Der Blutregen.

 

Der Blutregen.

 

Der Juwelier schaute bei seinem Eintritt forschend umher; aber nichts schien einen Verdacht in ihm zu erregen. Caderousse hielt sein Gold und seine Banknoten immer noch mit beiden Händen. Die Carconte lächelte ihrem Gaste so freundlich zu, als sie nur immer konnte. Dann setzte sie auf eine Ecke des Tisches die magern Überreste eines Mittagsessens, denen sie einige frische Eier hinzufügte.

 

Caderousse hatte seine Geldscheine wieder in sein Portefeuille, das Gold in einen Sack getan und das Ganze in seinem Schrank verschlossen. Er ging düster und nachdenkend in der Stube auf und ab und schaute von Zeit zu Zeit den Juwelier an, der dampfend vor dem Herde stand und, als eine Seite trocken war, sich auf die andere wandte.

 

Mein Herr, sagte die Carconte, eine Flasche Wein auf den Tisch stellend, es ist alles bereit, wenn Sie zu Nacht essen wollen.

 

Und Sie? fragte der Gast.

 

Ich esse nicht zu Nacht, antwortete Caderousse.

 

Wir haben sehr spät zu Mittag gegessen und werden Sie bedienen, erwiderte die Carconte mit einem bei ihr, selbst gegen zahlende Gäste, ungewöhnlichen Eifer.

 

Caderousse warf von Zeit zu Zeit einen raschen Blick auf sie. Der Sturm wütete fort.

 

Es ist der Mistral, und der wird bis morgen fortdauern, sagte Caderousse, den Kopf schüttelnd, und stieß einen Seufzer aus.

 

Desto schlimmer für die, welche draußen sind, sagte der Juwelier, sich an den Tisch setzend.

 

Ja, die haben eine böse Nacht durchzumachen, versetzte die Carconte.

 

Der Juwelier fing an zu essen, und die Carconte erwies ihm fortwährend alle die kleinen Rücksichten einer aufmerksamen Wirtin; sonst so wunderlich und widerwärtig, war sie ein Muster von Zuvorkommenheit und Höflichkeit geworden. Hätte sie der Juwelier vorher gekannt, so würde ihm diese Veränderung sicherlich aufgefallen sein und Verdacht eingeflößt haben. Als das Abendessen beendet war, ging Caderousse selbst an die Tür, öffnete sie und sagte: Ich glaube, der Sturm legt sich.

 

Aber als sollte er Lügen gestraft werden, erschütterte in diesem Augenblick ein furchtbarer Donnerschlag das Haus, ein Windstoß, vermischt mit Regen, drang in die Tür und löschte die Lampe aus. Caderousse schloß die Tür wieder, und seine Frau zündete ein Licht an der ersterbenden Glut au.

 

Mein Herr, sagte sie, Sie müssen müde sein, ich habe das Bett frisch überzogen, gehen Sie hinauf und schlafen!

 

Der Juwelier blieb noch einen Augenblick, dann wünschte er seiner Wirtin gute Nacht und stieg die Treppe hinauf. Ich hörte ihn über mir gehen, jede Stufe krachte unter seinen Tritten. Die Carcounte folgte ihm mit gierigem Blick, während ihm Caderousse den Rücken zuwandte.

 

Alle diese einzelnen Umstände, welche seitdem in meinem Geiste mit der Frische des ersten Momentes Platz gegriffen haben, fielen nur zur Zeit, wo sie unter meinen Augen vorgingen, nicht auf; in allem, was geschah, lag im ganzen nichts Unnatürliches, und abgesehen von der Diamantengeschichte, die mir etwas unwahrscheinlich vorkam, konnte nichts einen Argwohn in mir rege machen.

 

Von Müdigkeit überwältigt und entschlossen, die erste Frist zu benutzen, die der Sturm den Elementen gönnen würde, wollte ich ein paar Stunden schlafen und um Mitternacht weggehen. Ich hörte im obern Zimmer den Juwelier alle Vorkehrungen treffen, um die Nacht so behaglich als möglich zuzubringen. Bald bemerkte ich an dem Krachen seines Bettes, daß er sich niedergelegt hatte.

 

Ich fühlte, wie sich meine Augen unwillkürlich schlossen, und da ich keinen Verdacht geschöpft hatte, so suchte ich nicht gegen den Schlaf zu kämpfen und warf nur noch einen Blick in das Innere. Caderousse saß an einem langen Tische auf einer von den hölzernen Bänken, die in den Dorfwirtshäusern die Stühle ersetzen; er wandte mir den Rücken zu und hielt seinen Kopf auf beide Hände gestützt.

 

Die Carconte schaute ihn eine Zeit lang an, zuckte die Achseln und setzte sich ihm gegenüber. In diesem Augenblick flackerte die Flamme zufällig auf, und ein etwas hellerer Schimmer erleuchtete die düstere Stube. Die Carconte schaute ihren Mann starr an, und da dieser stets in derselben Stellung verharrte, sah ich sie ihre gekrümmte Hand nach ihm ausstrecken und seine Stirn berühren.

 

Caderousse bebte. Es kam mir vor, als spräche sie ganz leise zu ihm, doch der Schall ihrer Worte gelangte nicht bis zu mir. Ich sah nur noch wie durch einen Nebel und halb traumbefangen. Endlich schlossen sich meine Augen, und ich verlor das Bewußtsein.

 

Ich lag im tiefsten Schlafe, als ich durch einen Pistolenschuß erweckt wurde, auf den ein furchtbarer Schrei folgte. Es erschollen ein paar wankende Tritte auf dem Boden der Stube, und eine träge Masse stürzte auf der Treppe, gerade über meinem Haupte, nieder.

 

Ich war noch nicht ganz meiner Herr. Ich vernahm Seufzer und dann halb erstickte Schreie, wie von einem Kampf. Ein letzter Schrei, der länger anhielt, als die andern, und sich endlich in ein Stöhnen verwandelte, entriß mich völlig meiner Erstarrung.

 

Ich erhob mich, öffnete die Augen, die in der Finsternis nichts sahen, und fuhr mit der Hand nach der Stirn, auf die, wie es mir vorkam, durch die Bretter der Treppe ein lauer Regen floß.

 

Das tiefste Schweigen war auf den furchtbaren Lärm gefolgt. Ich hörte sodann die Tritte eines Menschen über meinem Kopfe und auf der Treppe; dieser Mensch stieg in die untere Stube herab und zündete eine Kerze an. Ich erkannte Caderousse, sein Gesicht war bleich, und sein Hemd ganz mit Blut überzogen. Als das Licht angezündet war, stieg er rasch wieder die Treppe hinauf, und ich hörte von neuem seine raschen, unruhigen Tritte.

 

Einen Augenblick nachher kam er wieder herab; er hielt das Futteral in der Hand, wickelte es in sein rotes Tuch und band es um den Hals. Dann lief er nach dem Schranke, ergriff sein Geld, nahm ein paar Hemden, stürzte aus der Tür und verschwand in der Dunkelheit. Da wurde mir alles klar, und ich machte mir das Geschehene zum Vorwurf, als wäre ich selbst der wahre Schuldige. Es kam mir vor, als hörte ich ein Stöhnen. Der unglückliche Juwelier war nicht tot, vielleicht lag es in meiner Macht dadurch, daß ich ihm Hilfe leistete, einen Teil von dem Übel wieder gutzumachen, das ich zwar nicht selbst getan, wohl aber hatte tun lassen. Ich stemmte meine Schultern gegen die schlecht zusammengefügten Bretter, die den Schuppen, in dem ich mich befand, von der inneren Stube trennten. Die Bretter gaben nach, und ich befand mich im Hause.

 

Ich ergriff den Leuchter und eilte nach der Treppe; ein Körper versperrte mir den Weg, es war der Leichnam der Carconte. Der Pistolenschuß, den ich gehört, war auf sie abgefeuert; ihr Hals war völlig durchbohrt. Das Zimmer bot den Anblick der furchtbarsten Zerstörung. Alle Geräte waren umgeworfen; die Bettlaken, an die sich der unglückliche Juwelier ohne Zweifel angeklammert hatte, lagen auf dem Boden; er selbst war auf der Erde ausgestreckt und schwamm, den Kopf an die Wand gestützt, in seinem Blute, das aus drei breiten Wunden in seiner Brust hervorquoll. In einer vierten stak ein langes Küchenmesser, das bis ans Heft hineingestoßen war.

 

Ich näherte mich dem Juwelier, er war nicht ganz tot. Bei dem Lärm, den ich machte, öffnete er seine stieren Augen; heftete sie eine Sekunde lang auf mich, bewegte seine Lippen, als wollte er sprechen, und verschied.

 

 

Dieses furchtbare Schauspiel machte mich fast wahnsinnig. Von dem Augenblick jedoch, wo ich nicht mehr helfen konnte, fühlte ich nur das Bedürfnis, zu fliehen. Mich bei den Haaren fassend und ein Geschrei des Schreckens ausstoßend, stürzte ich nach der Treppe.

 

In der unteren Stube fand ich eine ganze bewaffnete Macht, bestehend aus fünf bis sechs Zollbeamten und mehreren Gendarmen. Man bemächtigte sich meiner. Ich versuchte es nicht einmal, Widerstand zu leisten; … ich war nicht mehr Herr meiner Sinne. Ich wollte sprechen, stieß aber nur unzusammenhängende Töne aus.

 

Ich sah, daß die Zöllner und Gendarmen mit dem Finger auf mich deuteten, denn ich war ganz mit Blut bedeckt. Der laue Regen, der durch die Bretter der Treppe auf mich gefallen, war das Blut der Carconte.

 

Ich deutete mit dem Finger auf den Ort, wo ich verborgen gewesen war.

 

Was will er sagen? fragte ein Gendarm.

 

Ein Zöllner sah nach und sagte: Er will sagen, daß er hier durchgeschlüpft ist, und zeigte das Loch, durch das ich wirklich geschlüpft war.

 

Nun begriff ich, daß man mich für den Mörder hielt. Ich fand meine Sinne wieder, ich fand meine Kräfte wieder, befreite mich von den Händen zweier Männer, die mich hielten, und rief: Ich bin es nicht.

 

Zwei Gendarmen schlugen mit ihren Karabinern auf mich an.

 

Wenn du dich rührst, sagten sie, bist du des Todes.

 

Aber ich wiederhole, daß ich es nicht bin, rief ich.

 

Du kannst deine Geschichten den Richtern von Nimes erzählen, erwiderten sie. Inzwischen folge uns; und wenn wir dir raten sollen, leiste keinen Widerstand!

 

Das war nicht meine Absicht; ich fühlte mich durch Erstaunen und Schrecken gelähmt. Man legte mir Handschellen an, band mich an den Schweif eines Pferdes und führte mich nach Nimes.

 

Es war mir auf meinem Wege durch den Kanal ein Zöllner gefolgt; als er mich in der Gegend des Hauses aus dem Gesichte verlor, vermutete er, ich würde die Nacht hier zubringen. Er benachrichtigte seine Kameraden und kam mit ihnen gerade, um den Pistolenschuß zu hören und mich inmitten von Schuldbeweisen festzunehmen, deren Widerlegung mir, wie ich wohl einsah, kaum gelingen konnte.

 

Ich verließ mich auch nur auf eines und bat den Untersuchungsrichter sogleich, überall einen gewissen Abbé Busoni suchen zu lassen, der im Verlaufe des Tages im Wirtshause zum Pont du Gard gewesen sei. Hatte Caderousse gelogen, gab es keinen Abbé Busoni, so war ich offenbar verloren, wenn nicht Caderousse ebenfalls gefangen wurde und alles gestand.

 

Es vergingen zwei Monate, während deren, ich muß es zum Lobe meines Richters sagen, alle Nachforschungen angestellt wurden, um den aufzusuchen, nach dem ich verlangte. Ich hatte jede Hoffnung verloren, Caderousse war nicht festgenommen worden. In der nächsten Sitzung sollte ich gerichtet werden, als am 8. September, das heißt drei Monate und fünf Tage nach dem Vorfall, der Abbé Busoni, auf den ich nicht mehr rechnete, sich bei dem Kerkermeister einfand und sagte, er habe erfahren, ein Gefangener wünsche ihn zu sprechen. Er habe in Marseille davon gehört, gab er an, und beeile sich, dem Wunsche zu entsprechen.

 

Sie können sich denken, mit welcher Freude ich ihn empfing ich erzählte ihm das ganze Ereignis, dessen Zeuge ich gewesen, sprach aber nicht ohne Unruhe von der Geschichte mit dem Diamanten. Gegen mein Erwarten war sie Punkt für Punkt wahr; ebenfalls gegen mein Erwarten maß er allem, was ich sagte, Glauben bei. Von seinem Wohlwollen und seiner tiefen Einsicht ergriffen, beichtete ich ihm, was in Auteuil geschehen, und erhielt von ihm den Trost der Absolution. Er verließ mich, indem er mir versprach, er würde alles tun, was in seiner Macht liege, meine Richter von meiner Unschuld zu überzeugen.

 

Den Beweis, daß er sich wirklich mit mir beschäftigte, fand ich darin, daß meine Haft allmählich milder wurde. In der Zwischenzeit wurde Caderousse im Ausland verhaftet und nach Frankreich zurückgebracht. Er gestand alles und warf die Schuld des Vorbedachts und besonders der Anstiftung auf seine Frau. Er wurde zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurteilt und mich setzte man in Freiheit.

 

Damals geschah es, daß Sie sich mit einem Briefe des Abbés Busoni bei mir einfanden? fragte Monte Christo.

 

Ja, Exzellenz; er nahm sichtbar Anteil an mir, riet mir, mein Schmugglerhandwerk aufzugeben, und wollte mich an einen Bekannten empfehlen.

 

Oh, mein Vater, rief ich, wieviel Güte! – Doch Sie schwören mir, daß ich es nie zu bereuen haben werde?

 

Ich streckte die Hand aus, um zu schwören.

 

Unnötig, sagte er, ich kenne und liebe die Korsen; hier ist meine Empfehlung.

 

Und auf diese Empfehlung hin hatte Eure Exzellenz die Gnade, mich in seine Dienste zu nehmen. Nun frage ich Eure Exzellenz, hat sie sich je über mich zu beklagen gehabt?

 

Nein, erwiderte der Graf, und ich gestehe mit Vergnügen, Sie sind ein guter Diener, Bertuccio, obgleich es Ihnen an Vertrauen gebricht.

 

Mir, Herr Graf?

 

Ja, Ihnen. Wie kommt es, daß Sie eine Schwägerin und einen Adoptivsohn haben, und weder von der einen noch von dem andern mit mir sprachen?

 

Ach! Exzellenz, ich muß Ihnen noch den traurigsten Teil meines Lebens mitteilen. Nach meiner Freilassung reiste ich nach Korsika, denn es drängte mich, meine arme Schwägerin wiederzusehen. Als ich aber nach Rogliano kam, fand ich das Haus in Trauer; es war eine furchtbare Szene vorgefallen. Meinem Rate gemäß, widerstand meine Schwägerin den Forderungen Benedettos, der jeden Augenblick alles Geld verlangte, das im Hause war. Eines Morgens bedrohte er sie und verschwand dann einen ganzen Tag. Sie weinte, denn die liebe Assunta hatte ein Mutterherz für den Elenden. Es kam der Abend, sie wartete auf ihn, ohne sich niederzulegen. Als er um elf Uhr mit zweien seiner Freunde, den gewöhnlichen Genossen seiner tollen Streiche, zurückkehrte, streckte sie die Arme nach ihm aus; doch die Ruchlosen packten sie, und einer von den dreien, ich fürchte, es war das höllische Kind selbst, rief: Wir wollen sie auf die Folter spannen, sie muß gestehen, wo sie ihr Geld hat.

 

Der Nachbar Wasilio war gerade in Bastia, und nur seine Frau allein zu Hause. Niemand außer ihr konnte sehen oder hören, was bei meiner Schwägerin vorging. Zwei von ihnen hielten die arme Assunta, der dritte verrammelte Türen und Fenster, und alle drei hielten dann Assuntas nackte Füße, indem sie mit Tüchern ihr Geschrei erstickten, über die Kohlenglut, um ihr das Geständnis zu entreißen, wo unser kleiner Schatz verborgen liege. Doch dabei fingen ihre Kleider Feuer; da ließen sie die Unglückliche los, um nicht selbst verbrannt zu werden. Ganz in Flammen lief sie nach der Tür, aber die Tür war verschlossen; sie stürzte nach dem Fenster, doch das Fenster war verrammelt. Nun hörte die Nachbarin ein furchtbares Geschrei; es war Assunta, die um Hilfe rief. Bald dämpfte sich ihre Stimme; die Schreie verwandelten sich in ein Stöhnen, und als am andern Morgen, nach einer Nacht des Schreckens und der Angst, Wasilios Frau aus ihrer Wohnung herauszugehen wagte und von der Polizei unser Haus öffnen ließ, fand man Assunta halb verbrannt, aber noch atmend, die Schränke erbrochen, das Geld entwendet. Benedetto hatte Rogliano verlassen, um nie mehr dahin zurückzukehren. Seit jenem Tage habe ich ihn nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihm gehört. – Nachdem ich diese traurige Kunde vernommen, begab ich mich zu Eurer Exzellenz. Ich konnte nicht von Benedetto sprechen, weil er verschwunden, und nicht von meiner Schwägerin, weil sie tot war.

 

Und was dachten Sie von diesem Ereignis? sagte Monte Christo.

 

Es sei die Strafe für das Verbrechen, das ich begangen hatte. Oh! diese Villefort waren ein verfluchtes Geschlecht.

 

Ich glaube es, murmelte der Graf finster.

 

Und nun begreifen Eure Exzellenz wohl, daß dieses Haus, das ich seitdem nicht mehr gesehen, daß dieser Garten, in dem ich mich plötzlich wiederfand, daß dieser Platz, wo ich einen Menschen getötet habe, die Erschütterung in mir hervorbringen mußte, deren Veranlassung Sie erfahren wollten; denn ich weiß nicht gewiß, ob nicht hier zu meinen Füßen Herr von Villefort in dem Grabe liegt, das er für sein Kind gegraben hatte.

 

Es ist in der Tat alles möglich, sagte Monte Christo, von der Bank aufstehend, auf der er gesessen hatte, sogar, fügte er ganz leise hinzu, sogar, daß der Staatsanwalt nicht gestorben ist. Der Abbé Busoni hat wohl daran getan, Sie mir zuzuschicken. Sie haben ebenfalls wohl daran getan, mir Ihre Geschichte zu erzählen, denn ich werde nichts Schlimmes mehr von Ihnen denken. Doch was den verruchten Benedetto betrifft, haben Sie nie seine Spur aufzufinden gesucht, haben Sie nie zu erfahren gesucht, was aus ihm geworden ist?

 

Nie. Hätte ich gewußt, wo er wäre, so würde ich, statt zu ihm zu gehen, vor ihm geflohen sein, wie vor einem Ungeheuer. Nein, glücklicherweise habe ich nie irgend einen Menschen der Welt von ihm sprechen hören, und ich hoffe, er ist tot.

 

Hoffen Sie das nicht, Bertuccio; die Schlechten sterben nicht so leicht, denn Gott scheint sie unter seine Obhut zu nehmen, um Werkzeuge seiner Rache aus ihnen zu machen.

 

Es mag sein, versetzte Bertuccio. Ich bitte den Himmel nur, ihn nie mehr sehen zu dürfen. Und nun wissen Sie alles, Herr Graf, fügte der Intendant, sein Haupt neigend, hinzu, Sie sind mein Richter hienieden, wie dies Gott dort oben sein mag … Werden Sie mir nun nicht einige Worte des Trostes sagen?

 

Sie haben recht, ich kann Ihnen sagen, was der Abbé Busoni sagen würde: Der, welcher Sie mißhandelt hatte, Villefort, verdient eine Strafe für das, was er Ihnen getan, und vielleicht noch für etwas anderes. Benedetto aber wird, falls er lebt, zu einer göttlichen Rache dienen. Sie aber haben sich in Wahrheit nur einen Vorwurf zu machen: Fragen Sie sich, warum Sie das Kind, nachdem Sie es dem Tode entrissen, nicht seiner Mutter zurückgegeben haben! Hierin liegt Ihr Verbrechen, Bertuccio.

 

Ja, Herr Graf, das ist mein Verbrechen, denn ich bin hierbei feig gewesen; hatte ich das Kind einmal ins Leben zurückgerufen, so blieb nur eins zu tun: ich mußte es, wie Sie sagen, seiner Mutter zurückschicken. Aber zu diesem Behufe hätte ich auch Nachforschungen anstellen, die Aufmerksamkeit auf mich ziehen, mich vielleicht preisgeben müssen. Ich wollte aber nicht sterben, ich hing meiner Schwägerin wegen am Leben, vielleicht auch nur aus Liebe zu eben diesem Leben. Oh, ich bin kein Tapferer, wie mein armer Bruder!

 

Bertuccio verbarg sein Gesicht in seinen beiden Händen, und Monte Christo heftete einen langen, unbeschreiblichen Blick auf ihn.

 

Dann nach einem kurzen Stillschweigen, das durch die Stunde und den Ort noch feierlicher wurde, sagte der Graf mit einem bei ihm ungewöhnlichen Tone der Schwermut:

 

Herr Bertuccio, erinnern Sie sich stets folgender Worte, ich habe sie oft vom Abbé Busoni aussprechen hören: Für jedes Übel gibt es zwei Mittel, die Zeit und das Stillschweigen. Lassen Sie mich nur eine Minute im Garten spazierengehen. Was für Sie, die handelnde Person, bei dieser furchtbaren Szene eine schmerzhafte Erschütterung hervorbringen muß, wird für mich eine beinahe sanfte Empfindung sein und diesem Gute einen doppelten Wert verleihen. Die Bäume gefallen mir, weil sie Schatten geben, und der Schatten gefällt mir, weil er voll von Träumen und Gesichten ist. Sehen Sie, ich habe einen Garten gekauft und glaubte nur einen von Mauern eingeschlossenen Raum zu kaufen; es findet sich aber, daß dieser Raum von Schreckbildern bevölkert ist, die gar nicht im Vertrage aufgeführt sind. Jedoch ich liebe diese Geister; meines Wissens haben die Toten in sechstausend Jahren nicht so viel Böses getan, wie die Lebenden an einem einzigen Tage. Kehren Sie also zurück und schlafen Sie in Frieden! Ist Ihr letzter Beichtiger minder nachsichtig, als es der Abbé Busoni war, so lassen Sie mich kommen, wenn ich noch auf der Welt bin, und ich werde Worte finden, die Ihre Seele in jeder Minute sanft einwiegen lassen, wo sie bereit ist, sich auf die große Reise zu machen, die man die Ewigkeit nennt.

 

Bertuccio verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor dem Grafen und entfernte sich nach einem tiefen Seufzer. Nach einem Gange durch den Garten kehrte der Graf zu seinem Wagen zurück. Bertuccio stieg, ohne ein Wort zu sagen, auf den Bock neben den Kutscher. Der Wagen schlug wieder den Weg nach Paris ein.

 

Noch an demselben Abend, unmittelbar nach seiner Ankunft in dem Hause der Champs-Elysées, besichtigte Monte Christo die ganze Wohnung, wie es nur ein seit langen Jahren damit vertrauter Mensch hätte tun können. Nicht ein einziges Mal öffnete er, obgleich er allein ging, eine Tür statt einer andern, wählte er eine Treppe oder eine Flur, die ihn nicht dahin führte, wohin er gehen wollte. Ali begleitete ihn bei dieser nächtlichen Schau. Der Graf gab Bertuccio mehrere Befehle für die Verschönerung und Einteilung der Zimmer; dann zog er seine Uhr und sagte zu dem aufmerksamen Nubier: Es ist halb zwölf Uhr. Haydee muß bald kommen. Hat man die französischen Frauen davon in Kenntnis gesetzt?

 

Ali streckte die Hand nach der für die schöne Griechin bestimmten Wohnung aus, die so abgesondert und durch eine Tapetentür verborgen war, daß man das ganze Haus besichtigen konnte, ohne zu vermuten, daß es hier noch einen Salon und zwei bewohnte Zimmer gab. Ali streckte also die Hand nach dieser Wohnung aus, deutete die Zahl drei mit den Fingern seiner linken Hand an, legte dann den Kopf auf die wieder flach gemachte Hand und schloß die Augen, als schliefe er.

 

Oh! sagte Monte Christo, der an diese Sprache gewöhnt war, es sind ihrer drei, und sie warten im Schlafzimmer, nicht wahr?

 

Ali bejahte, indem er mit dem Kopfe nickte.

 

Madame wird heute abend müde sein und ohne Zweifel schlafen wollen; veranlasse sie nicht zum Sprechen; die französischen Kammerfrauen sollen ihre neue Gebieterin nur begrüßen und sich dann zurückziehen. Du wachst darüber, daß die griechische Kammerfrau nicht mit den französischen Frauen verkehrt.

 

Ali verbeugte sich.

 

Bald hörte man den Hausmeister anrufen; das Gitter öffnete sich, ein Wagen hielt vor der Freitreppe. Der Graf ging hinab; der Kutschenschlag war bereits offen; er reichte seine Hand einer Frau, die in einen großen, seidenen, ganz mit Gold gestickten, von ihrem Haupte herabfallenden Schleier gehüllt war. Die junge Frau nahm die ihr dargebotene Hand, küßte sie mit ehrfurchtsvoller Liebe und ließ ein paar zärtliche Worte laut werden, auf die der Graf mit sanftem Ernste antwortete. Dann wurde die junge Frau, eine junge Griechin, in ihre Gemächer begleitet.

 

Der unbegrenzte Kredit.

 

Der unbegrenzte Kredit.

 

Am andern Tage, gegen zwei Uhr nachmittags, hielt eine mit zwei prächtigen Pferden bespannte Kalesche vor der Tür des Grafen. Ein Mann von etwa fünfzig Jahren in blauem Frack und weißer Weste mit ungeheurer goldener Uhrkette streckte seinen Kopf aus dem Coupé, auf dessen Füllung eine Baronenkrone gemalt war, und schickte seinen Diener zum Hausmeister, um zu fragen, ob der Graf von Monte Christo zu Hause sei.

 

Inzwischen betrachtete er mit großer Aufmerksamkeit das Äußere des Hauses und die Livree einiger Bedienten, die hin und her gingen. Sein Auge war lebhaft, aber mehr verschmitzt als geistreich; seine Lippen waren so dünn, daß sie, statt gegen außen vorzuspringen, in den Mund zurücktraten; die breiten und hervorragenden Backenknochen, die niedergedrückte Stirn, die Ausbuchtung des Hinterhauptes, die übermäßige Ohrmuschel trugen dazu bei, für jeden Physiognomiker dem Gesichte dieser Person einen fast abstoßenden Charakter zu verleihen.

 

Der Diener klopfte an das Fenster des Hausmeisters und fragte: Wohnt hier nicht der Graf von Monte Christo?

 

Seine Exzellenz wohnt hier, antwortete der Hausmeister; aber … Er befragte Ali mit einem Blicke. Ali machte ein verneinendes Zeichen.

 

Aber Seine Exzellenz ist nicht zu sprechen, sagte der Hausmeister.

 

Dann nehmen Sie diese Karte des Herrn Baron von Danglars und geben sie dem Herrn Grafen. Sagen Sie ihm, daß mein Herr, der jetzt zur Kammer fährt, einen Umweg macht, um sich die Ehre zu geben, ihm einen Besuch abzustatten.

 

Der Diener kehrte zum Wagen zurück und meldete, was man ihm gesagt.

 

Oh! oh! rief Danglars, dieser Herr ist also so vornehm, das; man ihn Exzellenz nennt, und daß nur sein Kammerdiener mit ihm sprechen darf; gleichviel, da er einen Kredit auf mich hat, muß ich ihn besuchen, für den Fall, daß er Geld zu erheben wünscht.

 

Und er warf sich in seinen Wagen zurück und rief dem Kutscher so laut zu, daß man es auf der andern Seite der Straße hören konnte: In die Deputiertenkammer!

 

Durch eine Jalousie hatte Monte Christo den Baron gesehen und ihn mit derselben Aufmerksamkeit gemustert, mit der Danglars das Haus, den Garten und die Livreen besichtigt hatte.

 

Dieser Mensch, sagte er, ist offenbar ein häßliches Geschöpf; erkennt man nicht sofort, wenn man ihn sieht, die Schlange an der platten Stirn, den Geier an dem gewölbten Schädel und den Habicht an dem scharfen Schnabel?

 

In demselben Augenblick trat der Intendant ein. Monte Christo wandte sich an ihn und sagte: Haben Sie die Pferde gesehen, die soeben vor meiner Tür hielten?

 

Allerdings, Exzellenz, sie sind sehr schön.

 

Wie kommt es, fragte Monte Christo, die Stirn faltend, daß es, wenn ich die zwei schönsten Pferde von Paris verlange, hier noch zwei andere Pferde gibt, die so schön sind, wie die meinigen, und daß diese Pferde nicht in meinem Stalle stehen?

 

Herr Graf, sagte Bertuccio, die Pferde, von denen Sie sprechen, waren nicht käuflich.

 

Monte Christo zuckte die Achseln und erwiderte: Lassen Sie sich sagen, mein Herr Intendant, daß stets alles für den käuflich ist, der den Preis zu machen weiß.

 

Herr Danglars hat 16 000 Franken dafür bezahlt.

 

Dann hätte man ihm 32 000 bieten müssen; er ist Bankier, und ein Bankier versäumt nie eine Gelegenheit, sein Kapital zu verdoppeln.

 

Spricht der Herr Graf im Ernste? fragte Bertuccio.

 

Monte Christo schaute den Intendanten wie ein Mensch an, der darüber erstaunt, daß man eine solche Frage an ihn zu richten wagt, und sagte sodann: Ich habe heute abend einen Besuch zu erwidern, die zwei Pferde müssen dann mit neuem Geschirr an meinen Wagen gespannt sein.

 

Bertuccio verbeugte sich, um wegzugehen; an der Tür blieb er noch einmal stehen und fragte: Um wieviel Uhr gedenkt Exzellenz den Besuch zu machen? – Um fünf Uhr.

 

Ich erlaube mir, Eure Exzellenz zu bemerken, daß es zwei Uhr ist, sagte der Intendant.

 

Ich weiß es, erwiderte Monte Christo mit trockenem Tone; dann fügte er, zu Ali gewendet, hinzu: Laß alle Pferde an Madame vorüberfahren, damit sie sich das Gespann auswählen kann, das ihr am meisten gefällt; will sie mit mir zu Mittag speisen, so mag sie es mir sagen lassen, man serviert dann bei ihr; geh und schicke mir den Kammerdiener.

 

Ali war kaum verschwunden, als der Kammerdiener ebenfalls eintrat.

 

Herr Baptistin, sagte der Graf, Sie sind seit einem Jahre in meinem Dienst; das ist die Probezeit, die ich gewöhnlich meinen Leuten auferlege. Sie sagen mir zu.

 

Baptistin verbeugte sich.

 

Nun fragt es sich nur noch, ob ich Ihnen zusage.

 

Oh! Herr Graf! rief Baptistin.

 

Hören Sie mich zu Ende! Sie erhalten im Jahr fünfzehnhundert Franken, Sie haben eine Tafel, wie sie sich viele wünschen würden. Ein Diener, haben Sie selbst wieder Diener, die für Ihr Weißzeug und Ihre andern Bedürfnisse sorgen. Außer den fünfzehnhundert Franken Gehalt stehlen Sie mir bei den Ankäufen, die Sie für meine Toilette zu machen haben, noch ungefähr weitere fünfzehnhundert Franken jährlich.

 

Oh! Herr Graf.

 

Ich beklage mich nicht, Herr Baptistin, denn ich finde dies nicht übermäßig; doch wünsche ich, daß es hierbei bleiben möge. Sie werden also nirgends einen Posten dem ähnlich finden, den Sie Ihr Glück finden ließ. Ich schlage meine Leute nie, ich fluche nie, ich gerate nie in Zorn, ich vergebe stets einen Irrtum, doch nie eine Nachlässigkeit oder Vergeßlichkeit. Meine Befehle sind gewöhnlich kurz, aber klar und genau; ich will sie lieber zwei- oder dreimal wiederholen, als falsch ausgelegt zu sehen. Ich bin reich genug, um alles zu erfahren, was ich erfahren will, und ich bin sehr neugierig, das sage ich Ihnen zum voraus. Erfahre ich nun, Sie hätten im Guten oder im Schlechten von mir gesprochen, meine Handlungen beurteilt, mein Tun überwacht, so würden Sie auf der Stelle mein Haus verlassen. Ich warne meine Diener nur ein einziges Mal, Sie sind gewarnt, gehen Sie! Baptistin verbeugte sich und machte ein paar Schritte, um sich zu entfernen.

