Erscheinungen.

 

Erscheinungen.

 

Auf der Fahrt durch die dunkle Stadt sprach Franz kein Wort, sein Geist beschäftigte sich mit dem, was er über Luigi Vampa gehört hatte, denn es war ihm befremdlich erschienen, daß Pastrini dabei den Namen seines Gastgebers auf Monte Christo genannt und diese Insel als Schlupfwinkel der Banditen bezeichnet hatte. Dabei erinnerte er sich, daß er bei seiner Landung auf Monte Christo bei den Matrosen auch zwei flüchtige Banditen getroffen hatte. So sehr auch alles dies seinen Geist beschäftigte, so war es doch völlig vergessen in dem Augenblick, wo er das düstere, riesige Gespenst des Kolosseums, auf das der Mond seine langen, bleichen Strahlen warf, vor sich sah. Der Wagen hielt, die jungen Leute sprangen heraus und standen vor einem Führer. Franz kannte das Kolosseum, denn er hatte es bereits mehr als zehnmal besucht; aber auf seinen Gefährten, der das gewaltige Monument zum erstenmal betrat, brachte der Anblick einen mächtigen Eindruck hervor. Man hat in der Tat, wenn man es nicht gesehen, keinen Begriff von der Majestät einer solchen Ruine, deren Verhältnisse in dieser geheimnisvollen Beleuchtung des südlichen Mondes verdoppelt erscheinen.

 

Kaum hatte Franz gedankenvoll hundert Schritt unter den inneren Säulengängen gemacht, als er, Albert seinem Führer überlassend, der ihm den Löwengraben, die Loge der Gladiatoren, das Podium der Cäsaren zeigen wollte, eine halb in Trümmer zerfallene Treppe hinaufstieg und sich im Schatten einer Säule vor einem Ausschnitte niederließ, der ihm den Granitriesen in seiner ganzen majestätischen Ausdehnung zu erfassen gestattete. Franz war ungefähr eine Viertelstunde hier und blickte jetzt nach Albert hinüber, der, begleitet von zwei Fackelträgern, aus einer Vertiefung am andern Ende des Kolosseums hervorkam. Die Führer stiegen eben wie Schatten, die einem Irrlichte folgen, von Stufe zu Stufe zu den den Vestalinnen vorbehaltenen Plätzen hinab, als es ihm schien, als hörte er in die Tiefen des Gebäudes einen von der gegenüberliegenden Treppe abgestürzten Stein rollen. Es kam ihm vor, als wäre der Stein unter dem Fuße eines Menschen gewichen, und als vernähme er ein Geräusch.

 

Nach einen: Augenblick erschien wirklich ein Mensch; er trat allmählich aus dem Schatten hervor, während er die von dem Monde beleuchtete Treppe hinaufstieg. Es konnte ein Reisender sein, wie er, der eine einsame Betrachtung dem Geschwätz seiner Führer vorzog, aber aus dem vorsichtigen Zögern, mit dem er die letzten Stufen erstieg, aus der Art und Weise, wie er, auf der Plattform angelangt, still stand und zu horchen schien, ging klar hervor, daß er zu einem besonderen Zwecke gekommen war und auf jemand wartete. Unwillkürlich verbarg sich Franz so viel als möglich hinter der Säule. Zehn Schritte davon war das Gewölbe ausgebrochen, und eine runde Öffnung ließ den mit Sternen besäten Himmel hereinschauen. Um diese Öffnung her, die vielleicht schon seit Jahrhunderten den Mondstrahlen Durchgang gestattete, wuchsen Gesträuche, deren grüne Umrisse sich kräftig von dem matten Azur des Firmaments abhoben, während große Lianen und mächtige Efeuranken von der obern Terrasse herabhingen und sich, schwelgendem Tauwerk ähnlich, unter dem Gewölbe wiegten.

 

Der Mann, dessen geheimnisvolles Erscheinen Franzens Aufmerksamkeit erregt hatte, stand so im Halbdunkel, daß man seine Züge nicht zu unterscheiden vermochte, doch war die Tracht des Unbekannten zu erkennen: er war in einen großen braunen Mantel gehüllt, dessen rechte Spitze, über die linke Schulter geworfen, den unteren Teil seines Gesichtes verbarg, während sein breitkrempiger Hut seinen Kopf bedeckte. Nur das äußerste Ende seiner Kleidung wurde von dem schiefen Lichte beleuchtet, das durch die Öffnung drang und ein schwarzes, einen Lackstiefel zierlich umschließendes Beinkleid gewahren ließ. Der Mann gehörte offenbar, wenn nicht der Aristokratie, doch wenigstens der guten Gesellschaft an. Er war ungefähr zehn Minuten anwesend und gab sichtbare Zeichen der Ungeduld von sich, als sich ein leichtes Geräusch auf der obern Terrasse hören ließ. In demselben Augenblick verdeckte ein Schatten den Lichtschein, ein Mann zeigte sich an der Öffnung, tauchte seinen durchdringenden Blick in die Finsternis und gewahrte den Mann im Mantel; sogleich ergriff er eine Handvoll herabhängender Lianen und Efeuranken, ließ sich hinabgleiten und sprang, sobald er nur noch drei Fuß vom Boden entfernt war, leicht zur Erde. Dieser Mann zeigte die vollständige Tracht eines Trasteveriners.

 

 

Entschuldigen Sie, Exzellenz, sagte er in römischem Dialekt, ich ließ Sie warten, doch nur ein paar Minuten, denn es hat soeben zehn Uhr geschlagen.

 

Ich kam zu früh und nicht Ihr zu spät, antwortete der Fremde, also keine Umstände; hättet Ihr mich übrigens auch warten lassen, so würde ich vermutet haben, ein von Eurem Willen unabhängiger Beweggrund halte Euch zurück.

 

Und Sie hätten recht gehabt, Exzellenz, ich komme vom Kastell St. Angelo, wo ich die größte Mühe hatte, bis es mir endlich gelang, mit Beppo zu sprechen.

 

Wer ist Beppo?

 

Beppo ist ein Angestellter beim Gefängnis, dem ich eine kleine Rente dafür zukommen lasse, daß ich erfahre, was im Innern der Burg Seiner Heiligkeit vorgeht.

 

Ah! ah! ich sehe, Ihr seid ein vorsichtiger Mann, mein Lieber.

 

Man weiß nicht, was geschehen kann, Exzellenz; vielleicht werde ich auch eines Tages im Netze gefangen, wie der arme Peppino, und bedarf einer Ratte, um einige Maschen meines Gefängnisses zu durchnagen.

 

Sprecht, was habt Ihr in Erfahrung gebracht?

 

Dienstag um zwei Uhr sollen zwei Hinrichtungen stattfinden, wie dies in Rom bei Eröffnung großer Feste gebräuchlich ist; einer von den Verurteilten wird durch Totschlag hingerichtet ( mezzolato); er ist ein Elender, der einen Priester umgebracht hat, von dem er erzogen worden ist, und der keine Teilnahme verdient; der andere wird mit der Guillotine enthauptet, das ist der arme Peppino.

 

Was wollt Ihr, mein Lieber. Ihr flößt nicht nur der päpstlichen Regierung, sondern auch den benachbarten Staaten einen so großen Schrecken ein, daß man durchaus ein Beispiel geben muß.

 

Aber Peppino gehört nicht einmal zur Bande, er ist ein armer Hirte, der kein anderes Verbrechen beging, als daß er uns Lebensmittel lieferte.

 

Was ihn vollkommen zu Eurem Mitschuldigen macht. Es wird also ein Schauspiel stattfinden, das den Geschmack des römischen Volkes befriedigen wird.

 

Dazu soll dann noch ein unerwartetes Schauspiel kommen, das ich mir vorbehalte, versetzte der Trasteveriner.

 

Mein lieber Freund, entgegnete der Mann im Mantel, erlaubt mir die Bemerkung, daß Ihr mir ganz geneigt zu sein scheint, irgend eine Albernheit zu begehen.

 

Ich bin zu allem geneigt, um die Hinrichtung des armen Teufels zu verhindern, der in der Klemme steckt, weil er mir gedient hat. Bei der heiligen Jungfrau, ich müßte mich als feig betrachten, wenn ich nicht etwas für den braven Jungen unternähme.

 

Und was gedenkt Ihr zu tun?

 

Ich stelle etwa zwanzig Mann um das Schafott, und in dem Augenblick, wo man ihn herbeibringt, stürzen wir auf ein Signal, das ich geben werde, mit dem Dolche in der Faust auf die Eskorte los und entführen ihn.

 

Das scheint mir sehr unsicher, und mein Plan taugt entschieden mehr, als der Eurige.

 

Und worin besteht dieser Plan, Exzellenz?

 

Ich gebe irgend einem, den ich kenne, zweitausend Piaster; dafür bewirkt er, daß Peppinos Hinrichtung auf das nächste Jahr verschoben wird; im Verlaufe des Jahres gebe ich sodann weitere zweitausend Piaster einem andern, den ich ebenfalls kenne, und bringe es dahin, daß man ihn entschlüpfen läßt.

 

Sind Sie des Gelingens sicher?

 

Mein Lieber, ich sage, ich werde mit meinem Golde mehr bewirken, als Ihr und Eure Leute mit allen ihren Dolchen, Pistolen und Büchsen. Laßt mich also machen!

 

Vortrefflich; doch wenn Sie scheitern, sind wir immer noch bereit.

 

Haltet Euch immerhin bereit, wenn es Euch Vergnügen macht, doch seid überzeugt, daß ich die Freiheit für ihn erlange.

 

Vergessen Sie nicht, daß schon übermorgen Dienstag ist. Sie haben nur noch morgen.

 

Wohl, aber ein Tag besteht aus 24 Stunden, jede Stunde aus 60 Minuten, jede Minuten aus 60 Sekunden, und in 86 400 Sekunden bringt man viel zu Wege.

 

Wie werden wir es erfahren, Exzellenz, wenn es Ihnen gelungen ist?

 

Das ist ganz einfach: die drei letzten Fenster des Palastes Rospoli sind von mir gemietet; habe ich den Aufschub erlangt, so sollen die zwei Fenster an der Ecke mit gelbem, das in der Mitte aber mit weißem Damast mit rotem Kreuz behängt werden.

 

Gut; und durch wen werden Sie die Begnadigung in die betreffenden Hände gelangen lassen?

 

Schickt mir einen von Euren Leuten, als Büßer verkleidet, und ich gebe sie ihm. Mit seinem Gewande wird er bis zum Fuße des Schafotts vordringen, wo er die Bulle dem Obersten der Brüderschaft übergibt, der sie dem Nachrichter einhändigt. Mittlerweile laßt diese Kunde Peppino zu Ohren kommen, daß er nicht vor Angst stirbt oder ein Narr wird, sonst hätten wir eine unnötige Ausgabe für ihn gemacht.

 

Hören Sie, Exzellenz, sagte der Trasteveriner, ich bin Ihnen ergeben, und davon sind Sie überzeugt, nicht wahr?

 

Ich hoffe es wenigstens.

 

Nun! Wenn Sie Peppino retten, so wird meine Ergebenheit sich in Gehorsam wandeln.

 

Gebt wohl acht auf das, was Ihr sagt, mein Lieber! Ich werde Euch eines Tages daran erinnern, denn vielleicht bedarf ich Euer einst ebenfalls.

 

Wohl, Exzellenz, dann sollen Sie mich zur Stunde der Not finden, wie ich Sie zu derselben Stunde gefunden habe. Wären Sie am andern Ende der Welt, so brauchen Sie mir nur zu schreiben: Tue dies, und ich werde es tun, so wahr ich …

 

Still! sagte der Unbekannte, ich höre Geräusch.

 

Es sind Reisende, die das Kolosseum mit Fackeln besuchen.

 

Sie sollen uns nicht beisammen finden. Diese Spione von Führern könnten Euch erkennen, und so ehrenwert auch Eure Freundschaft ist, mein Lieber, so befürchte ich doch, es dürfte mir meinen Kredit nehmen, wenn man erführe, in welchem Grade wir miteinander verbunden sind.

 

Also, wenn Sie den Aufschub haben?

 

So ist am mittleren Fenster ein Damastvorhang mit rotem Kreuze.

 

Wenn Sie die Bulle nicht haben?

 

Drei gelbe Vorhänge.

 

Und dann?

 

Dann spielt mit dem Dolche nach Eurem Belieben, ich erlaube es Euch und werde da sein, um Euch zuzusehen.

 

Gott befohlen, Exzellenz, ich zähle auf Sie, zählen Sie auf mich!

 

Nach diesen Worten verschwand der Trasteveriner auf der Treppe, während der Unbekannte, sein Gesicht noch mehr als zuvor mit dem Mantel verhüllend, zwei Schritte entfernt an Franz vorüberging und auf den äußeren Stufen in die Arena hinabstieg. Eine Sekunde nachher hörte Franz seinen Namen unter dem Gewölbe erschallen; es war Albert, der ihn rief. Er wartete, um zu antworten, bis sich die beiden Männer entfernt hätten, denn er wollte nicht, daß sie erführen, sie hätten einen Zeugen gehabt, der, wenn er auch ihr Gesicht nicht sehen konnte, wenigstens kein Wort von ihrem Gespräche verlor. Kaum waren zehn Minuten vergangen, als Franz nach dem Hotel Stadt London zurückfuhr. Er ließ Albert seine Eindrücke erzählen, ohne viel zu erwidern, denn er wollte sobald als möglich allein sein, um ungestört das, was in seiner Gegenwart vorgefallen war, überlegen zu können.

 

Von den beiden Männern war ihm der eine offenbar fremd, und er sah und hörte ihn zum erstenmal; nicht so war es mit dem andern, und obgleich Franz sein beständig im Schatten oder durch den Mantel verborgenes Gesicht nicht hatte unterscheiden können, so war ihm doch der Ton dieser Stimme sofort zu sehr aufgefallen, als daß sie in ihm nicht bestimmte Erinnerungen geweckt hätten. Es lag in dieser Stimme etwas Scharfes, Metallisches, das ihn ebensosehr im Kolosseum, wie in der Grotte von Monte Christo hatte erbeben lassen; er war auch vollkommen überzeugt, daß dieser Mann Simbad der Seefahrer war.

 

Unter allen andern Umständen hätte er sich bei der Neugierde, die ihm dieser Mann eingeflößt, ihm zu erkennen gegeben; aber das Gespräch, das er bei dieser Veranlassung gehört, war so vertraulicher Natur, daß ihn die Überzeugung, seine Erscheinung müßte ihm unangenehm sein, zurückhielt. Doch während er fern blieb, gelobte er sich, daß er sich eine zweite Gelegenheit mit ihm zu sprechen, nicht entschlüpfen lassen wollte.

 

Franz war zu sehr von seinen Gedanken in Anspruch genommen, um zu schlafen. Er brachte die Nacht damit hin, daß er alle Umstände, die sich auf den Mann in der Grotte und den Unbekannten im Kolosseum bezogen und die auf die Gleichheit beider Personen deuteten, in Erwägung zog; und je mehr Franz nachdachte, desto mehr wurde er in seiner Meinung, es sei ein und dieselbe Person, bestärkt. Er entschlummerte bei Tagesanbruch und erwachte daher sehr spät. Albert hatte als echter Pariser bereits seine Maßregeln für den Abend getroffen und eine Loge im Theater Argentina genommen. Franz mußte mehrere Briefe schreiben und überließ deshalb Albert den Wagen für den ganzen Tag. Um fünf Uhr kehrte Albert zurück; er hatte seine Empfehlungsbriefe abgegeben, Einladungen für alle Abende erhalten und Rom gesehen.

 

Albert war in der letzten Zeit sehr unzufrieden, denn seit den vier Monaten, wo er Italien in allen Richtungen durchkreuzte, hatte er nicht ein einziges galantes Abenteuer gehabt. Die Sache war um so peinlicher, als er, nach der bescheidenen Anschauung seiner Landsleute, von Paris mit der Überzeugung abgereist war, er würde in Italien die größten Erfolge erringen. Ach! es war dem nicht so gewesen; die reizenden genuesischen, florentinischen und neapolitanischen Gräfinnen hielten sich zwar nicht an ihre Ehemänner, aber an ihre Liebhaber, und Albert erlangte die grausame Überzeugung, die Italienerinnen hätten vor den Französinnen wenigstens den Vorzug, daß die meisten in ihrer Untreue treu blieben.

 

Und dennoch war Albert nicht nur ein vollkommen eleganter Kavalier, sondern auch ein Mann von viel Geist; ferner war er Vicomte, allerdings Vicomte von neuem Adel; doch heutzutage, wo man keine Ahnenproben mehr zu liefern hat, was liegt daran, ob der Adelstitel von 1399 oder von 1815 datiert? Dabei hatte er, was schwerer ins Gewicht fiel, fünfzigtausend Franken Rente, und das war mehr, als man brauchte, um in Paris Mode zu sein. Es erschien also einigermaßen demütigend, daß er in keiner von den Städten, die er besucht, Aufsehen erregt hatte.

 

Er hoffte sich in Rom zu entschädigen, da der Karneval in allen Ländern der Erde, die dieses herrliche Fest feiern, eine Zeit der Freiheit ist, wo sich die Strengsten zu einer Tollheit hinreißen lassen. Weil nun der Karneval am andern Tage begann, so war es für Albert von großer Wichtigkeit, sich der vornehmen Welt noch vorher bemerklich zu machen. Er hatte daher eine von den am meisten ins Auge fallenden Logen des Theaters gemietet, und eine tadellose Toilette gemacht. Indes hegte er noch eine andere Hoffnung: er dachte, wenn es ihm gelänge, einen Platz im Herzen einer schönen Römerin zu erobern, so würde er damit natürlich auch einen Platz in einem Wagen erlangen und er dann in der Lage sein, den Karneval von der Höhe eines aristokratischen Gefährtes oder eines fürstlichen Balkons herab zu genießen.

 

Alle diese Gedanken trugen dazu bei, Albert lebhafter zu machen, als er es je gewesen war. Er wandte den Schauspielern den Rücken zu, neigte sich mit halbem Leibe aus der Loge heraus, lorgnettierte alle jungen Frauen, was aber keine bewog, ihn mit einem einzigen Blicke zu belohnen. Alle Plauderten von ihren eigenen Angelegenheiten, von ihren Liebschaften, von ihren Vergnügungen, vom Karneval, von der nächsten heiligen Woche, ohne nur einen Augenblick den darstellenden Künstlern oder dem Stücke die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Gegen das Ende des ersten Aktes öffnete sich die Tür einer Loge, die bis jetzt leer geblieben war, und Franz sah eine Dame eintreten, der er in Paris vorgestellt zu werden die Ehre gehabt hatte; bis dahin war er der Meinung gewesen, sie befände sich noch in Frankreich. Albert sah, daß sein Freund beim Erscheinen der Dame erregt wurde, wandte sich zu ihm und fragte: Kennen Sie diese Frau?

 

Ja; wie finden Sie sie?

 

Reizend, mein Lieber. Es ist eine Französin?

 

Nein, eine Venetianerin!

 

Und sie heißt?

 

Gräfin***.

 

Ah! ich kenne sie dem Namen nach, rief Albert; man sagt, sie sei ebenso geistreich als hübsch. Teufel! Wenn ich bedenke, daß ich mich ihr bei dem letzten Ball von Frau von Villefort hätte vorstellen lassen können, und daß ich Dummkopf dies versäumte!

 

In diesem Augenblick gewahrte die Gräfin Franz und machte ihm mit der Hand ein anmutiges Zeichen, das er mit einer höflichen Verbeugung erwiderte.

 

Ah! es scheint mir, Sie stehen sehr gut mit ihr? sagte Albert.

 

Mein Lieber, was Sie hier täuscht und was uns Franzosen im Auslande tausend Albernheiten begehen läßt, ist, daß wir alles von unserm Pariser Gesichtspunkt betrachten. In Spanien und in Italien besonders dürfen Sie die Vertrautheit der Leute nie nach der Freiheit in ihren Umgangsformen beurteilen. Wir haben eine gewisse Sympathie zu einander gehegt, das ist alles.

 

Endlich fiel der Vorhang zur großen Freude des Vicomte von Morcerf, der seinen Hut nahm und seinen Freund bat, ihn der Gräfin vorzustellen. Die beiden Freunde betraten die Loge der Gräfin, und Franz stellte Albert als einen durch gesellschaftliche Stellung und Geist ausgezeichneten Kavalier vor. Er fügte hinzu, in Verzweiflung darüber, daß er den Aufenthalt der Gräfin in Paris nicht benutzt, um sich ihr vorstellen zu lassen, habe er ihn beauftragt, diesen Fehler gutzumachen, und er entledige sich dieses Auftrags, indem er die Gräfin, bei der er selbst eines Fürsprechers bedurft hätte, bitte, seine Unbescheidenheit entschuldigen zu wollen. Die Gräfin antwortete, Albert anmutig begrüßend und Franz die Hand reichend. Von ihr eingeladen, nahm Albert den leeren Platz vorn ein, und Franz setzte sich in die zweite Reihe hinter die Gräfin.

 

Albert fand einen vortrefflichen Gegenstand zur Unterhaltung: Paris; er sprach mit der Gräfin von ihren gemeinschaftlichen Bekannten. Franz seinerseits ließ sich von seinem Freunde dessen Riesenlorgnette geben und fing ebenfalls an, sich im Saal umzusehen. Allein, auf dem Vordersitze einer Loge, im dritten Rang ihnen gegenüber, saß eine bewunderungswürdig hübsche Frau in griechischem Kostüm, das sie mit so viel Anmut trug, daß es offenbar ihre Landestracht sein mußte. Hinter ihr saß ein Mann, dessen Gesicht sich jedoch nicht erkennen ließ. Franz unterbrach das Gespräch Alberts mit der Gräfin, um diese zu fragen, ob sie die schöne Albanesin kenne, die wohl würdig wäre, nicht nur die Aufmerksamkeit der Männer, sondern auch die der Frauen zu erregen.

 

Nein, sagte sie, ich weiß nur, daß sie seit dem Anfange der Saison in Rom ist, denn bei Eröffnung des Theaters habe ich sie da gesehen, wo sie jetzt sitzt, und seit einem Monat versäumt sie keine Vorstellung; bald begleitet sie der Mann, der in diesem Augenblick bei ihr ist, bald folgt ihr nur ein schwarzer Diener.

 

Franz und die Gräfin tauschten ein Lächeln aus, dann setzte die Gräfin ihr Gespräch mit Albert fort, während Franz wieder seine Albanesin betrachtete. Die Ouverture des zweiten Aktes begann. Bei den ersten Bogenstrichen sah Franz den Herrn aufstehen und sich der Griechin nähern, die sich umwandte, um einige Worte an ihn zu richten, und sich abermals mit dem Ellenbogen auf die Brüstung der Loge stützte. Das Gesicht ihres Begleiters war immer noch im Schatten, und Franz vermochte seine Züge nicht zu unterscheiden.

 

Der Vorhang ging auf, Franzens Aufmerksamkeit richtete sich nun selbstverständlich auf die Schauspieler, und seine Augen verließen für kurze Zeit die Loge der schönen Griechin, um sich nach der Szene zu richten.

 

Als der zweite Akt zu Ende war, wollte er eben Beifall spenden, als das Bravo, das seinem Munde entschlüpfen wollte, auf seinen Lippen erstarb.

 

Der Mann in der Loge war völlig aufgestanden, und Franz erkannte nun in ihm, da sein Kopf vom Licht getroffen wurde, den geheimnisvollen Bewohner von Monte Christo, den Mann, dessen Stimme er am Abend zuvor in den Ruinen des Kolosseums wiederzuhören geglaubt hatte. Es unterlag keinem Zweifel, der fremde Reisende wohnte in Rom. Wahrscheinlich drückte sich auf Franzens Gesicht die Unruhe aus, die diese Erscheinung in seinem Innern hervorrief, denn die Gräfin schaute ihn an und fragte ihn, was er hätte.

 

Frau Gräfin, antwortete Franz, wenn ich Sie vorhin fragte, ob Sie jene albanesische Frau kennen, so frage ich Sie nun, ob Sie ihren Gatten kennen.

 

Ebensowenig als sie. Jedenfalls, sagte sie, mit Alberts Glas nach der Loge sehend, muß es aber ein Abgeschiedener sein, der mit Erlaubnis des Totengräbers aus seinem Sarge gestiegen ist, denn er sieht furchtbar blaß aus.

 

So sieht er immer aus, sagte Franz.

 

Sie kennen ihn also? sagte die Gräfin; dann ist es an mir, Sie zu fragen, wer er ist.

 

Ich habe ihn, glaube ich, bereits gesehen und erkenne ihn wieder.

 

In der Tat, sagte die Gräfin, während sie mit den Schultern eine Bewegung machte, als durchliefe ein Schauer ihre Adern, ich begreife, daß man einen solchen Menschen nie vergißt, wenn man ihn einmal gesehen hat.

 

Die Wirkung, die Franz an sich empfunden, war also keine besondere, da sie sich auch bei einer andern Person fühlbar machte.

 

Nun! fragte Franz die Gräfin, als sie zum zweiten Male zu dem Fremden hinübersah, was denken Sie von diesem Manne?

 

Hören Sie, erwiderte die Gräfin, der verstorbene Lord Byron hat mir geschworen, er glaube an Vampire, er sagte mir sogar, er habe welche gesehen. Er schilderte mir ihr Gesicht, und wahrhaftig, gerade so, wie ich’s dort drüben sehe: die schwarzen Haare, die großen, von seltsamem Feuer glänzenden Augen, die Totenblässe; bemerken Sie ferner, daß er mit keiner gewöhnlichen Frau zusammen ist, es ist eine Fremde, eine Griechin, … eine Abtrünnige … eine Magierin ohne Zweifel, wie er …

 

Die Gräfin war in der Tat sehr erregt, und Franz selbst konnte sich einem gewissen abergläubischen Schrecken nicht entziehen, der um so natürlicher erschien, als das, was bei der Gräfin die Folge eines instinktartigen Eindrucks war, bei ihm durch bestimmte Erinnerungen hervorgebracht wurde. Er fühlte, daß sie zitterte, als sie in den Wagen stieg. Er begleitete sie nach Hause; es war niemand da, und sie wurde nicht erwartet; Franz machte ihr darüber einen Vorwurf.

 

In der Tat, sagte sie zu ihm, ich fühle mich nicht wohl und bedarf der Einsamkeit; der Anblick dieses Menschen hat mich völlig verstört.

 

Franz versuchte zu lachen.

 

Lachen Sie nicht, sagte die Gräfin; Sie haben auch gar keine Lust dazu. Aus Gründen, die ich Ihnen nicht sagen kann, wünschte ich zu erfahren, wer dieser Mann ist, woher er kommt und wohin er geht. Aber nun guten Abend! Schlafen Sie wohl, ich weiß, wer nicht schlafen wird.

 

Als Franz in den Gasthof kam, fand er Albert im Schlafrock eine Zigarre rauchend und wütend darüber, daß ihm der Hotelbesitzer wiederholt erklärt hatte, daß zu dem Karneval weder ein Wagen noch ein Fenster zum Zuschauen mehr zu bekommen sei.

 

Auch Franz bedauerte lebhaft das Mißgeschick, als der Wirt nochmals eintrat und sagte: Der Graf von Monte Christo, der auf dem gleichen Stocke mit Ihnen wohnt, hat durch mich von der Verlegenheit, in der Sie sich befinden, gehört und bietet Ihnen zwei Plätze in seinem Wagen und zwei an seinen Fenstern im Palaste Rospoli an.

 

Albert und Franz schauten einander ins Gesicht.

 

Können wir das Anerbieten eines Fremden, eines uns völlig unbekannten Mannes annehmen? fragte Albert.

 

Wer ist dieser Graf von Monte Christo? fragte Franz den Wirt.

 

Ein vornehmer Herr aus Sizilien oder Malta, ich weiß nicht genau, aber edel wie ein Borghese und reich wie eine Goldmine.

 

In diesem Augenblick klopfte man an die Tür.

 

Auf Franzens Herein erschien ein Diener in sehr zierlicher Livree auf der Schwelle und sprach: Von dem Grafen von Monte Christo für Herrn Franz d’Epinay und den Herrn Vicomte Albert von Morcerf.

 

Und er reichte dem Wirte zwei Karten, die dieser den jungen Leuten zustellte.

 

Der Herr Graf von Monte Christo, fuhr der Diener fort, läßt die Herren um Erlaubnis bitten, sich ihnen als Nachbar morgen früh vorstellen zu dürfen; er wird die Ehre haben, sich bei den Herren erkundigen zu lassen, um welche Stunde sie zu sprechen sind.

 

Sagen Sie dem Grafen, antwortete Franz, wir werden die Ehre haben, ihm unsern Besuch zu machen.

 

Der Bediente entfernte sich.

 

Das nenne ich mit Artigkeit erstürmen, rief Albert; Sie haben offenbar recht, Herr Wirt, Ihr Graf von Monte Christo ist ein Mann von der besten Lebensart.

 

Das Anerbieten von zwei Plätzen an einem Fenster des Palastes Rospoli erinnerte Franz an das Gespräch, das er in den Ruinen des Kolosseums zwischen seinem Unbekannten und dem Trasteveriner gehört, wobei der Mann mit dem Mantel die Verbindlichkeit übernommen hatte, Begnadigung für einen Verurteilten zu erlangen. War aber der Mann im Mantel, wie Franz allem Anschein nach glauben mußte, derselbe, dessen Erscheinen im Theater Argentina ihn so sehr in Anspruch genommen hatte, so erkannte er ihn ohne Zweifel wieder, und nichts sollte ihn dann abhalten, seine Neugierde in Bezug auf seine Person zu befriedigen.

 

Franz brachte einen Teil der Nacht damit zu, daß er von dem zweimaligen Auftauchen des Grafen träumte und den andern Tag herbeiwünschte. Der andere Tag sollte wirklich alles aufklären, und diesmal – besäße sein Wirt von Monte Christo nicht den Ring des Gyges und damit die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen – würde er ihm sicherlich nicht entgehen. Er erwachte vor acht Uhr und ließ sogleich den Wirt rufen.

 

Herr Wirt, sagte er zu ihm, soll nicht heute eine Hinrichtung stattfinden?

 

Ja, aber wenn Sie mich fragen, um einen Platz dazu zu bekommen, so wird es zu spät sein.

 

Wahrscheinlich werde ich nicht hingehen; doch möchte ich gern die Anzahl der Verurteilten, ihre Namen und die Art der Hinrichtung wissen.

 

Das trifft sich gut, Exzellenz, man hat mir soeben die Tavolette gebracht.

 

Was ist das: Tavolette?

 

Die Tavolette sind hölzerne Täfelchen, die man am Tage vor einer Hinrichtung an allen Straßenecken anhängt, und worauf die Namen der Verurteilten, der Grund ihrer Verurteilung und die Art ihrer Hinrichtung angegeben sind. Damit werden die Gläubigen aufgefordert, zu Gott zu beten, er möge den Schuldigen eine aufrichtige Reue verleihen. Ich will sie Ihnen gleich holen.

 

Einen Augenblick später brachte er Franz die Tafel. Auf dieser stand wörtlich:

 

Es wird hiermit männiglich zu wissen getan, daß Dienstag den 22. Februar am ersten Tage des Karnevals durch Spruch des Tribunals der Rota auf der Piazza del popolo Andrea Rondolo, schuldig des Mordes an der Person des hochwürdigen und hochverehrten Don Cäsar Torlini, Kanonikus der Kirche St. Giovanni in Laterano, und Peppino, genannt Rocca Priori, überwiesen der Genossenschaft mit dem verabscheuungswürdigen Banditen Luigi Vampa und den Leuten seiner Bande, hingerichtet werden sollen. Der erste wird mazzolato (totgeschlagen) und der zweite decapitato (enthauptet). Mitleidige Seelen wollen Gott um aufrichtige Reue für diese unglücklichen Verurteilten bitten.

 

Das war genau dasselbe, was Franz zwei Tage vorher in den Ruinen des Kolosseums gehört hatte. Somit war aller Wahrscheinlichkeit nach der Trasteveriner kein anderer, als der Bandit Luigi Vampa, und der Mann im Mantel Simbad der Seefahrer, der in Rom, wie in Porto Vecchio und Tunis als Menschenfreund in den Gang der Gerichte eingriff.

