Nummer 34 und Nummer 27.

Nummer 34 und Nummer 27.


Dantes durchlief alle Stufen des Unglücks, welche den im Kerker der Vergessenheit überantworteten Gefangenen bevorstehen.


Die erste Stufe war der Stolz, eine Folge der Hoffnung und eines unschuldigen Gewissens. Dann fing er an, an seiner Unschuld zu zweifeln, was die Ansichten des Gouverneurs, sein Geist sei zerrüttet, einigermaßen rechtfertigte. Endlich sank er von der Höhe seines Stolzes herab; er flehte noch nicht zu Gott, aber zu den Menschen. Der Unglückliche, der mit dem Herrn anfangen sollte, gelangt erst dazu, auf ihn zu hoffen, wenn er alle andern Hoffnungen erschöpft hat.


Dantes flehte also, man möchte ihn aus seinem Kerker ziehen und ihn in einen andern bringen, und wäre er auch noch finsterer und tiefer. Eine Veränderung, ganz gleich was für eine, war doch immer eine Veränderung und sollte ihm wenigstens für ein paar Tage Zerstreuung verschaffen. Er bat um einen Spaziergang, um Luft, Bücher, Instrumente. Nichts wurde ihm gewährt. Trotzdem fuhr er fort zu flehen. Er hatte sich daran gewöhnt, mit seinem neuen Gefangenenwärter zu sprechen, obgleich dieser womöglich noch stummer war, als der vorhergehende; aber mit einem Menschen zu sprechen, wenn auch mit einem stummen, war für den Armen schon ein Vergnügen; er redete, um den Ton seiner eigenen Stimme zu hören. Er hatte auch versucht, zu sprechen, wenn er allein war, aber dann fürchtete er sich vor sich selbst.


Eines Tages ersuchte er sogar den Kerkermeister, er möge dem Gouverneur seine Bitte um einen Gefährten vortragen, und wäre es auch der verrückte Abbé, von dem er hatte sprechen hören; man schlug ihm seine Bitte ab.


Nachdem Dantes vergeblich alle menschlichen Hilfsmittel erschöpft hatte, kehrte er, wie es nicht anders sein konnte, zu Gott zurück. Er erinnerte sich der Gebete, die ihn seine Mutter gelehrt hatte, und fand in ihnen einen ihm früher unbekannten Sinn; er betete aber nicht mit Inbrunst, sondern mit Leidenschaft. Wenn er laut betete, erschrak er auch nicht mehr über seine Worte, sondern er geriet in Entzückung; er sah Gott bei jedem Worte erscheinen, das er aussprach. Alle Handlungen seines bescheidenen Lebens bezog er auf den Willen dieses mächtigen Gottes, entnahm sich Lehren daraus und stellte sich Aufgaben, die er erfüllen wollte, und am Ende jedes Gebetes schlich sich der eigennützige Wunsch ein, den die Menschen viel öfter an ihre Mitmenschen, als an Gott zu richten Gelegenheit haben: Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!


Trotz seiner heißen Gebete blieb Dantes gefangen.


Nun verdüsterte sich sein Geist, und die Wolke vor seinen Augen wurde immer schwerer. Dantes war ein einfacher Mensch ohne Erziehung und ohne größeres Wissen, das ihm in seiner Einsamkeit hätte Trost und Unterhaltung bieten können. Auf seine schwärmerisch-religiöse Aufregung folgte die Wut. Er schleuderte Gotteslästerungen um sich, vor denen der Kerkermeister vor Abscheu zurückwich. Er raste mit seinem Leibe gegen die Mauern des Gefängnisses, er griff in voller Wut nach allem, was ihn umgab, bei dem geringsten Ärger, den ein Sandkorn, ein Strohhalm, ein Windhauch in ihm erregte. Dann erinnerte er sich des denunzierenden Briefes, den er gesehen, den ihm Villefort gezeigt, den er berührt hatte, und jeder Buchstabe kam wie ein züngelndes Feuer aus der Mauer hervor. Er sagte sich, es sei der Haß der Menschen und nicht die Rache Gottes, die ihn in diesen Abgrund gestürzt. Er überlieferte diese unbekannten Menschen allen Strafen, die seine glühende Einbildungskraft zu ersinnen vermochte, und fand, daß die furchtbarsten noch zu leicht und besonders zu kurz für sie wären; denn nach den Strafen kam der Tod, und der Tod war, wenn nicht die Ruhe, doch wenigstens die Unempfindlichkeit, die ihr gleicht.


Dadurch, daß er sich in Beziehung auf seine Feinde immer wieder sagte, die Ruhe sei im Tode, und der, welcher grausam bestrafen wolle, bedürfe anderer Mittel, als des Todes, verfiel er auf Selbstmordgedanken. Wehe dem, der auf dem Abhang des Unglücks bei diesen unseligen Gedanken stille steht! Wird man von ihnen einmal recht gepackt, so ist alles vorbei, und jeder Versuch, den er unternimmt, reißt den Unglücklichen nur noch mehr in die Arme des Todes.


Sobald dieser Gedanke in dem Geiste des jungen Mannes gekeimt hatte, wurde er sanfter, freundlicher, er fügte sich besser in sein hartes Bett und in sein schwarzes Brot, aß weniger, schlief nicht mehr und fand diesen Rest des Daseins, den er ja, wann er wollte, von sich zu werfen vermochte, fast erträglich. Es gab zwei Mittel zu sterben. Das eine war einfach: er durfte nur sein Taschentuch an eine Fensterstange binden und sich daran hängen; das andere bestand darin, daß er sich stellte, als äße er, und sich doch Hungers sterben ließ. Das erste widerstrebte Dantes. Er war im Abscheu vor den Seeräubern aufgewachsen, vor diesen Menschen, die man an den Raen aufhängt; das Hängen war für ihn eine Art von entehrender Strafe, die er nicht an sich selbst vollziehen wollte. Er wählte also das zweite Mittel und begann die Ausführung noch an demselben Tage.


Es waren nun beinahe vier Jahre hingegangen. Am Ende des zweiten hatte Dantes die Tage zu zählen aufgehört und von neuem die Kenntnis der Zeit verloren. Er hatte sich gesagt: Ich will sterben, und die Todesart gewählt; er hatte sich die Tat fest vorgenommen und aus Furcht, er könnte von seinem Entschlusse abgehen, sich selbst einen Eid geleistet, so zu sterben. Wenn man mir mein Frühstück und mein Abendbrot bringt, sagte er sich, so werfe ich die Speisen zum Fenster hinaus, und man wird glauben, ich habe sie verzehrt.


Er tat, wie er es sich gelobt hatte. Zweimal des Tages warf er durch die kleine, vergitterte Öffnung, die ihn nur den Himmel erschauen ließ, die Speisen, anfangs heiter, dann mit Überlegung und endlich mit Bedauern. Die Lebensmittel, die ihn einst angewidert hatten, ließ jetzt der scharfzähnige Hunger seinem Auge appetitlich und seiner Nase köstlich erscheinen. Zuweilen hielt er eine Stunde lang die Platte, auf der sie lagen, in der Hand, das Auge starr auf ein Stück faules Fleisch, auf den übelriechenden Fisch und auf das schwarze, schimmelige Brot richtend. Es waren die letzten Instinkte des Lebens, die noch in ihm kämpften und seinen Entschluß wankend machten. Dann erschien ihm sein Kerker nicht mehr so düster und sein Zustand minder verzweiflungsvoll. Er war noch jung, er mußte erst fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt sein, es blieben ihm noch fünfzig Jahre zu leben übrig, das heißt, zweimal so viel, als er bereits gelebt hatte. Welche Ereignisse konnten während dieses unermeßlichen Zeitraumes die Türen sprengen, die Mauern des Kastells If umstürzen und ihm die Freiheit wiedergeben! Dann näherte er seine Zähne dem Mahle, das er, ein freiwilliger Tantalus, selbst von seinem Munde entfernte. Doch er erinnerte sich seines Schwures, und seine edle Natur schrak zu sehr davor zurück, sich selbst verachten zu müssen, als daß sie diesen Schwur verletzt hätte. Er zerstörte also streng und unbarmherzig das wenige Leben, das ihm noch übrig blieb, und es erschien ein Tag, wo er nicht mehr die Kraft hatte, aufzustehen, um das Abendbrot, das man ihm brachte, durch das Luftloch zu werfen.


Am andern Tage sah er nichts mehr, und auch sein Gehör war schon merklich schwächer geworden. Der Kerkermeister glaubte an eine ernste Krankheit; Edmond hoffte auf einen nahen Tod. So verlief der Tag. Edmond fühlte, daß eine Art Erstarrung, die ihm ein gewisses Wohlbehagen bereitete, sich seiner bemächtigte. Die Zuckungen seines Magens hatten sich gemildert. Wenn er die Augen schloß, sah er eine Anzahl glänzender Punkte, Irrlichtern gleich, über die Wände tanzen. Es war die Dämmerung des unbekannten Landes, das man den Tod nennt.


Plötzlich vernahm er abends 9 Uhr ein dumpfes Geräusch an der Wand, an der er lag. – Ratten und ähnliche Tiere hatten in seinem Kerker so oft Lärm gemacht, daß Edmond allmählich in seinem Schlaf durch solche Kleinigkeiten nicht mehr gestört wurde. Aber dieser Lärm war so stark und so eigentümlich, daß er sich erhob, um besser zu hören.


Es war ein Kratzen, das von einer ungeheuren Kralle, einem mächtigen Zahn, oder vom Druck irgend eines Werkzeuges auf die Steine herzurühren schien.


Trotz seines geschwächten Zustandes wurde der junge Mann durch den beständig den Geist des Gefangenen beschäftigenden Gedanken an die Freiheit heftig bewegt. Da aber dieses Geräusch gerade in dem Augenblick laut wurde, wo alles Geräusch für ihn aufhören sollte, so schien es ihm, als wollte sich Gott endlich barmherzig gegen seine Leiden zeigen und ihm durch dieses Geräusch verkündigen, er solle am Rande des Grabes, an dem bereits sein Fuß wankte, still stehen. Wer konnte wissen, ob nicht einer von seinen Freunden, eines von den geliebten Wesen, an die er so oft gedacht hatte, sich in diesem Augenblicke mit ihm beschäftigte und die Entfernung, die sie voneinander trennte, aufzuheben suchte?


Aber nein, er täuschte sich ohne Zweifel und wurde von einem Traume verführt, wie sie die Pforte des Todes umschweben.


Jedoch das Geräusch hörte nicht auf; es dauerte ungefähr drei Stunden; dann vernahm Edmond eine Art von Rollen, und nun verstummte das Geräusch, um erst nach einigen Stunden wieder näher und näher zu ertönen. Schon war sein Interesse für diese sonderbaren Töne, die auf ihn Beziehung zu haben schienen, erwacht, da plötzlich trat der Gefangenwärter ein.


Seit den acht Tagen, da er zu sterben beschlossen hatte, hatte Edmond mit diesem Menschen kein Wort gesprochen. Er antwortete ihm nicht, wenn er ihn fragte, von welcher Krankheit er befallen sei, und wandte sich nach der Mauer um, wenn er zu aufmerksam betrachtet wurde. Aber heute fürchtete er, der Wärter könnte das dumpfe Geräusch vernehmen, sich darüber beunruhigen, ihm ein Ende bereiten und so irgend eine Hoffnung zerstören, die schon in der Vorstellung Dantes‘ letzte Augenblicke verschönerte.


Er erhob sich daher in seinem Bette und begann, seine Stimme möglichst verstärkend, über alle möglichen Gegenstände zu sprechen, über die schlechten Speisen, die man ihm brachte, über die Kälte, die er in seinem Kerker leiden müsse; er murrte und brummte und ermüdete die Geduld des Wärters, der gerade an diesem Tage sich für den Gefangenen Fleischbrühe und ein weißes Brot erbeten hatte. Zum Glücke glaubte er, Dantes rede im Fieber; er stellte die Speisen auf den schlechten, wackligen Tisch und entfernte sich.


Nun fing Edmond wieder an, freudig zu horchen. Das Geräusch wurde so deutlich, daß er es jetzt ohne die geringste Anstrengung hören konnte.


Es unterliegt keinem Zweifel mehr, sagte er zu sich selbst, da dieses Geräusch fortdauert, obgleich es bereits Tag ist, so muß es ein unglücklicher Gefangener wie ich sein, der an seiner Befreiung arbeitet. Oh! wenn ich bei ihm wäre, wie wollte ich ihn unterstützen!


Dann schwand plötzlich wieder die Hoffnung in seinem Gehirn, das an das Unglück gewöhnt war und nur schwer an etwas Freudiges glauben konnte. Er kam auf den Gedanken, das Geräusch werde durch Arbeiter verursacht, die der Gouverneur irgend eine Mauerarbeit machen lasse.


Er konnte sich hiervon leicht überzeugen; aber wie sollte er eine Frage wagen? Er konnte allerdings warten, bis sein Kerkermeister wiederkäme, konnte ihn das Geräusch hören lassen und seine Miene beobachten, wenn er es hörte. Aber hieß das nicht die kostbarsten Interessen für einen kurzen Genuß verraten? Edmond fand nur ein Mittel, scharfe Überlegung und klares Urteil wiederzugewinnen: er wandte seine Augen nach der noch rauchenden Fleischbrühe, die der Gefangenwärter auf den Tisch gestellt hatte, ging wankend hin, setzte die Tasse an den Mund und schlürfte den Trank mit einem unbeschreiblichen Gefühle des Wohlbehagens.


Dann besaß er den Mut, sich fürs erste hiermit genügen zu lassen; er erinnerte sich, gehört zu haben, daß unglückliche Schiffbrüchige, die man vor Hunger entkräftet gefunden hatte, daran gestorben waren, daß sie zu gierig Speisen verschlangen. Er setzte daher das Brot, das er bereits zum Munde führte, auf den Tisch und legte sich wieder nieder. Bald fühlte er, daß der Tag in sein Gehirn zurückkehrte; er konnte wieder denken und seine Gedanken ordnen.


Dann sagte er zu sich selbst: Man muß die Probe machen, aber ohne jemand zu gefährden. Ist der, dessen Geräusch ich vernehme, ein gewöhnlicher Arbeiter, so brauche ich nur an die Mauer zu schlagen, und er wird sogleich seine Tätigkeit einstellen und zu erraten suchen, wer der Schlagende ist, und in welcher Absicht er schlägt. Da aber seine Arbeit befohlen ist, so wird er sie bald wieder fortsetzen. Ist er jedoch ein Gefangener, so wird ihn der Lärm erschrecken. Er wird befürchten, entdeckt zu werden, seine Arbeit aufgeben und erst am Abend, wenn er alles schlafend glaubt, von neuem beginnen.


Sogleich erhob sich Edmond zum zweitenmal. Diesmal wankten seine Beine nicht mehr, und seine Augen waren nicht mehr geblendet. Er ging in eine Ecke seines Gefängnisses, machte einen durch die Feuchtigkeit unterhöhlten Stein los und schlug gerade an der Stelle, wo das Geräusch am deutlichsten war, an die Mauer.


Er klopfte dreimal. – Schon beim ersten Schlage hörte das Geräusch wie durch einen Zauber auf. Edmond horchte mit aller Anstrengung. Eine Stunde verging, zwei Stunden vergingen, kein neues Geräusch ließ sich vernehmen. Voll Hoffnung aß Edmond einige Bissen von seinem Brot, trank ein paar Schluck Wasser, und bei der vorzüglichen Körperbeschaffenheit, mit der ihn die Natur begabt halte, befand er sich beinahe wieder wie zuvor.


Der Tag verging, die Stille dauerte fort. Die Nacht kam, ohne daß das Geräusch wieder begonnen hatte.


Es ist ein Gefangener, sagte Edmond mit unbeschreiblicher Freude zu sich selbst. Von dieser Zeit an erhellte sich sein Geist, und die Lust zum Leben erwachte mit voller Kraft. Die Nacht ging vorüber, ohne daß sich das geringste vernehmen ließ. Edmond schloß aber in dieser Nacht die Augen nicht.


Der Tag erschien, und der Gefangenwärter brachte die gewöhnlichen Lebensmittel. Edmond hatte die vorigen bereits verschlungen; er verschlang auch diese, horchte unablässig auf das Geräusch, das nicht wieder kam, fürchtete, es könnte für immer aufgehört haben, legte fünf bis sechs Meilen in seinem Kerker zurück, rüttelte zwei Stunden lang an den eisernen Stangen seines Luftloches und gab seinen Gliedern dadurch die längst entbehrte Geschmeidigkeit und Stärke wieder. In den Zwischenräumen dieser fieberhaften Tätigkeit horchte er, ob das Geräusch nicht wiederkehrte, und er ärgerte sich über die Klugheit des Gefangenen, der nicht vermuten konnte, daß er in seinem Befreiungswerke von einem andern Gefangenen gestört worden sei, der wenigstens ebenso große Eile hatte, frei zu werden, wie er selbst.


Es vergingen drei Tage, zweiundsiebzig tödliche Stunden, Minute um Minute abgezählt.


Endlich, eines Abends, als der Wärter seinen letzten Besuch gemacht hatte, als Dantes zum hundertstenmal sein Ohr an die Wand hielt, schien es ihm, als ob eine unmerkliche Erschütterung dumpf in seinem Kopfe, den er an die schweigenden Steine gelegt hatte, wiederklinge.


Er wich zurück, um sein erregtes Gehirn ins Gleichgewicht zu bringen. Dann machte er einige Schritte im Zimmer und hielt nun erst wieder sein Ohr an denselben Ort. Es unterlag keinem Zweifel mehr, es ging etwas auf der anderen Seite vor. Der Gefangene hatte die Gefahr erkannt und, um seine Arbeit sicherer fortzusetzen, statt eines Meißels ein Hebeisen genommen.


Durch diese Entdeckung ermutigt, beschloß Edmond, dem unbekannten Arbeiter zu Hilfe zu kommen. Er fing damit an, daß er sein Bett wegrückte, hinter dem ihm das Befreiungswerk ausgeführt zu werden schien; dann suchte er einen Gegenstand, mit dem er die Wand aufritzen, den feuchten Mörtel herausbrechen und einen Stein losmachen könnte. – Nichts zeigte sich seinem Auge. Er besaß weder ein Messer, noch irgend ein anderes schneidendes Instrument. Eisen war nur an seinen Fensterstangen vorhanden, und er hatte sich oft genug überzeugt, daß sie zu fest eingelötet waren, um sich lösen zu lassen.


Das ganze Gerät seines Zimmers bestand aus einem Bett, einem Stuhle, einem Tische, einem Eimer und einem Kruge. An dem Bett waren wohl eiserne Bänder, aber sie waren durch Schrauben am Holz befestigt. Man hätte einen Schraubenzieher haben müssen, um sie loszumachen. An dem Tische und dem Stuhle war nichts. Am Eimer fehlte der Henkel. Es gab für Dantes nur noch ein Mittel: seinen Krug zu zerbrechen und mit einem Scherben sich an die Arbeit zu machen. Er ließ seinen Krug auf den Boden fallen, daß er in Stücke zerbrach. Dantes wählte einige spitzige Scherben, verbarg sie in seinem Strohsack und ließ die andern auf der Erde liegen. Das Zerbrechen des Kruges war eine so nahe liegende Möglichkeit, daß es keinen Argwohn erregen konnte.


Edmond hatte die ganze Nacht zum Arbeiten; doch in der Dunkelheit ging es schlecht vorwärts, denn er mußte tastend arbeiten, und er fühlte bald, daß sich sein schwaches Werkzeug an dem Sandstein abstumpfte, der härter war, als das Instrument. Er stieß also sein Bett wieder zurück und wartete den Tag ab. Mit der Hoffnung war auch die Geduld zurückgekehrt. Die ganze Nacht hindurch hörte und horchte er auf den unbekannten Gräber, der sein unterirdisches Werk fortsetzte.


Der Tag erschien, und der Wärter trat ein. Dantes erzählte ihm, er habe am Abend zuvor aus dem Kruge getrunken; er sei seinen Händen entschlüpft, auf den Boden gefallen und zerbrochen. Der Wärter ging brummend fort, um einen neuen zu holen, ohne daß er sich nur die Mühe gab, die Stücke des alten zusammenzulesen und mitzunehmen.


Dantes hörte mit unsäglicher Freude das Klirren des Schlosses, dessen Zuschließen ihm früher das Herz zusammenschnürte. Er vernahm, wie die Schritte sich nach und nach entfernten. Sobald das Geräusch völlig erloschen war, sprang er nach seinem Lager, das er von seiner Stelle rückte, und beim Scheine des schwachen Tageslichts, das in seinen Kerker drang, konnte er sehen, welche nutzlose Arbeit er in der Nacht vorher getan hatte, er hatte nämlich den Stein selbst angegriffen statt den Kalk ringsum. Dieser Kalk war durch die Feuchtigkeit zerreibbar geworden. Dantes sah mit freudigem Herzklopfen, daß er sich in Bruchstücken ablöste, und nach Verlauf einer halben Stunde hatte er ungefähr eine Handvoll losgemacht. Ein Mathematiker hätte berechnen können, daß man mittels zweijähriger Arbeit, vorausgesetzt, man stieß auf keinen Felsen, sich auf diese Weise einen Gang von zwei Quadratfuß und von zwanzig Fuß Tiefe zu graben im stande gewesen wäre.


Der Gefangene machte es sich nun zum Vorwurf, daß er die vielen abgelaufenen Stunden, die er in der Hoffnung, im Gebete und in der Verzweiflung verloren, nicht zu dieser Arbeit verwendet hatte. In den sechs Jahren, die er ungefähr in diesem Kerker eingeschlossen war … welche Arbeit hätte er nicht, so langsam sie auch vor sich ging, vollendet! – Dieser Gedanke verlieh ihm neuen Eifer.


In drei Tagen gelang es ihm mit unerhörter Vorsicht, allen Mörtel wegzuschaffen und den Stein bloßzulegen. Die Wand war von Bruchsteinen gemacht, in die man, um ihr mehr Festigkeit zu geben, von Zeit zu Zeit einen behauenen Stein eingefügt hatte. Er hatte gerade an einem von den behauenen Steinen gearbeitet, und es handelte sich nun darum, ihn in seiner Lage zu erschüttern. Dantes versuchte es mit seinen Nägeln, aber seine Nägel waren hierfür ungenügend. Die in die Zwischenräume geschobenen Scherben zerbrachen aber, sobald sich Dantes ihrer als Hebel bedienen wollte. Nach einer Stunde fruchtloser Versuche erhob er sich mit Angstschweiß auf der Stirn.


Sollte er schon am Anfange seiner Arbeit gehemmt werden, und mußte er träge und unnütz warten, bis sein Nachbar, der ebenfalls müde werden konnte, alles getan hatte?


Der Gefangenwärter brachte Dantes‘ Suppe jeden Tag in einer blechernen Kasserolle. Diese Kasserolle enthielt seine Suppe und die eines zweiten Gefangenen, denn Dantes hatte bemerkt, daß dieselbe entweder ganz voll oder halb leer war, je nachdem der Schließer die Verteilung der Lebensmittel bei ihm oder seinem Gefährten anfing. Die Kasserolle hatte einen eisernen Stiel. Nach diesem Stiele trachtete Dantes, er hätte ihn, wenn es sein mußte, mit zehn Jahren seines Lebens bezahlt. Der Gefangenwärter goß den Inhalt der Kasserolle auf Dantes‘ Teller.


Am Abend stellte Dantes seinen Teller halbwegs zwischen Tür und Tisch auf den Boden. Als der Wärter eintrat, setzte er den Fuß auf den Teller und zerbrach ihn in tausend Stücke. Diesmal war nichts gegen Dantes zu sagen. Er hatte unrecht, seinen Teller auf dem Boden zu lassen; aber von dem Wärter war es unvorsichtig gewesen, nicht vor seine Füße zu schauen. Der letztere brummte, dann schaute er sich nach einem Gegenstand um, in den er die Suppe gießen könnte; Dantes‘ Mobiliar beschränkte sich auf diesen einzigen Teller, und es gab keine Wahl.


Lassen Sie die Kasserolle hier, sagte Dantes, Sie können sie wieder mitnehmen, wenn Sie morgen mein Frühstück bringen.


Dieser Rat schmeichelte der Trägheit des Gefangenwärters. Er hatte nicht nötig, hinaufzusteigen, wieder herabzusteigen und abermals hinaufzusteigen. Er ließ die Kasserolle zurück. Dantes bebte vor Freude. Diesmal verschlang er rasch seine Suppe und das Fleisch, das darin lag. Nachdem er eine Stunde gewartet hatte, um sicher zu sein, der Gefangenwärter würde nicht andern Sinnes werden, rückte er sein Bett auf die Seite, nahm seine Kasserolle, schob den Stiel zwischen den bloßgelegten Stein und die benachbarten Bruchsteine und fing an, sich desselben als Hebel zu bedienen. Nach Verlauf einer Stunde war wirklich der Stein aus der Mauer gezogen, in der er eine Aushöhlung von mehr als anderthalb Fuß im Durchmesser ließ.


