr die Tartane vorüber, ohne ihn zu sehen, so wäre er nicht im stande gewesen, die Küste zu gewinnen. Obgleich des Weges beinahe gewiß, den das Schiff verfolgte, begleitete es Dantes doch angstvoll mit seinen Augen bis zu der Minute, wo es nur noch einige hundert Meter entfernt war. Sogleich erhob er sich nun mit äußerster Anstrengung, daß er beinahe auf dem Wasser stand, bewegte seine Mütze in der Luft und schrie laut um Hilfe.

 

Diesmal hörte und sah man ihn. Die Tartane unterbrach ihren Lauf und drehte nach seiner Seite; zu gleicher Zeit bemerkte er, daß man eine Schaluppe ins Meer ließ. Einen Augenblick nachher steuerte die Schaluppe, mit zwei Matrosen bemannt, auf ihn zu. Dantes ließ nun den Balken los, dessen er nicht mehr zu bedürfen glaubte, und schwamm kräftig, um denen, die ihm entgegenkamen, den halben Weg zu ersparen. Der Schwimmer hatte indessen seinen Kräften zuviel zugemutet, seine Arme fingen an, steif zu werden, seine Beine hatten ihre Biegsamkeit verloren, seine Bewegungen wurden hart, seine Brust keuchte. Er stieß einen zweiten Schrei aus, die Ruderer verdoppelten ihre Tätigkeit, und einer von ihnen rief ihm italienisch »Mut!« zu. Das Wort drang in dem Augenblick zu ihm, als eine Woge, die er zu überwältigen nicht mehr Kraft hatte, über seinen Kopf hinging und ihn mit Schaum bedeckte.

 

Er erschien wieder, stieß einen dritten Schrei aus und fühlte, wie er untersank, als hätte er noch die tödliche Kugel am Fuße. Das Wasser ging über seinen Kopf, und durch die Wellen sah er den bleifarbigen Himmel mit schwarzen Flecken. Ein gewaltiger Ruck brachte ihn auf die Oberfläche zurück. Es kam ihm vor, als ob man ihn bei den Haaren faßte, dann sah und hörte er nichts mehr; er war ohnmächtig. Als er die Augen wieder öffnete, lag er auf dem Verdeck der Tartane Amalie, die ihren Weg fortsetzte. Er achtete vor allem auf die Richtung, die sie verfolgte; man entfernte sich immer mehr vom Schlosse If.

 

Dantes war so erschöpft, daß der Ausruf der Freude, den er von sich gab, für einen Schmerzensseufzer gehalten wurde; ein Matrose rieb ihm die Glieder mit einer wollenen Decke; ein anderer schob ihm die Mündung einer Kürbisflasche durch die Lippen; ein dritter, ein alter Seemann, der zugleich der Patron war, schaute ihn mitleidig an. Einige Tropfen Rum aus der Flasche belebten den geschwächten Magen des jungen Mannes, während die Reibungen, die der vor ihm knieende Matrose mit der Wolldecke an seinem Körper fortsetzte, seinen Gliedern wieder Geschmeidigkeit verliehen.

 

Wer seid Ihr? fragte in schlechtem Französisch der Patron.

 

Ich bin ein maltesischer Matrose, antwortete Dantes in schlechtem Italienisch; wir kommen von Syrakus und hatten Wein geladen. Der Sturm heute nacht überfiel uns bei Kap Morgiou, und wir scheiterten an den Felsen, die ihr dort seht; ich klammerte mich glücklicherweise daran an, während sich unser armer Kapitän den Kopf zerschellte. Ich bin, glaube ich, allein am Leben geblieben; ich sah euer Schiff, befürchtete, zu lange auf der einsamen Insel warten zu müssen, und suchte auf einem Trümmerstück unseres Fahrzeuges zu euch zu gelangen. Ich denke, daß ihr mir das Leben gerettet habt; ich wäre verloren gewesen, wenn mich nicht einer von euch bei den Haaren gefaßt hätte.

 

Das war ich, sagte ein Matrose mit treuherzigem, von einem langen schwarzen Barte umrahmten Gesichte, und es war Zeit, denn Ihr sankt unter.