 

Doch halt, sagte der Graf, ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß ich jedes Jahr eine gewisse Summe auf den Kopf meiner Leute anlege. Die, welche ich wegschicke, verlieren natürlich dieses Geld, das den Bleibenden zu gut kommt, die nach meinem Tode ein Recht darauf haben. Sie sind ein Jahr bei mir; die Ansammlung Ihres Vermögens hat begonnen, sorgen Sie dafür, daß es zunimmt.

 

Diese in Gegenwart von Ali, der kein Wort Französisch verstand, gehaltene Rede brachte auf Baptistin eine große Wirkung hervor.

 

Es soll mein Bestreben sein, mich in allen Punkten mit den Wünschen Eurer Exzellenz in Einklang zu setzen, sagte er; überdies werde ich mir Herrn Ali zum Vorbild nehmen. Oh! keineswegs, sagte der Graf eiskalt. Bei Ali sind viele Fehler mit guten Eigenschaften vermischt. Nehmen Sie sich kein Beispiel an ihm, denn Ali ist eine Ausnahme; er hat keinen Lohn, er ist kein Diener; er ist mein Sklave, mein Hund; verfehlt er sich gegen seine Pflicht, so jage ich ihn nicht fort, sondern töte ihn.

 

Baptistin riß die Augen weit auf.

 

Sie zweifeln? sagte Monte Christo.

 

Und er wiederholte arabisch die Worte, die er französisch zu Baptistin gesprochen hatte.

 

Ali hörte, lächelte, näherte sich seinem Herrn, setzte ein Knie auf die Erde und küßte ihm ehrfurchtsvoll die Hand. Diese kleine Zugabe zu der Lektion seines Gebieters machte das Maß des Erstaunens bei Baptistin voll. Der Graf hieß ihn nun durch ein Zeichen weggehen und Ali ihm folgen. Beide begaben sich in sein Kabinett, wo eine lange Unterredung stattfand.

 

Um fünf Uhr schlug der Graf dreimal auf sein Glöckchen. Ein Schlag rief Ali, zwei riefen Baptistin, drei Bertuccio.

 

Meine Pferde! sagte Monte Christo.

 

Sie sind angespannt, Exzellenz, erwiderte Bertuccio. Habe ich den Herrn Grafen zu begleiten?

 

Nein, der Kutscher, Ali und Baptistin, sonst niemand.

 

Der Graf ging hinab und erblickte an seinem Wagen die Pferde, die er wenige Stunden zuvor an Danglars‘ Wagen bewundert hatte.

 

Diese Tiere sind in der Tat schön, sagte er, und Sie haben wohl daran getan, sie zu kaufen, nur war es ein wenig spät.

 

Exzellenz, entgegnete Bertuccio, es hat mir viele Mühe gemacht, sie zu erhalten, und der Preis ist sehr hoch.

 

Kommen Ihnen die Pferde darum minder schön vor? fragte der Graf, die Achseln zuckend.

 

Dieses Gespräch fand oben auf der Freitreppe statt. Bertuccio tat einen Schritt, um die erste Stufe hinabzusteigen. Sacht, mein Herr, rief Monte Christo, ihn zurückhaltend. Ich bedarf eines Gutes an der Seeküste, sagen wir, in der Normandie, zwischen Havre und Boulogne. Ich gebe Ihnen Raum, wie Sie sehen. Bei diesem Ankauf müssen Sie auf einen kleinen Hafen, eine kleine Bucht bedacht sein, wo meine Korvette einlaufen und sich halten kann; ihr Tiefgang beträgt nur fünfzehn Fuß. Das Schiff muß stets bereit sein, in See zu gehen, zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht es mir beliebt. Sie erkundigen sich bei allen Notaren nach einem Gute, das den von mir angegebenen Bedingungen entspricht. Haben Sie ein solches in Erfahrung gebracht, so besichtigen Sie es, und wenn Sie damit zufrieden sind, kaufen Sie es in meinem Namen. Die Korvette ist auf dem Wege nach Fécamp, nicht wahr?

 

An demselben Abend, an dem wir Marseille verließen, sah ich sie in See gehen.

 

Und die Jacht?

 

Die Jacht hat Befehl, in Martigues zu bleiben.

 

Gut! Sie korrespondieren von Zeit zu Zeit mit den Patronen, welche die Schiffe befehligen, damit sie nicht einschlafen. Und dazu noch eins: Für das Dampfboot, das in Chalons ist, geben Sie dieselben Befehle wie für die Segelschiffe.

 

Sehr wohl.

 

Sobald das Gut gekauft ist, muß ich auf der Straße nach dem Norden und auf der nach dem Süden frische Pferde haben von zehn zu zehn Stunden.

 

Eure Exzellenz kann auf mich bauen.

 

Der Graf machte ein Zeichen der Zufriedenheit, stieg die Stufen hinab und sprang in seinen Wagen, der, von dem herrlichen Gespann im Trabe gezogen, erst vor dem Hotel des Bankiers anhielt.

 

Danglars führte eben den Vorsitz bei einer für Eisenbahn-Angelegenheiten ernannten Kommission, als man ihm den Besuch des Grafen von Monte Christo meldete. Die Sitzung war übrigens fast zu Ende. Bei dem Namen des Grafen stand er auf und sagte zu seinen Kollegen, von denen mehrere Kammermitglieder waren:

 

Meine Herren, verzeihen Sie mir, wenn ich Sie verlasse, aber denken Sie sich, daß das Haus Thomson und French in Rom einen gewissen Grafen von Monte Christo an mich weist und ihm zugleich einen unbegrenzten Kredit bei mir eröffnet. Es ist der possierlichste Scherz, den sich je meine Korrespondenten im Ausland gegen mich erlaubt haben. Sie werden begreifen, die Neugierde hat mich gepackt und hält mich noch fest; ich bin auch heute früh bei dem angeblichen Grafen vorgefahren. Wäre er ein wirklicher Graf, so könnte er, wie Sie einsehen werden, nicht so reich sein. Der Herr war nicht sichtbar. Sind die Manieren, die sich der Herr von Monte Christo erlaubt, Ihrer Ansicht nach nicht die einer Hoheit oder einer hübschen Frau? Das Haus auf den Champs-Elysées ist übrigens, wie ich erfahren habe, sein Eigentum und gar nicht zu verachten. Ich halte mich für mystifiziert. Aber sie wissen dort nicht, mit wem sie es zu tun haben; wer zuletzt lacht, lacht am besten.

 

Nachdem er diese Worte von sich gegeben hatte, die er mit einem seine Nasenlöcher schwellenden Nachdruck sprach, verließ der Herr Baron seine Gäste und ging in einen weiß und goldenen Salon, der in der Chaussée d’Antin in hohem Ansehn stand. Er hatte Befehl gegeben, den Grafen hier einzuführen, um ihn mit dem ersten Schlage zu blenden.

 

Monte Christo betrachtete ein paar Kopien von Albano und Fattore, die man bei dem Bankier für Originale ausgegeben hatte, aber bei dem Geräusch, das Danglars machte, wandte er sich um. Danglars grüßte leicht mit dem Kopfe und bedeutete dem Grafen durch ein Zeichen, er möge sich auf einen mit weißem, goldgesticktem Atlas überzogenen Polsterstuhl von vergoldetem Holze setzen.

 

Ich habe die Ehre, mit Herrn von Monte Christo zu sprechen?

 

Und ich, antwortete der Graf, mit dem Herrn Baron von Danglars, Ritter der Ehrenlegion, Mitglied der Kammer der Abgeordneten?

 

Monte Christo wiederholte alle Titel, die er auf der Karte des Barons gefunden hatte. Danglars fühlte den Stich, biß sich in die Lippen und antwortete:

 

Entschuldigen Sie mich, daß ich Ihnen nicht sogleich den Titel gegeben habe, unter dem Sie sich ankündigten; aber Sie wissen, wir leben unter einer volkstümlichen Regierung, und ich bin ein Vertreter der Rechte des Volkes.

 

So sehr, daß Sie zwar die Gewohnheit, sich selbst Baron nennen zu lassen, beibehielten, die, andere Graf zu nennen, aber vergessen haben!

 

Ah! ich halte auch für meine Person nichts darauf, mein Herr, entgegnete Danglars gleichgültig, man hat mich wegen einiger Dienste, die ich geleistet, zum Baron ernannt und zum Ritter der Ehrenlegion gemacht; daher …

 

Doch Sie entsagten Ihren Titeln und gaben ein schönes Beispiel!

 

Nicht ganz; Sie begreifen, für die Bedienten …

 

Ja, ja, für Ihre Leute heißen Sie gnädiger Herr, für die Journalisten Herr und für Ihre Wähler Bürger. Das sind unter einer konstitutionellen Regierung höchst praktische Abstufungen, wie ich vollkommen begreife.

 

Danglars kniff sich abermals die Lippen; er sah, daß er auf diesem Gebiete Monte Christo nicht gewachsen war, und suchte auf ein anderes überzugehen, mit dem er besser vertraut war.

 

Herr Graf, sagte er sich verbeugend, ich habe eine Mitteilung von dem Hause Thomson und French erhalten.

 

Ich bin darüber entzückt, Herr Baron, ich werde nicht nötig haben, mich selbst vorzustellen, was immer ein wenig peinlich ist. Sie haben also bereits eine Mitteilung empfangen? Ja, aber ich gestehe, daß ich den Sinn derselben nicht vollkommen begriff. – Bah!

 

Dieser Brief, ich habe ihn, glaube ich, bei mir. Ja, hier ist er. Dieser Brief eröffnet dem Herrn Grafen einen unbegrenzten Kredit auf mein Haus.

 

Nun, Herr Baron, was finden Sie hierin Dunkles?

 

Nichts, außer dem Worte unbegrenzt.

 

Wie, ist der Ausdruck nicht gut? Sie begreifen, der Brief ist von Engländern geschrieben.

 

Ah! ganz gewiß, hinsichtlich der Grammatik ist nichts dagegen einzuwenden, anders steht es geschäftlich.

 

Scheint Ihnen das Haus Thomson und French nicht vollkommen sicher, Herr Baron? sagte Monte Christo mit der naivsten Miene der Welt. Teufel! das wäre mir ärgerlich, denn ich habe einige Fonds dort angelegt.

 

Vollkommen sicher, erwiderte Danglars mit beinahe spöttischem Lächeln; aber der Sinn des Wortes unbegrenzt ist bei finanziellen Dingen so unbestimmt …

 

Daß er unbegrenzt ist, nicht wahr?

 

Das ist es gerade, was ich sagen wollte; das Unbestimmte aber ist der Zweifel, und im Zweifel enthalte dich, spricht der Weise.

 

Und das bedeutet, daß, wenn das Haus Thomson und French geneigt ist, Tollheiten zu begehen, das Haus Danglars keine Lust hat, dem Beispiel zu folgen.

 

Wieso, Herr Graf?

 

Ja gewiß, die Herren Thomson und French machen Geschäfte ohne bestimmte Zahlen, aber Herr Danglars hat eine Grenze bei den seinigen; er ist ein weiser Mann, wie er soeben bemerkte.

 

Mein Herr, sagte der Bankier stolz, es hat noch niemand an meiner Kasse etwas auszusetzen gefunden.

 

Dann werde ich anfangen, wie es scheint, erwiderte Monte Christo.

 

Wer sagt Ihnen das?

 

Die Erläuterungen, die Sie von mir verlangen, denn sie sind Zögerungen sehr ähnlich.

 

Danglars biß sich in die Lippen; zum zweiten Male wurde er von diesem Manne geschlagen, und zwar diesmal auf dem Gebiete, das er als sein eigenstes bezeichnete. Seine spöttische Höflichkeit war nur geheuchelt und berührte jenes Extrem, das der Unverschämtheit so nahe steht. Monte Christo dagegen lächelte aufs anmutigste und besaß, wenn er wollte, ein gewisses naives Wesen, das ihm sehr zum Vorteile gereichte.

 

Mein Herr, sagte Danglars nach kurzem Stillschweigen, ich will versuchen, mich dadurch verständlich zu machen, daß ich Sie bitte, selbst die Summe zu bestimmen, die Sie von mir zu erheben gedenken.

 

Mein Herr, antwortete Monte Christo, entschlossen, keinen Zoll breit bei dieser Verhandlung zurückzuweichen, wenn ich einen unbegrenzten Kredit auf Sie verlangt habe, so geschah dies, weil ich den Betrag der Summen, deren ich vielleicht bedarf, nicht kannte.

 

Der Bankier glaubte, der Augenblick sei gekommen, den Meister zu zeigen, er warf sich in seinen Polsterstuhl zurück und sagte mit stolzem, plumpem Lächeln: Oh! mein Herr, scheuen Sie sich nicht, Ihren Wunsch auszudrücken, Sie werden sich überzeugen, daß die Kasse des Hauses Danglars, so beschränkt sie auch ist, doch den ausgedehntesten Forderungen zu entsprechen vermag, und sollten Sie auch eine Million verlangen …

 

Wie beliebt?

 

Ich sage eine Million, wiederholte Danglars mit dem Nachdruck der Gemeinheit.

 

 

Und was soll ich mit einer Million tun? entgegnete der Graf. Guter Gott! wenn ich nur eine Million gebraucht hätte, … einer solchen Erbärmlichkeit wegen würde ich mir nicht haben einen Kredit auf Sie eröffnen lassen! Eine Million habe ich stets in meiner Brieftasche. Hierbei zog Monte Christo aus einem kleinen Täschchen, das auch seine Visitenkarten enthielt, zwei Anweisungen auf die Staatsbank, je über 500 000 Franken.

 

Einen Menschen wie Danglars mußte man mit einem Keulenschlage niederstrecken, leichte Stiche taten ihm nichts. Der Bankier wankte betäubt und schaute Monte Christo mit verdutzten Augen an, deren Stern sich furchtbar erweiterte. Gestehen Sie mir, daß Sie dem Hause Thomson und French mißtrauen? sagte Monte Christo. Mein Gott, das ist ganz einfach, ich habe diesen Fall vorgesehen. Hier sind noch zwei Briefe, dem ähnlich, den Sie erhalten haben, der eine ist von Arnstein in Wien an den Herrn Baron Rothschild, der andere von Baring in London an Herrn Laffitte. Sagen Sie ein Wort, und ich überhebe Sie jeder Unruhe, indem ich mich an eins von den beiden Häusern wende.

 

Das wirkte, Danglars war besiegt. Er öffnete sichtbar zitternd die beiden Briefe von Wien und London, die ihm der Graf mit den Fingerspitzen reichte, und untersuchte die Echtheit der Unterschriften mit einer ängstlichen Aufmerksamkeit, die für Monte Christo beleidigend gewesen wäre, wenn er sie nicht der Verwirrung des Bankiers zu gut gehalten hätte.

 

Oh! mein Herr, diese drei Unterschriften sind Millionen wert, sagte Danglars, indem er sich erhob, als wollte er in dem Manne, der vor ihm stand, die personifizierte Macht des Geldes begrüßen. Drei unbegrenzte Kredite auf unsere größten Häuser! Verzeihen Sie, Herr Graf, aber wenn man auch aufhört, mißtrauisch zu sein, so kann man doch noch erstaunt bleiben.

 

Oh! ein Haus wie das Ihrige dürfte wohl nicht staunen, erwiderte Monte Christo mit aller ihm zu Gebote stehenden Höflichkeit. Sie können mir also einiges Geld schicken?

 

Befehlen Sie, Herr Graf, ich bin zu Ihren Diensten.

 

Nun, da wir uns verstehen … nicht wahr, wir verstehen uns?

 

Danglars machte ein bejahendes Zeichen mit dem Kopfe.

 

Und Sie haben kein Mißtrauen mehr? fuhr Monte Christo fort.

 

Oh! Herr Graf, rief der Bankier, ich hatte es nie.

 

Nun also, da wir uns verstehen, wollen wir eine runde Summe für das erste Jahr feststellen, sechs Millionen etwa.

 

Sechs Millionen, gut! versetzte der Bankier ganz betäubt.

 

Brauche ich mehr, fuhr Monte Christo gleichgültig fort, so setzen wir mehr. Doch ich gedenke nur ein Jahr in Frankreich zu bleiben, und während dieses Jahres überschreite ich diese Summe wohl nicht … übrigens werden wir sehen … Schicken Sie mir morgen zunächst 500 000 Franken, ich werde bis zur Mittagsstunde zu Hause sein; und wäre dies auch nicht der Fall, so fände sich ein Empfangsschein bei meinem Intendanten.

 

Das Geld wird morgen vormittag um zehn Uhr bei Ihnen sein, Herr Graf, erwiderte Danglars.

 

Der Graf stand auf.

 

Ich muß Ihnen gestehen, Herr Graf, sagte Danglars, ich glaubte von allen großen Vermögen in Europa Kenntnis zu haben, aber das Ihre, das doch beträchtlich zu sein scheint, war mir völlig unbekannt; ist es neu?

 

Nein, mein Herr, es ist von sehr altem Datum; es war eine Art Familienschatz, den man nicht berühren durfte, der Zuschlag der Zinsen hat das Kapital verdreifacht. Die vom Erblasser festgesetzte Frist ist erst vor ein paar Jahr en abgelaufen, und erst seitdem bin ich im Genuß; somit ist es ganz natürlich, daß Ihnen von diesem Kapital nichts bekannt ist. Übrigens werden Sie den Stand der Dinge in einiger Zeit genauer kennen lernen.

 

Der Graf begleitete diese Worte mit jenem bleichen Lächeln, das Franz d’Epinay so bange gemacht hatte.

 

Mit Ihrem Geschmack und Ihrer Gesinnung, mein Herr Graf, fuhr Danglars fort, werden Sie in der Hauptstadt einen Luxus entwickeln, der uns arme kleine Millionäre insgesamt in den Staub treten muß. Doch dürfte ich um die Ehre bitten, Sie der Frau Baronin von Danglars vorstellen zu dürfen? Entschuldigen Sie meinen Eifer, Herr Graf, doch ein Kunde, wie Sie, gehört beinahe zur Familie.

 

Monte Christo verbeugte sich. Danglars läutete, und es erschien ein Lakai in auffallender Livree, den sein Herr fragte: Ist die Frau Baronin zu Hause?

 

Ja, Herr Baron. Die Frau Baronin hat Gesellschaft. Und wer ist bei der Frau Baronin? Herr Debray? fragte Danglars mit einer Gelassenheit, die Monte Christo, der bereits von den durchsichtigen Geheimnissen im Hause des Finanzmannes unterrichtet war, innerlich lächeln ließ.

 

Ja, Herr Baron, Herr Debray, antwortete der Lakai.

 

Danglars machte ein Zeichen mit dem Kopfe. Dann, sich gegen Monte Christo wendend, sagte er: Herr Lucien Debray, ein alter Freund von uns, ist geheimer Sekretär beim Minister des Innern. Was meine Frau betrifft, so muß ich Ihnen bemerken, daß sie einer sehr alten Familie angehört; sie ist ein Fräulein von Servières, Witwe aus erster Ehe mit dem Obersten Marquis von Nargonne.

 

Ich habe nicht die Ehre, die Frau Baronin von Danglars zu kennen; aber Herrn Lucien Debray traf ich unmittelbar nach meiner Ankunft bei Herrn von Morcerf.

 

Ah! Sie kennen den kleinen Vicomte.

 

Wir waren miteinander zur Zeit des Karnevals in Rom.

 

Ah! ja; habe ich nicht so etwas wie von einem sonderbaren Abenteuer mit Banditen sprechen hören, deren Händen er auf eine wunderbare Weise entrissen wurde? Ich glaube, er hat meiner Frau und meiner Tochter bei seiner Rückkehr aus Italien dergleichen erzählt.

 

Die Frau Baronin erwartet die Herren, meldete der Lakai.

 

Die Apfelschimmel.

 

Die Apfelschimmel.

 

Dem Grafen voran durchschritt der Baron eine Reihe von Zimmern, die durch ihre schwerfällige Pracht und den darin herrschenden übermäßig schlechten Geschmack auffielen, und gelangte in das Boudoir der Frau Danglars, ein kleines achteckiges Gemach, mit einem von indischem Musselin überzogenen Atlas tapeziert. Die Polsterstühle waren von altem vergoldetem Holz und hatten alten Überzug; über den Türen hingen Gemälde, Schäferszenen nach Boucher darstellend; zwei mit der übrigen Ausstattung im Einklang stehende hübsche Pastelle in Medaillenform machten endlich aus diesem Zimmer das einzige einigermaßen stilvolle des ganzen Hauses, was nur die Folge davon war, daß sich die Baronin mit Lucien Debray allein die Ausschmückung vorbehalten hatte.

 

Frau Danglars, die trotz ihrer sechsunddreißig Jahre noch schön genannt werden konnte, saß an ihrem Klavier, einem Meisterwerke von eingelegter Arbeit, während Lucien, an einem Tische sitzend, in einem Album blätterte.

 

Lucien hatte schon vor der Erscheinung des Grafen Zeit gehabt, der Baronin allerlei Dinge in Beziehung auf dessen Person zu erzählen. Man weiß, welchen Eindruck Monte Christo während des Frühstücks bei Albert auf dessen Gäste hervorbrachte; dieser Eindruck, so wenig empfänglich im ganzen Debray war, hatte sich bei ihm noch nicht verwischt, und die Mitteilungen, die er der Baronin über den Grafen machte, waren ganz davon erfüllt. Durch die früheren Erzählungen Morcerfs und durch die neuen Berichte Debrays angeregt, hatte die Neugierde der Baronin den höchsten Grad erreicht. Sie empfing Herrn Danglars mit einem Lächeln, wie es ihm gewöhnlich nicht zuteil wurde, während sie dem Grafen auf seinen Gruß eine zeremoniöse, aber zugleich freundliche Verneigung gewährte.

 

Lucien wechselte mit dem Grafen einen halbvertrauten Gruß und nickte Danglars zu.

 

Frau Baronin, sagte Danglars, erlauben Sie mir, Ihnen den Herrn Grafen von Monte Christo vorzustellen, den mein Korrespondent in Rom mit den dringendsten Empfehlungen an mich gewiesen hat. Ich habe nur ein Wort zu sagen, das ihn im Augenblick zum Liebling aller unserer schönen Damen machen wird; er kommt nach Paris, um ein Jahr hier zu bleiben und während dieses Jahres sechs Millionen auszugeben. Dies verspricht eine Reihe von Bällen, Diners und Soupers, wobei der Herr Graf, wie ich hoffe, uns ebensowenig vergessen wird, wie wir ihn bei unseren kleinen Festen!

 

Trotz der plumpen Art dieser Vorstellung ist doch ein Mensch, der nach Paris kommt, um in einem Jahre ein fürstliches Vermögen zu verbrauchen, etwas so Seltenes, daß Frau Danglars auf Monte Christo einen recht neugierigen Blick warf.

 

Wann sind Sie angelangt, mein Herr? fragte sie. – Gestern früh.

 

Und Sie kommen Ihrer Gewohnheit gemäß, wie man mir gesagt hat, vom Ende der Welt?

 

Diesmal nur von Cadix.

 

Oh! Sie erscheinen in einer abscheulichen Jahreszeit; Paris ist im Sommer fürchterlich; es gibt keine Bälle, keine Gesellschaften, keine Feste. Die italienische Oper ist in London, die französische Oper überall, nur nicht in Paris; und was das Théâtre-Français betrifft, so wissen Sie, daß es nirgends mehr zu finden ist. Somit bleiben uns als einzige Zerstreuung nur noch ein paar unglückliche Wettrennen auf dem Marsfelde und in Satory. Werden Sie rennen lassen, Herr Graf?

 

Ich, erwiderte Monte Christo, werde in Paris alles mitmachen, wenn ich das Glück habe, jemand zu finden, der mich recht in das Pariser Leben einführt.

 

Sie sind Liebhaber von Pferden, Herr Graf?

 

Ich habe einen Teil meines Lebens im Orient zugebracht, gnädige Frau, und die Orientalen schätzen, wie Sie wissen, nur zwei Dinge in der Welt, den Adel der Pferde und die Schönheit der Frauen.

 

Ah! Herr Graf, entgegnete die Baronin, Sie hätten, meine ich, die Frauen voransetzen können!

 

Sie sehen, Frau Baronin, daß ich recht hatte, wenn ich mir soeben einen Führer wünschte, der mir in den französischen Sitten Anleitung zu geben vermöchte.

 

In diesem Augenblick trat die Lieblingskammerfrau der Baronin Danglars ein, näherte sich ihrer Gebieterin und flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr. Frau Danglars entgegnete erbleichend: Es ist unmöglich!

 

Nein, es ist die genaue Wahrheit, sagte die Kammerfrau.

 

Frau Danglars fragte, sich an ihren Gatten wendend: Ist es wahr, mein Herr?

 

Was, Frau Baronin? erwiderte er, sichtbar beunruhigt.

 

Man sagt mir, mein Kutscher habe, als er anspannen wollte, meine Pferde nicht mehr im Stalle gefunden. Ich frage Sie, was soll das bedeuten?

 

Frau Baronin, hören Sie mich!

 

Oh! ich höre schon, denn ich bin neugierig, zu erfahren, was Sie mir sagen werden; ich mache diese Herren zu Richtern zwischen uns und will Ihnen zunächst mitteilen, wie sich die Sache verhält. Der Baron hat zehn Pferde im Stall; unter diesen zehn Pferden gehören mir zwei, reizende Tiere, die schönsten Pferde von Paris; Sie kennen sie, Herr Debray, meine Apfelschimmel. Nun, jetzt eben, als Frau von Villefort meinen Wagen von mir entlehnt, als ich ihr ihn für morgen zu einer Spazierfahrt zusage, finden sich meine zwei Pferde nicht mehr vor. Herr Danglars hat wahrscheinlich ein paar tausend Franken dabei verdient. Wie verhaßt ist mir doch dieser gemeine Krämergeist!

 

Frau Baronin, erwiderte Danglars, die Pferde waren zu lebhaft und kaum vier Jahre alt, ich werde ähnliche, sogar schönere für Sie finden, wenn es welche gibt, aber sanfte, ruhige Pferde, die mir keine solche Angst einflößen.

 

Die Baronin zuckte die Achseln mit der Miene tiefer Verachtung.

 

Danglars schien diese mehr als deutliche Gebärde nicht zu bemerken und sagte, sich an Monte Christo wendend: In der Tat, ich bedaure, Sie nicht früher gekannt zu haben, Herr Graf; Sie richten Ihr Haus ein?

 

Ja wohl. Ich hätte Ihnen diese Tiere angetragen; denken Sie, ich habe sie um ein Nichts weggegeben; aber wie gesagt, ich wollte sie los sein, es waren zu feurige Tiere.

 

Mein Herr, sagte der Graf, ich danke Ihnen, ich habe heute morgen ziemlich gute und nicht zu teuer gekauft. Doch sehen Sie, Herr Debray! Sie sind, glaube ich, Kenner?

 

Während Debray ans Fenster trat, näherte sich Danglars seiner Frau und sagte ganz leise zu ihr: Stellen Sie sich vor, man kam und bot mir einen ungeheuren Preis für die Pferde. Ich weiß nicht, welcher Narr, der sich mit Gewalt zu Grunde richten will, heute seinen Intendanten zu mir schickte; nur so viel ist gewiß, daß ich sechzehntausend Franken bei dem Handel gewinne. Schmollen Sie nicht, und ich gebe Ihnen viertausend davon und Eugenie ebenfalls viertausend.

 

Frau Danglars ließ einen niederschmetternden Blick auf ihren Gatten fallen.

 

Wenn ich mich nicht täusche, sind Ihre Pferde, Ihre eigenen Pferde, an den Wagen des Grafen gespannt, rief Debray.

 

Meine Apfelschimmel! rief Frau Danglars und eilte ans Fenster. Danglars war ganz verblüfft.

 

Ist es möglich? rief Monte Christo, den Erstaunten spielend.

 

Es ist unglaublich, murmelte der Bankier.

 

Die Baronin sagte Debray ein paar Worte ins Ohr, und dieser näherte sich Monte Christo.

 

Die Baronin läßt Sie fragen, um welchen Preis ihr Gatte sein Gespann an Sie verkauft hat?

 

Ich weiß es nicht genau; es ist eine Überraschung, die mir mein Intendant, ich glaube um dreißigtausend Franken, bereitet hat.

 

Debray überbrachte der Baronin die Antwort.

 

Danglars erwiderte nichts, er sah eine unheilvolle Szene voraus; bereits war die Stirn der Baronin gefaltet und weissagte Sturm. Debray fühlte dies, schützte ein Geschäft vor und entfernte sich, Monte Christo, der mit Genugtuung die Lage der Dinge bemerkte, verbeugte sich vor Frau Danglars, ging ebenfalls weg und überließ den Baron dem Grimme seiner Gemahlin.

 

Gut, dachte Monte Christo, während er sich zurückzog; ich habe mein Ziel so ziemlich erreicht; ich halte den Frieden dieser Ehe in meinen Händen und kann mit einem Schlage das Herz des Mannes und das der Frau gewinnen; welches Glück! Aber ich bin Fräulein Eugenie Danglars nicht vorgestellt worden, während ich sie doch so gern hätte kennen lernen. Doch wir sind in Paris und haben Zeit vor uns. Es wird noch geschehen!

 

Zwei Stunden später erhielt Frau Danglars einen bestrickend liebenswürdigen Brief vom Grafen, worin er ihr schrieb, da er sein Erscheinen in der Pariser Welt nicht damit anfangen wolle, daß er eine hübsche Frau in Verzweiflung bringe, so bitte er sie, ihre Pferde zurückzunehmen. Als das Gespann wieder zurückgesandt wurde, trugen die Pferde das gleiche Geschirr, nur hatte der Graf in die Mitte jeder Rosette über dem Ohre einen Diamanten nähen lassen.

 

Danglars empfing auch einen Brief. Der Graf bat ihn um Erlaubnis, bei der Baronin dieser Millionärslaune entsprechen zu dürfen, und schrieb ihm zugleich, er möge die orientalische Manier entschuldigen, mit der die Zurücksendung der Pferde stattfinde.

 

Durch einen Schlag auf das Glöckchen gerufen, trat Ali am andern Morgen in das Kabinett des Grafen, der mit ihm am Abend vorher nach Auteuil gefahren war.

 

Ali, sagte Monte Christo, ich habe von deiner Geschicklichkeit im Werfen des Lassos gehört.

 

Ali machte ein bejahendes Zeichen und richtete sich stolz auf.

 

Du könntest also mit dem Lasso einen Ochsen aufhalten?

 

Ali machte mit dem Kopfe ein bejahendes Zeichen.

 

Einen Löwen?

 

Ali machte die Gebärde eines Menschen, der den Lasso schleudert, und ahmte ein ängstliches Gebrüll nach.

 

Ich begreife, sagte der Graf, du hast den Löwen gejagt. Würdest du zwei toll gewordene Pferde in ihrem Laufe aufhalten?

 

Ali lächelte.

 

Wohl, so höre! sagte Monte Christo. Sogleich wird ein Wagen, fortgerissen von zwei Apfelschimmeln, denselben, die gestern noch mein waren, hier vorüberkommen. Dun mußt diesen Wagen vor meiner Tür anhalten, und sollten die Pferde dabei zu Grunde gehen.

 

Ali ging auf die Straße hinab und zog vor der Tür eine Linie auf dem Pflaster; dann kehrte er zurück und zeigte dem Grafen, der ihm mit den Augen gefolgt war, die Linie.

 

Der Graf schlug ihm sanft auf die Schulter … dies war seine Weise, Ali zu danken; dann ging der Nubier abermals hinab und rauchte seinen Tschibuk auf einem Randsteine, der die Ecke des Hauses und der Straße bildete, während Monte Christo sich mit anderen Dingen beschäftigte.