Dantes sammelte sorgfältig allen Kalk, trug ihn in die Ecken seines Gefängnisses, kratzte die graue Erde mit einem von den Bruchstücken seines Kruges auf und bedeckte den Kalk damit.


Da er diese Nacht benutzen wollte, in der ihm der Zufall, oder vielmehr sein erfinderischer Geist ein so kostbares Werkzeug in die Hände gab, so fuhr er mit aller Anstrengung zu graben fort. Bei Tagesanbruch setzte er den Stein wieder in sein Loch, stieß sein Bett an die Wand und legte sich nieder.


Sein Frühstück bestand aus einem Stück Brot. Der Gefangenwärter trat ein und legte das Brot auf den Tisch.


Wie, Sie bringen mir keinen andern Teller? sagte Dantes.


Nein, sagte der Schließer, bei Ihnen wird alles zerbrochen, Sie haben den Krug zertrümmert und sind schuld, daß ich Ihren Teller in Stücke trat. Wenn alle Gefangenen so viel Schaden anrichten würden, könnte es die Regierung nicht mehr bezahlen. Sie behalten die Kasserolle hier und bekommen die Suppe hinein; dann werden Sie wohl das Geschirr nicht mehr zerbrechen.


Dantes schlug die Augen zum Himmel auf und faltete seine Hände auf dem Bette. Dieses ihm überlassene Stück Eisen erzeugte in seinem Herzen ein Gefühl der Dankbarkeit, wie es in seinem früheren Leben die größten Güter, die ihm zugeflossen waren, niemals erzeugt hatten. Nur war es ihm nicht entgangen, daß, seitdem er zu arbeiten begonnen, der andere Gefangene nicht mehr arbeitete. Ganz gleich, das war kein Grund, von dem Unternehmen abzustehen. Kam sein Nachbar nicht zu ihm, so ging er zum Nachbar. Er arbeitete den ganzen Tag ohne Unterlaß. Am Abend hatte er mit Hilfe seines neuen Werkzeuges mehr als zehn Hände voll Trümmer von Bruchsteinen und Mörtel aus der Mauer gezogen.


Als die Stunde des Besuches kam, richtete er, so gut er konnte, den gebogenen Stiel der Kasserolle wieder gerade und stellte das Gefäß an seinen gewöhnlichen Platz. Der Schließer schüttete die vorgeschriebene Ration hinein; dann entfernte er sich wieder. Diesmal wollte Dantes sich vergewissern, ob sein Nachbar wirklich seine Arbeit eingestellt hätte. Er horchte. Alles blieb still, wie während der drei Tage, wo die Arbeiten unterbrochen worden waren. Dantes seufzte. Sein Nachbar mißtraute ihm offenbar. Er ließ sich jedoch nicht entmutigen und setzte seine Arbeit die ganze Nacht fort; doch nach zwei bis drei Stunden stieß er auf ein Hindernis. Das Eisen faßte nicht mehr, sondern glitt aus; Dantes berührte das Hemmnis mit seinen Händen und bemerkte, daß es ein Balken war, der das mühsam ausgegrabene Loch gänzlich versperrte, so daß er darüber oder darunter graben mußte. An ein solches Hindernis hatte der unglückliche junge Mann nicht gedacht.


Oh! mein Gott, mein Gott! Ich habe dich doch so sehr gebeten, daß ich hoffte, du würdest mich erhören! Mein Gott, der du mir die Freiheit des Lebens, der du mir die Ruhe des Todes genommen, der du mich zum Dasein zurückgerufen hast, mein Gott! habe Mitleid mit mir und laß mich nicht in Verzweiflung sterben! rief Dantes erregt aus.


Wer spricht zugleich von Gott und von Verzweiflung? ließ sich eine Stimme vernehmen, die unter der Erde hervorzukommen schien und wie ein Grabeston zu dem jungen Mann drang.


Edmond fühlte, wie sich die Haare auf seinem Haupte sträubten, und wich auf den Knien zurück.


Ah! murmelte er, ich höre einen Menschen sprechen.


Seit vier oder fünf Jahren hatte Edmond nur die Stimme seines Kerkermeisters gehört, und für den Gefangenen ist der Kerkermeister kein Mensch. Er ist eine lebende Tür, ein Riegel von Fleisch.


Im Namen des Himmels! rief Dantes, Sie, der Sie gesprochen haben, sprechen Sie weiter, obgleich Ihre Stimme mich erschreckt hat. Wer sind Sie?


Wer sind Sie selbst? fragte die Stimme.


Ein unglücklicher Gefangener, versetzte Dantes.


Ihr Name? – Edmond Dantes. – Wie lange sind Sie hier? – Seit dem 28. Februar 1815. – Ihr Verbrechen? – Ich bin unschuldig. – Wessen klagt man Sie an? – Für die Rückkehr des Kaisers konspiriert zu haben.


Wie? Für die Rückkehr des Kaisers? Der Kaiser ist also nicht mehr auf dem Throne?


Er hat in Fontainebleu im Jahre 1814 entsagt und ist auf die Insel Elba verbannt worden. Aber wie lange sind Sie denn hier, daß Sie dies nicht wissen?


Seit 1811.


Dantes bebte; dieser Mann war vier Jahre länger im Gefängnis, als er.


Es ist gut, graben Sie nicht mehr! versetzte die Stimme schnell sprechend. Sagen Sie mir nur, auf welcher Höhe sich die Aushöhlung befindet, die Sie gemacht haben.


Dem Boden gleich. – Wie ist sie verborgen? – Hinter meinem Bette. – Wohin geht Ihr Zimmer? – Nach einem Gange, der nach dem Hofe mündet. – Ach! murmelte die Stimme.


Oh! mein Gott, was gibt es denn? rief Dantes.


Ich habe mich getäuscht, die Unvollkommenheit meiner Zeichnungen hat mich betrogen, der Mangel eines Kompasses hat mich zu Grunde gerichtet; eine Linie des Irrtums auf meinem Plane bedeutet fünfzehn Fuß in der Wirklichkeit, und ich hielt die Mauer, die Sie durchhöhlen, für die der Zitadelle.


Aber dann wären Sie an das Meer gekommen!


Das wollte ich, ich warf mich in die See, ich erreichte schwimmend eine von den Inseln, die das Kastell If umgeben, oder auch die Küste, und ich war gerettet.


Hätten Sie so weit schwimmen können?


Gott würde mir die Kraft verliehen haben; doch nun ist alles verloren. – Alles?


Ja. Stopfen Sie Ihr Loch wieder vorsichtig zu, arbeiten Sie nicht mehr, bekümmern Sie sich um nichts mehr, und erwarten Sie Kunde von mir.


Sagen Sie mir doch wenigstens, wer Sie sind. Ich bin … ich bin Nummer 27.


Sie mißtrauen mir also? fragte Dantes.


Edmond glaubte, ein bitteres Lachen zu hören. Oh! ich bin ein guter Christ! rief er, denn er fühlte instinktartig, daß der andere ihn verlassen wollte; ich schwöre Ihnen, daß ich mich eher töten lasse, als daß Ihre Henker, die zugleich die meinen sind, durch mich einen Schatten der Wahrheit zu sehen bekommen. Doch im Namen des Himmels, berauben Sie mich nicht Ihrer Gegenwart, berauben Sie mich nicht Ihrer Stimme, oder ich schwöre Ihnen, denn meine Kräfte gehen zu Ende, ich zerschmettere mir den Schädel an der Wand, und Sie haben sich meinen Tod vorzuwerfen.


Wie alt sind Sie? Ihre Stimme scheint die eines jungen Mannes zu sein.


Ich weiß mein Alter nicht, denn ich habe die Zeit, seitdem ich hier bin, nicht messen können. Ich weiß nur, daß ich neunzehn Jahre alt war, als ich am 28. Februar 1815 verhaftet wurde.


Noch nicht ganz fünfundzwanzig Jahre; in diesem Alter ist man noch kein Verräter, murmelte die Stimme.


Oh! nein! Ich schwöre es Ihnen, wiederholte Dantes. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt und wiederhole es, ich lasse mich eher in Stücke zerhauen, als daß ich Sie verrate.


Sie haben wohl daran getan, mit mir zu sprechen, Sie haben wohl daran getan, mich zu bitten; denn ich war im Begriff, einen andern Plan zu entwerfen und mich von Ihnen zu entfernen. Aber Ihr Alter beruhigt mich; ich werde wieder zu Ihnen kommen, warten Sie auf mich!


Wann?


Ich muß alles erwägen und werde Ihnen ein Zeichen geben.


Doch Sie verlassen mich nicht? Ich muß nicht allein bleiben? Sie kommen zu mir, oder Sie erlauben mir, zu Ihnen zu gehen. Wir fliehen miteinander, und wenn wir nicht fliehen können, so sprechen wir, Sie von Menschen, die Sie lieben, und ich von Menschen, die ich liebe. Sie müssen irgend jemand lieben?


Ich bin allein auf der Welt.


Dann lieben Sie mich! Sind Sie jung, so werde ich Ihr Kamerad; sind Sie alt, so bin ich Ihr Sohn. Ich habe einen Vater, der siebzig Jahre alt sein muß, wenn er noch lebt. Ich liebte nur ihn und ein junges Mädchen, namens Mercedes. Mein Vater hat mich nicht vergessen, dessen bin ich sicher; aber sie, Gott weiß, ob sie noch an mich denkt. Ich werde Sie lieben, wie ich meinen Vater liebte.


Es ist gut, erwiderte der Gefangene, morgen!


Diese Worte wurden mit einem Tone ausgesprochen, der Dantes überzeugte. Mehr verlangte er nicht; er stand auf, traf dieselben Vorsichtsmaßregeln in Bezug auf die Mauertrümmer, wie er sie früher getroffen hatte, und stieß sein Bett wieder an die Wand.


Von diesem Augenblick an überließ sich Dantes ganz und gar seinem Glück. Er hoffte sicher, nicht mehr allein zu sein, er hoffte sogar, vielleicht frei zu werden. Im schlimmsten Falle hatte er, wenn er Gefangener blieb, einen Gefährten. Geteilte Gefangenschaft aber ist nur halbe Gefangenschaft. Den ganzen Tag ging Dantes freudigen Herzens in seinem Kerker auf und ab. Er setzte sich auf sein Bett und preßte seine Brust mit der Hand. Bei dem geringsten Geräusch, das er im Gang vernahm, sprang er nach der Tür. Ein paarmal stieg ihm die Furcht zu Kopf, man könnte ihn von diesem Manne trennen, den er nicht kannte und doch schon wie einen Freund liebte. Dann war er entschlossen; in dem Augenblick, wo der Kerkermeister sein Bett wegrückte und sich bückte, um die Öffnung zu untersuchen, wollte er ihm mit dem Boden seines Kruges den Schädel einschlagen. Man verurteilte ihn dann zum Tode, das wußte er wohl; mußte er aber nicht vor Zorn und Verzweiflung in dem Augenblick sterben, wo ihn dieses wunderbare Geräusch dem Leben zurückgegeben hatte?



Am Abend kam der Wärter. Dantes lag auf seinem Bette; es kam ihm vor, als bewachte er so die unvollendete Öffnung besser. Ohne Zweifel betrachtete er den ungelegenen Besuch mit sonderbaren Augen, denn dieser sagte: Wie, sollten Sie wieder ein Narr werden?


Dantes antwortete nicht, er fürchtete, die Aufregung seiner Stimme könnte ihn verraten, und der Mann entfernte sich, den Kopf schüttelnd.


Als die Nacht eingetreten war, glaubte Dantes, sein Nachbar würde die Stille und Dunkelheit benutzen, um das Gespräch wieder mit ihm anzuknüpfen. Aber er täuschte sich, die Nacht verlief, ohne daß irgend ein Geräusch seiner fieberhaften Erwartung entsprach. Am andern Tage aber, nach dem Morgenbesuche und nachdem er sein Bett von der Wand entfernt hatte, hörte er drei Schläge in gleichen Zwischenräumen. Er stürzte auf die Knie.


Sind Sie es? sprach er; ich bin hier.


Ist Ihr Kerkermeister fort? fragte die Stimme.


Ja, antwortete Dantes, und er wird erst am Abend wiederkommen. Wir haben zehn Stunden für uns.


Ich kann also ans Werk gehen? sprach die Stimme.


Oh, ja, ja, ohne Zögern, auf der Stelle, ich bitte Sie!


Sogleich schien der Teil der Erde, auf den Dantes, halb in der Öffnung verborgen, seine Hände stützte, unter ihm zu weichen. Er warf sich zurück, während eine Masse von Erde und abgelösten Steinen in ein Loch stürzte, das sich unter der von ihm bewerkstelligten Öffnung ausgehöhlt hatte. Dann sah er im Hintergrunde dieses finstern Lochs, dessen Tiefe er nicht ermessen konnte, einen Kopf, Schultern und endlich einen ganzen Menschen erscheinen, der ziemlich behend aus der Höhlung hervorkam.


Ein gelehrter Italiener.

 

Ein gelehrter Italiener.

 

Dantes schloß den neuen, so lange und so ungeduldig erwarteten Freund in seine Arme und zog ihn zu seinem Fenster hin, damit ihn das wenige Licht, das in seinen Kerker drang, völlig beleuchte.

 

Es war ein Mann von mittlerem Wuchse, mit Haaren, mehr durch Leiden, als vom Alter gebleicht, mit durchdringenden Augen unter dichten, grau werdenden Brauen und einem noch schwarzen Barte, der auf seine Brust herabfiel. Die Magerkeit seines von tiefen Runzeln ausgehöhlten Gesichtes, die kühne Linie seiner charakteristischen Züge verkündeten einen Mann, der mehr gewohnt war, seine moralischen Fähigkeiten, als seine körperlichen Kräfte zu üben. Die Stirn des Unbekannten war mit Schweiß bedeckt.

 

Was seine Kleidung betrifft, so ließ sich ihre ursprüngliche Form nicht unterscheiden, denn sie zerfiel in Lumpen. Er schien wenigstens fünfundsechzig Jahre alt zu sein, obgleich seine kraftvollen Bewegungen darauf hindeuteten, daß er weniger Jahre zähle, als sein Äußeres infolge der langen Gefangenschaft vermuten ließ.

 

Die enthusiastische Begrüßung des jungen Mannes tat ihm offenbar wohl. Seine vereiste Seele schien sich einen Augenblick bei der Berührung mit dieser glühenden Seele zu erwärmen und zu schmelzen. Er dankte Dantes aufrichtig für seine Herzlichkeit, obgleich seine Enttäuschung groß gewesen war, als er einen zweiten Kerker fand, wo er die Freiheit zu finden gehofft hatte.

 

Wir wollen zuerst sehen, sagte er, ob wir ein Mittel haben, vor den Augen Ihres Wärters die Spuren meines Durchbruches zu verbergen. Unsere ganze zukünftige Ruhe hängt davon ab, daß nichts von dem, was vorgefallen ist, bekannt wird. Dann bückte er sich nach der Öffnung, nahm den Stein, hob ihn trotz seines Gewichtes leicht auf und schob ihn in das Loch. Dieser Stein wurde sehr nachlässig ausgebrochen, sagte er, den Kopf schüttelnd; Sie haben also keine Werkzeuge?

 

Haben Sie denn welche? fragte Edmond erstaunt.

 

Ich habe mir einige gemacht; außer einer Feile besitze ich alles, was man braucht, Meißel, Zange, Hebel.

 

Oh, ich wäre sehr begierig, diese Erzeugnisse Ihrer Geduld und Ihrer Geschicklichkeit zu sehen, sagte Dantes.

 

Sehen Sie, hier ist vor allem ein Meißel.

 

Und er zeigte ihm eine starke, scharfe Klinge mit einem Hefte aus Buchenholz.

 

Wovon haben Sie das gemacht?

 

Aus einem von den Bändern meines Bettes. Mit diesem Werkzeug habe ich mir den ganzen Weg ausgehöhlt, der mich bis hierher führte, ungefähr fünfzig Fuß.

 

Fünfzig Fuß! rief Dantes erschreckt.

 

Reden Sie leiser, junger Mann, reden Sie leiser; es kommt oft vor, daß man an den Türen der Gefangenen horcht.

 

Und Sie sagen, Sie haben fünfzig Fuß durchhöhlt, um hierher zu gelangen?

 

Ja, dies ist ungefähr die Entfernung, die mein Zimmer von dem Ihrigen trennt; nur habe ich in Ermangelung von geometrischen Instrumenten meine krumme Linie schlecht berechnet; statt vierzig Fuß war sie fünfzig lang. Ich hoffte, wie ich Ihnen gesagt habe, bis zur äußeren Mauer zu gelangen, diese Mauer zu durchhöhlen und mich ins Meer zu werfen. Ich habe längs dem Gang, an den Ihr Zimmer stößt, gearbeitet, statt darunter durchzudringen. Meine ganze Arbeit ist umsonst, denn dieser Gang führt auf einen Hof, der voll von Wachen ist.

 

Das ist wahr, sagte Dantes, aber der Gang läuft nur an einer Seite meines Zimmers hin, und mein Zimmer hat vier.

 

Ja, richtig, aber hier ist vor allem eine, deren Mauern der Felsen bildet. Es bedürfte einer zehnjährigen Arbeit von zehn mit allen Werkzeugen versehenen Männern, um durch den Felsen zu kommen. Die andere muß an den Raum unterhalb der Wohnung des Gouverneurs hinführen; wir würden in den Keller geraten, der offenbar abgeschlossen ist, und man würde uns wieder gefangen nehmen. Die dritte Seite, warten Sie, wohin geht die dritte Seite? Diese Seite war die, wo man das Luftloch angebracht hatte, durch welches das Tageslicht eindrang. Dieses Luftloch, das sich immer mehr verengte, bis zu der Stelle, wo es dem Tageslichte Eingang gewährte, und wo ein Kind sich nicht hätte durchzwängen können, war überdies mit drei Reihen eiserner Stangen verwahrt, die auch den argwöhnischsten Kerkermeister keine Entweichung befürchten ließen.

 

Der Unbekannte aber zog, während er seine Frage stellte, den Tisch unter das Fenster und sagte zu Dantes: Steigen Sie auf diesen Tisch!

 

Dantes gehorchte, stieg auf den Tisch, lehnte, die Absicht seines Gefährten erratend, seinen Rücken an die Mauer und hielt ihm seine Hände hin. Der andere stieg nun behender, als sein Alter annehmen ließ, zuerst auf den Tisch, dann auf Dantes‘ Hände und von da auf seine Schultern. Halb gebückt, denn das Gewölbe des Kerkers hinderte ihn, sich auszurichten, streckte er den Kopf zwischen die erste Reihe der Stangen und war nun im stande, hinabzuschauen. – Einen Augenblick nachher zog er rasch den Kopf zurück und sprang auf die Erde.

 

Oh! oh! sagte er, ich hatte es vermutet.

 

Was hatten Sie vermutet? fragte der junge Mann ängstlich und sprang ebenfalls herab. Der alte Gefangene überlegte, dann sagte er: Diese Seite Ihres Kerkers geht auf die äußere Galerie, auf eine Art Rundgang, über den die Patrouillen kommen und wo Schildwachen stehen. Ich habe den Tschako eines Soldaten gesehen und zog mich nur aus Furcht, er könnte mich wahrnehmen, so schnell zurück; es ist also unmöglich, durch Ihren Kerker zu entfliehen.

 

Also? frug der junge Mann.

 

Also geschehe der Wille Gottes!

 

Und ein Ausdruck tiefer Resignation verbreitete sich über die Gesichtszüge des Greises. Dantes schaute den Mann, der mit so viel Philosophie auf eine seit langer Zeit genährte Hoffnung Verzicht leistete, mit einem mit Bewunderung gemischten Erstaunen an.

 

Wollen Sie mir nun sagen, wer Sie sind? fragte Dantes.

 

Oh! mein Gott, ja, wenn es Sie noch interessieren kann, jetzt, da ich für Sie zu nichts mehr gut bin.

 

Sie können mir dazu gut sein, daß Sie mich trösten und aufrecht erhalten, denn Sie scheinen mir ein Starker unter den Starken zu sein.

 

Der Alte lächelte traurig und sagte: Ich bin der Abbé Faria, seit 1811 Gefangener im Kastell If, war jedoch vorher drei Jahre lang in der Festung Fenestrelle eingesperrt. Im Jahre 1808 brachte man mich von Piemont nach Frankreich. Damals erfuhr ich, daß das Schicksal, das ihm zu jener Zeit untertan zu sein schien, Napoleon einen Sohn gegeben hatte, und daß dieser Sohn in der Wiege zum König von Rom ernannt worden sei. Ich war weit entfernt, zu ahnen, was Sie mir vorhin sagten, daß nämlich vier Jahre später der Koloß eingestürzt ist. Wer regiert denn jetzt in Frankreich? Napoleon II.?

 

Nein, Ludwig XVIII.

 

Ludwig XVIII., der Bruder Ludwigs XVI.! Die Wege des Himmels sind seltsam und geheimnisvoll. Was war die Absicht der Vorsehung, als sie den Mann erniedrigte, den sie erhoben hatte, und den erhob, den sie erniedrigt hatte?

 

Dantes sah überrascht den Mann an, der sein eigenes Schicksal ganz zu vergessen schien, um sich mit dem Geschicke der Welt zu beschäftigen.

 

Ja, fuhr er fort, es ist wie in England; nach Karl I. Cromwell, nach Cromwell Karl II. und vielleicht nach Jakob II. irgend ein Schwiegersohn, ein Verwandter, ein Prinz von Oranien, ein Staathouder, der sich zum König machen wird, und dann neue Zugeständnisse an das Volk, dann eine Verfassung, dann die Freiheit! Sie werden das erleben, junger Mann, sagte er, zu Dantes gewandt, und schaute ihn mit den glänzenden, tiefen Augen eines Propheten an. Sie sind noch in einem Alter, um es zu erleben, und werden es erleben.

 

Ja, wenn ich von hier wegkomme.

 

Ah! das ist richtig, sagte der Abbé Faria, wir sind Gefangene; es gibt Momente, wo ich es vergesse und mich in Freiheit glaube, weil meine Augen die Wände durchdringen, die mich umschließen.

 

Aber warum sind Sie eingesperrt?

 

Ich? Weil ich im Jahre 1807 von dem Plane träumte, den Napoleon im Jahre 1811 verwirklichen wollte, weil ich wie Macchiavell mitten unter diesen Fürstlein, die aus Italien ein Satirspiel tyrannischer, schwacher Königreiche machten, ein einziges und großes, fest gefügtes Reich gründen wollte, weil ich meinen Cesare Borgia in einem einfältigen, gekrönten Haupte zu finden glaubte, das sich den Anschein gab, als verstünde es mich, um mich besser verraten zu können. Es war der Plan Alexanders VI. und Clemens‘ VII.; er wird ewig scheitern, da sie ihn vergeblich unternommen haben und Napoleon ihn nicht zu Ende führen konnte; Italien ist offenbar verflucht.

 

Und der Greis neigte sein Haupt. Dantes begriff nicht, wie ein Mensch sein Leben für solche Interessen wagen konnte. War ihm Napoleon bekannt, weil er ihn gesehen und mit ihm gesprochen hatte, so kannte er Clemens VII. und Alexander VI. nicht einmal dem Namen nach.

 

Sind Sie nicht, sagte Dantes, der die allgemeine Meinung im Kastell If über seinen neuen Bekannten zu teilen anfing, sind Sie nicht der Priester, den man für … krank hält?

 

Den man für verrückt hält, wollen Sie sagen, nicht wahr? Ja, ja, fuhr Faria mit bitterm Lachen fort, ja, ich gelte für einen Narren. Ich diene seit geraumer Zeit den Gästen dieses Gefängnisses zum Spott und würde den kleinen Kindern zum Spott dienen, wenn es Kinder an diesem Wohnorte des trostlosen Schmerzes gäbe.

 

Dantes blieb einen Augenblick unbeweglich und stumm vor Erstaunen, ehe er fragte: Sie verzichten also auf die Flucht?

 

Ich sehe, daß die Flucht unmöglich ist. Das versuchen, was nach Gottes Willen nicht geschehen soll, hieße Gott versuchen.

 

Warum lassen Sie sich entmutigen? Mit dem ersten Schlage siegen zu wollen, wäre zuviel von der Vorsehung verlangt. Können Sie nicht in einer andern Richtung wieder anfangen, was Sie in dieser getan haben?