 

Ja, sagte Dantes, ihm die Hand reichend, ja, mein Freund, und ich danke Euch zum zweitenmale.

 

Meiner Treu! versetzte der Matrose, ich zögerte fast; mit Eurem sechs Zoll langen Barte und Euren fußlangen Haaren sahet Ihr eher aus wie ein Räuber, als wie ein ehrlicher Mann.

 

Dantes erinnerte sich nunmehr, daß er sich seit seinem Aufenthalt im Schlosse If weder die Haare geschnitten noch rasiert hatte.

 

Ja, sagte er, ich habe in einem Augenblick der Gefahr der heiligen Jungfrau ein Gelübde getan, mir zehn Jahre lang weder die Haare noch den Bart zu schneiden.

 

Was sollen wir nun mit Euch machen? fragte der Patron.

 

Ach! was Ihr wollt. Die Feluke, zu der ich gehörte, ist verloren, der Kapitän ist tot. Ich bin demselben Schicksale entgangen, aber wie Ihr seht, völlig nackt. Zum Glück versteh‘ ich das Schifferhandwerk. Setzt mich im nächsten besten Hafen ab, wo Ihr vor Anker geht, und ich werde auf einem Handelsschiffe Beschäftigung finden.

 

Ihr kennt das mittelländische Meer?

 

Ich fahre darauf seit meiner Kindheit.

 

Ihr wißt, wo gute Ankerplätze zu finden sind?

 

Es gibt wenige Häfen, selbst unter den schwierigsten, wo ich nicht mit geschlossenen Augen aus- und einfahren könnte.

 

Sagt, Patron, sagte der Matrose, der Dantes Mut zugerufen hatte, warum soll der Kamerad nicht bei uns bleiben, wenn er die Wahrheit spricht?

 

Ja, wenn er die Wahrheit spricht, erwiderte der Patron mit einer Miene des Zweifels; aber in dem Zustande, in dem sich der arme Teufel befindet, verspricht man viel und hält dann eben gerade, was man kann.

 

Ich werde mehr halten, als ich versprochen habe.

 

Oh! oh! rief der Patron lachend, wir werden sehen.

 

Wann Ihr wollt, sagte Dantes aufstehend. Wohin fahrt Ihr?

 

Nach Livorno.

 

Warum preßt Ihr nicht, statt Schläge zu tun, wobei Ihr eine kostbare Zeit verliert, ganz einfach den Wind so fest als möglich?

 

Weil wir gerade auf die Insel Rion zulaufen würden.

 

Ihr kommt auf mehr als zwanzig Faden daran vorbei.

 

So nehmt das Steuerruder, sagte der Patron, und wir werden bald sehen, was Ihr versteht.

 

Der junge Mann setzte sich an das Steuerruder, überzeugte sich durch einen leichten Druck, daß das Schiff gehorsam war, und rief: An die Brassen und Boleinen.

 

Die vier Matrosen, welche die Mannschaft bildeten, liefen an ihre Posten, während ihnen der Patron zuschaute.

 

Holt an! fuhr Dantes fort.

 

Dieser Befehl wurde ausgeführt, und statt mit Schlägen fortzulaufen, rückte das kleine Schiff gegen die Insel Rion vor, an der es, wie Dantes vorhergesagt hatte, vorüberkam, indem es dieselbe zwanzig Faden vom Steuerbord ließ.

 

Bravo! riefen der Kapitän und die Matrosen.

 

Und alle schauten verwundert diesen Mann an, dessen Blick wieder eine Energie und dessen Körper wieder eine Kraft erfüllte, die keiner in ihnen vermutet hatte.

 

Ihr seht, sagte Dantes, das Steuerruder loslassend, daß ich Euch auf der Fahrt wenigstens zu etwas nütze sein könnte; wollt Ihr mich in Livorno nicht behalten, nun, so laßt Ihr mich dort, und von meinen ersten Monaten Sold entschädige ich Euch für meine Kost bis dahin und für die Kleider, die Ihr mir leiht.