 

Gegen fünf Uhr hörte man ein entferntes Rollen, das sich mit großer Geschwindigkeit näherte; es erschien eine Kalesche, deren Kutscher vergebens die Pferde zurückzuhalten suchte, die wütend, mit gesträubten Mähnen, in wahnsinnigen Sprüngen fortstürzten.

 

Eine junge Frau und ein Kind von sieben Jahren, die sich im Wagen eng umschlossen hielten, waren vor übergroßem Schrecken außer stande, einen Schrei auszustoßen; ein Stein unter einem Rad oder ein Anstreifen an einem Baume hätte genügt, den krachenden Wagen zu zerschmettern. Die Schreckensrufe der Vorübergehenden begleiteten das dahinsausende Gefährt.

 

 

Plötzlich legte Ali seinen Tschibuk weg, zog den Lasso aus der Tasche, schleuderte ihn, daß er dreimal die Vorderbeine des linken Pferdes umwickelte, und ließ sich ein paar Schritte durch die Heftigkeit der Bewegung fortreißen, aber dann stürzte das gefesselte Pferd nieder und lähmte die Anstrengungen des aufrecht gebliebenen, das mit aller Gewalt seinen Lauf fortzusetzen trachtete. Der Kutscher benutzte diese Frist, um von seinem Sitze herabzuspringen; doch bereits hatte Ali das zweite Pferd mit eiserner Faust an den Nüstern gepackt, und vor Schmerz wiehernd, stand das Tier regungslos.

 

Dies alles spielte sich so schnell ab, wie die Kugel zum Ziel fliegt. Doch reichte es hin, daß ein Mann aus dem Hause, vor dem der Unfall sich ereignet hatte, mit mehreren Dienern herbeieilen konnte; in dem Augenblick, wo der Kutscher den Schlag öffnete, hob er aus dem Wagen die Dame, die sich mit einer Hand an ein Kissen anklammerte, während sie mit der andern ihren ohnmächtigen Sohn an die Brust drückte. Monte Christo trug beide in den Salon und sagte, während er sie auf einen Diwan niederlegte: Seien Sie ruhig, gnädige Frau, Sie sind gerettet.

 

Die Frau kam zu sich und deutete auf ihren Sohn mit einem Blicke, beredter als alle Bitten.

 

Ja, ich begreife, sagte der Graf, das ohnmächtige Kind aufmerksam betrachtend; doch seien Sie unbesorgt, es ist ihm kein Unglück widerfahren, die bloße Angst hat den Kleinen in diesen Zustand versetzt.

 

Oh, mein Herr, rief die Mutter, sagen Sie mir das nicht, um mich zu beruhigen? Sehen Sie, wie bleich er ist! Mein Sohn! Mein Kind! Mein Eduard! Antworte doch deiner Mutter! Ach! mein Herr, lassen Sie einen Arzt rufen! Mein Vermögen dem, der mir meinen Sohn zurückgibt!

 

Monte Christo machte mit der Hand eine Gebärde, um die in Tränen zerfließende Mutter zu beruhigen, öffnete ein Kästchen, nahm daraus ein mit Gold verziertes Riechfläschchen von böhmischem Kristall, das einen blutroten Saft enthielt, und ließ einen einzigen Tropfen auf die Lippen des Kindes fallen.

 

Obgleich immer noch bleich, schlug das Kind sogleich die Augen auf. Bei diesem Anblick ward die Mutter beinahe wahnsinnig vor Freude.

 

Wo bin ich? rief sie, und wem verdanke ich so viel Glück nach einer so grausamen Prüfung?

 

Gnädige Frau, antwortete Monte Christo, Sie sind bei einem Manne, der sich äußerst glücklich fühlt, daß er Ihnen einen Kummer ersparen konnte.

 

Oh! fluchwürdige Neugierde, versetzte die Dame; ganz Paris sprach von den schönen Pferden der Frau Danglars, und ich hatte den tollen Gedanken, mit ihnen fahren zu wollen.

 

Wie? rief der Graf mit vortrefflich gespielter Verwunderung, es sind die Pferde der Baronin?

 

Ja, mein Herr, Sie kennen sie?

 

Frau Danglars? … Ich habe die Ehre, und es gewährt mir doppelte Freude, daß ich Sie der Gefahr entrissen habe, der Sie durch diese Pferde preisgegeben waren; denn Sie hätten diese Gefahr mir zuschreiben können; ich hatte die Pferde gestern dem Baron abgekauft, die Baronin schien dies jedoch sehr zu bedauern, so daß ich sie ihr mit der Bitte, sie von meiner Hand anzunehmen, zurückschickte.

 

Sie sind also der Graf von Monte Christo, von dem Hermine gestern so viel mit mir sprach?

 

Ja, gnädige Frau.

 

Und ich, mein Herr, bin Frau Heloise von Villefort.

 

Der Graf verbeugte sich wie ein Mensch, vor dem man einen Namen zum ersten Male ausspricht.

 

Oh! wie dankbar wird Herr von Villefort sein! fuhr Heloise fort, denn Sie haben ihm seine Frau und sein Kind wiedergegeben; ohne Ihren edelmütigen Diener wäre ich sicherlich mit meinem Kinde umgekommen.

 

Ach! gnädige Frau, ich zittre noch, wenn ich an die Gefahr denke, der Sie ausgesetzt waren.

 

Oh! ich hoffe, Sie werden mir erlauben, den aufopfernden Dienst dieses Menschen würdig zu belohnen.

 

Gnädige Frau, ich bitte Sie, verderben Sie mir Ali weder durch Lobeserhebungen, noch durch Belohnungen. Ali ist mein Sklave; dadurch, daß er Ihnen das Leben gerettet hat, dient er mir, und mir zu dienen, ist seine Pflicht.

 

Aber er hat sein Leben gewagt, sagte Frau von Villefort, auf welche dieser Gebieterton einen seltsamen Eindruck machte.

 

Ich habe ihm sein Leben gerettet, entgegnete Monte Christo, folglich gehört es mir.

 

Während des folgenden kurzen Stillschweigens konnte der Graf nach Gefallen das Kind betrachten, das seine Mutter mit ihren Küssen bedeckte. Es war klein, schwächlich, hatte eine so feine weiße Haut, wie sie gewöhnlich nur rothaarige Kinder besitzen, und dennoch bedeckte ein Wald von schwarzen, starren Haaren seine gewölbte Stirn und ließ, an beiden Seiten des Gesichtes auf die Schultern herabfallend, die Lebhaftigkeit seiner einen hohen Grad von Verschlagenheit und Bosheit verratenden Augen noch mehr hervortreten. Sein nun wieder roter Mund war von seinen Lippen umrandet, aber die Mundspalte zu weit; im ganzen deuteten die Züge des kaum achtjährigen Kindes auf mehr als zwölf Jahre. Es war sein erstes, daß er sich mit ungestümer Bewegung aus den Armen seiner Mutter losmachte und das Kästchen öffnete, woraus der Graf das Elixierfläschchen genommen hatte. Dann wollte er, ohne um Erlaubnis zu fragen, die Pfropfen aus den Phiolen ziehen.

 

Berühren Sie das nicht, sagte der Graf, einige von den Flüssigkeiten sind gefährlich, nicht nur, wenn man sie trinkt, sondern schon, wenn man ihren Geruch einatmet.

 

Frau von Villefort erbleichte, hielt den Arm ihres Sohnes zurück und zog ihn an sich. Sobald ihre Furcht beschwichtigt war, warf sie auf das Kästchen einen kurzen, aber ausdrucksvollen Blick, der dem Grafen nicht entging.

 

In dieser Sekunde trat Ali ein.

 

Frau von Villefort machte eine Bewegung der Freude und sagte, ihren Sohn noch näher an sich ziehend: Eduard, siehst du diesen guten Diener? Er hat sich sehr mutig benommen, denn er setzte sein Leben ein, um die Pferde, die uns fortrissen, und den Wagen anzuhalten. Danke ihm, denn ohne ihn wären wir zu dieser Stunde wohl beide tot.

 

Das Kind streckte seine Lippen vor, wandte verächtlich den Kopf ab und rief: Er ist zu häßlich!

 

Der Graf lächelte, als hätte das Kind seine Hoffnung erfüllt; Frau von Villefort aber schalt ihren Sohn.

 

Siehst du, sagte der Graf arabisch zu Ali, diese Dame bittet ihren Sohn, dir zu danken, daß du ihnen das Leben gerettet hast, und das Kind erwidert, du seiest zu häßlich.

 

Ali wandte einen Augenblick seinen gescheiten Kopf nach dem Kinde und betrachtete es scheinbar ausdruckslos, aber aus dem Beben seiner Nasenlöcher ersah Monte Christo, daß der Araber im Herzen verwundet war.

 

Mein Herr, fragte Frau von Villefort, während sie aufstand, um sich zu entfernen, wohnen Sie gewöhnlich in diesem Hause?

 

Nein, gnädige Frau, es ist ein Absteigequartier, das ich mir gekauft habe; ich wohne in der Avenue des Champs-Elysées Nr. 30. Doch ich sehe, Sie haben sich wieder völlig erholt und wollen zurückkehren. Es ist Befehl gegeben, Ihre Pferde an meinen Wagen zu spannen, und Ali, der häßliche Bursche, sagte er, dem Kinde zulächelnd, wird die Ehre haben, Sie nach Hause zu fahren, während Ihr Kutscher hier bleibt, um Ihren Wagen wieder instand setzen zu lassen. Sodann bringt ihn eines von meinen Gespannen unmittelbar zu Frau Danglars zurück.

 

Aber mit denselben Pferden zu fahren, werde ich nie wagen, entgegnete Frau von Villefort.

 

Oh! Sie sollen sehen, gnädige Frau, sagte Monte Christo, unter Alis Hand werden sie sanft wie die Lämmer.

 

Ali näherte sich in der Tat den Pferden, die man nur mit Mühe auf die Beine gebracht hatte. Er hielt in der Hand einen kleinen mit aromatischem Essig getränkten Schwamm, rieb damit die mit Schaum und Schweiß bedeckten Nüstern und Schläfen, und fast in demselben Augenblick fingen die Pferde an, heftig zu schnauben, und ihr ganzer Leib zitterte ein paar Sekunden lang.

 

Dann ließ Ali mitten unter einem Volkshaufen, den der Lärm und der Anblick des zertrümmerten Wagens vor das Haus gezogen hatte, die Pferde an das Coupé des Grafen spannen, faßte die Zügel, stieg auf den Bock und war zum großen Erstaunen der Anwesenden, die den rasenden Lauf der Pferde angesehen hatten, genötigt, sich kräftig der Peitsche zu bedienen, um sie von der Stelle und zu einem matten Trabe zu bringen.

 

Kaum hatte Frau von Villefort in zwei Stunden ihr Haus im Faubourg Saint-Honoré erreicht, so schrieb sie folgendes Billett an Frau Danglars:

 

Liebe Hermine!

 

Ich bin auf wunderbare Weise mit meinem Sohne durch denselben Grafen von Monte Christo gerettet worden, von dem wir uns gestern abend unterhielten und den ich heute durchaus nicht zu sehen erwartet hatte. Sie sprachen gestern von ihm mit einer Begeisterung, die mit aller Macht meinen kleinen Witz zum Spotte reizte. Heute aber finde ich, daß diese Begeisterung noch weit unter dem Werte des Mannes bleibt, der sie eingeflößt hat. Ihre Pferde waren wie wütend geworden und rissen den Wagen mit so unwiderstehlicher Gewalt fort, daß mein armer Eduard und ich ohne Zweifel am ersten Baume der Landstraße oder am ersten Randsteine des Dorfes die Hirnschale zerschmettert hätten, als ein Nubier, im Dienste des Grafen, ich glaube auf ein Zeichen des letzteren, die Pferde im Laufe aufhielt, auf die Gefahr, selbst in Stücke zerrissen zu werden, – und es ist ein Wunder, daß dies nicht der Fall war. Da eilte der Graf herbei, trug Eduard und mich in seine Wohnung und rief hier meinen Sohn wieder ins Leben. Ich wurde in seinem Wagen nach Hause geführt, den Ihrigen wird man Ihnen morgen zuschicken. Sie werden Ihre Pferde seit diesem Vorfalle sehr geschwächt finden: sie sind wie betäubt, es ist, als könnten sie sich selbst nicht vergeben, daß sie sich von einem Menschen haben bändigen lassen. Der Graf beauftragt mich, Ihnen zu sagen, zwei Tage Ruhe auf der Streu und als einziges Futter Gerste werden sie wieder so kräftig, das heißt, wieder so furchtbar machen, wie sie gestern gewesen sind.

 

Adieu! ich danke Ihnen nicht für meine Spazierfahrt, Und wenn ich es mir überlege, ist es unbillig, daß ich Ihnen wegen des Mißgeschicks mit Ihrem Gespann grolle, denn diesem Umstand verdanke ich es, daß ich den Grafen von Monte Christo gesehen habe, und dieser scheint mir, abgesehen von den Millionen, über die er verfügt, ein äußerst seltsames, ein interessantes Problem, das ich um jeden Preis studieren will, selbst um den Preis einer neuen Spazierfahrt mit Ihren Pferden.

 

Eduard hat den Unfall mit einem wunderbaren Mute ausgehalten. Er ist ohnmächtig geworden, hat jedoch zuvor keinen Schrei ausgestoßen und nachher keine Träne vergossen. Sie werden mir abermals sagen, meine Mutterliebe verblende mich; aber in diesem kleinen, so schwächlichen, so zarten Körper wohnt eine eiserne Seele.

 

Unsere kleine Valentine läßt Ihrer Eugenie viel Schönes sagen; und ich umarme Sie von ganzem Herzen.

 

Heloise von Villefort.

 

N. S. Machen Sie doch, daß ich auf irgend eine Art mit dem Grafen von Monte Christo bei Ihnen zusammentreffe; ich will ihn durchaus wiedersehen. Übrigens hat mir Herr von Villefort versprochen, dem Grafen einen Besuch zu machen, und ich hoffe, er wird den Besuch erwidern.

 

Noch an demselben Abend bildete das Ereignis von Auteuil den Hauptgegenstand der Unterhaltung; Albert erzählte es seiner Mutter, Chateau-Renaud im Jockey-Klub, Debray im Salon des Ministers, Beauchamp sagte dem Grafen sogar in seinem Journal Artigkeiten in einem Artikel von zwanzig Zeilen, der den edlen Fremden zum Helden aller Damen der hohen Aristokratie erhob.

 

Viele Leute ließen sich bei Frau von Villefort einschreiben, um das Recht zu haben, ihren Besuch zu geeigneter Zeit zu wiederholen und dann aus ihrem Munde alle Einzelheiten des Abenteuers zu vernehmen. Herr von Villefort aber zog, wie Heloise gesagt hatte, einen schwarzen Frack und gelbe Handschuhe an und fuhr noch an demselben Abend vor der Tür des Hauses Nr. 30 in den Champs-Elysées vor.

 

Staatsanwalt und Kosmopolit.

 

Staatsanwalt und Kosmopolit.

 

Hätte der Graf von Monte Christo seit langer Zeit in der Pariser Welt gelebt, so würde er den Schritt des Herrn von Villefort seinem ganzen Werte nach zu schätzen gewußt haben.

 

Wohlgelitten bei Hofe, überall wegen seiner Gewandtheit gerühmt, von vielen gehaßt, aber von einigen warm beschützt, ohne jedoch von irgend jemand wirklich geliebt zu werden, nahm Herr von Villefort eine hohe Stellung in der Beamtenhierarchie ein. Kalte Höflichkeit und bedingungslose Unterwürfigkeit unter die Grundsätze der Regierung, dabei erbitterter Haß gegen die Idealisten, das waren die bezeichnendsten Eigenschaften dieser Säule des Staates.

 

Seine Beziehungen zu dem alten Hofe, von dem er stets mit Würde und Ehrfurcht sprach, machten ihn bei dem neuen geachtet, und er wußte so viele Dinge, daß man ihn nicht nur beständig schonte, sondern auch bisweilen zu Rate zog. Vielleicht wäre dem nicht so gewesen, wenn man sich seiner hätte entledigen können, aber Herr von Villefort hauste, wie ehemals rebellische Lehnsträger, in einer unüberwindlichen Feste. Diese Feste war sein Amt als Staatsanwalt, dessen Vorteile er vortrefflich auszubeuten wußte.

 

Selten machte oder erwiderte er Besuche; seine Frau besorgte dies für ihn, und die Gesellschaft nahm es geduldig hin, indem sie ernsten und zahlreichen Geschäften zuschrieb, was in Wirklichkeit nur eine Berechnung des Stolzes war.

 

Für seine Freunde war Herr von Villefort ein mächtiger Beschützer, für seine Feinde ein stummer, aber erbitterter Gegner, für die Gleichgültigen verkörperte er das starre Gesetz. Seine Physiognomie zeigte Gleichgültigkeit, sein Auge war matt und glanzlos oder unverschämt durchdringend und forschend. Herr von Villefort stand im Rufe des am wenigsten neugierigen Mannes in Paris. Seine Ungezwungenheit wurde von allen Seiten gerühmt; er gab jedes Jahr einen Ball und erschien dabei nur eine Viertelstunde, das heißt drei Viertelstunden kürzere Zeit als der König bei dem seinigen. Niemals sah man ihn im Theater oder Konzert, oder sonst an einem öffentlichen Orte.

 

So war der Mann beschaffen, dessen Wagen vor der Tür des Grafen von Monte Christo hielt.

 

Der Kammerdiener meldete Herrn von Villefort in dem Augenblick, wo der Graf, über einen großen Tisch gebeugt, auf einer Landkarte den Weg von St. Petersburg nach China verfolgte.

 

Der Staatsanwalt trat mit demselben ernsten, abgemessenen Schritte ein, mit dem er im Tribunal erschien; es war derselbe Mensch oder vielmehr die Fortsetzung desselben Menschen, den wir einst als Staatsanwaltsgehilfen in Marseille gesehen haben. Seine tiefliegenden Augen waren hohl, und seine Brille mit der goldenen Fassung schien einen Teil seines Gesichtes zu bilden; mit Ausnahme seiner weißen Halsbinde war sein ganzer Anzug schwarz, und diese Trauerfarbe wurde nur durch den Streifen eines roten Bandes unterbrochen, der durch sein Knopfloch ging.

 

So sehr Monte Christo seiner Herr war, so prüfte er doch mit sichtbarer Neugierde den Beamten, der, aus Gewohnheit mißtrauisch, mehr geneigt war, in dem edlen Fremden – so nannte man bereits Monte Christo – einen zur Ausbeutung eines neuen Schauplatzes nach Paris gekommenen Industrieritter oder einen verkappten Missetäter, als sonst etwas zu erblicken.

 

Mein Herr, sagte Villefort mit schnarrendem Beamtentone, der ausgezeichnete Dienst, den Sie gestern meiner Frau und meinem Sohne geleistet haben, macht es nur zur Pflicht, Ihnen zu danken. Ich komme daher, um mich dieser Pflicht zu entledigen und Ihnen meine ganze Erkenntlichkeit auszudrücken.

 

Während der Staatsbeamte sprach, verlor sein strenges Auge nichts von seiner gewöhnlichen Anmaßung. Er brachte seine Worte scharf und deutlich mit unsympathischer Stimme hervor.

 

Mein Herr, erwiderte der Graf ebenfalls mit eisiger Kälte, ich fühle mich sehr glücklich, daß ich imstande gewesen bin, einen Sohn seiner Mutter zu erhalten, denn das mütterliche Gefühl ist das mächtigste und heiligste von allen. Das Glück, das mir dabei zuteil ward, überhebt Sie der Verbindlichkeit, einer Pflicht nachzukommen, deren Erfüllung mich allerdings ehrt, denn ich weiß, daß Herr von Villefort nicht verschwenderisch mit einer solchen Gunst ist, die aber trotzdem für mich nicht den Wert der inneren Befriedigung hat.

 

Erstaunt über diesen Ausfall, auf den er durchaus nicht gefaßt war, bebte Villefort, und ein verächtliches Zucken seiner Lippen deutete an, daß er den Grafen von Monte Christo nicht für einen sehr artigen Edelmann halte.

 

Er schaute umher, um an irgend einen Gegenstand das abgebrochene Gespräch anzuknüpfen, und sah die Karte, die Monte Christo im Augenblick seines Eintrittes betrachtet hatte. Sie beschäftigen sich mit Geographie, sagte er. Das ist ein lohnendes Studium, für Sie besonders, der Sie, wie ich höre, so viele Länder gesehen haben, als sich im Atlas verzeichnet finden.

 

Ja, antwortete der Graf, ich wollte mit dem Menschengeschlechte im allgemeinen das vornehmen, was Sie täglich an Ausnahmen treiben, nämlich ein psychologisches Studium. Ich dachte, es würde mir dann leichter sein, vom Ganzen aus das Einzelne zu beurteilen. Ein algebraischer Grundsatz verlangt, daß man vom Bekannten zum Unbekannten, und nicht vom Unbekannten zum Bekannten fortschreite … Aber setzen Sie sich doch, Herr Staatsanwalt, ich bitte Sie.

 

Monte Christo bezeichnete dem Staatsanwalt einen Polsterstuhl, den vorzurücken der Gast sich selbst die Mühe nehmen mußte. Der Graf war halb seinem Besuche zugewendet; mit dem Rücken lehnte er sich ans Fenster und mit dem Ellbogen auf die geographische Karte.

 

Ah! Sie philosophieren, versetzte Villefort nach einem kurzen Stillschweigen, währenddessen er, wie ein Athlet, der einen mächtigen Gegner trifft, Vorrat an Kräften gesammelt hatte. Nun, mein Herr, bei meinem Ehrenworte, wenn ich wie Sie, nichts zu tun hätte, so würde ich mir wenigstens eine minder öde Beschäftigung suchen.

 

Es ist wahr, erwiderte Monte Christo, der Mensch ist eine häßliche Raupe für den, der ihn unter dem Mikroskop betrachtet. Doch Sie sagten, ich hätte nichts zu tun; … denken Sie etwa, Sie hätten etwas zu tun? Oder, um deutlicher zu sprechen, wähnen Sie, was Sie tun, sei der Mühe wert, davon zu reden?

 

Herrn von Villeforts Erstaunen verdoppelte sich bei diesem zweiten scharfen Schlage des seltsamen Gegners; seit langer Zeit hatte er kein so starkes Wort anhören müssen. Er erwiderte sofort:

 

Mein Herr, Sie sind ein Fremder und haben nach Ihrer eigenen Äußerung einen Teil Ihres Lebens im Orient zugebracht, Sie wissen also nicht, welchen vorsichtigen, abgemessenen Gang bei uns die in barbarischen Ländern so rasche und blutige Justiz hat.

 

Doch, mein Herr, doch; sie geht mit hinkendem Fuße. Ich weiß das alles, denn ich habe mich hauptsächlich mit der Justiz aller Länder beschäftigt, ich habe das kriminelle Verfahren aller Nationen mit der natürlichen Justiz verglichen und hierbei gefunden, daß das Gesetz der Urvölker, das Gesetz der Wiedervergeltung, das ist, das dem Willen Gottes am meisten entspricht. Würde dieses Gesetz eingeführt, mein Herr, entgegnete der Staatsanwalt, so müßte es unsere Gesetzbücher ungemein vereinfachen, und die Beamten hätten sodann, wie Sie soeben sagten, allerdings nicht mehr viel zu tun. Mittlerweile gelten unsere Gesetzbücher mit ihren den gallischen Sitten, den römischen Gesetzen, den fränkischen Gebräuchen entnommenen Bestimmungen; aber die Kenntnis aller dieser Gesetze erwirbt man sich, wie Sie zugestehen werden, nicht ohne lange Arbeiten, und es bedarf zur Erringung dieser Kenntnis ausgedehnter Studien, und ist sie einmal errungen, großer Geisteskraft, sie festzuhalten.

 

Ich bin auch dieser Meinung; doch alles, was Sie in Beziehung auf das französische Gesetzbuch wissen, weiß ich nicht nur hinsichtlich des letzteren, sondern auch hinsichtlich der Gesetzbücher aller Nationen. Die englischen, die türkischen, die japanischen, die hindostanischen Gesetze sind mir ebenso genau bekannt, wie die französischen.

 

In welcher Absicht haben Sie dies alles gelernt? fragte Villefort erstaunt.

 

Monte Christo lächelte und sagte: Mein Herr, ich sehe, daß Sie, obgleich Sie im Rufe eines großen Mannes stehen, alles aus dem materiellen, gewöhnlichen Gesichtspunkte der Gesellschaft betrachten, das heißt, aus dem beschränktesten Gesichtspunkte, den der menschliche Geist einnehmen kann.

 

Wollen Sie sich näher erklären, mein Herr, sagte Villefort, immer mehr erstaunt; ich verstehe Sie nicht ganz.

 

Ich sage, daß Sie, die Augen auf die gesellschaftliche Organisation der Nationen heftend, nur die Federn der Maschine sehen und nicht den erhabenen Werkmeister, der sie in Tätigkeit setzt; ich sage, daß Sie um sich her nur die Titelträger sehen, deren Patente von den Ministern oder vom König unterzeichnet sind, und daß die Menschen, die Gott über die Titelträger, die Minister und die Könige stellte, indem er ihnen eine besondere Sendung gab, Ihrer Kurzsichtigkeit entgehen. Tobias hielt auch den Engel, der ihm das Gesicht zurückgegeben hatte, für einen gewöhnlichen Menschen. Die Nationen hielten Attila, der sie vernichten sollte, für einen Eroberer, wie alle Eroberer, und beide mußten ihre göttlichen Sendungen offenbaren, damit man sie erkannte; der eine mußte sagen: Ich bin der Engel des Herrn, und der andere: Ich bin der Hammer Gottes, ehe ihr wahres Wesen erkannt wurde.

 

Also, sagte Villefort, der, immer mehr erstaunt, mit einem Erleuchteten oder mit einem Narren zu sprechen glaubte, also betrachten Sie sich als eines von den außerordentlichen Wesen, von denen Sie soeben sprachen?

 

Warum nicht? entgegnete kalt Monte Christo.

 

Entschuldigen Sie, versetzte Villefort fast bestürzt, wenn ich nicht wußte, daß ich zu einem Manne kam, dessen Kenntnisse und geistige Fähigkeiten so weit das Gewöhnliche überragen. Bei uns, den unglücklichen verderbten Erzeugnissen der Zivilisation, ist es nicht gebräuchlich, daß Edelleute, wie Sie, die im Besitze eines unermeßlichen Vermögens sind oder wenigstens scheinen, ihre Zeit mit gesellschaftlichen Spekulationen, mit philosophischen Träumen verlieren, die höchstens geeignet sind, die Menschen zu trösten, die das Schicksal von den Gütern der Erde enterbt hat!

 

Ei! ei! versetzte der Graf, sind Sie denn zu Ihrer hohen Stellung gelangt, ohne Ausnahmen zuzulassen oder angetroffen zu haben? Üben Sie nie Ihren Blick, der doch der Schärfe und Sicherheit so sehr bedürfte, um mit einem Schlage den zu erkennen, auf den eben dieser Blick gefallen ist? Sollte nicht ein öffentlicher Beamter, der beste Anwender des Gesetzes, der schlaueste Ausleger seiner Dunkelheiten, eine stählerne Sonde zur Prüfung der Herzen sein, ein Probierstein zur Untersuchung des Goldes, das sich in jeder Seele mit mehr oder weniger Legierung findet?

 

Mein Herr, Sie setzen mich ganz in Verwirrung; bei meinem Worte, ich habe nie jemand sprechen hören, wie Sie.

 

Dies ist der Fall, weil Sie stets in den Kreis der gewöhnlichen Bedingungen gebannt geblieben sind und es nie wagten, sich mit einem Flügelschlage in die höheren Sphären zu erheben, die Gott mit unsichtbaren und ausnahmsweisen Wesen bevölkert hat.

 

Ah! rief Villefort lächelnd, ich gestehe, ich möchte es gern wissen, wenn ein solches Wesen mit mir in Berührung kommt.

 

Ihr Wunsch ist erfüllt; Sie haben soeben davon Kenntnis erhalten, und ich wiederhole es.

 

Also Sie selbst? …

 

Ich bin eines von diesen Ausnahmewesen … ja, mein Herr, und ich glaube, daß sich bis auf den heutigen Tag noch kein Mensch in einer Stellung befunden hat, die der meinigen ähnlich gewesen wäre. Die Reiche der Könige sind begrenzt, entweder durch Gebirge, oder durch Flüsse, durch die Schranken der Sitte oder Sprache. Mein Reich ist groß wie die Welt, denn ich bin weder Italiener, noch Franzose, noch Hindu, noch Amerikaner, noch Spanier: ich bin Kosmopolit. Kein Land kann sagen, ich gehöre ihm durch die Geburt an. Gott allein weiß, in welchem Lande ich sterben werde. Ich befolge alle Gebräuche, rede alle Sprachen. Nicht wahr, Sie halten mich für einen Franzosen? Denn ich spreche Französisch mit derselben Leichtigkeit und derselben Reinheit, wie Sie. Wohl! Ali, mein Nubier, hält mich für einen Araber; Bertuccio, mein Intendant, für einen Römer und Haydee, meine Sklavin, für einen Griechen. Sie sehen also, da ich keinem Lande angehöre, von keiner Regierung Schutz verlange, keinen Menschen als meinen Bruder anerkenne, so vermag auch keine von den Bedenklichkeiten, welche die Mächtigen zurückhalten, oder keines von den Hindernissen, welche die Schwachen lähmen, mich zu lähmen oder zurückzuhalten. Ich habe nur drei Gegner, ich sage nicht Besieger, denn durch Beharrlichkeit unterwerfe ich sie: zwei sind die Entfernung und die Zeit. Der dritte und furchtbarste ist mein Zustand als sterblicher Mensch. Dieser allein kann mich auf dem Wege, auf dem ich fortschreite, und ehe ich das Ziel erreicht habe, nach dem ich strebe, aufhalten; alles übrige habe ich berechnet. Alles, was die Menschen die Wechselfälle des Schicksals nennen, habe ich vorhergesehen, und vermag mich auch einer zu treffen, so kann er mich doch nicht niederwerfen. Sterbe ich nicht, so werde ich immer das sein, was ich bin; deshalb sage ich Ihnen Dinge, die Sie nie gehört haben, selbst nicht einmal aus dem Munde der Könige, denn die Könige bedürfen Ihrer, und die andern Menschen haben Furcht vor Ihnen. Wer sagt sich nicht in einer Gesellschaft, die so lächerlich organisiert ist, wie die unsere: Vielleicht werde ich eines Tages mit dem Staatsanwalt zu tun haben!

 

Aber können Sie dies nicht selbst sagen? Denn sobald Sie in Frankreich wohnen, sind Sie natürlich den französischen Gesetzen unterworfen.

 

Ich weiß es wohl, erwiderte Monte Christo, doch wenn ich in ein Land gehen muß, fange ich damit an, daß ich durch Mittel, die nur ich besitze, alle Menschen prüfe, von denen ich etwas zu fürchten oder zu hoffen habe, und es gelingt mir, sie ebensogut oder vielleicht noch besser zu kennen, als sie sich selbst kennen. Infolgedessen ist jeder Staatsanwalt mehr in Verlegenheit als ich.

 

Damit wollen Sie sagen, versetzte Villefort zögernd, daß bei der Schwäche der menschlichen Natur jeder Mensch, Ihrer Ansicht nach, … Fehler begangen hat?

 

Fehler oder Verbrechen, sagte Monte Christo gleichgültig.

 

Und daß Sie allein unter den Menschen, die Sie, wie Sie selbst sagten, nicht als Ihre Brüder anerkennen, versetzte Villefort mit leicht bebender Stimme, … und daß Sie allein vollkommen sind?

 

Nein, nicht vollkommen, sondern nur undurchdringlich. Doch genug davon, mein Herr, wenn Ihnen das Gespräch mißfällt. Ich bin dann ebensowenig durch Ihre Justiz bedroht, wie Sie durch mein doppeltes Gesicht.