 

Wissen Sie, was ich getan habe, daß Sie von Wiederanfangen sprechen? Wissen Sie, daß ich vier Jahre brauchte, um die Werkzeuge zu verfertigen, welche ich besitze? Wissen Sie, daß ich seit zwei Jahren eine Erde auskratze und aushöhle, die so hart ist wie Granit? Wissen Sie, daß ich Steine lösen mußte, die ich früher nicht bewegen zu können glaubte, daß ganze Tage mit dieser Titanenarbeit vergingen, und daß ich zuweilen am Abend glücklich war, wenn ich einen Quadratzoll von diesem alten Mörtel weggebrochen hatte, der so hart geworden war wie der Stein selbst? Wissen Sie, daß ich, um alle diese Erde und alle diese Steine unterzubringen, das Gewölbe einer Treppe durchbrechen mußte, unter dem nach und nach alle diese Trümmer begraben wurden, so daß der früher leere Raum gänzlich voll ist, und daß ich nicht wüßte, wohin ich nur noch eine Handvoll Staub legen sollte? Wissen Sie endlich, daß ich das Ziel aller meiner Anstrengungen zu erreichen glaubte, daß ich gerade nur die Kraft in mir fühlte, dieser Aufgabe zu entsprechen, und daß Gott dieses Ziel nicht nur zurückgerückt, sondern es, ich weiß nicht einmal wohin gesetzt hat? Ah! ich wiederhole Ihnen, ich werde fortan nichts mehr versuchen, um meine Freiheit zu erringen.

 

Der Abbé Faria ließ sich auf Edmonds Bett nieder, Edmond aber blieb stehen. Der junge Mann hatte nie an Flucht gedacht, die ihm sogar in der Vorstellung unmöglich schien. Fünfzig Fuß unter der Erde zu graben, dieser Operation eine Arbeit von drei Jahren zu widmen, um, wenn sie gelingt, an einen senkrecht ins Meer fallenden Absturz zu gelangen, sich fünfzig, sechzig, vielleicht hundert Fuß hinabzuwerfen, um sich beim Fallen den Schädel auf irgend einem Felsen zu zerschmettern, wenn man nicht schon von der Kugel der Schildwache getötet worden ist, und entgeht man wirklich allen diesen Gefahren, schwimmend eine Meile zurücklegen zu müssen, das war zu viel, um ihm nicht ungeheuerlich, ja unmöglich zu erscheinen.

 

Jetzt aber, da er einen Greis erblickte, der sich so mächtig an das Leben anklammerte und ihm ein Beispiel verzweiflungsvoller Tatkraft gab, fing er an, nachzudenken und seinen Mut zu messen. Ein andrer hatte versucht, was zu tun ihm nicht einmal in den Sinn gekommen war; ein anderer, minder jung, minder stark und gewandt als er, hatte sich durch Geschicklichkeit und Geduld alle Werkzeuge verschafft, deren er für seine unglaubliche Arbeit bedurfte, die nur infolge eines Rechenfehlers mißglückte. Faria hatte fünfzig Fuß durchgraben, er, Edmond Dantes, wollte hundert durchgraben, Faria hatte in einem Alter von fünfzig Jahren drei Jahre zu seinem Werke verwendet, er war nur halb so alt als Faria und konnte sechs dazu verwenden. Faria, ein Abbé, ein Gelehrter, ein Mann der Kirche, hatte sich nicht vor dem Wagnis gefürchtet, schwimmend vom Kastell das Land zu erreichen; er, der Seemann, der kühne Taucher, sollte zögern, eine Meile schwimmend zurückzulegen? War er nicht oft ganze Stunden im Meer geblieben? Nein, nein, er bedurfte nur der Ermutigung durch ein Beispiel. Alles, was ein anderer getan hat oder hätte tun können, das vermochte auch Dantes zu tun …

 

Der junge Mann überlegte einen Augenblick, ehe er zu dem Greise sagte: Ich habe gefunden, was Sie suchten.

 

Sie? sagte Faria, indem er den Kopf mit einer Miene emporrichtete, die andeutete, daß, wenn Dantes die Wahrheit sprach, die Entmutigung seines Gefährten nicht von langer Dauer sein sollte; lassen Sie hören! Was haben Sie gefunden?

 

Der Gang, den Sie durchgegraben haben, um von Ihnen aus hierher zu kommen, läuft in derselben Richtung, wie die äußere Galerie, nicht wahr? – Ja.

 

Er kann also höchstens fünfzehn Schritt davon entfernt sein, und wir graben gegen die Mitte des Ganges einen Weg, der gleichsam den Zweig eines Kreuzes bildet. Dann mündet er an der äußeren Galerie. Wir töten die Wache und entfliehen. Damit dieser Plan gelinge, bedarf es nur des Mutes, und Mut haben Sie; es bedarf nur der Stärke, und daran fehlt es mir nicht. Ich spreche nicht von der Geduld, Sie haben Proben davon abgelegt, und ich werde sie auch ablegen.

 

Einen Augenblick, antwortete der Abbé, Sie wußten nicht, mein lieber Gefährte, von welcher Art mein Mut ist, und wie ich meine Kraft anzuwenden gedenke. Was die Geduld betrifft, so glaube ich allerdings geduldig genug gewesen zu sein, indem ich jeden Morgen die Aufgabe der Nacht und jede Nacht die Aufgabe des Tages wieder anfing. Aber hören Sie wohl, junger Mann, ich stellte mir vor, ich diente Gott, indem ich eines von seinen Geschöpfen befreite, das, da es unschuldig war, nicht verdammt sein konnte.

 

Nun? fragte Dantes, steht es jetzt nicht noch ebenso, und halten Sie sich für schuldig, seit Sie mich trafen?

 

Nein, aber ich will es nicht werden. Bis jetzt hatte ich nur mit Dingen zu kämpfen; bei dem, was Sie mir vorschlagen, hätte ich es mit Menschen zu tun. Ich habe eine Mauer durchbohrt und eine Treppe zerstört; aber ich werde keine Brust durchbohren und kein Dasein zerstören.

 

Dantes konnte eine Bewegung des Erstaunens nicht unterdrücken.

 

Wie, sagte er, da Sie frei werden können, lassen Sie sich durch eine solche Bedenklichkeit zurückhalten?

 

Warum haben Sie nicht selbst eines Abends Ihren Kerkermeister mit einem Tischbein totgeschlagen und dann seine Kleider angezogen, und sind damit entflohen? entgegnete Faria.

 

Weil mir dieser Gedanke nicht gekommen ist, sagte Dantes.

 

Weil Sie einen solchen Abscheu vor einem solchen Verbrechen hatten, daß Sie nicht einmal daran dachten, versetzte der Greis; denn bei einfachen und erlaubten Dingen belehrt uns unser natürliches Gefühl, daß wir nicht von der Linie unseres Rechtes abgehen. Der Mensch hat einen Widerwillen gegen Blutvergießen. Nicht nur die gesellschaftlichen Gesetze widerstreben dem Morde, sondern auch die natürlichen Gesetze.

 

Dantes blieb ganz verblüfft, es war dies wirklich die Erklärung dessen, was, ohne dass er sich dessen bewußt war, in seinem Geiste oder vielmehr in seinem Gemüte vorgegangen war.

 

Und dann, fuhr Faria fort, seit den zwölf Jahren, die ich im Gefängnisse bin, habe ich in meinem Innern alle berühmt gewordenen Fluchtversuche überdacht, gewaltsame sah ich aber nur selten gelingen. Von Erfolg waren meist nur die sorgfältig überdachten und langsam vorbereiteten Entweichungen. So entkamen der Herzog von Beaufort aus dem Schlosse Vincennes, der Abbé Dubuquoi aus dem Fort L’Eveque und Latude aus der Bastille. Es gibt noch eine andere Art der Flucht, die in der Ausnutzung eines glücklichen Zufalls besteht, und diese Art ist die beste. Folgen Sie meinem Rate! Lassen Sie uns auf eine Gelegenheit warten, und wenn sich eine solche bietet, sie benutzen.

 

Sie konnten warten, sagte Dantes seufzend, diese lange Arbeit gab Ihnen jeden Augenblick Beschäftigung, und hatten Sie nicht Ihre Arbeit, um sich zu zerstreuen, so hatten Sie zum Troste Ihre Hoffnung.

 

Ich beschäftigte mich nicht allein hiermit.

 

Was taten Sie sonst? – Ich schrieb oder studierte. – Man gab Ihnen also Papier, Feder und Tinte? – Nein, sagte der Abbé, aber ich machte mir dies alles.

 

Dantes schaute den Abbé mit Bewunderung an; nur hatte er Mühe, an das zu glauben, was er sagte. Faria bemerkte seinen Zweifel. Wenn Sie zu mir kommen, sagte er, werde ich Ihnen ein vollständiges Werk zeigen, das Resultat von Gedanken, von Nachforschungen und Betrachtungen meines ganzen früheren Lebens, von denen ich freilich nicht ahnen konnte, daß ich sie einst zwischen den Mauern des Kastells If niederschreiben würde. Es ist eine »Abhandlung über die Möglichkeit einer einigen Monarchie in Italien«, die einen Quartband füllen wird.

 

Und Sie haben dies bereits geschrieben?

 

Auf zwei Hemden. Ich habe ein Verfahren erfunden, das Weißzeug glatt und eben zu machen wie Pergament.

 

Sie sind also Chemiker?

 

Ein wenig. Ich habe Lavoisier kennen gelernt und stand mit Cabanis in Verbindung.

 

Doch zu einem solchen Werke mußten Sie Studien machen. Sie besaßen also Bücher?

 

In Rom hatte ich in meiner Bibliothek ungefähr fünftausend Bände. Ich fand aber, daß man mit hundertundfünfzig gut ausgewählten Werken, wenn nicht den Gesamtinhalt aller menschlichen Kenntnisse, doch wenigstens das besitzt, was einem Menschen zu wissen frommt. Drei Jahre habe ich dazu verwendet, diese hundertundfünfzig Bände zu lesen und wieder zu lesen, und wußte sie so beinahe auswendig, als man mich verhaftete. In meinem Gefängnis erinnerte ich mich derselben mit einer leichten Anstrengung des Gedächtnisses. Ich könnte Ihnen Thucydides, Xenophon, Livius, Tacitus, Strabo, Dante, Montaigne, Shakespeare, Spinoza und Macchiavell auswendig hersagen. Ich nenne Ihnen hier nur die wichtigsten.

 

Sie verstehen also mehrere Sprachen?

 

Ich spreche fünf lebende Sprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch und Spanisch.

 

Immer mehr erstaunt, fing Edmond an, die Fähigkeiten dieses seltsamen Mannes beinahe für übernatürlich zu halten. Seine Neugierde wurde immer lebhafter, und er fragte: Aber wenn man Ihnen keine Federn gegeben hat, womit konnten Sie eine so umfangreiche Abhandlung schreiben?

 

Ich habe mir vortreffliche gemacht, und man würde sie den gewöhnlichen Federn vorziehen, wenn man den Stoff kennte. Sie bestehen aus den Knorpeln der großen Merlane, die man uns an Fasttagen zu essen gibt. So sehe ich diesen immer mit Vergnügen entgegen, weil ich hoffe, meinen Federvorrat zu vermehren, denn meine geschichtlichen Arbeiten sind meine angenehmste Beschäftigung. Wenn ich in die Vergangenheit hinabsteige, vergesse ich die Gegenwart; bewege ich mich frei und unabhängig in der Geschichte, so weiß ich nichts mehr davon, daß ich ein Gefangener bin.

 

Aber, womit haben Sie die Tinte gemacht?

 

Früher war ein Kamin in meinem Gefängnisse, sagte Faria. Dieser Kamin wurde ohne Zweifel einige Zeit vor meiner Ankunft verstopft, aber man hatte wohl viele Jahre lang Feuer darin gemacht, und so ist das ganze Innere mit Ruß bedeckt. Ich löse diesen Ruß mit einer Portion Wein auf, den man mir jeden Sonntag gibt, und das liefert mir vortreffliche Tinte. Um besondere Stellen ins Auge fallen zu lassen, steche ich mir in die Finger und schreibe sie mit meinem Blut.

 

Und wann kann ich dies alles sehen? fragte Dantes.

 

Wann Sie wollen, antwortete Faria.

 

Oh, sogleich! rief der junge Mann.

 

Folgen Sie mir also, sagte der Abbé und kehrte in den unterirdischen Gang zurück, wo er verschwand; Dantes folgte ihm.

 

Das Zimmer des Abbés.

 

Das Zimmer des Abbés.

 

Nachdem Dantes, sich bückend, aber doch ohne große Beschwerde, den unterirdischen Gang durchschritten hatte, gelangte er an das entgegengesetzte Ende der Aushöhlung, die in das Zimmer des Abbés führte. Hier verengte sich der Gang und bot kaum Raum genug, daß ein Mann kriechend hineinschlüpfen konnte. Das Zimmer war mit Platten belegt. Unter einer im dunkelsten Winkel liegenden Platte hatte der Abbé die mühsame Arbeit begonnen, die ihn schließlich mit Dantes zusammenführen sollte. Sobald der junge Mann drinnen war und sich wieder aufgerichtet hatte, betrachtete er das geheimnisvolle Zimmer mit der größten Aufmerksamkeit. Beim ersten Blicke bot sich ihm nichts Besonderes dar.

 

 

Gut, sagte der Abbé, es ist erst ein Viertel auf ein Uhr, und wir haben noch ein paar Stunden vor uns. Dantes schaute umher und suchte nach der Uhr, auf der der Abbé die Stunde hatte so genau lesen können.

 

Schauen Sie diesen Tagesstrahl an, der durch mein Fenster dringt, und sehen Sie an der Wand die Linien, die ich gezogen habe. Diese Linien geben mir die Stunde genauer an, als wenn ich eine Uhr hätte, denn die Uhr kann in Unordnung geraten, Sonne und Erde aber nicht, sagte der Abbé als Antwort auf Edmonds staunenden und fragenden Blick.

 

Dantes verstand diese Erklärung nicht. Ich bitte, sagte er, es drängt mich, Ihre Schätze zu betrachten.

 

Der Abbé ging nach dem Kamine und hob mit dem Meißel, den er beständig in der Hand hielt, den Stein aus, der einst den Herd bildete und nun eine ziemlich tiefe Aushöhlung verbarg, in der alle Gegenstände eingeschlossen waren, von denen er gesprochen hatte.

 

Was wollen Sie zuerst sehen? fragte er.

 

Zeigen Sie mir Ihr großes Werk über Italien.

 

Faria zog aus dem kostbaren Schranke drei bis vier wie Papyrusblätter umeinander gewundene Leinwandrollen hervor. Es waren ungefähr vier Zoll breite und achtzehn Zoll lange Bänder. Sehen Sie, sagte er, hier ist alles. Vor ungefähr acht Tagen habe ich das Wort Ende unten an das hundert und achtundsechzigste Band geschrieben. Zwei von meinen Hemden und was ich an Taschentüchern besaß, wurde dazu verwendet, und werde ich je wieder frei und es findet sich in ganz Italien ein Drucker, der mein Werk zu veröffentlichen wagt, so ist mein wissenschaftlicher Ruf für alle Zeiten begründet.

 

Ja, antwortete Dantes, ich sehe es wohl. Und nun bitte ich Sie, zeigen Sie mir die Federn, mit denen Sie dieses Werk geschrieben haben!

 

Faria zeigte dem jungen Mann ein kleines, sechs Zoll langes Stäbchen, etwa so dick wie der Stiel eines Haarpinsels; am Ende desselben war mittels eines Fadens einer von den Knorpeln angebunden, von denen der Abbé gesprochen hatte. Er war schnabelförmig zugeschnitten und wie eine gewöhnliche Feder geschlitzt. Dantes schaute ihn an und suchte mit den Augen nach dem Instrument, mit dem der Abbé den Knorpel so fein geschnitten haben könnte.

 

Ah, ja, das Federmesser, nicht wahr? Das ist mein Meisterwerk. Ich habe es, sowie das Messer, das Sie hier sehen, aus einem alten eisernen Leuchter gemacht.

 

Das Federmesser schnitt wie ein Rasiermesser: das Messer hatte den Vorteil, daß es zugleich als Messer und Dolch dienen konnte. Dantes untersuchte diese Gegenstände mit derselben Aufmerksamkeit, mit der er in den Raritätenhandlungen in Marseille die von Wilden verfertigten und von Schiffskapitänen aus der Südsee zurückgebrachten Werkzeuge untersucht hatte.

 

Was die Tinte betrifft, sagte Faria, so wissen Sie, wie ich dabei zu Werke gehe; ich mache sie nach meinem Bedarf.

 

Nun staune ich nur über eins, sagte Dantes, darüber, daß die Tage Ihnen für diese Arbeit genügten.

 

Ich hatte die Nächte, antwortete Faria.

 

Die Nächte? Besitzen Sie die Natur der Katzen und sehen Sie bei Nacht?

 

Nein, aber Gott hat dem Menschen den Verstand gegeben, um die Armut seiner Sinne zu unterstützen. Ich habe mir Licht verschafft. Von dem Fleische, das man mir bringt, trenne ich das Fett; ich lasse es schmelzen und ziehe eine Art von verdicktem Öl daraus. Sehen Sie hier meine Kerze!

 

Und der Abbé zeigte Dantes eine Art von Lämpchen, denen ähnlich, deren man sich bei öffentlichen Illuminationen bedient.

 

Aber wie machen Sie Feuer?

 

Hier sind zwei Kieselsteine und verbrannte Leinwand.

 

Dantes legte die Gegenstände, die er in der Hand hielt, auf den Tisch und neigte das Haupt, ganz niedergebeugt von der Kraft und Ausdauer dieses beharrlichen Geistes.

 

Das ist noch nicht alles, fuhr Faria fort; denn man darf nicht alle seine Schätze in ein Versteck legen; verschließen wir dieses!

 

Sie brachten die Platte wieder an ihre Stelle; der Abbé streute etwas Staub darauf, fuhr mit seinem Fuße darüber, ging dann auf sein Bett zu und rückte es von der Stelle.

 

Hinter dem Kopfkissen, unter einem Stein verborgen, der es fast völlig verschloß, war ein Loch und unter diesem Loch eine etwa fünfundzwanzig bis dreißig Fuß lange Strickleiter. Dantes untersuchte sie; sie war von tadelloser Festigkeit.

 

Wer hat Ihnen die zu diesem vortrefflichen Werke erforderliche Schnur geliefert? fragte Dantes.

 

Zuerst einige Hemden, die ich besaß, dann meine Betttücher, die ich während einer dreijährigen Gefangenschaft in Fenestrelle ausfädelte. Als man mich nach dem Kastell If brachte, fand ich Mittel, das ausgefädelte Zeug mitzunehmen. Hier setzte ich meine Arbeit fort.

 

Ich hatte anfangs den Gedanken, diese Stangen loszumachen und durch dieses Fenster zu entfliehen, das, wie Sie sehen, etwas breiter ist, als das Ihrige, und von mir im Augenblicke meiner Entweichung noch erweitert worden wäre. Aber ich bemerkte, daß dieses Fenster auf einen innern Hof geht, und leistete auf diesen Fluchtversuch als zu unsicher Verzicht. Die Strickleiter war aber einmal gemacht, und ich hebe sie mir für alle Fälle auf.

 

Während es schien, als untersuchte Dantes noch länger die Strickleiter, dachte er an etwas ganz anderes. Der Gedanke durchzog seinen Geist, daß dieser so außerordentlich scharfsinnige Mann vielleicht das Dunkel seines eigenen Unglücks zu durchdringen vermöchte.

 

Woran denken Sie? fragte der Abbé lächelnd. Er hielt Dantes‘ Versunkenheit für eine auf den höchsten Grad gesteigerte Bewunderung.

 

Ich denke vor allem an die ungeheure Summe von Verstand, die Sie aufwenden mußten, um zu einem solchen Ziele zu gelangen. Was hätten Sie erst getan, wenn Sie frei gewesen wären!

 

Vielleicht nichts, diese Überfülle meines Gehirns wäre in Kleinlichkeiten verpufft. Es bedarf des Unglücks, um gewisse geheimnisvolle, im menschlichen Verstande verborgene Minen zu graben; es bedarf des Druckes, um das Pulver zum Ausbruch zu bringen. Die Gefangenschaft hat alle meine dahin und dorthin flatternden Geisteskräfte in einem einzigen Punkte vereinigt.

 

Der Abbé verschloß sein Versteck wieder und sagte: Nun erzählen Sie mir Ihre Geschichte!

 

Dantes erzählte das, was er seine Geschichte nannte, was sich jedoch auf eine Reise nach Indien und auf ein paar Reisen nach der Levante beschränkte. Endlich gelangte er zu seiner letzten Fahrt, zu dem Tode des Kapitäns Leclère, zu dem von ihm dem Großmarschall übergebenen Paket, zu seiner Zusammenkunft mit dem Großmarschall, zu dem Briefe, den ihm dieser gegeben hatte, zu seiner Ankunft in Marseille, zu seiner Zusammenkunft mit seinem Vater, zu seiner Liebschaft mit Mercedes, zu seinem Verlobungsmahle, zu seiner Verhaftung, zu seinem Verhör, zu seiner vorläufigen Gefangenschaft im Justizpalaste und schließlich zu seiner endgültigen Gefangenschaft im Kastell If. Sobald Dantes diesen Punkt erreicht hatte, wußte er nichts mehr genau anzugeben, nicht einmal mehr die Zeit, die er Gefangener geblieben. Als die Erzählung zu Ende war, versank der Abbé in Gedanken.

 

Es gibt, sagte er nach einem Augenblick des Stillschweigens, einen bewährten und wohlbegründeten Rechtsgrundsatz: Willst du den Schuldigen entdecken, so suche zuerst den, dem das begangene Verbrechen nützlich sein kann! Wem konnte Ihr Verbrechen Nutzen bringen?

 

Mein Gott! Niemand, ich war zu unbedeutend.

 

Antworten Sie nicht so, denn Ihre Antwort ermangelt zugleich der Logik und der Philosophie; alles ist beziehungsweise, mein lieber Freund, von dem König, der seinem Nachfolger im Wege steht, bis zu dem untersten Beamten, der dem Anwärter als ein Hindernis erscheint. Stirbt dieser Beamte, so erbt der Anwärter zwölfhundert Franken Gehalt; diese zwölfhundert Franken Gehalt sind seine Zivilliste; sie sind ihm zum Leben ebenso notwendig, wie einem König seine zwölf Millionen. Jeder Mensch, von der niedrigsten bis zur höchsten Stufe der gesellschaftlichen Leiter, gruppiert um sich her eine kleine Welt von Interessen, die ihre Wirbel und ihre hakenförmigen Atome hat, wie Descartes‘ Welten. Nur werden diese Welten, in je höhere Schichten wir steigen, um so umfangreicher. Es ist eine auf der Spitze stehende Pyramide, die sich durch das Spiel der Kräfte im Gleichgewicht erhält. Kehren wir jedoch zu Ihrer Welt zurück! Sie sollten zum Kapitän des »Pharao« ernannt werden und ein hübsches junges Mädchen heiraten? Hatte jemand ein Interesse daran, daß Sie nicht Kapitän wurden, daß Sie Mercedes nicht heirateten?

 

Nein; ich war an Bord sehr beliebt. Hätten die Matrosen einen Kapitän wählen können, so würden sie sicherlich mich gewählt haben. Ein einziger Mensch hatte Grund, mir zu grollen; ich geriet einige Zeit vorher mit ihm in Streit und schlug ihm ein Duell vor, das er nicht annahm. Es war Danglars, der Rechnungsführer auf dem Pharao.

 

Hätten Sie ihn als Kapitän auf seinem Posten erhalten?

 

Nein, wenn es von mir abgehangen hätte, denn ich glaubte, Ungenauigkeiten in seinen Rechnungen wahrzunehmen.

 

Gut. Konnte jemand Ihre letzte Unterredung mit dem Kapitän Leclère hören?

 

Ja, die Türen waren offen und sogar … warten Sie … ja, Danglars ging sogar gerade in dem Augenblick vorüber, wo mir der Kapitän Leclère das für den Großmarschall bestimmte Paket übergab.

 

Gut, sagte der Abbé, wir sind auf dem Wege. Haben Sie jemand mit ans Land genommen, als Sie an der Insel Elba anhielten? – Niemand. – Man hat Ihnen einen Brief übergeben? – Ja, der Großmarschall. – Was taten Sie mit dem Briefe, als Sie den Pharao wieder bestiegen? – Ich hielt ihn in der Hand. – Es konnte also jeder, auch Danglars, sehen, daß Sie einen Brief trugen? – Ja, jeder. – Nun hören Sie wohl, drängen Sie alle Ihre Erinnerungen zusammen: Wissen Sie noch, in welchen Ausdrücken die Denunziation abgefaßt war? – Oh ja; ich habe sie dreimal gelesen, und jedes Wort ist mir im Gedächtnis geblieben. – Wiederholen Sie mir dieselbe!

 

Dantes sammelte sich einen Augenblick und sagte:

 

Der Herr Staatsanwalt wird von einem Freunde des Thrones und der Religion benachrichtigt, daß Edmond Dantes, Sekond des Schiffes Pharao, heute morgen von Smyrna angelangt ist, nachdem er Neapel und Porto Ferrajo auf Elba berührt hat, von Murat einen Brief für den Usurpator und von dem Usurpator einen Brief für das bonapartistische Komitee in Paris übernommen hat. Den Beweis für sein Verbrechen wird man erlangen, wenn man ihn verhaftet; denn man findet diesen Brief entweder bei ihm oder bei seinem Vater oder in seiner Kajüte an Bord des Pharao.