 

Indessen war es neun Uhr geworden, und Franz schickte sich an, Albert zu wecken, als dieser zu seinem großen Erstaunen ganz angekleidet aus seinem Zimmer trat. Der Karneval ließ ihn nicht länger schlafen und hatte ihn früher auf die Beine gebracht, als sein Freund dies hoffte.

 

Franz und Albert hatten, um zum Grafen von Monte Christo zu gelangen, dem sie ihre Aufwartung machen wollten, nur den Flur zu durchschreiten. Der Wirt ging voran und klingelte für sie; ein Diener öffnete, verbeugte sich und bedeutete durch ein Zeichen, sie möchten eintreten. Sie durchschritten zwei Zimmer, die mit einem Luxus ausgestattet waren, den sie in Pastrinis Gasthofe nicht vermutet hätten, und gelangten endlich in einen Salon von vollkommener Eleganz. Ein türkischer Teppich war auf dem Boden ausgebreitet, und die behaglichsten Möbel mit schwellenden Kissen und zurückgebogenen Lehnen luden zum Sitzen ein. Herrliche Gemälde hingen neben kunstvollen Waffen an den Wänden, und große gestickte Vorhänge wogten von allen Fenstern und Türen.

 

Wollen sich Eure Exzellenzen setzen, sagte der Diener, ich werde den Herrn benachrichtigen. Und er verschwand durch eine der Türen.

 

Nun, fragte Franz seinen Freund, was sagen Sie zu all diesen Herrlichkeiten?

 

Meiner Treu, mein Lieber, unser Nachbar muß ein Wechselagent sein, der auf das Fallen der spanischen Papiere spekuliert hat, oder ein Fürst, der inkognito reist.

 

Still! Wir werden es bald erfahren, denn hier kommt er. Eine Tür öffnete sich, der Vorhang hob sich, und der Besitzer dieser Reichtümer erschien. Albert ging ihm entgegen, Franz aber blieb wie an seinen Platz genagelt.

 

Der Eintretende war kein andrer, als der Mann mit dem Mantel im Kolosseum, der Unbekannte der Loge, der geheimnisvolle Wirt von Monte Christo.

 

Das Versprechen.

 

Das Versprechen.

 

Es war wirklich Morel, der seit dem Tage vorher entsetzlich litt; mit dem gesteigerten Ahnungsvermögen des Liebenden hatte er sich gesagt, daß infolge dieser Rückkehr der Frau von Saint-Meran und des Todes ihres Gemahls bei Villefort etwas vorgehe, was für seine Liebe für Valentine von Bedeutung sei.

 

Als sie erschien, rief ihr Morel, und sie lief an das Gitter.

 

Sie zu dieser Stunde hier? fragte sie.

 

Ja, arme Freundin, antwortete Morel. Ich komme, um schlimme Nachrichten zu holen und zu bringen.

 

Es ist also ein Unglückshaus! sagte Valentine; sprechen Sie, Maximilian; doch in der Tat, die Summe der Schmerzen ist schon groß genug.

 

Liebe Valentine, erwiderte Morel, der sich von seiner eigenen Aufregung zu erholen suchte, um auf die rechte Weise sprechen zu können, hören Sie mich wohl, ich bitte Sie; denn alles, was ich Ihnen sagen werde, ist ernst und bedeutungsvoll. Um welche Zeit gedenkt man Sie zu verheiraten?

 

Glauben Sie mir, ich will Ihnen nichts verbergen, Maximilian, sagte Valentine. Heute morgen sprach man von meiner Heirat, und meine Großmutter, auf die ich als sichere Stütze rechnete, hat sich nicht nur für diese Heirat erklärt, sondern wünscht sie so beschleunigt, daß nur auf die Rückkehr des Herrn d’Epinay gewartet wird, um den Vertrag zu unterzeichnen.

 

Ein schmerzlicher Seufzer öffnete die Brust des jungen Mannes; er schaute das Mädchen lange und traurig an und entgegnete sodann: Ah! es ist schrecklich, die Frau, die man liebt, ruhig sagen zu hören: Der Augenblick deiner Hinrichtung ist bestimmt; sie wird in einigen Stunden stattfinden. Doch gleichviel, es muß so sein, und ich werde keinen Widerstand leisten. Gut also! da man, wie Sie sagen, nur Herrn d’Epinay erwartet, um den Vertrag zu unterzeichnen, da Sie den Tag nach seiner Ankunft ihm gehören sollen, so sind Sie morgen mit Herrn d’Epinay verbunden, denn er ist heute in Paris angekommen.

 

Valentine stieß einen Schrei aus.

 

Ich war vor einer Stunde bei dem Grafen von Monte Christo, fuhr Morel fort, wir sprachen, er vom Schmerze Ihres Hauses, ich von Ihrem Schmerze, als plötzlich ein Wagen in den Hof rollte. Hören Sie, bis dahin glaubte ich nicht an Ahnungen, Valentine, aber nun muß ich wohl daran glauben: bei dem Geräusche dieses Wagens erfaßte mich ein Schauer; bald hörte ich Tritte auf der Treppe; der schallende Gang des Gouverneurs hatte Don Juan nicht so erschreckt, wie diese Tritte mich erschreckten. Endlich öffnete sich die Tür, Albert von Morcerf erschien zuerst, ich zweifelte an mir selbst, ich glaubte, ich hätte mich getäuscht, als hinter ihm ein anderer junger Mann kam, und der Graf ausrief: Ah! der Herr Baron von Epinay!

 

Alles, was ich an Kraft und Mut im Herzen habe, rief ich zu Hilfe, um mich zu fassen. Vielleicht erbleichte ich, vielleicht zitterte ich, aber sicherlich blieb ein Lächeln auf meinen Lippen; doch fünf Minuten nachher ging ich weg, ohne ein Wort von dem gehört zu haben, was während dieser fünf Minuten gesprochen wurde; ich war vernichtet.

 

Armer Maximilian! murmelte Valentine.

 

Und hier bin ich nun, Valentine. Antworten Sie mir, wie einem Manne, dem Ihre Antwort das Leben oder den Tod geben wird: Was gedenken Sie zu tun?

 

Valentine neigte das Haupt; sie war betäubt.

 

Hören Sie, sagte Morel, es ist nicht das erste Mal, daß Sie an die Lage denken, in die wir nun gekommen sind; sie ist ernst, sie ist dringend, sie berührt die äußerste Grenze. Ich glaube nicht, daß dies der Augenblick ist, um sich einem unfruchtbaren Schmerze hinzugeben; das mag gut für die sein, die in Bequemlichkeit leiden und ihre Zähren mit Muße trinken wollen. Es gibt solche Menschen, und Gott wird ihnen im Himmel ohne Zweifel ihre Resignation hienieden anrechnen; aber wer den Willen in sich fühlt, zu kämpfen, verliert keine kostbare Zeit und gibt dem Schicksal den Schlag, den er von ihm empfangen hat, unmittelbar zurück. Sagen Sie, Valentine, ich komme, um Sie zu fragen: Ist es Ihr Wille, gegen das üble Geschick anzukämpfen?

 

Valentine bebte und schaute Morel mit großen, starren Augen an. Der Gedanke, ihrem Vater, ihrer Großmutter, ihrer ganzen Familie zu widerstehen, war ihr nicht einmal in den Kopf gekommen.

 

Was sagen Sie, Maximilian? Und was nennen Sie einen Kampf? Nennen Sie es lieber eine Ruchlosigkeit! Wie, ich sollte dem Befehl meines Vaters, dem Wunsch meiner sterbenden Großmutter widerstehen? Das ist unmöglich.

 

Morel machte eine Bewegung.

 

Sie sind ein zu edles Herz, um mich nicht zu verstehen, und Sie verstehen mich so gut, lieber Maximilian, daß ich sehe, Sie erwidern mir nichts. Ich kämpfen? Gott soll mich behüten! Nein, nein, ich bewahre meine ganze Kraft, um gegen mich selbst zu kämpfen und meine Zähren zu trinken, wie Sie sagen; meinen Vater bekümmern, die letzten Augenblicke meiner Großmutter trüben … niemals!

 

Sie haben ganz recht, sagte Morel gelassen.

 

Mein Gott! wie Sie mir das sagen! rief Valentine verletzt.

 

Ich sage Ihnen das, wie ein Mann, der Sie bewundert, mein Fräulein, erwiderte Maximilian.

 

Mein Fräulein! rief Valentine, mein Fräulein, oh der Selbstsüchtige! Er sieht mich in Verzweiflung und stellt sich, als ob er mich nicht verstehe.

 

Sie täuschen sich, ich verstehe Sie im Gegenteil vollkommen. Sie wollen Herrn von Villefort nicht ärgern, Sie wollen der Marquise nicht ungehorsam sein und unterzeichnen daher morgen den Vertrag, der Sie mit Ihrem Gatten verbindet.

 

Mein Gott, kann ich denn etwas anderes tun?

 

Sie dürfen nicht an mich appellieren, mein Fräulein, denn ich bin ein schlechter Richter in dieser Sache, und meine Selbstsucht wird mich verblenden, antwortete Morel, dessen dumpfe Stimme, dessen geballte Fäuste eine wachsende Verzweiflung andeuteten.

 

Was hätten Sie mir denn vorzuschlagen? Vielleicht würden Sie mich geneigt finden, Ihren Vorschlag anzunehmen. Lassen Sie hören, antworten Sie! Es genügt nicht, zu sagen: Sie machen die Sache schlecht; man muß auch einen Rat geben.

 

Sprechen Sie im Ernst, Valentine, soll ich Ihnen diesen Rat geben?

 

Gewiß, lieber Max, denn wenn er gut ist, werde ich ihn befolgen; Sie wissen, ich bin treu in meiner Zuneigung.

 

Valentine, sagte Morel, indem er ein etwas abgelöstes Brett vollends beiseite schob, geben Sie mir Ihre Hand als Beweis, daß Sie mir meinen Grimm verzeihen; sehen Sie, mein Kopf ist ganz verstört, und seit einer Stunde haben die wahnsinnigsten Gedanken meinen Geist durchkreuzt. Oh! wenn Sie meinen Rat zurückweisen …

 

Das Mädchen schlug die Augen zum Himmel auf und stieß einen Seufzer aus.

 

Ich bin frei, fuhr Morel fort, ich bin reich genug für uns beide; ich schwöre Ihnen vor Gott, daß Sie meine Frau sein werden, ehe meine Lippen Ihre Stirn berührt haben.

 

Sie lassen mich zittern! rief das Mädchen.

 

Folgen Sie mir, sagte Morel; ich führe Sie zu meiner Schwester, die würdig ist, Ihre Schwester zu sein. Wir schiffen uns nach Algier, nach England oder nach Amerika ein, wenn Sie nicht lieber wollen, daß wir uns in irgend eine Provinz zurückziehen, von wo wir erst nach Paris zurückkehren, wenn unsere Freunde den Widerstand Ihrer Familie besiegt haben.

 

Valentine schüttelte den Kopf und erwiderte: Ich sah das voraus; es ist der Rat eines Wahnsinnigen, und ich wäre noch viel wahnsinniger, als Sie, wenn ich Sie nicht auf der Stelle durch das einzige Wort: Unmöglich, Morel, unmöglich, zurückwiese.

 

Sie werden also Ihrem Schicksale folgen, ohne auch nur einen Versuch des Widerstandes zu machen? sagte Morel düster.

 

Ja, und sollte ich darüber sterben.

 

Wohl! Valentine, versetzte Maximilian, ich wiederhole Ihnen noch einmal, Sie haben recht. In der Tat, ich bin ein Narr, und Sie beweisen mir, daß die Leidenschaft den Geist verblendet. Ich danke Ihnen, die Sie ohne Leidenschaft urteilen. Es ist also abgemacht; morgen sind Sie unwiderruflich mit Herrn Franz d’Epinay verlobt, und zwar durch Ihren eigenen Willen.

 

Noch einmal sage ich Ihnen, Maximilian, Sie bringen mich in Verzweiflung, noch einmal drehen Sie den Dolch in der Wunde um. Was würden Sie tun, wenn Ihre Schwester auf einen Rat hörte, wie der ist, den Sie mir geben?

 

Mein Fräulein, erwiderte Morel mit bitterm Lächeln, ich bin ein Selbstsüchtiger, wie Sie gesagt haben, und in meiner Eigenschaft als Selbstsüchtiger denke ich nicht an das, was andere in meiner Lage tun würden, sondern an das, was ich zu tun habe. Ich denke, daß ich Sie seit einem Jahre kenne, daß ich von dem Tage an, wo ich Sie kennen gelernt habe, all mein Glück auf Ihre Liebe gesetzt habe; daß ein Tag gekommen ist, wo Sie mir sagten, Sie lieben mich; daß ich von diesem Tage an meine Zukunft nur in Ihrem Besitz gesehen habe, denn Ihr Besitz war mein Leben. Nun denke ich nichts mehr; ich sage mir nur, ich hatte den Himmel zu gewinnen geglaubt und habe ihn verloren. Es kommt ja alle Tage vor, daß ein Spieler nicht nur das verliert, was er hat, sondern auch das, was er nicht hat.

 

Morel sprach diese Worte mit vollkommener Ruhe. Valentine schaute ihn einige Sekunden lang mit ihren großen, forschenden Augen an und suchte ihre Unruhe zu verbergen.

 

Aber was wollen Sie denn tun? fragte sie.

 

Ich werde die Ehre haben, Ihnen Lebewohl zu sagen, mein Fräulein, und wünsche Ihnen ein so ruhiges, so glückliches Leben, daß nicht einmal Platz darin ist für das Andenken an mich.

 

Oh! murmelte Valentine.

 

Gott befohlen, Valentine, leben Sie wohl! sagte Morel, sich verbeugend.

 

Wohin gehen Sie? rief Valentine, ihre Hand durch das Gitter ausstreckend und Maximilian am Rock fassend, indem sie aus ihrer eigenen inneren Aufregung schloß, daß die Ruhe ihres Geliebten nicht wahr sein konnte; wohin gehen Sie?

 

Ich will mich bemühen, keine neue Störung in Ihre Familie zu bringen und ein Beispiel geben für alle ehrlichen und ergebenen Menschen in meiner Lage.

 

Ehe Sie mich verlassen, sagen Sie mir, was Sie zu tun gedenken, Maximilian.

 

Der junge Mann lächelte traurig.

 

Oh! sprechen Sie, sprechen Sie, ich bitte Sie!

 

Hat sich Ihr Entschluß geändert, Valentine?

 

Er kann sich leider nicht ändern! Sie wissen das wohl? rief das junge Mädchen.

 

Also Gott befohlen, Valentine.

 

Valentine rüttelte am Gitter mit einer Kraft, deren man sie nicht hätte fähig halten sollen, und als Morel sich entfernte, streckte sie ihre Hände hindurch, rang sie und rief: Was werden Sie tun? Ich will es wissen, wohin gehen Sie?

 

Oh! seien Sie unbesorgt, sagte Maximilian, drei Schritte von der Türe still stehend, es ist nicht meine Absicht, einen andern Menschen für die Strenge verantwortlich zu machen, die das Schicksal gegen mich übt. Ein anderer würde Ihnen drohen, er werde Herrn Franz aufsuchen, ihn herausfordern, um sich mit ihm zu schlagen. Das alles wäre wahnsinnig. Was hat Franz mit dieser ganzen Geschichte zu tun? Er hat mich heute morgen zum ersten Male gesehen, er hat bereits vergessen, daß er mich gesehen; er wußte nicht einmal, daß ich lebte, als Ihre beiden Familien übereinkamen, daß Sie einander gehören sollten. Ich habe es also nicht mit ihm zu tun und schwöre Ihnen, daß ich mich durchaus nicht an ihn halten werde.

 

An wen wollen Sie sich dann halten? An mich?

 

An Sie, Valentine! Oh, Gott soll mich bewahren! Die Frau ist geheiligt, die Frau, die man liebt, ist heilig.

 

Also an Ihre eigene Person, Unglücklicher!

 

Nicht wahr, ich bin der Schuldige?

 

Maximilian, Maximilian, kommen Sie hierher, ich will es haben! rief Valentine.

 

Maximilian näherte sich mit sanftem Lächeln, und, abgesehen von seiner Blässe, hätte man glauben können, er befinde sich in seinem gewöhnlichen Zustande.

 

Hören Sie mich, meine liebe, meine angebetete Valentine, sagte er mit seiner wohlklingenden, ernsten Stimme, Leute wie wir, die nie einen Gedanken gehegt haben, worüber sie hätten vor der Welt, vor ihren Eltern, oder vor Gott erröten müssen; Leute wie wir können einander im Herzen lesen, wie in einem offenen Buche. Ich habe nie einen Roman gespielt, ich bin nie ein schwermütiger Held gewesen, ich trete nicht als Manfred oder als Antonius auf; doch ohne Worte, ohne Beteuerungen, ohne Schwüre hatte ich mein Leben auf Sie gesetzt; Sie tun nicht das gleiche; und Sie haben recht, so zu handeln, das habe ich Ihnen gesagt und wiederhole es. Aber Sie gänzlich verlieren, kostet mich das Leben. Sobald Sie sich von mir entfernen, Valentine, bleibe ich allein auf der Welt. Meine Schwester ist glücklich bei ihrem Gatten; niemand bedarf also auf Erden meines unnütz gewordenen Daseins. Hören Sie, was ich tun werde: ich warte bis zur letzten Sekunde Ihrer Verheiratung, denn ich will keinen Schatten von Hoffnung verlieren, den mir ein unerwarteter Zwischenfall bringen könnte … Herr Franz d’Epinay kann bis dahin sterben, in dem Augenblick, wo Sie sich dem Altar nähern, kann der Blitz ihn treffen … Alles scheint dem zum Tode Verurteilten glaublich, und die Wunder kehren für ihn in den Bereich des Möglichen zurück, sobald es sich um die Rettung seines Lebens handelt. Ich werde also bis zum letzten Augenblick warten, sage ich, und erst, wenn mein Unglück gewiß, unwiderruflich, ohne Hoffnung ist, schreibe ich einen vertraulichen Brief an meinen Schwager, einen andern an den Polizeipräfekten, um ihnen von meinem Vorhaben Nachricht zu geben, und zerschmettere mir in irgend einem versteckten Winkel die Hirnschale, so wahr ich der Sohn des ehrlichsten Mannes bin, der je in Frankreich gelebt hat!

 

Ein krampfhaftes Zittern schüttelte Valentines Glieder. Sie ließ das Gitter los, das sie mit beiden Händen hielt, ihre Arme fielen an ihrer Seite herab, und zwei schwere Tränen rollten über ihre Wangen. Der junge Mann blieb düster und entschlossen vor ihr stehen.

 

Oh, Mitleid, Mitleid! Nicht wahr, Sie werden leben? rief Valentine.

 

Nein, bei meiner Ehre! entgegnete Maximilian; doch was ist Ihnen daran gelegen? Sie haben Ihre Pflicht getan, und es bleibt Ihnen Ihr Gewissen.

 

Valentine fiel, ihr brechendes Herz zusammenpressend, auf die Knie und rief: Maximilian, Maximilian, mein Freund, mein Bruder auf Erden, mein wahrer Gatte im Himmel, mache es wie ich, ich bitte dich, lebe mit den Leiden, wir werden eines Tages vereinigt sein.

 

Leben Sie wohl, Valentine! wiederholte Morel.

 

Mein Gott! sagte Valentine, ihre Hände mit einem erhabenen Ausdruck zum Himmel erhebend, du siehst, ich habe alles getan, was ich konnte, um eine gehorsame Tochter zu bleiben; ich habe gebetet, ich habe gefleht, ich habe geweint, er hörte weder auf meine Bitten, noch auf mein Flehen, noch auf meine Tränen. Wohl! fuhr sie fort, indem sie ihre Tränen trocknete und ihre Festigkeit wiedergewann, wohl! ich will nicht vor Gewissensbissen sterben, ich will lieber vor Scham sterben. Sie werden leben, Maximilian, und ich werde niemand angehören, als Ihnen. Zu welcher Stunde? In welchem Augenblick? Auf der Stelle? Sprechen Sie, befehlen Sie, ich bin bereit.

 

Morel, der abermals einige Schritte gemacht hatte, um sich zu entfernen, kehrte wieder zurück, streckte, bleich vor Freude, mit überwallendem Herzen, seine Hände Valentine entgegen und rief: Valentine, teure Freundin, Sie müssen nicht so mit mir sprechen, oder Sie geben mir den Tod. Warum sollte ich Sie der Gewalt verdanken, wenn Sie mich lieben, wie ich Sie liebe? Zwingen Sie mich nur aus Menschlichkeit, zu leben? Dann will ich lieber sterben.

 

Schließlich, wer liebt mich auf der Welt? murmelte Valentine. Er. Wer hat mich in allen meinen Schmerzen getröstet? Er. Auf wem ruhen alle meine Hoffnungen? Auf wem haftet mein irrer Blick? Auf wem rastet mein blutendes Herz? Auf ihm, auf ihm, immer auf ihm. Wohl! du hast recht, Maximilian, ich werde dir folgen, ich werde das väterliche Haus, ich werde alles verlassen. Oh! ich Undankbare, rief Valentine schluchzend, alles, sogar meinen guten Großvater, den ich völlig vergaß.

 

Nein, entgegnete Maximilian, du wirst ihn nicht verlassen. Herr Noirtier schien, wie du sagst, Sympathie für mich zu fühlen; Wohl, ehe du fliehst, teilst du ihm alles mit; du machst dir vor Gott aus seiner Einwilligung einen Schild. Sobald wir dann verheiratet sind, kommt er zu uns und hat statt eines Kindes zwei. Du hast mir erzählt, wie du mit ihm sprichst, und wie er antwortet; ich werde rasch diese rührende Zeichensprache lernen; oh! Valentine, ich schwöre dir, statt der Verzweiflung, die uns sonst erwartete, verspreche ich dir das Glück.

 

Oh! sieh, Maximilian, sieh, wie groß die Gewalt ist, die du über mich ausübst; du läßt mich beinahe an das glauben, was du sagst, und dennoch ist das, was du sagst, wahnsinnig; denn mein Vater wird mich verfluchen, ich kenne ihn, mit seinem unbeugsamen Herzen wird er mir nie vergeben. Höre mich, Maximilian, wenn ich durch List, durch Bitten, durch einen Zufall, was weiß ich? kurz, durch irgend ein Mittel die Heirat verzögern kann, nicht wahr, dann wartest du?

 

Ja, ich schwöre es dir, sobald du mir schwörst, daß diese verhaßte Heirat nie stattfinden wird, daß du, schleppt man dich vor den öffentlichen Beamten, vor den Priester, stets nein sagen wirst.

 

Ich schwöre es dir, Maximilian, bei dem, was ich Heiligstes auf Erden hatte, bei meiner Mutter.

 

Warten wir also, sagte Morel.

 

Ja, warten wir, versetzte Valentine, welche dieses Wort kaum atmete; es gibt so viele Dinge, welche Unglückliche, wie wir sind, retten können.

 

Ich baue auf dich, Valentine, sagte Morel, alles, was du tun wirst, ist wohlgetan; wenn man jedoch deinen Bitten kein Gehör schenkt, wenn dein Vater, wenn Frau von Saint-Meran verlangen, daß man Herrn d’Epinay rufe, um den Vertrag zu unterzeichnen …

 

So hast du mein Wort, Maximilian.

 

Statt zu unterzeichnen …

 

Komme ich zu dir, und wir fliehen; aber bis dahin wollen wir Gott nicht mehr versuchen, Morel, wir wollen uns nicht sehen, denn es ist ein Wunder, eine Gnade der Vorsehung, daß wir noch nicht überrascht worden sind. Würde man uns aber entdecken, wüßte man, wie wir uns sehen, so hätten wir kein Mittel mehr.

 

Du hast recht, Valentine, aber wie erfahren …

 

Durch den Notar, Herrn Deschamps.

 

Ich kenne ihn.

 

Und durch mich selbst. Glaube mir, ich werde dir schreiben. Mein Gott! Maximilian, diese Heirat ist mir so verhaßt, wie dir.

 

Gut! Gut! ich danke, meine angebetete Valentine. Nun ist alles abgemacht. Sobald ich die Stunde weiß, eile ich hierher, du springst über diese Mauer in meine Arme, es wird dir und mir nicht schwer fallen; ein Wagen erwartet uns an der Tür des Geheges, du steigst mit mir ein, ich führe dich zu meiner Schwester. Dort bleiben wir still oder schlagen Lärm, wie du es wünschest, und werden das Bewußtsein unserer Kraft und unseres Willens haben und uns nicht erwürgen lassen wie das Lamm, das sich nur durch einen Seufzer verteidigt.

 

Es sei so, ich sage dir ebenfalls: Was du tust, das ist wohl getan. Bist du zufrieden mit deiner Frau? sagte das junge Mädchen traurig.

 

Meine angebetete Valentine, ja sagen, heißt sehr wenig sagen.

 

Sage es immerhin!

 

Valentine hatte sich, oder vielmehr ihre Lippen dem Gitter genähert, und ihre Worte schlüpften mit ihrem duftenden Hauch auf Morels Lippen, der seinen Mund fest auf die andere Seite der kalten, unerbittlichen Scheidewand drückte.

 

Auf Wiedersehen, flüsterte Valentine, sich diesem Glücke entreißend, auf Wiedersehen.

 

Ich bekomme einen Brief von dir?

 

Ja.

 

Ich danke dir, Teure, auf Wiedersehen.

 

Das Geräusch eines unschuldigen und verlorenen Kusses erscholl, und Valentine entfloh unter die Linden. Morel horchte auf die letzten Töne ihres an den Hecken streifenden Kleides und ihrer Füße, die den Sand knirschen ließen, schlug dann die Augen mit einem unaussprechlichen Lächeln zum Himmel auf, der es gestattete, daß er so geliebt wurde, und verschwand ebenfalls.

 

Der junge Mann kehrte nach Hause zurück und wartete den ganzen Tag hindurch und den nächsten Tag, ohne etwas zu erhalten. Erst am zweiten Tage, gegen zehn Uhr morgens, als er eben zu Herrn Deschamps, dem Notar, gehen wollte, empfing er durch die Post ein Briefchen, das er sogleich als von Valentine herrührend, erkannte, obgleich er ihre Handschrift nie gesehen hatte.

 

Es lautete folgendermaßen:

 

Tränen, Bitten und Flehen, nichts hat gefruchtet. Gestern bin ich zwei Stunden lang in der Kirche Saint-Philippe du Roule gewesen und habe zwei Stunden aus dem Grunde meiner Seele zu Gott gebetet? Gott scheint mich nicht erhören zu wollen; die Unterzeichnung des Vertrags ist auf neun Uhr heute abend festgesetzt.

 

Ich habe nur ein Wort, Morel, wie ich nur ein Herz habe, und dieses Wort ist dir verpfändet, dieses Herz gehört dir. Heute abend also, um drei Viertel auf neun Uhr, am Gitter.

 

Deine Braut Valentine von Villefort.

 

P. S.

 

Mit meiner Großmutter geht es immer schlechter, gestern ist ihr gereizter Zustand in Delirium übergegangen, heute ist das Delirium beinahe Wahnsinn.

 

Nicht wahr, du wirst mich sehr lieb haben, Morel, damit ich vergessen kann, daß ich sie in diesem Zustande verlassen habe?

 

Ich glaube, man verhehlt vor Großpapa, daß die Unterzeichnung des Vertrags heute stattfinden soll.

 

Morel begnügte sich nicht mit den Nachrichten von Valentine, er ging zum Notar, und dieser bestätigte ihm, die Unterzeichnung des Vertrags sei auf neun Uhr abends bestimmt. Dann begab er sich zu Monte Christo. Hier erfuhr er wieder am meisten. Franz war bei dem Grafen gewesen, um ihm die Feierlichkeit anzukündigen; Frau von Villefort hatte ihn in einem Briefe um Entschuldigung gebeten, daß sie ihn nicht einlade; doch es werde durch den Tod des Herrn von Saint-Meran und durch den Zustand, in dem sich seine Witwe befinde, über ihr Haus ein Schleier der Traurigkeit geworfen, der die Stirn des Grafen, dem sie jegliches Glück wünsche, nicht verdüstern solle. Am Abend war Franz der Frau von Saint-Meran vorgestellt worden, die aus Anlaß dieser Vorstellung das Bett verließ, sich dann aber sogleich wieder niederlegte.

 

Morel befand sich, wie sich dies leicht begreifen läßt, in einem so aufgeregten Zustande, daß es dem durchdringenden Auge des Grafen nicht entgehen konnte; Monte Christo war auch freundlicher und liebevoller gegen ihn, als je, so liebevoll, daß Maximilian wiederholt auf dem Punkte war, ihm alles zu sagen. Doch er erinnerte sich des förmlichen Versprechens, das er Valentine gegeben hatte, und sein Geheimnis blieb im Grunde seines Herzens.

 

Der junge Mann las an diesem Tag zwanzigmal Valentines Brief. Es war das erste Mal, daß sie ihm schrieb, und aus welcher Veranlassung! So oft er ihre Worte wieder las, erneuerte er bei sich den Schwur, Valentine glücklich zu machen. Welche Macht erlangt nicht ein junges Mädchen, das einen so mutigen Entschluß faßt, und welche Ergebenheit verdient es nicht bei dem, welchem es alles geopfert hat! Muß es nicht in der Tat für seinen Geliebten der erste und würdigste Gegenstand seiner Verehrung sein! Denn es ist zugleich die Königin und die Frau, und man hat nicht genug an einer Seele, um einem solchen Mädchen zu danken und es zu lieben.

 

Morel dachte mit unaussprechlicher Unruhe an den Augenblick, wo Valentine zu ihm kommen und sagen würde: Hier bin ich, Maximilian, nimm mich! Er hatte den ganzen Fluchtplan entworfen und alles vorbereitet. Zwei Leitern waren im Verschlag des Geheges verborgen; ein Wagen, den er selbst fahren wollte, stand bereit; kein Diener, kein Licht sollte Verrat bringen können; erst an der Mündung der ersten Straße sollten die Laternen angezündet werden.

 

Von Zeit zu Zeit durchlief ein Schauer Morels Leib; er dachte an den Augenblick, wo er Valentine beim Herabsteigen von der Mauer beschützen, wo er zitternd in seinen Armen die fühlen würde, der er bisher nur die Hand gedrückt und die Fingerspitzen geküßt hatte.

 

Als aber der Nachmittag kam, als die Stunde immer näher herannahte, fühlte Morel das Bedürfnis, allein zu sein; sein Blut kochte, die einfachsten Fragen, schon die Stimme eines Freundes, hätten ihn gereizt, er schloß sich in seiner Wohnung ein und suchte zu lesen. Doch sein Blick schlüpfte über die Blätter hin, ohne etwas davon zu verstehen, und er warf am Ende das Buch weg, um zum zweiten Male seinen Plan durchzugehen und die Flucht sich in allen Einzelheiten vorzustellen. – Endlich nahte die Stunde.

 

Noch nie hat ein Verliebter die Uhren friedlich ihren Weg gehen lassen; Morel plagte die seinigen so sehr, daß eine schließlich um sieben Uhr halb neun Uhr zeigte. Dann sagte er sich, es sei Zeit aufzubrechen, da neun Uhr ja wirklich die für die Unterzeichnung des Vertrags bestimmte Stunde sei, doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde Valentine diese Stunde gar nicht abwarten. Morel trat folglich, nachdem er nach seiner Pendeluhr um halb neun Uhr aufgebrochen war, in das Gehege, als es vom nahen Kirchturm acht Uhr schlug.

 

Pferd und Wagen verbarg er hinter dem in Trümmern liegenden Mauerwerk, in dem er sich selbst zu verstecken pflegte. Allmählich neigte sich der Tag, und das Blätterwerk des Gartens drängte sich in dichte Büschel von undurchsichtigem Schwarz zusammen. Morel trat aus seinem Versteck hervor und schaute durch das Loch im Gitter; es war noch niemand anwesend.

 

Es schlug halb neun Uhr. Abermals verging darauf eine halbe Stunde mit Warten. Morel schritt auf und ab und hielt in immer schneller sich folgenden Zwischenräumen sein Auge an die Bretter. Der Garten wurde immer finsterer, doch vergebens suchte er in der Dunkelheit das weiße Kleid, umsonst horchte er in der Stille auf das Geräusch der Tritte.