 

Gut! gut! versetzte der Patron. Die Sache läßt sich machen, wenn Ihr nicht zu viel verlangt; doch nun, Jacopo, gebt dem Manne Kleider!

 

Der Matrose, der Dantes das Leben gerettet hatte, schlüpfte durch die Luke hinab und kam in einem Augenblick mit Hemd und Hose zurück, die Dantes mit unbeschreiblicher Freude anzog.

 

Braucht Ihr noch etwas? fragte der Patron.

 

Ein Stück Brot und noch einen Schluck von dem vortrefflichen Rum, den ich gekostet, denn ich habe lange nichts zu mir genommen.

 

Man brachte Dantes ein Stück Brot, und Jacopo reichte ihm die Flasche.

 

Halt, fragte der Patron, was ist im Kastell If los?

 

Eine kleine weiße Wolke war soeben an der südlichen Bastei des Kastells sichtbar geworden, und eine Sekunde nachher erstarb der Lärm eines entfernten Knalles an Bord der Tartane. Die Matrosen schauten einander an.

 

Es wird ein Gefangener in dieser Nacht entwichen sein, und man feuert die Lärmkanone ab, sagte Dantes.

Der Patron warf dem jungen Mann, der die Kürbisflasche an den Mund gesetzt hatte, einen prüfenden Blick zu; aber er sah ihn den Trank mit solcher Ruhe schlürfen, daß er keinen Verdacht hegte.

 

Euer Rum ist teufelmäßig stark, sagte Dantes, mit dem Hemdärmel seine von Schweiß triefende Stirn abtrocknend.

 

Ist er es, murmelte der Kapitän, ihn anschauend, desto besser, ich habe in jedem Fall einen tüchtigen Mann bekommen.

 

Unter dem Vorwande der Müdigkeit bat Dantes, sich ans Steuerruder setzen zu dürfen. Sehr erfreut, seiner Funktionen überhoben zu sein, fragte der Ruderführer den Patron mit dem Auge, und dieser bedeutete ihm durch ein Zeichen, er könne den Helmstock seinem neuen Gefährten übergeben.

 

Den wievielten haben wir? fragte Dantes Jacopo, der sich zu ihm gesetzt hatte.

 

Den 28. Februar, antwortete dieser.

 

Und welches Jahr? fragte Dantes.

 

Welches Jahr? Ihr fragt, welches Jahr wir haben?

 

Was wollt Ihr, sagte Dantes, ich habe diese Nacht eine solche Angst ausgestanden, daß mein Gedächtnis noch völlig gestört ist.

 

Das Jahr 1829, sagte Jacopo.

 

Es waren auf den Tag vierzehn Jahre, daß man Dantes verhaftet hatte. Mit neunzehn Jahren war er in das Kastell If gekommen, und er verließ es mit dreiunddreißig Jahren. Ein schmerzliches Lächeln zog über seine Lippen hin; er fragte sich, was aus Mercedes während dieser Zeit, wo sie ihn hatte für tot halten müssen, geworden sei. Dann entzündete sich ein Blitz des Hasses in seinen Augen, indem er an die drei Menschen dachte, denen er eine so lange und grausame Gefangenschaft zu verdanken hatte, und er erneuerte gegen Danglars, Fernand und Villefort den Schwur unversöhnlicher Rache, den er im Gefängnis geleistet hatte; und sein Schwur war jetzt keine leere Drohung mehr, denn zu dieser Stunde hätte der beste Schnellsegler im Mittelländischen Meer sicherlich die kleine Tartane nicht mehr einholen können, die mit voller Kraft nach Livorno fuhr.

 

Die Schmuggler.

 

Die Schmuggler.