 

Das ist klar, wie der Tag, sagte der Abbé und zuckte die Achseln, und Sie müssen ein sehr gutes und reines Herz haben, daß Sie es nicht von Anfang an erraten haben.

 

Sie glauben? rief Dantes. Ah, das wäre heillos!

 

Wie war Danglars‘ gewöhnliche Handschrift?

 

Eine schöne Kursivschrift.

 

Wie war die Schrift des anonymen Briefes?

 

Es war eine verkehrte Schrift. – Der Abbé lächelte, nahm seine Feder und schrieb mit der linken Hand auf ein Stück Leinwand zwei oder drei Zeilen der Denunziation.

 

Dantes schaute den Abbé erschrocken an und rief: Oh! es ist erstaunlich, wie diese Schrift jener gleicht!

 

Die Anzeige war mit der linken Hand geschrieben. Ich habe beobachtet, fuhr der Abbé fort, daß alle rechtshändigen Schriften voneinander abweichen, alle linkshändigen sich gleichen.

 

Es ist, als hätten Sie alles gesehen, alles beobachtet.

 

Fahren wir fort und gehen wir zur zweiten Frage über: Hatte jemand ein Interesse daran, daß Sie Mercedes nicht heirateten?

 

Ja, Fernand, ein junger Katalonier, der sie liebte.

 

Glauben Sie, daß er fähig war, den Brief zu schreiben?

 

Nein, er hätte mir einen Messerstich gegeben und nichts sonst.

 

Das liegt in der spanischen Natur; ein Mord, ja; eine Feigheit, nein.

 

Überdies, fuhr Dantes fort, kannte er die in der Anzeige enthaltenen einzelnen Umstände nicht. Sie haben sie niemand mitgeteilt?

 

Nicht einmal meiner Braut.

 

Es ist Danglars.

 

Oh! nun bin ich davon überzeugt.

 

Warten Sie, kannte Danglars Fernand?

 

Zwei Tage vor meiner Hochzeit sah ich sie miteinander an einem Tische unter der Laube des Vaters Pamphile. Danglars war freundschaftlich und spöttisch, Fernand bleich und verstört.

 

Sie waren allein?

 

Nein, es war ein dritter, mir wohlbekannter Mensch bei ihnen, der sie ohne Zweifel zusammengeführt hatte, ein Schneider, namens Caderousse; aber dieser war bereits betrunken. Doch halt … halt … warum erinnerte ich mich dieses Umstandes nicht? Auf dem Tische, wo sie tranken, waren Papier, Tinte und Federn. Oh, dort, dort wird der Brief geschrieben worden sein! Oh, die Schändlichen!

 

Wollen Sie noch etwas wissen? fragte der Abbé lachend.

 

Ja, ja, da Sie alles ergründen und in allen Dingen klar sehen. Ich will wissen, warum ich nur einmal verhört worden bin; warum man mir keinen Richter gegeben hat, und wie man mich ohne Spruch verurteilen konnte.

 

Oh! was das betrifft, erwiderte der Abbé, das ist schwieriger; die Justiz hat finstere, geheimnisvolle Wege, die schwer zu durchdringen sind. Was wir bis jetzt in Beziehung auf Ihre zwei Feinde getan haben, war nur ein Kinderspiel. Sie müssen mir in dieser Hinsicht genauere Andeutungen geben.

 

Ich bitte, fragen Sie mich; denn Sie sehen in der Tat klarer in meinem Leben, als ich selbst.

 

Wer hat Sie verhört? Der Staatsanwalt oder der Untersuchungsrichter?

 

Der Vertreter des Staatsanwalts.

 

Jung oder alt?

 

Jung, siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt. Gut! noch nicht verdorben, aber bereits ehrgeizig. Wie benahm er sich gegen Sie?

 

Mehr sanft als streng.

 

Haben Sie ihm alles erzählt? – Alles.

 

Hat sich sein Benehmen im Verlaufe des Verhörs verändert?

 

Einen Augenblick, als er den mich gefährdenden Brief gelesen hatte, schien er wie niedergeschmettert durch mein Unglück.

 

Wissen Sie ganz gewiß, daß es Ihr Unglück war, was er beklagte?

 

Er hat mir einen großen Beweis von Mitgefühl gegeben; er verbrannte den Brief, das einzige, was mich wirklich gefährden konnte.

 

Halt, nicht so voreilig! Dieser Mensch könnte ein größerer Verbrecher sein, als Sie glauben.

 

Bei meiner Ehre, Sie lassen mich zittern, sagte Dantes; die Welt ist also mit Tigern und Krokodilen bevölkert?

 

Ha, nur sind die zweibeinigen Tiger und Krokodile gefährlicher, als die andern. Also er hat den Brief verbrannt, sagen Sie?

 

Ja, und er sagte dabei zu mir: Sehen Sie, es ist nur dieser Beweis gegen Sie vorhanden, und ich vernichte ihn.

 

Dieses Benehmen ist zu edel, um natürlich zu sein. An wen war der Brief adressiert?

 

An Herrn Noirtier, Rue Coq-Héron, Nr. 13 in Paris.

 

Können Sie annehmen, Ihr Staatsanwalt habe ein Interesse an dem Verschwinden dieses Papiers gehabt?

 

Vielleicht, denn er ließ mich mehrmals, in meinem Interesse, wie er sagte, geloben, mit niemand von diesem Briefe zu sprechen, ja, er ließ mich sogar schwören, nie den auf die Adresse geschriebenen Namen auszusprechen.

 

Noirtier? erwiderte der Abbé, Noirtier? Ich kannte einen Noirtier am Hofe der ehemaligen Königin von Etrurien, einen Noirtier, der während der Revolution Girondist gewesen war. Wie hieß der Staatsanwalt? Von Villefort.

 

Der Abbé brach in ein Gelächter aus. Dantes schaute ihn erstaunt an. Was haben Sie? fragte er.

 

Alles ist mir jetzt klar. Armes Kind, armer junger Mann! Und dieser Beamte ist gut gegen Sie gewesen? Dieser würdige Mann hat den Brief verbrannt, vernichtet? Dieser ehrliche Lieferant des Henkers ließ Sie schwören, nie den Namen Noirtier auszusprechen? Dieser Noirtier, armer Blinder, wissen Sie, wer dieser Noirtier war? Dieser Noirtier … war sein Vater.

 

Hätte der Blitz zu Dantes‘ Füßen eingeschlagen und vor ihm einen Abgrund gegraben, in dessen Tiefe sich die Hölle öffnete, es hätte keine raschere, keine niederschmetterndere Wirkung hervorgebracht, als diese unerwarteten Worte. Er stand auf und nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, als wollte er verhindern, daß er zerspringe.

 

Sein Vater! Sein Vater! rief er.

 

Ja, sein Vater, der Noirtier von Villefort heißt.

 

Ein Licht durchzuckte das Gehirn des Gefangenen; was ihm bis dahin dunkel geblieben war, wurde in einem Augenblick klar wie der Tag. Villeforts Worte während des Verhörs, der vernichtende Brief, die fast flehende Stimme des Beamten, der statt zu drohen, zu bitten schien, alles kam ihm ins Gedächtnis. Er stieß einen Schrei aus, wankte einen Augenblick, wie ein Betrunkener, und stürzte dann nach der Öffnung, die aus der Zelle des Abbés in die seinige führte. Oh! sagte er, ich muß einen Augenblick allein sein, um alles zu überdenken. Als er wieder in seinem Kerker war, fiel er auf sein Bett, wo ihn der Schließer am Abend mit starren Augen und zusammengezogenem Gesicht unbeweglich und stumm wie eine Bildsäule sitzend fand. Während dieser Stunden des Nachsinnens, die wie Sekunden verliefen, hatte er einen furchtbaren Entschluß gefaßt und einen schrecklichen Eid geleistet.

 

Diesem Brüten wurde er durch die Stimme des Abbés entzogen, der zu Dantes kam, um ihn zum Abendbrot einzuladen. Seine Eigenschaft als anerkannter Narr und besonders als belustigender Narr gab dem alten Gefangenen einige Vorrechte; so erhielt er etwas weißeres Brot und Sonntags ein Fläschchen Wein. Es war aber gerade Sonntag, und der Abbé wollte seinen jungen Gefährten einladen, sein Brot und seinen Wein mit ihm zu teilen.

 

Dantes folgte ihm. Alle Linien seines Gesichtes hatten sich wieder geglättet und die gewöhnlichen Formen angenommen, aber es sprach aus ihnen die Starrheit und Festigkeit eines unwiderruflichen Entschlusses. Der Abbé schaute ihn aufmerksam an. Es tut mir leid, daß ich Sie in Ihren Nachforschungen unterstützt und Ihnen gesagt habe, was ich sagte, sprach er.

 

Warum? fragte Dantes.

 

Weil ich in Ihr Herz eine Leidenschaft brachte, die noch nicht darin war: die der Rache.

 

Dantes versetzte lächelnd: Sprechen wir von etwas anderem!

 

Der Abbé schaute ihn einen Augenblick an und schüttelte traurig den Kopf. Dann redete er, wie ihn Dantes gebeten hatte, von anderen Dingen.

 

Der alte Gefangene war ein Mann, dessen Unterhaltung lehrreich und anziehend und dabei von jeder Selbstsucht frei war, denn der Unglückliche sprach nie von seinen Leiden.

 

Dantes hörte jedes seiner Worte mit Bewunderung; zum Teil standen sie im Zusammenhange mit den Begriffen, die er bereits besaß, und mit den Kenntnissen, die er sich als Seemann erworben, zum Teil berührten sie unbekannte Dinge und zeigten, wie der Nordschein, der manchmal den Schiffern in den südlichen Breiten leuchtet, dem jungen Manne mit phantastischem Licht erhellte neue Landschaften und Horizonte. Dantes begriff das Glück, dessen ein vernunftbegabter Mensch teilhaftig werden müßte, wenn er diesem erhabenen Geiste auf die moralischen, philosophischen und sozialen Höhen folgte, auf denen er sich zu ergehen pflegte.

 

Sie sollten mich etwas von dem lehren, was Sie wissen, sagte Dantes, und wäre es nur, damit Sie sich nicht mit mir langweilen. Es scheint mir jetzt, Sie müssen die Einsamkeit dem Umgang mit einem Gefährten ohne Bildung, wie ich es bin, vorziehen. Willigen Sie in das, was ich mir von Ihnen erbitte, so mache ich mich anheischig, nicht mehr von Flucht zu reden.

 

Der Abbé erwiderte lächelnd: Ach, mein Kind! Die menschliche Wissenschaft ist sehr beschränkt, und habe ich Sie die Mathematik, die Physik und die paar lebenden Sprachen gelehrt, die ich spreche, so wissen Sie alles, was ich weiß. Um all dieses Wissen von meinem Geiste in den Ihrigen zu ergießen, werde ich kaum zwei Jahre brauchen.

 

Zwei Jahre! sagte Dantes, Sie glauben, ich könnte dies alles in zwei Jahren lernen? Was wollen Sie mich zuerst lehren? Es drängt mich zu beginnen, ich habe einen Durst nach Wissenschaft.

 

Die Gefangenen entwarfen wirklich noch an demselben Abend einen Lehrplan, dessen Ausführung am andern Tage begann. Dantes besaß ein wunderbares Gedächtnis und eine außerordentliche Fassungsgabe. Die mathematische Anlage seines Geistes befähigte ihn, alles durch Berechnung zu begreifen, während die Poesie des Seemannes da einsetzte, wo die auf die Trockenheit der Zahlen und die Genauigkeit der Linien zurückgeführte und beschränkte Auseinandersetzung sich zu sehr im Materiellen verlor. Er verstand überdies bereits Italienisch und etwas Neugriechisch, was er bei seinen Reisen nach dem Orient gelernt hatte. Mittels dieser zwei Sprachen begriff er bald den Organismus aller andern, und nach Verlauf von sechs Monaten fing er an, Spanisch, Englisch und Deutsch zu sprechen.

 

Mochte nun die Zerstreuung, die ihm das Studieren gewährte, einigermaßen die Freiheit ersetzen, oder war es gewissenhafte Befolgung des gegebenen Wortes, jedenfalls sprach er, wie er dem Abbé Faria zugesagt, nicht mehr von Flucht, und die Tage vergingen ihm rasch und lehrreich. Nach Verlauf eines Jahres war er ein anderer Mensch. Was den Abbé Faria betrifft, so bemerkte Dantes, daß er, trotz der Zerstreuung, die ihm seine Gegenwart gebracht hatte, täglich düsterer wurde. Ein unablässiger Gedanke schien seinen Geist zu belasten. Er versank in tiefe Träumerei, seufzte unwillkürlich, stand auf, kreuzte die Arme und ging finster in seinem Zimmer umher.

 

Eines Tages blieb er mitten in einem von den hundertmal wiederholten Kreisen stehen, die er in seinem Kerker beschrieb, und rief: Oh! wenn keine Wache da wäre!

 

Es wird keine Wache da sein, sobald Sie es nur wollen, sagte Dantes, der seinen Gedanken gefolgt war.

 

Ich habe Ihnen bereits gesagt, versetzte der Abbé, ein Mord widerstrebt mir.

 

Und dennoch wird dieser Mord durch den Instinkt unserer Selbsterhaltung, durch das Bewußtsein der Selbstverteidigung gerechtfertigt.

 

Gleichviel, ich werde es nicht vermögen.

 

Sie denken noch daran?

 

Unablässig, unablässig, murmelte der Abbé.

 

Und Sie haben ein Mittel gefunden, nicht wahr? sagte Dantes lebhaft und wollte ihn bei diesem Gegenstande festhalten, aber der Abbé schüttelte den Kopf und weigerte sich, zu antworten.

 

Drei Monate verliefen.

 

Sind Sie stark? fragte eines Tages der Abbé Dantes.

 

Dantes nahm, ohne ein Wort zu erwidern, den Meißel, bog ihn wie ein Hufeisen und bog ihn wieder zurück.

 

Würden Sie sich anheischig machen, die Schildwache nur im äußersten Notfalle zu töten?

 

Ja, bei meiner Ehre.

 

Dann können wir unsern Plan ausführen, sagte der Abbé. Wie lange brauchen wir dazu?

 

Wenigstens ein Jahr.

 

Oh, sehen Sie, wir haben ein Jahr verloren! rief Dantes.

 

Finden Sie, daß wir es verloren haben? sagte der Abbé.

 

Ich bitte um Vergebung, rief Edmond errötend.

 

Still; der Mensch ist immer nur ein Mensch, und Sie sind einer von den besseren, die ich kennen gelernt habe. Vernehmen Sie meinen Plan!

 

Der Abbé zeigte nun Dantes eine Zeichnung, die er entworfen hatte; es war der Plan seines Zimmers, des von Dantes und des Ganges, der beide miteinander verband. Mitten in diesem Gange brachte er einen Schacht an, denen ähnlich, die man in Bergwerken macht. Dieser Schacht führte die Gefangenen unter die Galerie, wo die Schildwache auf- und abging. Hier machten sie eine breite Aushöhlung und lösten eine von den Platten, die den Boden der Galerie bildeten. Im gegebenen Augenblick fiel die Platte unter dem Gewichte des Soldaten ein, und dieser stürzte in die Höhlung. Dantes warf sich in dem Momente auf ihn, wo er, von seinem Falle betäubt, sich nicht verteidigen konnte, band, knebelte ihn, und beide drangen durch ein Fenster dieser Galerie, stiegen mit Hilfe der Strickleiter an der äußeren Mauer hinab und flüchteten sich. Dantes schlug in die Hände, und seine Augen funkelten vor Freude; dieser Plan war so einfach, daß er gelingen mußte.

 

Noch an demselben Tage gingen die Minierer mit um so mehr Eifer ans Werk, als die Arbeit auf eine lange Ruhe folgte, und aller Wahrscheinlichkeit nach nur die Ausführung eines innigen, geheimen Gedankens jedes von beiden bildete. Nichts unterbrach sie, als die Stunde, zu der sich beide zurückziehen mußten, um jeder in seinem Kerker den Besuch des Wärters zu empfangen. Sie hatten sich übrigens daran gewöhnt, an dem fast unmerklichen Geräusch von Tritten den Augenblick wahrzunehmen, wo dieser Mensch herabkam, und nie war einer von ihnen überrascht worden. Die Erde, welche sie aus der neuen Galerie zogen, wurde in kleinen Staubteilchen und mit unerhörter Behutsamkeit durch das eine oder das andere Kerkerfenster von Dantes oder von Faria geworfen. Der Nachtwind trug sie dann in die Ferne, ohne daß Spuren davon übrig blieben.

 

Mehr als ein Jahr verging bei dieser Arbeit, die, in Ermangelung aller anderen Werkzeuge, mit einem Meißel, einem Messer und einem hölzernen Hebel ausgeführt wurde, und während dieser Arbeit fuhr Faria fort, Dantes zu unterrichten, wobei er bald in der einen, bald in der andern Sprache sich mit ihm unterhielt und ihn die Geschichte der Nationen und der großen Menschen lehrte. Der Abbé, ein Mann der Welt, und zwar der großen Welt, besaß überdies in seinen Manieren eine gewisse hoheitsvolle Würde, die sich auf den von Natur so empfänglichen Dantes übertrug und ihn die elegante Artigkeit und die aristokratischen Manieren lehrte, die uns sonst nur durch längeren Umgang mit den höheren Klassen oder in der Gesellschaft edler Männer zur Gewohnheit werden.

 

Nach Verlauf von fünfzehn Monaten war das Loch vollendet und die Höhlung unter der Galerie angebracht. Man hörte bereits die Schildwache hin und her gehen, und die beiden Arbeiter, die eine dunkle Nacht ohne Mondschein abwarten mußten, um ihre Flucht zu sichern, befürchteten nur eines: es könnte der Boden zu früh von selbst unter den Füßen des Soldaten einstürzen. Man begegnete diesem Mißgeschick dadurch, daß man einen kleinen Balken, den man im Boden gefunden hatte, als Stütze aufstellte.

 

Dantes war eben dabei, den Balken festzustellen, als er hörte, wie ihn der Abbé, der in seinem Zimmer geblieben war und sich damit beschäftigte, einen Pflock zuzuspitzen, der die Strickleiter halten sollte, mit schmerzlichem Tone rief. Dantes kehrte rasch zurück und sah den Abbé bleich, mit schweißbedeckter Stirn und krampfhaft zusammengezogenen Händen, mitten im Zimmer stehen.

 

 

Oh, mein Gott! rief Dantes, was haben Sie?

 

Rasch, rasch! sagte der Abbé, hören Sie mich!

 

Dantes erblickte das leichenbleiche Gesicht Farias, seine von einem bläulichen Kreise umzogenen Augen, seine weißen Lippen, seine gesträubten Haare und ließ aus Schrecken den Meißel, den er in der Hand hielt, auf den Boden fallen.

 

Ich bin verloren, sagte der Abbé; ein furchtbares, vielleicht tödliches Übel erfaßt mich. Der Anfall kommt, ich fühle es. Schon einmal wurde ich davon, ein Jahr vor meiner Einkerkerung, ergriffen. Für dieses Übel gibt es nur ein Mittel, ich will es Ihnen nennen. Heben Sie den Fuß des Bettes auf! Der Fuß ist hohl, Sie finden darin ein Kristallfläschchen, mit einer roten Flüssigkeit halb gefüllt.

 

Dantes verlor den Kopf nicht, obgleich ihm das Unglück, das ihm drohte, unermeßlich schien; er zog das Fläschchen aus dem Bettfuße und legte dann den an allen Gliedern zitternden Abbé auf das Bett.

 

Das Übel tritt ein, rief Faria, ich verfalle in Starrsucht; vielleicht werde ich keine Bewegung machen, keine Klage ausstoßen; vielleicht werde ich aber auch schäumen, schreien. Suchen Sie zu bewirken, daß man mein Geschrei nicht hört; es ist von Wichtigkeit, denn man könnte mir dann ein anderes Zimmer geben und uns für immer trennen. Wenn Sie mich unbeweglich, kalt und gleichsam tot sehen, dann, aber auch dann erst, hören Sie wohl, drücken Sie mir die Zähne mit dem Messer auseinander, flößen mir acht bis zehn Tropfen von diesem Tranke in den Mund, und vielleicht komme ich wieder zu mir.

 

Vielleicht, rief Dantes schmerzlich.

 

Zu Hilfe, zu Hilfe! rief der Abbé, ich … ich … Ärm …

 

Der Anfall kam so rasch und so heftig, daß der unglückliche Gefangene nicht einmal das begonnene Wort vollenden konnte. Eine Wolke zog schnell und düster wie die Stürme des Meeres über seine Stirn hin. Die Krise erweiterte seine Augen, verdrehte seinen Mund, färbte seine Wangen purpurrot. Er arbeitete mit Händen und Füßen, schäumte, brüllte; aber Dantes erstickte, wie es ihm Faria selbst empfohlen hatte, das Geschrei unter der Decke. Dies dauerte zwei Stunden. Dann aber fiel der Greis, träger als eine tote Masse, kälter als der Marmor, zurück, erstarrte in einem letzten Krampfanfall und wurde leichenbleich.

 

Edmond wartete, bis dieser scheinbare Tod den Körper erfaßt und bis zum Herzen vereist hatte. Dann nahm er das Messer, schob die Klinge zwischen die Zähne, löste mit unsäglicher Mühe die zusammengepreßten Kinnbacken, zählte, einen nach dem andern, zehn Tropfen von dem rötlichen Safte und wartete.

 

Es verlief eine Stunde, ohne daß der Greis die geringste Bewegung machte. Dantes fürchtete, zu lange gewartet zu haben, und betrachtete ihn, beide Hände in seinen Haaren haltend. Endlich erschien eine leichte Färbung auf seinen Wangen; seine Augen gewannen ihren Blick wieder; ein leichter Seufzer entstieg seinem Munde, und er machte eine Bewegung.

 

Gerettet! gerettet! rief Dantes.

 

Der Kranke konnte noch nicht sprechen, aber er streckte mit sichtbarer Angst die Hand nach der Tür aus. Dantes horchte und vernahm die Tritte des Gefangenwärters! es war nahe an sieben Uhr. Der junge Mann sprang zur Öffnung, drang hinein, legte die Platte wieder über seinen Kopf und kehrte in sein Zimmer zurück. Einen Augenblick nachher öffnete sich seine Tür, und der Kerkermeister fand den Gefangenen wie gewöhnlich auf seinem Bette sitzend.

 

Kaum hatte er ihm den Rücken gewendet, kaum hatte sich das Geräusch der Tritte im Gang verloren, als Dantes, von Ungeduld verzehrt, ohne an das Essen zu denken, in das Zimmer des Abbés zurückkehrte.

 

Dieser war wieder zum Bewußtsein gekommen; aber er lag immer noch träge und kraftlos auf seinem Bette ausgestreckt.

 

Ich dachte, ich würde Sie nicht wiedersehen, sagte er zu Dantes.

 

Warum? fragte der junge Mann. Glaubten Sie sterben zu müssen?

 

Nein, aber alles ist zu Ihrer Flucht bereit, und ich glaubte, Sie würden fliehen.

 

Die Röte der Entrüstung färbte Dantes‘ Wangen.

 

Ohne Sie! rief er. Hielten Sie mich wirklich dessen fähig?

 

Jetzt sehe ich, daß ich mich getäuscht habe, sagte der Kranke. Oh! ich bin sehr, sehr schwach.

 

Mut! Ihre Kräfte werden wiederkehren, sagte Dantes, setzte sich neben sein Bett und nahm ihn bei den Händen.

 

Der Abbé schüttelte den Kopf und erwiderte:

 

Das letztemal dauerte der Anfall eine halbe Stunde, wonach ich Hunger hatte und allein aufstand; heute kann ich weder mein Bein, noch meinen rechten Arm rühren, mein Kopf ist eingenommen, was auf einen Erguß im Gehirn hindeutet. Das drittemal werde ich völlig gelähmt bleiben oder auf der Stelle sterben.

 

Nein, nein, beruhigen Sie sich, Sie werden nicht sterben; der dritte Anfall wird Sie, wenn er wirklich kommt, frei finden; wir werden Sie retten, wie diesmal und besser als diesmal, denn es steht uns dann jede erforderliche Hilfe zu Gebote.

 

Mein Freund, sagte der Greis, täuschen Sie sich nicht! Die Krise, die soeben vorübergegangen ist, hat mich zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt; um zu fliehen, muß man gehen können.

 

Nun, wir warten acht Tage, einen Monat, zwei Monate, wenn es sein muß! Inzwischen erlangen Sie Ihre Kräfte wieder. Alles ist zur Flucht vorbereitet, und wir können nach unserm Belieben die Stunde und den Augenblick dazu wählen. An dem Tage, wo Sie sich kräftig genug fühlen, um zu schwimmen, bringen wir unsern Plan in Ausführung.