 

Das Haus des Staatsanwalts, das man durch das Laubwerk erblickte, blieb düster, und nichts deutete an, daß sich dort ein so wichtiges Ereignis, wie die Unterzeichnung eines Heiratsvertrages abspielen sollte.

 

Morel sah auf seine Taschenuhr, sie zeigte drei Viertel auf zehn Uhr; doch fast in demselben Augenblick schlug die schon öfters gehörte Kirchenuhr halb zehn Uhr. Bereits eine halbe Stunde war über die von Valentine selbst festgesetzte Zeit hinaus verflossen. Sie hatte auf neun Uhr zugesagt, eher früher, als später. Es waren furchtbare Augenblicke für das Herz des jungen Mannes, auf das jede Sekunde wie ein bleierner Hammer fiel.

 

Das leiseste Geräusch der Blätter, das schwächste Wehen des Windes spannte sein Ohr und ließ den Schweiß auf seine Stirn treten; bebend rückte er seine Leiter zurecht und setzte, um keine Zeit zu verlieren, den Fuß auf die erste Sprosse. Mitten unter diesem Wechsel von Furcht und Hoffnung, mitten unter diesen angstvollen Schlägen seines Herzens verkündete die Kirchenuhr die zehnte Stunde.

 

Oh! es ist unmöglich daß die Unterzeichnung eines Vertrages so lange dauert, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse eingetreten sind, murmelte Maximilian voll Schrecken; ich habe alles erwogen, ich habe die Zeit genau berechnet, welche diese Förmlichkeiten beanspruchen … es muß etwas vorgefallen sein.

 

Dann ging er bald in größter Aufregung an dem Gitter auf und ab, bald kehrte er zurück und stützte seine glühende Stirn an das kalte Eisen. War Valentine nach dem Vertrage ohnmächtig geworden, oder hatte man sie in ihrer Flucht aufgehalten? Dies waren die beiden einzigen, gleich verzweiflungsvollen Möglichkeiten, die er sich vorstellen konnte.

 

Vielleicht hatte sie mitten auf der Flucht die Kraft verlassen, und sie war in irgend einer Allee in Ohnmacht gefallen.

 

Oh! wenn dem so ist, rief er, von seiner Leiter herabspringend, so verliere ich sie durch meine eigene Schuld!

 

Dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr los und haftete in seinem Geiste mit einer Beharrlichkeit, die schließlich den Zweifel zur Gewißheit werden ließ. Seine Augen, welche die zunehmende Dunkelheit zu durchdringen suchten, glaubten im Schatten einer Allee einen liegenden Gegenstand zu bemerken; er rief endlich laut, und es kam ihm vor, als ob eine unartikulierte Klage zu ihm dringe.

 

Endlich hörte er halb elf schlagen, er konnte sich unmöglich durch die Hoffnung länger hinhalten lassen, seine Schläfen schlugen mit aller Gewalt, Wolken zogen vor seinen Augen vorüber. Da erkletterte er die Mauer und sprang auf der anderen Seite hinab.

 

Maximilian war durch Einsteigen in fremdes Gebiet gedrungen; er bedachte die Folgen, die eine solche Handlung haben könnte; doch er war nicht so weit gegangen, um zurückzuweichen. Er strich zuerst an der Mauer hin, kam dann mit einem Sprunge durch die Allee und drang in ein Gebüsch. In einem Augenblick war er am Ende des Gebüsches. Von hier aus konnte er das Haus überschauen. Er sah nun bestätigt, was er bereits vermutet hatte; statt der Lichter, die, wie es an feierlichen Tagen üblich ist, an allen Fenstern hätten erglänzen sollen, sah er nichts als eine graue Masse, die noch durch einen großen Schatten verschleiert war, den eine ungeheure, den Mond verhüllende Wolke herabwarf.

 

Ein Licht lief gleichsam wie bestürzt an drei Fenstern des ersten Stockes hin. Diese drei Fenster gehörten zur Wohnung der Frau von Saint-Meran. Ein anderes Licht blieb unbeweglich hinter roten Vorhängen. Diese roten Vorhänge verhüllten das Fenster des Schlafzimmers der Frau von Villefort.

 

Morel erriet alles. So oft hatte er, um Valentine in Gedanken zu jeder Stunde zu folgen, sich den Plan dieses Hauses vorgestellt, daß er es, ohne darin gewesen zu sein, genau kannte. Der junge Mann war noch mehr erschrocken über diese Dunkelheit und dieses Schweigen, als vorher über die Abwesenheit Valentines. Ganz bestürzt, beinahe wahnsinnig vor Schmerz, entschlossen, allem zu trotzen, um Valentine wiederzusehen und sich Gewißheit über das Unglück, das er ahnte, zu verschaffen, trat er bis an den Saum des Gebüsches und schickte sich an, so rasch als möglich den ganz freiliegenden Blumengarten zu durchschreiten, als ein zwar noch entfernter, aber doch vom Winde zu ihm getragener Stimmenton an sein Ohr drang. Bei diesem Geräusch machte er einen Schritt rückwärts in das Blätterwerk hinein, versteckte sich darin völlig und blieb stumm und unbeweglich. Sein Entschluß war gefaßt; war es nur Valentine, so wollte er ihr zurufen; kam sie in Begleitung einer anderen Person, so konnte er sie wenigstens sehen und sich versichern, daß ihr kein Unglück begegnet sei; waren es aber fremde Personen, so konnte er vielleicht ein paar Worte von ihrem Gespräche auffangen und sich das unbegreifliche Rätsel erklären.

 

Der Mond trat nun aus der Wolke hervor, die ihn verbarg, und Morel sah an der Tür Herrn von Villefort, begleitet von einem Manne in schwarzem Anzuge, erscheinen. Sie gingen die Stufen herab und auf das Gebüsch zu; kaum hatten sie vier Schritte gemacht, als Morel den Doktor d’Avrigny erkannte.

 

Sobald der junge Mann diese beiden kommen sah, wich er unwillkürlich noch weiter zurück, bis er an den Stamm eines Ahornbaumes stieß, der den Mittelpunkt einer Baumgruppe bildete; hier war er genötigt, stehen zu bleiben. Bald hörte der Sand auf, unter den Tritten der beiden Männer zu knirschen. Ach, sagte der Staatsanwalt, der Himmel erklärt sich offen gegen unser Haus. Welch ein furchtbarer Tod! welch ein Donnerschlag! Versuchen Sie es nicht, mich zu trösten! Ach! es gibt keinen Trost für ein solches Unglück; die Wunde ist zu heftig und zu tief! Tot! Tot!

 

Ein kalter Schweiß ließ die Stirn des jungen Mannes eisig werden und seine Zähne klappern. Wer war in dem Hause gestorben, das Villefort selbst ein verfluchtes nannte?

 

Mein lieber Herr von Villefort, antwortete der Arzt mit einem Tone, der den Schrecken des jungen Mannes verdoppelte, ich habe Sie durchaus nicht hierher geführt, um Sie zu trösten, ganz im Gegenteil.

 

Was wollen Sie mir sagen? fragte der Staatsanwalt bestürzt.

 

Ich will Ihnen sagen, daß hinter dem Unglück, das Sie betroffen hat, sich ein anderes, vielleicht noch größeres verbirgt.

 

Oh! mein Gott! murmelte Villefort, die Hände faltend, was werde ich hören?

 

Sind wir ganz allein, mein Freund?

 

Ja, ganz allein. Doch was sollen diese Vorsichtsmaßregeln bedeuten?

 

Sie bedeuten, daß ich Ihnen eine furchtbare Mitteilung zu machen habe, sagte der Doktor; setzen wir uns!

 

Villefort fiel mehr auf eine Bank, als er sich darauf setzte. Der Doktor blieb, eine Hand auf seine Schulter legend, vor ihm stehen.

 

Vor Schrecken außer sich, hielt Morel mit einer Hand seine Stirn, während er mit der andern sein Herz preßte, daß man es nicht schlagen höre.

 

Reden Sie, Doktor, ich höre, sagte Villefort; schlagen Sie, ich bin auf alles gefaßt.

 

Frau von Saint-Meran war allerdings sehr alt, aber sie erfreute sich einer vortrefflichen Gesundheit.

 

Morel atmete zum ersten Male seit zehn Minuten.

 

Der Kummer hat sie getötet, sagte Villefort; ja, der Kummer, Doktor! Die Gewohnheit, seit vierzig Jahren mit dem Marquis zu leben …

 

Es ist nicht der Kummer, mein lieber Villefort, entgegnete der Doktor; der Kummer kann töten, obgleich die Fälle selten sind, aber er tötet nicht in einem Tage, er tötet nicht in einer Stunde, er tötet nicht in zehn Minuten. Villefort antwortete nicht; er hob das Haupt empor und schaute den Doktor mit erschrockenen Augen an. Sie sind während des Todeskampfes da geblieben? fragte Herr d’Avrigny.

 

Gewiß; Sie sagten mir leise, ich sollte mich nicht entfernen.

 

Haben Sie die Symptome des Übels wahrgenommen, dem Frau von Saint-Meran erlegen ist?

 

Sicher. Frau von Saint-Meran hat in Zwischenräumen von einigen Minuten drei aufeinander folgende schwere Anfälle gehabt. Als Sie ankamen, keuchte sie bereits seit mehreren Minuten; sie hatte sodann eine Krise, die ich für einen Nervenanfall hielt; doch ich fing an, wirklich zu erschrecken, als ich gewahrte, wie sie sich auf ihrem Bette mit starren Gliedern und steifem Halse erhob. Da erkannte ich an ihrem Gesichte, daß die Sache ernster sein mußte, als ich glaubte. Als die Krise vorüber war, suchte ich in Ihren Augen zu lesen, aber vergebens. Sie hielten den Puls, Sie zählten die Schläge, und die zweite Krise trat ein, ehe Sie mich wieder anblickten. Diese zweite Krise war furchtbarer als die erste, die Nervenzuckungen wiederholten sich, der Mund zog sich zusammen und wurde ganz blau. Bei der dritten verschied sie. Ich hatte bereits bei der ersten den Starrkrampf erkannt; Sie bestätigten mich in dieser Meinung.

 

Ja, vor allen Anwesenden, versetzte der Doktor; doch nun sind wir allein …

 

Mein Gott, was wollen Sie mir sagen?

 

Daß die Symptome des Starrkrampfes und der Vergiftung durch vegetabilische Stoffe ganz dieselben sind.

 

Herr von Villefort sprang auf, doch nach einem Augenblick der Unbeweglichkeit und des Stillschweigens fiel er wieder auf seine Bank und sagte: Oh! mein Gott, Doktor, bedenken Sie auch, was Sie sagen?

 

Morel wußte nicht, ob er träumte oder wachte.

 

Hören Sie, sagte der Doktor, ich bin mir des Gewichtes meiner Erklärung und des Charakters des Mannes, dem gegenüber ich sie abgebe, völlig bewußt.

 

Sprechen Sie mit dem Beamten oder mit dem Freunde? fragte Villefort.

 

Mit dem Freunde, mit dem Freunde allein in diesem Augenblick; die Ähnlichkeit zwischen den Symptomen des Starrkrampfes und denen der Vergiftung durch vegetabilische Substanzen ist so groß, daß ich nur zögernd unterzeichnen würde, was ich da sage. Ich wiederhole Ihnen auch, daß ich mich nicht an den Beamten, sondern an den Freund wende. Dem Freunde also sage ich: Während der drei Viertelstunden der Krisis studierte ich den Todeskampf, die Krämpfe, den Tod der Frau von Saint-Meran; nach meiner Überzeugung ist sie nun nicht nur vergiftet gestorben, sondern ich vermöchte auch zu sagen, welches Gift sie getötet hat.

 

Mein Herr!

 

Alles hat sich gezeigt, Schlafsucht, unterbrochen durch Nervenkrisen, Überreizung des Gehirns, Starre der Zentralteile des Nervensystems: Frau von Saint-Merau ist einer starken Dosis Strychnin oder Brucin unterlegen, die man ihr, nehme ich an, auf Zufall, vielleicht aus Irrtum, beigebracht hat.

 

Oh! das ist unmöglich! rief Villefort, die Hand des Doktors ergreifend; mein Gott, ich träume, es ist furchtbar, solche Dinge von einem Manne, wie Sie sind, zu hören! Im Namen des Himmels flehe ich Sie an, lieber Doktor, gestehen Sie mir, daß Sie sich täuschen können.

 

Allerdings kann ich dies, doch ich glaube es nicht.

 

Doktor, haben Sie Mitleid mit mir, seit einigen Tagen begegnen mir so unerhörte Dinge, daß es mir vorkommt, als müßte ich ein Narr werden.

 

Hat noch jemand außer mir Frau von Saint-Meran gesehen?

 

Niemand.

 

Hat man bei dem Apotheker eine Arznei holen lassen, die nicht von mir verordnet worden ist?

 

Nein.

 

Hatte Frau von Saint-Meran Feinde?

 

Ich kenne keine.

 

Hatte jemand ein Interesse an ihrem Tode?

 

Mein Gott! Nein; meine Tochter ist ihre einzige Erbin, Valentine allein … Oh! wenn mir ein solcher Gedanke käme, … ich würde mich erdolchen, um mein Herz zu bestrafen, daß es einen solchen Gedanken hatte hegen können.

 

Oh, teurer Freund! rief Herr d’Avrigny, Gott verhüte, daß ich irgend jemand anklage; verstehen Sie wohl, ich spreche nur von einem Zufall, von einem Irrtum. Doch Zufall oder Irrtum, es ist eine Tatsache, die ganz leise zu meinem Gewissen spricht und verlangt, daß mein Gewissen ganz laut mit Ihnen spreche. Forschen Sie nach!

 

Bei wem? wie? worüber?

 

Hören Sie! Sollte sich nicht Barrois, der alte Diener, getäuscht und der Frau von Saint-Meran irgend einen Trank gegeben haben, der für seinen Herrn bestimmt war?

 

Wie könnte denn ein für Herrn Noirtier bereiteter Trank Frau von Saint-Meran vergiften?

 

Das ist ganz einfach; Sie wissen, daß bei einzelnen Krankheiten die Gifte als Heilmittel dienen; die Lähmung ist eine dieser Krankheiten. Vor ungefähr drei Monaten entschloß ich mich, nachdem ich alles angewendet hatte, um Herrn Noirtier Stimme und Bewegung wiederzugeben, ein letztes Mittel zu versuchen; seit drei Monaten behandle ich ihn mit Brucin; so waren in dem letzten Tranke, den ich ihm verschrieb, sechs Zentigramm enthalten. Sechs Zentigramm ohne Wirkung auf die gelähmten Organe des Herrn Noirtier, an die er sich überdies durch stufenweise Dosen gewöhnt hatte, sechs Zentigramm genügen, um jede andere Person zu töten.

 

Mein lieber Doktor, es besteht keine Verbindung zwischen der Wohnung des Herrn Noirtier und der der Frau von Saint-Meran, und nie ist Barrois in das Zimmer meiner Schwiegermutter gekommen. Schließlich muß ich Ihnen auch sagen, Doktor, obgleich ich weiß, daß Sie der geschickteste und besonders der gewissenhafteste Mann von der Welt sind, obgleich unter allen Umständen Ihr Wort für mich eine Fackel ist, die mich leitet, wie das Licht der Sonne, – so ist es doch, trotz dieser Überzeugung, für mich ein Bedürfnis, mich auf den Satz: Irren ist menschlich, zu stützen.

 

Hören Sie, Villefort, sagte der Doktor, gibt es einen von meinen Kollegen, zu dem Sie so viel Zutrauen haben, wie zu mir?

 

Warum? Was wollen Sie damit sagen?

 

Rufen Sie ihn, ich teile ihm mit, was ich gesehen, was ich wahrgenommen habe, und wir nehmen die Öffnung der Leiche vor.

 

Und Sie werden die Spuren des Giftes finden?

 

Nein, nicht des Giftes, ich habe das nicht gesagt, sondern wir werden die Reizung des Systems bestätigt finden, die unleugbare Asphyxie erkennen und Ihnen sagen, lieber Villefort: Liegt Nachlässigkeit zu Grunde, so bewachen Sie Ihre Dienerschaft, – geschah die Tat aus Haß, so bewachen Sie Ihre Feinde.

 

Oh, mein Gott! was schlagen Sie mir da vor, d’Avrigny? entgegnete Villefort ganz niedergebeugt. Sobald ein anderer in das Geheimnis gezogen ist, wird eine Untersuchung notwendig, und eine Untersuchung bei mir, unmöglich! Dennoch, fuhr der Staatsanwalt, den Arzt unruhig anschauend, fort, dennoch, wenn Sie es durchaus verlangen, werde ich es tun. Ich muß in der Tat wohl der Sache auf den Grund gehen, mein Charakter heischt es. Doch Sie sehen mich zum voraus von Traurigkeit erfüllt, Doktor, auf mein Haus nach so vielen Schmerzen diesen Flecken zu werfen! Oh! für meine Frau und meine Tochter ist das der Tod; und ich, Doktor, Sie wissen, ein Mann gelangt nicht dahin, wo ich bin, ein Mann ist nicht fünfundzwanzig Jahre Staatsanwalt gewesen, ohne sich viele Feinde zuzuziehen; die Zahl der meinigen ist groß.. Wird diese Geschichte ruchbar, so ist das ein Triumph für diese Feinde, der sie vor Freuden jubeln läßt und mich mit Schmach bedeckt. Doktor, verzeihen Sie mir diese weltlichen Gedanken. Wenn Sie Priester wären, würde ich, es nicht wagen, Ihnen dies zu sagen; aber Sie sind ein Mensch, Sie kennen die anderen Menschen; Doktor, nicht wahr, Sie haben mir nichts gesagt?

 

Mein lieber Herr von Villefort, antwortete der Doktor erschüttert, meine erste Pflicht ist Menschlichkeit. Ich hätte Frau von Saint-Meran gerettet, wenn es in der Macht der Wissenschaft gelegen hätte, dies zu tun; aber sie ist tot, und ich schulde alle meine Kunst den Lebenden. Begraben wir in die tiefste Tiefe unserer Herzen dieses furchtbare Geheimnis! Sollte aber jemand den Schleier lüften, so mag man immerhin mein Schweigen meiner Unwissenheit zur Last legen. Suchen Sie jedoch trotzdem, suchen Sie eifrig, mein Freund, denn es bleibt vielleicht nicht hierbei … Und wenn Sie den Schuldigen gefunden haben, so werde ich Ihnen sagen: Sie sind Beamter, tun Sie, was Sie wollen.

 

Oh! Dank, Dank, Doktor! sagte Villefort mit unsäglicher Freude, ich habe nie einen besseren Freund gehabt, als Sie.

 

Und er erhob sich, als befürchte er, der Doktor könnte von seinem Zugeständnis zurücktreten, und zog ihn nach den Hause fort. – Sie verschwanden.

 

Morel streckte, als müßte er Atem schöpfen, den Kopf aus dem Gebüsche hervor, und der Mond beleuchtete sein Gesicht, das so bleich war, daß man es für ein Gespenst hätte halten können.

 

Gott beschützt mich offenbar, aber auf eine furchtbare Weise! sagte er. Doch Valentine! Valentine! arme Freundin! wird sie so vielen Schmerzen widerstehen? Während er diese Worte sprach, schaute er abwechselnd das Fenster mit den roten Vorhängen an. Das Licht war fast völlig von dem Fenster mit den roten Vorhängen verschwunden. Ohne Zweifel hatte Frau von Villefort die Kerzen ausgelöscht, und die Nachtlampe allein sandte ihren Schein an die Scheiben.

 

Am Ende des Gebäudes sah er dagegen eines von den drei Fenstern mit den weißen Vorhängen sich öffnen. Die auf dem Kamin stehende Kerze warf nach außen einige Strahlen ihres bleichen Lichtes, und es lehnte sich einen Augenblick jemand mit dem Ellenbogen auf den Balkon.

 

Morel bebte; es kam ihm vor, als hätte er ein Schluchzen gehört.

 

Man darf sich nicht darüber wundern, daß die sonst so mutige und kräftige, nun aber durch die beiden stärksten menschlichen Leidenschaften, die Liebe und die Furcht, erschütterte und überspannte Seele dergestalt geschwächt war, daß sie abergläubischen Sinnestäuschungen unterlag.

 

Obgleich Maximilian unmöglich von Valentine wahrgenommen werden konnte, kam es ihm vor, als würde er von dem Schatten am Fenster gerufen; sein gestörter Geist sagte es ihm, sein glühendes Herz wiederholte es. Dieser doppelte Irrtum wurde unwiderstehlich; er trat aus seinem Versteck hervor und setzte, auf die Gefahr hin, gesehen zu werden, oder Valentine zu erschrecken, mit zwei Sprüngen über das Blumenbeet, erreichte die Reihe von Orangenbäumen, die sich vor dem Hanse ausdehnte, gelangte auf die Stufen der Freitreppe, stieg diese rasch hinauf und stieß an eine Tür, die sich ohne Widerstand vor ihm öffnete.

 

Valentine hatte ihn nicht gesehen; ihre zum Himmel aufgeschlagenen Augen folgten einer silbernen Wolke, die, einem aufsteigenden Schatten ähnlich, an dem Azur hinglitt; ihr poetischer, überwallender Geist sagte ihr, es sei die Seele ihrer Großmutter.

 

Morel durchschritt das Vorhaus und fand das Treppengeländer. Auf den Stufen ausgebreitete Teppiche dämpften seinen Tritt; übrigens war er zu jenem Grade von Überspannung gelangt, wo ihn selbst das Erscheinen des Herrn von Villefort nicht erschreckt hätte. Sollte sich dieser zeigen, so war Morel entschlossen, sich ihm zu nähern, seine Liebe zu gestehen und um die Einwilligung des Staatsanwalts zu bitten. Morel war verrückt.

 

Zum Glück sah er niemand.

 

Jetzt kam ihm die Kenntnis, die er durch Valentine vom Innern des Hauses gewonnen hatte, zu statten. Er gelangte ohne Unfall oben auf die Treppe, und hier deutete ihm ein Schluchzen, über dessen Quelle er keinen Zweifel hegte, den Weg an, dem er zu folgen hatte. Er wandte sich um; eine etwas geöffnete Tür ließ den Schein des Lichtes und den Ton einer seufzenden Stimme zu ihm dringen. Im Hintergrunde eines Alkovens, unter dem weißen Tuche, das ihren Kopf bedeckte und ihre Form hervorhob, lag die Tote, schrecklicher noch in Morels Augen seit der Enthüllung des Geheimnisses, die ihm durch Zufall zuteil geworden war.

 

Neben dem Bette kniete Valentine, den Kopf in die Kissen eines Polsterstuhls vergraben. Man sah, wie sich ihr Körper von Zeit zu Zeit durch das Schluchzen emporhob; ihre starren Hände hielt sie gefaltet.

 

 

Valentine war vom offengebliebenen Fenster weggegangen und betete ganz laut in Tönen, die auch das unempfindlichste Herz gerührt haben müßten; die Worte entschlüpften ihren Lippen, rasch, unzusammenhängend, unverständlich, so sehr preßte ihr der brennende Schmerz die Kehle zusammen. Der Mond, der durch die Öffnung der Vorhänge glitt, ließ den Schein der Kerze erbleichen und übergoß mit seiner fahlen Farbe dieses trostlose Bild.

 

Morel konnte dem Schauspiel nicht widerstehen, er war von keiner musterhaften Frömmigkeit und auch nicht so leicht empfänglich für gewöhnliche Eindrücke, aber Valentine weinend, leidend, vor seinen Augen die Hände ringend … das vermochte er nicht still zu ertragen. Er stieß einen Seufzer aus, flüsterte einen Namen, und der in Tränen gebadete, marmorbleiche Kopf hob sich empor und wandte sich ihm zu.

 

Valentine erblickte ihn und zeigte kein Erstaunen. In einem von der höchsten Verzweiflung erfüllten Gemüte ist kein Raum für geringere Regungen. Morel reichte seiner Freundin die Hand. Statt jeder Entschuldigung, warum sie ihn nicht aufgesucht, deutete sie auf den unter dem weißen Tuche liegenden Leichnam und fing wieder an zu schluchzen.

 

Keines von ihnen wagte im ersten Augenblick, in diesem Zimmer zu reden. Jedes zögerte, das Stillschweigen zu brechen, das der Tod, der mit dem Finger auf den Lippen irgendwo im Winkel stand, aufzuerlegen schien.

 

Valentine wagte es zuerst und sagte: Freund, wie bist du hierher gekommen? Ach! ich würde dir sagen: Sei willkommen, wenn dir nicht der Tod die Tür dieses Hauses geöffnet hätte.

 

Valentine, erwiderte Morel mit zitternder Stimme und gefalteten Händen, ich war seit halb neun Uhr da; ich sah dich nicht kommen; die Unruhe erfaßte mich, ich sprang über die Mauer, drang in den Garten und hörte Stimmen, die über das unselige Ereignis sprachen.

 

Was für Stimmen? fragte Valentine.

 

Morel bebte, denn die Unterredung des Herrn d’Avrigny mit Herrn von Villefort trat vor seinen Geist, und er glaubte durch das Leichentuch die gekrümmten Arme, den steifen Hals, die blauen Lippen der Vergifteten zu sehen.

 

Die Stimmen Ihrer Bedienten haben mich von allem unterrichtet, sagte er.

 

Doch hier erscheinen, heißt uns zu Grunde richten, mein Freund, versetzte Valentine ohne Schreck und ohne Zorn.

 

Vergib mir, sagte Morel mit demselben Tone, ich will mich entfernen.

 

Nein, man würde dir begegnen, bleibe.

 

Doch wenn man käme? …

 

Das Mädchen schüttelte den Kopf und entgegnete: Es wird niemand kommen, sei unbesorgt, hier ist unsere Schutzwache. Und sie deutete auf die durch das Tuch sich abdrückende Form des Leichnams.

 

Doch, ich bitte dich, sage mir, was ist mit Herrn d’Epinay geschehen? fragte Morel.

 

Herr Franz kam, um den Vertrag zu unterzeichnen, gerade in dem Augenblick, wo meine gute Großmutter den letzten Seufzer aushauchte.

 

Ach! rief Morel mit einem Gefühle selbstsüchtiger Freude, denn er bedachte, daß dieser Tod Valentines Verheiratung auf unbestimmte Zeit verzögerte.

 

Doch was meinen Schmerz verdoppelt, fuhr das Mädchen fort, als sollte dieses Gefühl auf der Stelle seine Strafe erhalten, ist der Umstand, daß meine gute Großmutter sterbend befohlen hat, diese Heirat sobald als möglich zu vollziehen. Mein Gott! im Glauben, mich zu beschützen, handelte auch sie gegen mich.

 

Hörst du! sagte Morel.

 

Die jungen Leute schwiegen.

 

Man hörte, wie eine Tür sich öffnete und Tritte den Boden des Ganges und die Stufen der Treppe krachen ließen.

 

Es ist mein Vater, der sein Kabinett verläßt, sagte Valentine.

 

Und den Doktor zurückbegleitet, fügte Morel bei.

 

Woher weißt du, daß es der Doktor ist? fragte Valentine erstaunt.

 

Ich setze es voraus, sprach Morel.

 

Valentine schaute den jungen Mann an.

 

Man hörte indessen, daß die Tür, die auf die Straße führte, wieder zugeschlossen wurde. Herr von Villefort drehte den Schlüssel auch in der Tür zum Garten um und stieg dann die Treppe hinauf.

 

Im Vorzimmer blieb er einen Augenblick stehen, ohne Zweifel überlegend, ob er in seine Wohnung oder in das Zimmer der Frau von Saint-Meran gehen sollte; Morel warf sich hinter einen Türvorhang. Valentine machte keine Bewegung; es schien, als sei der höchste Schmerz über gewöhnliche Befürchtungen erhaben.

 

Herr von Villefort kehrte in sein Zimmer zurück.

 

Nun kannst du weder mehr in den Garten, noch nach der Straße hinaus.

 

Morel schaute das Mädchen voll Erstaunen an.

 

Es gibt nur noch einen erlaubten und sichern Ausgang, nämlich durch die Wohnung meines Großvaters. Komm, komm, sagte sie aufstehend.

 

Wohin? fragte Maximilian.

 

Zu meinem Großvater.

 

Ich, zu Herrn Noirtier?

 

Ja.

 

Bedenkst du auch, Valentine?

 

Ich bedenke. Und zwar seit langer Zeit. Ich habe, nur noch diesen Freund auf der Welt, und wir bedürfen seiner beide …

 

Nimm dich in acht, Valentine, sagte Morel, ungewiß, ob er tun sollte, was ihn Valentine tun hieß, nimm dich in acht, die Binde ist von meinen Augen gefallen. Als ich hierher kam, beging ich eine Handlung des Wahnsinns. Bist du wohl auch im Besitz deiner ganzen Vernunft, teure Freundin?

 

Ja, und ich habe nur eine Bedenklichkeit in der Welt, nämlich, daß ich die Überreste meiner armen Großmutter, die ich mir zu bewachen gelobt, allein lassen soll.

 

Valentine, der Tod ist durch sich selbst heilig.

 

Ja, so ist es, und überdies wird es nicht lange währen.

 

Valentine durchschritt den Gang und stieg eine kleine Treppe hinab, die zu Noirtiers Wohnung führte. Morel folgte ihr auf den Fußspitzen. Im Vorzimmer fanden sie den alten Diener.

 

Barrois, sagte Valentine, schließe die Tür und lasse niemand herein. Sie ging voran. Noch in seinem Lehnstuhle sitzend, auf das geringste Geräusch achtend, durch seinen alten Diener von allem, was vorfiel, unterrichtet, heftete Noirtier seine Blicke auf den Eingang des Zimmers; er sah Valentine, und sein Auge glänzte.

 

Es lag in dem Gange und in der Haltung des Mädchens etwas Ernstes, Feierliches, was dem Greise auffiel. So glänzend auch sein Auge war, so wurde es doch forschend. Lieber Vater, sagte sie, höre mich wohl! Du weißt, daß die gute Mama vor einer Stunde gestorben ist, und daß ich nun, dich ausgenommen, auf der Welt niemand mehr habe, der mich liebt?

 

Ein Ausdruck unbeschreiblicher Zärtlichkeit leuchtete aus den Augen des Greises. Nicht wahr, dir allein muß ich meinen Kummer oder meine Hoffnungen anvertrauen?

 

Der Gelähmte machte ein bejahendes Zeichen.

 

Valentine nahm Maximilian bei der Hand und sagte: So sieh diesen Herrn an! Der Greis heftete sein Auge forschend, zugleich aber etwas erstaunt auf Morel.

 

Es ist Herr Maximilian Morel, der Sohn des ehrlichen Kaufmanns in Marseille, von dem du ohne Zweifel hast sprechen hören.

 

Ja, machte der Greis.

 

Ein tadelloser Name, den Maximilian glorreich machen wird, denn mit dreißig Jahren ist er Kapitän der Spahis und Offizier der Ehrenlegion. Der Greis machte ein Zeichen, daß er sich dessen erinnere.

 

Wohl, guter Papa, sagte Valentine, vor dem Greise niederkniend und mit der Hand auf Maximilian deutend, ich liebe ihn und werde nur ihm gehören! Zwingt man mich, einen andern zu heiraten, so sterbe ich, und mußte ich mir selbst das Leben nehmen. Die Augen des Gelähmten drückten eine ganze Welt stürmischer Gedanken aus.

 

Nicht wahr, guter Papa, du liebst Herrn Maximilian Morel? sagte das Mädchen.

 

Ja, machte der Greis.

 

Und du willst uns, die wir deine Kinder sind, gegen den Willen meines Vaters beschützen?

 

Noirtier heftete seinen gescheiten Blick auf Morel, als wollte er ihm sagen: Je nachdem.

 

Maximilian verstand ihn und sagte: Mein Fräulein, Sie haben eine heilige Pflicht in dem Zimmer Ihrer Großmutter zu erfüllen; wollen Sie mir erlauben, daß ich die Ehre habe, einen Augenblick mit Herrn Noirtier zu sprechen?

 

Ja, ja, das ist es, sagte das Auge des Greises; dann schaute er Valentine unruhig an.