 

Dantes war noch keinen Tag an Bord, als er bereits wußte, mit wem er es zu tun hatte, er befand sich an Bord eines Schmugglerschiffes. Der Patron hatte ihn auch anfangs mit einem gewissen Mißtrauen aufgenommen; er war allen Zollbeamten der Küste sehr wohl bekannt, und da zwischen diesen Herren und ihm selbst ein beständiger Wettkampf in Listen stattfand, so meinte er zuerst, Dantes sei nichts als ein Zollspion. Die glänzende Art und Weise jedoch, wie Dantes aus der Prüfung hervorgegangen war, hatte ihn völlig von dessen Vertrauenswürdigkeit überzeugt. Als er sodann den leichten Rauch über der Bastei des Kastells If schweben sah, dachte er einen Augenblick, er hätte einen von denen an Bord genommen, denen man, wie den Königen bei ihren Ein- und Auszügen, bei ihrem Ausrücken die Ehre des Kanonierens zuteil werden ließ. Dies beunruhigte ihn schon weniger, als wenn der Ankömmling ein Zöllner gewesen wäre; doch die zweite Mutmaßung verschwand bald wie die erste angesichts der vollkommenen Ruhe seines Rekruten.

 

Edmond hatte also den Vorteil, zu wissen, was sein Patron war, ohne daß sein Patron wissen konnte, was er war. Von welcher Seite ihn auch der alte Seemann und seine Kameraden angriffen, er gab nicht nach und machte kein Geständnis, sondern erzählte nur viel von Neapel und Malta, das er so gut wie Marseille kannte, und er hielt seine erste Angabe mit einer Festigkeit aufrecht, die seinem Gedächtnis Ehre machte. Es ließ sich also der Genueser trotz seiner Pfiffigkeit von Dantes betören, zu dessen Gunsten überdies sein bescheidenes Auftreten und seine nautische Erfahrenheit sprachen. So gelangte man nach Livorno.

 

Hier mußte Edmond eine erste Probe machen; er mußte sehen, ob er sich nach den vierzehn Jahren, die er sich nicht gesehen, selbst wiedererkannte. Er hatte eine ziemlich genaue Erinnerung von dem bewahrt, was er als Jüngling gewesen war, und es drängte ihn, zu wissen, wie er als Mann aussah. Er trat daher bei einem Barbier ein, um sich den Bart und die Haare schneiden zu lassen. Der Barbier schaute erstaunt den Mann mit den langen Haaren, dem dichten schwarzen Barte und dem schönen Tiziankopfe an und ging an die Arbeit. Als er fertig war, ließ sich Dantes einen Spiegel geben und beschaute sich. Als er vor vierzehn Jahren das Kastell If betreten hatte, besaß er das runde, lachende, blühende Gesicht des glücklichen Jünglings, dem die ersten Schritte im Leben leicht gewesen sind, und der auf die Zukunft vertraut. Das hatte sich völlig geändert. Sein ovales Gesicht war länglich geworden, sein lachender Mund hatte die festen Formen angenommen, die Entschlossenheit andeuten, seine Brauen waren unter einer einzigen nachdenklichen Falte gebogen, seine Augen umschwebte der Ausdruck tiefer Traurigkeit, aus dem zuweilen düstere, von Menschenscheu und Haß zeugende Blitze hervorbrachen. Seine des Lichtes und der Sonnenstrahlen so lange entbehrende Gesichtshaut hatte die matte Farbe angenommen, die bei den Aristokraten des Nordens für schön gilt. Das tiefe Wissen, das er erlangt, hatte dabei über sein ganzes Antlitz den Wiederschein geistiger Hoheit verbreitet. Edmond lächelte, als er sich sah; sein bester Freund, wenn ihm noch ein Freund übrig blieb, konnte ihn unmöglich erkennen; er erkannte sich selbst nicht mehr.