 

Nein! nein! mein Herr, entgegnete rasch Herr von Villefort, der ohne Zweifel befürchtete, es könnte scheinen, als wollte er das Terrain aufgeben. Durch Ihr glänzendes und erleuchtendes Gespräch haben Sie mich über den gewöhnlichen Standpunkt erhoben; wir unterhalten uns nicht mehr, wir philosophieren. Sie wissen ja, welche grausamen Wahrheiten sich oft die Theologen in der Sorbonne oder die Philosophen bei ihren Disputationen sagen; nehmen wir an, wir disputieren über soziale Theologie oder theologische Philosophie, so bemerke ich Ihnen ganz einfach: Mein Bruder, du frönst dem Stolze, du stehst über andern, aber Gott steht über dir.

 

Über allen, erwiderte Monte Christo mit so tiefer Bewegung, daß Villefort unwillkürlich schauderte. Ich habe meinen Stolz für die Menschen, für diese Schlangen, die stets bereit sind, sich gegen den zu erheben, der sie mit der Stirn überragt, ohne sie mit dem Fuße zu zertreten. Doch vor Gott, der mich aus dem Nichts hervorgezogen hat, um mich zu dem zu machen, was ich bin, lege ich diesen Stolz ab.

 

Dann bewundere ich Sie, Herr Graf, sagte Villefort, der sich zum ersten Mal bei dieser seltsamen Unterredung dieser aristokratischen Anrede dem Fremden gegenüber bediente. Ja, ich sage Ihnen, wenn Sie wirklich stark, wirklich erhaben, wirklich heilig oder undurchdringlich sind, so seien Sie stolz darauf … aber Sie haben doch irgend einen Ehrgeiz?

 

Ich hatte einen. Auch ich bin, wie dies allen Menschen einmal im Leben begegnet, vom Satan auf den höchsten Berg der Erde geführt worden; hier zeigte er mir die ganze Welt und sagte zu mir, wie er einst zu Christus gesagt hatte: Sprich, Menschenkind, was willst du, wenn du mich anbetest? Ich sann lange nach, denn seit geraumer Zeit zehrte wirklich ein furchtbarer Ehrgeiz an meinem Herzen; dann antwortete ich ihm: Ich habe stets von der Vorsehung sprechen hören, und dennoch habe ich sie nie erschaut, noch irgend etwas, was ihr gleicht, und das bringt mich auf den Glauben, sie bestehe gar nicht. Ich will selbst die Vorsehung sein, denn das Schönste, das Größte, das Erhabenste, was ich kenne, ist zu belohnen und zu bestrafen. Aber Satan neigte das Haupt, stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Du irrst dich, die Vorsehung besteht; nur siehst du sie nicht, weil sie, eine Tochter Gottes, unsichtbar ist, wie ihr Vater. Du hast nichts gesehen, was ihr gleicht, weil sie mit verborgenen Federn wirkt und auf dunkeln, unbekannten Wegen wandelt. Alles, was ich für dich tun kann, besteht darin, daß ich dich zu einem der Werkzeuge der Vorsehung mache. Der Handel wurde abgeschlossen, ich verliere dabei vielleicht meine Seele; doch gleichviel, er reut mich nicht.

 

Villefort schaute Monte Christo mit dem höchsten Erstaunen an und fragte: Haben Sie Verwandte, Herr Graf?

 

Nein, ich bin allein auf der Welt.

 

Schade, Sie hätten ein Schauspiel sehen können, das Ihren Stolz wohl gebrochen hätte. Sie sagen, Sie fürchten nur den Tod?

 

Ich sage nicht, daß ich ihn fürchte, ich sage nur, er könne mich aufhalten.

 

Und das Alter?

 

Meine Sendung wird vollendet sein, ehe ich alt bin.

 

Und der Wahnsinn?

 

Ich bin beinahe wahnsinnig geworden, und Sie kennen den Satz non bis in eodem (nie zweimal das gleiche); es ist ein strafrechtlicher Grundsatz und gehört folglich in Ihr Reich.

 

Mein Herr, versetzte Villefort, es gibt noch etwas anderes zu fürchten als den Tod, das Alter oder den Wahnsinn; zum Beispiel den Schlagfluß, diesen Wetterstrahl, der Sie trifft, ohne Sie zu zerstören, und der doch alles wertlos macht. Wenn Sie einmal Lust haben, dieses Gespräch in meinem Hause fortzusetzen, mit einem Gegner, der fähig ist, Sie zu begreifen, und begierig, Sie zu widerlegen, so zeige ich Ihnen meinen Vater, Herrn Noirtier von Villefort, einen der heftigsten Jakobiner der französischen Revolution, einen Mann, der zwar nicht, wie Sie, alle Reiche der Erde gesehen, aber zum Umsturz eines der mächtigsten beigetragen hat. Nun, mein Herr, das Zerspringen eines Blutgefäßes in einem Gehirnlappen hat dies alles zerstört, und zwar in einer Sekunde. Herr Noirtier, der mit Revolutionen spielte, der Frankreich nur noch als ein großes Schachbrett betrachtete, von dem Bauern, Türme, Ritter und Königin verschwinden mußten, weil der König matt war; der furchtbare und gefürchtete Herr Noirtier war am andern Tage nur ein armer, schwacher Greis, dem Willen des schwächsten Wesens im ganzen Hause, seiner Enkelin Valentine, unterworfen.

 

Ah! dieses Schauspiel ist weder meinen Augen, noch meinem Geiste fremd, entgegnete Monte Christo, ich bin ein wenig Arzt und habe, wie meine Kollegen, wiederholt die Seele in der lebendigen oder in der toten Materie gesucht, und sie ist, wie die Vorsehung, obgleich meinem Herzen gegenwärtig, doch für meine Augen unsichtbar geblieben. Hundert Schriftsteller haben seit Sokrates, seit Seneca, seit dem heiligen Augustin, seit Gall den Vergleich gemacht, den Sie machen, aber dennoch begreife ich, daß die Leiden eines Vaters den Geist eines Sohnes stark beeinflussen können. Da Sie mich dazu auffordern, so werde ich zur Förderung meiner Demut dieses furchtbare Schauspiel betrachten, das Trauer in Ihr Haus bringen muß.

 

Es wäre dies ohne Zweifel der Fall, hätte mich Gott nicht reich entschädigt. Während der Greis sich mühsam zum Grabe schleppt, treten zwei blühende Kinder frisch ins Leben: Valentine, eine Tochter aus meiner ersten Ehe mit Fräulein Renée von Saint-Meran, und Eduard, der Sohn, dem Sie das Leben gerettet haben.

 

Und was schließen Sie daraus?

 

Ich schließe daraus, daß mein Vater, von Leidenschaften irregeführt, eines von jenen Versehen begangen hat, die der menschlichen Gerechtigkeit entgehen, aber von der Gerechtigkeit Gottes gesühnt werden … und daß Gott, der nur eine Person treffen wollte, auch nur eine geschlagen hat.

 

Monte Christo konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

 

Leben Sie wohl, mein Herr, sagte Villefort, der schon seit einiger Zeit aufgestanden war; indem ich Sie verlasse, trage ich ein Gefühl der Hochachtung mit mir fort, das Ihnen hoffentlich angenehm sein wird, wenn Sie mich näher kennen, denn ich bin nichts weniger als ein Mensch vom Alltagsschlage. Überdies haben Sie sich meine Frau zur ewigen Freundin gemacht.

 

Der Graf verbeugte sich und begleitete Herrn von Villefort nur bis an die Tür seines Kabinetts; der Staatsanwalt kehrte zu seinem Wagen zurück, wobei zwei Lakaien vorauseilten, die ihm auf den Wink ihres Herrn den Schlag öffneten.

 

Als Villefort verschwunden war, sagte Monte Christo, einen schweren Seufzer aus seiner gepreßten Brust ausstoßend: Genug des Giftes, und nun, da mein Herz voll davon ist, wollen wir das Gegengift suchen!

 

Und er schlug einmal auf das Glöckchen und sagte zu dem eintretenden Ali: Ich gehe zur gnädigen Frau hinauf; in einer halben Stunde muß der Wagen bereit sein.

 

Das Haus in Auteuil.

 

Das Haus in Auteuil.

 

Monte Christo war es nicht entgangen, daß Bertuccio sich bekreuzt und im Wagen ein kurzes Gebet gemurmelt hatte, denn er ließ den Intendanten, dessen Widerwille gegen die Fahrt unverkennbar war, keinen Augenblick aus den Augen.

 

In zwanzig Minuten war man in Auteuil. Die Unruhe des Intendanten hatte immer mehr zugenommen, und als sie in das Dorf hineinfuhren, betrachtete er mit fieberhafter Aufregung jedes Haus, an dem sie vorüberkamen.

 

Sie lassen in der Rue de la Fontaine Nr. 30 halten, sagte der Graf, seinen Blick unbarmherzig auf den Intendanten heftend.

 

Der Schweiß trat Bertuccio aufs Gesicht, aber er gehorchte und rief, sich aus dem Wagen neigend, dem Kutscher zu: Rue de la Fontaine, Nr. 30.

 

Diese Nummer 30 lag am Ende des Dorfes. Während der Fahrt war es Nacht geworden, der Wagen hielt an, und der Lakai stürzte an den Schlag und öffnete.

 

Nun! sagte der Graf, Sie steigen nicht aus, Herr Bertuccio, Sie bleiben im Wagen? Aber zum Teufel, was ist Ihnen denn heute?

 

Bertuccio sprang aus dem Wagen und bot seine Schulter dem Grafen zur Stütze.

 

Klopfen Sie, sagte dieser, und melden Sie mich an.

 

Bertuccio klopfte, die Tür öffnete sich, und der Hausmeister erschien.

 

Was beliebt? fragte er.

 

Ihr neuer Herr ist hier, sagte der Diener und übergab dem Hausmeister das Schreiben des Notars.

 

Das Haus ist also verkauft, und der Herr wird es bewohnen? versetzte der Hausmeister.

 

Ja, mein Freund, sagte der Graf, und ich werde dafür sorgen, daß Sie den Verlust Ihres früheren Herrn nicht zu beklagen haben.

 

Oh! Herr, ich habe nicht viel zu beklagen, denn wir sahen ihn nur äußerst selten, den Herrn Marquis von Saint-Meran.

 

Der Marquis von Saint-Meran! versetzte Monte Christo, der Name kommt mir bekannt vor … Und er schien in seinem Gedächtnis zu suchen.

 

Ein alter Edelmann, fuhr der Hausmeister fort, ein getreuer Diener der Bourbonen. Er hatte eine einzige Tochter, die an Herrn von Villefort verheiratet war, der Staatsanwalt in Nimes und später in Versailles gewesen ist.

 

Monte Christo warf einen Blick auf Bertuccio, der fahler aussah, als die Mauer, an die er sich lehnte, um nicht zu fallen.

 

Ist diese Tochter nicht gestorben? fragte Monte Christo; es ist mir, als hätte ich davon gehört.

 

Ja, vor einundzwanzig Jahren.

 

Ich danke, sagte Monte Christo, denn der Intendant kam ihm so niedergeschmettert vor, daß er jetzt nicht weiter fragte. Nehmen Sie eine Wagenlaterne, Bertuccio, und zeigen Sie mir die Zimmer!

 

Der Intendant gehorchte unverzüglich, aber aus dem Zittern der Hand, welche die Laterne hielt, war leicht zu entnehmen, was ihn dieser Gehorsam kostete. Sie durchschritten ein ziemlich geräumiges Erdgeschoß und einen ersten Stock, bestehend aus einem Salon, einem Badezimmer und zwei Schlafzimmern. Durch eines von diesen Schlafzimmern gelangte man zu einer Wendeltreppe, die nach außen zu führen schien.

 

Ah! ein Nebenausgang, sagte der Graf, das ist sehr bequem. Leuchten Sie mir, Herr Bertuccio; gehen Sie voraus, wir wollen sehen, wohin die Treppe führt!

 

Herr Graf, sie geht in den Garten. – Und woher wissen Sie das? – Das heißt, sie muß wohl dahin führen. – Gut, wir wollen uns überzeugen.

 

Bertuccio stieß einen Seufzer aus und ging voran. Die Treppe führte wirklich nach dem Garten. An der Ausgangstür blieb Bertuccio stehen.

 

Vorwärts! sagte der Graf.

 

Doch Bertuccio war wie betäubt, wie vernichtet. Seine irren Augen suchten ringsumher die Spuren einer furchtbaren Vergangenheit, und er schien mit seinen krampfhaft zusammengepreßten Händen entsetzliche Erinnerungen zurückdrängen zu wollen.

 

Nun! rief der Graf.

 

Nein, stammelte Bertuccio, die Laterne hinstellend; nein, Herr Graf, ich gehe nicht weiter, es ist unmöglich!

 

Was soll das heißen? entgegnete des Grafen gebieterische Stimme.

 

Sie sehen Wohl, Exzellenz, rief der Intendant, daß dies nicht mit natürlichen Dingen zugeht. Sie wollten ein Haus in der Gegend von Paris kaufen und kauften gerade eins in Auteuil, und das Haus, das Sie kauften, ist gerade Nummer 30 in der Rue de la Fontaine. Oh! warum habe ich Ihnen nicht schon dort alles gesagt, gnädiger Herr; Sie hätten sicherlich nicht von mir verlangt, ich solle mitfahren. Ich hoffte, das Haus des Herrn Grafen würde ein anderes sein! Als ob es nicht noch mehr Häuser in Autenil gäbe als das, wo der Mord vorgefallen ist!

 

Oh! oh! rief Monte Christo, was für ein scheußliches Wort haben Sie da ausgesprochen! Teufel von einem Menschen! Eingefleischter Korse! Stets Aberglauben oder Geheimnisse! Nehmen Sie die Laterne und lassen Sie uns den Garten besehen, in meiner Gegenwart werden Sie hoffentlich keine Angst haben?

 

Bertuccio hob die Laterne auf und gehorchte. Als die Tür sich öffnete, wurde ein blasser Himmel sichtbar, an dem der Mond vergebens gegen ein Meer ihn meist verhüllender Wolken kämpfte. Der Intendant wollte sich nach der linken Seite wenden.

 

Nein, nein, sagte der Graf, wozu den Alleen folgen? Hier ist ein schöner Rasen, gehen wir geradeaus!

 

Bertuccio wischte den Schweiß von seiner Stirn ab, gehorchte, zielte dabei aber fortwährend nach links. Monte Christo wandte sich im Gegenteil mehr rechts; an einer Baumgruppe blieb er stehen. Der Intendant vermochte es nicht länger auszuhalten und rief: Zurück, Herr! ich bitte, halten Sie sich fern, Sie sind gerade an der Stelle.

 

Lieber Bertuccio, versetzte der Graf lachend, kommen Sie doch zu sich, wir sind hier in einem, ich kann es nicht leugnen, schlecht unterhaltenen englischen Garten, weiter nichts.

 

Gnädigster Herr, ich flehe Sie an, bleiben Sie nicht dort!

 

Ich glaube, Sie werden ein Narr, Bertuccio; wenn dies der Fall ist, so sagen Sie es mir, ich lasse Sie in irgend eine Heilanstalt einsperren, ehe ein Unglück geschieht.

 

Ach, Exzellenz, sagte Bertuccio, den Kopf schüttelnd und die Hände mit einer Bewegung faltend, die den Grafen zum Lachen gebracht hätte, wenn ihn nicht im Augenblick Gedanken von höherem Interesse gefesselt und äußerst aufmerksam auf jede Äußerung dieses von der Angst gepeinigten Gewissens gemacht hätten; ach! Exzellenz, das Unglück ist geschehen.

 

Bertuccio, entgegnete der Graf, ich erlaube mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie bei Ihren heftigen Gebärden sich die Arme verdrehen und die Augen rollen, wie ein Besessener, aus dessen Leib der Teufel nicht weichen will. Ich habe aber stets wahrgenommen, daß der Teufel mit der größten Hartnäckigkeit am Platze zu bleiben trachtet, wo ein Geheimnis zu Grunde liegt. Ich wußte, daß Sie ein Korse sind, ich wußte auch, daß Sie stets düster waren und eine alte Rache im Herzen trugen, und ließ dies in Italien hingehen, weil dergleichen dort gang und gäbe ist. In Frankreich aber ist man gegen Morde allgemein sehr eingenommen; es gibt Gendarmen, die sich damit beschäftigen, Richter, die verurteilen, und rächende Schafotte.

 

 

Bertuccio faltete die Hände, während die Laterne, die er hielt, sein verstörtes Gesicht beleuchtete. Monte Christo schaute ihn eine Minute lang mit demselben Blick an, mit dem er in Rom Andreas Hinrichtung angeschaut hatte, und sprach dann mit einem Tone, bei dem ein neuer Schauer den Leib des armen Intendanten durchlief: Der Abbé Busoni hat also gelogen, als er mir Sie nach seiner Reise durch Frankreich im Jahre 1829 mit einem Empfehlungsbriefe zuschickte, worin er Ihre kostbaren Eigenschaften hervorhob. Gut, ich werde dem Abbéschreiben, ich werde ihn für seinen Schützling verantwortlich machen und ohne Zweifel erfahren, wie es sich mit dieser Mordgeschichte verhält. Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, Bertuccio, daß ich mich immer, wo ich meinen Aufenthalt nehme, nach den Gesetzen des Landes zu richten pflege und keine Lust habe, mich Ihnen zu Liebe mit der französischen Justiz zu entzweien.

 

Oh! tun Sie das nicht, Exzellenz; nicht wahr, ich habe treu gedient? rief Bertuccio in Verzweiflung, ich bin immer ein ehrlicher Mann gewesen, und habe sogar, soviel ich vermochte, gute Handlungen verrichtet.

 

Ich leugne das nicht, doch warum zum Teufel gebärden Sie sich so? Das ist ein schlimmes Zeichen; ein reines Gewissen bringt nicht solche Blässe auf die Wangen, solches Fieber in die Hände …

 

Aber, Herr Graf, versetzte Bertuccio zögernd, sagten Sie mir nicht selbst, es sei Ihnen vom Abbé Busoni, der mich im Gefängnis zu Nimes beichten hörte, mitgeteilt worden, ich hätte mir einen schweren Vorwurf zu machen?

 

Ja, doch da er Sie mit der Bemerkung, Sie würden ein vortrefflicher Intendant werden, zu mir sandte, so glaubte ich, Sie hätten gestohlen.

 

Oh! Herr Graf, rief Bertuccio mit Verachtung.

 

Oder als Korse hätten Sie der Begierde nicht widerstehn können, eine Haut zu machen, wie man in Ihrem Lande sonderbarerweise sagt, während man doch eine Haut vernichtet.

 

Nun ja, guter gnädiger Herr, ja, Exzellenz, so ist es, rief Bertuccio, sich dem Grafen zu Füßen werfend, ja, es ist eine Rache, das schwöre ich, nichts als eine Rache.

 

Ich begreife das, begreife aber nicht, warum Sie gerade dieses Haus in solche heftige Aufregung versetzt?

 

Ist das nicht natürlich, gnädigster Herr, da in diesem Hause die Rache vollführt wurde?

 

Wie, in meinem Hause?

 

Oh! Exzellenz, es gehörte Ihnen noch nicht.

 

Das ist ein seltsames Zusammentreffen. Sie befinden sich durch Zufall wieder an einem Orte, wo eine Szene vorgefallen ist, die so furchtbare Gewissensbisse bei Ihnen veranlaßt …

 

Gnädiger Herr, ich bin fest überzeugt, ein unvermeidliches Verhängnis lenkt dies so. Zuerst kaufen Sie ein Haus gerade in Auteuil. Dieses Haus ist das, wo ich einen Mord begangen habe; Sie steigen in den Garten gerade auf der Treppe herab, wo er herabgestiegen ist; Sie bleiben gerade auf der Stelle stehen, wo er den Stoß erhalten hat. Zwei Schritte von hier, unter jener Platane, war das Grab, wo er das Kind verscharrt hatte. Alles dies ist kein Zufall, sonst müßte der Zufall zu sehr der Vorsehung gleichen.

 

Gut, nehmen wir an, es sei die Vorsehung – ich nehme immer alles an, was man will; überdies muß man kranken Geistern entgegenkommen. Auf, Bertuccio, fassen Sie sich und erzählen Sie mir die ganze Geschichte.

 

Ich habe sie nur ein einziges Mal erzählt, und zwar dem Abbé Busoni. Dergleichen, fügte Bertuccio hinzu, läßt sich nur unter dem Siegel der Beichte aussprechen.

 

Dann werden Sie es für angezeigt halten, wenn ich Sie zu Ihrem Beichtvater schicke, mein lieber Bertuccio! Doch mir bangt vor einem Gaste, den solche Gespenster in Schrecken versetzen; mir paßt es nicht, daß meine Leute am Abend nicht in den Garten zu gehen wagen. Auch muß ich gestehen, daß mich durchaus nicht nach dem Besuche irgend eines Polizeikommissars verlangt. Denn lassen Sie sich sagen, Herr Bertuccio, in Italien bezahlt man die Justiz nur, wenn sie schweigt, in Frankreich bezahlt man sie dagegen nur, wenn sie spricht. Teufel! ich meinte, Sie seien noch ein wenig Korse, ein gut Teil Schmuggler und ein äußerst geschickter Intendant; aber ich sehe, daß Sie noch andere Saiten auf Ihrem Bogen haben. Sie sind nicht mehr in meinem Dienst!

 

Oh! gnädigster Herr, rief der Intendant, bei dieser Drohung vom heftigsten Schrecken ergriffen, wenn es nur hiervon abhängt, ob ich in Ihrem Dienste bleibe, so werde ich reden, so werde ich alles sagen, und wenn ich Sie verlasse, nun so mag es sein, um das Schafott zu besteigen!

 

Das ist etwas anderes, sagte Monte Christo, doch wenn Sie lügen wollen, überlegen Sie es sich wohl! Es wäre dann besser, Sie sprächen gar nicht.

 

Nein, Herr Graf, ich schwöre Ihnen bei dem Heile meiner Seele, ich werde alles sagen; denn selbst der Abbé Busoni hat nur einen Teil meines Geheimnisses erfahren. Aber ich flehe Sie vor allem an, entfernen Sie sich von dieser Platane; sehen Sie, der Mond tritt eben hervor und will jene Stelle beleuchten, und dort, wo Sie stehen, in den Mantel gehüllt, der mir Ihre Gestalt verbirgt und ganz dem des Herrn von Villefort gleicht …

 

Wie! rief Monte Christo, Herrn von Villefort? …

 

Eure Exzellenz kannte ihn? – Ja, wenn es der ehemalige Staatsanwalt von Nimes ist, der den Ruf eines der ehrlichsten und gerechtesten Beamten hatte? – Jawohl, gnädiger Herr, rief Bertuccio, dieser Mann … – Nun? – War ein Schurke! –

 

Bah, unmöglich! – Es ist dennoch, wie ich Ihnen sage. – Oh! und Sie haben den Beweis dafür? – Ich hatte ihn wenigstens. – Und Sie waren so ungeschickt, ihn zu verlieren? – Ja, doch wenn man gut sucht, kann man ihn wohl wieder finden. – Wahrhaftig, erzählen Sie mir das, Bertuccio, denn es fängt wirklich an, mich zu interessieren!

 

Und eine Arie aus der Oper Lucia trällernd, setzte sich der Graf auf eine Bank, während ihm Bertuccio, seine Erinnerungen sammelnd, folgte. Bertuccio blieb vor Monte Christo stehen.

 

Die Vendetta.

 

Die Vendetta.

 

Wo soll ich anfangen, Herr Graf? fragte Bertuccio.

 

Wo Sie wollen, erwiderte Monte Christo, denn ich weiß von nichts.

 

Die Sache geht in das Jahr 1815 zurück.

 

Ah! ah! rief Monte Christo, 1815 ist lange her.

 

Ja, gnädiger Herr, aber dennoch sind die geringsten Umstände meinem Gedächtnis so gegenwärtig, als wäre nur ein Tag vergangen. Ich hatte einen älteren Bruder, der dem Kaiser diente und Leutnant in einem ganz aus Korsen bestehenden Regiment war. Dieser Bruder war mein einziger Freund; wir waren, ich mit fünf, er mit achtzehn Jahren, Waisen; er zog mich auf, als wäre ich sein Sohn. Im Jahre 1814, unter den Bourbonen, verheiratete er sich; der Kaiser kam von der Insel Elba zurück, mein Bruder nahm sogleich wieder Dienste und zog sich, bei Waterloo leicht verwundet, mit der Armee hinter die Loire zurück. Eines Tages empfingen wir einen Brief von meinem Bruder. Er teilte uns mit, die Armee sei entlassen, und er werde über Clermont-Ferrand und Nimes zurückkommen; er bat mich, wenn ich etwas Geld hätte, es ihm durch einen Wirt in Nimes, mit dem ich in Verbindung stand, zukommen zu lassen. Ich liebte, wie gesagt, meinen Bruder zärtlich und war entschlossen, ihm das Geld selbst zu bringen. Ich besaß etwa tausend Franken, ließ fünfhundert davon Assunta, meiner Schwägerin, nahm die andern fünfhundert und begab mich auf den Weg nach Nimes. Dies bot keine Schwierigkeit; ich hatte meine Barke, auch einen Seetransport zu besorgen; alles begünstigte mein Vorhaben. Als aber die Ladung fertig war, wurde der Wind konträr, so daß wir vier oder fünf Tage nicht in die Rhone einlaufen konnten. Endlich gelang es uns; wir fuhren bis Arles hinaus, ließen die Barke zwischen Bellegarde und Beaucaire und schlugen den Weg nach Nimes ein. Es war die Zeit, wo die berüchtigten Metzeleien im Süden stattfanden. Wer des Bonapartismus verdächtig war, wurde von den Blutknechten des Royalismus erwürgt. In Nimes watete man buchstäblich im Blute, bei jedem Schritt stieß man auf Leichen; zu förmlichen Banden organisierte Mörder töteten, plünderten, sengten und brannten. Bei dem Anblicke dieser Schlächterei erfaßte mich ein Schauder, nicht für mich, den einfachen, korsischen Fischer, – denn ich hatte nicht viel zu befürchten, im Gegenteil, das war für uns Schmuggler eine gute Zeit, – sondern für meinen Bruder, der von der Loire-Armee mit seiner Uniform und seinen Epauletten zurückkam und folglich alles zu befürchten hatte. Ich lief zu unserm Wirte, meine Ahnungen hatten mich nicht getäuscht; mein Bruder war am Abend zuvor in Nimes angekommen und vor der Tür des Mannes, von dem er Gastfreundschaft forderte, ermordet worden. Ich tat alles in der Welt, um die Mörder in Erfahrung zu bringen, aber niemand wagte es, mir ihre Namen zu sagen, so sehr waren sie gefürchtet. Ich dachte nun an die französische Justiz, von der man mir so viel gesprochen hatte, und begab mich zum ersten Staatsanwalt.

 

Und dieser Staatsanwalt hieß Villefort? fragte Monte Christo scheinbar gleichgültig.

 

Ja, Exzellenz; er kam von Marseille, wo er Staatsanwaltsgehilfe gewesen war. Sein Eifer hatte seine Beförderung zur Folge gehabt. Er hatte, heißt es, als einer der ersten der Regierung die Landung von der Insel Elba angezeigt. Mein Herr, sagte ich zu ihm, mein Bruder ist in den Straßen von Nimes ermordet worden, ich weiß nicht von wem, aber das ist Ihre Sache. Sie sind hier der Chef der Justiz, und der Justiz kommt es zu, die zu rächen, die sich nicht zu verteidigen vermochten. – Was war Ihr Bruder? fragte der Staatsanwalt. – Leutnant im korsischen Bataillon. – Ein Soldat des Usurpators also? – Ein Soldat der französischen Armee. – Wohl! erwiderte er, er hat sich des Schwertes bedient und ist durch das Schwert umgekommen. – Sie täuschen sich, mein Herr, er ist durch den Dolch umgekommen. – Was soll ich dabei tun? – Ich habe es Ihnen bereits gesagt, Sie sollen ihn an seinen Mördern rächen. – Warum? Ihr Bruder wird Streit gehabt und sich duelliert haben. Diese alten Soldaten erlauben sich Übergriffe, die ihnen unter der Herrschaft des Kaisers durchgingen, jetzt aber nicht mehr, denn hier im Süden liebt man weder die Soldaten, noch die Übergriffe.

 

Mein Herr, entgegnete ich, ich bitte Sie nicht für mich. Ich werde mich rächen, aber mein Bruder hatte eine Frau; die Arme würde Hungers sterben, denn sie lebte allein von der Arbeit meines Bruders. Erlangen Sie eine kleine Pension für sie von der Regierung!

 

Jede Revolution hat ihre Katastrophen, antwortete Herr von Villefort. Ihr Bruder ist ein Opfer der neuesten gewesen, das mögen Sie als ein Unglück betrachten, aber die Regierung ist Ihrer Familie deshalb nichts schuldig. Wenn wir zu Gericht zu sitzen hätten über alle Rachetaten, welche die Parteigänger des Usurpators gegen die Parteigänger des Königs verübten, als noch die Macht in ihren Händen lag, so wäre Ihr Bruder heute vielleicht zum Tode verurteilt. Was hier vorgeht, kann nur als etwas Natürliches erscheinen, denn es ist die Folge des Gesetzes der Vergeltung.

 

Herr, rief ich, ist es möglich, daß Sie so sprechen, Sie, als Staatsbeamter?

 

Bei meinem Ehrenwort, alle Korsen sind Narren, erwiderte Herr von Villefort, Sie glauben, Ihr Landsmann sei noch Kaisers, Sie irren sich in der Zeit, mein Lieber, Sie hätten mir das vor zwei Monaten sagen müssen. Gehen Sie, oder ich lasse Sie abführen!

 

Ich schaute ihn einen Augenblick an, um zu sehen, ob weiteres Bitten Erfolg verspräche. Aber der Mann war von Stein. Ich näherte mich ihm und sagte mit halber Stimme: Wohl! da Sie die Korsen so gut kennen, so müssen Sie wissen, wie sie ihr Wort halten. Sie meinen, man habe wohl daran getan, meinen Bruder umzubringen, der ein Bonapartist war, während Sie Royalist sind. Ich bin ebenfalls Bonapartist und sage Ihnen nur eins: Ich werde Sie töten. Von diesem Augenblicke an erkläre ich Ihnen Vendetta! Seien Sie also auf Ihrer Hut, denn sobald wir uns wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, hat Ihre letzte Stunde geschlagen. Darauf öffnete ich, ehe er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, die Tür und entfloh.

 

Ah! ah! sagte Monte Christo, mit Ihrem ehrlichen Gesichte bringen Sie dergleichen fertig und noch dazu gegen einen Staatsanwalt! Pfui doch! Und wußte er denn, was das Wort Vendetta besagen wollte?

 

Er wußte es so gut, daß er von diesem Augenblick an nicht mehr allein ausging, sich zu Hause verschanzte und mich überall suchen ließ. Zum Glück war ich so gut verborgen, daß er mich nicht finden konnte. Da faßte ihn die Angst, er fürchtete sich, länger in Nimes zu bleiben; er bat um Versetzung, und da er wirklich ein einflußreicher Mann war, so berief man ihn nach Versailles. Aber Sie wissen, daß es für einen Korsen, der seinem Feinde Rache geschworen hat, keine Entfernung gibt, und sein Wagen, so gut er gefahren wurde, hatte nie über einen halben Tag Vorsprung vor mir, während ich ihm doch zu Fuße folgte.

 

Das Schwierige dabei war nicht, ihn zu töten, denn hundertmal fand ich hierzu Gelegenheit, aber ich mußte ihn töten, ohne entdeckt und besonders ohne verhaftet zu werden. Denn ich gehörte nicht mehr mir; ich hatte meine Schwägerin zu beschützen und zu ernähren. Drei Monate lang belauerte ich Herrn von Villefort; drei Monate lang machte er keinen Schritt, keinen Spaziergang, ohne daß ihm mein Blick folgte. Endlich entdeckte ich, daß er insgeheim nach Auteuil kam; ich folgte ihm und sah ihn in das Haus gehen, in dem wir uns befinden; nur kam er, statt durch die Haustür vorn einzutreten, entweder zu Pferde oder zu Wagen, ließ Pferd oder Wagen im Wirtshaus und schlich sich durch die kleine Tür herein, die Sie dort sehen.