 

Wie er es machen werde, um dich zu verstehen, willst du sagen, guter Vater?

 

Ja.

 

Oh! sei unbesorgt, wir haben so oft von dir gesprochen, daß er wohl weiß, wie ich mit dir rede.

 

Dann fügte sie mit einem anbetungswürdigen Lächeln, das freilich durch eine tiefe Traurigkeit verschleiert war, zu Maximilian gewendet, hinzu: Er weiß alles, was ich weiß.

 

Valentine erhob sich, rückte für Morel einen Stuhl vor, empfahl Barrois, niemand eintreten zu lassen, umarmte zärtlich ihren Großvater, drückte ihrem Verlobten traurig die Hand und entfernte sich.

 

Um Noirtier zu beweisen, daß er Valentines Vertrauen besitze und alle ihre Geheimnisse kenne, nahm er das Wörterbuch, die Feder und das Papier und legte alles auf einen Tisch, auf dem eine Lampe stand. Vor allem, sagte Morel, vor allem erlauben Sie mir, Ihnen zu erzählen, mein Herr, wer ich bin, wie ich Fräulein Valentine liebe, und was meine Absichten in Bezug auf Ihre Enkelin sind.

 

Ich höre, machte Noirtier.

 

Er bot ein eindrucksvolles Schauspiel, dieser Greis, scheinbar so kraftlos und unnütz, der aber doch der einzige Beschützer und die einzige Stütze, der einzige Berater zweier junger, schöner, starker Liebenden geworden war. Sein Antlitz, in dem sich Adel und ungewöhnliche Energie paarten, brachte eine mächtige Wirkung auf Morel hervor, der seine Erzählung zitternd begann.

 

Er teilte dem Greise mit, wie er Valentine kennen gelernt habe, wie er sie geliebt, und wie sie, vereinsamt und unglücklich, wie sie war, seine Ergebenheit aufgenommen habe. Er sprach von seiner Geburt, von seiner Stellung, von seinem Vermögen; und mehr als einmal, wenn er den Blick des Gelähmten befragte, antwortete ihm dieser Blick: Es ist gut: fahren Sie fort!

 

Als Morel diesen ersten Teil seiner Erzählung beendigt hatte, sagte er: Mein Herr, soll ich nun, da ich Ihnen meine Liebe und meine Hoffnungen geschildert, auch meine Pläne schildern?

 

Ja, machte der Greis.

 

Wohl, so hören Sie, was wir beschlossen haben.

 

Er setzte hierauf Noirtier alles auseinander, wie ein Wagen in dem Gehege warte, wie er beabsichtige, Valentine zu entführen, zu seiner Schwester zu bringen, zu heiraten und mit ergebenem Warten auf die Verzeihung des Herrn von Villefort zu hoffen.

 

Nein, machte der Greis.

 

Nein, versetzte Morel, wir sollen nicht so handeln?

 

Nein.

 

Dieser Plan findet also nicht Ihre Beistimmung?

 

Nein.

 

Gut, es gibt noch ein anderes Mittel, sagte Morel.

 

Der Blick des Greises fragte: Welches?

 

Ich werde Franz d’Epinay aufsuchen, fuhr Maximilian fort, ich bin glücklich, Ihnen dies in Abwesenheit des Fräulein von Villefort sagen zu können, und mich gegen ihn so benehmen, daß er sich als ein mutiger Mann zu handeln gezwungen sieht.

 

Noirtiers Blick fragte fortwährend: Was werden Sie tun?

 

Hören Sie, antwortete Morci. Ich werde Franz, wie ich Ihnen sagte, aufsuchen und ihm erzählen, welche Bande mich mit Fräulein Valentine vereinigen. Ist es ein Mann von Zartgefühl, so wird er es dadurch beweisen, daß er von selbst auf die Hand seiner Braut Verzicht leistet, und von dieser Stunde an bis zum Tode kann er auf meine Freundschaft und Ergebenheit rechnen. Weigert er sich, sei es aus Interesse, sei es aus lächerlichem Stolz, so werde ich mich, nachdem ich ihm auseinandergesetzt, daß er Valentine Zwang antue, daß sie mich liebe und keinen andern lieben könne, mit ihm schlagen und ihn töten, oder mich von ihm töten lassen. Töte ich ihn, so wird er Valentine nicht heiraten; tötet er mich, so bin ich sicher, daß Valentine ihn nicht heiratet.

 

Mit unsäglichem Vergnügen betrachtete Noirtrer dieses edle, aufrichtige Antlitz, auf dem sich alle Gefühle ausprägten, die seine Zunge sprach, denn der sprechende Ausdruck seines schönen Gesichtes verlieh Morels Worten das, was die Farbe einer genauen und wahren Zeichnung verleiht. Als jedoch Morel zu sprechen aufgehört hatte, schloß Noirtier wiederholt die Augen, was, wie man sich erinnert, nein bedeutete.

 

Nein? versetzte Morel. Also mißbilligen Sie diesen zweiten Plan wie den ersten?

 

Ja, ich mißbillige ihn, machte der Greis.

 

Aber was soll ich tun, mein Herr? fragte Morel. Nach den letzten Worten der Frau von Saint-Meran wird die Heirat Ihrer Enkelin bald vollzogen werden; soll ich die Dinge ihren Weg gehen lassen?

 

Noirtier blieb unbeweglich.

 

Ja, ich begreife, sagte Morel, ich soll warten. – Ja.

 

Aber mein Gott, wenn Sie die beiden einzigen Wege verwerfen, die mir möglich scheinen, von wem soll uns die Hilfe kommen, die wir vom Himmel erwarten?

 

Der Greis lächelte mit den Augen, wie er zu lächeln pflegte, wenn man zu ihm vom Himmel sprach. Er war immer noch der alte Atheist und Jakobiner.

 

Vom Zufall? fragte Morel. – Nein. – Von Ihnen? – Ja. – Von Ihnen? – Ja, wiederholte der Greis.

 

Begreifen Sie wohl, was ich Sie frage, mein Herr? Entschuldigen Sie mich, doch mein Leben hängt von Ihrer Antwort ab; wird unser Heil von Ihnen kommen? – Ja. – Sind Sie dessen sicher? – Ja.

 

Es lag eine solche Festigkeit in dem Blicke, der diese Versicherung gab, daß man unmöglich an dem Willen, wenn vielleicht auch an der Macht, zweifeln konnte.

 

Oh, ich danke, mein Herr, ich danke tausendmal. Doch wenn nicht ein Wunder des Herrn Ihnen die Sprache, die Gebärde, die Bewegung zurückgibt, wie können Sie, an diesen Stuhl gefesselt, sich dieser Heirat widersetzen?

 

Ein Lächeln erleuchtete das Antlitz des Greises, ein seltsames Lächeln, das Lächeln der Augen auf einem unbeweglichen Gesichte.

 

Ich soll also warten? fragte der junge Mann. Doch der Vertrag?

 

Es erschien dasselbe Lächeln.

 

Wollen Sie mir sagen, er werde nicht unterzeichnet?

 

Ja, machte Noirtier.

 

Also wird der Vertrag nicht unterzeichnet werden! rief Morel. Oh! verzeihen Sie mir, mein Herr, bei der Ankündigung eines großen Glückes ist man zu zweifeln berechtigt; der Vertrag wird also nicht unterzeichnet werden?

 

Nein, machte der Gelähmte.

 

Trotz dieser Versicherung wollte Morel nicht an sein Glück glauben. Das Versprechen eines ohnmächtigen Greises war so seltsam, daß es, statt der Willenskraft zu entspringen, ebensogut in einer Schwäche der Organe seinen Ursprung haben konnte. Ist es nicht natürlich, daß der Wahnsinnige, der nichts von der Störung seines Geistes weiß, für sein Vermögen Unüberwindliches ausführen zu können glaubt? Der Schwache spricht von Lasten, die er aufhebt, der Schüchterne von Riesen, denen er Trotz bietet, der Arme von Schätzen, über die er zu gebieten hat, der Niedriggeborene nennt sich in seinem Stolze Jupiter.

 

Ob nun Noirtier die Unentschiedenheit des jungen Mannes begriffen hatte, ob er der Gelehrigkeit, die er gezeigt, keinen vollen Glauben schenkte, er schaute Maximilian fest an. Was wollen Sie, mein Herr? fragte Morel, soll ich Ihnen mein Versprechen, nichts zu tun, wiederholen?

 

Noirtiers Blick blieb fest und starr, als wollte er sagen, ein Versprechen genüge nicht; dann schaute er auf Morels Hand.

 

Soll ich schwören, mein Herr? fragte Maximilian.

 

Ja, machte der Lahme mit derselben Feierlichkeit.

 

Morel begriff, daß dem Greise an diesem Eide viel gelegen sei.

 

Er streckte die Hand aus und sagte: Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, abzuwarten, was Sie gegen die Ansprüche des Herrn d’Epinay zu unternehmen gedenken.

 

Gut, machten die Augen des Greises.

 

Nun befehlen Sie, mein Herr, daß ich mich zurückziehe?

 

Ja.

 

Morel bedeutete durch ein Zeichen, er sei bereit, zu gehorchen.

 

Erlauben Sie, mein Herr, fuhr Morel fort, daß Ihr Sohn Sie umarmt, wie es soeben Ihre Tochter getan hat?

 

Man konnte sich in dem Ausdrucke der Augen des Greises nicht täuschen. Der junge Mann drückte auf Noirtiers Stirn seine Lippen an dieselbe Stelle, an die Valentine die ihrigen gedrückt hatte.

 

Dann verbeugte er sich zum zweiten Male vor dem Greise und ging hinaus. Außen fand er den alten Diener, den Valentine in Kenntnis gesetzt hatte; er erwartete Morel und geleitete ihn durch die Krümmungen eines düsteren Ganges, der zu einer nach dem Garten gehenden kleinen Tür führte. Bald hatte Morel das Gitter erreicht; durch die Hagenbuchenhecke war er in einem Augenblick oben auf der Mauer und durch seine Leiter in einer Sekunde in dem Luzernengehege, wo sein Wagen immer noch seiner harrte. Er stieg ein, kehrte müde und matt, aber mit freierem Herzen in die Rue Meslay zurück, warf sich auf sein Bett und schlief, als läge er in den Banden tiefer Trunkenheit.

 

Die Gruft der Familie Villefort.

 

Die Gruft der Familie Villefort.

 

Zwei Tage nachher versammelte sich eine beträchtliche Menge Menschen gegen zehn Uhr morgens vor der Tür des Herrn von Villefort, und man sah eine Reihe von Trauerwagen und Privatgefährten den Faubourg Saint-Honors und die Rue de la Pépinière entlang ziehen.

 

Unter diesen Wagen hatte einer eine sonderbare Form. Es war eine Art von schwarz angemaltem Packwagen. Auf ihre Erkundigung erfuhren die Leidtragenden, daß dieser Wagen den Körper des Marquis von Saint-Mecan enthalte. Die Zahl der Anwesenden war sehr groß. Der Marquis von Saint-Meran, einer der eifrigsten und getreuesten Würdenträger König Ludwigs XVIII. und König Karls X., besaß eine große Zahl von Freunden, zu denen noch die vielen Personen kamen, die durch gesellschaftliche Bande an Herrn von Villefort geknüpft waren.

 

Ein zweiter Wagen, mit derselben Pracht geschmückt, fuhr vor der Tür des Herrn von Villefort vor, und der Sarg wurde von dem erwähnten Transportwagen auf den Leichenwagen gebracht.

 

Die beiden Toten sollten in dem Friedhofe des Père la Chaise bestattet werden, wo seit langer Zeit Herr von Villefort das für das Begräbnis seiner ganzen Familie bestimmte Gewölbe hatte errichten lassen. In diesem Gewölbe ruhte bereits der Leichnam der armen Renée, mit der sich ihr Vater und ihre Mutter nach zehnjähriger Trennung wieder vereinigen sollten.

 

Miteinander in demselben Trauerwagen unterhielten sich Beauchamp, Debray und Chateau-Renaud über den plötzlichen Todesfall.

 

Ich habe Frau von Saint-Meran bei meiner Rückkehr von Algerien im vorigen Jahre in Marseille gesehen, sagte Chateau-Renaud; mit ihrer vollkommenen Gesundheit, mit ihrer Geistesgegenwart und ihrer wunderbaren Rüstigkeit schien sie zu einem Leben von hundert Jahren bestimmt. Wie alt war die Marquise?

 

Sechsundsechzig Jahre, wenigstens wie mir Franz versicherte, antwortete Albert. Doch das Alter ist es nicht, was sie getötet hat, sondern der Kummer über den Tod des Marquis; es scheint, daß sie seit diesem Tode, der sie aufs heftigste erschütterte, nicht mehr völlig zur Vernunft gekommen ist.

 

Doch, woran ist sie denn gestorben? fragte Debray.

 

An einer Hirnkongestion, wie es scheint, oder an einem Schlagflusse.

 

Schlagfluß, versetzte Beauchamp, das ist schwer zu glauben. Frau von Saint-Meran, die ich ebenfalls ein- oder zweimal in meinem Leben gesehen habe, war klein, von schwächlicher Gestalt und von mehr nervöser als sanguinischer Konstitution. Daß ein solcher Körper einem Schlagfluß erliegt, ist sehr selten.

 

Wie dem auch sein mag, sagte Albert, mag sie der Arzt oder die Krankheit getötet haben, Herr von Villefort oder Fräulein Valentine oder vielmehr unser Freund Franz ist nun im Besitze einer herrlichen Erbschaft, achtzigtausend Franken Rente, glaube ich.

 

Eine Erbschaft, die sich beim Tode des alten Jakobiners Noirtier beinahe verdoppelt.

 

Das nenne ich einen hartnäckigen Großvater, versetzte Beauchamp. Tenacem propositi virum. Er hat, glaube ich, gegen den Tod gewettet, er würde alle seine Erben beerdigen, und es wird ihm, meiner Treu, gelingen. Er ist das alte Konventsmitglied von 93, das im Jahr 1814 zu Napoleon sagte: Sie sinken, weil Ihr Kaiserreich ein junger, durch zu schnelles Wachsen saftlos gewordener Stamm ist. Nehmen Sie die Republik zum Vormund! Lassen Sie uns mit einer guten Konstitution auf die Schlachtfelder zurückkehren! Und ich verspreche Ihnen 500 000 Soldaten, ein neues Marengo und ein zweites Austerlitz. Die Ideen sterben nicht, Sire, sie schlummern zuweilen, aber sie erwachen stärker, als sie vor dem Einschlafen gewesen sind.

 

Es scheint, für ihn sind die Menschen, wie die Ideen; nur eines beunruhigt mich, ich möchte wissen, wie sich Franz d’Epinay in einen Großschwiegervater fügen wird, der seine Frau nicht entbehren kann. Doch wo ist Franz?

 

Im ersten Wagen mit Herrn von Villefort, der ihn bereits als zur Familie gehörig betrachtet.

 

In jedem von den Wagen, die dem Leichenbegängnis folgten, fand ungefähr dasselbe Gespräch statt; man staunte über die beiden so plötzlich und so rasch hintereinander eingetretenen Todesfälle; doch in keinem ahnte man das furchtbare Geheimnis, das Herr d’Avrigny bei seinem nächtlichen Spaziergang Herrn von Villefort mitgeteilt hatte.

 

Nach ungefähr einer Stunde gelangte man an das Tor des Friedhofes; es herrschte eine ruhige, aber düstere Witterung, die mit der eben stattfindenden Trauerfeierlichkeit im Einklange stand. Unter den Gruppen, die sich nach dem Familiengrabgewölbe wandten, erkannte Chateau-Renaud Morel, der ganz allein und im Kabriolett gekommen war; er ging, sehr bleich und schweigsam, auf dem schmalen, mit Eibenbäumen eingefaßten Pfade.

 

Sie hier? sagte Chateau-Renaud, seinen Arm unter den des jungen Kapitäns legend; Sie kennen also Herrn von Villefort? Wie kommt es denn, daß ich Sie nie bei ihm gesehen habe?

 

Ich kenne Herrn von Villefort nicht, entgegnete Morel, aber ich kannte Frau von Saint-Meran.

 

In diesem Augenblick trat Albert mit Franz zu ihnen.

 

Der Ort ist für eine Vorstellung schlecht gewählt, sagte Albert; doch gleichviel, wir sind nicht abergläubisch. Herr Morel, erlauben Sie mir, Ihnen Herrn Franz d’Epinay, einen vortrefflichen Reisegesellschafter, vorzustellen, mit dem ich Italien durchwandert habe. Mein lieber Franz, Herr Maximilian Morel, ein vortrefflicher Freund, den ich mir in deiner Abwesenheit erworben, und dessen Namen du in meiner Unterhaltung so oft hören wirst, als ich von Geist, Herz und Liebenswürdigkeit zu sprechen habe.

 

Morel war einen Augenblick unentschieden. Er fragte sich, ob nicht die freundliche Begrüßung eines Mannes, den er insgeheim bekämpfte, eine verdammenswerte Heuchelei sei; doch im Gedanken an seinen Schwur bemühte er sich, nichts auf seinem Gesichte durchblicken zu lassen, und grüßte ruhig.

 

Fräulein von Villefort ist wohl sehr traurig? sagte Debray zu Franz.

 

Oh! mein Herr, sie ist unaussprechlich traurig; heute morgen war sie so entstellt, daß ich sie kaum erkannte.

 

Die scheinbar so wenig besagenden Worte brachen Morel das Herz. Dieser Mensch hatte also Valentine gesehen, er hatte mit ihr gesprochen!

 

Der junge aufbrausende Offizier bedurfte seiner ganzen Kraft, um dem Verlangen, seinen Schwur zu brechen, zu widerstehen. Er nahm Chateau-Renaud am Arm und zog ihn rasch nach dem Grabgewölbe fort, vor dem die mit den Zeremonien des Leichenbegängnisses Beauftragten die beiden Särge niedergesetzt hatten.

 

Villeforts Familienbegräbnis bildete ein Geviert von weißen Steinen und war etwa zwanzig Fuß hoch. Durch die Bronzetür sah man nur ein Vorgemach, das durch eine Mauer von dem eigentlichen Grabgemach getrennt war. Mitten in dieser Mauer öffneten sich zwei Türen, die zu den Grabstätten der Villefort und Saint-Meran führten.

 

Die beiden Särge kamen in das Grabgewölbe rechts, das der Familie Saint-Meran, und wurden dort auf dazu bestimmte Gestelle gesetzt. Villefort, Franz und einige nahe Verwandte traten allein in das Allerheiligste.

 

Da die religiösen Zeremonien sich vor der Tür vollzogen und keine Rede gehalten wurde, so trennten sich die Anwesenden bald; Chateau-Renaud, Albert und Morel entfernten sich nach der einen Seite, Debray und Beauchamp nach der andern. Franz blieb mit Herrn von Villefort zurück. Am Tore des Friedhofes stand Morel unter irgend einem Vorwand still; er sah Franz in einem Trauerwagen mit Herrn von Villefort herausfahren, und es erfaßte ihn eine schlimme Ahnung, als er dieses Zusammensein unter vier Augen wahrnahm. Er kehrte daher nach Paris zurück, und obgleich er in demselben Wagen mit Chateau-Renaud und Albert fuhr, hörte er doch kein Wort von dem, was die beiden sprachen.

 

Als Franz Herrn von Villefort verlassen wollte, hatte dieser gesagt: Herr Baron, wann werde ich Sie wiedersehen?

 

Wann Sie wollen, hatte Franz erwidert.

 

Sobald als möglich.

 

Ich stehe zu Ihren Befehlen, mein Herr; ist es Ihnen genehm, daß wir zusammen zurückkehren?

 

Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist.

 

Keineswegs.

 

So stiegen der zukünftige Schwiegervater und der zukünftige Schwiegersohn in einen Wagen, und Morel wurde, als er sie vorüberfahren sah, wie gesagt, von Unruhe erfaßt.

 

Villefort und Franz kehrten nach dem Faubourg-Saint-Honoré zurück. Ohne bei jemand einzutreten, ohne mit seiner Frau oder seiner Tochter zu sprechen, ließ der Staatsanwalt den jungen Mann in sein Kabinett gehen, bezeichnete ihm einen Stuhl und sagte: Herr d’Epinay, ich muß Sie daran erinnern, und der Augenblick ist nicht so schlecht gewählt, als es den Anschein hat, denn der Gehorsam gegen die Toten ist das erste Opfer, das man auf ihren Sarg zu legen hat, ich muß Sie also daran erinnern, daß nach dem von Frau von Saint-Meran auf ihrem Sterbebette vorgestern ausgedrückten Wunsche Valentines Heirat keinen Aufschub duldet. Sie wissen, daß die Angelegenheiten der Hingeschiedenen vollkommen in Ordnung sind, daß ihr Testament Valentine das ganze Vermögen der Saint-Meran sichert? der Notar hat mir gestern die Akten gezeigt, auf denen die Fassung des Ehevertrages beruht. Sie können den Notar besuchen und sich in meinem Auftrage die Akten mitteilen lassen. Es ist Herr Deschamps, Place Beauveau, Faubourg Saint-Honoré.

 

Mein Herr, entgegnete d’Epinay, es ist vielleicht für Fräulein Valentine bei ihrem heftigen Schmerze nicht der geeignete Augenblick, sie an die Heirat zu erinnern; ich würde in der Tat befürchten …

 

Valentine, unterbrach ihn Herr von Villefort, wird kein lebhafteres Verlangen haben, als das, den letzten Willen ihrer Großmutter zu erfüllen; die Hindernisse werden somit, dafür stehe ich Ihnen, nicht von ihrer Seite kommen.

 

Da sie in diesem Fall auch nicht von meiner Seite kommen, erwiderte Franz, so handeln Sie nach Ihrem Gutdünken! Mein Wort ist gegeben, und es gereicht mir nicht nur zum Vergnügen, sondern auch zum Glück, es zu halten.

 

Es steht also nichts im Wege, versetzte Villefort; der Vertrag sollte vor drei Tagen unterzeichnet werden, er ist völlig bereit, und wir können ihn heute unterzeichnen.

 

Doch die Trauer? sagte Franz zögernd.

 

Seien Sie unbesorgt, mein Herr; der Anstand wird in meinem Hause nicht verletzt werden. Fräulein von Villefort kann sich für die drei vorgeschriebenen Monate auf ihr Gut Saint-Meran zurückziehen; ich sage ihr Gut, denn heute ist es ihr Eigentum. Dort wird in acht Tagen, wenn Sie wollen ohne Geräusch, ohne Gepränge, die Heirat vollzogen. Es war ein Wunsch der Frau von Saint-Meran, daß ihre Enkelin sich auf diesem Gute verheiraten möchte. Ist der Ehebund geschlossen, so können Sie nach Paris zurückkehren, während Ihre Frau die Trauerzeit bei ihrer Stiefmutter zubringt.

 

Ganz nach Ihrem Belieben, sagte Franz.

 

So haben Sie die Güte, eine halbe Stunde zu warten; Valentine wird in den Salon kommen. Ich lasse Herrn Deschamps rufen, wir lesen und unterzeichnen den Vertrag auf der Stelle, und noch heute abend bringt Frau von Villefort Valentine auf ihr Gut, wohin wir Ihnen in acht Tagen nachfolgen.

 

Mein Herr, ich habe Sie nur um eins zu bitten, sagte Franz, ich wünschte, daß Albert von Morcerf und Raoul von Chateau-Renaud bei der Unterzeichnung zugegen sind; Sie wissen, sie sind meine Zeugen.

 

Eine halbe Stunde genügt, um sie in Kenntnis zu setzen; soll ich sie holen lassen, oder wollen Sie diese Herren selbst holen?

 

Ich ziehe es vor, sie selbst zu holen.

 

Ich erwarte Sie in einer halben Stunde, und in einer halben Stunde wird auch Valentine bereit sein.

 

Franz verbeugte sich und verließ das Zimmer.

 

Kaum hatte sich die Tür des Hauses hinter dem jungen Manne geschlossen, als Villefort Valentine sagen ließ, sie sollte in einer halben Stunde in den Salon kommen, weil der Notar und die Zeugen des Herrn d’Epinay erscheinen würden. Diese unerwartete Kunde brachte einen mächtigen Eindruck in dem Hause hervor. Frau von Villefort wollte nicht daran glauben, und Valentine war wie von einem Donnerschlage niedergeschmettert. Sie schaute umher, als ob sie suchen wollte, von wem sie Hilfe verlangen könnte. Sie wollte zu ihrem Großvater hinabgehen; doch auf der Treppe begegnete sie ihrem Vater, der sie am Arme nahm und in den Salon führte. Hier traf sie Barrois, dem sie einen verzweifelten Blick zuwarf. Einen Augenblick nach Valentine trat Frau von Villefort mit dem kleinen Eduard in den Salon. Die junge Frau hatte sichtlich ihren Teil an dem Kummer der Familie gehabt; sie war bleich und schien furchtbar ermattet.

 

Frau von Villefort nahm Eduard auf ihren Schoß und drückte von Zeit zu Zeit mit beinahe krampfhaften Bewegungen den Knaben, in dem sich ihr ganzes Leben zu verdichten schien, an ihre Brust.

 

Bald hörte man das Geräusch zweier Wagen, die in den Hof fuhren. Der eine war der des Notars, der andere der von Franz, In einem Augenblick hatten sich alle im Salon versammelt.

 

Valentine war so bleich, daß man die blauen Adern ihrer Schläfe um ihre Augen sich abzeichnen und ihre Wangen entlang laufen sah. Chateau-Renaud und Albert schauten sich erstaunt an; die soeben vollzogene Zeremonie kam ihnen nicht trauriger vor, als die, welche nun beginnen sollte. Frau von Villefort hatte sich hinter einem Samtvorhang in den Schatten gesetzt, und da sie sich beständig über ihren Sohn neigte, so konnte man nur schwer auf ihrem Gesichte lesen, was in ihrem Herzen vorging.

 

Herr von Villefort schien, wie immer, unempfindlich.

 

Nachdem der Notar seine Papiere auf dem Tische geordnet, in einem Lehnstuhle Platz genommen und seine Brille etwas in die Höhe gehoben hatte, wandte er sich gegen Franz und fragte ihn, obgleich es ihm sehr wohl bekannt war: Sie sind Herr Franz von Quesnel, Baron d’Epinay?

 

Ja, mein Herr, antwortete Franz.

 

Der Notar verbeugte sich und fuhr fort: Ich muß Sie davon in Kenntnis setzen, mein Herr, und zwar im Auftrage des Herrn von Villefort, daß sich infolge der beabsichtigten Heirat Herrn von Noirtiers Gesinnung gegen seine Enkelin völlig verändert hat, und daß er auf andere das Vermögen übergehen läßt, das er ihr vermachen wollte. Ich muß indes sogleich bemerken, daß, insofern der Erblasser nur berechtigt ist, ihr einen Teil seines Vermögens zu entziehen, während er ihr das ganze entzogen hat, daß, sage ich, das Testament einem Angriff nicht widerstehen und für null und nichtig erklärt werden wird.

 

Allerdings, sagte Villefort; nur setze ich Herrn d’Epinay zum voraus davon in Kenntnis, daß zu meinen Lebzeiten das Testament meines Vaters nie angegriffen werden wird, da ich bei meiner Stellung auch den Schatten eines Skandals zu vermeiden habe.

 

Mein Herr, sagte Franz, es tut mir leid, daß eine solche Frage in Fräulein Valentines Gegenwart erhoben worden ist. Ich habe mich nie nach dem Betrage ihres Vermögens erkundigt, das unter allen Umständen noch ansehnlicher sein wird, als das meinige. Meine Familie suchte in der Verbindung mit Herrn von Villefort das Ansehen, ich suche darin das Glück.

 

Valentine machte ein unmerkliches Zeichen des Dankes, während zwei stille Tränen über ihre Wangen floßen.

 

Abgesehen jedoch, sagte Villefort, sich an seinen zukünftigen Schwiegersohn wendend, abgesehen von einem teilweisen Verluste Ihrer Hoffnungen hat dieses unerwartete Testament nichts, was Sie persönlich verletzen dürfte. Es erklärt sich durch Herrn Noirtiers Geistesschwäche. Meinem Vater mißfällt es nicht, daß Fräulein von Villefort sich mit Ihnen verbindet, sondern daß Valentine überhaupt heiratet. Ein Ehebund mit jedem andern hätte ihm denselben Kummer bereitet. Das Alter ist selbstsüchtig, mein Herr, und Fräulein von Villefort war für Herrn Noirtier eine treue Gesellschafterin, was die Baronin d’Epinay nicht mehr wird sein können. Der unglückliche Zustand meines Vaters macht, daß man selten mit ihm über ernste Gegenstände sprechen kann, denen er gar nicht zu folgen vermag, und ich bin fest überzeugt, daß Herr Noirtier vielleicht sich noch erinnert, daß seine Enkelin verheiratet werden soll, aber den Namen des ihr bestimmten Gatten völlig vergessen hat.

 

Kaum hatte Villefort diese Worte gesprochen, die Franz mit einer Verbeugung erwiderte, als die Tür des Salons sich öffnete und Barrois erschien.

 

Meine Herren, sagte er mit einer für einen Diener, der unter so feierlichen Umständen mit dem Sohn seines Gebieters spricht, seltsam festen Stimme, meine Herren, Herr Noirtier von Villefort wünscht auf der Stelle Herrn Franz von Quesnel, Baron d’Epinay, zu sprechen.

 

Villefort bebte, Frau von Villefort ließ ihren Sohn von ihrem Schoß heruntergleiten, Valentine erhob sich bleich und stumm wie eine Bildsäule. Albert und Chateau-Renaud schauten sich abermals und noch mehr erstaunt als das erstemal an.

 

Der Notar heftete seine Blicke auf Villefort.

 

Es ist unmöglich, sagte der Staatsanwalt; Herr d’Epinay kann den Salon in diesem Augenblick nicht verlassen.

 

Gerade in diesem Augenblick wünscht Herr Noirtier, mein Gebieter, Herrn Franz d’Epinay in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen, versetzte Barrois mit derselben Festigkeit.

 

Antworten Sie Herrn Noirtier, daß das, was er verlangt, nicht sein könne, sagte Villefort.

 

Dann läßt Herr Noirtier die Herren benachrichtigen, daß er sich werde in den Salon tragen lassen, sagte Barrois.

 

Das Erstaunen erreichte den höchsten Grad. Ein leichtes Lächeln erschien auf Frau von Villeforts Antlitz. Valentine schlug unwillkürlich die Augen zur Decke empor, um dem Himmel zu danken.

 

Valentine, sagte Herr von Villefort, ich bitte dich, erkundige dich doch, was diese neue Phantasie deines Großvaters bedeuten soll. Valentine machte rasch einige Schritte, um sich zu entfernen, doch Herr von Villefort besann sich eines anderen und rief: Warte, ich begleite dich.

 

Verzeihen Sie, mein Herr, sagte Franz, da Herr Noirtier nach mir verlangt, so habe ich mich, wie es scheint, vor allem seinen Wünschen zu fügen. Überdies werde ich mich glücklich fühlen, ihm meine Achtung zu bezeigen, da ich noch nicht Gelegenheit gehabt habe, mir diese Ehre zu erbitten.

 

Oh, mein Gott! bemühen Sie sich nicht, rief Villefort mit sichtbarer Unruhe.

 

Entschuldigen Sie mich, mein Herr, entgegnete Franz mit dem Tone eines Mannes, der seinen Entschluß gefaßt hat. Ich wünsche diese Gelegenheit nicht zu versäumen, um Herrn Noirtier zu beweisen, wie sehr er unrecht hätte, einen Widerwillen gegen mich zu hegen, den durch meine tiefe Ergebenheit zu besiegen mein inniges Verlangen ist.

 

Und ohne sich länger durch Villefort zurückhalten zu lassen, stand Franz ebenfalls auf und folgte Valentine, die bereits mit der Freude eines Schiffbrüchigen, der die Hand an einen Felsen legt, die Treppe hinabstieg.

 

Herr von Villefort folgte beiden.

 

Das Protokoll.

 

Das Protokoll.

 

Noirtier wartete, schwarz gekleidet, in seinem Lehnstuhle. Als die drei Personen, die er kommen zu sehen hoffte, eingetreten waren, schloß sein Kammerdiener sogleich wieder die Tür.