 

Ich werde nie mehr schwimmen, erwiderte Faria, dieser Arm ist gelähmt, nicht für einen Tag, sondern für immer. Heben Sie ihn selbst auf und sehen Sie, wie schwer er ist!

 

Der junge Mann hob ihn auf, und der Arm viel unempfindlich wieder zurück. Er stieß einen Seufzer aus.

 

Sie sind nun überzeugt, nicht wahr, Edmond? sagte der Abbé; glauben Sie mir, ich weiß, was ich sage; seit dem ersten Anfall dachte ich unablässig darüber nach. Ich erwartete es, denn es ist eine Familienerbschaft; mein Vater starb an der dritten Krise, mein Großvater ebenfalls. Der berühmte Arzt Cabanis, der mir diesen Trank bereitete, weissagte mir dasselbe Schicksal.

 

Der Arzt täuscht sich, rief Dantes. Ihre Lähmung aber hindert mich nicht, ich nehme Sie auf meine Schultern und schwimme so mit Ihnen.

 

Kind, entgegnete der Abbé, Sie sind ein Seemann, Sie sind ein Schwimmer und müssen folglich wissen, daß ein Mensch mit einer solchen Last nicht fünfzig Klafter weit kommen würde. Lassen Sie sich nicht länger durch Hirngespinste täuschen, von denen nicht einmal Ihr vortreffliches Herz betört wird. Ich werde hier bleiben, bis die Stunde meiner Befreiung schlägt, die jetzt nur die des Todes sein kann. Was Sie betrifft … fliehen Sie! Sie sind jung, stark und gewandt; kümmern Sie sich nicht um mich; ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück.

 

Gut, sagte Dantes, gut, so bleibe ich auch hier.

 

Dann stand er auf, streckte feierlich eine Hand gegen den Greis aus und rief: Bei dem Blute Christi schwöre ich, daß ich Sie nur bei Ihrem Tode verlasse!

 

Faria schaute den edeln, einfachen und in seiner entsagungsvollen Liebe so erhabenen jungen Mann an und las in seinen von dem Ausdrucke der reinsten Ergebenheit belebten Zügen die Aufrichtigkeit seiner Zuneigung und die Redlichkeit seines Schwures.

 

Gut, sagte der Kranke, ich nehme es an und danke.

 

Hierauf Edmond die Hand reichend, fuhr er fort: Sie werden vielleicht für diese uneigennützige Ergebenheit belohnt; zunächst müssen wir unbedingt die Höhlung verstopfen, die wir unter der Galerie gemacht haben; dem Soldaten kann der hohle Klang auffallen, er bringt die Sache zur Anzeige, und wir werden entdeckt und getrennt. Vollbringen Sie diese Aufgabe, wobei ich Sie leider nicht mehr unterstützen kann; verwenden Sie die ganze Nacht dazu, wenn es sein muß, und kommen Sie erst morgen nach dem Besuche des Gefangenwärters zurück; ich habe Ihnen, denke ich, etwas Wichtiges zu sagen …

 

Dantes nahm den Abbé bei der Hand; dieser beruhigte ihn durch ein Lächeln, und er entfernte sich mit dem Gehorsam und der Achtung, die er für seinen alten Freund hegte.

 

Haydee.

 

Haydee.

 

Die Hoffnung auf den angenehmen Besuch und auf ein paar glückliche Augenblicke verbreitete, sobald Villefort verschwunden war, einen heiteren Ausdruck über das Antlitz des Grafen, so daß Ali, der bei dem Klange des Glöckchens herbeigelaufen war, sich auf der Fußspitze und mit gehemmtem Atem zurückzog, als wollte er die guten Gedanken nicht verscheuchen, die seinen Gebieter zu umschweben schienen.

 

Die schöne Griechin befand sich in einer Wohnung, die von der des Grafen völlig getrennt war. Ihre Gemächer hatte man ganz auf orientalische Weise ausgeschmückt, das heißt, die Böden waren mit dicken türkischen Teppichen belegt, Brokatstoffe fielen an den Wänden herab, und in jedem Zimmer lief an den Wänden ein großer Diwan mit vielen Kissen entlang. Haydee hatte drei französische Kammerfrauen und eine griechische. Die französischen Kammerfrauen verweilten im ersten Zimmer, bereit, auf den Ton eines goldenen Glöckchens herbeizulaufen und den Befehlen der griechischen Sklavin zu gehorchen, die hinreichend Französisch sprach, um ihnen den Willen ihrer Gebieterin zu verdolmetschen, und sollten nach der Vorschrift Monte Christos Haydee mit einer Rücksicht behandeln, die man sonst nur einer Königin gegenüber beobachtet.

 

Die Griechin befand sich im hintersten Zimmer ihrer Wohnung, in einer Art von rundem, nur von oben beleuchtetem Boudoir, worein das Licht durch Scheiben von rosenfarbigem Glase drang. Sie lag auf dem Boden auf Kissen von blauem, mit Silber durchwirktem Atlas, halb zurückgelehnt auf den Diwan, den Kopf mit ihrem weich gerundeten rechten Arme umschlingend, während sie mit der Linken die Korallenspitze einer persischen Pfeife an ihre Lippen hielt. Ihr Anzug war der der epirotischen Frauen; sie trug Beinkleider von weißem, mit rosenfarbigen Blumen broschiertem Atlas, die zwei niedliche Füße entblößt ließen, an denen zwei kleine, mit Gold und Perlen gestickte Sandalen mit aufwärts gebogenen Spitzen sichtbar waren; ferner eine blau und weiß gestreifte Jacke mit weiten, unten geschlitzten Ärmeln, mit silbernen Knopflöchern und Knöpfen von Perlen; endlich eine Art von Leibchen, das durch einen herzförmigen Schnitt den Hals und den ganzen obern Teil der Brust offen ließ und unterhalb des Busens mit zwei Diamantknöpfen geschlossen wurde. Der untere Teil des Leibchens und der obere des Beinkleides verschwanden unter einem Gürtel von lebhaften Farben und mit langen seidenen Fransen. Auf dem Kopfe hatte sie ein mit Gold und Perlen gesticktes, auf die Seite geneigtes Mützchen, unter dem sich eine schöne, natürliche, purpurrote Rose herabneigte.

 

 

Ihr Gesicht zeigte die griechische Schönheit in ihrer ganzen Vollendung, große schwarze, samtartige Augen, marmorne Stirn, gerade Nase, Korallenlippen, Perlenzähne und schwarze Haare. Über dieses reizende Ganze lag die Jugend mit all ihrem Schimmer, all ihrem Dufte ausgebreitet; Haydee mochte kaum neunzehn Jahre alt sein.

 

Monte Christo rief der griechischen Kammerfrau und ließ Haydee um Erlaubnis bitten, bei ihr eintreten zu dürfen. Statt jeder Antwort hieß Haydee ihre Zofe den Vorhang zurückschlagen, der an der Tür angebracht war, deren Simswerk das junge Mädchen wie ein reizendes Gemälde umrahmte.

 

Monte Christo trat ein.

 

Haydee erhob sich auf den Ellenbogen, reichte dem Grafen ihre Hand, lächelte ihm freundlich entgegen und sagte in der wohlklingenden Sprache der Töchter von Athen: Warum läßt du mich um Erlaubnis bitten, bei mir eintreten zu dürfen? Bist du nicht mein Gebieter, bin ich nicht mehr deine Sklavin?

 

Monte Christo lächelte ebenfalls und erwiderte: Haydee, Sie wissen …

 

Warum sagst du nicht mehr du zu mir, wie gewöhnlich? unterbrach ihn die junge Griechin; habe ich denn irgend ein Versehen begangen? Dann mußt du mich bestrafen und nicht Sie nennen.

 

Haydee, entgegnete der Graf, du weißt, daß wir in Frankreich sind, und daß du folglich frei bist.

 

Frei, wozu? fragte das Mädchen.

 

Es steht dir frei, mich zu verlassen.

 

Dich verlassen? … Und warum sollte ich dich verlassen?

 

Was weiß ich? Wir werden andere Leute bei uns sehen.

 

Ich will niemand sehen.

 

Und wenn du unter den jungen Leuten, denen du begegnen wirst, einen träfest, der dir gefiele, so wäre ich nicht so ungerecht …

 

Ich habe keinen schöneren Mann, als du bist, gesehen, und nie einen andern geliebt, als meinen Vater und dich.

 

Armes Kind, sagte Monte Christo, du hast kaum mit jemand anders gesprochen außer mit mir und deinem Vater.

 

Wohl! was brauche ich mit anderen zu sprechen? Mein Vater nannte mich seine Freude, du nennst mich deine Liebe, und Ihr beide nennt mich Euer Kind.

 

Du erinnertst dich deines Vaters, Haydee?

 

Das junge Mädchen lächelte.

 

Er ist da und da, sagte die Griechin, ihre Hand auf ihre Augen und auf ihr Herz legend.

 

Und ich, wo bin ich? fragte lächelnd Monte Christo.

 

Du, erwiderte sie, du bist überall.

 

Monte Christo nahm Haydees Hand, um sie zu küssen, aber das naive Kind entzog sie ihm und bot ihm die Stirn dar.

 

Nun weißt du, Haydee, sagte der Graf, daß du frei, daß du Gebieterin, daß du Königin bist; du kannst deine Tracht beibehalten oder nach deiner Laune aufgeben. Du bleibst hier, wenn du bleiben willst, du fährst aus, wenn du ausfahren willst, es wird stets ein Wagen für dich angespannt sein, Ali und Myrtho begleiten dich überallhin und sind zu deinem Befehl; nur bitte ich dich um eines: Bewahre das Geheimnis deiner Geburt, sage kein Wort über deine Vergangenheit, nenne bei keiner Veranlassung den Namen deines Vaters oder deiner armen Mutter!

 

Herr, ich habe dir bereits gesagt, daß ich niemand sehen werde.

 

Höre mich, Haydee, diese orientalische Abgeschlossenheit wird dir in Paris vielleicht unmöglich werden. Fahre fort, das Leben in unsern nördlichen Ländern kennen zu lernen, wie du dies in Rom, in Florenz, in Mailand und in Madrid getan hast; dies wird dir immerhin nützlich sein, magst du nun beständig hier leben oder nach dem Orient zurückkehren.

 

Das Mädchen schlug seine großen, feuchten Augen zu dem Grafen auf und erwiderte: Oder ob wir nach dem Orient zurückkehren, willst du sagen, nicht wahr, Herr?

 

Ja, meine Tochter, du weißt wohl, daß ich dich nie verlassen werde. Nicht der Baum verläßt die Blüte, sondern die Blüte trennt sich vom Baume. Ich werde dich auch nie verlassen, Herr, denn ich weiß, daß ich ohne dich nicht leben könnte.

 

Armes Kind! In zehn Jahren bin ich alt, und in zehn Jahren bist du noch ganz jung.

 

Mein Vater hatte einen langen, weißen Bart; das hinderte mich nicht, ihn zu lieben; mein Vater zählte sechzig Jahre, und er kam mir schöner vor, als alle jungen Leute, die ich sah.

 

Doch sage mir, glaubst du, daß es dir hier gefallen wird? – Werde ich dich sehen? – Jeden Tag. Nun, Herr, warum fragst du mich dann? – Ich befürchte, du langweilst dich.

 

Nein, Herr, denn am Morgen denke ich, daß du kommen wirst, und am Abend erinnere ich mich, daß du gekommen bist; dann habe ich im Herzen drei Gefühle, mit denen man sich nie langweilt: die Traurigkeit, die Liebe und die Dankbarkeit.

 

Du bist eine würdige Tochter des Epirus, Haydee, du Anmutige, du Poetische, und man sieht, daß du von der in deinem Lande geborenen Familie von Göttinnen abstammst. Sei also unbesorgt, meine Tochter, ich werde es so machen, daß deine Schönheit nicht verloren geht, denn wenn du mich wie deinen Vater liebst, so liebe ich dich wie mein Kind.

 

Du täuschest dich, Herr, ich liebte meinen Vater nicht, wie ich dich liebe, meine Liebe für dich ist eine andere Liebe; mein Vater ist tot, und ich bin nicht tot, während ich sterben müßte, wenn du sterben würdest.

 

Der Graf reichte Haydee die Hand mit einem Lächeln voll tiefer Zärtlichkeit; sie drückte wie gewöhnlich ihre Lippen darauf.

 

Und so in der rechten Stimmung für die Zusammenkunft, die er mit Morel und seiner Familie haben sollte, entfernte er sich, folgende Verse von Pindar murmelnd:

 

Die Jugend ist eine Blüte, deren Frucht die Liebe ist …

Glücklich ist der Gärtner, der sie pflückt, nachdem er sie langsam hat reifen sehen.

 

Der Wagen stand seinen Befehlen gemäß bereit. Er stieg ein, und die Pferde führten ihn wie immer im Galopp fort.

 

-Kapitelname unbekannt-

-Kapitelname unbekannt-


Der Graf von Monte Christo. Erster Band.





Marseille. – Die Ankunft.

 

Marseille. – Die Ankunft.

Am 25. Februar 1815 fuhr der Dreimaster Pharao langsam und wie zögernd in den Hafen von Marseille. Eine Trauerwolke schien das Schiff zu umschweben. Gespannt folgte eine schaulustige Menge allen Bewegungen des Fahrzeugs und bemerkte bei dessen Näherkommen, daß es von einem auffallend jungen und wohlgestalten, dabei aber anscheinend ebenso tatkräftigen wie geschickten Manne gelenkt wurde.

 

Das Volk von Marseille, dem schon seit Gründung der Stadt einiges Griechenblut durch die Adern rollt, ist von Natur lebhaft und neugierig. In jenen Tagen kam dazu eine besondere Unruhe, die vor allem die Herzen der heißblütigen Provençalen erfüllte. Seit neun Monaten weilte Napoleon nach jähem Sturz von halbgottähnlicher Machthöhe als Verbannter auf dem unfernen Eiseneiland Elba. Die Royalisten triumphierten in Frankreich, und nichts war gefährlicher, als bonapartistischer Umtriebe oder auch nur bonapartistischer Gesinnung verdächtig zu sein. Nichtsdestoweniger raunte sich die immer wachsende Zahl der Wohlunterrichteten zu, der kleine Korse mit dem großen Zäsarenkopf bereite sich vor, die ihm aufgedrängte Maske des gebändigten Löwen abzuwerfen. Die Beschränktheit der Anhänger des neuen Königs, Ludwigs XVIII., die alle Errungenschaften der Revolution zurückzuschrauben wünschten, die Uneinigkeit der in Wien um das Erbe des Verbannten sich streitenden Mächte, der noch frische Ruhmesglanz des blendenden napoleonischen Namens ließen die Augen vieler Franzosen sich immer aufgeregter und erwartungsvoller nach dem Süden richten.

 

Unter der bewegten des Pharao harrenden Menge fiel ein Mann auf, der, wie es schien, vor Unruhe die Einfahrt des Schiffes gar nicht erwarten konnte. Er sprang in eine kleine Barke und befahl, dem Pharao entgegenzurudern, den er auch bald erreichte. Als der junge Leiter des Fahrzeugs die Barke sich nähern sah, verließ er seinen Posten neben dem Lotsen, dessen Befehle er mit rascher Gebärde und lebhaftem Blick für die Mannschaft wiederholt hatte, nahm den Hut in die Hand und lehnte sich über die Brüstung des Schiffes.

 

Es war ein Jüngling von achtzehn bis zwanzig Jahren mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren. In seiner ganzen Person drückte sich Ruhe und Entschlossenheit aus, wie sie den Menschen eigentümlich sind, die von Kindheit an mit der Gefahr zu kämpfen haben.

 

Ah, Sie sind es, Dantes, rief der Mann in der Barke; was ist geschehen, und was bedeutet das traurige Aussehen des Schiffes?

 

Ein großes Unglück, Herr Morel, antwortete der junge Mann. Auf der Höhe von Civita Vecchia haben wir den braven Kapitän Leclère verloren.

 

Und die Ladung? fragte lebhaft der Reeder.

 

Ist glücklich geborgen, Herr Morel, und ich glaube, Sie werden in dieser Hinsicht zufrieden sein; aber der arme Kapitän …

 

Was ist ihm denn geschehen? fragte der Reeder, sichtbar erleichtert, was ist ihm denn geschehen, dem braven Kapitän?

 

Er ist tot. – In das Meer gefallen?

 

Nein, er starb an einer Hirnentzündung. Dann wandte sich der junge Seemann seinen Leuten zu, rief: Holla, he! Jeder an seinen Posten zum Ankern! und erst als er sah, daß seine Befehle vollführt wurden, kehrte er zu Herrn Morel zurück.

 

Mein Gott, ganz überraschend. Nach einer langen Unterredung mit dem Hafenkommandanten verließ der Kapitän Neapel in sehr aufgeregtem Zustande. Nach 24 Stunden faßte ihn das Fieber, drei Tage nachher war er tot … Er ruht in einer Hängematte, eine Kugel an den Füßen und eine am Kopf, auf der Höhe der Insel Giglio. Wir bringen der Witwe sein Ehrenkreuz und seinen Degen zurück. Warum mußte er, fuhr der junge Mann schwermütig fort, zehn Jahre gegen die Engländer kämpfen, um nun einen solchen Strohtod zu sterben?

 

Verdammt! Wir sind alle sterblich, und die Alten müssen den Jungen Platz machen, und von dem Augenblicke an, wo ich sicher bin, daß die Ladung …

 

Sie befindet sich in gutem Zustande, Herr Morel, dafür stehe ich. Das ist eine Ladung, die ich Ihnen nicht für 25000 Franken Nutzen aus der Hand zu geben rate. Dann, als man um den Leuchtturm am Hafeneingang fuhr, rief er: Alle Segel gestrichen!

 

Der Befehl wurde mit derselben Geschwindigkeit ausgeführt, wie auf einem Kriegsschiffe, und das Schiff rückte nur noch langsam vorwärts.

 

Wenn Sie heraufkommen wollen, Herr Morel, sagte Dantes, die Unruhe des Reeders wahrnehmend, hier ist Ihr Rechnungsführer, Herr Danglars, der wird Ihnen jede Auskunft geben. Ich meinesteils muß für die Ankerung sorgen. – Der Reeder ließ sich das nicht zweimal sagen und erstieg behende das Schiff, wo ihm, während Dantes auf seinen Posten zurückkehrte, Danglars entgegenkam.

 

Danglars war ein Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, unterwürfig gegen seine Obern und barsch gegen seine Untergebenen, Eigenschaften, die ihn allgemein bei der Mannschaft ebenso verhaßt machten, wie Edmond Dantes bei ihr beliebt war. Nun, Herr Morel, sagte Danglars, Sie wissen bereits das Unglück, nicht wahr?

 

Ja, ja, der arme Leclère! Ein braver, ehrlicher Mann!

 

Und ein trefflicher Seemann, ergraut zwischen Himmel und Wasser, wie es sich für einen Mann geziemt, dem die Interessen eines so wichtigen Hauses wie Morel und Sohn anvertraut sind.

 

Aber, versetzte der Reeder, mit den Augen dem geschäftigen Dantes folgend, es scheint mir, man braucht nicht gerade ein so alter Seemann zu sein, um sein Handwerk zu kennen, und unser Freund Edmond hier treibt das seinige, meine ich, wie ein Mensch, der niemandes Rat nötig hat.

 

Ja, antwortete Danglars, auf Dantes einen Blick des Hasses werfend, ja, der ist jung und fürchtet nichts. Kaum war der Kapitän tot, so übernahm er das Kommando, ohne jemand um Rat zu fragen, und ließ uns anderthalb Tage auf der Insel Elba verlieren, statt unmittelbar nach Marseille zurückzukehren.

 

Was die Übernahme des Kommandos betrifft, sagte der Reeder, so war dies seine Pflicht als Sekond; was aber das Verlieren von anderthalb Tagen auf der Insel Elba betrifft, so hatte er unrecht, wenn nicht das Schiff Haverei ausbessern mußte.

 

Das Schiff befand sich so wohl, wie ich mich befinde, und diese anderthalb Tage dienten bloß dem Vergnügen, ans Land zu steigen.

 

Dantes, sagte der Reeder, sich nach dem jungen Mann umwendend, kommen Sie hierher!

 

Ich bitte um Entschuldigung, erwiderte Dantes, ich stehe sogleich zu Diensten; dann rief er der Mannschaft zu: Anker geworfen!

 

Sogleich fiel der Anker, und die Kette rasselte geräuschvoll hinterdrein. Dantes blieb trotz der Gegenwart des Lotsen an seinem Posten, bis dieses letzte Manöver beendigt war. Dann rief er: Hißt die Flagge Halbmast! Kreuzt die Segelstangen! Sie sehen, sagte Danglars, auf mein Wort, er hält sich bereits für den Kapitän.

 

Gott verdamme mich, warum sollen wir ihn nicht an diesem Posten lassen? entgegnete der Reeder; ich weiß wohl, er ist jung, aber er scheint mir ganz bei der Sache und bereits recht erfahren zu sein.

 

Eine Zorneswolke trübte Danglars‘ Miene.

 

Um Vergebung, Herr Morel, sagte Dantes nähertretend; nun, da das Schiff geankert hat, stehe ich zu Befehl.

 

Danglars machte einen Schritt rückwärts.

 

Ich wollte Sie fragen, warum Sie an der Insel Elba angehalten haben, begann der Reeder.

 

Es geschah in Vollzug eines letzten Befehls des Kapitäns Leclère, der mir sterbend ein Paket für den Großmarschall Bertrand übergab.

 

Sie haben ihn also gesehen, Edmond?

 

Wen? – Den Großmarschall. – Ja.

 

Morel schaute um sich her, zog Dantes beiseite und fragte lebhaft: Wie geht es dem Kaiser?

 

Gut, soviel ich mit meinen eigenen Augen sehen konnte.

 

Haben Sie mit ihm gesprochen? Was sagte er?

 

Er stellte Fragen an mich über das Schiff, über Zeit und Weg unserer Fahrt nach Marseille und über die Ladung. Ich glaube, wäre ich der Herr des Schiffes gewesen, so hätte er es kaufen wollen. Aber ich sagte ihm, ich sei nur Sekond, und das Schiff gehöre dem Hause Morel und Sohn. Ah, erwiderte er, ich kenne das Haus. Die Morel sind ein altes Reedergeschlecht, und ein Morel stand in demselben Regimente mit mir in Valence in Garnison.

 

Das ist bei Gott wahr! rief der Reeder ganz freudig, es war Policar Morel, mein Oheim, der später Kapitän geworden ist. Dantes, Sie werden meinem Oheim sagen, daß der Kaiser sich seiner erinnert hat, und der alte Murrkopf wird weinen. Gut, gut, fuhr der Reeder, dem jungen Menschen vertraulich auf die Schulter klopfend, fort, Sie haben wohl daran getan, Dantes, den Auftrag des Kapitäns Leclère zu erfüllen und an der Insel Elba anzuhalten. Doch wenn man wüßte, daß Sie dem Marschall ein Paket übergeben und mit dem Kaiser gesprochen haben … es könnte Sie gefährden.

 

Wie sollte mich dies gefährden? entgegnete Dantes. Ich weiß nicht einmal, was ich überbrachte, und der Kaiser richtete nur die nächstliegenden Fragen an mich. Doch um Vergebung, hier sind die Zollbeamten. Sie erlauben … nicht wahr?

 

Gewiß, mein lieber Dantes. Der junge Mann entfernte sich, und je weiter er sich entfernte, desto näher kam Danglars.

 

Nun, fragte er, er scheint Ihnen gute Gründe für seinen Aufenthalt in Elba angegeben zu haben?

 

Vortreffliche Gründe, antwortete der Reeder, und es läßt sich nichts dagegen einwenden. Kapitän Leclère selbst hatte ihm den Befehl erteilt.

 

Ah! was den Kapitän Leclère betrifft … hat Dantes Ihnen nicht einen Brief von ihm zugestellt?

 

Nein! Hatte er denn einen?

 

Ich glaubte, der Kapitän Leclère hätte ihm außer dem Paket auch einen Brief anvertraut.

 

Von welchem Paket sprechen Sie, Danglars?

 

Von dem, das Dantes auf Elba abzugeben hatte.

 

Woher wissen Sie, daß er ein Paket abzugeben hatte?

 

Danglars errötete und sagte: Ich ging an der halb geöffneten Tür der Kapitänskabine vorüber und sah, wie Leclère den Brief und das Paket Dantes einhändigte.

 

Er hat mir nichts davon gesagt, entgegnete der Reeder, wird mir aber wohl den Brief noch übergeben.

 

Danglars überlegte einen Augenblick und erwiderte: Ich bitte Sie, Herr Morel, nicht mit Dantes davon zu sprechen; ich werde mich getäuscht haben.

 

In diesem Augenblick kehrte der junge Mann zurück, während Danglars sich entfernte.