 

Ich hatte nichts mehr in Versailles zu tun, blieb in Autenil und zog Erkundigungen ein. Wollte ich ihn fangen, so mußte ich offenbar hier meine Falle stellen. Das Haus gehörte Villeforts Schwiegervater, Herrn von Saint-Meran. Dieser wohnte aber in Marseille, folglich war ihm dieses Landhaus unnütz; es hieß auch, er habe es an eine junge Witwe vermietet, die nur unter dem Namen die Baronin bekannt war. Während ich eines Abends über die Mauer schaute, sah ich wirklich eine hübsche junge Frau allein im Garten gehen. Sie blickte häufig nach der kleinen Tür, und ich sagte mir, daß sie Herrn von Villefort am Abend erwarte. Als sie so nahe zu der Mauer kam, daß ich trotz der Dunkelheit ihre Züge zu unterscheiden vermochte, erkannte ich, daß sie sehr hübsch, blond, groß und etwa neunzehn Jahre alt war; auch konnte ich bemerken, daß sie sich in andern Umständen befand, und ihre Schwangerschaft schien mir sogar ziemlich weit vorgerückt. Einige Augenblicke nachher öffnete man die kleine Tür; ein Mann trat ein, die junge Fran lief ihm so rasch als möglich entgegen, sie umarmten sich, küßten sich zärtlich und gingen ins Haus. Dieser Mann war Herr von Villefort. Ich dachte, wenn er herauskäme, besonders wenn er bei Nacht herauskäme, müßte er den Garten in seiner ganzen Länge durchschreiten.

 

Und Sie haben seitdem den Namen der Frau erfahren? fragte der Graf.

 

Nein, Exzellenz, Sie werden sehen, daß ich nicht Zeit gehabt habe, mich danach zu erkundigen. – Ich hätte den Staatsanwalt vielleicht an diesem Abend töten können; aber ich kannte den Garten noch nicht genau genug und fürchtete, wenn er nicht sofort tot wäre und Leute auf sein Geschrei herbeiliefen, nicht schnell genug fliehen zu können. Deshalb verschob ich die Ausführung meines Vorhabens auf das nächste Mal und bezog, damit mir nichts entginge, ein kleines Zimmer mit der Aussicht auf die Straße, die längs der Gartenmauer hinlief.

 

Drei Tage nachher sah ich gegen sieben Uhr abends einen Diener zu Pferde aus dem Garten eilen und im Galopp auf dem Wege fortsprengen, der zur Straße nach Sèvres führte. Ich nahm an, er reite nach Versailles, und täuschte mich nicht. Drei Stunden später kam er mit Staub bedeckt zurück. Zehn Minuten nach ihm erschien ein anderer Mann, in einen Mantel gehüllt, zu Fuß und öffnete die kleine Gartentür, die sich wieder hinter ihm schloß.

 

Ich ging rasch hinab. Obschon ich das Gesicht des Mannes nicht gesehen hatte, so verrieten mir doch die Schläge meines Herzens, daß er es sei; ich ging über die Straße zu einem Randstein an der Mauerecke, von dem aus ich das erste Mal in den Garten gesehen hatte. Diesmal begnügte ich mich nicht mit dem Schauen, ich zog mein Messer aus der Tasche, überzeugte mich, daß es gehörig geschärft war, und sprang über die Mauer. Es war mein erstes, an die Tür zu laufen; er hatte den Schlüssel stecken lassen und ihn nur zweimal umgedreht. Nichts konnte also von dieser Seite meine Flucht hemmen. Ich übersah die Örtlichkeit; der Garten bildete ein langes Geviert, mittendurch zog sich ein Rasenteppich, an dessen Rande dichtbelaubte Baumgruppen standen. Um sich von dem Hause an die kleine Tür oder von der kleinen Tür nach dem Hause zu begeben, mußte Herr von Villefort an einer von diesen Baumgruppen vorübergehen.

 

Es war Ende September, der Wind blies heftig, ein wenig Mondschein, alle Augenblicke durch dichte Wolken verschleiert, die schnell am Himmel hinglitten, ließ den Sand der zu dem Hause führenden Alleen weiß erscheinen, vermochte aber die Dunkelheit der Gebüsche nicht zu durchdringen. Ich verbarg mich also in dem Gebüsch, an dem Herr von Villefort vorüberkommen mußte. Kaum war ich hier, als ich unter den Windstößen, welche die Baumzweige über meine Stirn beugten, etwas wie Seufzen zu unterscheiden glaubte. Es vergingen zwei Stunden, während deren ich wiederholt dasselbe Seufzen zu hören glaubte. Endlich schlug es Mitternacht.

 

Als noch der letzte Schlag verhallte, sah ich einen schwachen Schimmer die Geheimtreppe erhellen, auf der wir soeben herabgekommen sind. – Die Tür öffnete sich, und der Mann mit dem Mantel erschien. Der furchtbare Augenblick war da. Doch ich hatte mich auf diesen Augenblick so lange vorbereitet, daß ich nicht die geringste Schwäche empfand; ich zog mein Messer, öffnete es und hielt mich fertig.

 

Der Mann mit dem Mantel kam gerade auf mich zu; als er aber in dem entblößten Raume weiter vorschritt, glaubte ich zu bemerken, daß er in der rechten Hand eine Waffe hielt; ich fürchtete nicht den Kampf, sondern das Mißlingen. Sobald er nur noch einige Schritte von mir entfernt war, erkannte ich, daß das, was ich für eine Waffe gehalten hatte, nichts anderes war, als ein Spaten. Ich hatte noch nicht erraten können, in welcher Absicht Herr von Villefort das Gerät trug, als er am Saume des Gebüsches stehen blieb und, nachdem er sich umgeschaut hatte, ein Loch in die Erde zu graben anfing. Nun bemerkte ich, daß er etwas in seinem Mantel trug, das er auf den Rasen legte, um in seinen Bewegungen freier zu sein. Da mischte sich, muß ich gestehen, etwas Neugier in meinen Haß, ich wollte sehen, was Herr von Villefort tat, blieb unbeweglich, atemlos und wartete.

 

Es kam mir ein Gedanke, der sich auch bestätigte, als ich den Staatsanwalt ein kleines, etwa zwei Fuß langes und sechs bis acht Zoll breites Kistchen unter seinem Mantel hervorziehen sah, das er in das Loch legte, auf das er wieder Erde warf; diese frische Erde bearbeitete er sodann mit seinen Füßen, um die Spur seines nächtlichen Werkes verschwinden zu lassen. Hierauf warf ich mich auf ihn, stieß ihm mein Messer in die Brust und sagte: Ich bin Giovanni Bertuccio! Dein Tod für meinen Bruder, dein Schatz für seine Witwe. Du siehst, meine Rache ist noch vollständiger als ich hoffte.

 

 

Ich weiß nicht, ob er diese Worte hörte, ich glaube es nicht, denn er sank nieder, ohne einen Ton von sich zugeben; ich fühlte das Blut heiß auf meine Hände und in mein Gesicht spritzen; aber ich war trunken, ich war wahnsinnig; dieses Blut erfrischte mich, statt mich zu brennen. In einer Sekunde hatte ich das Kistchen mit Hilfe des Spatens wieder ausgegraben; ich füllte das Loch wieder, warf den Spaten über die Mauer, eilte durch die Tür, schloß sie doppelt von außen und nahm den Schlüssel mit.

 

Gut, sagte Monte Christo, das war, scheint mir, ein Raubmord.

 

Nein, Exzellenz, erwiderte Bertuccio, es war Vendetta, verbunden mit einer Wiedererstattung.

 

Sie fanden doch wenigstens eine runde Summe?

 

Ich lief an den Fluß und sprengte, begierig zu erfahren, was das Kistchen enthielt, das Schloß mit meinem Messer.

 

In eine Windel von seinem Battist war ein neugebornes Kind eingewickelt; sein purpurrotes Gesicht und seine blauen Hände deuteten an, daß es durch eine Schnur, die sich um seinen Hals geschlungen, erdrosselt war. Da es mir jedoch noch nicht ganz kalt zu sein schien, zögerte ich, das arme Geschöpf in das Wasser zu werfen; nach einem Augenblick glaubte ich in der Tat ein leichtes Schlagen in der Gegend des Herzens zu fühlen. Ich befreite seinen Hals von der Schnur, und da ich als Krankenwärter im Hospital von Bastia gedient hatte, so tat ich, was ein Arzt unter solchen Umständen hätte tun können, das heißt, ich blies ihm kräftig Luft in die Lunge, und nach einer Viertelstunde unerhörter Anstrengung sah ich es atmen, und unmittelbar darauf hörte ich einen Schrei seiner Brust sich entwinden. – Ich stieß ebenfalls einen Schrei aus, aber einen Freudenschrei. Gott verflucht mich also nicht, sagte ich zu mir selbst, denn er gestattet mir, einem Menschen Leben zu geben, im Austausch für das Leben, das ich einem andern genommen habe.

 

Und was taten Sie mit diesem Kinde? fragte Monte Christo; es war ein ziemlich beschwerliches Gepäck für einen Menschen, der fliehen mußte.

 

Ich hatte auch keinen Augenblick den Gedanken, es zu behalten. Doch ich wußte, daß es in Paris ein Hospiz gibt, wo man diese armen Geschöpfe aufnimmt. Als ich durch die Barriere kam, gab ich vor, ich hätte das Kind auf der Straße gefunden und erkundigte mich. Das Kistchen machte meine Aussage glaubwürdig! die Battistwindeln deuteten an, daß das Kind reichen Eltern gehörte; das Blut, mit dem ich bedeckt war, konnte ebensowohl von dem Kinde, als von irgend einem andern Wesen herrühren. Man machte keine Einwendung, bezeichnete mir das Hospiz, das ganz oben in der Rue l’Enfer lag, und nachdem ich aus Vorsicht die Windel so entzwei geschnitten hatte, daß einer von den beiden Buchstaben, womit sie gezeichnet war, bei der Einhüllung blieb, während ich den andern an mich nahm, legte ich meine Bürde in den Turm, läutete und entlief, so rasch ich nur immer vermochte. Vierzehn Tage nachher war ich wieder in Rogliano und sagte zu Assunta: Tröste dich, meine Schwester. Israel ist tot, aber ich habe ihn gerächt. Da bat sie mich um Erläuterung meiner Worte, und ich erzählte ihr alles, was vorgefallen war.

 

Giovanni, sagte Assunta, du hättest das Kind hierher bringen sollen; wir würden Elternstelle bei ihm vertreten und ihm den Namen Benedetto gegeben haben, und Gott hätte uns für diese gute Handlung gesegnet.

 

Statt einer Antwort gab ich ihr die Hälfte der Windel, die ich behalten hatte, um das Kind eines Tages, wenn wir reicher wären, zurückzufordern.

 

Mit welchen Buchstaben war die Windel gezeichnet? fragte der Graf.

 

Mit einem H und N, und darüber eine Baronenkrone.

 

Fahren Sie fort! Ich bin begierig, zu erfahren, was aus dem Kleinen geworden ist, und welches Verbrechens man Sie beschuldigte, als Sie einen Beichtiger verlangten und der Abbé Busoni Sie darauf im Gefängnis aufsuchte.

 

Bertuccio fuhr in seiner Erzählung fort: Halb um die Erinnerungen zu vertreiben, die mich beständig quälten, halb um die Bedürfnisse der armen Witwe zu bestreiten, legte ich mich wieder mit allem Eifer auf das Schmugglerhandwerk. Dieses Gewerbe ist sehr einträglich, wenn man dabei mit einigem Verstand und Geschick zu Werke geht. Ich für meine Person lebte im Gebirge, denn ich hatte nun eine doppelte Ursache, die Gendarmen und Zöllner zu fürchten. Da ich tausendmal lieber getötet als verhaftet werden wollte, vollführte ich erstaunliche Dinge. Meine Unternehmungen wurden immer ausgedehnter und immer vorteilhafter. Assunta war eine gute Wirtschafterin, und unser kleines Vermögen rundete sich allmählich. Als ich eines Tages eine neue Wanderung antrat, sagte sie zu mir: Geh, bei deiner Rückkehr bereite ich dir eine Überraschung.

 

Mein Ausflug dauerte beinahe sechs Wochen; als ich zurückkam, war das erste, was ich erblickte, ein Kind von sieben bis acht Monaten, in einer im Verhältnis zu unserer sonstigen Ausstattung sehr kostbaren Wiege. Ich stieß einen Freudenschrei aus. Die einzigen traurigen Gedanken, die mich seit der Ermordung des Staatsanwaltes heimgesucht, waren durch das Verlassen des Kindes verursacht worden. Es versteht sich von selbst, daß ich in Beziehung auf den Mord selbst keine Gewissensbisse fühlte.

 

Die arme Assunta hatte alles erraten; sie hatte, um nichts zu vergessen, den Tag und die Stunde, wo das Kind im Hospiz niedergelegt worden war, genau aufgeschrieben und war, mit der Windel versehen, nach Paris gereist, um den Kleinen zurückzufordern. Man machte keine Einwendung, und sie erhielt das Kind.

 

Ah! ich gestehe, Herr Graf, als ich das arme Kind in seiner Wiege schlafend erblickte, dehnte sich meine Brust aus, und Tränen traten in meine Augen. In der Tat, Assunta, rief ich, du bist eine vortreffliche Frau, und die Vorsehung wird dich segnen.

 

Dies ist weniger Philosophie, sagte der Graf, als Glaube.

 

Ach! Exzellenz, sagte Bertuccio, Sie haben ganz recht, gerade dieses Kind wählte Gott zum Werkzeug meiner Bestrafung. Nie offenbarte sich früher eine verderbte Natur, und dennoch kann man nicht sagen, daß es schlecht erzogen wurde, denn meine Schwester behandelte es wie den Sohn eines Fürsten. Es war ein Knabe von reizender Gesichtsbildung, mit hellblauen Augen; nur verliehen die etwas feurig blonden Haare dem Gesichte des Jungen einen seltsamen Ausdruck, den die Lebhaftigkeit seines Auges und die Schlauheit seines Lächelns noch verstärkten. Nach dem Sprichwort sind die Roten entweder ganz gut oder ganz böse; dieses Sprichwort log nicht in Beziehung auf Benedetto; er zeigte sich schon von seiner frühesten Jugend ganz böse. Es ist nicht zu leugnen, daß die Sanftmut seiner Mutter seine ersten üblen Neigungen ungemein begünstigte; denn während meine arme Schwägerin auf den Markt der fünf bis sechs Stunden entlegenen Stadt ging, um die ersten Früchte und das wohlschmeckendste Zuckerwerk zu kaufen, zog der Knabe die Kastanien und Äpfel, die er dem Nachbar stahl, vor.

 

Eines Tages – Benedetto mochte etwa fünf Jahre alt sein – kam der Nachbar Wasilio, der nach, der Gewohnheit unsers Landes weder seine Börse, noch seine Schmucksachen verschloß – der Herr Graf weiß, daß es in Korsika keine Diebe gibt, – zu uns und klagte, es sei ein Louisd’or aus seiner Börse verschwunden. Man glaubte, er habe falsch gezählt; aber er behauptete, seiner Sache gewiß zu sein. Benedetto hatte das Haus schon am Morgen verlassen, und wir gerieten in nicht geringe Unruhe, als wir ihn am Abend mit einem Affen zurückkehren sahen, den er gefesselt am Fuße eines Baumes gefunden zu haben vorgab. Seit einem Monat war es das leidenschaftliche Trachten des Kindes gewesen, einen Affen zu besitzen. Ein Gaukler, der durch Rogliano kam und mehrere solche Tiere besaß, deren Possen unsern Jungen sehr ergötzten, hatte ihm ohne Zweifel dieses unglückliche Verlangen eingeflößt.

 

Man findet in unsern Wäldern keinen Affen, sagte ich zu ihm, und besonders keinen gefesselten Affen; gestehe mir also, wie du dir das Tier verschafft hast.

 

Benedetto beharrte bei seiner Lüge und gab noch weitere nähere Umstände an, die mehr seiner Einbildungskraft, als seiner Wahrheitsliebe Ehre machten; ich ärgerte mich, er lachte; ich drohte, er zog sich ein paar Schritte zurück. – Du kannst mich nicht schlagen, sagte er, du hast nicht das Recht dazu, denn du bist nicht mein Vater.

 

Wir wußten gar nicht, wer ihm dieses unselige Geheimnis entdeckt hatte, das wir mit so großer Sorgfalt vor ihm verbargen. Aber die Antwort erschreckte mich so, daß mein aufgehobener Arm niederfiel, ohne den Schuldigen zu berühren. Das Kind triumphierte und wurde infolgedessen so unbändig, daß alles Geld Assuntas, deren Liebe zu ihm immer mehr zuzunehmen schien, je weniger er derselben würdig war, für tolle Launen des Knaben, die sie nicht zu bekämpfen vermochte, daraufging. Wenn ich in Rogliano war, ging es noch erträglich; aber sobald ich abreiste, war Benedetto Meister im Hause, und ein böser Streich folgte dem andern. Kaum elf Jahre alt, wählte er seine Kameraden unter den jungen Leuten von achtzehn und neunzehn Jahren, den schlimmsten Burschen von Bastia und Corte, und bereits hatte uns das Gericht Warnungen zugehen lassen.

 

Es wurde mir bange; jede Untersuchung konnte verhängnisvolle Folgen nach sich ziehen, und ich sollte eben einer wichtigen Expedition halber Korsika für einige Zeit verlassen. Ich sann lange nach und beschloß, um ein Unglück zu vermeiden, Benedetto mit mir zu nehmen. Ich hoffte, das tätige harte Leben eines Schmugglers, die strenge Disziplin an Bord würden ihm, der sonst unrettbar verloren schien, gut tun. Ich nahm ihn also beiseite und machte ihm den Vorschlag, mir zu folgen, wobei ich ihm alles Mögliche versprach, was ein Kind von zwölf Jahren locken kann.

 

Er ließ mich reden, ohne mich zu unterbrechen. Als ich aber zu Ende war, schlug er ein Gelächter an und rief: Seid Ihr ein Narr, Oheim? – so nannte er mich, wenn er guter Laune war – Ich soll das Leben, das ich führe, meinen schönen Müßiggang, gegen die schauderhafte Arbeit vertauschen, die Ihr tut? Ich soll die Nacht in der Kälte, den Tag in der Hitze zubringen, mich fortwährend verbergen, oder, wenn ich mich zeige, Flintenschüsse kriegen, und dies alles, um ein wenig Gold zu gewinnen? Geld habe ich, soviel ich will; Mutter Assunta gibt mir, so oft ich von ihr fordere. Ihr seht also, daß ich dumm wäre, wenn ich Euern Vorschlag annähme.

 

Während ich noch ganz starr vor Staunen über diese Worte war, kehrte er zu seinen Kameraden zurück, und ich sah von ferne, wie er mich ihnen gegenüber für einen Dummkopf erklärte.

 

Ein reizendes Kind! murmelte Monte Christo.

 

Oh! wenn er mir gehört hätte, sagte Bertuccio, wenn er mein Sohn oder wenigstens mein Neffe gewesen wäre, so würde ich ihn auf den rechten Pfad zurückgeführt haben, denn das gute Gewissen verleiht Stärke. Aber der Gedanke, daß ich ein Kind schlagen sollte, dessen Vater ich getötet hatte, machte es mir unmöglich, ihn zu züchtigen. Ich gab meiner Schwester, die den Jungen stets verteidigte, gute Ratschläge, und da sie mir gestand, es hätten ihr wiederholt größere Summen gefehlt, so bezeichnete ich ihr einen Ort, wo sie unsern kleinen Schatz verbergen könnte. Mein Entschluß war gefaßt: Benedetto konnte vortrefflich lesen, schreiben und rechnen, denn wenn er sich zufällig zur Arbeit herbeiließ, so lernte er in einem Tag so viel, wie andere in einer Woche. Mein Entschluß, sage ich, war gefaßt; ich wollte ihn als Schreiber auf irgend einem zu langen Seefahrten bestimmten Schiffe unterbringen und, ohne ihn zuvor in Kenntnis zu setzen, an einem schönen Morgen nehmen und an Bord schaffen lassen. War er dem Kapitän gehörig empfohlen, so hing seine Zukunft nur von ihm ab. Sobald dieser Plan festgestellt war, brach ich nach Frankreich auf. Alle unsere Operationen sollten diesmal im Golf von Lyon ausgeführt werden; die Unternehmungen wurden aber immer schwieriger, denn der Küstendienst war strenger geworden, als je. Anfänglich ging alles vortrefflich. Wir banden unsere Barke, die einen doppelten Boden hatte, worin wir unsere Waren verbargen, mitten unter einer Anzahl von Schiffen an, die an den beiden Ufern der Rhone von Beaucaire bis Arles lagen. Hier begannen wir nächtlicherweile unsere verbotenen Waren auszuschiffen und durch die Vermittlung von Leuten, die mit uns in Verbindung standen, oder mit Hilfe der Wirte, bei denen wir unsere Niederlagen hatten, in die Stadt zu schaffen. Mag es nun sein, daß uns das Glück unvorsichtig gemacht hatte, oder waren wir verraten: eines Abends gegen fünf Uhr, als wir eben unser Vesper verzehren wollten, lief unser Schiffsjunge ganz erschrocken herbei und sagte, er habe eine Abteilung Zollbeamter auf unser Schiff zukommen sehen. In einem Augenblick waren wir auf den Beinen, aber es war schon zu spät, man hatte bereits unsere Barke umzingelt. Unter den Zöllnern bemerkte ich auch einige Gendarmen, und durch diesen Anblick erschreckt, stieg ich in den Schiffsraum hinab, schlüpfte durch eine Stückpforte und ließ mich in den Fluß fallen; dann schwamm ich unter dem Wasser, schöpfte nur nach laugen Zwischenräumen Atem und erreichte, ohne gesehen zu werden, einen kurz zuvor angelegten Graben, durch den die Rhone mit dem Kanal in Verbindung steht, der von Beaucaire nach Aigues-Mortes führt. Nun war ich gerettet, denn ich konnte dem Graben folgen, ohne gesehen zu werden. Ungehindert kam ich in den Kanal. Diesen Weg hatte ich auch deshalb gewählt, weil ich den Besitzer eines kleinen Gasthofs auf der Straße von Bellegarde nach Beaucaire kannte.

 

Wie hieß dieser? fragte der Graf, der wieder einiges Interesse an der Erzählung Bertuccios zu nehmen schien.

 

Er hieß Gaspard Caderousse und war mit einer Frau verheiratet, die am Sumpffieber hinsiechte. Der Mann dagegen war ein kräftiger Bursche, der uns mehr als einmal unter schwierigen Umständen Beweise von Geistesgegenwart und Mut gegeben hatte.

 

Und Sie sagen, fragte der Graf, diese Dinge seien vorgefallen im Jahre …

 

Am 3. Juni 1829 abends.

 

Ah! sagte Monte Christo, am 3. Juni 1829? … Gut, fahren Sie fort.

 

Bei Caderousse gedachte ich also eine Zufluchtsstätte zu finden. Da wir aber gewöhnlich nicht durch die Tür, die nach der Straße führte, bei ihm eintraten, so stieg ich über die Gartenhecke und erreichte, in der Besorgnis, Caderousse könnte einen Reisenden im Hause haben, eine Art Schuppen, worin ich wiederholt die Nacht zugebracht hatte. Dieser Schuppen war von der Gaststube im Erdgeschoß nur durch einen Bretterverschlag getrennt, in dem man Öffnungen gemacht hatte, damit wir im geeigneten Augenblick unsre Anwesenheit anmelden könnten. Ich gedachte, Caderousse, wenn er allein wäre, von meiner Ankunft in Kenntnis zu setzen, schlich mich also unter den Schuppen und tat Wohl daran, denn in demselben Augenblick kam Caderousse mit einem Unbekannten nach Hause. Ich hielt mich still und wartete, nicht um die Geheimnisse meines Wirtes zu belauschen, sondern weil ich nicht anders konnte.

 

Der Mann, der Caderousse begleitete, war offenbar fremd im südlichen Frankreich; er gehörte zu den Handelsleuten, die zur Messe von Beaucaire kommen, um Juwelen zu verkaufen. Caderousse trat rasch und zuerst ein. Als er die untere Stube wie gewöhnlich leer sah, rief er seiner Frau zu: He! Carconte, der würdige Priester hat uns nicht getäuscht; der Stein war gut.

 

Ein freudiger Ausruf ließ sich vernehmen, und fast in demselben Augenblick kam ein schwacher Tritt die Treppe herunter. Was sagst du? fragte die Frau, bleicher als eine Tote.

 

Ich sage, daß der Diamant gut war, und daß dieser Herr, einer der ersten Juweliere von Paris, uns fünfzigtausend Franken dafür geben will. Nur verlangt er, um sicher zu sein, daß der Diamant uns gehört, du sollst ihm, wie ich’s schon getan habe, erzählen, auf welche wunderbare Weise er in unsere Hände gekommen ist. Setzen Sie sich einstweilen, mein Herr, wenn es Ihnen beliebt, ich will Ihnen eine Erfrischung holen. Der Juwelier betrachtete mit großer Aufmerksamkeit das Innere der Herberge und die sichtbare Armut des Wirtes, der einen Diamanten, der aus dem Schmuckkästchen eines Fürsten zu kommen schien, an ihn verkaufen wollte.

 

Erzählen Sie, sagte der Fremde; ohne Zweifel wollte er die Abwesenheit des Mannes benutzen und sehen, ob die beiden Erzählungen übereinstimmten.

 

Ei! mein Gott, sagte die Frau mit großer Zungenfertigkeit, es ist ein Segen des Himmels, den wir entfernt nicht erwarteten. Denken Sie sich, lieber Herr, daß mein Mann im Jahre 1814 mit einem Seefahrer, namens Dantes, in Verbindung stand; der arme Junge, den Caderousse ganz vergessen hatte, hat ihn nicht vergessen und ihm, als er im Gefängnis starb, den Diamanten, den Sie hier sehen, hinterlassen.

 

Aber wie ist er in den Besitz dieses Diamanten gelangt? fragte der Juwelier. Er besaß ihn also, ehe er in das Gefängnis kam?

 

Nein, mein Herr, erwiderte die Frau, sondern er machte, wie mir scheint, im Gefängnis die Bekanntschaft eines reichen Engländers; und da sein Stubengenosse im Kerker krank wurde und Dantes ihn pflegte, so schenkte der Engländer, als er aus der Haft entlassen wurde, diesen Diamanten dem armen Dantes, der, minder glücklich, im Gefängnis starb und bei seinem Tode uns den Stein vermachte, den uns heute früh ein würdiger Abbé in seinem Auftrag überbrachte.

 

Das ist ganz das gleiche, murmelte der Juwelier, und die Geschichte muß am Ende wahr sein, so unwahrscheinlich sie auch aussieht. Es handelt sich also nur um den Preis, über den wir noch nicht einig sind.

 

Wie! rief Caderousse, ich glaubte, Sie hätten eingewilligt, den von mir verlangten Preis dafür zu zahlen. – Das heißt, versetzte der Juwelier, ich habe vierzigtausend Franken geboten. – Vierzigtausend Franken! rief die Careonte, wir geben ihn dafür nicht her. Der Abbé hat uns gesagt, er sei ohne Fassung fünfzigtausend Franken wert. – Zeigen Sie mir den Diamanten, sagte der Juwelier, damit ich ihn noch einmal betrachten kann; man irrt sich bei flüchtigem Betrachten leicht.

 

Caderousse zog aus seiner Tasche ein kleines Futteral, öffnete es und gab es dem Juwelier. Beim Anblick des Diamanten, der so groß war wie eine kleine Haselnuß, funkelten die Augen der Carconte vor Begierde.

 

Und was dachten Sie dabei, Herr Horcher? fragte Monte Christo. Kannten Sie den Edmond Dantes, von dem die Rede war?

 

Nein, Exzellenz, ich hatte bis dahin nie von ihm sprechen hören und hörte auch seitdem nur ein einziges Mal den Abbé Busoni von ihm reden, als ich ihn im Gefängnis in Nimes sah.

 

Gut, fahren Sie fort!

 

Der Juwelier nahm den Ring aus Caderousses Händen, zog aus seiner Tasche ein stählernes Zänglein und eine kleine messingne Wage, öffnete die goldenen Krampen, die den Stein im Ringe hielten, zog den Diamanten heraus und wog ihn mit ängstlicher Sorgfalt. Dann sagte er: Ich gebe 45 000 Franken, aber keinen Sou mehr; es tut mir sogar leid, daß ich diese Summe geboten habe, insofern der Stein einen Mangel hat, den ich anfangs nicht bemerkte.

 

Bringen Sie den Stein wenigstens wieder in den Ring, sagte Caderousse spitzig. – Sie haben recht, versetzte der Juwelier, und brachte den Diamanten wieder in seinen Kasten. – Gut, sagte Caderousse, ich verkaufe ihn an einen anderen.

 

Ja, entgegnete der Juwelier, aber ein anderer wird sich nicht so leicht mit der Auskunft begnügen, die Sie mir gegeben haben. Er wird sagen: Es geht nicht mit rechten Dingen zu, daß ein Mensch wie Sie einen Diamanten von fünfzigtausend Franken besitzt, er wird die Behörden darauf aufmerksam machen, dann sucht man den Abbé Busoni, und die Abbés, die Diamanten von zweitausend Louisd’or verschenken, sind selten. Die Justiz bemächtigt sich der Sache, man schickt Sie ins Gefängnis, – und werden Sie auch als unschuldig erkannt, setzt man Sie nach einer Haft von drei bis vier Monaten wieder in Freiheit, so hat sich der Ring in der Gerichtskanzlei verloren, oder man gibt Ihnen einen falschen Stein, der drei Franken wert ist, statt eines Steines von fünfzigtausend Franken. Also ganz nach Ihrem Gutdünken; ich habe übrigens, wie Sie sehen, schönes Geld mitgebracht.

 

Und er zog aus einer von seinen Taschen eine Handvoll Gold, die er vor den geblendeten Augen des Wirtes funkeln ließ, und aus der andern ein Päckchen mit Banknoten. In Caderousses Innern entspann sich offenbar ein harter Kampf, und das kleine Futteral von Saffianleder, das er in seiner Hand hin und her drehte, schien ihm als Wert offenbar nicht der ungeheuren Summe zu entsprechen, die seine Augen blendete. Er wandte sich zu seiner Frau und sagte leise: Was meinst du dazu?

 

Gib, gib, antwortete sie; wenn er ohne den Diamanten nach Beaucaire zurückkehrt, zeigt er uns an, und wer weiß, ob wir je wieder des Abbés Busoni habhaft werden können.

 

Gut, sagte Caderousse, nehmen Sie den Diamanten für 45 000 Franken; meine Frau will aber noch eine goldene Kette haben und ich silberne Schnallen.

 

Nun, so geben Sie doch her! Was für ein schrecklicher Mensch! versetzte der Juwelier, ihm den Ring aus der Hand ziehend; ich zahle ihm 45 000 Franken, das heißt ein Vermögen, wie ich wohl eines haben möchte, und er ist noch nicht zufrieden!

 

Warten Sie, bis ich die Lampe angezündet habe, entgegnete die Carconte, es ist nicht mehr hell, und man könnte sich irren.

 

Während dieser Verhandlung war es wirklich Nacht geworden, und mit der Nacht war der Sturm gekommen, der seit einer halben Stunde loszubrechen drohte. Man hörte den Donner dumpf in der Ferne grollen; aber ganz und gar vom Dämon des Gewinnes besessen, schienen sich weder der Juwelier noch die Carconte darum zu bekümmern. Ich selbst fühlte mich ganz geblendet bei dem Anblick von all diesem Gold und all den Banknoten. Es kam mir vor, als träumte ich.

 

Caderousse zählte wiederholt das Gold und die Scheine, die der Juwelier auf den Tisch gezählt hatte, und gab dann beides seiner Frau, die ebenfalls alles durchzählte. Mittlerweile ließ der Juwelier den Diamanten unter dem Strahle der Lampe spiegeln.

 

Nun, ist die Rechnung richtig? fragte der Händler.

 

Ja, antwortete Caderousse, und nun, obgleich Sie uns vielleicht zehntausend Livres zu wenig gezahlt haben, wollen Sie mit uns zu Nacht speisen? Es kommt von gutem Herzen.

 

Ich danke, erwiderte der Juwelier. Es ist bereits spät, und ich muß nach Beaucaire zurück, sonst wird meine Frau unruhig. Bei Gott, es ist bald neun Uhr, ich werde vor Mitternacht nicht in Beaucaire sein. Gott befohlen, Kinder.