 

Merke Wohl auf, sagte leise Villefort zu Valentine, die ihre Freude nicht verbergen konnte, wenn Herr Noirtier Dinge mitteilen will, welche deine Heirat verhindern, so verbiete ich dir, ihn zu verstehen.

 

Valentine errötete, antwortete aber nicht.

 

Villefort näherte sich Noirtier und sagte zu ihm: Hier ist Herr Franz d’Epinay; Sie haben nach ihm verlangt, mein Herr, und er fügt sich Ihrem Verlangen. Allerdings wünschten wir diese Zusammenkunst seit geraumer Zeit, und ich werde entzückt sein, wenn sie Ihnen beweist, wie wenig Ihr Widerstreben gegen Valentines Heirat begründet war.

 

Noirtier antwortete nur durch einen Blick, bei dem Villeforts Adern ein Schauer durchlief. Er bedeutete Valentine durch ein Zeichen mit dem Auge, sie möge sich nähern.

 

Durch die Mittel, deren sie sich in ihren Unterhaltungen mit ihrem Großvater zu bedienen pflegte, hatte sie in einem Augenblick das von ihm gewünschte Wort Schlüssel gefunden. Dann befragte sie den Blick des Gelähmten, der sich auf die Schublade eines kleinen, zwischen zwei Fenstern stehenden Schrankes heftete. Als sie diesen Schlüssel herausgenommen, wandten sich die Augen des Gelähmten nach einem alten, seit Jahren vergessenen Sekretär.

 

Soll ich den Sekretär öffnen? fragte Valentine. Ja, machte der Greis.

 

Soll ich die Schubladen öffnen? – Ja.

 

Die mittlere? – Ja.

 

Valentine öffnete und zog ein Bündel Papiere heraus.

 

Ist das, was Sie wünschen, guter Vater? fragte sie.

 

Der Greis schüttelte den Kopf, und sie zog nach und nach alle anderen Papiere heraus.

 

Aber die Schublade ist nun leer, sagte sie.

 

Noirtiers Augen hefteten sich auf das Wörterbuch.

 

Ja, guter Vater, ich begreife Sie, sagte das Mädchen.

 

Und sie fing an die Buchstaben des Alphabets nacheinander herzusagen; bei dem Buchstaben G hielt sie Noirtier an.

 

Ah! Ein geheimes Fach? – Ja, machte Noirtier.

 

Und wer kennt es?

 

Noirtier schaute nach der Tür, durch welche der Bediente weggegangen war.

 

Barrois? sagte sie. – Ja, machte Noirtier.

 

Valentine ging an die Tür und rief Barrois. Während dieser Zeit floß der Schweiß der Ungeduld von Villeforts Stirn, während Franz im höchsten Maße erstaunt zu sein schien. Der alte Diener trat ein.

 

Barrois, sagte Valentine, mein Großvater hat mir befohlen, diesen Sekretär zu öffnen und dieses Schubfach herauszuziehen; nun ist bei diesem Schubfach ein Geheimnis, das Sie, wie es scheint, kennen; öffnen Sie!

 

Barrois gehorchte; ein doppelter Boden öffnete sich, und es wurden mehrere mit schwarzem Band umwickelte Papiere sichtbar.

 

Wünschen Sie das, mein Herr? fragte Barrois. – Ja.

 

Wem soll ich diese Papiere übergeben, Herrn von Villefort? – Nein.

 

Fräulein Valentine? – Nein.

 

Herrn Franz d’Epinay? – Ja.

 

Franz machte erstaunt einen Schritt vorwärts und sagte:

 

Mir, mein Herr? – Ja.

 

 

Franz empfing die Papiere aus Barrois‘ Händen und las die Aufschrift: Nach meinem Tode bei meinem Freunde, dem General Durand, zu hinterlegen, der sterbend dieses Paket seinem Sohne mit der Einschärfung vermachen wird, dasselbe, da es ein Papier von der größten Wichtigkeit enthält, aufzubewahren.

 

Nun, mein Herr? fragte Franz, was soll ich mit diesem Papier machen?

 

Sie sollen es ohne Zweifel versiegelt, wie es ist, behalten, sagte der Staatsanwalt.

 

Nein, nein, erwiderte der Greis lebhaft.

 

Sie wünschen vielleicht, daß es der Herr lesen möge? fragte Valentine.

 

Ja, antwortete der Greis.

 

Sie hören, Herr Baron? Mein Großvater bittet Sie, dieses Papier zu lesen, sagte Valentine.

 

So setzen wir uns, sagte Villefort voll Ungeduld, denn das wird lange dauern.

 

Villefort setzte sich, aber Valentine blieb neben ihrem Großvater, auf seinen Lehnstuhl gestützt, stehen, und Franz stand vor ihr und hielt das geheimnisvolle Papier in der Hand.

 

Lesen Sie! sagten die Augen des Greises.

 

Franz machte den Umschlag los, und es trat eine tiefe Stille in dem Zimmer ein. Inmitten dieser Stelle las er:

 

Auszug aus den Protokollen einer Sitzung des bonapartistischen Klubs der Rue Saint-Jacques, gehalten im 5. Febr. 1815.

 

Franz hielt inne.

 

Am 5. Februar 1815, sagte er, das ist der Tag, an dem mein Vater ermordet wurde!

 

Valentine und Villefort blieben stumm; nur das Auge des Greises sprach klar: Fahren Sie fort! Franz las weiter:

 

Die Unterzeichneten, Louis Beauregard, Generalleutnant der Artillerie, Etienne Duchampy, Brigadegeneral, und Claude Lecharpale, Direktor der Forsten, erklären, daß am 4. Februar 1815 ein Brief von der Insel Elba ankam, der dem Wohlwollen und dem Vertrauen der Mitglieder des bonapartistischen Klubs den General Flavier von Quesnel empfahl, der dem Kaiser von 1805 bis 1814 gedient hatte und der Napoleonischen Dynastie trotz des Baronentitels, den ihm Ludwig XVIII. soeben unter Benutzung des Namens seines Landgutes Epinay verliehen hatte, völlig ergeben sein mußte. Demzufolge wurde ein Schreiben an den General von Quesnel gerichtet, worin man ihn bat, der Sitzung am fünften beizuwohnen. Das Schreiben gab weder die Straße noch die Hausnummer an, wo die Versammlung stattfinden sollte: es hatte seine Unterschrift und teilte dem General nur mit, wenn er sich bereit halten wolle, so werde man ihn um neun Uhr abends abholen. Um neun Uhr abends erschien der Präsident des Klubs bei dem General: der General war bereit. Der Präsident bemerkte ihm, es sei eine der Bedingungen seiner Einführung, daß er nie den Ort der Zusammenkunft wüßte, daß er sich die Augen verbinden ließe und schwüre, er werde die Binde nicht abzunehmen suchen. Der General von Quesnel nahm die Bedingung an und machte sich bei seinem Ehrenwort anheischig, nicht sehen zu wollen, wohin man ihn führte. Der General hatte seinen Wagen anspannen lassen, aber der Präsident erklärte ihm, man könnte sich seiner unmöglich bedienen, da es sich nicht der Mühe lohne, die Augen des Herrn zu verbinden, wenn dem Kutscher die Augen offen blieben, und er zu erkennen vermöchte, durch welche Straßen man käme.

 

Was ist dann zu tun? fragte der General. –

 

Ich habe meinen Wagen bei mir, sagte der Präsident. –

 

Sind Sie Ihres Kutschers so sicher, daß Sie ihm ein Geheimnis anvertrauen, das Sie dem meinigen anzuvertrauen für unklug halten?

 

Unser Kutscher ist ein Mitglied des Klubs, erwiderte der Präsident, wir werden von einem Staatsrate gefahren.

 

Dann sind wir einer andern Gefahr ausgesetzt, nämlich der, umgeworfen zu werden, sagte der General lachend.

 

Wir bezeichnen diesen Scherz als einen Beweis dafür, daß der General nicht entfernt gezwungen war, der Sitzung beizuwohnen, und daß er sie durchaus freiwillig besuchte. Sobald man in den Wagen gestiegen war, erinnerte der Präsident den General an sein Versprechen, sich die Augen verbinden zu lassen. Der General machte keine Einwendung gegen diese Förmlichkeit. Der Wagen hielt vor einem Hause der Rue Saint-Jacques. Der General stieg aus und stützte sich dabei auf den Arm des Präsidenten, ohne dessen Würde zu kennen; man durchschritt den Gang, stieg einen Stock hinauf und trat in das Beratungszimmer.

 

Die Sitzung hatte begonnen. Von der Einladung des Barons benachrichtigt, waren die Mitglieder des Klubs vollzählig versammelt. Als der General die Mitte des Saales erreicht hatte, wurde er aufgefordert, seine Binde abzunehmen. Er entsprach sogleich dieser Ausforderung und schien sehr erstaunt, eine so große Anzahl von bekannten Gesichtern in einer Gesellschaft zu finden, von deren Dasein er bis dahin nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Man befragte ihn über seine Gesinnung, doch er begnügte sich zu antworten, der Brief von der Insel Elba habe dieselbe bekannt machen müssen …

 

Franz unterbrach sich mit den Worten: Mein Vater war Royalist, man hatte nicht nötig, ihn um seine Gesinnung zu befragen, sie war bekannt.

 

Und daher rührte meine Verbindung mit Ihrem Vater, mein lieber Herr Franz, sagte Villefort; man verbindet sich leicht, wenn man gleicher Meinung ist.

 

Lesen Sie, sprach abermals das Auge des Greises. Franz fuhr fort:

 

Der Präsident nahm nun das Wort und forderte den General auf, sich deutlicher zu erklären; doch Herr von Quesnel antwortete, er wünschte vor allem zu wissen, was man von ihm verlange. Es wurde nun dem General eben dieser Brief von der Insel Elba mitgeteilt, der ihn dem Klub als einen Mann empfahl, auf dessen Mitwirkung man zählen könne. Es war sodann von der beabsichtigten Rückkehr von der Insel Elba die Rede, worauf ein neuer Brief mit umfassenderen Einzelheiten angekündigt wurde, den der Pharao, ein dem Reeder Morel in Marseille gehörendes Schiff mit einem dem Kaiser ganz und gar ergebenen Kapitän, überbringen würde. Während der Vorlesung des Briefes gab der General, auf den man wie auf einen Bruder zählen zu können glaubte, im Gegenteil Zeichen der Unzufriedenheit und des sichtbaren Widerstrebens von sich.

 

Als der Brief zu Ende war, verharrte er schweigend und mit gerunzelter Stirn.

 

Nun! fragte der Präsident, was sagen Sie zu diesem Briefe, Herr General?

 

Ich sage, soeben hat man erst dem König Ludwig XVIII. einen Eid geleistet und will ihn nun schon wieder um des Exkaisers willen brechen.

 

Diese Antwort war zu klar, als daß man sich über seine Gesinnung täuschen konnte.

 

General, sagte der Präsident, es gibt für uns ebensowenig einen König Ludwig XVIII. wie einen Exkaiser; es gibt nur Seine Majestät den Kaiser und König, der seit zehn Monaten aus Frankreich, seinem Staate, durch Gewalt und Verrat entfernt worden ist.

 

Verzeihen Sie, meine Herren, sagte der General, es ist möglich, daß es für Sie keinen Ludwig XVIII. gibt, aber es gibt einen für mich, da er mich zum Baron und zum Feldmarschall gemacht hat, und da ich nie vergessen werde, daß ich diese Titel seiner glücklichen Rückkehr nach Frankreich zu danken habe.

 

Mein Herr, sagte der Präsident mit äußerst strengem Tone, während er sich erhob, geben Sie wohl acht auf das, was Sie reden; Ihre Worte sagen uns deutlich, daß man sich auf der Insel Elba in Ihnen getäuscht, und daß man uns getäuscht hat! Die Mitteilung, die man Ihnen gemacht, ist Folge des Vertrauens, das man in Sie setzte, und somit eines Gefühles, das Sie ehrt. Wir waren im Irrtum; ein Titel und ein Amt haben Sie mit der neuen Regierung ausgesöhnt, die wir umstürzen wollen. Wir werden Sie nicht zwingen, uns Ihren Beistand zu leihen, wir reihen niemand wider sein Gewissen und wider seinen Willen ein; doch wir werden Sie zwingen, als ein ehrenhafter Mann zu handeln, selbst wenn Sie nicht dazu geneigt sein sollen.

 

Sie nennen als ein ehrenwerter Mann handeln Ihre Verschwörung kennen und sie nicht enthüllen! Ich nenne das Ihr Mitschuldiger sein. Sie sehen, daß ich noch offenherziger bin, als Sie …

 

Ah! mein Vater, sagte Franz, sich unterbrechend, ich begreife nun, warum Sie dich ermordet haben.

 

Valentine konnte sich nicht enthalten, einen Blick auf Franz zu werfen; der junge Mann war wirklich schön in der Begeisterung des Sohnes. Villefort ging im Zimmer auf und ab.

 

Noirtier verfolgte mit den Augen den Ausdruck jedes Anwesenden und beobachtete seine würdige, starre Haltung. Franz fuhr fort:

 

Mein Herr, sagte der Präsident, man hat Sie gebeten, sich in den Schoß der Versammlung zu begeben, und schleppte Sie durchaus nicht mit Gewalt hierher; man forderte von Ihnen, Sie sollten Ihre Augen verbinden, und Sie willigten ein. Als Sie diesem doppelten Verlangen entsprachen, wußten Sie vollkommen, daß wir uns nicht damit beschäftigten, Ludwig XVIII. den Thron zu sicher, sonst wären wir nicht so bemüht gewesen, uns vor der Polizei zu verbergen. Sie begreifen, es wäre nur zu bequem, eine Maske vorzunehmen, mit deren Hilfe man die Geheimnisse der Leute erforscht, und dann ganz einfach die Maske abzulegen, um die zu Grunde zu richten, deren Vertrauen man genossen hat. Nein, nein, Sie werden uns vor allem offenherzig sagen, ob Sie für den Zufallskönig sind, der in diesem Augenblick regiert, oder für Seine Majestät den Kaiser?

 

Ich bin Royalist, antwortete der General, ich habe Ludwig XVIII. einen Eid geschworen und werde ihn halten. Auf diese Worte erfolgte ein allgemeines Gemurmel, und man konnte aus den Blicken einer großen Anzahl von Mitgliedern des Clubs ersehen, daß sie in ihrem Innern die Frage verhandelten, ob sie nicht Herrn d’Epinay diese unklugen Worte bereuen lassen sollten. Der Präsident stand abermals auf und gebot Stillschweigen.

 

Mein Herr, sagte er, Sie sind ein zu ernster und zu verständiger Mann, um nicht die Folgen der Lage zu begreifen, in der wir uns gegenseitig befinden, und Ihre Offenherzigkeit gerade diktiert uns die Bedingungen, die wir stellen müssen: Sie werden uns schwören, nichts von dem zu enthüllen, was Sie gehört haben.

 

Der General fuhr mit der Hand nach seinem Degen und rief: Wenn Sie von Ehre sprechen, so fangen Sie damit an, daß Sie die Gesetze nicht mißachten und nicht Gewalt anwenden.

 

Und Sie, mein Herr, fuhr der Präsident mit einer Ruhe fort, die vielleicht furchtbarer war, als der Zorn des Generals, berühren Sie Ihren Degen nicht, das rate ich Ihnen. Der General warf Blicke umher, die einige Unruhe verrieten. Er beugte sich jedoch noch nicht, sondern sagte, seine ganze Kraft sammelnd: Ich schwöre nicht.

 

Dann müssen Sic sterben, erwiderte ruhig der Präsident. Herr d’Epinay wurde sehr bleich; er schaute einen Augenblick umher; mehrere Mitglieder des Klubs wisperten und suchten Waffen unter ihren Mänteln.

 

General, sagte der Präsident, seien Sie unbesorgt, Sie sind unter Männern von Ehre, die jedes Mittel versuchen werden, um Sie zu überzeugen, ehe sie zum Äußersten schreiten; doch Sie sind auch unter Verschworenen; Sie besitzen unser Geheimnis und müssen es uns zurückgeben.

 

Ein bedeutungsvolles Schweigen folgte auf diese Worte, und als der General nicht antwortete, sagte der Präsident zu den Dienern: Schließt die Türen.

 

Abermals trat eine Totenstille ein. Da schritt der General vor und sagte heftig: Ich habe einen Sohn und muß, da ich mich unter Mördern befinde, an ihn denken.

 

General, sagte voll Adel das Haupt der Versammlung, ein einziger Mensch hat immer das Recht fünfzig zu beleidigen; es ist das Recht des Schwachen. Nur hat er unrecht, von diesem Rechte Gebrauch zu machen. Glauben Sie mir, General, schwören Sie und beleidigen Sie nicht. Abermals von der Hoheit des Vorsitzenden überwältigt, zögerte der General einen Augenblick; doch endlich schritt er zum Tische des Präsidenten und fragte: Wie lautet die Formel? Hören Sie: Ich schwöre bei meiner Ehre, nie irgend einem Menschen auf der Welt zu enthüllen, was ich am 5. Februar 1815 abends zwischen neun und zehn Uhr gesehen und gehört habe, und ich erkläre, daß ich den Tod verdiene, wenn ich meinen Schwur verletze.

 

Der General schien von einem nervösen Zittern ergriffen zu werden, das ihn einige Sekunden lang verhinderte zu antworten; endlich aber sprach er, ein sichtbares Widerstreben überwindend, den verlangten Eid, doch so leise, daß man es kaum hörte; es begehrten auch mehrere Mitglieder, daß er ihn mit lauterer Stimme und deutlicher wiederhole, was geschah.

 

Nun wünsche ich, mich entfernen zu dürfen, sagte der General, bin ich endlich frei? Der Präsident stand auf, bezeichnete drei Mitglieder der Versammlung, die ihn begleiten sollten, und stieg mit dem General in den Wagen, nachdem er ihm die Augen verbunden hatte. Unter den drei Mitgliedern war der Kutscher, der sie gebracht hatte. Die andern Mitglieder des Klubs trennten sich in der Stille.

 

Wohin sollen wir Sie führen? fragte der Präsident.

 

Überallhin, wo ich von Ihrer Gegenwart befreit werde, antwortete d’Epinay.

 

Mein Herr, versetzte der Präsident, nehmen Sie sich in acht, Sie sind hier nicht mehr in der Versammlung, Sie haben es mit einzelnen Menschen zu tun; beleidigen Sie sie nicht, wenn Sie nicht für die Beleidigung verantwortlich gemacht werden wollen.

 

Doch statt diese Sprache zu verstehen, erwiderte d’Epinay: Sie sind immer noch so mutig in Ihrem Wagen, wie in Ihrem Klub, aus dem einfachen Grunde, mein Herr, weil vier Männer stets stärker sind als ein einziger.

 

Der Präsident ließ den Wagen halten.

 

Man war gerade an der Ecke des Quai des Ormes, wo sich die Treppe findet, die zu dem Flusse hinabführt. Warum lassen Sie hier halten? fragte der General d’Epinay.

 

Weil Sie einen Mann beleidigt haben, mein Herr, antwortete der Präsident, und weil dieser Mann keinen Schritt mehr tun will, ohne auf loyale Weise Genugtuung von Ihnen zu verlangen.

 

Abermals eine Art zu morden, sagte der General, die Achseln zuckend.

 

Keinen Lärm, mein Herr, entgegnete der Präsident, wenn ich Sie nicht als einen von den Menschen betrachten soll, die Sie soeben bezeichneten, nämlich für einen Feigen, der seine Schwäche zum Schild nimmt. Sie sind allein, ein einziger wird Ihnen antworten; Sie haben einen Degen an der Seite, ich habe einen in meinem Stocke; Sie haben keinen Zeugen, einer von diesen Herren wird Ihnen als solcher dienen. Nun mögen Sie die Binde abnehmen, wenn es Ihnen beliebt. Der General riß sich auf der Stelle das Taschentuch von den Augen.

 

Endlich, sagte er, endlich werde ich erfahren, mit wem ich es zu tun habe.

 

Man öffnete den Wagen, und die vier Männer stiegen aus.

 

Franz unterbrach sich abermals und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn; es war furchtbar anzuschauen, wie er, bleich und zitternd, mit lauter Stimme die bis dahin unbekannten Umstände von dem Tode seines Vaters las. Valentine faltete die Hände, als ob sie betete. Noirtier schaute Villefort mit einem erhabenen Ausdruck der Verachtung und des Stolzes an.

 

 

Franz fuhr fort:

 

Es geschah dies, wie gesagt, am 5. Februar; es war eine finstere Nacht, der Boden der Treppe war bis zum Fluß feucht von Schnee und Rauhreif; man sah das Wasser schwarz und von Eisschollen bedeckt dahinfließen. Einer von den Zeugen suchte eine Laterne in einem Kohlenschiffe, und beim Scheine dieser Laterne prüfte man die Waffen. Der Degen des Präsidenten, ein einfacher Stockdegen, war fünf Zoll kürzer als der seines Gegners und hatte kein Stichblatt. Der General d’Epinay machte den Vorschlag, die Degen auszulosen; doch der Präsident erwiderte, von ihm gehe die Herausforderung aus, und er habe von vornherein in der Absicht gefordert, daß jeder sich seiner Waffe bediene. Die Zeugen wollten Einsprache tun, doch der Präsident gebot Ihnen Schweigen. Man setzte die Laterne auf den Boden; die Gegner stellten sich einander gegenüber; der Kampf begann. Das Licht machte aus den Degen zwei Blitze; die Männer gewahrte man kaum, so dicht war der Schatten. Der General d’Epinay galt für eine der besten Klingen der Armee. Aber er wurde bei den ersten Stößen so lebhaft bedrängt, daß er zurückwich, wobei er zu Falle kam.

 

Die Zeugen hielten ihn für tot, doch sein Gegner wußte, daß er ihn nicht berührt hatte, und bot ihm die Hand, um ihm ausstehen zu helfen. Statt ihn zu beschwichtigen, brachte dies den General so auf, daß er ebenfalls auf seinen Gegner eindrang. Doch sein Gegner wich nicht eine Linie. Dreimal zog sich der General vor der Degenspitze seines Gegners zurück und griff dann immer wieder an. Beim dritten Male fiel er abermals. Man glaubte, er sei ausgeglitten, wie das erste Mal; da ihn jedoch die Zeugen nicht wieder aufstehen sahen, näherten sie sich ihm und versuchten, ihn auf die Beine zu bringen; doch als man ihn um den Leib faßte, fühlte man Blut.

 

Der General, der halb ohnmächtig war, kam wieder zu sich und rief: Oh! einen Raufer, einen Fechtmeister hat man mir hinterlistig gegenüber gestellt. Ohne zu antworten, näherte sich der Präsident der Laterne, schlug seinen Ärmel zurück und zeigte seinen von zwei Degenstichen durchbohrten Arm; dann öffnete er seinen Rock, knöpfte seine Weste auf und ließ an seiner Seite eine dritte Wunde sehen. Er hatte keinen Seufzer ausgestoßen. Bei dem General d’Epinay trat der Todeskampf ein, und fünf Minuten nachher war er verschieden.

 

Franz las diese letzten Worte mit so gepreßter Stimme, daß man sie kaum hören konnte, und als er sie gelesen, fuhr er sich mit der Hand über die Augen, als wollte er eine Wolke vertreiben. Nach kurzem Schweigen las er fort:

 

Der Präsident stieg wieder die Treppe hinauf, nachdem er zuvor seinen Degen in den Stock gestoßen hatte; eine Blutspur bezeichnete seinen Weg auf dem Schnee. Er hatte noch nicht die oberste Stufe der Treppe erreicht, als er ein dumpfes Platschen hörte, es war der Körper des Generals, den die Zeugen, nachdem sie seines Todes gewiß waren, in den Fluß gestürzt hatten.

 

Der General ist folglich in einem ehrlichen Duell gefallen und nicht etwa meuchlings getötet worden.

 

Zur Beglaubigung dessen haben wir Gegenwärtiges unterzeichnet, um den wahren Tatbestand festzustellen, in der Befürchtung, es könnte ein Augenblick kommen, wo eine von den handelnden Personen dieser furchtbaren Szene des Mordes mit Vorbedacht oder der Verletzung der Gesetze der Ehre beschuldigt würde. Unterzeichnet

 

Beauregard, Duchampy und Lecharpale.

 

Als Franz die für ihn als Sohn so schreckliche Schrift gelesen, als Valentine, bleich vor Erschütterung, eine Träne getrocknet, als Villefort, zitternd und in einen Winkel gedrückt, durch flehende dem unversöhnlichen Greise zugesandte Blicke den Sturm zu beschwören versucht hatte, sagte d’Epinay zu Noirtier: Da Sie diese furchtbare Geschichte in allen ihren Einzelheiten kennen, da Sie sie durch ehrenwerte Unterschriften haben bezeugen lassen, da Sie sich für mich zu interessieren scheinen, obgleich sich Ihr Interesse bis jetzt nur durch den Schmerz kundgegeben hat, so verweigern Sie mir nicht eine letzte Genugtuung, nennen Sie mir den Namen des Präsidenten, damit ich endlich den kenne, der meinen armen Vater getötet hat.

 

Villefort suchte wie verwirrt die Türklinke; Valentine, welche die Antwort des Greises vorausahnte, da sie oft auf seinem Vorderarme die Spur von zwei Degenstichen wahrgenommen hatte, wich einen Schritt zurück.

 

Ich beschwöre Sie, mein Fräulein, sagte Franz, sich an seine Braut wendend, verbinden Sie Ihre Bitten mit den meinen, daß ich den Namen des Mannes erfahre, der mich im Alter von zwei Jahren zur Waise gemacht hat, Valentine blieb stumm und unbeweglich.

 

Ich bitte Sie, mein Herr, sagte Villefort, verlängern Sic diese Szene nicht; die Namen sind überdies absichtlich nie bekannt gegeben worden. Mein Vater kennt selbst den Präsidenten nicht, und wenn er ihn auch kennt, so vermag er ihn nicht zu nennen, da sich die Eigennamen nicht im Wörterbuch finden.

 

Oh weh! Die einzige Hoffnung, die mich beim Lesen dieser Schrift aufrecht erhalten und mir die Kraft gegeben hat, bis zum Ende auszuharren, war die, wenigstens den Namen dessen, der meinen Vater getötet, kennen zu lernen! Mein Herr! rief er, sich zu dem Greise umwendend, im Namen des Himmels! Tun Sie, was Sie können, bemühen Sie sich, ich flehe Sie an, mir begreiflich zu machen …

 

Ja, antwortete Noirtier.

 

Oh, mein Fräulein, rief Franz, Ihr Großvater bedeutet mir durch ein Zeichen, er könne mir diesen Namen angeben … helfen Sie mir … Sie verstehen ihn … leihen Sie mir Ihren Beistand!

 

Noirtier schaute das Wörterbuch an. Franz nahm es zitternd und sprach hintereinander die Buchstaben des Alphabets bis zum I aus.

 

Bei diesem Buchstaben machte der Greis ein bejahendes Zeichen.

 

I? wiederholte Franz.

 

Der Finger des jungen Mannes glitt über die Wörter hin, während Noirtier von Zeit zu Zeit ein verneinendes Zeichen machte und Valentine ihren Kopf in ihren Händen verbarg.

 

Bald gelangte Franz zu dem Worte: Ich.

 

Ja! machte der Greis.

 

Sie? rief Franz, dessen Haare sich auf seinem Haupte sträubten; Sie, Herr Noirtier, Sie haben meinen Vater getötet?

 

Ja, antwortete Noirtier, einen majestätischen Blick auf den jungen Mann heftend.

 

Franz fiel wie gelähmt auf einen Stuhl, Villefort aber öffnete die Tür und entfloh.

 

Die Fortschritte des Herrn Cavalranti Sohn.

 

Die Fortschritte des Herrn Cavalranti Sohn.

 

Herr Cavalcanti Vater war abgereist, um seinen Dienst wieder anzutreten, nicht in der Armee Seiner Majestät des Kaisers von Österreich, sondern an der Roulette der Bäder von Lucca, zu deren eifrigsten Kunden er gehörte. Es versteht sich von selbst, daß er gewissenhaft bis auf den letzten Heller die Summe mitgenommen hatte, die ihm für seine Reise und als Belohnung für die majestätische Art und Weise, wie er seine Vaterrolle gespielt, angewiesen worden war.

 

Andrea erbte bei dieser Abreise alle Papiere, die bestätigten, daß er wirklich die Ehre hatte, der Sohn des Marchese Bartolomeo und der Marchesa Oliva Corsinari zu sein.

 

Er hatte inzwischen gleichsam Anker geworfen in der Pariser Gesellschaft, die so leicht und nachsichtig die Fremden aufnimmt und sie nicht nach dem behandelt, was sie sind, sondern nach dem, was sie sein wollen. So nahm Andrea schon nach vierzehn Tagen eine recht hübsche Stellung ein; man nannte ihn Herr Graf, man sagte, er habe fünfzigtausend Franken Rente, und sprach von den ungeheuren Schätzen seines Vaters, die in den Steinbrüchen von Saravezza vergraben seien.

 

In dieser Zeit machte Monte Christo eines Abends einen Besuch bei Herrn Danglars. Dieser war ausgegangen; aber man schlug dem Grafen vor, ihn bei der Baronin anzumelden, was er auch annahm.

 

Seit dem Mittagsmahle in Auteuil und den Ereignissen, die darauf folgten, hörte Frau Danglars den Namen Monte Christo nie ohne nervöse Erregung aussprechen. Blieb dann der Graf in Person aus, so steigerte sich die schmerzliche Empfindung noch; erschien er dagegen, so zerstreuten sein offenes Gesicht, seine glänzenden Augen, seine Liebenswürdigkeit und Höflichkeit gar bald den letzten Eindruck von Furcht bei der Dame.

 

Als Monte Christo in das Boudoir trat, betrachtete die Baronin eben Zeichnungen, die ihr ihre Tochter hinreichte, nachdem diese sie mit Herrn Cavalcanti Sohn besehen hatte. Der Graf, von der Baronin nach Überwindung des ersten Schrecks bei Nennung seines Namens mit einem Lächeln begrüßt, übersah die ganze Szene mit einem Blicke. Neben der Baronin saß Eugenie in halb liegender Stellung auf einem Lehnsessel, und Cavalcanti stand vor ihr. Schwarz gekleidet mit lackierten Schuhen und durchbrochenen seidenen Strümpfen, fuhr sich der junge Mann mit einer ziemlich weißen und gepflegten Hand in seine blonden Haare, wobei ein Diamant an seiner Hand funkelte.

 

Diese Bewegung war von mörderisch verliebten Blicken auf Fräulein Danglars begleitet und von Seufzern, die sich an dieselbe Adresse richteten. Fräulein Danglars war immer dieselbe, das heißt schön, kalt und spöttisch. Kein Blick, kein Seufzer entging ihr, doch es war, als glitten sie am Panzer der Minerva ab.

 

Eugenie begrüßte den Grafen kalt, und sobald die Unterhaltung allgemein und etwas lauter wurde, benutzte sie dies, um sich in ihr Studierzimmer zurückzuziehen, wo bald zwei lachende Stimmen, vermischt mit den Akkorden eines Pianos, dem Grafen bewiesen, daß Fräulein Danglars seiner Gesellschaft und der des Herrn Cavalcanti die von Fräulein Luise d’Armilly, ihrer Gesanglehrerin, vorzog. Während der Graf mit Frau Danglars plauderte und sich ganz dem Reiz der Unterhaltung hinzugeben schien, bemerkte er doch die Unruhe des Herrn Andrea Cavalcanti, der, um zu horchen, bis an die Tür des Zimmers von Fräulein Eugenie ging, aber die Schwelle nicht zu überschreiten wagte.

 

Bald kehrte der Bankier zurück. Sein erster Blick galt Monte Christo, sein zweiter Andrea.

 

Haben Sie die Fräulein nicht eingeladen, mit Ihnen zu musizieren? fragte Danglars Andrea.