 

Nun, mein lieber Dantes, sind Sie frei? fragte der Reeder. – Jawohl, alles ist in Ordnung. – Sie können mit mir zu Mittag speisen. – Ich bitte, entschuldigen Sie mich, Herr Morel; mein erster Besuch gehört meinem Vater. Doch ich bin darum nicht minder dankbar für die Ehre, die Sie mir erzeigen. – Recht, Dantes, ganz recht. Ich weiß, daß Sie ein guter Sohn sind; aber nach diesem ersten Besuche zählen wir auf Sie. – Entschuldigen Sie abermals, nach diesem ersten Besuche habe ich einen zweiten zu machen, der mir nicht minder am Herzen liegt. – Ah! das ist wahr, Dantes, ich vergaß, daß es unter den Kataloniern jemand gibt, der mit nicht geringerer Ungeduld auf Sie wartet, als Ihr Vater. Es ist die schöne Mercedes.

 

Dantes errötete.

 

Ah! ah! sagte der Reeder, ich wundere mich gar nicht mehr, daß sie dreimal zu mir gekommen ist und mich um Nachricht über den Pharao gebeten hat. Edmond, Sie sind nicht zu beklagen, Sie haben eine hübsche Braut. Doch da fällt mir ein, hat Ihnen nicht der Kapitän Leclère sterbend einen Brief für mich gegeben?

 

Es war ihm unmöglich, zu schreiben. Nun möchte ich mir aber noch auf einige Tage Urlaub erbitten.

 

Um zu heiraten?

 

Einmal und dann, um nach Paris zu gehen.

 

Gut, gut, Sie nehmen sich so viel Zeit, als Sie wollen, Dantes. Zum Löschen des Schiffes brauchen wir an sechs Wochen, und vor drei Monaten gehen wir nicht wieder in See. Sie müssen also erst in drei Monaten hier sein. Der Pharao, fuhr der Reeder, den jungen Mann auf die Schulter klopfend, fort, könnte nicht ohne seinen Kapitän abgehen.

 

Ohne seinen Kapitän? rief Dantes mit funkelnden Augen, Sie entsprechen den geheimsten Hoffnungen meines Herzens. Es wäre also wirklich Ihre Absicht, mich zum Kapitän des Pharao zu ernennen?

 

Wenn ich allein wäre, würde ich Ihnen die Hand reichen, lieber Dantes, und sagen: Es ist abgemacht! Aber ich habe einen Associe, und Sie kennen das italienische Sprichwort: Che ha compagno ha padrone. (Wer einen Kompagnon hat, hat auch einen Herrn.) Doch zur Hälfte ist das Geschäft wenigstens abgeschlossen, denn von zwei Stimmen haben Sie bereits eine. Überlassen Sie es mir, Ihnen die andere zu verschaffen; ich werde mein möglichstes tun!

 

Oh, Herr Morel! rief der junge Seemann und ergriff, mit Tränen in den Augen, die Hände des Reeders, Herr Morel, ich danke Ihnen in meines Vaters und in Mercedes‘ Namen.

 

Es ist gut, Edmond, es gibt einen Gott im Himmel für die braven Leute! Besuchen Sie Ihren Vater und Mercedes, und kommen Sie dann zu mir zurück!

 

Soll ich Sie nicht an das Land führen?

 

Nein, ich danke, ich bleibe hier, um meine Rechnung mit Danglars zu ordnen. Sind Sie während der Reise mit ihm zufrieden gewesen?

 

Das kommt auf den Sinn an, in dem Sie diese Frage an mich richten. In Bezug auf gute Kameradschaft, nein; denn ich glaube, er liebt mich nicht mehr, seitdem ich bei einem kleinen Streit die Dummheit beging, ihm vorzuschlagen, zehn Minuten an der Insel Monte Christo anzuhalten, um den Streit auszumachen, ein Vorschlag, den er mit Recht zurückwies. Fragen Sie mich aber nach dem Rechnungsführer, so glaube ich, daß Sie mit der Art und Weise, wie er sein Geschäft besorgt hat, zufrieden sein werden.

 

Wie aber? sagte der Reeder; wenn Sie Kapitän des Pharao wären, würden Sie Danglars gern behalten?

 

Kapitän oder Sekond, antwortete Dantes, ich werde stets die größte Achtung vor denen haben, die das Vertrauen meiner Reeder besitzen.

 

Schön, schön, Dantes, ich sehe, daß Sie in jeder Beziehung ein braver Bursche sind; ich will Sie nicht länger aufhalten, denn Sie stehen gewiß wie auf glühenden Kohlen.

 

Auf Wiedersehen, Herr Morel, und tausend Dank! Der junge Seemann sprang in den Kahn und gab Befehl, an der Cannebière zu landen. Der Reeder folgte ihm lächelnd mit den Augen bis zum Kai, sah ihn aussteigen und sich unter der bunten Menge verlieren, die von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends die berühmte Rue de la Cannebière durchströmt, auf welche die Marseiller so stolz sind, daß sie mit dem größten Ernste von der Welt sagen: Wenn Paris die Cannebière hätte, so wäre es ein kleines Marseille.

 

Als er sich umwandte, erblickte der Reeder Danglars hinter sich, der dem Anscheine nach seine Befehle erwartete, in Wirklichkeit aber dem jungen Seemanne mit dem Blicke folgte. Nur war ein großer Unterschied in dem Ausdruck dieser beiden Blicke, die demselben Menschen folgten.

Der korsische Werwolf.

 

Der korsische Werwolf.

 

Drei Tage nach Villeforts Abreise saß König Ludwig XVIII. in einem Salon der Tuilerien und hörte ungläubig auf die Erzählungen des Herzogs von Blacas, der ihn vergeblich davon zu überzeugen suchte, daß sich im Süden Frankreichs etwas Geheimnisvolles vorbereite, daß er vermute, ja fast gewiß sei, Napoleon wolle von Elba entfliehen. Alle diese Nachrichten habe er von einem Boten, der soeben erst von Marseille eingetroffen sei. Aber der König wollte von alledem nichts hören und las dem mißtrauischen Höfling einen erst am selben Morgen vom Polizeiminister Dandré eingelaufenen Bericht über Napoleons Leben und Treiben auf Elba vor. Darin wurde der Kaiser als krank, melancholisch und vollständig harmlos dargestellt. Endlich gelang es dem Herzog, die Aufmerksamkeit des Königs dadurch zu erregen, daß er sagte, sein Gewährsmann aus Marseille sei Herr von Villefort. Der König, der Villefort als einen ehrgeizigen, durchaus ergebenen Royalisten kannte, gab endlich seine Einwilligung, diesen zu empfangen.

 

Als Villefort eintrat, redete ihn Ludwig XVIII. gnädig an und fragte, ob denn die Sache wirklich so ernst sei, wie man ihm Vorrede.

 

Sire, sagte Villefort, sich verbeugend, ich halte die Sache für sehr dringend; aber bei der Eile, die ich angewendet habe, scheint mir das Übel nicht unüberwindlich.

 

Berichten Sie, bitte, ausführlicher, sagte der König, den selbst die Aufregung zu ergreifen begann, die Herrn von Blacas‘ Gesicht verstört hatte und Villeforts Stimme beben ließ. Sprechen Sie und holen Sie von Anfang aus; ich liebe in allen Dingen die Ordnung.

 

Sire, ich bin so rasch als möglich nach Paris gereist, um Eurer Majestät mitzuteilen, daß ich keins von den gewöhnlichen und nichtssagenden Komplotten, wie sie täglich im Volke und in der Armee angezettelt werden, sondern eine wirkliche Verschwörung entdeckt habe, die nichts weniger als den Thron Eurer Majestät bedroht. Sire, der Usurpator bemannt drei Schiffe. Er beabsichtigt die Ausführung eines vielleicht wahnsinnigen Planes, der jedoch furchtbar ist, so wahnsinnig er auch sein mag. Zu dieser Stunde muß er die Insel Elba verlassen haben, sicherlich, um eine Landung in Neapel, an der toskanischen Küste oder gar in Frankreich zu versuchen. Eurer Majestät ist es nicht unbekannt, daß der Souverän der Insel Elba Verbindungen mit Italien und Frankreich unterhalten hat.

 

Ja, ich weiß es, sagte der König sehr bewegt, und noch kürzlich hat man entdeckt, daß bonapartistische Versammlungen in der Rue Saint-Jaeques stattgefunden haben. Doch fahren Sie fort, ich bitte Sie! Woher wissen Sie diese einzelnen Umstände?

 

Sire, aus einem Verhöre, dem ich einen Schiffer aus Marseille unterworfen habe; ich überwachte ihn seit langer Zeit und ließ ihn am Tage meiner Abreise verhaften. Dieser Mensch, ein unruhiger, des Bonapartismus verdächtiger Seemann, war insgeheim auf der Insel Elba; er hat dort den Großmarschall gesehen, von dem er mit einer mündlichen Botschaft für einen Bonapartisten in Paris beauftragt wurde, dessen Namen zu nennen ich ihn nicht bewegen konnte. Die Botschaft bestand aber darin, der Bonapartist solle die Geister auf eine Rückkehr vorbereiten, die unfehlbar demnächst stattfinden werde.

 

Eine Verschwörung, antwortete Ludwig XVIII. lächelnd, ist jetzt leicht anzuspinnen, aber schwer zum Ziele zu führen; seit zehn Monaten verdoppeln meine Minister ihre Wachsamkeit, um die Ufer des Mittelländischen Meeres vor jeder Gefahr zu bewahren. Stiege Bonaparte in Neapel ans Land, so wäre der ganze Bund auf den Beinen, ehe er Piombino erreicht hätte. Landete er in Toskana, so würde er den Fuß auf feindliches Gebiet setzen; erreichte er französischen Boden, so geschieht das mit einer Handvoll Menschen, und wir werden leicht mit ihm fertig werden. Beruhigen Sie sich also, mein Herr, rechnen Sie aber darum nicht minder auf meine königliche Dankbarkeit!

 

Ah! hier ist Herr Dandré, rief der Graf von Blacas.

 

In diesem Augenblick erschien wirklich auf der Türschwelle der Polizeiminister, bleich, zitternd, mit irrenden Blicken. Villefort machte einen Schritt, um sich zu entfernen, aber ein Händedruck des Herrn von Blacas hielt ihn zurück.

 

Einer übermächtigen Verzweiflung nachgebend, war der Polizeiminister im Begriff, sich Ludwig XVIII. zu Füßen zu werfen, aber dieser wich, die Stirn faltend, zurück und sagte: Werden Sie wohl sprechen?

 

Oh! Sire, welch ein furchtbares Unglück, nie werde ich mich mehr zu trösten wissen! – Der Usurpator hat am 26. Februar die Insel Elba verlassen und ist am 1. März gelandet.

 

Wo? In Italien? fragte rasch der König.

 

In Frankreich, Sire, in einem kleinen Hafen bei Antibes, im Golf Juan.

 

Der Usurpator ist in Frankreich, 250 Meilen von Paris, am 1. März gelandet, und Sie erfahren dies erst heute, am 3. März? … Ei, mein Herr, was Sie mir da sagen, ist unmöglich; entweder hat man Ihnen einen falschen Bericht erstattet, oder Sie sind ein Narr.

 

Ach! Sire, es ist nur zu wahr!

 

Ludwig XVIII. machte eine Gebärde des Zorns und Schreckens und richtete sich hoch auf, als ob dieser unvorhergesehene Schlag ihn tief ins Herz getroffen hätte. In Frankreich! rief er, der Usurpator in Frankreich! Man bewachte also diesen Menschen nicht? Doch, wer weiß, man war vielleicht mit ihm einverstanden.

 

Oh! Sire! rief der Herzog von Blacas, einen Mann, wie Herrn Dandré, kann man eines solchen Verrates nicht anklagen. Sire, wir waren alle blind, und der Polizeiminister hat nur diese allgemeine Blindheit geteilt.

 

Aber … sprach Villefort, dann plötzlich innehaltend, ah! … Vergebung … Sire! sagte er, sich verbeugend, mein Eifer reißt mich fort … Eure Majestät wolle mir gnädig verzeihen.

 

Sprechen Sie, mein Herr, sprechen Sie offen, sagte Ludwig XVIII. Sie allein haben das Übel vorhergesehen. Helfen Sie mir ein Mittel dagegen zu suchen.

 

Sire, sagte Villefort, der Usurpator ist im Süden verhaßt; man kann leicht die Provence gegen ihn ausbringen.

 

Ja, allerdings, sagte der Minister, aber wenn er durch Gap und Sisteron vorrückt? …

 

Er rückt vor! rief Ludwig XVIII., er marschiert also gegen Paris! Der Polizeiminister beobachtete ein Stillschweigen, das dem vollständigsten Zugeständnisse gleichkam.

 

Und die Dauphiné, Herr von Villefort, fragte der König, glauben Sie, daß man sie, wie die Provence, zur Schilderhebung bringen kann?

 

Sire, es tut mir leid. Eurer Majestät eine grausame Wahrheit sagen zu müssen; aber der Geist der Dauphiné ist bei weitem nicht so gut und verläßlich wie der der Provence und der Languedoc. Die Bergbewohner sind Bonapartisten, Sire.

 

Er war also gut unterrichtet, murmelte Ludwig XVIII. Und wieviel Mann hat er bei sich?

 

Sire, ich weiß es nicht, sagte der Polizeiminister.

 

Wie, Sie wissen es nicht? Sie haben vergessen, über diesen Umstand Erkundigungen einzuziehen? Er ist allerdings von geringer Bedeutung, fügte er mit niederschmetterndem Lachen bei.

 

Sire, ich konnte hierüber nichts erfahren. Die Depesche brachte nur die Nachricht vom Landen des Usurpators und von dem Wege, den er eingeschlagen hat.

 

Ludwig XVIII. machte einen Schritt vorwärts und kreuzte die Arme, wie es Napoleon getan hatte.

 

Also, sagte er, vor Zorn erbleichend, also sieben verbündete Heere haben diesen Mann gestürzt, ein Wunder des Himmels hat mich nach 25jähriger Verbannung auf den Thron meiner Väter gesetzt, damit nun, da ich ans Ziel meiner Wünsche gelangt bin, eine Gewalt, die ich in meinen Händen hielt, losbreche und mich niederwerfe! – Was unsere Feinde von uns sagen, ist also wahr: Nichts gelernt und nichts vergessen! Wenn ich noch verraten wäre, wie er, wollte ich mich trösten; aber mitten unter Leuten zu sein, die durch mich zu ihren Würden erhoben worden sind und sorgfältiger über mich wachen sollten, als über sich selbst! Denn mein Glück ist das ihrige; vor mir waren sie nichts, nach mir werden sie nichts sein. Elend umkommen durch Unfähigkeit, durch Albernheit, das ist schauderhaft!

 

Der Minister stand wie gebeugt unter diesem furchtbaren Anathem. Herr von Blacas trocknete sich seine mit Schweiß bedeckte Stirn. Villefort lächelte in seinem Innern im Gefühl seiner steigenden Bedeutung.

 

Fallen, fuhr Ludwig XVIII. fort, der mit dem ersten Blicke den Abgrund ermessen hatte, an dem die Monarchie stand. Oh, ich wollte lieber auf das Blutgerüst meines Bruders, Ludwigs XVI., treten, als so die Treppe der Tuilerien hinabsteigen, vertrieben durch die Lächerlichkeit … Kommen Sie her, Herr von Villefort! fuhr der König fort, sich an den jungen Mann wendend, der unbeweglich im Hintergrunde den Gang dieses Gespräches verfolgt hatte. Kommen Sie her und sagen Sie diesen Herrn, daß man zum voraus alles wissen konnte, was er nicht gewußt hat.

 

Sire, es war unmöglich, die Pläne zu erraten, die dieser Mann vor aller Welt verbarg.

 

Unmöglich! Das ist ein großes Wort. Leider gibt es große Worte, wie es große Männer gibt; ich hab‘ es erfahren! Unmöglich für einen Minister, der eine Verwaltung, Büros, Agenten und fünfzehnmal hunderttausend Franken geheime Fonds hat, zu wissen, was sechzig Meilen von Frankreichs Grenzen vorgeht? Hier steht ein Herr, der über keines von diesen Mitteln zu verfügen hatte, ein einfacher Beamter, der mehr wußte, als Sie mit Ihrer ganzen Polizei, der meine Krone gerettet haben würde, hätte er wie Sie einen Telegraphen zur Verfügung gehabt.

 

Der Blick des Polizeiministers richtete sich mit dem Ausdrucke des tiefsten Ärgers auf Villefort, der das Haupt mit der Bescheidenheit des Triumphators neigte.

 

Ich sage dies nicht mit Bezug auf Sie, Blacas, fuhr Ludwig XVIII. fort, denn wenn Sie auch nichts entdeckten, so waren Sie doch wenigstens so gescheit, in Ihrem Argwohn zu verharren; ein anderer als Sie würde vielleicht Villeforts Enthüllung gänzlich mißachtet haben.

 

Villefort suchte dem Minister zu Hilfe zu kommen. Ein anderer hätte sich durch die Trunkenheit des Lobes hinreißen lassen; aber er befürchtete, sich den Polizeiminister zum unversöhnlichen Feinde zu machen, wenn er auch fühlte, daß dieser seine Rolle bald ausgespielt hatte. Der Minister, der im vollsten Besitze seiner Macht nicht hinter Napoleons Umtriebe gekommen war, konnte doch vielleicht in den Zuckungen seines Todeskampfes Villeforts Geheimnis durchdringen; er brauchte ja nur Dantes zu befragen. Villefort kam also dem Minister zu Hilfe, statt ihn vollends niederzudrücken, und sagte: Sire, der rasche Gang des Ereignisses beweist, daß Gott allein es verhindern konnte. Was Eure Majestät als die Wirkung tiefen Scharfsinns meinerseits betrachtet, habe ich ganz einfach dem Zufalle zu verdanken; als ergebener Diener benutzte ich diesen Zufall und nichts weiter. Bewilligen Sie nur nicht mehr, als ich verdiene, Sire, und geben Sie nicht einem ersten überschwenglichen Gedanken nach.

 

Der Polizeiminister dankte dem jungen Mann mit einem beredten Blicke, und Villefort begriff, daß ihm sein Plan gelungen war, das heißt, daß er, ohne die Dankbarkeit des Königs zu verlieren, sich einen Freund gemacht hatte, auf den er kommendenfalls zählen konnte.

 

Es ist gut, sagte der König. Und nun, meine Herren, fuhr er, sich an Herrn von Blacas und den Polizeiminister wendend, fort, ich bedarf Ihrer jetzt nicht mehr; Sie können sich entfernen. Was noch zu tun ist, geht den Kriegsminister an.

 

Zum Glück, Sire, können wir auf die Armee zählen, sagte Herr von Blacas. Eure Majestät wissen, wie sehr sie nach allen Berichten der Regierung ergeben ist.

 

Sprechen Sie mir nicht von Berichten! Ich weiß nun, welches Vertrauen man ihnen schenken darf. Doch ich halte Sie nicht länger zurück, Herr von Villefort, Sie müssen von der langen Reise müde sein, ruhen Sie aus! Im übrigen seien Sie überzeugt, daß ich Ihre Dienste nicht vergessen werde.

 

Sire, die Güte, die mir Eure Majestät erweisen, ist eine Belohnung, die alle meine Wünsche in so hohem Grade übersteigt, daß ich nichts mehr zu fordern habe.

 

Gleichviel, mein Herr, wir werden Sie nicht vergessen, seien Sie unbesorgt. Inzwischen – der König machte das Kreuz der Ehrenlegion los, das er gewöhnlich neben dem St. Ludwigs-Kreuze trug, und gab es Villefort – nehmen Sie dieses Kreuz!

 

In Villeforts Augen schwamm eine Träne stolzer Freude. Er nahm das Kreuz und küßte es.

 

Und nun, sagte er, mit welchen Befehlen beehrt mich Eure Majestät?

 

Gönnen Sie sich die Ruhe, die Ihnen notwendig ist, und bedenken Sie, daß Sie, während es Ihnen an Macht gebricht, mir in Paris zu dienen, in Marseille von dem größten Nutzen für mich sein können.

 

Sire, antwortete Villefort, sich verbeugend, in einer Stunde werde ich Paris verlassen haben.

 

Gehen Sie, mein Herr, sagte der König, und sollte ich Sie vergessen, so scheuen Sie sich nicht, Ihren Namen bei mir in Erinnerung zu bringen! Herr Baron, geben Sie Befehl, den Kriegsminister aufzusuchen!

 

Ah, mein Herr, sagte der Polizeiminister zu Villefort, als sie die Tuilerien verließen. Sie treten durch die weit geöffnete Tür ein, und Ihr Glück ist gemacht.

 

Auf wie lange? murmelte Villefort, während er sich vor dem Minister, dessen Laufbahn abgeschlossen war, verbeugte. Ein Fiaker kam vorüber, Villefort warf sich in den Wagen und überließ sich seinen ehrgeizigen Träumen. In zehn Minuten hatte er sein Hotel erreicht. Er bestellte Pferde auf zwei Stunden später und befahl ein Frühstück. Als er sich eben zu Tische setzen wollte, erscholl die Glocke. Der Kammerdiener ging hinaus, um zu öffnen, und Villefort hörte eine Stimme seinen Namen aussprechen. Erstaunt fragte sich der junge Mann, wer wohl bereits seine Anwesenheit wissen könne. Der Kammerdiener kam zurück, und Villefort sagte: Nun, wer verlangt nach mir?

 

Ein Fremder, der seinen Namen nicht nennen will.

 

Wie sieht er aus?

 

Es ist ein Mann von fünfzig Jahren, hat schwarze Haare und Augen und trägt einen blauen Rock mit dem Orden der Ehrenlegion.

 

Er ist es, murmelte Villefort erbleichend.

 

Ei, bei Gott! sagte der Mann, dessen Signalement soeben gegeben wurde, auf der Schwelle erscheinend, was für Umstände macht man hier! Ist es in Marseille Gewohnheit, daß die Söhne ihre Väter in den Vorzimmern warten lassen?

 

Mein Vater! rief Villefort, ich täuschte mich also nicht … ich vermutete, Sie wären es.

 

Ah, wenn du es vermutetest, erwiderte der Ankommende, während er seinen Stock in eine Ecke stellte und seinen Hut auf einen Stuhl legte, so erlaube mir, dir zu bemerken, mein lieber Gérard, daß es nicht liebenswürdig von dir ist, mich so warten zu lassen.

 

Laß uns allein, Germain! sagte Villefort.

 

Der Bediente entfernte sich mit sichtbaren Zeichen des Erstaunens.

 

Vater und Sohn.

 

Vater und Sohn.

 

Herr Noirtier folgte dem Bedienten mit den Augen, bis er die Tür zugemacht hatte; dann, ohne Zweifel fürchtend, er könnte im Vorzimmer horchen, öffnete er noch einmal hinter ihm. Diese Vorsicht war nicht überflüssig, und die Geschwindigkeit, mit der sich Herr Germain zurückzog, bewies, daß er von der Sünde nicht frei war, die unsere Ureltern ins Verderben stürzte. Herr Noirtier unterzog sich hieraus selbst der Mühe, die Tür des Vorzimmers zu schließen, schloß auch die des Schlafzimmers, kam dann zurück und reichte Villefort, der alle seine Bewegungen mit großem Erstaunen verfolgt hatte, die Hand.

 

Ei! weißt du wohl, lieber Gérard, sagte er lächelnd, daß du nicht aussiehst, als seiest du entzückt, mich zu sehen?

 

Doch, Vater, aber ich gestehe, ich war so weit entfernt, Ihren Besuch zu erwarten, daß er mich einigermaßen überraschte.

 

Lieber Freund, sagte Noirtier, sich setzend, es scheint mir, ich könnte dir dasselbe sagen. Wie? Du kündigst mir deine Verlobung in Marseille auf den 28. Februar an und bist am 3. März in Paris?

 

Wenn ich hier bin, Vater, erwiderte Gérard, sich Herrn Noirtier nähernd, so beklagen Sie sich nicht darüber, denn ich bin Ihretwegen hierher gekommen, und diese Reise rettet Sie vielleicht.

 

Ah, wirklich? sagte Herr Noirtier, sich nachlässig im Lehnstuhl ausstreckend. Erzählen Sie mir das doch etwas ausführlicher, Herr Staatsbeamter … es muß interessant sein!

 

Vater, Sie haben von einem gewissen bonapartistischen Klub gehört, der in der Rue Saint-Jacques zusammenkommt?

 

Nr. 53? Ja, ich bin Vizepräsident desselben.

 

Vater, Ihre Kaltblütigkeit läßt mich schaudern.

 

Was willst du, mein Lieber? Wenn man unter Robespierre geächtet worden ist, wenn man Paris in einem Heuwagen verlassen hat und in den Heiden von Bordeaux von den Spürhunden des Konvents umstellt wurde, gewöhnt man sich an allerlei. Fahre fort! Was ist mit dem Klub in der Rue Saint-Jacques geschehen?