 

Ein Donnerschlag erdröhnte, begleitet von einem so grellen Blitze, daß beinahe die Lampe verdunkelt wurde.

 

Oh! sagte Caderousse, bei diesem Wetter wollen Sie fort? – Ich fürchte mich nicht vor dem Donner, versetzte der Juwelier. – Und vor den Räubern? fragte die Carconte. Die Straße ist während der Messe nie sicher. – Oh! was die Räuber betrifft, entgegnete der Händler, da ist etwas für sie. Und er zog ein paar kleine, bis an die Mündung geladene Pistolen aus der Tasche. Das sind Hunde, die zugleich bellen und beißen, sie sind für die beiden ersten bestimmt, die es nach Eurem Diamanten gelüsten sollte, Vater Caderousse.

 

Caderousse und seine Frau wechselten einen finstern Blick. Sie hatten, wie es schien, gleichzeitig einen furchtbaren Gedanken.

 

Dann glückliche Reise, sagte Caderousse.

 

Ich danke, erwiderte der Juwelier, nahm seinen Stock und wollte sich entfernen. In dem Augenblick, wo er die Tür öffnete, drang ein so heftiger Windstoß in die Stube, daß er beinahe die Lampe ausgelöscht hätte.

 

Oh! oh! sagte er, ein schönes Wetter, und drei Stunden Weg bei einem solchen Sturme! – Bleiben Sie hier, schlafen Sie bei uns! versetzte Caderousse. – Ja, bleiben Sie, sagte Carconte mit zitternder Stimme, wir sorgen für Sie. – Nein, ich muß in Beaucaire schlafen. Gott befohlen.

 

Caderousse ging langsam bis zur Schwelle.

 

Man sieht weder Himmel noch Erde, sagte der Juwelier, bereits halb außer dem Hause. Muß ich mich links oder rechts halten? – Rechts, antwortete Caderousse, Sie können nicht fehlen, die Straße ist auf beiden Seiten mit Bäumen besetzt. – Schließe doch die Tür! rief die Carconte, ich liebe offene Türen nicht, wenn es donnert! – Und wenn Geld im Hause ist, nicht wahr? entgegnete Caderousse, den Schlüssel zweimal im Schlosse drehend.

 

Er kam zurück, ging an den Schrank, nahm den Sack und das Portefeuille heraus, und beide fingen an, zum dritten Male ihr Gold und ihre Scheine zu zählen. Ich habe nie einen Ausdruck gesehen, wie den dieser gierigen, von der spärlichen Lampe beleuchteten Gesichter. Die Frau besonders war abscheulich, ihr gewöhnliches fiebriges Zittern hatte sich noch gesteigert. Ihr Gesicht war leichenfarbig geworden, ihre hohlen Augen flammten.

 

Warum hast du ihm ein Nachtlager hier angeboten? fragte sie mit dumpfem Tone. – Um … damit … antwortete Caderousse bebend, damit er bei dem Wetter nicht nach Beaucaire zurückzukehren brauchte. – Ah! sagte die Carconte mit einem Tone, der sich nicht beschreiben läßt; ich glaubte, es geschehe aus einem andern Grunde. – Weib! Weib! rief Caderousse, warum hast du solche Gedanken, und warum behältst du sie nicht für dich? – Gleichviel, sagte die Carconte, du bist kein Mann. – Warum? – Wärest du ein Mann, so würde er nicht von hier weg gekommen sein. – Weib! – Oder er würde wenigstens Beaucaire nicht erreichen. – Weib! – Die Straße macht eine Biegung, er muß der Straße folgen, während sich längs dem Kanal ein kürzerer Weg hinzieht. – Weib, du beleidigst den guten Gott. Halt, horch!

 

Man hörte in der Tat einen furchtbaren Donnerschlag, während ein Blitz die ganze Stube mit einer bläulichen Flamme übergoß, doch langsam abnehmend schien sich der Donner nur ungern von dem verfluchten Hause zu entfernen.

 

Jesus! rief die Carconte sich bekreuzend.

 

Beinahe in demselben Augenblicke hörte man mitten unter dem Stillschweigen des Schreckens, das gewöhnlich auf Donnerschläge folgt, an die Tür klopfen. Caderousse und seine Frau bebten und schauten sich ängstlich an.

 

Wer ist da? rief Caderousse aufstehend, schob die auf dem Tische zerstreuten Goldstücke und Banknoten auf einen Haufen und bedeckte sie mit seinen Händen.

 

Ei, bei Gott, ich, der Juwelier.

 

Nun, was sagtest du, versetzte die Carconte mit einem furchtbaren Lächeln, ich beleidige den guten Gott? … Gerade der gute Gott schickt ihn uns zurück.

 

Caderousse fiel bleich und keuchend auf seinen Stuhl.

 

Die Carconte dagegen stand auf, ging festen Schrittes auf die Tür zu, öffnete und sagte: Kommen Sie herein, lieber Herr.

 

Meiner Treu, sagte der Juwelier, der, vom Regen triefend, eintrat, es scheint, der Teufel will nicht, daß ich heute abend nach Beaucaire zurückkehre. Sie haben mir Gastfreundschaft angeboten, ich nehme sie an und komme, um hier zu schlafen.

 

Caderousse stammelte einige Worte, während er den Schweiß abtrocknete, der von seiner Stirn floß. Die Carconte schloß die Tür doppelt hinter dem Juwelier.

 

Steigen und Fallen.

 

Steigen und Fallen.

 

Einige Tage nach diesem Zusammentreffen machte Albert von Morcerf dem Grafen von Monte Christo einen Besuch in seinem Hause in den Champs-Elyées, das bereits das Aussehen eines Palastes gewonnen hatte. Er gab aufs neue dem Dank der Frau Danglars Ausdruck, den sie dem Grafen schon vorher in einem Brief mit der Unterschrift Baronin Danglars, geborene Hermine von Servieux, abgestattet hatte.

 

In Alberts Begleitung war Lucien Debray, der den Worten seines Freundes einige Komplimente hinzufügte, über deren Quelle jedoch der Graf bei seinem Scharfblicke sich nicht täuschen ließ. Er konnte in der Tat, ohne einen Irrtum befürchten zu müssen, voraussetzen, daß Frau Danglars, da sie sich außer stande fühlte, mit eigenen Augen in die Geheimnisse eines Mannes zu dringen, der Pferde für dreißigtausend Franken verschenkte und in die Oper mit einer Sklavin ging, die für eine Million Diamanten trug, Debray beauftragt hatte, ihr so viel wie möglich Auskunft zu verschaffen.

 

Aber der Graf gab sich den Anschein, als vermute er nicht im geringsten einen Zusammenhang zwischen Luciens Besuche und der Neugierde der Baronin. Sie stehen in fast ununterbrochenem Verkehr mit dem Baron Danglars? fragte er Albert von Morcerf.

 

Ja, Herr Graf, Sie wissen, was ich Ihnen gesagt habe.

 

Der Plan besteht also noch immer?

 

Mehr als je, es ist eine abgemachte Sache, sagte Lucien.

 

Und indem er meinte, mit diesem einen ins Gespräch geworfenen Wort habe er sich das Recht erkauft, sich nun schweigend zu verhalten, klemmte Lucien sein Lorgnon ins Auge, biß auf den goldenen Knopf seines Stöckchens und schritt, mit aller Aufmerksamkeit die Waffen und Gemälde betrachtend, im Zimmer umher.

 

Ah! rief Monte Christo, nach Ihren Worten hätte ich nicht an eine so schnelle Lösung geglaubt.

 

Was wollen Sie? Die Dinge entwickeln sich, ohne daß man’s merkt. Wenn wir auch nicht an sie denken, denken sie an uns, und wenn wir uns umdrehen, sind wir erstaunt darüber, wie sie vorgeschritten sind. Mein Vater und Herr Danglars haben miteinander in Spanien gedient, mein Vater bei der eigentlichen Armee, Herr Danglars beim Train. Mein Vater, den die Revolution zu Grunde gerichtet hatte, und Herr Danglars, der von Haus aus vermögenslos war, legten dort den Grund, mein Vater zu seinem großen politischen und militärischen Glück, Herr Danglars zu seinem bewunderungswürdigen politischen und finanziellen Glück.

 

Ja, in der Tat, erwiderte Monte Christo, ich glaube, Herr Danglars erzählte mir davon während des Besuches, den ich ihm machte; und, sagte er, einen Seitenblick auf Lucien werfend, der in einem Album blätterte, und ist Fräulein Eugenie hübsch?

 

Sehr hübsch; aber von einer Schönheit, die ich nicht zu schätzen weiß, ich Unwürdiger.

 

Sie sprechen, als ob Sie bereits ihr Gatte wären.

 

Oh! rief Albert, und sah sich dabei ebenfalls nach seinem Freunde um.

 

Wissen Sie, sagte Monte Christo, die Stimme dämpfend, wissen Sie, daß Sie mir nicht eben sehr begeistert für diese Heirat zu sein scheinen.

 

Fräulein Danglars ist zu reich für mich, und das erschreckt mich, erwiderte Morcerf.

 

Bah! versetzte Monte Christo, ein schöner Grund; sind Sie nicht selbst reich?

 

Mein Vater hat etwa fünfzigtausend Franken Rente und wird mir vielleicht zehn bis zwölf bei meiner Verheiratung geben.

 

Das sieht allerdings bescheiden aus, besonders in Paris, sagte der Graf; aber das Vermögen ist nicht alles auf dieser Welt, ein schöner Name und eine hohe gesellschaftliche Stellung haben auch ihren Wert. Ihr Name ist berühmt. Ihre Stellung glänzend, der Graf von Morcerf ist ein Soldat, und man sieht gern die Unantastbarkeit eines Ritters ohne Furcht und Tadel mit der Armut eines Kreuzritters vereinigt. Die Uneigennützigkeit ist der schönste Sonnenstrahl, in dem ein edler Degen erglänzen kann. Ich finde im Gegenteil diese Verbindung im höchsten Grade passend; Fräulein Danglars bereichert Sie, und Sie adeln das Fräulein!

 

Albert schüttelte den Kopf und blieb nachdenklich. Es ist dabei noch etwas anderes, sagte er.

 

Ich gestehe, daß ich diesen Widerwillen gegen ein junges, reiches und schönes Mädchen nicht begreifen kann, sagte der Graf.

 

Oh, mein Gott! rief Morcerf, dieser Widerwille, wenn wirklich ein Widerwille stattfindet, kommt nicht ganz von meiner Seite.

 

Von welcher Seite denn? Sagten Sie mir nicht, Ihr Vater wünschte diese Heirat?

 

Er kommt von meiner Mutter, und meine Mutter hat ein sicheres Auge. Sie lächelt nicht zu dieser Verbindung, sie hat ein Vorurteil gegen die Danglars.

 

Oh! das läßt sich begreifen, sagte der Graf mit etwas gezwungenem Tone; die Frau Gräfin von Morcerf, welche die Vornehmheit, der Adel, die Feinheit in der Person ist, scheut sich, eine gemeinbürgerliche, plumpe, rohe Hand zu berühren, und das ist natürlich.

 

Ich weiß nicht, ob dies der Fall ist, entgegnete Albert, weiß jedoch, daß diese Heirat, wenn sie wirklich stattfindet, meine Mutter unglücklich machen wird. Schon vor sechs Wochen sollte eine Familienversammlung zur Besprechung des Heiratsvertrages stattfinden, aber meine Mutter wurde dergestalt von der Migräne befallen, ohne Zweifel infolge ihrer Abneigung dagegen, daß man die Zusammenkunft auf zwei Monate verschob. Sie begreifen, es eilt nicht, ich bin noch nicht einundzwanzig Jahre alt und Eugenie erst siebzehn; doch die zwei Monate sind in der nächsten Woche abgelaufen, und man muß sich am Ende entscheiden. Sie können sich nicht vorstellen, mein lieber Graf, in welcher Verlegenheit ich mich befinde … Ah! wie glücklich sind Sie doch, Sie freier Mann!

 

Nun so seien Sie auch frei, wer hindert Sie daran?

 

Oh, es würde meinem Vater einen so großen Verdruß bereiten, wenn ich Fräulein Danglars nicht heiratete.

 

So heiraten Sie das Fräulein, sagte der Graf mit einer seltsamen Bewegung der Achsel.

 

Ja, aber meiner Mutter würde diese Verbindung nicht Verdruß, sondern Schmerz bereiten.

 

Dann heiraten Sie das Fräulein nicht, sagte der Graf.

 

Ich werde es versuchen; nicht wahr, Sie geben mir Ihren Rat, und wenn es Ihnen möglich ist, entziehen Sie mich dieser Verlegenheit? Oh! um meiner vortrefflichen Mutter keinen Kummer zu bereiten, würde ich es, glaube ich, sogar auf einen Konflikt mit meinem Vater ankommen lassen.

 

Monte Christo wandte sich ab, er schien bewegt.

 

Ei! sagte er zu Debray, der auf einem weichen Polsterstuhl am Ende des Salons saß und in der rechten Hand einen Bleistift, in der linken ein Notizbuch hielt, ei! was machen Sie denn? Eine Skizze nach Poussin?

 

Ich? Nein, ich mache ganz das Gegenteil davon, ich mache Zahlen und zwar solche, die Sie unmittelbar angehen, Vicomte. Ich berechne, was das Haus Danglars bei dem letzten Steigen der Hayti-Papiere gewinnen mußte; von 206 stiegen sie in drei Tagen auf 499, und der kluge Bankier hatte viel um 206 gekauft. Er muß 300 000 Franken gewonnen haben.

 

Das ist noch nicht sein bester Treffer, sagte Morcerf; hat er nicht in diesem Jahre eine Million mit spanischen Bons gewonnen?

 

Sie sprechen von Hayti? fragte Monte Christo.

 

Oh! Hayti, das ist das Wunderland der französischen Börsenspieler. So hat Herr Danglars gestern zu 409 verkauft und steckt 300 000 Franken ein, hätte er bis heute gewartet, so würde er, da die Papiere wieder auf 205 gesunken sind, statt 300 000 Franken zu gewinnen, 25 000 Franken verloren haben.

 

Und warum sind diese Papiere von 409 auf 205 gefallen? fragte Monte Christo. Entschuldigen Sie, ich verstehe von allen diesen Börsengeschäften nicht das geringste.

 

Weil die Nachrichten sich folgen, aber nicht sich gleichen, antwortete Albert lachend.

 

Ah Teufel! rief der Graf, Herr Danglars spielt also so hoch, daß er an einem Tage 300 000 Franken gewinnen oder verlieren kann! Da muß er ja ungeheuer reich sein?

 

Er selbst spielt gar nicht, rief Lucien lebhaft, Frau Danglars tut es; sie riskiert wahrhaftig alles.

 

Aber Sie, der Sie ein vernünftiger Mann sind, Lucien, Sie, der Sie wissen, wie unzuverlässig die Nachrichten sind, der Sie an der Quelle sitzen, Sie sollten sie davon abhalten, sagte Morcerf lächelnd.

 

Wie vermöchte ich dies, da es ihrem Manne nicht gelingt? fragte Lucien. Sie kennen den Charakter der Baronin; niemand hat Einfluß auf sie, und sie tut durchaus nur, was sie will.

 

Oh! wenn ich an Ihrer Stelle wäre, sagte Albert, ich wollte sie heilen; das hieße ihrem künftigen Schwiegersohne einen Dienst leisten.

 

Wieso?

 

Ah, bei Gott! das ist sehr einfach. Ich würde ihr eine Lektion geben. Ihre Stellung als Sekretär des Ministers verleiht Ihren Äußerungen großes Gewicht; Sie dürfen nur den Mund öffnen, und die Wechselagenten stenographieren so schnell als möglich Ihre Worte. Lassen Sie nun die Baronin hunderttausend Franken Schlag auf Schlag verlieren, und sie wird klug werden.

 

Ich begreife nicht, stammelte Lucien.

 

Es ist doch ganz klar, erwiderte der junge Mann mit durchaus echter Naivität. Teilen Sie ihr an einem schönen Morgen irgend etwas Unerhörtes mit, eine telegraphische Nachricht, die nur Sie allein wissen können, zum Beispiel: Heinrich IV. sei gestern bei Gabrielle gesehen worden; das läßt die Fonds steigen, sie richtet ihren Börsenhandel danach ein und verliert sicherlich, wenn Beauchamp den andern Tag in seiner Zeitung schreibt: Mit Unrecht behaupten wohlunterrichtete Leute, König Heinrich IV. sei gestern bei Gabrielle gesehen worden; dies ist völlig unrichtig; König Heinrich IV. hat den Pont-Neuf nicht verlassen.

 

Lucien spitzte den Mund zu einem Lächeln. Obgleich scheinbar gleichgültig, hatte Monte Christo doch kein Wort von dieser Unterhaltung verloren, und sein durchdringendes Auge hatte sogar hinter der Verlegenheit des Sekretärs ein Geheimnis zu entdecken geglaubt.

 

Es war eine Folge dieser Verlegenheit, von der Albert nicht das geringste wahrnahm, daß Lucien seinen Besuch abkürzte; er fühlte sich offenbar unbehaglich. Der Graf sagte ihm, während er ihn bis zur Tür geleitete, mit leiser Stimme ein paar Worte, worauf er erwiderte: Sehr gern, Herr Graf, ich nehme es an.

 

Der Graf kehrte zu Albert von Morcerf zurück und sagte:

 

Denken Sie nicht, wenn Sie sich die Sache überlegen, daß Sie unrecht gehabt haben, so über Ihre Schwiegermutter in Gegenwart des Herrn Debray zu reden?

 

Ich bitte, Graf, versetzte Morcerf, sagen Sie dieses Wort nicht mehr.

 

Wahrhaftig und ohne Übertreibung, ist die Gräfin in diesem Grade gegen die Heirat eingenommen?

 

Dergestalt, daß die Baronin nur selten in unser Haus kommt, und daß meine Mutter, glaube ich, nicht zweimal in ihrem ganzen Leben bei Fran Danglars gewesen ist.

 

Das ermutigt mich, offenherzig mit Ihnen zu sprechen, sagte der Graf. Herr Danglars ist mein Bankier, Herr von Villefort hat mich mit Höflichkeiten überhäuft, indem er mir seinen Dank für einen Dienst aussprach, den ich ihm zufällig zu leisten imstande war. Ich mache mich nach alledem auf eine Lawine von Einladungen zu Mittagessen und Abendunterhaltungen gefaßt. Um aber den Anschein prunkhafter Vorbereitung zu vermeiden, und wenn Sie wollen, um mir das Verdienst der Zuvorkommenheit zu wahren, gedenke ich, Herrn und Frau, sowie Fräulein Danglars und Herrn und Frau von Villefort in mein Landhaus in Auteuil zu bitten. Wenn ich nun Sie, sowie den Herrn Grafen und die Frau Gräfin von Morcerf, ebenfalls zu diesem Mittagessen einlade, wird es da nicht aussehen, wie wenn ich Sie beide absichtlich zusammenbringen wollte, oder wird nicht wenigstens die Frau Gräfin von Morcerf die Sache so betrachten, besonders wenn der Herr Baron von Danglars mir die Ehre erweist, seine Tochter mitzubringen? Dann wird Ihre Mutter eine Abneigung gegen mich fassen, und das möchte ich durchaus nicht, denn es ist mir alles daran gelegen, sagen Sie ihr dies, so oft sich Gelegenheit dazu bietet, in gutem Andenken bei ihr zu stehen.

 

Herr Graf, ich danke Ihnen, daß Sie mit so viel Offenherzigkeit mit mir sprechen, und ich bleibe gern dem Mahle fern, wie Sie es mir scheinen vorschlagen zu wollen. Sie sagen, es sei Ihnen daran gelegen, in gutem Andenken bei meiner Mutter zu bleiben; Sie stehen bereits in voller Wertschätzung bei ihr.

 

Sie glauben? sagte Monte Christo mit Teilnahme.

 

Oh! ich bin dessen gewiß. Als Sie uns neulich verließen, plauderten wir noch eine ganze Stunde von Ihnen. Doch ich komme auf das zurück, worüber wir soeben sprachen. Wenn meine Mutter von dieser Aufmerksamkeit Ihrerseits erführe, und ich es wagte, sie ihr mitzuteilen, ich bin überzeugt, sie wüßte Ihnen den innigsten Dank dafür; mein Vater würde allerdings in nicht geringe Wut geraten.

 

Der Graf erwiderte lachend: Sie sind nun in Kenntnis gesetzt. Doch ich denke, Ihr Vater wird keinen Anlaß haben, wütend zu werden; Herr und Frau Danglars werden mich für einen Menschen von sehr schlechter Lebensart halten. Sie wissen, daß ich mit Ihnen vertraut verkehre, daß Sie sogar mein ältester Pariser Bekannter sind und werden mich, wenn sie Sie nicht bei mir finden, fragen, warum ich Sie nicht eingeladen habe. Suchen Sie es wenigstens so einzurichten, daß Sie vorher schon eine wertvolle Einladung annehmen, und teilen mir dies schriftlich mit. Sie wissen, bei den Bankiers gilt nur das Geschriebene.

 

Ich gedenke, etwas Besseres zu tun, Herr Graf, erwiderte Albert; meine Mutter wünscht wieder einmal Seeluft zu atmen. Auf welchen Tag ist Ihr Mittagessen bestimmt?

 

Auf Sonnabend.

 

Wir haben heute Dienstag, morgen abend reisen wir ab, übermorgen früh sind wir in Treport. Sie sind ein bezaubernder Mann, Herr Graf, daß Sie den Leuten die Dinge so nach ihrer Bequemlichkeit und zu ihrer Zufriedenheit einrichten.

 

Sie überschätzen mein Verdienst weit; ich wünsche Ihnen nur angenehm zu sein.

 

Auf welchen Tag wollen Sie einladen?

 

Heute.

 

Gut! ich gehe zu Herrn Danglars und kündige ihm an, daß ich morgen mit meiner Mutter Paris verlasse und nicht Ihr Gast sein könne.

 

Recht; die Sache ist abgemacht.

 

Hätten Sie nicht Lust, Herr Graf, heute mit uns zu Mittag zu speisen? Wir sind nur in kleiner ausgewählter Gesellschaft, Sie, meine Mutter und ich. Sie haben meine Mutter kaum bemerkt; doch Sie werden sie in der Nähe sehen. Es ist eine merkwürdige Frau, und ich bedaure nur, daß nicht ihresgleichen im Alter von zwanzig Jahren lebt; dann würde es bald eine Gräfin und eine Vicomtesse von Morcerf geben. Meinen Vater finden Sie nicht, er hat Kommissionssitzung und speist beim Großreferendar. Kommen Sie, wir plaudern von Reisen! Sie, der Sie die ganze Welt gesehen haben, erzählen uns von Ihren Abenteuern; Sie teilen uns die Geschichte der schönen Griechin mit, die kürzlich mit Ihnen in der Oper war und von Ihnen Ihre Sklavin genannt wird, während Sie sie wie eine Prinzessin behandeln. Wir sprechen Italienisch und Spanisch! Kommen Sie, meine Mutter wird Ihnen dankbar sein.

 

Tausend Dank, erwiderte der Graf, Ihre Einladung ist äußerst liebenswürdig, und ich bedaure lebhaft, daß ich sie nicht annehmen kann. Ich bin nicht frei, wie Sie wähnten, sondern ich habe im Gegenteil ein höchst wichtiges Zusammentreffen.

 

Ah! nehmen Sie sich in acht, Sie haben mich soeben gelehrt, wie man sich klüglich einer unerwünschten Einladung zum Mittagessen entziehen kann. Ich bedarf eines Beweises. Glücklicherweise bin ich nicht Bankier wie Herr Danglars, wohl aber ebenso neugierig wie er.

 

Ich werde Ihnen auch den Beweis geben, erwiderte der Graf und läutete.

 

Baptistin trat ein und blieb wartend an der Tür stehen.

 

Baptistin, was sagte ich Ihnen, als ich Sie heute morgen in mein Arbeitszimmer rief?

 

Sie befahlen mir, die Tür des Herrn Grafen schließen zu lassen, sobald es fünf Uhr geschlagen hätte, antwortete der Diener. Hernach hießen Sie mich nur den Herrn Major Bartolomeo Cavalcanti empfangen.

 

Sie hören, den Herrn Major Bartolomeo Cavalcanti, einen Mann vom ältesten Adel Italiens, dessen Namen Dante zu verherrlichen bemüht war; ferner seinen Sohn, einen reizenden jungen Mann, ungefähr von Ihrem Alter, Vicomte, der denselben Titel führt wie Sie und in die Pariser Welt mit den Millionen seines Vaters eintritt. Der Major bringt mir heute abend seinen Sohn Andrea, den Contino, wie wir in Italien sagen. Er will ihn mir anvertrauen, und ich werde sein Glück zu fördern suchen, wenn er einiges Verdienst besitzt. Nicht wahr, Sie helfen mir?

 

Ganz gewiß! Dieser Major Cavalcanti ist wohl ein alter Freund von Ihnen? fragte Albert.

 

Keineswegs, er ist ein würdiger, sehr höflicher, sehr bescheidener, sehr diskreter Herr, wie es in Italien eine Menge gibt. Ich habe ihn wiederholt in Florenz, in Bologna, in Lucca gesehen, und er teilte mir seine Ankunft mit. Die Reisebekanntschaften sind anspruchsvoll; sie verlangen überall von uns die Freundschaft, die wir ihnen zufällig einmal erzeigt haben. Dieser gute Major Cavalcanti besucht Paris wieder, das er nur einmal im Vorübergehen unter der Kaiserherrschaft gesehen hat. Ich gebe ihm ein gutes Diner, er läßt mir seinen Sohn hier, ich verspreche, ihn zu überwachen, lasse ihn alle Torheiten begehen, und wir sind quitt.

 

Vortrefflich! rief Albert, ich sehe, Sie sind ein kostbarer Mentor. Gott befohlen, bis Sonntag sind wir zurück. Doch ich habe Nachricht von Franz erhalten.

 

Ah! wirklich? Gefällt es ihm immer noch in Italien.

 

Ich denke ja; er bedauert indessen, daß Sie nicht mehr dort sind, denn er sagt, Sie seien die Sonne von Rom, und ohne Sie herrsche dort trübes Wetter.

 

Er ist also von seiner Ansicht über mich zurückgekommen?

 

Im Gegenteil, er beharrt daraus, Sie für höchst phantastisch zu halten; darum bedauert er Ihre Abwesenheit.

 

Ein liebenswürdiger junger Mann, versetzte Monte Christo; ich fühlte für ihn schon eine lebhafte Sympathie am ersten Abend, als ich ihn auf der Insel Monte Christo nach irgend einem Abendessen Ausschau halten sah und ihm Gastfreundschaft erweisen durfte. Er ist, glaube ich, ein Sohn des Generals d’Epinay, der im Jahre 1815 auf eine so erbärmliche Weise von den Bonapartisten ermordet wurde?

 

Ganz richtig.

 

Liegt für ihn nicht auch ein Heiratsplan vor?

 

Ja, er soll sich mit Fräulein von Villefort vermählen, wie ich Fräulein Danglars heiraten soll, erwiderte Albert lachend.

 

Sie lachen?

 

Ich lache, weil es mir vorkommt, als besitze er ebensoviel Sympathie für die Heirat, wie ich für eine Verbindung zwischen mir und Fräulein Danglars. Aber wahrhaftig, lieber Graf, wir plaudern von Frauen, wie die Frauen von Männern plaudern. Das ist unverzeihlich! Albert stand auf.

 

Sie gehen?

 

Die Frage ist gut! Seit zwei Stunden quäle ich Sie, und Sie haben die Höflichkeit, mich zu fragen, ob ich gehe! In der Tat, Graf, Sie sind der artigste Mann der Erde! Und Ihre Bedienten, wie sind sie dressiert, besonders Herr Baptistin! Ich konnte nie einen solchen Menschen bekommen.

 

Er wandte sich zum Gehen und rief: Welchen Dienst würden Sie mir leisten, und wie wollte ich Sie noch hundertmal mehr lieben, wenn ich mit Ihrer Hilfe Junggeselle bliebe, und wäre es nur noch zehn Jahre lang!

 

Alles ist möglich, erwiderte Monte Christo mit ernstem Tone. Er verabschiedete sich von Albert und trat in sein Arbeitszimmer, wo er Bertuccio fand.

 

Herr Bertuccio, sagte der Graf, wissen Sie, daß ich am Sonnabend in meinem Hause in Auteuil eine Gesellschaft gebe?

 

Bertuccio erwiderte leicht schaudernd: Gut, gnädiger Herr.

 

Ich bedarf Ihrer, fuhr der Graf fort, damit alles aufs beste vorbereitet wird. Das Haus ist sehr schön oder kann wenigstens sehr schön sein.

 

Man müßte zu diesem Zwecke alles verändern, Herr Graf, denn die Tapeten sehen recht alt aus.

 

Verändern Sie alles, mit Ausnahme des roten Schlafzimmers, dies lassen Sie ganz, wie es ist! Den Garten lassen Sie ebenfalls unberührt, aber aus dem Hofe, zum Beispiel, machen Sie alles, was Sie wollen! Es wird mir sogar angenehm sein, wenn man ihn nicht wiedererkennen kann.

 

Ich werde tun, was in meinen Kräften liegt, um den Herrn Grafen zufrieden zu stellen.

 

Der Major Cavalcanti

 

Der Major Cavalcanti

 

Es schlug sieben Uhr, und Bertuccio war seit zwei Stunden nach Auteuil abgereist, als ein Fiaker vor der Tür des Hotels hielt und an dem Gitter einen Mann von etwa zweiundfünfzig Jahren absetzte, der einen von jenen Röcken mit schwarzen Borten trug, deren Geschlecht in Europa unvergänglich zu sein scheint. Eine weite Hose, ziemlich reinliche Stiefel, hirschlederne Handschuhe, eine schwarze Halsbinde mit einem schmalen weißen Streifen, die man, wenn sie ihr Eigentümer nicht freiwillig getragen haben würde, für ein Halseisen hätte halten können, das war die malerische Tracht, in welcher der Mensch erschien, der an dem Gitter läutete, hier fragte, ob nicht in Nr. 30 der Avenue der Champs-Elysees der Graf von Monte Christo wohne, und auf die bejahende Antwort des Portiers eintrat.

 

Der kleine, eckige Kopf dieses Menschen, seine weißlichen Haare und sein dicker, grauer Schnurrbart machten ihn für Baptistin erkenntlich, denn dieser besaß das genaue Signalement des Gastes und erwartete ihn im untern Hausflur. Kaum hatte er seinen Namen vor dem Diener ausgesprochen, als Monte Christo von seiner Ankunft benachrichtigt wurde.

 

Man führte den Fremden in den einfachsten Salon. Der Graf erwartete ihn daselbst und ging ihm mit lachender Miene entgegen. Ah! lieber Herr, sagte er, seien Sie willkommen! Ich erwartete Sie.

 

Wirklich? erwiderte der Lukkeser, Eure Exzellenz erwartete mich?

 

Ja, ich war von Ihrer Ankunft auf heute um sieben Uhr benachrichtigt.

 

Sie waren von meiner Ankunft benachrichtigt?

 

Vollkommen.

 

Ah! desto besser, ich befürchtete, man hätte diese Vorsichtsmaßregel vergessen.

 

Welche?

 

Sie in Kenntnis zu setzen.

 

Oh, nein!

 

Sind Sie dessen gewiß, täuschen Sie sich nicht?

 

Ich bin dessen gewiß.

 

Mich erwartete Eure Exzellenz heute abend um sieben Uhr?

 

Allerdings Sie. Ich will Ihnen den Beweis geben.

 

Oh, wenn Sie mich erwarteten, so ist es nicht der Mühe wert.

 

Doch! doch! rief Monte Christo.

 

Der Lukkeser schien etwas beunruhigt.

 

Sprechen Sie, sind Sie nicht der Marquis Bartolomeo Cavalcanti?

 

Bartolomeo Cavalcanti, wiederholte freudig der Lukkeser, so ist es.

 

Exmajor in österreichischen Diensten?

 

War ich Major? fragte schüchtern der alte Soldat.

 

Ja, sagte Monte Christo, Major. Das ist der Name, den man in Frankreich dem Grade gibt, den Sie in Italien einnahmen.