 

Nein, mein Herr, antwortete Andrea mit einem Seufzer, der noch auffälliger war als die früheren. Danglars ging sogleich zur Tür und öffnete sie, so daß man die beiden Mädchen auf demselben Sitze nebeneinander vor dem Piano sitzen sah. Fräulein d’Armilly besaß eine interessante Schönheit, oder vielmehr eine ausgesuchte Zierlichkeit. Es war eine kleine, feenartig schlanke und blonde Dame mit langen, gelockten Haaren, welche auf einen etwas zu gestreckten Hals fielen, und mit einem etwas matten, verschleierten Blick. Man sagte, sie habe eine schwache Brust und würde wie Antonia in der ›Cremoneser Geige‹ eines Tages beim Singen sterben.

 

Monte Christo warf einen raschen, neugierigen Blick in dieses Frauengemach; er sah zum ersten Male Fräulein d’Armilly, von der er so oft im Hause hatte sprechen hören.

 

Nun! fragte der Bankier seine Tochter, sind wir ausgeschlossen?

 

Dann führte er den jungen Mann in den kleinen Salon, und – war es nun Zufall, war es Absicht – hinter Andrea wurde die Tür so zugestoßen, daß Monte Christo und die Baronin von dem Orte, wo sie saßen, nichts mehr sehen konnten.

 

Bald darauf hörte der Graf Andreas Stimme zu den Akkorden des Klaviers ein korsisches Lied singen. Während der Graf lächelnd auf dieses Lied horchte, das ihn Andrea vergessen ließ und an Benedetto erinnerte, rühmte Frau Danglars die Seelenstärke ihres Mannes, der an demselben Morgen bei einem Bankerott in Mailand abermals 3-400 000 Franken verloren hatte. Und dieses Lob war in der Tat verdient; denn wenn es der Graf nicht durch die Baronin oder durch ein anderes ihm zu Gebot stehendes Mittel erfahren hätte, das Gesicht des Barons würde ihm kein Wort davon gesagt haben.

 

Gut! dachte Monte Christo, er ist bereits so weit, daß er verbirgt, was er verliert, während er sich vor einem Monat noch seiner Verluste rühmte.

 

Dann sagte der Graf laut: Oh! gnädige Frau, Herr Danglars kennt die Börse so gut, daß er dort stets wieder gewinnen wird, was er anderswo verlieren mag.

 

Ich sehe, daß Sie den allgemeinen Irrtum, Herr Danglars spiele, teilen. Das ist nicht der Fall.

 

Ach ja! das ist wahr. Gnädige Frau, ich erinnere mich dessen, was mir Herr Debray gesagt hat … Doch was ist eigentlich aus Herrn Debray geworden? Ich. habe ihn seit drei oder vier Tagen mit keinem Auge gesehen.

 

Ich auch nicht, sagte Frau Danglars mit der gelassensten Miene. Was haben Sie von Herrn Debray gehört?

 

Er hat mir gesagt, Sie selbst opferten dem Dämon des Spieles.

 

Ich gestehe, das Börsenspiel lockte mich eine Zeitlang; aber ich habe den Geschmack daran verloren.

 

Darin haben Sie unrecht, gnädige Frau. Mein Gott, die Wechselfälle des Glücks sind unberechenbar, und wäre ich ein Weib und zufällig Frau eines Bankiers geworden, so würde ich trotz allen Vertrauens zu meinem Manne mir doch ein unabhängiges Vermögen zu sichern suchen.

 

Frau Danglars errötete unwillkürlich.

 

Hören Sie, fuhr Monte Christo fort, als ob er nichts gesehen hätte, haben Sie gehört, wie gestern die Neapolitaner gestiegen sind?

 

Ich habe keine und habe nie welche gehabt, sagte rasch die Baronin; doch nun ist genug von der Börse gesprochen, Herr Graf, wir gleichen zwei Wechselagenten; reden wir lieber von den armen Villeforts, die in diesem Augenblick so sehr vom Unglück heimgesucht werden.

 

Was ist ihnen denn widerfahren? fragte Monte Christo mit gutgespielter Unwissenheit.

 

Sie wissen doch, daß sie nach dem plötzlichen Tode des Herrn von Saint-Meran auch die Marquise drei Tage nach ihrer Ankunft verloren haben.

 

Ah! es ist wahr, versetzte Monte Christo, ich habe davon gehört; doch das ist, wie Claudius zu Hamlet sagt, das Gesetz der Natur: ihre Väter sind vor ihnen gestorben, und sie haben sie beweint; sie werden vor ihren Söhnen sterben, und ihre Söhne werden sie beweinen.

 

Doch das ist noch nicht alles. Sie wissen doch, daß sie ihre Tochter verheiraten wollten? An Herrn Franz d’Epinay … Hat die Heirat nicht stattgefunden? – Gestern morgen hat ihnen Franz, scheint es, ihr Wort zurückgegeben. – Ah! wirklich … Kennt man die Ursache dieses Bruches? – Nein. – Und wie nimmt Herr von Villefort alle diese Unglücksfälle auf? – Wie immer, als Philosoph.

 

In diesem Augenblick kehrte Danglars zurück.

 

Wie! rief die Baronin, Sie lassen Herrn Cavalcanti mit Ihrer Tochter allein?

 

Und als was sehen Sie denn Fräulein d’Armilly an? erwiderte der Bankier und bemerkte sodann, sich an Monte Christo wendend: Ein reizender junger Mann, nicht wahr, Herr Graf, dieser Prinz Cavalcanti? Nur fragt es sich, ob er wirklich Prinz ist?

 

Ich stehe nicht dafür. Man hat mir seinen Vater als Marquis vorgestellt; demnach wäre er Graf. Doch ich glaube nicht, daß er sich viel auf seinen Titel einbildet.

 

Warum? Wenn er Prinz ist, so hat er unrecht, sich dessen nicht zu rühmen. Jedem sein Recht! Ich liebe es nicht, daß man seinen Ursprung verleugnet.

 

Aber sehen Sie, welcher Unannehmlichkeit Sie sich aussetzen, sagte die Baronin. Wenn Herr von Morcerf zufällig käme, so würde er Herrn Cavalcanti in einem Zimmer finden, in das er, der Bräutigam, nie eintreten durfte.

 

Sie tun recht, zufällig zu sagen, erwiderte der Bankier, denn man sieht ihn so selten, daß es in der Tat nur der Zufall zu sein scheint, der ihn zu uns führt.

 

Wenn er aber käme und diesen jungen Mann bei Ihrer Tochter träfe, so würde er mit Recht darüber aufgebracht sein.

 

Er! mein Gott, Sie täuschen sich; Herr Albert tut uns nicht die Ehre an, eifersüchtig auf seine künftige Frau zu sein, dazu liebt er sie nicht genug. Was liegt mir auch daran, ob er aufgebracht ist oder nicht.

 

Doch bei dem Verhältnis, in dem wir zu einander stehen …

 

Wollen Sie wissen, in welchem Verhältnis wir stehen? Auf dem Balle seiner Mutter tanzte er ein einziges Mal mit meiner Tochter, während Herr Cavalcanti dreimal mit ihr tanzte, und er hat es gar nicht bemerkt.

 

Der Herr Vicomte Albert von Morcerf, meldete der Kammerdiener.

 

Die Baronin stand rasch auf. Sie wollte ihre Tochter schnell benachrichtigen, aber Danglars hielt sie am Arme zurück und sagte:

 

Lassen Sie das!

 

Sie schaute ihn erstaunt an. Monte Christo stellte sich, als hätte er dieses Zwischenspiel nicht bemerkt.

 

Albert trat ein; er war sehr schön und sehr heiter, grüßte die Baronin mit Leichtigkeit, Danglars mit Vertraulichkeit, Monte Christo mit Liebe und sagte sodann, sich wieder zur Baronin wendend: Wollen Sie mir erlauben, mich bei Ihnen nach dem Befinden von Fräulein Danglars zu erkundigen?

 

Sie befindet sich sehr wohl, antwortete rasch Danglars, sie musiziert soeben in ihrem kleinen Salon mit Herrn Cavalcanti.

 

Albert behielt seine ruhige, gleichgültige Miene; er empfand vielleicht einen inneren Ärger, aber er fühlte Monte Christos Blick auf sich geheftet und bezwang sich.

 

Herr Cavalcanti hat eine sehr schöne Tenorstimme, sagte er, und Fräulein Danglars einen prachtvollen Sopran. Es muß ein entzückendes Konzert sein.

 

Sie stimmen allerdings vortrefflich zusammen, sagte Danglars.

 

Ich bin auch musikalisch, wenigstens wie meine Lehrer sagten, fuhr der junge Mann fort; doch seltsamerweise konnte ich meine Stimme nie mit einer andern Stimme in Einklang bringen.

 

Danglars lächelte auf eine Weise, die wohl bedeuten sollte: Ärgere dich doch! Dann sagte er laut: Der Prinz und meine Tochter haben auch gestern die allgemeine Bewunderung erregt. Waren Sie gestern nicht hier, Herr von Morcerf?

 

Welcher Prinz? fragte Albert.

 

Der Prinz Cavalcanti, erwiderte Danglars, der dem jungen Italiener hartnäckig diesen Titel gab.

 

Verzeihen Sie, ich wußte nicht, daß er Prinz ist. Also der Prinz Cavalcanti hat gestern mit Fräulein Eugenie gesungen! Das muß in Wahrheit entzückend gewesen sein, und ich bedaure lebhaft, es nicht gehört zu haben. Doch ich konnte Ihrer Einladung nicht entsprechen, da ich Frau von Morcerf zur Baronin Chateau-Renaud, wo die Deutschen sangen, begleiten mußte.

 

Dann wiederholte er nach einem Stillschweigen: Wird es mir erlaubt sein, Fräulein Danglars meine Achtung zu bezeigen?

 

Oh! warten Sie, warten Sie, ich bitte Sie, erwiderte der Bankier, den jungen Mann zurückhaltend, hören Sie die köstliche Cavatine: Ta, ta, ta, ti, ta, ti, ta, ta; es ist entzückend, sie sind sogleich fertig … nur eine Sekunde, vortrefflich! Bravo! bravo! bravi!

 

Und der Bankier fing an, wie wütend Beifall zu klatschen.

 

In der Tat, rief Albert, das ist vortrefflich, und man kann unmöglich die italienische Musik charakteristischer wiedergeben als der Prinz Cavalcanti. Nicht wahr, Sie sagten Prinz? Wenn er übrigens nicht Prinz ist, so wird man ihn schon noch dazu machen, denn das hält in Italien nicht schwer. Doch um auf unsere anbetungswürdigen Sänger zurückzukommen … Sie sollten uns das Vergnügen machen, Herr Danglars, Fräulein Danglars und Herrn Cavalcanti, ohne etwas von der Anwesenheit eines Fremden zu sagen, zu bitten, ein anderes Stück anzufangen. Es ist so köstlich, die Musik zu genießen, ohne daß man sieht, oder gesehen wird, und folglich, ohne den Musiker zu beengen, der sich ganz dem Instinkt seines Genies oder dem Ergusse seines Herzens überlassen kann.

 

Diesmal wurde Danglars durch das Phlegma des jungen Mannes aus dem Sattel gehoben. Er nahm Monte Christo beiseite und sagte zu ihm: Nun, was denken Sie von unserem Verliebten?

 

Verdammt, er kommt, mir ziemlich kalt vor; doch, was wollen Sie? Sie haben sich nun einmal verbindlich gemacht!

 

Allerdings habe ich mich verbindlich gemacht, aber nur, meine Tochter einem Manne zu geben, der sie liebt, und nicht einem Manne, der sie nicht liebt. Sehen Sie ihn an, er ist kalt wie Marmor, stolz wie sein Vater. – Wenn er noch reich wäre, wenn er das Vermögen der Cavalcanti besäße, könnte man darüber hinwegsehen! Meiner Treu, wenn meine Tochter jedoch einen guten Geschmack hätte …

 

Ich weiß nicht, ob meine Freundschaft für ihn mich verblendet, erwiderte Monte Christo, doch ich versichere Ihnen, Herr von Morcerf ist ein liebenswürdiger junger Mann, der Ihre Tochter glücklich machen und früher oder später etwas erreichen wird; denn die Stellung seines Vaters ist im ganzen ausgezeichnet.

 

Hm! machte Dauglars.

 

Warum dieser Zweifel?

 

Es ist da immer noch die Vergangenheit … die dunkle Vergangenheit.

 

Doch die Vergangenheit des Vaters geht den Sohn nichts an. – Warum nicht?

 

Seien Sie nicht eigensinnig! Vor einem Monat fanden Sie diese Verbindung vortrefflich. Sie begreifen, ich bin in Verzweiflung, denn bei mir haben Sie diesen Cavalcanti gesehen, den ich, ich wiederhole es, nicht kenne.

 

Ich kenne ihn, das genügt.

 

Sic kennen ihn? Haben Sie Erkundigungen über ihn eingezogen?

 

Bedarf es deren? Weiß man nicht beim ersten Blicke, mit wem man es zu tun hat? … Einmal ist er reich. – Ich kann keine Versicherung hierüber geben.

 

Sie haften doch für ihn? – Bis fünfzigtausend Franken, eine Lappalie.

 

Er hat eine ausgezeichnete Erziehung. – Hm!

 

Er ist musikalisch. – Alle Italiener sind das.

 

Hören Sie, Graf, Sie sind nicht gerecht gegen diesen jungen Mann.

 

Ja, ich gestehe es; da ich Ihre Verbindlichkeit Herrn Morcerf gegenüber kenne, sehe ich zu meinem Schmerze, daß er so dazwischentritt und sein Vermögen mißbraucht!

 

Danglars schlug ein Gelächter aus und rief: Was für ein Puritaner Sie sind! Das kommt täglich vor.

 

Sie können aber doch so nicht brechen, lieber Danglars; die Morcerf rechnen auf diese Heirat.

 

Sie rechnen darauf? – Bestimmt.

 

Dann mögen sie sich erklären. Sie, Herr Graf, sollten ein paar Worte hierüber bei dem Vater fallen lassen, da Sie im Hause so gut angeschrieben sind.

 

Ich? zum Teufel, wo haben Sie das gesehen?

 

Auf ihrem Balle, mir scheint. Wie! die Gräfin, die stolze Mercedes, die hochmütige Katalonierin, die sich kaum herabläßt, den Mund für ihre ältesten Bekannten zu öffnen, hat Sie am Arme genommen, ist mit Ihnen in den Garten und in die kleinen Alleen gegangen und erst nach einer halben Stunde zurückgekommen!

 

Ah! Baron, Baron, unterbrach Albert das leise geführte Gespräch, Sie hindern uns, zu hören; wie kann ein Musikfreund wie Sie so barbarisch sein!

 

Gut, gut, Herr Spötter, rief Danglars und fügte leise, zu Monte Christo gewandt, hinzu: Sie übernehmen es, dies dem Vater zu sagen?

 

Gern, wenn Sie wünschen.

 

Doch es muß bestimmt und unumwunden geschehen; er soll meine Tochter von mir verlangen, eine Zeit festsetzen, seine pekuniären Bedingungen nennen, damit man sich verständigt oder nicht verständigt, aber Sie begreifen, Aufschub gibt es nicht mehr!

 

Gut, ich werde den Schritt tun.

 

 

Ich sage nicht, daß ich ihn mit Vergnügen erwarte, aber ich erwarte ihn. Sie wissen, ein Bankier muß der Sklave seines Wortes sein. Hier stieß Danglars einen Seufzer aus.

 

Bravo! bravo! bravo! rief Morcerf, den Bankier parodierend und am Schlusse des Stückes Beifall klatschend.

 

Danglars schaute Albert erstaunt von der Seite an, als ein Diener eintrat und ihm ein paar Worte zuflüsterte.

 

Ich komme zurück, sagte der Bankier zu Monte Christo, erwarten Sie mich, ich habe Ihnen vielleicht sogleich etwas zu sagen. Und er ging hinaus.

 

Die Baronin benutzte die Abwesenheit ihres Mannes, um die Tür des Zimmers ihrer Tochter wieder auszustoßen, worauf man Andrea, der mit Fräulein Danglars vor dem Klavier saß, wie eine Feder ausspringen sah.

 

Albert verbeugte sich lächelnd vor Fräulein Danglars, die ihm ohne jede Verlegenheit, wie gewöhnlich, einen kalten Gruß zurückgab.

 

Cavalcanti war sichtbar verlegen; er grüßte Morcerf, der seine Begrüßung mit geringschätzender Miene erwiderte und sich sodann in den ausgesuchtesten Lobeserhebungen über Fräulein Danglars‘ Stimme erging.

 

Nun haben wir genug Musik und Komplimente gehabt, sagte Frau Danglars; wir wollen den Tee nehmen.

 

Komm, Luise, sagte Fräulein Danglars zu ihrer Freundin, worauf alle in den anstoßenden Salon gingen, in dem schon der Tee bereit stand.

 

In dem Augenblick, als man sich niedersetzte, öffnete sich die Tür wieder, und Danglars erschien sichtlich bewegt.

 

Auf einen fragenden Blick des Grafen erwiderte der Bankier: Ich habe einen Kurier von Griechenland bekommen.

 

Ah! ah! deshalb hat man Sie gerufen!

 

Wie geht es König Otto? fragte Albert munter.

 

Danglars schaute ihn von der Seite an, ohne ihm zu antworten, und Monte Christo wandte sich ab, um den Ausdruck des Mitleids zu verbergen, der auf seinem Gesichte hervortrat, bald aber wieder verschwand.

 

Nicht wahr, wir gehen miteinander? fragte Albert den Grafen.

 

Ja, wenn Sie wollen, antwortete dieser.

 

Albert verstand den Blick des Bankiers nicht und sagte erstaunt zu Monte Christo, der ihn vollkommen verstanden hatte: Haben Sie gesehen, wie er mich anschaute, und was will er mit seinen Nachrichten aus Griechenland sagen?

 

Wie soll ich das wissen?

 

Ich setze voraus, Sie stehen in einer gewissen Beziehung zu diesem Lande.

 

Monte Christo lächelte, wie man lächelt, wenn man sich einer Antwort überheben will.

 

Sehen Sie, er nähert sich Ihnen, sagte Albert; ich will Fräulein Danglars ein Kompliment über ihre Kamee machen, inzwischen hat der Vater Zeit, mit Ihnen zu sprechen.

 

Wollen Sie ihr ein Kompliment machen, so tun Sie es wenigstens über ihre Stimme, versetzte Monte Christo.

 

Nein, das tut jeder.

 

Mein lieber Vicomte, erwiderte Monte Christo, Ihr Benehmen kommt mir etwas sonderbar vor.

 

Albert trat mit lächelnden Lippen auf Eugenie zu.

 

Inzwischen neigte sich Danglars dem Grafen zu und flüsterte: Sie haben mir einen guten Rat gegeben, es liegt eine ganz furchtbare Geschichte in den Worten: Fernand und Janina, – Ah! bah!

 

Ja, ich werde es Ihnen erzählen; doch nehmen Sie den jungen Mann mit! Es wäre mir unangenehm, mit ihm zusammen zu bleiben.

 

Er begleitet mich; muß ich Ihnen immer noch den Vater schicken? … Mehr als je.

 

Gut.

 

Der Graf machte Albert ein Zeichen.

 

Beide verbeugten sich vor den Damen und gingen weg, wobei Albert sich Fräulein Danglars‘ geringschätzender Art gegenüber völlig gleichgültig verhielt, während Monte Christo Frau Danglars seine Ratschläge wiederholte, wie sich die Frau eines Bankiers klüglich ihre Zukunft sichern müßte.

 

Andrea Cavalcanti blieb Herr des Schlachtfeldes.

 

Haydee.

 

Haydee.

 

Kaum lenkte der Wagen um die Ecke, als sich Albert mit einem Gelächter, das zu lärmend war, um natürlich zu sein, an den Grafen wandte und sagte: Ich frage Sie, wie Karl IX. nach der Bartholomäus-Nacht Katharina von Medici fragte: Wie habe ich meine Rolle gespielt?

 

In welcher Hinsicht?

 

Hinsichtlich der Einsetzung meines Nebenbuhlers bei Herrn Danglars …

 

Welches Nebenbuhlers?

 

Bei Gott! Ihres Schützlings, des Herrn Cavalcanti.

 

Oh! keine schlechten Späße, Vicomte, Andrea ist nicht mein Schützling, am wenigsten bei Herrn Danglars.

 

Und das würde ich Ihnen zum Vorwurf machen, wenn der junge Mann eines Schutzes bedürfte; doch zu meinem Glücke kann er dessen entbehren.

 

Wie, Sie glauben, er mache den Hof?

 

Ich stehe Ihnen dafür; er seufzt, wälzt die Augen im Kopfe umher und gibt verliebte Töne von sich, kurz, er strebt mit allen Mitteln nach der Hand der stolzen Eugenie.

 

Was tut’s, wenn man nur an Sie denkt!

 

Sagen Sie das nicht, lieber Graf, man stößt mich von zwei Seiten zurück.

 

Wie, von zwei Seiten?

 

Fräulein Eugenie hat mir kaum geantwortet, und Fräulein d’Armilly, ihre Vertraute, gar nicht.

 

Ja … aber der Vater betet Sie an …

 

Er? im Gegenteil, er hat mir tausend Dolche ins Herz gestoßen; Dolche, die in das Heft zurückfuhren, Theaterdolche, die er aber für wahr und wirklich hielt.

 

Die Eifersucht deutet Zuneigung an.

 

Ja, doch ich bin nicht eifersüchtig.

 

Er ist es!

 

Auf wen, auf Debray?

 

Nein, auf Sie.

 

Auf mich? Ich wette, daß er mir, ehe acht Tage vergehen, die Tür vor der Nase zumacht.

 

Sie täuschen sich, lieber Vicomte.

 

Haben Sie einen Beweis?

 

Wollen Sie ihn?

 

Ja.

 

Ich bin beauftragt, den Herrn Grafen von Morcerf zu bitten, einen entscheidenden Schritt bei dem Baron zu tun.

 

Nicht wahr, das werden Sie nicht tun, lieber Graf?

 

Sie täuschen sich, Albert, ich werde es tun, da ich es versprochen habe.

 

Es scheint, es ist Ihnen alles daran gelegen, mich zu verheiraten, versetzte Albert mit einem Seufzer.

 

Es liegt mir daran, mit jedermann gut zu stehen. Aber, sagen Sie mir, was ist das eigentlich mit Debray? Ich sehe ihn nicht mehr bei der Baronin.

 

Es hat Streit gegeben.

 

Mit ihr?

 

Nein, mit dem Baron.

 

Er hat also etwas bemerkt?

 

Sie scherzen!

 

Glauben Sie, er habe es vermutet? versetzte Monte Christo naiv.

 

Ei, woher kommen Sie denn, lieber Graf?

 

Vom Kongo, wenn Sie wollen.

 

Das ist noch nicht fern genug.

 

Kenne ich die Pariser Ehemänner?

 

Die Ehemänner sind überall dieselben. Wenn Sie sie in irgend einem Lande studiert haben, kennen Sie das ganze Geschlecht.

 

Doch was konnte denn Danglars und Debray entzweien? Sie schienen sich so gut zu verstehen, sagte Monte Christo mit gleicher Naivität.

 

Ah! wir kommen zu den Geheimnissen der Isis, und ich bin nicht eingeweiht. Wenn Herr Cavalcanti Sohn zur Familie gehört, so fragen Sie ihn danach.

 

Der Wagen hielt an.

 

Wir sind an Ort und Stelle, sagte Monte Christo, es ist erst halb elf Uhr, kommen Sie mit herauf, mein Wagen wird Sie zurückfahren.

 

Ich danke, mein Coupé muß uns gefolgt sein.

 

In der Tat, hier ist es, sagte Monte Christo und sprang zu Boden.

 

Beide traten in das Haus. Lassen Sie uns Tee machen, Baptistin, sagte Monte Christo, sobald sie im hell beleuchteten Salon waren.

 

Baptistin entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen. Wenige Sekunden nachher erschien er wieder mit Tee und allem erdenklichem Zubehör.

 

In der Tat, mein lieber Graf, was ich an Ihnen bewundere, ist nicht Ihr Reichtum, es gibt vielleicht reichere Leute als Sie; es ist nicht Ihr Geist, Beaumarchais hatte nicht mehr, aber ebensoviel. Es ist die Art und Weise, wie Sie auf die Sekunde bedient werden, als ob man schon an Ihrem Läuten erriete, was Sie zu haben wünschen, und als ob das, was Sie haben wollen, stets bereit wäre.

 

An dem, was Sie sagen, ist etwas Wahres. Man kennt meine Gewohnheiten. Passen Sie auf! Wünschen Sie nicht irgend etwas zu tun, während Sie Tee trinken?

 

Bei Gott! ich wünsche zu rauchen.

 

Monte Christo näherte sich dem Glöckchen und tat einen Schlag.

 

Nach einer Sekunde öffnete sich eine besondere Tür, und Ali erschien mit zwei mit vortrefflichem Latakie gestopften Tschibuks.

 

Das ist wunderbar, sagte Morcerf.

 

Nein, das ist ganz einfach, versetzte Monte Christo. Ali weiß, daß ich gewöhnlich rauche, wenn ich Kaffee oder Tee trinke; er weiß, daß ich Tee verlangt habe; er weiß, daß ich mit Ihnen nach Hause gekommen bin, er hört, daß ich rufe, er vermutet die Ursache, und da er aus einem Lande stammt, wo die Gastfreundschaft besonders mittels der Pfeife geübt wird, so bringt er statt eines Tschibuks zwei.

 

Das ist allerdings eine gute Erklärung; darum scheint es mir aber nicht minder wahr, daß nur Sie … Doch was höre ich?

 

Morcerf neigte sich nach der Tür, durch welche Töne wie von einer Guitarre drangen.

 

Meiner Treu, lieber Vicomte, Sie sind heute ein Opfer der Musik; Sie entgehen dem Piano Fräulein Danglars‘ nur, um in Haydees Guzla zu fallen.

 

Haydee! welch bewunderungswürdiger Name! Es gibt also wirklich auch außer in Lord Byrons Gedichten Frauen, die Haydee heißen?

 

Gewiß; Haydee ist ein in Frankreich sehr seltener, doch in Albanien und Epirus sehr gewöhnlicher Vorname, es ist, wie wenn man zum Beispiel sagte: Keuschheit, Schamhaftigkeit, Unschuld.

 

Oh! wie reizend! rief Albert; wie gern hörte ich unsere Französinnen sich Fräulein Güte, Fräulein Schweigen, Fräulein Nächstenliebe nennen! Wie wirkungsvoll müßte es sein, wenn es bei einem Heiratsaufgebot, statt Claire Marie Eugenie, Fräulein Keuschheit-Schamhaftigkeit-Unschuld Danglars heißen würde!

 

Sie sind verrückt! sagte der Graf; reden Sie nicht so laut! Haydee könnte es hören.

 

Und sie würde sich darüber ärgern?

 

Nein, sagte der Graf kalt.

 

Sie ist gut?

 

Es ist nicht Güte, es ist Pflicht; eine Sklavin ärgert sich nicht über ihren Herrn.

 

Scherzen Sie nicht! Es gibt keine Sklavinnen mehr!

 

Sicher, da Haydee die meinige ist.

 

In der Tat, Sie tun nichts und haben nichts, wie andere Menschen. Sklavin des Grafen Monte Christo! Das ist auch eine Stellung. Nach der Art und Weise, wie Sie das Geld in Bewegung setzen, muß es ein Platz sein, der hunderttausend Taler jährlich einträgt.

 

Hunderttausend Taler! Die Arme hat mehr als dies besessen. Die Schätze ihres Vaters konnten den Vergleich mit denen aus Tausendundeiner Nacht aushalten.

 

Sie ist also wirklich von Geburt eine Prinzessin?

 

Gewiß, und zwar eine der reichsten ihres Landes.

 

Ich vermutete es. Doch wie ist aus der vornehmen Prinzessin eine Sklavin geworden?

 

Wie ist Dionys, der Tyrann von Syrakus, Schulmeister geworden? Der Zufall des Krieges, lieber Vicomte, die Laune des Schicksals.

 

Und ihr Name ist ein Geheimnis?

 

Ja, für alle, aber nicht für Sie, lieber Vicomte, der Sie zu meinen Freunden gehören, und der Sie schweigen, nicht wahr, wenn Sie mir zu schweigen versprechen?

 

Bei meinem Ehrenwort.

 

Sie kennen die Geschichte des Paschas von Janina?

 

Von Ali Tependelini? Ganz gewiß, denn mein Vater hat in seinen Diensten sein Glück gemacht.

 

Es ist wahr, ich hatte es vergessen.

 

Nun, in welcher Beziehung steht Haydee zu Ali Tependelini?

 

Sie ist ganz einfach seine Tochter.

 

Wie, die Tochter von Ali Pascha?

 

Ja, von der schönen Wasiliki.

 

Und sie ist Ihre Sklavin?

 

Mein Gott, ja!

 

Wie ist dies zugegangen?

 

Als ich eines Tages über den Markt von Konstantinopel ging, kaufte ich sie.

 

Das ist herrlich! Bei Ihnen, lieber Graf, lebt man nicht, sondern träumt. Doch hören Sie, was ich Sie nun fragen werde, ist sehr unbescheiden.

 

Sprechen Sie immerhin.

 

Da Sie mit ihr ausgehen, da Sie Haydee in die Oper führen, so kann ich mich wohl erdreisten …

 

Sie können sich erdreisten, alles von mir zu verlangen.

 

Wohl, lieber Graf, stellen Sie mich Ihrer Prinzessin vor.

 

Gern; doch unter zwei Bedingungen.

 

Ich nehme sie zum voraus an.

 

Einmal dürfen Sie diese Vorstellung niemand mitteilen.

 

Sehr gut. Ich schwöre.

 

Und sodann dürfen Sie ihr nicht sagen, Ihr Vater habe dem ihrigen gedient.

 

Ich schwöre abermals.

 

Vortrefflich. Vicomte, nicht wahr, Sie werden sich dieser beiden Schwüre erinnern?

 

Oh! gewiß.

 

Gut, ich weiß, daß Sie ein Mann von Ehre sind.

 

Der Graf schlug abermals auf das Glöckchen; Ali erschien.

 

Melde Haydee, sagte er zu ihm, daß ich den Kaffee bei ihr trinken will, und mache ihr begreiflich, daß ich sie um Erlaubnis bitte, ihr einen von meinen Freunden vorzustellen.

 

Ali verbeugte sich und trat ab.

 

Es ist also abgemacht, wandte er sich wieder an Albert, keine unmittelbare Frage, lieber Vicomte. Wenn Sie etwas wissen wollen, so fragen Sie mich, und ich werde Haydee fragen.

 

Abgemacht!

 

Ali erschien zum dritten Male und hielt den Türvorhang aufgehoben, um seinem Herrn und Albert anzudeuten, daß sie kommen könnten.

 

Treten wir ein! sagte Monte Christo.

 

Albert fuhr mit der Hand in seine Haare und kräuselte seinen Schnurrbart. Der Graf nahm seinen Hut, zog seine Handschuhe an und ging Albert in die Wohnung voran, die von Ali wie von einem Vorposten bewacht und von den drei Myrtho untergebenen französischen Kammerfrauen verteidigt wurde.

 

Haydee wartete im ersten Zimmer, dem Salon, mit großen Augen, in denen sich das Erstaunen deutlich ausprägte, denn es geschah zum erstenmal, daß ein anderer Mann als Monte Christo zu ihr drang. Sie saß mit gekreuzten Beinen in der Ecke eines Sofas wie in einem Nest aus den reichsten gestickten und gestreiften orientalischen Seidenstoffen; neben ihr lag das Instrument, dessen Töne sie verraten hatten. Sie war reizend anzuschauen.

 

Als sie Monte Christo erblickte, stand sie auf, mit dem doppelten Lächeln der Tochter und der Liebenden, das nur ihr eigen war; Monte Christo ging auf sie zu und reichte ihr seine Hand, auf die sie, wie gewöhnlich, ihre Lippen drückte.

 

Albert war beim Anblick dieser seltsamen Schönheit, die er zum erstenmal sah, und von der sich ein Franzose keinen Begriff machen konnte, bei der Tür stehen geblieben.

 

Wen bringst du? fragte das Mädchen in neugriechischer Sprache, einen Bruder, einen Freund, einen Bekannten oder einen Feind?

 

Einen Freund, antwortete Monte Christo in derselben Sprache.

 

Wie heißt er?