 

Es ist geschehen, daß man den General Quesnel kommen ließ, der um neun Uhr abends sein Haus verließ, und zwei Tage nachher in der Seine gefunden wurde.

 

Gut, ich will dir dafür eine andre Neuigkeit mitteilen.

 

Ich glaube bereits zu wissen, was Sie mir sagen wollen.

 

Ah! Du weißt von der Landung Sr. Majestät des Kaisers?

 

Still, Vater, ich bitte Sie, einmal für Sie und dann für mich. Ja, ich wußte davon und sogar vor Ihnen; denn seit drei Tagen jage ich mit der Post von Marseille nach Paris, voll Wut darüber, daß ich den Gedanken, der mir das Hirn zermartert, nicht zweihundert Meilen vorausschleudern kann.

 

Seit drei Tagen? Bist du toll? Vor drei Tagen war der Kaiser noch nicht gelandet. Ganz gleich, ich kannte durch einen Brief, der von der Insel Elba an Sie gerichtet war, seinen Plan.

 

An mich?

 

Ja, an Sie, ich habe ihn im Portefeuille des Boten erwischt. Wenn der Brief in die Hände eines andern gefallen wäre, würden Sie vielleicht schon erschossen sein.

 

Herr Noirtier brach in ein Gelächter aus und erwiderte: Es scheint, die Restauration hat vom Kaiserreiche gelernt, wie man Geschäfte schnell erledigt. Erschossen, mein Lieber? Wie rasch du zu Werke gehst! Und wo ist dieser Brief?

 

Ich habe ihn verbrannt, damit nichts davon zurückbleibe; denn dieser Brief bedeutete Ihre Verurteilung.

 

Und den Verlust deiner Zukunft, erwiderte Noirtier kalt; ja, ich begreife das; aber da du mich beschützest, habe ich nichts zu befürchten.

 

Ich tue noch mehr als dies, ich rette Sie!

 

Zum Teufel, das wird immer dramatischer! Erkläre dich deutlicher!

 

Ich komme auf den Klub in der Rue-Saint-Jacques zurück.

 

Es scheint, dieser Klub liegt der Polizei sehr am Herzen. Warum suchte sie nicht besser? Sie hätte ihn gefunden.

 

Sie hat ihn nicht gefunden, ist ihm aber auf der Spur, dafür hat man einen Leichnam gefunden; der General Quesnel ist getötet worden, und in allen Ländern der Welt nennt man das einen Mord.

 

Einen Mord, sagst du? Nichts beweist, daß der General das Opfer eines Mordes geworden ist. Man findet täglich Leute in der Seine, die sich aus Verzweiflung hineingestürzt haben oder ertrunken sind, weil sie nicht schwimmen konnten.

 

Vater, Sie wissen sehr wohl, daß sich der General nicht aus Verzweiflung ertränkt hat, und daß man sich um diese Jahreszeit nicht in der Seine badet. Nein, nein, täuschen Sie sich nicht, dieser Tod ist mit Recht als Mord bezeichnet worden. In der Politik, mein Lieber, das weißt du so gut wie ich, gibt es keine Menschen, sondern Ideen, keine Gefühle, sondern Interessen. Man tötet nicht, sondern man beseitigt einfach ein Hindernis. Willst du wissen, wie sich die Sache verhält? Man glaubte, auf den uns von der Insel Elba aus empfohlenen General Quesnel zählen zu können; einer von uns geht zu ihm und lädt ihn ein, sich in die Rue Saint-Jacques zu einer Versammlung zu begeben, wo er Freunde finden werde. Er kommt dahin, und man entwickelt ihm den ganzen Plan; die Abreise von Elba, die beabsichtigte Landung. Nachdem er alles erfahren hat, erklärt er, er sei ein Royalist. Da schauen sich alle an; man läßt ihn einen Eid leisten, er leistet ihn, aber auf eine Weise, als wolle er Gott versuchen. Trotzdem ließ man den General ungehindert weggehen, er ist aber nicht nach Hause zurückgekehrt und wird sich auf dem Wege verirrt haben. Ein Mord? In der Tat, es setzt mich in Erstaunen, Villefort, daß du, der Vertreter des Staatsanwalts, eine Anklage auf so elende Beweise bauen willst! Ist es mir je eingefallen, wenn du dein Royalistenhandwerk treibst und einem von meinen Freunden den Kopf abschneiden läßt, dir zu sagen: Mein Sohn, du hast einen Mord begangen? Nein, ich sage dir: Du hast heute gesiegt, morgen kommt die Vergeltung.

 

Aber, Vater, seien Sie auf Ihrer Hut, die Vergeltung, die wir üben, wird furchtbar sein. – Ich verstehe dich nicht. – Sie zählen auf die Rückkehr des Usurpators? Sie täuschen sich, er wird keine sechs Meilen in Frankreich zurücklegen, ohne verfolgt, umstellt, wie ein wildes Tier eingefangen zu werden. – Lieber Freund, der Kaiser befindet sich in diesem Augenblick auf dem Wege nach Grenoble; am 10. oder 12. ist er in Lyon, am 20. oder 25. in Paris. – Die Bevölkerung wird sich erheben … – Um ihm entgegenzugehen. – Er hat nur ein paar Mann bei sich, und man wird Heere gegen ihn schicken. – Die seine Eskorte bei der Rückkehr in die Hauptstadt bilden werden. – Grenoble und Lyon sind getreue Städte und werden ihm eine unübersteigbare Schranke entgegensetzen.

 

Grenoble wird ihm begeistert seine Tore öffnen, ganz Lyon wird ihm entgegengehen. Glaube mir, wir sind ebenso gut unterrichtet, wie du, und unsere Polizei ist so viel wert, wie eure. Willst du einen Beweis hierfür? Du wolltest mir deine Reise verbergen, und dennoch habe ich deine Ankunft eine halbe Stunde, nachdem du durch das Tor gefahren bist, gewußt. Du hast deine Adresse niemand gegeben, als dem Postillon, und ich kenne deine Adresse, denn, du siehst, ich komme in dem Augenblick zu dir, wo du dich zu Tische setzen willst. Läute also und bestelle ein zweites Gedeck, und wir speisen miteinander zu Mittag.

 

In der Tat, antwortete Villefort und schaute dabei seinen Vater erstaunt an, in der Tat, Sie scheinen mir sehr gut unterrichtet.

 

Ei, mein Gott, die Sache ist äußerst einfach. Ihr, die ihr die Gewalt in den Händen haltet, habt nur die Mittel, die euch das Geld gibt; wir dagegen, die sie erwarten, haben die, welche die Ergebenheit bietet.

 

Und Noirtier streckte selbst die Hand nach der Klingelschnur aus, um den Bedienten zu rufen. Villefort hielt ihn am Arm zurück.

 

Warten Sie, Vater, noch ein Wort! So schlecht die royalistische Polizei auch sein mag, so kennt sie doch das Signalement des Mannes, der am Morgen des Tages, an dem General Quesnel verschwunden ist, bei diesem war.

 

So sie weiß es, die gute Polizei? Und wie ist das Signalement?

 

Gesichtsfarbe braun, Haare, Backenbart und Augen schwarz, Oberrock blau, bis an das Kinn zugeknöpft, Rosette des Offiziers der Ehrenlegion am Knopfloche, Hut mit breiter Krempe, Rohrstock.

 

So, so! Das weiß sie, sagte Noirtier, und warum legte sie nicht Hand an diesen Menschen? Weil sie ihn gestern oder vorgestern an der Ecke der Rue Coq-Héron aus dem Gesicht verloren hat.

 

Nun, sagte ich nicht eben, deine Polizei sei nichts wert?

 

Ja, aber sie kann ihn jeden Augenblick finden.

 

Ganz richtig, sagte Noirtier, sorglos um sich schauend, wenn dieser Mann nicht davon in Kenntnis gesetzt ist; aber er ist es und, fügte er lachend hinzu, er wird Gesicht und Kleidung verändern. Bei diesen Worten stand er auf, legte Oberrock und Halsbinde ab, ging auf den Tisch zu, auf dem die Toilettengegenstände seines Sohnes lagen, seifte sich das Gesicht ein, nahm ein Rasiermesser und schnitt sich mit vollkommen fester Hand den gefährlichen Bart ab. Villefort schaute ihn voll Schrecken und Bewunderung an.

 

Als der Bart abgeschnitten war, gab Noirtier seinen Haaren eine andere Form, nahm statt seiner schwarzen Halsbinde eine farbige, die er oben in einem geöffneten Koffer liegen sah, zog statt seines blauen einen kastanienbraunen Rock von Villefort an, versuchte vor dem Spiegel einen Hut mit aufgestülpter Krempe, schien mit der Art, wie er ihm stand, zufrieden, ließ sein Rohr in der Kaminecke stehen, wohin er es gestellt hatte, und schwang mit seiner nervigen Hand ein kleines Bambusstöckchen.

 

Nun! sagte er, sich seinem erstaunten Sohne zuwendend, glaubst du, die Polizei werde mich jetzt erkennen?

 

Nein, Vater, stammelte Villefort, ich hoffe es wenigstens.

 

Ja, fuhr Noirtier fort, nun glaube ich, daß du recht hast, und daß ich dir vielleicht das Leben zu verdanken habe; aber ich werde dir’s bald mit gleichem vergelten.

 

Villefort schüttelte den Kopf.

 

 

Willst du in den Augen des Königs als Prophet gelten, sagte Noirtier, so gehe und sage ihm folgendes: Sire, man täuscht Sie über die Stimmung in Frankreich, die Meinung der Städte, den Geist des Heeres. Der, den sie in Paris noch den korsischen Werwolf nennen, den man in Nevers noch den Usurpator nennt, heißt in Grenoble bereits Bonaparte und in Lyon der Kaiser. Sie halten ihn für umstellt, verfolgt, auf der Flucht begriffen, und er marschiert rasch wie der Adler, den er zurückbringt. Die Soldaten, von denen Sie glaubten, sie würden vor Hunger und Anstrengung desertieren, vermehren sich wie die Schneeflocken um den Ball, der vom Gebirge herabstürzt. Sire, fliehen Sie, überlassen Sie Frankreich seinem wahren Herrn, dem, der es nicht erkauft, sondern erobert hat! Fliehen Sie, Sire, nicht als ob Sie Gefahr liefen, denn Ihr Gegner ist stark genug, um Ihnen Gnade angedeihen zu lassen, sondern weil es demütigend für einen Enkel des heiligen Ludwig wäre, sein Leben dem Helden von Marengo und Austerlitz verdanken zu müssen. – Sage ihm dies, Gérard, oder vielmehr geh und sage ihm nichts! Halte deine Reise geheim, rühme dich dessen nicht, was du tun wolltest und in Paris getan hast! Nimm die Eilpost und fahre, daß die Räder rauchen! Begib dich bei Nacht nach Marseille, betritt deine Wohnung durch die Hinterpforte und bleibe dort demütig und geheim und vor allem ganz harmlos. Denn diesmal, das schwöre ich dir, werden wir als kräftige Männer, als Leute, die ihre Feinde kennen, handeln. Geh, mein Sohn, und wenn du die väterlichen Befehle befolgst, wird es möglich sein, dich auf deinem Posten zu erhalten. Vielleicht, fügte Noirtier lächelnd hinzu, vielleicht wirst du dann in der Lage sein, mich zum zweitenmale zu retten, wenn der politische Wagbalken euch eines Tages wieder emporhebt und mich hinabsinken läßt. Gott befohlen, lieber Gérard, bei deiner nächsten Reise steige bei mir ab!

 

Und Nortier entfernte sich nach diesen Worten mit derselben Ruhe, die ihn nicht einen Augenblick während der Dauer dieser Unterredung verlassen hatte. Bleich und erschüttert lief Villefort ans Fenster und sah ihn ruhig mitten durch einen Schwarm verdächtiger Gestalten gehen, die sich an der nächsten Ecke aufgestellt hatten und vielleicht beauftragt waren, den Mann mit dem schwarzen Backenbart, dem blauen Oberrock und dem breitkrempigen Hute zu verhaften.

 

Eine halbe Stunde später war Villefort auf dem Wege nach Marseille; unterwegs erfuhr er, daß Napoleon siegreich in Grenoble eingezogen war.

 

Die hundert Tage.

 

Die hundert Tage.

 

Herr Noirtier war ein guter Prophet, und die Dinge nahmen, wie er vorher gesagt hatte, einen raschen Gang. Seltsam und wunderbar verlief Napoleons Rückkehr von der Insel Elba, und die Geschichte kennt kein zweites Beispiel dieser Art. – Ludwig XVIII. versuchte es nur schwach, den harten Schlag zu parieren. Das geringe Vertrauen, das er zu den Menschen hatte, ließ ihn auch den Ereignissen mißtrauen. Die Monarchie, eben erst wiederhergestellt, zitterte auf ihrer unsicheren Grundlage, und eine einzige Gebärde des Kaisers ließ das ganze Gebäude, eine gestaltlose Mischung von Vorurteilen und neuen Gedanken, einstürzen.

 

Die Dankbarkeit seines Königs, die sich Villefort erworben hatte, war also für diesen im Augenblick nicht nur unnütz, sondern sogar gefährlich, und er war so klug, das Offizierkreuz der Ehrenlegion niemand zu zeigen. Napoleon hätte ihn gewiß ohne den Schutz Noirtiers abgesetzt, der am Hofe der hundert Tage sowohl wegen der Gefahren, denen er Trotz geboten, als wegen der Dienste, die er geleistet hatte, allmächtig geworden war. Nur der Erste Staatsanwalt wurde, als politisch verdächtig, abgesetzt.

 

So blieb Villefort trotz des Sturzes seines Vorgesetzten an seiner Stelle, aber seine Verheiratung wurde auf glücklichere Zeiten verschoben. Behielt der Kaiser den Thron, so bedurfte Gérard einer andern Verbindung, die sein Vater ihm vermitteln sollte; führte eine zweite Restauration Ludwig XVIII. nach Frankreich zurück, so verdoppelte sich der Einfluß des Herrn von Saint-Meran, wie der seinige, und die beabsichtigte Verbindung wurde wünschenswerter, als je.

 

Der Staatsanwalt war also für den Augenblick der erste richterliche Beamte von Marseille, als eines Morgens seine Tür sich öffnete und man ihm Herrn Morel ankündigte, der durch seine Anhänglichkeit an Napoleon jetzt ein ganz anderes Ansehen als früher besaß.

 

Herr Morel erwartete, Villefort niedergeschlagen zu finden; er fand ihn aber ruhig, fest und voll jener kalten Höflichkeit, der unübersteigbarsten aller Schranken, die den erhabenen Staatsdiener vom gewöhnlichen Sterblichen trennen.

 

Er war zu Villefort in der Überzeugung gekommen, der Beamte würde bei seinem Anblick zittern, und nun war er es, der bang und erregt dem Beamten gegenüberstand, der ihn, den Ellbogen auf den Schreibtisch und das Kinn auf die Hand stützend, erwartete.

 

Er blieb an der Tür stehen. Villefort schaute ihn an, als ob er Mühe hätte, ihn wiederzuerkennen. Endlich, nach einigen Sekunden des Stillschweigens und der Prüfung, während deren Herr Morel seinen Hut in den Händen hin und her drehte, sagte Villefort: Herr Morel, wenn ich mich nicht täusche?

 

Ja, mein Herr, antwortete der Reeder.

 

Treten Sie näher, sagte Villefort mit Gönnermiene, und sagen Sie mir, welchem Umstande ich die Ehre Ihres Besuches zu verdanken habe!

 

Mein Herr, sagte der Reeder, Sie erinnern sich, daß ich einige Tage, ehe man die Landung Sr. Majestät des Kaisers erfuhr, zu Ihnen kam und Sie um Nachsicht für einen unglücklichen jungen Menschen, einen Seemann, Sekond an Bord meiner Brigg, bat. Man hat ihn angeklagt, er stehe in Verbindung mit der Insel Elba; eine solche Verbindung, die damals ein Verbrechen war, gewährt jetzt Anspruch auf Belohnung. Sie dienten zu jener Zeit Ludwig XVIII. und haben den jungen Mann nicht geschont; das war Ihre Pflicht. Heute dienen Sie Napoleon, und Sie müssen ihn in Schutz nehmen; das ist abermals Ihre Pflicht. Ich komme also, um Sie zu fragen, was aus ihm geworden ist.

 

Villefort rang mit aller Macht seine Bewegung nieder und erwiderte: Der Name dieses jungen Mannes? Haben Sie die Güte, mir seinen Namen zu sagen.

 

Edmond Dantes. Villefort hätte offenbar lieber der Pistole eines Duellgegners stand gehalten, als diesen Namen so geradezu aussprachen hören; er verzog jedoch keine Miene. Dantes? Edmond Dantes, sagen Sie? wiederholte er und öffnete ein dickes Register, das in einem nahen Fache lag, ging an einen Tisch, von dem Tische zu einem Haufen Aktenbündeln und sagte, sich zum Reeder wendend, mit äußerst unschuldiger Miene:

 

Warten Sie, ich habe es. Es ist ein Seemann, nicht wahr, der eine Katalonierin heiratete? Ja, ja; oh, ich erinnere mich jetzt, die Sache war sehr ernster Natur.

 

Wieso?

 

Sie wissen, daß er von hier in das Gefängnis des Justizpalastes geführt wurde. Acht Tage darauf brachte man ihn fort, man wird ihn nach Fenestrelles, nach Pignerol oder auf die Sainte-Marguerite-Inseln transportiert haben. Von dort werden Sie ihn eines schönen Tages wiederkehren und das Kommando seines Schiffes übernehmen sehen.

 

Er mag kommen, wann er will, seine Stelle bleibt ihm offen. Doch warum ist er nicht zurückgekehrt?

 

Von dem durch das Gesetz vorgeschriebenen Wege dürfen wir nicht abweichen, erwiderte Villefort. Der Einkerkerungsbefehl war von oben gekommen, der Freilassungsbefehl muß auch von oben kommen. Napoleon aber ist erst seit vierzehn Tagen zurückgekehrt, und die Begnadigungsschreiben können kaum ausgefertigt sein.

 

Gibt es denn kein Mittel, fragte Morel, die Förmlichkeiten zu beschleunigen, jetzt, da wir triumphieren? Ich habe verschiedene Freunde und einigen Einfluß; ich vermag die Aufhebung des Spruches zu erlangen.

 

Es fand kein Spruch statt.

 

Aber es muß doch eine Gefangenenliste geben.

 

Bei politischen Vergehen gibt es keine Gefangenenlisten. Die Regierungen haben oft ein Interesse daran, einen Menschen verschwinden zu lassen, ohne daß eine Spur von seinem Vorhandensein übrig bleibt.

 

Dies war unter den Bourbonen so, doch jetzt …

 

Das ist zu allen Zeiten so, Herr Morel. Eine Regierung folgt der andern, und eine gleicht der andern. Die unter Ludwig XIV. eingerichtete Strafmaschine ist noch heutigen Tages im Gange fast bis auf die Bastille. Der Kaiser handhabte die Gefängnisvorschriften noch strenger als der große König selbst, und die Zahl der Eingekerkerten, von denen sich in den Registern keine Spur findet, ist unberechenbar.

 

Morel hegte nicht den geringsten Verdacht mehr und fragte: Was würden Sie mir raten zur Beschleunigung der Rückkehr des armen Dantes zu tun?

 

Es gibt nur ein Mittel: Richten Sie eine Bittschrift an den Justizminister.

 

Und Sie wollen es übernehmen, diese Bittschrift an ihr Ziel gelangen zu lassen?

 

Mit größtem Vergnügen. Dantes konnte damals schuldig sein, heute ist er unschuldig, und es ist meine Pflicht, dem die Freiheit wiederzugeben, den ich meiner Pflicht gemäß ins Gefängnis setzen mußte.

 

Villefort kam auf diese Art der Gefahr einer nicht sehr wahrscheinlichen, aber doch möglichen Untersuchung zuvor, die ihn hätte ins Verderben stürzen müssen.

 

Setzen Sie sich also hierher, Herr Morel, sagte Villefort, dem Reeder seinen Platz abtretend, ich will Ihnen diktieren. Villefort bebte bei dem Gedanken an den in der Stille und Finsternis ihn verfluchenden Gefangenen; aber er war zu weit gegangen, um zurückweichen zu können. Dantes mußte vom Räderwerke seines Ehrgeizes zermalmt werden.

 

Villefort diktierte nun eine Bittschrift, in der er in anscheinend vortrefflicher Absicht Dantes‘ Patriotismus und die von ihm der bonapartistischen Sache geleisteten Dienste übertrieb. In dieser Bittschrift war Dantes als einer der tätigsten Agenten für die Rückkehr Napoleons dargestellt, und es schien keinem Zweifel zu unterliegen, daß der Minister, der dieses Papier in die Hände bekam, dem Armen sofort Gerechtigkeit widerfahren ließ.

 

Und diese Eingabe wird bald abgehen? fragte Morel.

 

Noch heute. – Mit einem Begleitberichte von Ihnen?

 

Der beste Bericht, den ich beifügen kann, besteht darin, daß ich alles, was Sie in dieser Bittschrift sagen, bestätige.

 

Villefort setzte sich nun ebenfalls und schrieb auf eine Ecke der Eingabe seine Zustimmung.

 

Was soll ich nun weiter tun? sagte Morel.

 

Warten, versetzte Villefort, ich stehe für alles.

 

Diese Versicherung gab Morel die Hoffnung wieder. Er verließ entzückt den Staatsanwalt und kündigte Dantes‘ altem Vater an, er würde seinen Sohn bald wiedersehen. Villefort aber, statt diese Botschaft nach Paris zu schicken, behielt sie in seinen Händen und verwahrte sie sorgfältig.

 

Dantes blieb also gefangen; in der Tiefe seines Kerkers verloren, hörte er nichts von dem geräuschvollen Einsturz des Thrones Ludwigs XVIII., oder von dem noch lauteren Krachen beim Zusammenbruch des Kaiserreiches. Villefort aber hatte alles mit wachsamem Auge verfolgt, alles mit aufmerksamem Ohre gehört. Zweimal war während dieser kurzen Kaiserzeit, die man die hundert Tage nannte, Morel, auf Dantes‘ Freilassung dringend, zu Villefort gekommen, und jedesmal hatte dieser ihn durch Versprechungen und Hoffnungen beschwichtigt. Endlich kam der Tag von Waterloo, und Napoleon wurde Gefangener auf Sankt Helena. Jetzt zeigte sich Morel nicht mehr bei Villefort. Der Reeder hatte für seinen jungen Freund alles getan, was ein Mensch tun konnte. Neue Versuche unter dieser zweiten Restauration machen, hieß sich nutzlos selbst gefährden.

 

Ludwig XVIII. bestieg wieder den Thron. Villefort, für den Marseille voll von Erinnerungen war, die ihm zuweilen Gewissensbisse bereiteten, erbat sich und erhielt die unbesetzte Stelle des Staatsanwalts in Toulouse. Vierzehn Tage später heiratete er Fräulein von Saint-Meran, deren Vater bei dem Hofe höher als je in Gunst stand.

 

So verharrte Dantes während der hundert Tage und auch nach Waterloo hinter Schloß und Riegel.

 

Danglars, der vorher triumphiert und das Gelingen seiner Denunziation in heuchlerischer Verblendung eine Fügung der Vorsehung genannt hatte, wurde von Angst ergriffen, als Napoleon wieder in Paris war und seine Stimme abermals gebieterisch erschallte. Er erwartete jeden Augenblick, Dantes drohend und stark wieder erscheinen zu sehen. Er eröffnete deshalb Herrn Morel seinen Wunsch, den Seedienst zu verlassen, und reiste nach Madrid ab. Seitdem hörte man nichts mehr von ihm.

 

Fernand begriff nichts von allem. Dantes war nicht da; was aus ihm geworden war, wollte er gar nicht wissen. Während der ganzen Frist, die ihm die Abwesenheit des Nebenbuhlers gewährte, strengte er seine Erfindungskraft an, teils um Mercedes über die Ursachen und Beweggründe dieser Abwesenheit zu täuschen, teils um Auswanderungs- und Entführungspläne auszusinnen. Manchmal, in trüben Stunden, setzte er sich wohl auf die Spitze des Kap Pharao und schaute traurig und unbeweglich wie ein Raubvogel hinaus, ob er nicht den jungen Mann mit dem freien Gange und dem hoch erhobenen Kopfe erblickte, der auch für ihn der Künder schwerer Rache sein mußte. Dann stand sein Plan fest. Er wollte Dantes mit einem Flintenschusse den Schädel zerschmettern und sich hernach selbst töten, wie er sich, um seinen Mordplan zu beschönigen, vorredete.

 

Mittlerweile rief das Kaiserreich einen neuen Heerbann auf, und alles, was sich in Frankreich an waffenfähiger Mannschaft vorfand, eilte auf die mächtige Stimme des Kaisers herbei. Auch Fernand mußte dem Rufe folgen. Er verließ seine Hütte und Mercedes, von dem grausamen Gedanken zermartert, sein Nebenbuhler könnte in der Zwischenzeit kommen und die Geliebte heiraten.