 

Gut, versetzte der Lukkeser, Sie begreifen, mir ist es ganz lieb …

 

Übrigens, kommen Sie nicht aus eigenem Antriebe hierher?

 

Allerdings.

 

Sie sind durch den vortrefflichen Abbé Busoni an mich gewiesen worden?

 

So ist es, rief der Major.

 

Und Sie haben einen Brief?

 

Hier ist er.

 

Monte Christo nahm den Brief, öffnete und las ihn.

 

Der Major schaute den Grafen mit großen, erstaunten Augen an, die zwar neugierig in allen Teilen des Gemaches umherliefen, jedoch immer wieder zu dessen Eigentümer zurückkehrten.

 

So ist es … der liebe Abbé … Der Major Cavalcanti, ein würdiger Patricier aus Lucca, von den Cavalcanti in Florenz abstammend, fuhr Monte Christo lesend fort, im Besitze eines Vermögens, das jährlich eine halbe Million abwirft.

 

Monte Christo schlug die Augen vom Papier auf und verbeugte sich.

 

Eine halbe Million, sagte er, Teufel! mein lieber Herr Cavalcanti.

 

Steht eine halbe Million da? fragte der Lukkeser.

 

Mit allen Buchstaben, und das muß so sein, der Abbé Busoni ist ein Mann, der ganz genau die großen Vermögen in Europa kennt!

 

Es mag wohl richtig sein mit der halben Million; doch auf mein Ehrenwort, ich glaubte nicht, daß es sich so hoch beliefe.

 

Weil Sie einen Intendanten haben, der Sie bestiehlt; was wollen Sie, mein lieber Herr Cavalcanti, man muß sich das gefallen lassen!

 

Und da Sie mir hierüber Aufklärung gegeben haben, so werde ich den Burschen vor die Tür werfen, sagte mit ernstem Tone der Lukkeser.

 

Monte Christo fuhr fort zu lesen: Und dem nur eines zu seinem Glücke fehlte.

 

Oh, mein Gott! ja, nur eines, sagte der Lukkeser mit einem Seufzer.

 

Einen angebeteten Sohn wiederzufinden.

 

Einen angebeteten Sohn?

 

Der in seiner Jugend entweder durch einen Feind seiner Familie oder durch Zigeuner geraubt wurde.

 

Im Alter von fünf Jahren, mein Herr! sagte der Lukkeser mit einem tiefen Seufzer und die Augen zum Himmel aufschlagend.

 

Armer Vater! sagte Monte Christo.

 

Der Graf las weiter: Ich gebe ihm die Hoffnung, ich gebe ihm das Leben, Herr Graf, indem ich ihm verkündige, daß Sie ihm diesen Sohn, den er seit fünfzehn Jahren umsonst suchte, wiederfinden können.

 

Der Lukkeser schaute Monte Christo mit einem Ausdrucke voll unsäglicher Unruhe an.

 

Ich kann es, sagte Monte Christo.

 

Der Major richtete sich hoch auf und rief: Ah! ah! der Brief ist also bis zum Ende wahr?

 

Zweifelten Sie daran, mein lieber Herr Bartolomeo?

 

Nein, niemals! Ein ernster, eine religiöse Würde bekleidender Mann, wie der Abbé Busoni, hätte sich nie einen solchen Scherz erlaubt; doch Sie haben nicht alles gelesen, Exzellenz!

 

Ah! das ist wahr, es findet sich hier noch eine Nachschrift.

 

Ja, erwiderte der Lukkeser, es findet sich … eine … Nachschrift.

 

Um den Major Cavalcanti nicht in die Verlegenheit zu setzen, Papiere verkaufen zu müssen, schicke ich ihm einen Wechsel von zweitausend Franken für seine Reiseunkosten und akkreditiere ihn bei Ihnen mit der Summe von achtundvierzigtausend Franken, die ich bei Ihnen gut habe.

 

Der Major verfolgte in sichtbarer Angst diese Nachschrift mit den Augen.

 

Gut! begnügte sich der Graf zu bemerken.

 

Er hat gut gesagt, murmelte der Lukkeser. Also die Nachschrift wird von Ihnen ebenso günstig aufgenommen, wie der übrige Brief?

 

Der Abbé Busoni und ich stehen miteinander in Abrechnung; ich weiß nicht genau, ob er achtundvierzigtausend Franken bei mir gut hat, aber es kommt zwischen uns auf ein paar Banknoten nicht an. Ah! Sie legten also einen großen Wert auf diese Nachschrift, mein lieber Cavalcanti?

 

Ich muß Ihnen gestehen, antwortete der Lukkeser, daß ich mich, voll Zutrauen zu der Unterschrift des Abbé Busoni, nicht mit andern Geldern versehen hatte; wäre mir diese Quelle entgangen, so würde ich mich in Paris in großer Verlegenheit befunden haben.

 

Setzen Sie sich doch, sagte Monte Christo; in der Tat, ich weiß nicht, was ich mache … ich lasse Sie seit einer Viertelstunde stehen.

 

Der Major zog einen Stuhl an sich und setzte sich.

 

Nun sagen Sie, sagte der Graf, wollen Sie etwas zu sich nehmen? Ein Glas Xeres, Porto, Alicante?

 

Alicante, wenn Sie erlauben, das ist mein Lieblingswein.

 

Monte Christo läutete; Baptistin erschien. Der Graf ging auf ihn zu und fragte leise: Nun …?

 

Der junge Mensch ist im blauen Salon, antwortete der Kammerdiener.

 

Vortrefflich. Bringen Sie Alicantewein und Zwiebacke.

 

Baptistin brachte das Verlangte.

 

Der Graf befahl Baptistin, die Platte in den Bereich der Hand seines Gastes zu stellen, der zuerst den Alicante mit dem Rande seiner Lippen kostete, sodann eine Miene der Zufriedenheit annahm und endlich den Zwieback zart in das Glas tauchte.

 

Sie wohnten also in Lucca? sagte Monte Christo, Sie waren reich, Sie waren vornehmer Abkunft, Sie genossen die allgemeine Achtung, Sie hatten alles, was einen Menschen glücklich machen kann?

 

Alles, Exzellenz, erwiderte der Major, seinen Zwieback verschlingend, durchaus alles.

 

Und es fehlte nur zu Ihrem Glück, Ihr Kind wiederzufinden? Dies fehlte mir sehr, rief der würdige Major, schlug die Augen zum Himmel auf und suchte zu seufzen.

 

Nun reden Sie, mein lieber Herr Cavalcanti, wie verhält es sich mit diesem so sehr beklagten Sohne? Denn man sagte mir, Sie seien Junggeselle geblieben.

 

Man glaubte es, mein Herr, und ich selbst …

 

Ja, versetzte Monte Christo, und Sie selbst suchten diesem Gerüchte Glauben zu verschaffen. Eine Jugendsünde, die Sie vor aller Augen verbergen wollten.

 

Der Lukkeser richtete sich auf, nahm seine ruhigste und würdigste Haltung an, schlug aber zugleich bescheiden die Augen nieder, sei es, um seine Haltung zu sichern, sei es, um seine Einbildungskraft zu unterstützen, während er von unten herauf den Grafen anschaute, dessen auf seine Lippen festgebanntes Lächeln stets dieselbe wohlwollende Neugierde andeutete. Ja, mein Herr, sagte er, ich wollte diesen Fehler vor der ganzen Welt verbergen.

 

Nicht Ihretwegen, versetzte Monte Christo, denn ein Mann steht über dergleichen Dingen!

 

Oh! nein, gewiß nicht meinetwegen, erwiderte der Major, lächelnd und die Achseln zuckend.

 

Sondern seiner Mutter wegen?

 

Seiner Mutter wegen, rief der Lukkeser, seiner armen Mutter wegen!

 

Trinken Sie doch, lieber Herr Cavalcanti, sagte Monte Christo, dem Lukkeser ein zweites Glas Alcante einschenkend; die Erinnerung überwältigt Sie.

 

Seiner armen Mutter wegen, murmelte der Lukkeser, indem er einen Versuch machte, ob nicht die Kraft des Willens den Winkel seines Auges mit einer falschen Zähre zu befeuchten vermöchte.

 

Welche, glaube ich, einer der ersten Familien Italiens angehörte?

 

Eine Patrizierin von Fiesole.

 

Namens?

 

Marchesa Oliva Corsinari!

 

Und Sie heirateten sie am Ende, trotz des Widerstrebens der Familie?

 

Mein Gott! ja, das tat ich am Ende.

 

Und Ihre Papiere, die Sie mitbringen, sind ganz in Ordnung?

 

Was für Papiere? fragte der Lukkeser.

 

Nun, Ihr Trauschein mit Oliva Corsinari und der Taufschein von Andrea Cavalcanti, Ihrem Sohne; heißt er nicht Andrea?

 

Ganz richtig, Herr Graf, doch mit Bedauern muß ich Ihnen bemerken, nicht darauf aufmerksam gemacht, daß ich mich mit diesen Papieren versehen sollte, versäumte ich, sie mitzunehmen.

 

Ah! Teufel! rief Monte Christo.

 

Sind Sie denn durchaus nötig?

 

Unerläßlich, rief Monte Christo; wenn man hier irgend einen Zweifel über die Gültigkeit Ihrer Ehe und die Rechtmäßigkeit Ihres Kindes erhöbe!

 

Es ist richtig, man könnte Zweifel erheben.

 

Das wäre sehr unangenehm.

 

Es könnte ihm dadurch eine glänzende Heirat entgehen.

 

O peccato!

 

Sie begreifen, in Frankreich ist man streng. Es genügt nicht, wie in Italien, einen Priester aufzusuchen und ihm zu sagen: Wir lieben einander, verbinden Sie uns! In Frankreich gibt es eine bürgerliche Ehe, und um sich bürgerlich zu verheiraten, braucht man Papiere, durch welche die Identität nachgewiesen wird.

 

Das ist ein Unglück, ich habe diese Papiere nicht.

 

Zum Glücke habe ich sie.

 

Ah! mein Herr, rief der Lukkeser, der, als er das Ziel seiner Reise durch den Mangel seiner Papiere verfehlt sah, befürchtete, dieses Vergessen könnte einige Schwierigkeiten in Beziehung auf die achtundvierzigtausend Franken zur Folge haben, ah! mein Herr, das ist ein Glück. Ja, wiederholte er, das ist ein Glück, denn ich hätte nicht daran gedacht.

 

Bei Gott! ich glaube wohl, man denkt nicht an alles. Glücklicherweise dachte der Abbé Busoni für Sie daran.

 

Ein bewunderungswürdiger Mann; und er schickte Ihnen die Papiere?

 

Hier sind sie.

 

Der Lukkeser legte die Hände als Zeichen der Bewunderung zusammen. Sie heirateten Oliva Corsinari in der St. Paulskirche in Monte Cattini, hier ist der Trauschein des Priesters.

 

Ja, meiner Treu, sagte der Major, den Schein mit Erstaunen anschauend.

 

Und hier der Taufschein von Andrea Cavalcanti, ausgefertigt von dem Pfarrer von Saravezza.

 

Alles ist in Ordnung, sagte der Major.

 

So nehmen Sie diese Papiere, mit denen ich nichts zu tun habe, geben Sie sie Ihrem Sohne, der sie sorgfältig aufbewahren wird.

 

Ich glaube wohl! … Wenn er sie verlieren würde! …

 

Was nun die Mutter des jungen Mannes betrifft …

 

Mein Gott, sagte der Lukkeser, unter dessen Füßen die Schwierigkeiten immer neu emporzuwachsen schienen, sollte man ihrer bedürfen?

 

Nein, mein Herr, versetzte Monte Christo, hat sie übrigens nicht …

 

Doch, doch! rief der Major, sie hat …

 

Der Natur ihren Tribut bezahlt …

 

Ach, ja! sagte rasch der Lukkeser.

 

Ich habe das erfahren, sagte Monte Christo, sie ist vor zehn Jahren gestorben.

 

Und ich beweine noch ihren Tod, mein Herr, versetzte der Major, ein Taschentuch aus seiner Tasche ziehend.

 

Was wollen Sie, sagte Monte Christo, wir sind alle sterblich. Sie begreifen, lieber Herr Cavaleanti, man braucht in Frankreich nicht zu wissen, daß Sie seit fünfzehn Jahren von Ihrem Sohne getrennt sind. Alle diese Geschichten von kinderstehlenden Zigeunern finden bei uns keinen Anklang mehr. Sie haben ihn zur Erziehung in ein Kolleg in der Provinz geschickt, und er soll nun nach Ihrem Willen diese Erziehung in der Pariser Welt vollenden. Deshalb verließen Sie Via Reggio, wo Sie seit dem Tode Ihrer Frau wohnen. Das wird genügen.

 

Sie glauben?

 

Gewiß.

 

Gut also.

 

Wenn man etwas von dieser Trennung erführe …

 

Ah! ja. Was würde ich sagen?

 

Ein ungetreuer Lehrer, von den Feinden Ihrer Familie erkauft, habe dieses Kind geraubt, damit Ihr Name erlösche.

 

Ganz richtig, da es der einzige Sohn ist …

 

Nun da alles festgestellt ist, da Ihre Erinnerungen, wieder aufgefrischt, Sie nicht verraten werden, müssen Sie wohl geahnt haben, daß Ihnen eine Überraschung bevorsteht.

 

Eine angenehme? fragte der Lukkeser.

 

Ah! ich sehe wohl, daß man ebensowenig das Auge, als das Herz eines Vaters täuscht.

 

Hm! machte der Major.

 

Ist Ihnen irgend eine indiskrete Enthüllung zuteil geworden, oder haben Sie vielmehr erraten, er sei da?

 

Wer?

 

Ihr Kind, Ihr Sohn, Ihr Andrea!

 

Ich habe es erraten, erwiderte der Lukkeser mit dem größten Phlegma der Welt; er ist also hier?

 

Er ist hier, sagte Monte Christo, mein Kammerdiener hat mich soeben von seiner Ankunft benachrichtigt.

 

Ah! sehr gut! sagte der Major, indem er dabei die Schnüre seiner Polonaise zusammenzog.

 

Mein Herr, ich begreife Ihre Erschütterung, man muß Ihnen Zeit lassen, sich zu erholen; auch will ich den jungen Menschen auf die so sehr ersehnte Zusammenkunft vorbereiten, denn ich setze voraus, er ist nicht minder ungeduldig als Sie.

 

Ich glaube es wohl, sagte Cavalcanti.

 

Gut! in einer kleinen Viertelstunde gehören wir Ihnen.

 

Sie bringen mir ihn? Sie treiben also Ihre Güte so weit, daß Sie mir meinen Jungen selbst vorstellen?

 

Nein, ich will mich keineswegs zwischen einen Vater und seinen Sohn stellen; Sie werden allein sein, Herr Major; doch seien Sie unbesorgt, selbst dann, falls die Stimme des Blutes stumm bliebe, könnten Sie sich nicht täuschen, er wird durch diese Tür eintreten. Es ist ein hübscher, blonder, junger Mann, vielleicht etwas zu blond, und von äußerst einnehmenden Manieren, wie Sie sehen werden.

 

Doch Sie wissen, sagte der Major, ich nahm nur die zweitausend Franken mit, die mir der Abbé Busoni zu geben die Güte hatte. Damit machte ich die Reise, und …

 

Und Sie brauchen Geld, das ist nur zu billig, mein lieber Herr Cavalcanti. Hier sind auf Abschlag acht Tausendfranknoten.

 

Die Augen des Majors glänzten wie Karfunkel.

 

Somit bin ich Ihnen noch vierzigtausend Franken schuldig, sagte Monte Christo.

 

Will Eure Exzellenz einen Empfangschein? fragte der Major, die Scheine in die innere Tasche seiner Polonaise steckend.

 

Wozu?

 

Als Belege dem Abbé Busoni gegenüber.

 

Sie geben mir einen allgemeinen Schein, wenn Sie die letzten vierzigtausend Franken in Empfang genommen haben. Unter ehrlichen Leuten sind solche Vorsichtsmaßregeln unnötig.

 

Ah! ja, das ist wahr, sagte der Major, unter ehrlichen Leuten.

 

Nun noch ein letztes Wort, Marquis. Sie erlauben mir eine kleine, unmaßgebliche Bemerkung, nicht wahr?

 

Ich bitte darum.

 

Es wäre wirklich nicht übel, wenn Sie diese Polonaise ablegen würden.

 

Wirklich? sagte der Major, sein Kleid mit einem gewissen Wohlgefallen anschauend.

 

Ja, das trägt man noch in Via Reggio, aber in Paris ist dieses Kostüm, so elegant es auch sein mag, längst aus der Mode.

 

Das ist ärgerlich.

 

Oh! wenn Sie viel darauf halten, so ziehen Sie es bei Ihrer Abreise wieder an.

 

Aber was soll ich dafür nehmen?

 

Was Sie in Ihren Koffern finden.

 

Wie, in meinen Koffern! Ich habe nur einen Mantelsack.

 

Bei sich, allerdings. Wozu sich beschweren? Überdies liebt es ein alter Soldat, mit leichter Ausrüstung zu marschieren.

 

Gerade deshalb …

 

Sie sind ein vorsichtiger Mann und haben Ihre Koffer vorausgeschickt. Diese sind gestern im Hotel des Princes, Rue de Richelieu, angelangt. Dort ist Ihre Wohnung bestellt.

 

In diesen Koffern also? …

 

Ich setze voraus, Sie sind so vorsichtig gewesen, durch Ihren Kammerdiener alles, was Sie brauchen, einpacken zu lassen: Röcke zu gewöhnlichen Ausgängen, Uniformen. Bei großen Veranlassungen ziehen Sie Ihre Uniform an, das tut gut. Vergessen Sie Ihre Kreuze nicht. Man spottet darüber in Frankreich, trägt sie aber dennoch immer.

 

Sehr gut! sehr gut! sehr gut! sagte der Major, von dem, was er hörte, immer mehr geblendet.

 

Und nun, da Ihr Herz gegen zu lebhafte Empfindungen gewappnet ist, bereiten Sie sich vor, lieber Cavalcanti, Ihren Sohn Andrea wiederzusehen.

 

Und sich freundlich vor dem entzückten Lukkeser verbeugend, verschwand Monte Christo hinter dem Türvorhange.

 

Andrea Cavalcanti.

 

Andrea Cavalcanti.

 

Monte Christo trat in den anstoßenden Salon, den Baptistin unter dem Namen der blaue Salon bezeichnet hatte, und in den schon vor ihm ein ziemlich elegant gekleideter junger Mann von ungezwungenen Manieren eingetreten war. Dieser lag auf dem Sofa und klopfte mit zerstreuter Miene seine Stiefel mit einem goldknöpfigen Röhrchen. Sobald er Monte Christo wahrnahm, stand er rasch auf.

 

Der Herr Graf von Monte Christo? fragte er.

 

Ja, antwortete dieser, und ich habe wohl die Ehre, mit dem, Herrn Grafen Cavalcanti zu sprechen?

 

Der Graf Andrea Cavalcanti, wiederholte der junge Mann, indem er diese Worte mit einer äußerst freien Verbeugung begleitete.

 

Sie müssen ein Beglaubigungsschreiben für mich haben?

 

Ja, unterzeichnet seltsamerweise von Simbad dem Seefahrer. Da ich aber diesen Simbad nur aus Tausendundeiner Nacht kannte, so …

 

Wohl, es ist ein Abkömmling von ihm, ein sehr reicher Freund von mir, ein mehr als origineller, fast närrischer Engländer, der mit seinem wahren Namen Lord Wilmore heißt.

 

Ah! das erklärt mir die Sache, versetzte Andrea. Dann geht es vortrefflich. Es ist derselbe Engländer, den ich kennen gelernt habe … in … ja, sehr gut! … Mein Herr Graf, ich bin Ihr Diener.

 

Wenn das, was Sie mir zu sagen die Güte haben, wahr ist, sagte lächelnd der Graf, so hoffe ich, daß Sie so gefällig sein werden, mir etwas Näheres über Sie und Ihre Familie mitzuteilen.

 

Sehr gern, Herr Graf, antwortete der junge Mann mit einer Zungenfertigkeit, die bewies, daß er ein gutes Gedächtnis besaß. Ich bin, wie Sie sagten, der Graf Andrea Cavalcanti, Sohn des Majors Bartolomeo Cavalcanti, Abkömmling der in das goldene Buch von Florenz eingetragenen Cavalcanti. Obgleich noch sehr reich, denn mein Vater besitzt ein Zinseneinkommen von einer halben Million, hat unsere Familie doch viel Unglück erfahren, und ich selbst, mein Herr, bin in einem Alter von fünf Jahren durch einen ungetreuen Hofmeister geraubt worden und habe deshalb seit fünfzehn Jahren den Urheber meiner Tage nicht gesehen. Seitdem ich das Alter der Vernunft erreicht und Herr meiner selbst bin, suche ich ihn vergebens. Endlich meldet mir dieser Brief Ihres Freundes Simbad, daß er sich in Paris befindet, und erteilt mir Vollmacht, mich an Sie zu wenden, um weitere Auskunft zu erhalten.

 

In der Tat, mein Herr, alles, was Sie mir da erzählen, ist sehr interessant, sagte der Graf, der mit ingrimmiger Zufriedenheit die dreiste Miene des Sprechers betrachtete, und Sie werden wohl daran tun, wenn Sie in allen Stücken der Aufforderung meines Freundes Simbad entsprechen, denn Ihr Vater ist in der Tat hier und sucht Sie.

 

Der Graf hatte seit seinem Eintritt in den Salon den jungen Mann nicht aus dem Gesichte verloren; er bewunderte die Festigkeit seines Blickes und die Sicherheit seiner Stimme. Doch bei den Worten: Ihr Vater ist in der Tat hier und sucht Sie, machte der junge Andrea einen Sprung und rief entsetzt: Mein Vater? Mein Vater hier?

 

Allerdings, erwiderte Monte Christo, Ihr Vater, der Major Bartolomeo Cavalcanti.

 

Der Ausdruck des Schreckens, der sich über die Züge des jungen Mannes verbreitet hatte, verschwand fast in demselben Augenblick wieder.

 

Ah! ja, es ist wahr, rief er, der Major Cavalcanti. Und Sie sagen, dieser liebe Vater sei hier?

 

Ja, mein Herr. Ich sage noch mehr. Soeben habe ich ihn verlassen; die Geschichte, die er mir von seinem geliebten, einst verlorenen Sohn erzählte, ergriff mich ungemein; seine Schmerzen, seine Befürchtungen, seine Hoffnungen wegen dieses Sohnes klingen wie ein rührendes Gedicht. Endlich hört er eines Tags, die Räuber seines Sohnes seien bereit, den Geraubten gegen eine sehr bedeutende Summe zurückzugeben oder ihm mitzuteilen, wo er sei. Nichts hielt den guten Vater zurück. Die Summe wurde an die Grenze von Piemont geschickt … Sie befanden sich, glaube ich, im Süden Frankreichs? Ja, mein Herr, antwortete Andrea mit einer ziemlich verlegenen Miene; ja, ich befand mich im Süden Frankreichs.

 

Ein Wagen sollte Sie in Nizza erwarten?

 

So ist es, er führte mich von Nizza nach Genua und über Turin nach Paris.

 

Vortrefflich; er hoffte immer, Ihnen unterwegs zu begegnen, denn dies war die Straße, die er selbst verfolgte.

 

Aber wenn er mir begegnet wäre, dieser liebe Vater, sagte Andrea, ich zweifle, ob er mich erkannt haben würde; es ist eine ziemliche Veränderung mit mir vorgegangen, seitdem er mich aus dem Gesichte verloren hat.

 

Ah! die Stimme des Blutes, sagte Monte Christo.

 

Ah! ja, das ist wahr, erwiderte der junge Mann, ich dachte nicht an die Stimme des Blutes.

 

Nun beunruhigt nur ein Gedanke den Marquis Cavalcanti, versetzte Monte Christo; was Sie wohl getan haben, während Sie von ihm entfernt waren; wie Sie von Ihren Verfolgern behandelt worden sind; ob man Ihrer Abkunft die schuldige Rücksicht hat zu teil werden lassen, ob nicht die Fähigkeiten, mit denen Sie die Natur so reich begabte, in jener Umgebung vernachlässigt worden sind, und ob Sie selbst meinen, den Ihnen gebührenden Rang wieder einnehmen und würdig behaupten zu können.

 

Mein Herr, stammelte der junge Mann verwirrt, ich hoffe, es wird kein falscher Bericht …, übrigens, er kann ruhig sein. Die Räuber, die mich von meinem Vater entfernten und ohne Zweifel, wie sie es später getan, mich an ihn zu verkaufen beabsichtigten, berechneten, daß man mir, um einen guten Nutzen aus mir zu ziehen, meinen ganzen persönlichen Wert lassen und ihn sogar, wenn es möglich wäre, steigern müßte. Ich erhielt daher eine ziemlich gute Erziehung und wurde von den Kinderdieben ungefähr so behandelt, wie einst in Kleinasien die Sklaven, aus denen ihre Herren Grammatiker, Mediziner und Philosophen machten, um sie teuer auf dem Markte zu Rom zu verkaufen. Monte Christo lächelte zufrieden; er hatte, wie es scheint, nicht so viel von Andrea Cavalcanti gehofft.

 

Wenn sich übrigens, versetzte der junge Mann, bei mir ein Mangel an Erziehung, oder vielmehr an Weltgewandtheit zeigen sollte, so wird man wohl die Nachsicht haben, dies zu entschuldigen, in Betracht der Unglücksfälle, die mich seit meiner Jugend verfolgten.

 

Nun, Graf, Sie werden daraus machen, was Sie wollen, sagte mit gleichgültigem Tone Monte Christo; denn Sie sind der Herr, und es geht nur Sie an; doch auf mein Wort, ich würde im Gegenteil nicht eine Silbe von all diesen Abenteuern sprechen, denn Ihre Geschichte ist ein Roman, und kaum haben Sie irgend jemand davon erzählt, so wird sie völlig entstellt in der Welt umlaufen. Sie werden nicht mehr ein wiedergefundenes Kind, sondern ein Findelkind sein. Vielleicht wird Ihnen der Erfolg zuteil, daß Sie Neugierde erregen; doch nicht jeder liebt es, der Mittelpunkt von Beobachtungen und die Zielscheibe von Kommentaren zu sein. Das wird Ihnen etwas unangenehm werden.

 

Ich glaube, Sie haben recht, Herr Graf, sagte der junge Mann, unter Monte Christos unbeugsamem Blicke unwillkürlich erbleichend; es ist dies eine große Unannehmlichkeit.

 

Oh! Sie müssen sich andererseits die Sache nicht übertrieben vorstellen, entgegnete Monte Christo; denn das hieße, um einen Fehler zu vermeiden, in eine Torheit verfallen. Nein, es gilt nur, einen Plan des Vorgehens festzustellen, und von einem gescheiten Manne, wie Sie sind, läßt sich dieser Plan um so eher durchführen, als er mit Ihren Interessen im Einklang steht; Sie müssen eben durch Zeugnisse und ehrenwerte Verbindungen alles bekämpfen, was Ihre Vergangenheit etwa Dunkles hat.

 

Andrea verlor sichtbar seine Haltung.

 

Gern würde ich mich Ihnen als Bürge anbieten, sagte Monte Christo; doch es ist bei mir oberster Grundsatz, stets an meinen besten Freunden zu zweifeln, und ein Bedürfnis, auch die andern zum Zweifel anzuregen. So würde ich hier eine Rolle spielen, die nicht in meinem Fache läge, wie die Schauspieler sagen, und ich liefe Gefahr, mich auspfeifen zu lassen!

 

Herr Graf, versetzte Andrea mit kaltem Tone, ich denke jedoch, in Rücksicht auf Lord Wilmore, der mich Ihnen empfohlen hat …

 

Ja, gewiß; doch Lord Wilmore verhehlt mir nicht, mein lieber Herr Andrea, daß Sie eine etwas stürmische Jugend hinter sich haben. Oh! sagte der Graf, als er Andreas Bewegung sah, ich verlange keine Beichte von Ihnen. Dazu hat man zu Ihrer Beruhigung den Herrn Marquis Cavalcanti, Ihren Vater, von Lucca kommen lassen. Sie werden sehen, er ist ein wenig steif, etwas geschraubt; doch das ist schließlich eine Uniformfrage, und wenn man erfährt, daß er seit seinem achtzehnten Jahre in österreichischen Diensten steht, ist alles entschuldigt. Doch, ich versichere Ihnen, er genügt als Vater völlig.

 

Ah! Sie beruhigen mich, mein Herr, ich verließ ihn vor so langer Zeit, daß ich keine Erinnerung mehr an ihn habe.

 

Und Sie wissen, ein großes Vermögen läßt über vieles hinwegsehen.

 

Mein Vater ist also wirklich reich, mein Herr?

 

Millionär … 500 000 Franken Rente.

 

Ich werde mich also in einer angenehmen Lage befinden? fragte ängstlich der junge Mann.

 

In einer äußerst angenehmen, mein lieber Herr; er gibt Ihnen fünfzigtausend Franken jährlich, solange Sie in Paris bleiben.

 

Dann werde ich immer hier bleiben.

 

Ei! wer kann für die Umstände bürgen? Der Mensch denkt, Gott lenkt.

 

Andrea stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Aber solange ich in Paris bleibe und kein Umstand mich zwingt, wegzugehen, ist mir das Geld, von dem Sie soeben sprachen, sicher? Ganz gewiß.

 

Durch meinen Vater? fragte Andrea mit einer gewissen Unruhe.

 

Ja, aber garantiert durch Lord Wilmore, der Ihnen auf die Bitte Ihres Vaters einen Kredit von fünftausend Franken monatlich bei Herrn Danglars, einem der sichersten Bankiers von Paris, eröffnet hat.

 

Und mein Vater gedenkt, lange in Paris zu bleiben? fragte Andrea mit derselben Unruhe.

 

Nur einige Tage, antwortete Monte Christo. Sein Dienst erlaubt ihm nicht, länger als zwei bis drei Wochen abwesend zu sein.

 

Oh, der liebe Vater! rief Andrea, sichtbar entzückt über diese schnelle Abreise.

 

Auch will ich, versetzte Monte Christo, der sich stellte, als täuschte er sich über das in den Worten des jungen Mannes zum Ausdruck gekommene Gefühl, auch will ich die Stunde Ihrer Wiedervereinigung keinen Augenblick mehr verzögern. Sind Sie vorbereitet, den würdigen Herrn Cavalcanti zu umarmen?

 

Sie zweifeln hoffentlich nicht daran?

 

Nun, so treten Sie in diesen Salon, mein junger Freund, und Sie werden Ihren Vater finden, der Sie erwartet.

 

Andrea machte eine tiefe Verbeugung vor dem Grafen und trat in den Salon.

 

Der Graf folgte ihm mit den Augen und drückte, sobald er ihn verschwinden sah, an einer Feder, die mit einem Gemälde in Verbindung stand, das sich aus dem Rahmen schob und so durch einen geschickt angebrachten Zwischenraum den Blick in den Salon dringen ließ.

 

Andrea machte die Tür hinter sich zu und näherte sich dem Major, der sich erhob, sobald er das Geräusch seiner Tritte hörte.

 

Ah! mein Herr und lieber Vater, sagte Andrea mit lauter Stimme und so, daß es der Graf durch die geschlossene Tür hören konnte, sind Sie es wirklich?

 

Guten Tag, mein lieber Sohn, sagte der Major mit ernstem Tone.

 

Nach so vielen Jahren der Trennung, fuhr Andrea, nach der Tür schielend fort, welch ein Glück, uns wiederzusehen!

 

In der Tat, die Trennung hat lange gedauert.

 

Umarmen wir uns nicht, mein Herr? fragte Andrea.

 

Und die beiden umarmten sich, wie man sich auf der Bühne umarmt, das heißt, sie streckten sich den Kopf über die Schulter.

 

So sind wir also wieder vereinigt? sagte Andrea.

 

Wir sind wiedervereinigt, wiederholte der Major.

 

Um uns nie mehr zu trennen?

 

In der Tat; ich glaube, mein lieber Sohn, Sie betrachten Frankreich nunmehr als ein zweites Vaterland?

 

Ich wäre allerdings in Verzweiflung, wenn ich Paris verlassen müßte.

 

Und ich vermöchte, wie Sie begreifen, nicht außerhalb Luccas zu leben. Ich werde daher sobald als möglich nach Italien zurückkehren.