 

Graf Albert, derselbe, den ich in Rom den Händen der Banditen entrissen habe.

 

In welcher Sprache soll ich mit ihm reden?

 

Monte Christo wandte sich zu Albert und fragte den jungen Mann:

 

Kennen Sie das Neugriechische?

 

Ach, nicht einmal das Altgriechische, versetzte Albert; Homer und Plato haben einen erbärmlichen Schüler an mir gehabt.

 

Nun wohl, sagte Haydee und bewies durch ihre Worte, daß sie Monte Christos Frage und Alberts Antwort gehört und verstanden hatte, ich werde Französisch oder Italienisch sprechen, wenn es überhaupt meines Herrn Wille ist, daß ich spreche.

 

Monte Christo dachte einen Augenblick nach und erwiderte: Du wirst Italienisch sprechen. Dann sagte er zu Albert: Es ist ärgerlich, daß Sie weder das Neugriechische, noch das Altgriechische verstehen, denn Haydee spricht beides vortrefflich; die Arme ist genötigt, Italienisch mit Ihnen zu reden, was Ihnen vielleicht einen falschen Begriff von ihr geben wird.

 

Er machte Haydee ein Zeichen.

 

Sei willkommen, Freund, der du mit meinem Herrn und Gebieter erscheinst, sagte das Mädchen in vortrefflichem Toskanisch und mit weichem, römischem Akzent. Ali, Kaffee und Pfeifen!

 

Monte Christo zeigte Albert zwei Stühle, die sie an ein mit natürlichen Blumen, Zeichnungen und Musikalien bedecktes Tischchen rückten.

 

Ali kehrte bald mit dem Kaffee und den Tschibuks zurück; Baptistin war das Betreten dieses Teils der Wohnung verboten.

 

Albert wies die Pfeife zurück, die ihm der Nubier bot.

 

Oh! nehmen Sie, nehmen Sie, sagte Monte Christo; Haydee ist beinahe ebenso zivilisiert wie eine Pariserin; eine Havanna ist ihr unangenehm, weil sie die schlechten Gerüche nicht liebt, doch der orientalische Tabak gibt einen Wohlgeruch, wie Sie wissen.

 

Ali verließ das Zimmer.

 

Der Kaffee war zum Genusse völlig bereitet, nur hatte man für Albert eine Zuckerdose zur Verfügung gestellt. Monte Christo und Haydee nahmen den arabischen Trank nach Art der Araber, nämlich ohne Zucker.

 

 

Haydee streckte ihre Hand aus und faßte mit der Spitze ihrer zarten, rosigen Finger die Tasse von japanischem Porzellan, die sie mit dem naiven Vergnügen eines Kindes, das Angenehmes ißt oder trinkt, an ihre Lippen führte.

 

Zu gleicher Zeit traten zwei Frauen ein und brachten zwei andere Platten, beladen mit Eis und Sorbet, die sie auf kleine, eigens dafür bestimmte Tische setzten.

 

Mein lieber Wirt und Sie, Signora, sagte Albert Italienisch, entschuldigen Sie mein Erstaunen. Ich bin ganz verwirrt, und das ist natürlich; ich finde hier den Orient, den wahren Orient, nicht wie ich ihn gesehen, sondern wie ich ihn geträumt, im Schoße von Paris geträumt habe. Oh! Signora, daß ich nicht Griechisch sprechen kann, Ihre Rede, verbunden mit dieser feenhaften Umgebung, wurde für mich einen Abend bilden, dessen ich mich stets erinnern müßte.

 

Ich spreche gut genug Italienisch, um mich mit Ihnen zu unterhalten, mein Herr, sagte Haydee gelassen, und ich werde nach Kräften dafür sorgen, daß Sie den Orient hier wiederfinden, wenn Sie ihn lieben.

 

Wovon kann ich mit ihr sprechen? fragte Albert ganz leise Monte Christo.

 

Wovon Sie wollen, von ihrem Vaterland, von ihrer Jugend, von ihren Erinnerungen, oder wenn Sie lieber wollen, von Rom, von Neapel, von Florenz.

 

Oh! es wäre nicht der Mühe wert, eine Griechin vor sich zu haben, um mit ihr von dem zu reden, wovon man mit einer Pariserin reden würde; lassen Sie mich mit ihr vom Orient sprechen.

 

Tun Sie das, mein lieber Albert, es ist für sie die angenehmste Unterhaltung.

 

Albert wandte sich an Haydee und fragte: In welchem Alter hat Signora Griechenland verlassen?

 

Mit fünf Jahren.

 

Und Sie erinnern sich Ihres Vaterlandes?

 

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich alles wieder, was ich gesehen habe.

 

Und was ist die fernste Zeit, deren Sie sich erinnern?

 

Ich konnte kaum gehen; meine Mutter, die Wasiliki hieß – was königlich bedeutet, fügte das Mädchen stolz hinzu – meine Mutter nahm mich bei der Hand, und wir gingen beide, nachdem wir in unsere Börse alles Gold getan hatten, das wir besaßen, mit Schleiern bedeckt umher und forderten mit den Worten: Wer den Armen gibt, leiht dem Ewigen, Almosen für die Gefangenen. Wenn dann unsere Börse voll war, kehrten wir in den Palast zurück und schickten, ohne meinem Vater ein Wort zu sagen, alles Gold, das man uns, im Glauben, wir seien arme Frauen, gegeben hatte, dem Hegumenos des Klosters, der es unter die Gefangenen austeilte.

 

Wie alt waren Sie damals?

 

Drei Jahre, sagte Haydee.

 

Sie erinnern sich also alles dessen, was seit Ihrem dritten Lebensjahre um sie her sich zugetragen hat?

 

Gewiß.

 

Graf, sagte leise Morcerf zu Monte Christo, Sie sollten ihr erlauben, uns etwas von ihrer Geschichte zu erzählen. Sie haben mir verboten, von meinem Vater mit ihr zu sprechen, doch vielleicht spricht sie von ihm, und Sie können sich gar nicht denken, wie glücklich ich wäre, seinen Namen aus einem so schönen Munde nennen zu hören.

 

Monte Christo wandte sich an Haydee und sagte zu ihr mit scharfer Betonung auf griechisch: Erzähle uns das Schicksal deines Vaters, aber nenne nicht den Namen des Verräters. Haydee stieß einen langen Seufzer aus, und eine düstere Wolke zog über ihre reine Stirn hin.

 

Was sagen Sie ihr? fragte ganz leise Morcerf.

 

Ich wiederhole ihr, daß Sie ein Freund von mir sind, und daß sie Ihnen gegenüber nichts zu verbergen habe.

 

Das ist also Ihre erste Erinnerung? sagte Albert, was schwebt Ihnen sonst noch vor?

 

Ich sehe mich unter dem Schatten von Ahornbäumen, in der Nähe eines Sees, dessen zitternden Spiegel ich noch durch das Blätterwerk erblicke. An dem ältesten und buschreichsten Baume saß mein Vater auf Kissen, und während meine Mutter zu seinen Füßen lag, spielte ich mit seinem weißen Barte, der bis auf seine Brust herabhing, und mit dem in seinem Gürtel steckenden Kandschar mit dem Diamantgriffe. Von Zeit zu Zeit kam ein Albanese zu ihm und sagte ein Paar Worte, auf die mein Vater gleichmütige Tötet! oder begnadigt! antwortete.

 

Ich war vier Jahre alt, als ich eines Abends von meiner Mutter aufgeweckt wurde. Wir befanden uns in dem Palaste von Janina; sie nahm mich von den Kissen, auf denen ich ruhte, und als ich die Augen öffnete, sah ich die ihrigen voll schwerer Tränen. Sie trug mich fort, ohne etwas zu sagen. Als ich wahrnahm, daß sie weinte, fing ich ebenfalls an zu weinen. Still, Kind! sagte sie. Trotz der mütterlichen Tröstungen oder Drohungen fuhr ich, launenhaft wie alle Kinder, fort zu weinen; doch schließlich lag in der Stimme meiner armen Mutter ein solcher Ausdruck von Schrecken, daß ich schwieg.

 

Sie trug mich rasch weiter. Wir stiegen eine breite Treppe hinab; alle Frauen meiner Mutter stiegen oder stürzten vielmehr, Kisten, Sacke, Putzsachen, Juwelen, Goldbörsen tragend, dieselbe Treppe hinab. Hinter den Frauen kam eine Wache von zwanzig Mann, bewaffnet mit langen Flinten und Pistolen.

 

Glauben Sie, sagte Haydee, den Kopf schüttelnd und schon bei dieser Erinnerung erbleichend, es lag etwas Unseliges in der langen Reihe von Sklaven und Frauen, die halb schlaftrunken waren, – wenigstens bildete ich es mir ein, denn ich hielt vielleicht die andern für schläfrig, weil ich selbst nur halb wach war. Auf der Treppe liefen riesige Schatten, welche der Schein der tannenen Fackeln an den Gewölben zittern ließ. Eilt! rief eine Stimme im Hintergrunde der Galerie. Bei dieser Stimme beugte sich alles, wie der Wind, der über die Ebene hinstreicht, das Ährenfeld sich beugen läßt.

 

Ich aber zitterte.

 

Die Stimme war die meines Vaters. Er kam zuletzt in seinen glänzenden Gewändern und den Karabiner in der Hand haltend, den Ihr Kaiser ihm geschenkt hatte. Auf seinen Liebling Selim gestützt, trieb er uns vor sich her, wie ein Hirt seine verirrte Herde.

 

Mein Vater, fuhr Haydee, das Haupt erhebend, fort, mein Vater war der berühmte Mann, den Europa unter dem Namen Ali Tependelini, Pascha von Janina, gekannt hat, und vor dem die Türken zitterten.

 

Ohne zu wissen warum, bebte Albert, als er diese Worte mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Hoheit und Würde aussprechen hörte. Es kam ihm vor, als strahlte etwas Düsteres, Furchtbares in den Augen des griechischen Mädchens; einer Zauberin ähnlich, die ein Gespenst heraufbeschwört, erweckte Haydee die Erinnerung an die blutige Gestalt, deren gräßlicher Tod sie in den Augen des damaligen Europa riesenhaft erscheinen ließ.

 

Bald hielt man an, fuhr Haydee fort, wir waren unten an der Treppe und am Rande eines Sees. Meine Mutter drückte mich an ihre pochende Brust, und ich sah zwei Schritte hinter uns meinen Vater, der unruhig nach allen Seiten umherschaute. Vor uns lagen vier Marmorstufen, und unten an der letzten Stufe schaukelte eine Barke. Von dem Orte aus, wo wir waren, sah man mitten im See eine schwarze Masse sich erheben; es war der Kiosk, nach dem wir uns begaben. Dieser Kiosk schien mir sehr weit entfernt zu sein, vielleicht wegen der Dunkelheit. Wir stiegen in die Birke hinab. Außer den Ruderern waren in der Barke nur die Frauen, mein Vater, meine Mutter, Selim und ich. Die Palikaren waren, bereit, den Rückzug zu decken, am Rande des Sees geblieben; sie knieten auf der untersten Stufe und machten sich so für den Fall, daß sie verfolgt würden, einen Wall aus den drei andern. Unsere Barke ging wie der Wind.

 

Warum geht die Barke so geschwind? fragte ich meine Mutter.

 

Still, mein Kind! sagte sie, wir fliehen.

 

Ich begriff das nicht. Warum floh mein Vater? Er, der Allmächtige, vor dem gewöhnlich die andern flohen, er, dessen Wahlspruch es war: Sie mögen mich hassen, wenn sie mich nur fürchten!

 

Es war aber in der Tat eine Flucht. Man sagte mir seitdem, eines langen Dienstes müde, habe die Garnison von Janina …

 

Hier heftete Haydee ihren ausdrucksvollen Blick auf Monte Christo, dessen Augen die ihrigen nicht mehr verließen. Das Mädchen fuhr langsam fort, wie jemand, der erfindet oder unterdrückt.

 

Sie sagten, Signora, erinnerte Albert, der mit der größten Aufmerksamkeit dieser Erzählung zuhörte, des langen Dienstes müde, habe die Garnison von Janina …

 

Mit dem Seraskier Kurschid unterhandelt, der von dem Sultan abgeschickt war, meinen Vater festzunehmen. Damals faßte mein Vater den Entschluß, nachdem er an den Sultan einen fränkischen Offizier, dem er sein ganzes Zutrauen schenkte, abgeschickt hatte, sich nach dem Asile zurückzuziehen, das er sich seit langer Zeit bereitet hatte.

 

Und Sie erinnern sich des Namens dieses Offiziers?

 

Nein, ich entsinne mich dessen nicht, antwortete Haydee, durch einen Blick des Grafen gewarnt, doch er wird mir vielleicht später einfallen, und ich werde ihn dann nennen. Albert wollte den Namen seines Vaters aussprechen, als Monte Christo langsam den Finger aufhob; der junge Mann erinnerte sich seines Schwures und schwieg.

 

Wir segelten auf den Kiosk zu. Ein mit Arabesken verziertes Erdgeschoß badete seine Terrassen im Wasser; dieses Erdgeschoß und ein Stockwerk darüber war alles, was der Palast den Augen Sichtbares bot. Aber unter dem Erdgeschosse war, sich nach der Insel ausdehnend, ein Gewölbe, eine weite Höhle, in die man uns, meine Mutter, mich und unsere Frauen, führte und wo auf einem einzigen Haufen sechzigtausend Beutel und zweihundert Fässer lagen. In diesen Beuteln waren fünfundzwanzig Millionen in Gold, in den Fässern dreißiglausend Pfund Pulver enthalten. Bei den Fässern stand Selim, der von mir erwähnte Liebling meines Vaters. Er wachte Tag und Nacht, mit einem Spieße in der Hand, an dessen Ende eine Lunte brannte, und hatte Befehl, auf das erste Zeichen meines Vaters alles, Kiosk, Waffen, Pascha, Frauen und Gold, in die Luft zu sprengen.

 

Ich kann nicht sagen, wie lange wir so blieben; zuweilen, jedoch selten, ließ mein Vater mich und meine Mutter auf die Terrasse des Palastes rufen; das waren die festlichsten Stunden für mich. Mein Vater heftete beständig seinen düsteren Blick in den Umkreis des Horizontes und befragte jeden schwarzen Punkt, der auf dem See erschien, während meine Mutter in halb liegender Stellung ihren Kopf auf seine Schulter stützte und ich, zu seinen Füßen spielend, mit erstaunten Kinderaugen, welche die Gegenstände noch vergrößern, die Abdachungen des am Horizont sich erhebenden Pindus betrachtete. Aus dem blauen Wasser des Sees traten weiß und eckig die Schlösser von Janina und die ungeheuren, schwarzgrünen Baumgruppen, die wie Schlingpflanzen am Gebirge hingen und aus der Ferne wie Moose aussahen.

 

Eines Morgens ließ uns mein Vater holen; meine Mutter hatte die ganze Nacht geweint; wir fanden ihn ziemlich ruhig, aber bleicher als gewöhnlich.

 

Fasse Geduld, Wasiliki, sagte er, heute wird alles vorüber sein; heute kommt der Ferman des Herrn, und mein Schicksal entscheidet sich. Bin ich völlig begnadigt, so kehren wir nach Janina zurück, ist die Nachricht schlimm, so fliehen wir in dieser Nacht.

 

Aber wenn sie uns nicht fliehen lassen? entgegnete meine Mutter.

 

Oh, sei unbesorgt! sagte Ali lächelnd; Selim und seine Lunte haften mir dafür. Es wäre ihnen lieb, wenn ich sterben müßte, doch nicht, wenn sie mit mir sterben müssen.

 

Meine Mutter antwortete auf diese Tröstungen, die nicht aus dem Herzen meines Vaters kamen, nur durch Seufzer. Sie bereitete ihm das Eiswasser, das er jeden Augenblick trank, denn seit dem Rückzuge nach dem Kiosk verzehrte ihn ein glühendes Fieber; sie zündete den Tschibuk an, dessen in der Luft verfliegendem Rauche seine zerstreuten Blicke zuweilen ganze Stunden lang folgten.

 

Plötzlich machte er eine so ungestüme Bewegung, daß mir bange wurde. Dann verlangte er, ohne die Augen von dem Gegenstand abzuwenden, der seine Aufmerksamkeit fesselte, ein Fernglas.

 

Meine Mutter, bleicher als die Wand, an die sie sich lehnte, gab es ihm.

 

Ich sah die Hand meines Vaters zittern. Eine Barke! … zwei … drei … murmelte mein Vater; vier! … und er stand auf und ergriff seine Waffen und schüttete, wie ich mich genau erinnere, Pulver auf die Pfannen seiner Pistolen.

 

Wasiliki, sagte er bebend zu meiner Mutter, der entscheidende Augenblick ist gekommen; in einer halben Stunde wissen wir die Antwort des Großherrn; begib dich mit Haydee in das unterirdische Gewölbe.

 

Ich will Euch nicht verlassen, entgegnete Wasiliki, sterbt Ihr, Herr, so will ich mit Euch sterben.

 

Geht zu Selim, rief mein Vater.

 

Gott befohlen, Herr! murmelte meine Mutter, gehorchend und wie gelähmt, als nahte ihr der Tod.

 

Ich aber lief auf meinen Vater zu und streckte meine Arme nach ihm aus; er sah mich, neigte sich auf mich herab und drückte meine Stirn an seine Lippen. Oh! dieser Kuß war der letzte, und ich fühle ihn noch hier auf meiner Stirn.

 

Beim Hinabsteigen erblickten wir durch die Gitter der Terrasse die Barken, die auf dem See immer größer wurden, und kaum erst schwarzen Punkten ähnlich, nun bereits die Oberfläche der Wellen streifenden Vögeln glichen. Zu den Füßen meines Vaters sitzend und durch das Geräusch verborgen, beobachteten mittlerweile zwanzig Palikaren mit blutigem Auge die Ankunft der Schiffe und hielten ihre langen, mit Perlmutter und Silber eingelegten Flinten bereit. Patronen lagen in großer Anzahl auf dem Boden zerstreut; mein Vater schaute auf seine Uhr und ging ängstlich hin und her. Meine Mutter und ich gingen durch das unterirdische Gewölbe. Selim war immer noch an seinem Posten; er lächelte uns traurig zu, und obgleich noch Kind, fühlte ich doch, daß eine große Gefahr über unsern Häuptern schwebte.

 

Albert hatte oft, nicht von seinem Vater, der nie darüber sprach, sondern von Fremden die letzten Augenblicke des Wesirs von Janina erzählen hören; doch diese durch die Person und die Stimme des Mädchens zu neuem Leben erweckte Geschichte, der gefühlvolle Ausdruck, die klagende Elegie durchdrangen ihn zugleich mit einem unbeschreiblichen Zauber und mit einem unaussprechlichen Schmerz.

 

Ganz ihren furchtbaren Erinnerungen hingegeben, hatte Haydee einen Augenblick zu sprechen ausgehört; wie eine Blume, die sich vor dem Sturme neigt, beugte sich ihre Stirn auf die Hand, und ihre im weiten Räume verlorenen Augen schienen noch am Horizont den grünen Pindus und die blauen Wasser des Sees zu schauen, der, ein magischer Spiegel, das düstere Gemälde, das sie entwarf, widerstrahlte.

 

Monte Christo schaute sie voll Teilnahme und Mitleid an.

 

Endlich erhob Haydee die Stirn und fuhr fort: Es war vier Uhr abends; aber obgleich der Tag außen rein und glänzend war, blieben wir doch in den Schatten des unterirdischen Gewölbes versenkt. Ein einziger Schein glänzte in der Höhle, ähnlich einem am Grunde eines schwarzen Himmels zitternden Stern, es war Selims Lunte. Meine Mutter war eine Christin und betete. Selim wiederholte von Zeit zu Zeit die geheiligten Worte: Allah ist groß! Meine Mutter hatte jedoch noch einige Hoffnung. Als sie hinabstieg, hatte sie den Franken zu erkennen geglaubt, den man nach Konstantinopel geschickt, und in den mein Vater sein ganzes Vertrauen setzte, denn er wußte, daß die Soldaten des französischen Sultans gewöhnlich edel und hochherzig sind. Sie ging einige Schritte zur Treppe hin und horchte. Sie nahen, sagte sie; wenn sie nur den Frieden und das Leben bringen! Was befürchtest du, Wasiliki, entgegnete Selim mit seiner zugleich weichen und stolzen Stimme; bringen sie uns nicht den Frieden, so geben wir ihnen den Krieg; bringen sie uns nicht das Leben, so geben wir ihnen den Tod. Und er fachte die Flamme seines Spießes von neuem an. Aber ich, die noch ganz Kind war, fürchtete mich vor diesem Mute, den ich wild und unsinnig fand, und erschrak vor dem furchtbaren Tode in der Luft und in den Flammen. Meine Mutter mußte wohl dasselbe empfinden, denn ich fühlte ihre Hand beben.

 

Mein Gott! mein Gott! Mama, rief ich, müssen wir sterben? Und bei dem Tone meiner Stimme verdoppelten sich die Tränen und die Gebete der Sklavinnen. Kind, sagte meine Mutter, Gott behüte dich, daß du dir je den Tod wünschest, vor dem dir heute bange ist!

 

Selim, sagte sie, wie lautet der Befehl des Herrn?

 

Schickt er mir seinen Dolch, so weigert sich der Sultan, ihn in Gnade zu empfangen, und ich lege Feuer an; schickt er mir seinen Ring, so verzeiht ihm der Sultan, und ich lösche meine Flamme aus.

 

Freund, versetzte meine Mutter, wenn der Befehl des Herrn kommt er schickt dir den Dolch, so reichen wir dir, statt eines Todes zu sterben, der uns erschreckt, die Brust, und du tötest uns mit diesem Dolche.

 

Ja, Wasiliki, antwortete Selim ruhig.

 

Plötzlich vernahmen wir ein Geschrei; wir horchten: es war ein Freudengeschrei; der Name des Franken, den man nach Konstantinopel, geschickt, erscholl wiederholt aus dem Munde unserer Palikaren; offenbar brachte er die Antwort des Großherrn, und die Antwort lautete günstig.

 

Und Sie erinnern sich dieses Namens nicht? fragte Morcerf.

 

Monte Christo machte ihr ein Zeichen.

 

Ich erinnere mich seiner nicht, sagte Haydee.

 

Der Lärm vermehrte sich, es erschollen immer näher kommende Tritte; man stieg die Stufen des unterirdischen Gewölbes hinab. Selim hielt seinen Spieß bereit. Bald erschien ein Schatten in der bläulichen Dämmerung, mit welcher die durch den Eingang des unterirdischen Gewölbes eindringenden Strahlen den Raum erfüllten. Wer bist du? rief Selim. Wer du auch sein magst, tue keinen Schritt weiter.

 

Ehre dem Sultan! sagte der Schatten. Dem Wesir Ali ist volle Begnadigung zugestanden, und man hat ihm nicht nur das Leben gesichert, sondern man gibt ihm auch sein Vermögen und seine Güter zurück. Meine Mutter stieß einen Freudenschrei aus und drückte mich an ihr Herz. Halt! sagte Selim, als er sah, daß sie forteilen wollte, du weißt, daß ich den Ring haben muß.

 

Es ist richtig, sagte meine Mutter, und fiel auf die Knie und hob mich betend zum Himmel empor.

 

Wieder schwieg Haydee, von einer so furchtbaren Erschütterung überwältigt, daß ihr der Schweiß von der bleichen Stirn floß und ihre zusammengepreßte Stimme nicht mehr durch die Kehle dringen zu können schien. Monte Christo goß ein wenig Eiswasser in ein Glas, bot es ihr und sprach mit weichem, aber doch auch ein wenig gebieterischem Tone: Mut gefaßt, meine Tochter!

 

Haydee trocknete ihre Augen und fuhr fort: An die Dunkelheit gewöhnt, hatten mittlerweile unsere Augen den Abgesandten des Paschas erkannt; es war ein Freund. Selim hatte ihn ebenfalls wahrgenommen, doch der brave junge Mann kannte nur eines: Gehorsam.

 

In wessen Namen kommst du? fragte er.

 

Ich komme im Namen deines Herrn, Ali Tependelini, Wenn du im Namen Alis kommst, so weißt du, was du mir zu übergeben hast.

 

Ja, sagte der Abgeordnete, ich bringe dir seinen Ring, Gleichzeitig hob er seine Hand empor, aber er stand zu weit entfernt, und es war nicht hell genug, als daß Selim den Gegenstand, den er ihm zeigte, zu unterscheiden vermochte. Ich weiß nicht, was du in der Hand hältst, sagte Selim.

 

Nähere dich! sagte der Bote, oder ich werde mich dir nähern.

 

Weder das eine noch das andere, entgegnete der junge Soldat, lege auf die Stelle, wo du bist, und unter den Lichtstrahl den Gegenstand, den du mir zeigst, und ziehe dich zurück, bis ich ihn gesehen habe.

 

Es sei, sagte der Bote.

 

Und er zog sich zurück, nachdem er das Erkennungszeichen niedergelegt hatte. Unser Herz schlug gewaltig, denn es schien wirklich ein Ring zu sein. Nur fragte es sich, ob es der Ring meines Vaters war. Beständig die angezündete Lunte in der Hand haltend, ging Selim an die Öffnung, bückte sich unter den Lichtstrahl und hob das Zeichen auf. Der Ring des Herrn, sagte er, ihn küssend, es ist gut! Und die Lunte auf den Boden werfend, trat er darauf und löschte sie aus. Der Bote stieß einen Freudenschrei aus und klatschte in die Hände.

 

Auf dieses Zeichen liefen vier Soldaten des Seraskiers Kurschid herbei, und Selim stürzte, von fünf Dolchstößen durchbohrt, nieder.

 

Jeder hatte ihm einen Stoß versetzt. Und trunken von ihrem Verbrechen, obgleich noch bleich vor Schrecken, stürzten sie in das Gewölbe, suchten überall, ob Feuer da wäre, und wälzten sich auf den Goldsäcken.

 

Mittlerweile faßte mich meine Mutter in ihre Arme und gelangte zu einer Geheimtreppe des Kiosks, in dem ein furchtbarer Aufruhr herrschte. Die unteren Säle waren ganz gefüllt von den Tschodoars von Kurschid, das heißt von unseren Feinden. In dem Augenblick, wo meine Mutter die kleine Tür aufstoßen wollte, hörten wir furchtbar und drohend die Stimme des Paschas ertönen. Meine Mutter hielt ihr Auge an eine Spalte in den Brettern; auch ich fand eine und blickte hindurch.

 

Was wollt ihr? sagte mein Vater zu den Leuten, die ein Papier mit goldenen Buchstaben in der Hand hielten.

 

Was wir wollen? entgegnete einer von ihnen, dir den Willen Seiner Hoheit mitteilen. Siehst du diesen Ferman?

 

Ich sehe ihn.

 

So lies; er fordert deinen Kopf.

 

Mein Vater brach in ein Gelächter aus, das furchtbarer war, als irgend eine Drohung hätte sein können; doch er hatte noch nicht zu lachen aufgehört, als bereits von zwei Pistolenschüssen aus seinen Händen zwei Männer tot niedergestreckt waren. Die Palikaren, die, mit dem Gesicht zur Erde, um meinen Vater lagen, erhoben sich und gaben Feuer, das Gemach füllte sich mit Geschrei, Flammen und Rauch. Aus der Stelle begann das Feuer von der andern Seite, und die Kugeln durchlöcherten die Bretter um uns her. Oh! wie schön, wie groß er war, der Wesir Ali Tependelini, mein Vater, mitten unter den Kugeln, den Säbel in der Faust, das Gesicht von Pulver geschwärzt! Wie seine Feinde flohen!

 

Selim! Selim! schrie er, Feuerwächter, tu deine Pflicht!

 

Selim ist tot, antwortete eine Stimme, die aus den Tiefen des Kiosks zu kommen schien, und du, Herr, bist verloren!

 

Gleichzeitig vernahm man einen dumpfen Ton, und der Boden flog um meinen Vater in Stücke. Die Tschodoars schossen durch den Boden, und drei oder vier Palikaren brachen, schrecklich verwundet, zusammen. Mein Vater brüllte, streckte seine Finger durch die von den Kugeln gemachten Löcher und riß ein ganzes Brett aus. In demselben Augenblicke aber krachten durch diese Öffnung zwanzig Flintenschüsse, und wie aus dem Krater eines Vulkans hervorströmend, ergriff die Flamme die Tapeten und verzehrte sie.

 

Mitten unter diesem furchtbaren Aufruhr, mitten unter diesem gräßlichen Geschrei, ließen mich zwei besondere Schüsse, denen zwei herzzerreißende, alles andere übertönende Schreie folgten, vor Schrecken zu Eis erstarren: die Schüsse hatten meinen Vater tödlich getroffen, und er hatte die Schreie ausgestoßen. Trotzdem war er, sich an ein Fenster klammernd, aufrecht stehen geblieben. Meine Mutter rüttelte an der Tür, um mit ihm zu sterben, aber die Tür war verschlossen. Rings um ihn her krümmten sich Palikaren, im Todeskampfe zuckend; zwei oder drei, die ohne Wunden oder nur leicht verwundet waren, sprangen durch die Fenster. Zu gleicher Zeit krachte der ganze Boden, von unten zertrümmert. Mein Vater fiel auf ein Knie, zwanzig Arme streckten sich, mit Säbeln, Pistolen, Dolchen bewaffnet, nach ihm aus; zwanzig Streiche trafen in derselben Sekunde einen einzigen Mann, und mein Vater verschwand in einem von diesen brüllenden Teufeln angezündeten Feuerwirbel, als ob sich die Hölle unter seinen Füßen geöffnet hätte. Ich fühlte, wie ich zu Boden rollte; meine Mutter stürzte ohnmächtig nieder.

 

Haydee ließ, einen Seufzer ausstoßend, ihre Arme sinken und schaute den Grafen an, als wollte sie ihn fragen, ob er mit ihrem Gehorsam zufrieden sei.

 

Der Graf stand auf, faßte sie bei der Hand und sagte in neugriechischer Sprache zu ihr: Beruhige dich, liebes Kind, fasse Mut und bedenke, daß es einen Gott gibt, der die Verräter bestraft.

 

Das ist eine furchtbare Geschichte, Graf, sagte Albert, ganz erschrocken über Haydees Blässe; ich mache es mir zum Vorwurf, daß ich so grausam unbescheiden gewesen bin.

 

Es ist nichts, erwiderte Monte Christo und fuhr, seine Hand auf den Kopf des Mädchens legend, fort: Haydee ist mutig; sie hat in der Erzählung ihrer Schmerzen eine Erleichterung gefunden.

 

Weil mich meine Schmerzen an deine Wohltaten erinnern, mein Herr, versetzte rasch Haydee.

 

Albert schaute sie neugierig an, denn sie hatte noch nicht erzählt, was er am meisten zu wissen wünschte, nämlich, wie sie Sklavin des Grafen geworden war.

 

Haydee sah in den Blicken des Grafen wie in denen Alberts dasselbe Verlangen ausgedrückt und fuhr fort: Als meine Mutter wieder zu sich kam, befanden wir uns vor dem Seraskier. Töte mich, sagte sie, aber schone die Ehre der Witwe Alis. – Du mußt dich nicht an mich wenden, erwiderte Kurschid. – An wen denn? – An deinen neuen Herrn. – Wer ist dies? – Hier steht er. Und Kurschid deutete auf einen von denen, die am meisten zum Tode meines Vaters beigetragen hatten, fuhr das Mädchen mit dumpfem Zorne fort.

 

Ihr wurdet also das Eigentum dieses Mannes?

 

Nein, antwortete Haydee; er wagte nicht, uns zu behalten, und verkaufte uns an Sklavenhändler, die nach Konstantinopel zogen. Wir durchreisten Griechenland und kamen endlich sterbend an der kaiserlichen Pforte an, wo uns Neugierige bedrängten, als meine Mutter, den Blicken der Menge folgend, auf einmal einen Schrei ausstieß und, mir über der Pforte ein Haupt zeigend, niederstürzte. – Über diesem Haupte standen die Worte: Dies ist der Kopf Ali Tependelinis, Paschas von Janina. Weinend suchte ich meine Mutter aufzuheben, sie war tot. Man führte mich nach dem Basar; ein reicher Armenier kaufte mich, gab mir Lehrer, ließ mich unterrichten und verlauste mich wieder an den Sultan Mahmud, als ich dreizehn Jahre alt war.