 

Seine Aufmerksamkeiten für Mercedes, das Mitleid, das er für ihr Unglück zu empfinden schien, die Sorge, mit der er ihren geringsten Wünschen zuvorkam, hatten die Wirkung hervorgebracht, die der Schein der Ergebenheit auf edle Herzen immer hervorbringt. Mercedes hatte stets eine freundschaftliche Zuneigung für Fernand gehegt, und ihre Freundschaft für ihn vermehrte sich durch ein neues Gefühl, durch die Dankbarkeit. Mein Bruder, sagte sie, als sie den Tornister auf den Schultern des Kataloniers befestigte, mein Bruder, mein einziger Freund, laßt Euch nicht töten, laßt mich nicht allein in dieser Welt, wo ich weinen muß und völlig vereinsamt bin, sobald Ihr nicht mehr lebt.

 

Diese im Augenblick der Trennung gesprochenen Worte gewährten Fernand wieder einige Hoffnung. Wenn Dantes nicht zurückkam, konnte Mercedes eines Tages die Seinige werden.

 

Mercedes blieb allein auf dieser kalten Erde, die ihr nie so öde vorgekommen war, allein, mit dem unermeßlichen Meere als Horizont. Ganz in Tränen gebadet sah man sie beständig um das kleine Dorf der Katalonier irren. Bald stand sie unter der glühenden Mittagssonne, unbeweglich, stumm wie eine Bildsäule, und schaute nach Marseille; bald saß sie am Rande des Gestades, horchte auf das Stöhnen des Meeres, so ewig wie ihr Schmerz, und fragte sich, ob es nicht besser wäre, sich vorwärts zu beugen, sich dem eigenen Gewichte zu überlassen, den Abgrund zu öffnen und sich darein zu versenken, statt die beständige Trauer einer hoffnungslosen Erwartung zu ertragen. Es fehlte ihr nicht an Mut, dieses Vorhaben zu verwirklichen, aber die Religion kam ihr zu Hilfe und bewahrte sie vor dem Selbstmord.

 

Caderousse wurde einberufen wie Fernand; da er jedoch verheiratet und acht Jahre älter war, als der Katalonier, kam er zum dritten Aufgebote und wurde zur Küstenverteidigung verwandt.

 

Der alte Dantes, den nur die Hoffnung aufrecht erhalten hatte, verlor diese bei dem Sturze des Kaisers. Genau fünf Monate, nachdem er von seinem Sohne getrennt worden war, und fast zur selben Stunde, wo man ihn verhaftet hatte, gab er in Mercedes‘ Armen den Geist auf. Herr Morel übernahm alle Kosten seiner Beerdigung und bezahlte die geringen Schulden, die der Greis während seiner Krankheit gemacht hatte. Es war mehr als Wohltätigkeit, so zu handeln, es gehörte Mut dazu. Der Süden Frankreichs stand in Flammen, und den Vater eines so gefährlichen Bonapartisten, wie Dantes, selbst auf dem Totenbette zu unterstützen, war ein Verbrechen.

 

Der wütende Gefangene und der verrückte Gefangene.

 

Der wütende Gefangene und der verrückte Gefangene.

 

Ungefähr ein Jahr nach der Rückkehr Ludwigs XVIII. unternahm der Generalinspektor der Gefängnisse eine Rundreise. Er besuchte wirklich hintereinander alle Zellen und Kerker. Mehrere Gefangene des Kastells If wurden ebenfalls vernommen; der Inspektor fragte sie über die Nahrung, die man ihnen verabreichte, und was sie etwa sonst noch zu wünschen hätten. Sie antworteten einstimmig, das Essen sei abscheulich, und sie wünschten, frei zu sein.

 

Der Inspektor fragte sie, ob sie ihm weiter nichts mitzuteilen hätten. Sie schüttelten den Kopf; was konnten Gefangene anderes verlangen, als die Freiheit?

 

Der Inspektor wandte sich um und sagte zu dem Gouverneur: »Ich weiß nicht, warum man uns diese unnützen Rundreisen machen läßt. Wer ein Gefängnis sieht, sieht hundert; wer einen Gefangenen hört, hört tausend. Es ist stets das gleiche: schlecht genährt und unschuldig. Haben Sie noch andere?

 

Ja, wir haben gefährliche Gefangene oder Narren, die im Kerker bewacht werden müssen.

 

Laßt sie sehen, sagte der Inspektor gelangweilt, ich darf mir nichts sparen.

 

Warten Sie, sagte der Gouverneur, wir müssen wenigstens zwei Soldaten zum Schutze haben. Die Gefangenen begehen zuweilen, und wäre es nur aus Lebensüberdruß und um sich zum Tode verurteilen zu lassen, Taten der Verzweiflung, und Sie könnten das Opfer einer solchen Handlung werden.

 

Man holte wirklich zwei Soldaten und stieg eine feuchte, übelriechende, schimmelige Treppe hinab.

 

Oho! rief der Inspektor, auf der Hälfte der Treppe stehen bleibend, wer zum Teufel kann hier wohnen?

 

Einer der gefährlichsten Meuterer, ein Mensch, der uns als zu allem fähig zu besonderer Wachsamkeit empfohlen ist.

 

Wie lange ist er hier?

 

Seit ungefähr einem Jahre, nachdem er den Schließer hatte töten wollen, hat man ihn in diesen Kerker gesetzt.

 

Er ist also toll?

 

Er ist noch viel schlimmer, sagte der Schließer, er ist ein Teufel.

 

Wollen Sie, daß ich Klage über ihn führe? fragte der Inspektor den Gouverneur.

 

Es bedarf dessen nicht, mein Herr, er ist so hinreichend bestraft. Überdies grenzt sein Zustand gegenwärtig an Narrheit, und nach der Erfahrung, die wir gemacht haben, wird er, ehe ein weiteres Jahr vergeht, verrückt sein.

 

Desto besser für ihn, sagte der Inspektor. Ist er einmal ein völliger Narr, so wird er weniger leiden.

 

Sie haben recht, sagte der Gouverneur, so haben wir in einem Kerker, der von diesem nur durch etwa zwanzig Fuß Mauerwerk getrennt ist, einen alten Abbé, einen ehemaligen italienischen Parteiführer. Er ist seit 1811 hier, wurde gegen das Ende des Jahres 1813 verrückt, und seit dieser Zeit ist er körperlich nicht mehr zu erkennen; früher weinte er, jetzt lacht er; früher magerte er ab, jetzt wird er fett.

 

 

Bei dem Klirren der schweren Schlösser, bei dem Ächzen der verrosteten Angeln, die sich auf ihren Zapfen drehten, erhob Dantes sein Haupt. Beim Anblick eines unbekannten Mannes, der von zwei fackeltragenden Schließern und zwei Soldaten begleitet war, und mit dem der Gouverneur sprach, erriet er, worum es sich handelte, und sprang, da er sah, daß sich ihm endlich eine Gelegenheit bot, einen höheren Beamten anzuflehen, mit gefalteten Händen vorwärts. Die Soldaten kreuzten sogleich das Bajonett, denn sie glaubten, der Gefangene stürze in böser Absicht auf den Inspektor los; auch dieser selbst machte einen Schritt rückwärts.

 

Als Dantes sah, daß man ihn als einen gefährlichen Menschen hingestellt halte, sammelte er in seinem Blicke alles, was das Herz des Menschen an Sanftheit und Demut zu enthalten vermag, und suchte mit ergreifenden, Gott als Zeugen seiner Unschuld und seines Elends anrufenden Worten, welche die Anwesenden in Erstaunen setzten, die Seele des hohen Besuchers zu rühren.

 

Der Inspektor hörte Dantes‘ Rede bis zum Ende an.

 

Er fängt an, fromm zu werden, sagte er hierauf zum Gouverneur mit halber Stimme; schon gibt er sanfteren Gefühlen Raum. Sehen Sie, die Furcht bringt ihre Wirkung auf ihn hervor. Er ist vor den Bajonetten zurückgewichen, ein Narr aber weicht vor nichts zurück; ich habe hierüber in der Irrenanstalt in Charenton seltsame Beobachtungen gemacht. Dann sich an den Gefangenen wendend, fragte er: Was verlangen Sie also?

 

Ich verlange zu wissen, welches Verbrechen ich begangen habe; ich verlange, daß man mir Richter gibt; ich verlange, daß mein Prozeß eingeleitet wird; ich verlange, daß man mich erschießt, wenn ich schuldig bin, aber auch, daß man mich in Freiheit setzt, wenn ich unschuldig bin.

 

Bekommen Sie gute Speise? fragte der Inspektor.

 

Ja, ich glaube; ich weiß es nicht. Doch daran ist wenig gelegen. Aber was nicht allein mich, den armen Gefangenen, sondern auch alle Justizbeamten und sogar den König angeht, das ist, daß ein Unschuldiger nicht das Opfer einer schändlichen Denunziation sein und nicht seine Henker verfluchend eingekerkert bleiben soll.

 

Sie find heute sehr demütig, sagte der Gouverneur, Sie waren nicht immer so. Sie sprachen ganz anders, mein lieber Freund, an dem Tage, wo Sie Ihren Wärter ermorden wollten.

 

Das ist wahr, antwortete Dantes, und ich bitte diesen Mann um Verzeihung, denn er ist stets gut gegen mich gewesen; aber was wollen Sie? Ich war verrückt, ich war wütend.

 

Und Sie sind es nicht mehr?

 

Nein, Herr; denn die Gefangenschaft hat mich gebeugt, gebrochen, vernichtet … Es ist schon so lange, daß ich hier bin!

 

So lange … wann sind Sie denn verhaftet worden?

 

Am 28. Februar 1815 um zwei Uhr nachmittags.

 

Der Inspektor rechnete: Wir haben den 30. Juli 1816; was wollen Sie? Sie sind erst seit siebzehn Monaten gefangen.

 

Siebzehn Monate! Oh! Herr, Sie wissen nicht, was siebzehn Monate Gefängnis sind; siebzehn Jahre, siebzehn Jahrhunderte, besonders für einen Menschen, der, wie ich, seinem Glücke so nahe stand; für einen Menschen, der, wie ich, ein geliebtes Wesen heiraten sollte; für einen Menschen, der eine ehrenvolle Laufbahn vor sich offen sah, und dem jetzt alles entrissen ist, der mitten aus dem schönsten Tage in die tiefste Nacht versinkt; der seine Zukunft zerstört sieht; der nicht weiß, ob die, welche er liebte, ihn noch liebt; der nicht weiß, ob sein alter Vater gestorben ist oder lebt! Siebzehn Monate Gefängnis für einen Menschen, der an die Luft des Meeres, an die Unabhängigkeit des Seemanns, an den freien Raum, an die Unermeßlichkeit, an die Unendlichkeit gewöhnt ist, Herr! Siebzehn Monate Gefängnis, das ist mehr, als alle Verbrechen verdienen, welche die menschliche Sprache mit den gefährlichsten Namen bezeichnet! Haben Sie daher Mitleid mit mir, und verlangen Sie für mich nicht Nachsicht, sondern Strenge, nicht Gnade, sondern ein Gericht; Richter, Herr, ich verlange nur Richter; man kann einem Angeklagten die Richter nicht verweigern.

 

Es ist gut, sagte der Inspektor, wir wollen sehen. In der Tat, der arme Teufel dauert mich; wenn wir hinaufkommen, werde ich mir die Gefangenenliste zeigen lassen.

 

Ganz gewiß! antwortete der Gouverneur; aber Sie werden schwer belastende Eintragungen finden.

 

Ich weiß, Herr, fuhr Dantes fort, daß Sie mich nicht durch eigene Entscheidung freilassen können; doch Sie vermögen meine Bitte der Behörde zu übergeben, Sie können eine Untersuchung veranlassen, mich vor ein Gericht stellen; ein Gericht, das ist alles, was ich fordere. Ich will wissen, welches Verbrechen ich begangen habe, und zu welcher Strafe ich verurteilt bin. Denn sehen Sie, die Ungewißheit ist die schlimmste aller Strafen.

 

Leuchtet mir! sagte der Inspektor.

 

Herr, rief Dantes, ich entnehme dem Tone Ihrer Stimme, daß Sie bewegt sind. Oh, Herr, sagen Sie mir, daß ich hoffen darf.

 

Ich kann Ihnen das nicht sagen, antwortete der Inspektor, ich verspreche Ihnen nur, daß ich die Sie betreffenden Akten untersuchen werde.

 

Oh, dann bin ich frei, dann bin ich gerettet!

 

Wer hat Sie verhaften lassen? fragte der Inspektor.

 

Herr von Villefort, antwortete Dantes, sprechen Sie mit ihm, fragen Sie ihn!

 

Herr von Villefort ist seit einem Jahr nicht mehr in Marseille, sondern in Toulouse.

 

Ah! dann wundere ich mich nicht mehr, murmelte Dantes; mein einziger Beschützer ist entfernt.

 

Hatte Herr von Villefort irgend einen Grund des Hasses gegen Sie? fragte der Inspektor.

 

Keinen, Herr, er benahm sich sogar sehr wohlwollend gegen mich.

 

Ich kann mich also auf die Erklärungen verlassen, die er über Sie gemacht hat oder mir geben wird?

 

Vollkommen, Herr.

 

Es ist gut. Warten Sie!

 

Dantes fiel auf die Knie und murmelte ein Gebet, worin er Gott diesen Mann empfahl, der in sein Gefängnis herabgestiegen war, wie der Heiland, um die Seelen aus der Hölle zu erretten. Die Tür schloß sich wieder; aber die Hoffnung, die mit dem Inspektor herabgekommen war, blieb ebenfalls im Kerker eingeschlossen.

 

Beeilen wir uns, dass wir fertig werden, sagte der Inspektor: wer kommt jetzt daran?

 

Oh, ein drolliger Narr, antwortete der Gouverneur, er hält sich nämlich für den Besitzer eines ungeheuren Schatzes. Im ersten Jahre seiner Gefangenschaft ließ er der Regierung eine Million anbieten, wenn sie ihn in Freiheit setzen wollte, im zweiten Jahre zwei Millionen, im dritten Jahre drei und so fort. Jetzt ist er im fünften Jahre seiner Gefangenschaft; er wird Sie bitten, insgeheim mit Ihnen sprechen zu dürfen, und Ihnen fünf Millionen anbieten.

 

Oh, das ist sonderbar, sagte der Inspektor, und wie heißt dieser Millionär? – Abbé Faria.

 

Der Schließer öffnete eine Tür, und der Inspektor warf einen neugierigen Blick in den Kerker des närrischen Abbés. Mitten im Zimmer, in einem mit einem Stück Mauerkalk auf der Erde gezogenen Kreise lag ein fast nackter Mensch, so sehr waren seine Kleider in Lumpen zerfallen. Er zeichnete in den Kreis sehr eifrig eine geometrische Linie und schien ebensosehr mit der Lösung seines Problems beschäftigt, wie es Archimedes war, als er von einem Soldaten des Marcellus getötet wurde. Er rührte sich nicht bei dem Geräusche, das das Öffnen des Kerkers veranlaßte, und schien erst zu erwachen, als das Licht der Fackeln mit einem ungewohnten Glanze den feuchten Boden übergoß, auf dem er arbeitete. Dann wandte er sich um und sah mit Erstaunen die zahlreiche Gesellschaft, die in seinen Kerker herabgestiegen war.

 

Sogleich stand er lebhaft auf, nahm eine Decke, die am Fuße seines elenden Bettes lag, und wickelte sich darein, um in den Augen der Fremden in einem schicklicheren Zustande zu erscheinen.

 

Was sind Ihre Wünsche? sagte der Inspektor, ich bin Vertreter der Regierung und habe den Auftrag, die Beschwerden und Bitten der Gefangenen entgegenzunehmen.

 

Oh, dann hoffe ich, wir werden uns verständigen, rief der Abbé.

 

Sehen Sie! sagte leise der Gouverneur. Fängt es nicht an, wie ich gesagt habe?

 

Mein Herr, fuhr der Gefangene fort, ich bin der Abbé Faria, geboren zu Rom und war zwanzig Jahre Sekretär des Kardinals Rospigliosi; ich wurde, ohne zu wissen warum, Anfang 1811 verhaftet. Ich bin sehr glücklich, Sie zu sehen, obgleich Sie mich in einer sehr wichtigen Berechnung gestört haben, in einer Berechnung, die, wenn sie gelingt, vielleicht Newtons Lehre von der Schwerkraft über den Haufen wirft. Können Sie mir die Gunst einer geheimen Unterredung bewilligen?

 

Das ist unmöglich.

 

Wenn es sich jedoch darum handelte, versetzte der Abbé, der Regierung eine ungeheure Summe zuzuwenden, sagen wir fünf Millionen?

 

Wahrhaftig, sagte der Inspektor zum Gouverneur, Sie haben alles, sogar bis auf die Summe, vorhergesagt.

 

Mein Lieber, sagte der Gouverneur, leider wissen wir zum voraus und auswendig, was Sie uns sagen wollen; es handelt sich um Ihre Schätze, nicht wahr?

 

Faria schaute den Spötter mit Augen an, in denen ein vorurteilsloser Beobachter den Blitz der Vernunft und der Wahrheit hätte leuchten sehen; dann sagte er: Allerdings, wovon soll ich sprechen, wenn nicht davon?

 

Herr Inspektor, fuhr der Gouverneur fort, ich kann Ihnen diese Geschichte ebensogut erzählen, wie der Herr Abbé selbst; denn seit vier oder fünf Jahren muß ich immer und ewig dasselbe hören.

 

Das beweist, sagte der Abbé, daß Sie wie die Menschen sind, von denen die Schrift spricht, welche Augen haben und nicht sehen, welche Ohren haben und nicht hören.

 

Mein Lieber, die Regierung ist reich und bedarf, Gott sei Dank, Ihres Schatzes nicht. Behalten Sie ihn also für den Tag, wo Sie dieses Gefängnis verlassen werden.

 

Das Auge des Abbés erweiterte sich; er ergriff die Hand des Inspektors und sagte: Aber wenn ich das Gefängnis nicht verlasse, wenn ich gegen jede Gerechtigkeit in diesem Kerker zurückgehalten werde, wenn ich hier sterbe, ohne mein Geheimnis irgend jemand vermacht zu haben, so ist also der Schatz verloren? Ist es nicht besser, wenn die Regierung daraus Nutzen zieht und ich ebenfalls? Ich werde bis zu sechs Millionen gehen, mein Herr, ja, ich werde sechs Millionen abtreten und mich mit dem Reste begnügen, wenn man mir die Freiheit schenken will.

 

Auf mein Wort, sagte der Inspektor halblaut, wüßte man nicht, daß dieser Mensch ein Narr ist, so müßte man glauben, er rede die Wahrheit, in so überzeugendem Tone spricht er.

 

Ich bin kein Narr, Herr, und sage die Wahrheit, versetzte Faria, der mit der den Gefangenen eigenen Feinheit des Gehörs kein Wort von der Bemerkung des Inspektors verloren hatte. Der Schatz, von dem ich spreche, ist wirklich vorhanden, und ich erbiete mich, einen Vertrag mit Ihnen zu unterschreiben, kraft dessen Sie mich an den von mir angegebenen Ort führen. Man soll die Erde unter unsern Augen ausgraben, und wenn ich lüge, wenn man nichts findet, so bin ich ein Narr, wie Sie sagen, und Sie bringen mich in diesen Kerker zurück, wo ich ewig bleiben und sterben werde, ohne von irgend jemand mehr etwas zu verlangen.

 

Der Gouverneur brach in ein Gelächter aus und sagte: Die Sache ist nicht übel ersonnen. Wenn alle Gefangenen sich den Spaß machen wollten, ihre Wärter hundert Meilen spazieren zu führen, so wäre das ein vortreffliches Mittel für sie, bei Gelegenheit sich aus dem Staube zu machen, und an Gelegenheit würde es dabei nicht fehlen.

 

Es ist ein bekanntes Mittel, sagte der Inspektor, und der Herr hat nicht einmal das Verdienst der Erfindung.

 

Mein Herr, antwortete Faria, schwören Sie mir bei Christus, mir zur Freiheit zu verhelfen, wenn ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe, und ich nenne Ihnen den Ort, wo mein Schatz vergraben liegt. Sie wagen dabei nichts, und Sie sehen, daß ich mir nicht dadurch eine Gelegenheit verschaffen will, mich zu flüchten, da ich im Gefängnis bleibe, während die Probe gemacht wird.

 

Sie sind mit Ihrer Kost zufrieden? fragte der Inspektor, um zu Ende zu kommen.

 

Fort mit Ihnen! rief der Abbé. Seien Sie verflucht wie die andern Wahnsinnigen, die mir nicht glauben wollten! Sie wollen nichts von meinem Golde; ich werde es behalten. Sie verweigern mir die Freiheit, Gott wird sie mir schicken. Fort, ich habe nichts mehr zu sagen.

 

Damit warf der Abbé seine Decke zurück, griff wieder nach dem Kalkstück, setzte sich in seinen Kreis und fuhr fort, seine Linien und Zahlen zu zeichnen.

 

Sie gingen weg, und der Gefangenenwärter schloß die Tür hinter ihnen.

 

Er muß in der Tat Schätze besessen haben, sagte der Inspektor, die Treppe hinaufsteigend.

 

Es hat ihm wohl vom Besitz derselben geträumt, antwortete der Gouverneur, und am andern Morgen ist er als Narr erwacht.

 

In der Tat, versetzte der Inspektor mit bezeichnender Naivität, wenn er wirklich reich gewesen wäre, so säße er nicht im Gefängnis.

 

So endigte die Inspektion für den Abbé. Er blieb Gefangener, und sein Ruf als lustiger Narr wuchs noch infolge dieses Besuchs.

 

Was Dantes betrifft, so hielt der Inspektor sein Wort.

 

Als er in die Wohnung des Gouverneurs kam, ließ er sich die Gefangenenliste geben.

 

Die den Gefangenen betreffende Note lautete:

 

Edmond Dantes Wütender Bonapartist, hat tätigen Anteil an der Rückkehr von der Insel Elba genommen.

 

Im geheimsten Gewahrsam und unter der strengsten Aufsicht zu halten.

 

Diese Note war von einer andern Handschrift und mit einer andern Tinte als das übrige Verzeichnis geschrieben, woraus hervorging, daß man sie während Dantes‘ Gefangenschaft hinzugefügt hatte.

 

Die Anklage war zu bestimmt, als daß ein Ankämpfen dagegen möglich gewesen wäre. Der Inspektor schrieb also daneben: Nichts zu machen.

 

Dieser Besuch hatte Dantes gleichsam wiederbelebt. Seitdem er ins Gefängnis gekommen war, hatte er die Tage zu zählen vergessen: aber der Inspektor gab ihm ein neues Datum, und Dantes vergaß es nicht. Er schrieb an die Wand mit einem Stück von der Decke gelösten Kalk den 30. Juli 1816, und von jetzt an machte er jeden Tag eine Kerbe, um fortlaufend das Datum bestimmen zu können.

 

Die Tage verliefen, dann die Wochen, dann die Monate; Dantes wartete immer. Er hatte damit angefangen, daß er einen Termin von vierzehn Tagen bis zu seiner Befreiung feststellte. Als diese vierzehn Tage abgelaufen waren, sagte er sich, es sei töricht von ihm, zu glauben, der Inspektor würde sich vor seiner Rückkehr nach Paris mit ihm beschäftigen: seine Rückkehr könnte aber nicht eher stattfinden, als bis er seine Rundreise vollendet hätte, und diese Rundreise dürfte einen bis zwei Monate dauern. Er verlängerte also die Frist auf drei Monate. Als drei Monate abgelaufen waren, bewilligte er sechs Monate. Als aber diese sechs Monate abgelaufen waren, stellte es sich heraus, daß er zehn und einen halben Monat gewartet hatte. Während dieser zehn Monate hatte sich nichts in seiner Lage geändert; keine tröstliche Nachricht war zu ihm gelangt; der Gefangenwärter blieb bei seinen Fragen stumm wie gewöhnlich. Dantes fing an, an seinen Sinnen zu zweifeln und zu glauben, was er für eine Erinnerung hielt, sei nichts als die tolle Ausgeburt seines Gehirns, und der tröstende Engel, der in seinem Gefängnisse erschienen, sei auf den Flügeln eines Traumes herabgekommen.

 

Nach Verlauf eines Jahres wurde der Gouverneur versetzt und nahm Dantes‘ Schließer mit. Ein neuer Gouverneur kam an. Es wäre für ihn zu zeitraubend gewesen, sich die Namen aller Gefangenen sagen zu lassen; er ließ sich nur ihre Nummern vorlegen. Das furchtbare Hotel garni auf If bestand aus fünfzig Zimmern; ihre Bewohner wurden mit der Nummer des Zimmers, das sie inne hatten, vorgerufen, und der unglückliche junge Mann hörte auf, seinen Vornamen Edmond oder seinen Namen Dantes zu führen; er hieß Nummer 34.