 

Doch ehe Sie abreisen, mein geliebter Vater, stellen Sie mir ohne Zweifel die Papiere zu, mit deren Hilfe ich imstande bin, leicht nachzuweisen, von welchem Blute ich abstamme.

 

Allerdings, denn ich komme ausdrücklich deshalb und habe es mich so viel Mühe kosten lassen, Sie zu treffen, um sie Ihnen zustellen zu können.

 

Andrea griff gierig nach dem Trauscheine seines Vaters, nach seinem eigenen Taufscheine und durchlief, nachdem er das Ganze mit einem bei einem guten Sohn erklärlichen Ungestüm geöffnet hatte, die Papiere mit einer Hast und Gewandtheit, die zugleich das geübte Auge und das lebhafteste Interesse verrieten.

 

Als er damit zu Ende war, erglänzte ein unbeschreiblicher Ausdruck von Freude auf seiner Stirn, und er sagte, den Major mit einem seltsamen Lächeln anschauend, in vortrefflichem Toskanisch: Ah! es gibt also keine Galeeren in Italien?

 

Der Major warf sich zurück und rief: Was meinen Sie?

 

Daß man ungestraft solche Dokumente fabriziert? Für die Hälfte davon, mein vielgeliebter Vater, würde man Sie in Frankreich auf fünf Jahre die Luft von Toulon einatmen lassen.

 

Wie beliebt? sagte der Lukkeser, der eine majestätische Miene zu erlangen suchte.

 

Mein lieber Herr Cavalcanti, sagte Andrea, den Major am Arme fassend, wieviel gibt man Ihnen dafür, daß Sie mein Vater sind?

 

Der Major wollte sprechen.

 

Stille! sagte Andrea, die Stimme dämpfend, ich will Ihnen zuerst Vertrauen schenken; man bezahlt mir fünfzigtausend Franken jährlich dafür, daß ich Ihr Sohn bin; Sie begreifen folglich, daß ich nie geneigt sein werde, zu leugnen, Sie seien mein Vater.

 

Der Major schaute unruhig umher.

 

Oh! seien Sie unbesorgt, wir sind allein, versetzte Andrea; überdies sprechen wir Italienisch.

 

Nun wohl, mir gibt man ein für alle Mal fünfzigtausend Franken, sprach der Lukkeser.

 

Herr Cavalcanti, glauben Sie an Feenmärchen?

 

Nein, früher nicht; aber jetzt muß ich daran glauben.

 

Sie haben also Beweise erhalten?

 

Der Major zog eine Handvoll Gold aus seiner Tasche.

 

Handgreifliche, wie Sie sehen.

 

Sie denken, ich könne den Versprechungen trauen, die man mir gemacht hat?

 

Ich glaube es.

 

Und dieser brave Mann von einem Grafen werde sie halten?

 

Punkt für Punkt; doch Sie begreifen, um zu diesem Ziele zu gelangen, müssen wir unsere Rollen spielen.

 

Wie denn? Ich als zärtlicher Vater.

 

Und ich als ehrfurchtsvoller Sohn.

 

Da sie verlangen, daß Sie von mir abstammen.

 

Welche sie?

 

Verdammt, ich weiß es nicht, die, welche uns schrieben; haben Sie nicht auch einen Brief bekommen?

 

Doch wohl.

 

Von wem?

 

Von einem gewissen Abbé Busoni.

 

Den Sie nicht kennen?

 

Ich habe ihn nie gesehen. Was sagte Ihnen der Brief, den Sie erhielten?

 

Sie werden mich nicht verraten?

 

Ich werde mich wohl hüten, unsere Interessen sind dieselben.

 

So lesen Sie.

 

Und der Major gab dem jungen Mann einen Brief.

 

Andrea las mit leiser Stimme:

 

Sie sind arm, ein unglückliches Alter erwartet Sie. Wollen Sie, wenn nicht reich, doch wenigstens unabhängig werden?

 

Reisen Sie auf der Stelle nach Paris und fordern Sie bei dem Herrn Grafen von Monte Christo, Avenue des Champs Elysées, Nr. 30, den Sohn zurück, den Sie von der Marchesa Corsinari gehabt haben und der Ihnen in einem Alter von fünf Jahren gestohlen worden ist.

 

Dieser Sohn heißt Andrea Cavalcanti.

 

Damit Sie die Absicht des Unterzeichneten, Ihnen angenehm zu sein, nicht in Zweifel ziehen, finden Sie anbei:

 

Eine Anweisung von zweitausend vierhundert toskanischen Lire, zahlbar bei Herrn Gozzi in Florenz.

 

Einen Brief zum Zweck der Einführung bei dem Herrn Grafen von Monte Christo, auf den ich Sie mit einer Summe von achtundvierzigtausend Franken akkreditiere.

 

Finden Sie sich am 26. Mai abends um sieben Uhr bei dem Grafen ein.

 

Abbé Busoni.

 

So ist es.

 

Wie, so ist es? Was wollen Sie damit sagen? fragte der Major.

 

Ich sage, daß ich einen ungefähr ähnlichen Brief erhalten habe.

 

Sie? Von dem Abbé Busoni?

 

Von einem Engländer, von einem gewissen Lord Wilmore, der den Namen Simbad der Seefahrer annahm.

 

Und den Sie ebensowenig kennen, wie ich den Abbé Busoni?

 

Doch; ich bin weiter vorgerückt als Sie.

 

Sie haben ihn gesehen?

 

Ja, einmal.

 

Wo?

 

Ah! das ist es gerade, was ich Ihnen nicht sagen kann; sonst wüßten Sie so viel wie ich, und das ist nicht nötig.

 

Dieser Brief sagte Ihnen?

 

Lesen Sie!

 

Sie sind arm und sehen nur einer elenden Zukunft entgegen; wollen Sie einen Namen haben, frei sein, reich sein?

 

Nehmen Sie den Postwagen, den Sie bespannt finden, wenn Sie von Nizza durch das Genueser Tor weggehen. Reisen Sie durch Turin, Chambéry und Pont-de-Beauvoisin. Begeben Sie sich zu dem Grafen von Monte Christo, Avenue des Champs Elysées, am 26. Mai um sieben Uhr abends, und fordern Sie Ihren Vater von ihm.

 

Sie sind der Sohn des Marquis Bartolomeo Cavalvanti und der Marchesa Oliva Corsinari, wie dies die Ihnen von dem Marquis zu übergebenden Papiere bestätigen werden, die Ihnen unter diesem Namen in der Pariser Welt zu erscheinen gestatten.

 

Was Ihren Rang betrifft, so wird Sie eine Rente von fünfzigtausend Lire in den Stand setzen, denselben zu behaupten.

 

Sie erhalten anbei eine Anweisung auf fünftausend Lire an Herrn Ferrea, Bankier zu Nizza, und einen Einführungsbrief für den Grafen von Monte Christo, der von mir beauftragt ist, für die Befriedigung aller Ihrer Bedürfnisse zu sorgen.

 

Simbad der Seefahrer.

 

Hm, sagte der Major, das ist sehr schön!

 

Nicht wahr?

 

Sie haben den Grafen gesehen? Hat er anerkannt? Alles.

 

Begreifen Sie etwas hiervon?

 

Meiner Treu, nein.

 

In dieser ganzen Geschichte ist einer der Tor.

 

Auf jeden Fall weder Sie noch ich.

 

Nein, gewiß nicht.

 

Wohl, aber wer sonst?

 

Daran ist wenig gelegen, nicht wahr?

 

Allerdings, das wollte ich eben sagen; setzen wir unsere Rollen fort und spielen ein gemeinschaftliches Spiel. Gut; Sie werden mich würdig finden, Ihr Partner zu sein. Ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt, mein lieber Vater.

 

Sie erweisen mir viel Ehre, mein lieber Sohn.

 

Monte Christo wählte diesen Augenblick, um in den Salon zurückzukehren. Als sie das Geräusch seiner Tritte hörten, warfen sie sich in die Arme; der Graf fand sie eng umschlossen.

 

Nun, Herr Marquis, es scheint, Sie haben einen Sohn nach Ihrem Herzen wiedergefunden?

 

Ah! Herr Graf, die Freude erstickt mich fast.

 

Und Sie, junger Mann?

 

Ah! Herr Graf, das Glück erstickt mich.

 

 

Glücklicher Vater! glückliches Kind! rief der Graf. Nur eines betrübt mich, sagte der Major; die Notwendigkeit, in der ich mich befinde, Paris so schnell zu verlassen. Oh! lieber Herr Cavalcanti, Sie werden hoffentlich nicht eher abreisen, als bis ich Sie einigen Freunden vorgestellt habe, entgegnete Monte Christo.

 

Ich stehe dem Herrn Grafen zu Befehl, sagte der Major. Nun beichten Sie, junger Mann, sagte Monte Christo.

 

Wem?

 

Ihrem Herrn Vater, sagen Sie ihm ein paar Worte von dem Zustand Ihrer Finanzen.

 

Ah! Teufel! rief Andrea; Sie berühren die empfindlichste Seite.

 

Hören Sie, Major? sagte Monte Christo.

 

Allerdings höre ich.

 

Das gute Kind sagt, es brauche Geld!

 

Was soll ich tun?

 

Bei Gott, Sie müssen ihm geben!

 

Ich?

 

Ja Sie.

 

Monte Christo trat zwischen beide.

 

Nehmen Sie, sagte er zu Andrea und drückte ihm ein Päckchen mit Banknoten in die Hand.

 

Was ist das?

 

Die Antwort Ihres Vaters.

 

Meines Vaters?

 

Gaben Sie ihm nicht zu verstehen, Sie hätten Geld nötig? Ja. Nun?

 

Er beauftragt mich, Ihnen dies zuzustellen. Auf Abschlag von meiner Rente?

 

Nein, zur Deckung Ihrer Einrichtungskosten.

 

Oh, teurer Vater!

 

Still, sagte Monte Christo, Sie sehen, ich soll Ihnen nicht sagen, daß es von ihm kommt.

 

Ich weiß diese Zartheit zu würdigen, versetzte Andrea und steckte die Banknoten in seine Tasche.

 

Es ist gut, gehen Sie nun! sagte Monte Christo. Und wann werden wir die Ehre haben, den Herrn Grafen wiederzusehen? fragte Cavalcanti

 

Ah! ja, wiederholte Andrea; wann werden wir diese Ehre haben?

 

Sonnabend, wenn Sie wollen … ja … Sonnabend. Ich habe in meinem Hause in Auteuil, Rue de la Fontaine, Nr. 30, mehrere Personen bei Tische, und unter anderen Herrn Danglars, Ihren Bankier; ich werde Sie ihm vorstellen, denn er muß Sie beide kennen, um Ihnen Ihr Geld auszuzahlen.

 

In Gala? fragte mit heller Stimme der Major.

 

In Gala: Uniform, Kreuze, kurze Hose.

 

Und ich? fragte Andrea.

 

Oh! Sie, sehr einfach. Schwarze Beinkleider, lackierte Stiefel, weiße Weste, schwarzer Frack, lange Halsbinde; lassen Sie sich bei Blin oder bei Veronique kleiden. Baptistin wird Ihnen die Adresse dieser Herrn geben. Je weniger anspruchsvoll Sie sich kleiden, desto besser wird bei Ihrem Reichtum die Wirkung sein. Kaufen Sie Pferde, so nehmen Sie sie bei Dedeveux; brauchen Sie einen Wagen, so gehen Sie zu Baptiste.

 

Um welche Stunde dürfen wir uns einfinden?

 

Gegen halb sieben Uhr.

 

Es ist gut, man wird nicht verfehlen, sagte der Major, nach seinem Hute greifend.

 

Die beiden Cavalcanti verbeugten sich und verließen das Zimmer.

 

Der Graf näherte sich dem Fenster und sah sie Arm in Arm durch den Hof schreiten.

 

In der Tat, sagte er, das sind zwei große Schufte! Wie schade, daß sie einander nicht wirklich als Vater und Sohn angehören!

 

Dann fügte er nach einem Augenblick düsteren Nachdenkens hinzu: Wir wollen zu den Morels gehen; ich glaube, der Ekel greift mein Herz noch mehr an, als der Haß.

 

Unsere Leser müssen uns nun erlauben, sie zu dem an das Haus des Herrn von Villefort grenzenden Luzernengehege zu führen, wo wir hinter dem von Kastanienbäumen überschatteten Gitter uns befreundete Personen finden.

 

Das Luzernengehege.

 

Das Luzernengehege.

 

Diesmal hat sich Maximilian zuerst eingefunden. Er lauert in dem tiefgelegenen Garten auf eine Erscheinung zwischen den Bäumen und auf das Knistern eines seidenen Schuhes auf dem Sande der Allee.

 

Endlich läßt sich das so lang ersehnte Knistern hören, aber statt einer Gestalt erscheinen zwei. Die Zögerung Valentines war durch einen Besuch der Frau Danglars und Eugenies, der sich über die Stunde, wo Valentine erwartet wurde, ausgedehnt hatte, veranlaßt worden. Um das Stelldichein nicht ganz zu versäumen, schlug Valentine Fräulein Danglars einen Spaziergang im Garten vor, denn sie wollte Maximilian zeigen, daß sie nicht schuld an dem Verzuge sei, unter dem er ohne Zweifel gelitten.

 

Der junge Mann begriff alles mit der den Liebenden eigenen schnellen Auffassung, und sein Herz war erleichtert. Ohne bis in den Bereich der Stimme zu kommen, richtete Valentine doch ihren Spaziergang so ein, daß Maximilian sie hin und her gehen sehen konnte, und jeder dem jungen Mann zugeworfene Blick sagte ihm: Fassen Sie Mut, Freund, Sie sehen, daß es nicht meine Schuld ist.

 

Und Maximilian faßte in der Tat Mut, während er den Kontrast zwischen den beiden Mädchen bewunderte, zwischen der Blonden mit schmachtenden Augen und vorgebeugter Gestalt, gleich einer schönen Weide, und der Braunen mit den stolzen Augen und dem pappelartig geraden Wuchse. Es versteht sich von selbst, daß bei dieser Vergleichung zwischen zwei so entgegengesetzten Naturen der Vorzug, wenigstens von dem jungen Manne, Valentine eingeräumt wurde.

 

Nach einem halbstündigen Spaziergang entfernten sich die beiden Mädchen. Maximilian begriff, daß Frau Danglars‘ Besuch zu Ende war.

 

Eine Minute nachher erschien Valentine wirklich wieder allein. Aus Furcht, ein neugieriger Blick könne ihr folgen, kam sie langsam; und statt unmittelbar auf das Gitter zuzuschreiten, setzte sie sich auf eine Bank, während sie scheinbar absichtslos jedes Gebüsch untersuchte und das Auge in die Tiefe der Allee hinabsandte. Nach diesen Vorsichtsmaßregeln lief sie zu dem Gitter.

 

Guten Morgen, Valentine, sagte eine Stimme.

 

Guten Morgen Maximilian; ich ließ Sie warten, aber Sie haben wohl die Ursache gesehen?

 

Ja, ich erkannte Fräulein Danglars; doch ich glaubte nicht, daß Sie in so enger Verbindung mit dieser Dame ständen.

 

Wir plauderten miteinander, und sie gestand mir ihren Widerwillen gegen eine Verbindung mit Herrn von Morcerf, und ich gestand ihr, daß ich es als ein Unglück betrachte, Herrn d’Epinay heiraten zu sollen.

 

Teure Valentine!

 

Deshalb, mein Freund, sahen Sie diese scheinbare Harmonie zwischen mir und Eugenie! Während ich aber von dem Manne sprach, den ich nicht lieben kann, dachte ich an den Mann, den ich liebe.

 

Sie sind gut in allen Dingen, Sie haben etwas an sich, was Fräulein Danglars nie haben wird: den unerklärlichen Zauber, der bei der Frau das ist, was der Wohlgeruch bei der Blume, der Wohlgeschmack bei der Frucht; denn bei der Blume wie bei der Frucht ist mit der Schönheit nicht alles getan.

 

Ihre Liebe läßt Sie mich so anschauen!

 

Nein, Valentine, das schwöre ich Ihnen. Ich betrachtete Sie beide vorhin, und bei meiner Ehre, während ich der Schönheit Fräulein Danglars‘ Gerechtigkeit widerfahren ließ, begriff ich doch nicht, wie sich ein Mann in sie verlieben könnte – doch gestatten Sie eine Frage der bloßen Neugierde: Liebt Fräulein Danglars einen andern, daß sie sich einer Verheiratung mit Herrn von Morcerf scheut?

 

Sie sagte mir, sie liebe niemand, sagte Valentine; sie verabscheue die Ehe; ihre größte Freude wäre es gewesen, ein freies und unabhängiges Leben zu führen, und sie wünschte beinahe, ihr Vater möchte sein Vermögen verlieren, daß sie wie ihre Freundin, Fräulein Luise d’Armilly, Künstlerin werden könnte.

 

Ah, das ist interessant, doch ich wollte Ihnen sagen, daß ich kürzlich Herrn von Morcerf getroffen habe. Franz ist sein Freund, wie Sie wissen; er kündigte mir seine nahe bevorstehende Rückkehr an.

 

Valentine erbleichte und hielt sich am Gitter.

 

Ah, mein Gott! sagte sie, wenn dies so wäre! Frau von Villefort ließ mich vorhin wissen, ich sollte in zehn Minuten bei ihr sein; sie habe mir eine für mich äußerst wichtige Nachricht mitzuteilen. Ob Sie wohl diese Nachricht meint? Doch nein, diese Mitteilung käme nicht von Frau von Villefort.

 

Warum nicht?

 

Warum … ich weiß es nicht … doch es scheint mir, wenn sich Frau von Villefort auch nicht offen widersetzt, so ist sie doch nicht für diese Heirat eingenommen.

 

Ah! Valentine, ich glaube, ich werde Frau von Villefort anbeten.

 

Oh! nicht zu eilig, Maximilian, sagte Valentine mit einem traurigen Lächeln.

 

Wenn sie aber gegen diese Heirat aus irgend einem Grunde eingenommen ist, würde ihr Ohr nicht vielleicht für einen andern Antrag offen sein?

 

Glauben Sie dies nicht, Maximilian! Nicht die Ehesucher verwirft Frau von Villefort, sondern die Ehe.

 

Wie, die Ehe? Wenn sie die Ehe so sehr haßt, warum hat sie sich verheiratet?

 

Sie verstehen mich nicht, Maximilian. Als ich vor einem Jahre den Gedanken äußerte, mich in ein Kloster zurückzuziehen, nahm sie trotz der Bemerkungen, die sie dagegen machen zu müssen glaubte, meinen Vorschlag mit Freuden an, und ich bin fest überzeugt, auch mein Vater gab auf ihren Antrieb seine Einwilligung dazu; nur mein armer Großvater hielt mich zurück. Sie können sich nicht vorstellen, Maximilian, welcher Ausdruck in den Augen dieses armen Greises liegt, der nur mich allein in der Welt liebt und, Gott verzeihe mir, wenn dies eine Lästerung ist, nur von mir allein in der Welt geliebt wird. Wenn Sie wüßten, wie er mich anschaute, wieviel Vorwurf in diesem Blicke, wieviel Verzweiflung in diesen Tränen lag, die ohne Klagen, ohne Seufzer an seinen unbeweglichen Wangen herabrollten! Ah, Maximilian, ich fühlte etwas wie einen Gewissensbiß, warf mich ihm zu Füßen und rief: Verzeihung! Verzeihung! mein Vater, man mag mit mir machen, was man will, ich werde Sie nie verlassen. Dann schlug er die Augen zum Himmel auf! Maximilian, ich kann viel erdulden; dieser Blick meines guten, alten Großvaters hat mich zum voraus für das belohnt, was ich leiden werde.

 

Teure Valentine! Sie sind ein Engel.

 

Hören Sie weiter! Ich habe als Erbteil von meiner Mutter gegen 50 000 Franken Rente; mein Großvater und meine Großmutter, der Marquis und die Marquise von Saint-Meran, müssen mir ebensoviel hinterlassen; Herr Noirtier hat offenbar die Absicht, mich zu seiner einzigen Erbin einzusetzen. Daraus geht hervor, daß mein Bruder Eduard im Vergleiche mit mir, da er kein Vermögen von Frau von Villefort zu erwarten hat, arm ist. Frau von Villefort aber liebt dieses Kind, und hätte ich den Schleier genommen, so wäre mein ganzes Vermögen von meinem Vater, der alles von dem Marquis, der Marquise und mir erbte, ihrem Sohne zugekommen.

 

Oh, wie sonderbar ist eine solche Habgier bei einer jungen und hübschen Frau!

 

Bemerken Sie wohl, daß sie nicht für sich, sondern für ihren Sohn danach trachtet, und daß das, was Sie ihr als einen Fehler vorwerfen, aus dem Gesichtspunkte der mütterlichen Liebe betrachtet, fast eine Tugend ist.

 

Wie wäre es aber, Valentine, wenn Sie einen Teil Ihres Vermögens diesem Sohne abtreten wollten?

 

Aber wie einen solchen Vorschlag machen, und besonders einer Frau gegenüber, die beständig das Wort Uneigennützigkeit auf der Zunge führt?

 

Valentine, meine Liebe ist mir stets heilig geblieben, und wie jede heilige Sache, habe ich sie mit dem Schleier meiner Achtung bedeckt und in meinem Herzen eingeschlossen. Niemand in der Welt, nicht einmal meine Schwester, hat eine Ahnung von dieser Liebe, Valentine, erlauben Sie mir, mit einem Freunde über diese Liebe zu sprechen?

 

Valentine bebte und erwiderte: Mit einem Freunde? Oh, mein Gott! Maximilian, ich zittere, wenn ich Sie nur so reden höre! Mit einem Freunde, und wer ist denn dieser Freund?

 

Teure Freundin, Sie kennen ihn, er hat Ihrer Stiefmutter und ihrem Sohne das Leben gerettet.

 

Der Graf von Monte Christo? Oh! er kann nie mein Freund sein, denn er ist zu sehr der meiner Stiefmutter.

 

Der Graf der Freund Ihrer Stiefmutter, Valentine? Ich bin überzeugt, daß Sie sich täuschen, sagte Maximilian.

 

Oh! wenn Sie wüßten, nicht Eduard regiert mehr im Hause, sondern der Graf: hochgeschätzt von Frau von Villefort, die in ihm den Inbegriff aller menschlichen Kenntnisse erblickt, bewundert von meinem Vater, der behauptet, er habe nie mit mehr Beredsamkeit erhabene Gedanken aussprechen hören, und vergöttert von Eduard, der ihm, trotz seiner Furcht vor seinen großen, schwarzen Augen, entgegenläuft, sobald er ihn kommen sieht, und ihm die Hand öffnet, wo er stets ein bewunderungswürdiges Spielzeug findet. Auf diese Art ist der Graf Monte Christo Herr in unserm Hause.

 

Gut, Valentine, wenn es sich so verhält, wie Sie sagen, so müssen Sie bereits die Wirkungen seiner Gegenwart fühlen oder werden sie wenigstens bald fühlen. Er trifft Albert von Morcerf in Italien, um ihn den Händen von Räubern zu entreißen; er erblickt Frau Danglars, um ihr ein königliches Geschenk zu machen; Ihre Stiefmutter und Ihr Bruder fahren vor seiner Tür vorüber, damit sein Nubier ihnen das Leben rettet. Dieser Mann besitzt offenbar die Macht, auf die Ereignisse, auf die Menschen und auf die Dinge einen Einfluß zu üben. Ich sah nie einen einfacheren Geschmack in Verbindung mit größerer Pracht. Sein Lächeln ist so süß, wenn er es mir zuwendet, daß ich vergesse, wie bitter die andern sein Lächeln finden. Oh! sagen Sie mir, Valentine, hat er Ihnen so zugelächelt? Wenn er dies getan, so werden Sie glücklich sein.

 

Mir! rief das junge Mädchen; oh, mein Gott! Maximilian, er schaut mich nicht einmal an, oder er wendet vielmehr das Auge ab, wenn ich zufällig in seine Nähe komme. Nein, er ist nicht edelmütig, oder er besitzt nicht den scharfen Blick, der in der Tiefe der Herzen liest und den Sie mit Unrecht bei ihm voraussetzen. Besäße er diesen Blick, so würde er gesehen haben, daß ich unglücklich bin; wäre er edelmütig, so würde er seinen Einfluß zu meinem Schutze angewendet haben, und spielte er, wie Sie sagen, die Rolle der Sonne, so hätte sich mein Herz an einem ihrer Strahlen erwärmt. Sie behaupten, er sei Ihr Freund, Maximilian; ei, mein Gott! woher wissen Sie dies?

 

Es ist gut, Valentine, erwiderte Morel seufzend; sprechen wir nicht mehr davon, ich werde ihm nichts sagen!

 

Ach! mein Freund, ich betrübe Sie. Oh, warum kann ich Ihnen nicht die Hand drücken, um mir Verzeihung von Ihnen zu erbitten! Doch mir wäre nichts lieber, als wenn ich überzeugt würde; sagen Sie mir, was hat denn dieser Graf von Monte Christo für Sie getan?

 

Ich gestehe, Sie setzen mich sehr in Verlegenheit, Valentine, wenn Sie mich fragen, was er für mich getan habe; ich weiß wohl, es ist nichts Auffallendes. Auch entspringt meine Zuneigung für ihn rein dem Zuge des Herzens, und ich kann sie nicht verstandesgemäß begründen. Hat die Sonne etwas für mich getan? Nein; sie erwärmt mich, und ihr Licht läßt mich Sie erblicken. Hat dieser oder jener Wohlgeruch etwas für mich getan? Nein; sein Duft erquickt auf eine angenehme Weise meine Sinne; ich kann nichts weiter sagen, wenn man mich fragt, warum ich diesen Wohlgeruch rühme. Meine Freundschaft für den Grafen ist unerklärlich, wie die seinige für mich. Eine geheime Stimme offenbart mir, daß diese unvorhergesehene und gegenseitige Freundschaft mehr als Zufall ist. Ich finde in seinen einfachsten Handlungen, in seinen geheimsten Gedanken einen Zusammenhang mit meinen Handlungen und meinen Gedanken. Sie werden abermals über mich lachen, Valentine; aber seitdem ich diesen Mann kenne, ist mir der törichte Gedanke gekommen, alles, was mir Gutes begegne, entströme ihm. Und dennoch habe ich dreißig Jahre gelebt, ohne dieses Beschützers zu bedürfen … nicht wahr? Gleichviel, hören Sie ein Beispiel: Er hat mich auf Sonnabend zum Mittagessen eingeladen, das ist bei unserem Verhältnis zu einander ganz natürlich, nicht wahr? Nun, was habe ich seitdem erfahren? Ihr Vater ist zu diesem Mittagessen eingeladen, Ihre Mutter wird kommen. Ich werde mit ihnen zusammentreffen, und wer weiß, was in der Zukunft hieraus entspringt? Das sind scheinbar ganz einfache Umstände. Ich aber sage mir, der Graf, dieser sonderbare Mann, der alles errät, habe mich mit Herrn und Frau von Villefort zusammenbringen wollen, und ich suche bisweilen, das schwöre ich Ihnen, in seinen Augen zu lesen, ob er nicht meine Liebe erraten hat.

 

Guter Freund, entgegnete Valentine, ich müßte Sie für einen Träumer und Schwärmer halten und an Ihrem Verstande zweifeln, wenn ich von Ihnen nur solche Bemerkungen hörte. Wie, Sie sehen in diesem Zusammentreffen etwas anderes als einen Zufall? Bedenken Sie doch! Mein Vater, der nie ausgeht, war zehnmal auf dem Punkte, diese Einladung abzuschlagen, trotz der Bitte der Frau von Villefort, die im Gegenteil vor Verlangen brennt, den wunderbaren Nabob in seinem Hause zu sehen, und nur mit großer Mühe hat sie es dahin gebracht, daß er sie begleite. Nein, nein, glauben Sie mir, Maximilian, abgesehen von Ihnen, habe ich von niemand auf dieser Welt Hilfe zu erwarten, als von meinem Großvater, einem Leichnam.

 

Ich fühle, daß Sie recht haben, Valentine, und daß die Logik auf Ihrer Seite ist! Doch Ihre sanfte, stets für mich so mächtige Stimme überzeugt mich heute nicht.

 

Die Ihrige mich auch nicht, und ich gestehe, wenn Sie keinen weiteren Grund anzuführen wissen …

 

Ich weiß einen, sagte Maximilian zögernd; doch in der Tat, Valentine, ich muß selbst bekennen, er ist noch törichter als der erste.

 

Desto schlimmer, versetzte lächelnd Valentine.

 

Nun, so schauen Sie durch die Bretter, und sehen Sie dort an einem Baume das neue Pferd, mit dem ich gekommen bin.

 

Oh! ein herrliches Tier! rief Valentine, warum haben Sie es nicht zum Gitter geführt? Ich hätte mit ihm gesprochen, und es würde mich verstanden haben.

 

Es ist in der Tat ein sehr wertvolles Tier; Sie wissen aber, daß mein Vermögen beschränkt ist, Valentine, und daß ich das bin, was man einen vernünftigen Menschen nennt. Nun, ich hatte diese herrliche Medea, so nenne ich sie, bei einem Pferdehändler gesehen; ich fragte nach dem Preise; man antwortete mir: 4500 Franken. Ich mußte mich, wie Sie begreifen, enthalten, sie länger schön zu finden, und entfernte mich mit schwerem Herzen, denn das Pferd hatte mich zärtlich angeschaut, mich mit seinem Kopfe geliebkost und, als ich auf ihm saß, auf die anziehendste Weise unter mir getanzt. An demselben Abend sah ich einige Freunde bei mir, Herrn Debray und fünf bis sechs andere Taugenichtse, die Sie nicht einmal dem Namen nach kennen. Man schlug ein Hazardspiel vor; ich spiele nie, denn ich bin nicht reich genug, um verlieren zu können, und nicht arm genug, um einen Gewinn zu wünschen. Doch Sie begreifen, ich war Wirt und konnte nichts anderes tun, als Karten holen lassen. Als man sich zur Tafel setzte, kam Herr von Monte Christo. Man spielte, und ich gewann; kaum wage ich es zu gestehen, Valentine, ich gewann fünftausend Franken. Wir trennten uns um Mitternacht. Ich konnte mich nicht halten, nahm einen Wagen und ließ mich zu meinem Pferdehändler führen. Ich stürzte durch die Tür, trat in den Stall und schaute nach der Raufe. Oh Glück! Medea knaupelte an ihrem Haber. Ich ergreife einen Sattel, befestige ihn selbst auf dem Rücken, lege den Zaum an, und Medea zeigt sich mit meinem Tun durchaus einverstanden. Dann händige ich dem erstaunten Kaufmann die 4500 Franken ein und reite die ganze Nacht auf den Champs-Elysées spazieren. Ich sah Licht an den Fenstern des Grafen, und es kam mir sogar vor, als erblickte ich seinen Schatten hinter den Vorhängen. Nun wollte ich schwören, Valentine, der Graf wußte, daß ich dieses Pferd wünschte, und verlor absichtlich, um mich gewinnen zu lassen.

 

Mein lieber Maximilian, Sie sind in der Tat zu phantastisch … und werden mich nicht lange lieben … ein Mann, der so poetische Anschauungen hat, wird eine eintönige Liebe wie die unsrige bald satt bekommen. Doch hören Sie, großer Gott, man ruft mich.

 

Oh! Valentine, durch die kleine Öffnung des Verschlags Ihren kleinsten Finger … daß ich ihn küssen kann.

 

Maximilian, wir sagten, wir wollten füreinander nichts als zwei Stimmen, zwei Schatten bleiben.

 

Nach Ihrem Belieben, Valentine.

 

Werden Sie glücklich sein, wenn ich tue, was Sie wollen?

 

Ganz gewiß!

 

Valentine stieg auf eine Bank und streckte, nicht ihren kleinen Finger durch die Öffnung, sondern ihre ganze Hand über den Verschlag.

 

Maximilian stieß einen Schrei aus, sprang auf einen Stein, ergriff die teure Hand und drückte seine glühenden Lippen darauf; doch sogleich entschlüpfte die Hand wieder der seinigen, und der junge Mann hörte Valentine, die vielleicht über die Empfindung erschrocken war, die sich ihrer bemächtigt hatte, rasch entfliehen.