 

Als er den Barbier verließ, kaufte er sich einen vollständigen Matrosenanzug und erschien in diesem Gewande an Bord der Amalie. Der Patron wollte in dem stattlichen Matrosen den Mann mit dem dichten Barte und Haaren voll Seegras nicht wiedererkennen, den er nackt und sterbend auf dem Verdeck seines Schiffes aufgenommen hatte. Seine schöne Erscheinung und der Gedanke an die guten Dienste, die er ihm leisten konnte, bewogen ihn jedoch, Dantes vorteilhafte Anerbietungen mit Anteil am Gewinn zu machen, wenn er dauernd bei ihm bleiben wolle; aber Dantes hatte seine eigenen Pläne und verpflichtete sich nur auf drei Monate. Übrigens entwickelte die Mannschaft der Amalie eine emsige und fruchtbare Tätigkeit. Kaum war sie acht Tage in Livorno, als die bauchigen Räume des Schiffes von Musselinen, von verbotenen Baumwollenwaren und Tabak voll waren, auf welche die Zollbehörde ihren Stempel zu setzen vergessen hatte. Es handelte sich darum, diese Waren ungefährdet fortzubringen und auf Korsika auszuschiffen, wo andere es übernahmen, die Ladung nach Frankreich zu schaffen. Das Schiff stach in See, und Edmond durchschnitt abermals das azurblaue Meer, das schon der Traum und der Horizont seiner Jugendzeit gewesen war. Als der Patron am andern Morgen auf das Verdeck stieg, was er immer frühzeitig tat, fand er Dantes, der an die Schiffswand gelehnt mit seltsamem Ausdruck einen Haufen von Granitfelsen betrachtete, welche die ausgehende Sonne mit rosigem Lichte übergoß: es war die Insel Monte Christo. Die Amalie ließ sie auf ungefähr drei Viertelstunden von ihrem Steuerbord und setzte ihren Weg nach Korsika fort.

 

Als Dantes an dieser Insel mit dem für ihn so bedeutungsvoll klingenden Namen hinfuhr, dachte er, er brauche nur in das Meer zu springen, und in einer halben Stunde sei er auf dem gelobten Lande. Aber was sollte er dort tun, ohne Werkzeuge, um seinen Schatz zu entdecken, ohne Waffen, um ihn zu verteidigen? Was würden überdies die Matrosen sagen, was würde der Patron denken? Er mußte warten. Glücklicherweise verstand Dantes zu warten; er hatte vierzehn Jahre auf seine Freiheit gewartet und konnte nun, da er frei war, auch sechs Monate oder ein Jahr auf seinen Reichtum warten. Hätte er nicht auch mit Entzücken die Freiheit ohne Reichtum angenommen, wenn man sie ihm geboten hätte? War dieser Reichtum überhaupt etwas Wirkliches? War er nicht, im kranken Gehirn des Abbés Faria geboren, mit diesem gestorben? Allerdings, der Bries des Kardinals Spada war seltsam genug. Und Dantes wiederholte in seinem Gedächtnis den Brief, von dem er kein Wort vergessen hatte. Am andern Morgen erwachte man auf der Höhe von Aleria. Man lavierte den ganzen Tag; am Abend entzündeten sich Feuer auf der Küste, man näherte sich dem Ufer auf Schußweite und schiffte ohne weitere Fährlichkeiten die Ladung aus. Doch die Expedition war noch nicht zu Ende; man legte sich gegen Sardinien. Es handelte sich darum, das Schiff, das man gelöscht hatte, wieder zu laden. Die zweite Operation verlief so günstig wie die erste. Die für das Großherzogtum Lucca bestimmte Ladung bestand fast ausschließlich aus Xeres- und Malagaweinen. Hier geriet man in Streit mit Zollbeamten; ein Zollwächter blieb auf dem Platze, und zwei Matrosen wurden verwundet. Dantes war einer von diesen beiden; eine Kugel hatte ihm eine Fleischwunde an der linken Schulter verursacht.

 

Dantes war mit diesem Verlauf der Dinge durchaus zufrieden; mit Freuden hatte er bemerkt, wie wenig ihm Gefahr und Leiden anhaben konnten. Er hatte die Gefahr lachend angeschaut, und als er den Schuß erhielt, sagte er wie der griechische Philosoph: Schmerz, du bist kein Übel. Er war auf dem Wege, den er durchlaufen wollte, und ging unentwegt dem Ziele zu, das er zu erreichen gedachte. Sein Herz war im Begriff, sich in seiner Brust zu versteinern. Jacopo, der Dantes, als er ihn fallen sah, für tot hielt, stürzte auf ihn zu, hob ihn auf und pflegte ihn auch nachher als trefflicher Kamerad.

 

Die Welt war also nicht so schlecht, wie sie Dantes nach seiner Gefangenschaft ansah, da dieser Mensch, der von seinem Gefährten nichts zu erwarten hatte, als daß er seinen Prisenanteil erben konnte, so lebhaft bekümmert war, weil er ihn sterben sehen sollte. Glücklicherweise war Edmond nur leicht verwundet. Edmond wollte Jacopo prüfen; er bot ihm für die Pflege, die er von ihm empfangen hatte, seinen Prisenanteil; aber Jacopo schlug das Anerbieten mit Entrüstung aus.

 

Die Folge der sympathischen Ergebenheit, die Jacopo Edmond vom ersten Augenblick an, wo er ihn sah, widmete, war, daß auch Edmond seinerseits dem Kameraden einige Zuneigung schenkte. Mehr verlangte Jacopo nicht; er hatte bei Edmond die Überlegenheit herausgefühlt, die dieser vor den andern zu verbergen wußte, und der brave Seemann war mit dem wenigen, was ihm Edmond zugestand, zufrieden. Während der langen Fahrtage unterrichtete Edmond, eine Seekarte in der Hand, Jacopo, wie der arme Abbé Faria sein Lehrer gewesen war. Er prägte ihm die Lage der Küsten ein und erklärte ihm den Gebrauch des Kompasses. Wenn Jacopo, der aus Korsika stammte, ihn fragte: Wozu soll ein armer Matrose wie ich all dies lernen? so antwortete Edmond: Wer weiß, du wirst vielleicht eines Tags Schiffskapitän, dein Landsmann Bonaparte ist Kaiser geworden.

 

Man hatte bereits dritthalb Monate mit diesen Fahrten hingebracht. Edmond war ein ebenso geschickter Küstenfahrer geworden, als er zuvor ein kühner Seefahrer gewesen war; er hatte mit allen Schmugglern des Gestades Bekanntschaft gemacht und war zwanzigmal an seiner kleinen Insel Monte Christo hin und her gefahren, hatte aber nie Gelegenheit gefunden, dort zu landen. Er faßte daher den Entschluß, sobald sein Vertrag mit dem Patron der Amalie zu Ende wäre, eine kleine Barke auf eigene Rechnung zu mieten und sich unter irgend einem Vorwande nach der Insel Monte Christo zu begeben. Dort wollte er endlich seine Nachforschungen nach dem Schatze der Spada anstellen.

 

Edmond war im Gefängnis klug geworden. Er hätte es daher gern unterlassen, mit anderen die Insel aufzusuchen und diese so möglicherweise zu Zeugen seines Glückes zu machen. Aber er fand kein anderes Mittel, auf die so sehr ersehnte Insel zu gelangen, als das, sich dahin führen zu lassen. Noch erwog er zögernd seinen Plan, als der Patron, der ein großes Vertrauen in ihn setzte und ihn in seinem Dienste zu behalten wünschte, ihn eines Abends beim Arme nahm und ihn in eine Taverne der Via del Oglio führte, wo sich der Rahm der Livorner Schmugglerwelt zu versammeln pflegte. Es handelte sich diesmal um ein größeres Unternehmen: man mußte für ein mit türkischen Teppichen und Stoffen beladenes Schiff ein neutrales Gebiet finden, wo der Austausch statthaben konnte, und dann die Gegenstände auf die französische Küste zu werfen suchen. Der Patron der Amalie schlug als Ausschiffungsort die gänzlich verlassene Insel Monte Christo vor. Bei dem Namen Monte Christo bebte Dantes vor Freude; er stand auf, um seine Bewegung zu verbergen, und machte einen Gang durch die rauchige Taverne. Als man ihn um Rat fragte, meinte er, die Insel biete alle mögliche Sicherheit, übrigens müßten große Unternehmungen, wenn sie gelingen sollten, schnell ausgeführt werden. Es wurde also beschlossen, bei Monte Christo vor Anker zu gehen und schon am folgenden Abend die Fahrt anzutreten.