 

Von dem ich sie um den Smaragd erkaufte, der dem ähnlich war, in dem meine Haschischkügelchen enthalten sind, sagte Monte Christo.

 

Oh! du bist gut! Du bist groß, mein Herr, sagte Haydee, des Grafen Hand küssend, und ich bin sehr glücklich, daß ich dir gehöre.

 

Albert war ganz betäubt von dem, was er vernommen hatte.

 

Leeren Sie Ihre Tasse, sagte der Graf zu ihm; die Geschichte ist zu Ende.

 

 

Gespenster.

 

Gespenster.

 

Beim ersten Anblick und von außen betrachtet, hatte das Haus in Auteuil nichts Glänzendes, nicht was man von einer Wohnung des prachtliebenden Grafen von Monte Christo erwartete. Jedoch diese Einfachheit lag in dem Willen des Besitzers, der den strengen Befehl gegeben hatte, nichts an dem Äußeren zu ändern. Sobald aber die Tür geöffnet war, änderte sich das Schauspiel.

 

Herr Bertuccio hatte sich in Bezug auf geschmackvolle Ausstattung und schnelle Ausführung selbst übertroffen. So hatte er in drei Tagen einen völlig nackten Hof bepflanzt, und schöne Pappelbäume und Sykomoren, welche mit ihren ungeheuren Wurzelblöcken angekommen waren, beschatteten die Hauptfassade des Hauses, vor der, statt eines halb unter Gras verborgenen Pflasters, ein frischgrüner Rasen sich ausbreitete und einen großen das Auge erquickenden Teppich bildete.

 

Die Befehle rührten übrigens bis ins einzelne vom Grafen her; er selbst hatte Bertuccio einen Plan eingehändigt, worauf die Zahl und die Stelle der Bäume, sowie die Form und der Umfang des Rasens angegeben waren.

 

So war das Innere des Hauses ganz unkenntlich geworden. Dem Intendanten wäre es nicht unangenehm gewesen, wenn er den Garten ebenfalls einigen Veränderungen hätte unterwerfen dürfen, aber der Graf hatte es aufs bestimmteste verboten, irgend etwas darin zu berühren. Bertuccio entschädigte sich dadurch, daß er die Vorzimmer, die Treppen und die Kamine mit Blumen überlud.

 

Die außerordentliche Gewandtheit des Intendanten und die große Umsicht des Besitzers zeigten sich darin, daß das seit zwanzig Jahren verlassene Haus in einem Tage den Anblick frischen Lebens gewonnen hatte. Der Graf fand zu seinem freudigen Erstaunen seine Bücher und seine Waffen bei der Hand, seine Lieblingsgemälde an günstigen Plätzen aufgehängt; in den Vorzimmern traf er die Hunde, deren Liebkosungen ihn erfreuten, und die Vögel, deren Gesang ihn ergötzte. Kurz das Haus war wie Dornröschens Schloß aus seinem langen Schlafe wiedererweckt; in allen Teilen lebte, sang, blühte es, wie in unserer Phantasie die von uns seit langem geliebten Häuser, in denen wir beim Scheiden einen Teil unserer Seele zurücklassen.

 

Die Diener gingen freudig in dem schönen Hofe hin und her, die einen besorgten Küche und Keller und schlüpften, als wären sie hier stets zu Hause gewesen, über die am Tage zuvor wiederhergestellten Treppen hin; die andern tummelten sich in den Stallungen, wo die numerierten Equipagen schon seit fünfzig Jahren aufgestellt zu sein schienen, und die Pferde ließen an der Raufe ein frohes Wiehern hören, als wollten sie auf den Zuruf der Knechte antworten, die mit unendlich mehr Achtung mit ihnen sprachen, als viele Diener mit ihren Herren.

 

Die Bibliothek war in einem Flügel aufgestellt und enthielt ungefähr zweitausend Bände; eine ganze Abteilung war für die moderne Novellistik bestimmt, und der am Tage zuvor erschienene Roman prunkte bereits an seiner Stelle in rotem Einband mit Goldschnitt.

 

Auf der andern Seite des Hauses fand sich, als Gegenstück zur Bibliothek, das Treibhaus, geschmückt mit den seltensten Pflanzen, die hier in großen japanischen Gefäßen blühten; und mitten in dem Treibhause, einem Wunder an Farbenpracht und Wohlgeruch, stand ein Billard, das aussah, als wäre es erst eine Stunde zuvor von den Spielern verlassen worden.

 

An einem einzigen Zimmer hatte Herr Bertuccio keine Veränderungen vorgenommen. Vor diesem Zimmer, das in der linken Ecke des ersten Stockes lag, und zu dem man auf der großen Treppe hinaufsteigen konnte, während eine geheime Treppe von dort herabführte, gingen die Diener mit Neugierde und Bertuccio mit Schrecken vorbei.

 

Schlag fünf Uhr fuhr der Graf, von Ali begleitet, vor. Bertuccio erwartete diese Ankunft ziemlich ungeduldig und ruhig; er hoffte auf einige Komplimente, während er zugleich ein Stirnrunzeln befürchtete.

 

Monte Christo stieg im Hofe aus, durchschritt das ganze Haus und ging im Garten umher, schweigsam und ohne das geringste Zeichen von Billigung oder Mißbilligung von sich zu geben.

 

Nur streckte er, als er in sein Schlafzimmer trat, das dem geschlossenen Zimmer gegenüber lag, die Hand nach der Schublade eines kleinen Schrankes von Rosenholz aus, den er bereits bei seiner ersten Reise wahrgenommen hatte, und sagte: Das kann nur als Handschuhbehälter dienen.

 

In der Tat, Exzellenz, erwiderte Bertuccio entzückt, öffnen Sie, und Sie werden Handschuhe darin finden.

 

In den andern Schränken fand der Graf ebenfalls, was er zu finden hoffte, Flacons, Zigarren, Juwelen.

 

Gut! sagte der Graf. Und Bertuccio entfernte sich mit dem freudigsten Gemüte; so groß und unwiderstehlich war Monte Christos Einfluß auf seine ganze Umgebung.

 

Pünktlich um sechs Uhr hörte man ein Pferd vor der Haustür. Es war unser Kapitän der Spahis, der auf Medea kam. Monte Christo erwartete ihn, ein Lächeln auf den Lippen, auf der Freitreppe.

 

Ich bin sicherlich der Erste, rief ihm Morel zu: ich richtete dies so ein, um Sie, ehe die andern Gäste da sind, einen Augenblick für mich allein zu haben. Julie und Emanuel sagen Ihnen tausend schöne Dinge. Doch wissen Sie, daß es hier herrlich ist?

 

In diesem Augenblick langte ein Wagen, dem Debray und Chateau-Renaud zu Pferde folgten, vor der Treppe an.

 

Debray sprang auf der Stelle von seinem Pferde, eilte an den Kutschenschlag und reichte seine Hand der Baronin Danglars, die ihm ein unmerkliches, aber dem Grafen von Monte Christo nicht entgehendes Zeichen machte.

 

Zugleich sah der Graf ein kleines Billett glänzen, das mit einer Leichtigkeit, welche von Übung in diesem Manöver zeugte, aus Frau Danglars‘ Hand in die des Sekretärs überging.

 

Hinter seiner Frau stieg der Bankier aus; er war so bleich, als käme er aus dem Grabe.

 

Man trat ins Haus und fing an, die Kunstwerke zu bewundern, als Baptistin den Major Bartolomeo Cavalcanti und den Grafen Andrea Cavalcanti anmeldete.

 

Mit einer Halsbinde von schwarzem Atlas, soeben erst aus den Händen des Fabrikanten kommend, das Kinn frisch rasiert, grauer Schnurrbart, sicheres Auge, Majorsuniform mit drei Sternen und fünf Kreuzen geschmückt, in Summa tadellose Haltung des alten Soldaten, … so erschien der Major Bartolomeo Cavalcanti, der uns wohlbekannte zärtliche Vater.

 

Neben ihm schritt in einem frischglänzenden Gewande, ein Lächeln auf den Lippen, der Graf Andrea Cavalcanti, der uns bekannte ehrfurchtsvolle Sohn.

 

Die drei, Debray, Morel und Renaud, plauderten miteinander; ihre Blicke richteten sich von dem Vater auf den Sohn und blieben natürlich länger auf dem letzteren haften, den sie zergliederten.

 

Cavalcanti! sagte Debray.

 

Pest! ein schöner Name, sagte Morel.

 

Ja, versetzte Chateau-Renaud, es ist wahr, diese Italiener nennen sich geschmackvoll, kleiden sich aber geschmacklos.

 

Sie sind sehr heikel, Chateau-Renaud, sagte Debray, diese Kleider sind von einem vortrefflichen Schneider und ganz neu.

 

Das ist es gerade, was ich ihnen zum Vorwurf mache. Der Herr sieht aus, als ob er sich heute zum erstenmal anständig kleidete.

 

Wer sind diese Herren? fragte Danglars den Grafen von Monte Christo.

 

Sie haben gehört, Cavalcanti.

 

Dadurch erfahre ich ihren Namen und sonst nichts.

 

Ah! es ist wahr, Sie sind nicht auf dem laufenden in Bezug auf den italienischen Adel; wer Cavalcanti sagt, sagt Fürstengeschlecht.

 

Schönes Vermögen? fragte der Bankier.

 

Fabelhaft.

 

Was machen sie?

 

Sie suchen es zu verzehren, ohne zum Ziele gelangen zu können. Übrigens haben sie Kreditbriefe auf Sie, wie mir diese Herren sagten, als sie mich vorgestern besuchten. Ich habe sie sogar Ihnen zuliebe eingeladen und werde Ihnen beide vorstellen.

 

Doch es scheint mir, sie sprechen das Französische sehr rein, bemerkte Danglars.

 

Der Sohn ist in einem Kolleg im Süden, ich glaube in Marseille oder in der Nähe, erzogen worden. Sie werden ihn ganz begeistert finden.

 

Wofür? fragte die Baronin.

 

Für die Französinnen, gnädige Frau. Er will durchaus eine Frau in Paris nehmen.

 

Wahrlich ein schöner Gedanke! sagte Danglars, die Achseln zuckend.

 

Der Baron scheint heute sehr düster, sagte Monte Christo zu Frau Danglars; sollte man ihn etwa zum Minister machen wollen?

 

Nein, nicht daß ich wüßte. Ich glaube eher, daß er an der Börse gespielt, dabei verloren hat, und noch nicht weiß, wem er die Schuld daran beimessen soll.

 

Herr und Frau von Villefort! rief Baptistin.

 

Die zwei gemeldeten Personen traten ein; Herr von Villefort war trotz seiner Selbstbeherrschung sichtbar erschüttert. Als Monte Christo seine Hand berührte, fühlte er, daß sie zitterte.

 

Offenbar nur die Frauen wissen sich zu verstellen, sagte Monte Christo zu sich selbst, während er Frau Danglars anschaute, die dem Staatsanwalt zulächelte und dessen Frau umarmte.

 

Nach den ersten Begrüßungen sah der Graf, wie Bertuccio in einen kleinen Salon schlüpfte, der unmittelbar an den stieß, in dem die Gesellschaft versammelt war.

 

Der Graf fragte ihn: Was wollen Sie, Herr Bertuccio?

 

Seine Exzellenz hat mir die Zahl der Gäste nicht genannt.

 

Ah! das ist wahr. Zählen Sie selbst.

 

Bertuccio warf einen Blick durch die halbgeöffnete Tür, Monte Christo beobachtete ihn mit scharfem Auge.

 

Oh, mein Gott! rief er.

 

Was denn? fragte der Graf.

 

Diese Frau … diese Frau …

 

Welche?

 

Die mit dem weißen Kleide und den vielen Diamanten … die Blonde …

 

Frau Danglars?

 

Ich weiß nicht, wie sie heißt. Doch sie ist es! Sie ist es!

 

Wer, sie?

 

Die Frau aus dem Garten! Die, welche in andern Umständen war, spazieren ging … und wartete … und wartete auf …

 

Bertuccio erbleichte und schaute, den Mund geöffnet und die Haare gesträubt, hinaus.

 

Und wartete auf wen?

 

Bertuccio deutete, ohne zu antworten, mit dem Finger auf Villefort, ungefähr mit derselben Gebärde, mit der einst Macbeth auf Banco deutete.

 

Oh! … oh! … murmelte er endlich, sehen Sie?

 

Ihn! … den Herrn Staatsanwalt Villefort? Allerdings sehe ich ihn.

 

Ich habe ihn also nicht getötet?

 

Ich glaube, Sie werden ein Narr, mein braver Herr Bertuccio, sprach der Graf.

 

Er ist also nicht tot?

 

Ei, nein, er ist nicht tot, wie Sie sehen; statt ihn zwischen die sechste und siebente linke Rippe zu stoßen, wie dies Ihre Landsleute zu tun pflegen, haben Sie ihn etwas höher oder tiefer getroffen, und bei diesen Männern der Justiz ist die Seele gleichsam mit Pflöcken im Körper befestigt. Oder es ist vielleicht nichts Wirkliches an dem, was Sie mir sagten, es ist ein Traum Ihrer Einbildungskraft, eine Täuschung Ihrer Sinne; Sie werden, nachdem Sie Ihre Rache schlecht verdaut haben, eingeschlafen sein, sie hat Sie wohl auf den Magen gedrückt, und ein Alpdruck hat Ihnen etwas vorgespiegelt … Das ist das Ganze. Sammeln Sie sich, beruhigen Sie sich und zählen Sie: Herr und Frau von Villefort zwei; Herr und Frau Danglars vier; Herr von Chateau-Renaud, Herr Tebray, Herr Morel sieben; der Herr Major Bartolomeo Cavalcanti …

 

Acht, wiederholte Bertuccio.

 

Warten Sie doch! Warten Sie doch! Sie haben große Eile! Den Teufel! Sie vergessen einen von meinen Gästen. Schauen Sie ein wenig links … dort … Herr Andrea Cavalcanti, der junge Mann im schwarzen Frack, der die Jungfrau von Murillo betrachtet und sich eben umdreht.

 

Diesmal stieß Bertuccio einen Schrei aus, den der Blick Monte Christos auf seinen Lippen erstickte.

 

Benedetto, murmelte er ganz leise, oh Verhängnis!

 

Es hat halb sieben Uhr geschlagen, Herr Bertuccio, sagte der Graf mit strengem Tone; dies ist die Stunde, zu der man sich meinem Befehl gemäß zur Tafel setzt; Sie wissen, ich liebe das Warten nicht.

 

Monte Christo kehrte in den Salon zurück, wo die Gäste seiner harrten, während Bertuccio, sich an den Wänden haltend, den Speisesaal wieder zu erreichen suchte.

 

Fünf Minuten nachher öffneten sich die beiden Türen des Salons. Bertuccio erschien und sagte mit einer letzten heldenmütigen Anstrengung: Herr Graf, es ist aufgetragen.

 

Monte Christo bot Frau von Villefort seinen Arm.

 

Herr von Villefort, sagte er, ich bitte Sie, seien Sie der Kavalier der Frau Baronin Danglars.

 

Villefort gehorchte, und man ging in den Speisesaal.

 

Das Mittagsmahl.

 

Das Mittagsmahl.

 

Offenbar belebte dasselbe Gefühl alle Gäste, als man in den Speisesaal trat. Sie fragten sich, welch ein seltsamer Einfluß sie alle in dieses Haus geführt habe, und so erstaunt und sogar so unruhig auch einige darüber waren, daß sie sich darin befanden, so hatten sie doch keineswegs den Wunsch, nicht hier zu sein.

 

Gleichwohl machten es die kurze Bekanntschaft mit dem Grafen, die sonderbare Ausnahmestellung, die er einnahm, das seiner Herkunft nach unbekannte und fast fabelhafte Vermögen des Grafen den Männern zur Pflicht, behutsam zu sein. Die Damen aber hätten ein Haus nicht betreten sollen, wo sich keine Frauen fanden, um sie zu empfangen; und dennoch hatten Männer und Frauen, die einen die Vorsicht, die andern die Schicklichkeit aus den Augen gesetzt, indem die Neugierde mit unwiderstehlichem Zuge jedes Widerstreben überwand.

 

Alle Anwesenden ohne Ausnahme, sogar Cavaleanti, der Vater, trotz seiner Steifheit, und Cavalcanti der Sohn, trotz seiner Leichtfertigkeit, schienen darüber beunruhigt, daß sie sich bei einem Manne, dessen Zwecke sie nicht begreifen konnten, mit andern Menschen zusammen befanden, die sie zum erstenmal sahen.

 

Frau Danglars machte eine Bewegung, als sie gewahrte, daß Herr von Villefort auf Monte Christos Einladung sich ihr näherte, um ihr den Arm zu bieten; und Herr von Villefort empfand, daß sich sein Blick unter seiner goldenen Brille verwirrte, als er fühlte wie sich der Arm der Baronin auf den seinigen legte.

 

Keine dieser Bewegungen war dem Grafen entgangen, und es lag schon in dieser einfachen Berührung der beiden Menschen für den Beobachter dieser Szene ein großes Interesse.

 

Herr von Villefort hatte zu seiner Rechten Frau von Danglars und zu seiner Linken Morel.

 

Der Graf saß zwischen Frau von Villefort und Danglars.

 

Die andern Zwischenräume wurden ausgefüllt durch Debray, der zwischen Cavalcanti Vater und Cavalcanti Sohn, und durch Chateau-Renaud, der zwischen Frau von Villefort und Morel saß.

 

Das Mahl war prachtvoll; Monte Christo hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Pariser Symmetrie völlig umzustürzen und mehr noch der Neugierde als dem Appetit seiner Gäste die gewünschte Nahrung zu geben. Es war ein orientalischer Schmaus, was man ihnen bot, doch orientalisch auf eine Weise, wie man sie sich nur bei Festen arabischer Feen vorstellt.

 

Alle Früchte, welche die vier Weltteile unversehrt und wohlschmeckend in das europäische Füllhorn zu spenden vermögen, waren in Pyramiden in chinesischen Vasen und auf japanischen Schalen aufgehäuft. Seltene Vögel mit glänzendem Gefieder, riesenhafte Fische auf silbernen Platten, alle Weine des Archipels, von Kleinasien und vom Kap, in Flaschen von bizarren Formen, zogen gleich wie bei jenen gastronomischen Wunderschmäusen, welche die römischen Schlemmer der üppigsten Kaiserzeit ihren Gästen boten, vor diesen Parisern vorüber, welche meinten, man könne tausend Louisd’or für ein Mittagsmahl von zehn Personen nur ausgeben, wenn man wie Cleopatra Perlen verschluckte.

 

Monte Christo sah das allgemeine Erstaunen und fing an zu lachen und zu spotten.

 

Meine Herren, sagte er, Sie werden mir eines wohl zugeben, daß es nämlich, wenn man zu einem gewissen Grade des Vermögens gelangt ist, nichts so sehr Notwendiges gibt, als das Überflüssige. Was ist eigentlich ein wahrhaft wünschenswertes Gut? Ein Gut, das wir nicht haben können. Dinge sehen, die ich nicht begreifen kann, mir Dinge verschaffen, die unmöglich zu haben sind, das ist nun das einzige Streben meines Lebens. Ich gelange hierzu durch zwei Mittel, durch das Geld und durch den Willen. Um eine Laune zu verfolgen, wende ich zuweilen die Beharrlichkeit an, die Sie anwenden, Herr Danglars, um eine neue Eisenbahnlinie herzustellen; Sie, Herr von Villefort, um einen Menschen zum Tode verurteilen zu lassen; Sie, Herr Debray, um ein Diplomatenkunststück zu vollbringen; Sie, Herr von Chateau-Renaud, um einer Frau zu gefallen; Sie, Herr Morel, um ein Pferd zu bändigen, das sonst niemand zu bändigen vermag. Sehen Sie zum Beispiel diese Fische an, von denen der eine fünfzig Meilen von St. Petersburg, der andere fünf Meilen von Neapel das Licht der Welt erblickt hat. Ist es nicht belustigend, sie auf derselben Tafel zu vereinigen?

 

Was für Fische sind dies? fragte Danglars.

 

Hier ist Herr von Chateau-Renaud, der sich in Rußland aufgehalten hat und Ihnen den Namen des einen sagen wird, antwortete Monte Christo, und hier ist Herr Major von Cavalcanti, ein Italiener, der Ihnen wohl den Namen des andern nennt.

 

Dieser hier ist, glaube ich, ein Sterlet, sagte Chateau-Renaud.

 

Und dieser hier ist, wenn ich mich nicht täusche, eine Lamprete, versetzte Cavalcanti.

 

So ist es. Mein lieber Herr Danglars, fragen Sie nun die beiden Herren, wo man diese Fische fängt.

 

Die Sterlets fängt man nur in der Wolga, sagte Chateau-Renaud.

 

Nur der Fusaro-See liefert meines Wissens Lampreten von dieser Größe, sagte Cavalcanti. Ganz richtig: der eine kommt aus der Wolga, der andere aus dem Fusaro-See.

 

Unmöglich! riefen zugleich alle Gäste.

 

Sehen Sie, das ist es gerade, was mich belustigt, sagte Monte Christo. Ich bin wie Nero, das Unmögliche zieht mich an, und das ist es auch, was Sie ergötzt, denn daß Ihnen dieses Fleisch, das in Wirklichkeit vielleicht nicht so viel wert ist, als das des Barsches oder des Salms, ausgezeichnet erscheint, rührt wohl bloß davon her, daß es Ihnen unmöglich schien, es sich zu verschaffen, und daß es nun doch da ist.

 

Doch wie hat man es fertig gebracht, diese Fische nach Paris zu transportieren?

 

Oh, mein Gott! Es gibt nichts Einfacheres; man hat jeden in ein großes Faß getan, von denen das eine mit Schilfrohr und Meergras, das andere mit Binsen und Seepflanzen ausgepolstert war. Man legte sie sodann auf einen besonders hierzu gebauten Packwagen, und so lebte der Sterlet zwölf Tage und die Lamprete acht; und beide waren noch völlig lebendig, als sie meinem Koch in die Hände fielen, der den einen in Milch, den andern in Wein sterben ließ.

 

Sie sind in der Tat ein wunderbarer Mann! rief Danglars, und die Philosophen mögen sagen, was sie wollen, es ist doch herrlich, reich zu sein.

 

Das alles ist bewundernswürdig, sagte Chateau-Renaud; doch ich gestehe, was ich am meisten bewundere, ist die staunenswerte Schnelligkeit, mit der Sie bedient werden. Nicht wahr, Herr Graf, Sie haben dieses Haus erst vor fünf bis sechs Tagen gekauft?

 

Allerdings.

 

Nun wohl, ich bin überzeugt, daß es in acht Tagen völlig umgestaltet sein wird; denn wenn ich mich nicht täusche, hatte es einen ganz andern Eingang, als jetzt, und der Hof war gepflastert und leer, während er heute aus einem herrlichen Rasen besteht, eingefaßt von Bäumen, die über hundert Jahre alt zu sein scheinen.

 

Das ist natürlich, ich liebe das Grüne und den Schatten, versetzte Monte Christo.

 

In der Tat, sagte Frau von Villefort, früher kam man durch ein Tor, das auf die Straße ging, und am Tage meiner wunderbaren Rettung ließen Sie mich, wie ich mich erinnere, von der Straße aus in das Haus eintreten.

 

Ja, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo; doch seitdem zog ich einen Eingang vor, der mir erlaubt, das Bois de Boulogne durch mein Gitter zu sehen.

 

In vier Tagen, rief Morel, das ist ein Wunder!

 

Sie haben recht, sagte Chateau-Renaud, aus einem alten Hause ein neues zu machen, ist etwas höchst Wunderbares, denn das Haus war in der Tat sehr alt und hatte sogar ein sehr düsteres Aussehen; ich entsinne mich dessen, denn ich war von meiner Mutter beauftragt, es in Augenschein zu nehmen, als es Herr von Saint-Meran vor ein paar Jahren zum Verkaufe ausbot.

 

Herr von Saint-Meran! sagte Frau von Villefort, dieses Haus gehörte also Herrn von Saint-Meran, ehe Sie es kauften, Herr Graf?

 

Es scheint so, antwortete Monte Christo.

 

Wie, es scheint? Sie wissen nicht, wem Sie Ihr Haus abgekauft haben?

 

Meiner Treu, nein, mein Intendant besorgt alle diese Einzelheiten.

 

Es war wenigstens zehn Jahre gar nicht bewohnt, bemerkte Chateau-Renaud, und es bot einen gar traurigen Anblick mit seinen geschlossenen Läden und Türen und dem Grase im Hofe. Wahrlich, wenn es nicht dem Schwiegervater eines Staatsanwaltes gehört hätte, man wäre versucht gewesen, es für eines von jenen verfluchten Häusern zu halten, in denen ein großes Verbrechen begangen worden ist.

 

Villefort, der bis jetzt keines von den drei bis vier mit außerordentlichen Weinen gefüllten Gläsern berührt hatte, die vor ihm standen, nahm das nächststehende und leerte es in einem Zuge.

 

Monte Christo ließ einen Augenblick hingehen, dann sagte er, das Stillschweigen unterbrechend, das auf die Worte Chateau-Renauds gefolgt war: Es ist seltsam, Herr Baron, aber derselbe Gedanke ergriff mich, als ich es zum erstenmale betrat, und dieses Haus kam mir so düster vor, daß ich es nie gekauft haben würde, wenn nicht der Intendant die Sache für mich abgemacht hätte. Ohne Zweifel hat der Bursche vom Sachwalter ein hübsches Trinkgeld bekommen.

 

Das ist wahrscheinlich, stammelte Villefort, der zu lächeln suchte; glauben Sie mir jedoch, daß ich an dieser Bestechung keinen Teil habe. Es war der Wille des Herrn von Saint-Meran, daß dieses Haus, das zur Mitgift seiner Enkelin gehört, verkauft würde, denn wäre es noch drei oder vier Jahre unbewohnt geblieben, so müßte es in Trümmer zerfallen sein.

 

Nun erbleichte Morel ebenfalls.

 

Besonders ein Zimmer, fuhr Monte Christo fort, ein Zimmer, mein Gott! ein scheinbar ganz einfaches Zimmer, ein Zimmer wie alle anderen Zimmer, mit rotem Damast austapeziert, kam mir, ich weiß nicht warum, so tragisch vor, wie nur etwas sein kann.

 

Warum dies? fragte Debray, warum tragisch?

 

Gibt man sich Rechenschaft über unbewußte Eindrücke? Gibt es nicht Orte, an denen man geradezu Traurigkeit einzuatmen scheint? Warum? Man weiß es nichts durch eine Verkettung von Erinnerungen, durch eine Laune des Geistes, der uns in andere Zeiten, an andere Orte zurückführt, die vielleicht in gar keinem Zusammenhang mit den Zeiten und Orten stehen, wo wir uns befinden! Ich weiß nur gewiß, daß mich dieses Zimmer auf eine wunderbare Weise an das Zimmer der Desdemona erinnerte. Bei Gott, da wir mit dem Mittagsmahl fertig sind, muß ich es Ihnen zeigen, dann gehen wir in den Garten und nehmen dort den Kaffee. Monte Christo befragte seine Gäste durch ein Zeichen. Frau von Villefort stand auf, Monte Christo tat dasselbe, und die andern folgten dem Beispiel.

 

Villefort und Frau Danglars blieben einen Augenblick wie an ihre Plätze genagelt, sie befragten sich mit kalten, stummen, eisigen Augen.

 

Haben Sie gehört? fragte Frau Danglars.

 

Wir müssen gehen, antwortete Villefort, aufstehend und ihr den Arm reichend.

 

Es hatten sich bereits alle Gäste, von Neugierde getrieben, gesammelt, denn man dachte wohl, der Besuch würde sich nicht auf dieses Zimmer beschränken, und man würde zugleich die übrigen Teile der ehemaligen Baracke, aus der Monte Christo einen Palast gemacht hatte, durchwandern. Jeder eilte durch die offene Tür. Monte Christo wartete auf die Zögernden; als sie ebenfalls hinausgegangen waren, schloß er den Zug mit einem Lächeln, das seine Gäste, wenn sie es hätten begreifen können, ganz anders in Schrecken gesetzt haben würde, als das Zimmer, das man betreten sollte. Man durchschritt nach und nach die auf orientalische Weise ausgestatteten Räume und die mit den schönsten Gemälden alter Meister geschmückten Salons; endlich gelangte man in das berüchtigte Gemach.

 

Es zeigte nichts Besonderes, als daß es, obgleich der Tag sich neigte, nicht erleuchtet war und sein altes Aussehen beibehalten hatte, während alle übrigen Zimmer in gänzlich neuem Schmucke erschienen. Diese zwei Ursachen genügten in der Tat, ihm eine düstere Farbe zu verleihen.

 

Hu; rief Frau von Villefort, das ist in der Tat schauerlich.

 

Frau Danglars suchte ein paar Worte zu stammeln, die man nicht verstand. Verschiedene Bemerkungen flogen durcheinander und bestätigten insgesamt, das Zimmer mit dem roten Damast habe ein unheilschwangeres Aussehen.

 

Nicht wahr? sagte Monte Christo. Schauen Sie nur, wie dieses Bett sonderbar gestellt ist, welch eine düstere, blutige Tapete! Und diese beiden Porträts mit ihren infolge der Feuchtigkeit verblichenen Augen, scheinen ihre blassen Lippen und ihre irren Augen nicht zu sagen: Ich habe gesehen?

 

Villefort wurde leichenbleich, und Frau Danglars fiel auf einen in der Nähe des Kamins stehenden Stuhl.

 

Oh! haben Sie wirklich den Mut, sich auf diesen Stuhl zu setzen, worauf das Verbrechen vielleicht begangen worden ist? fragte Frau von Villefort lächelnd.

 

Frau Danglars stand rasch auf.

 

Und das ist noch nicht alles, sagte Monte Christo.

 

Was gibt es denn noch? fragte Debray, dem Frau Danglars Aufregung nicht entging.

 

Sehen Sie doch diese kleine Treppe, sagte Monte Christo, eine in der Tapete verborgene Tür öffnend, schauen Sie, und sagen Sie mir, was Sie davon denken!

 

Welch unheilschwangere Stufen! rief lachend Chateau-Renaud.

 

Ich weiß in der Tat nicht, ob es der Wein von Chios ist, der so schwermütig macht, aber ich sehe dieses Haus allerdings ganz schwarz, sagte Debray.

 

Morel war, seit von Valentines Mitgift die Rede gewesen war, traurig geblieben und hatte kein Wort mehr gesprochen.

 

Denken Sie sich einen Othello oder irgend einen Abbé von Ganges, sagte Monte Christo, der Schritt für Schritt in einer finstern, stürmischen Nacht mit einer unseligen Bürde, die er, wenn nicht dem Auge Gottes, doch dem Blicke der Menschen zu entziehen eilig bemüht wäre, diese Treppe hinabginge.

 

Frau Danglars wurde halb ohnmächtig am Arme Villeforts, der sich selbst an die Wand lehnen mußte.

 

Ah! mein Gott, gnädige Frau, was haben Sie denn? rief Debray, wie bleich werden Sie!

 

Was sie hat? Das ist ganz einfach, versetzte Frau von Villefort; Herr von Monte Christo erzählt uns schreckliche Geschichten, ohne Zweifel, damit wir vor Furcht sterben sollen. Ja wohl, sagte Villefort. In der Tat, Graf, Sie erschrecken die Damen.

 

Was haben Sie denn? fragte Debray wiederholt Frau Danglars.

 

Nichts, nichts, erwiderte diese, nicht ohne eine gewisse Anstrengung, ich bedarf nur der Luft.

 

Wollen Sie in den Garten hinabgehen? fragte Debray, Frau Danglars seinen Arm bietend und auf die Geheimtreppe zuschreitend.

 

Nein, nein, antwortete sie, ich will lieber hier bleiben!

 

Ist dieser Schrecken in der Tat ernst, gnädige Frau? sagte Monte Christo.

 

Nein, mein Herr, erwiderte Frau Danglars; doch Sie haben eine Art, die Dinge an die Wand zu malen, welche die Illusion zur Wirklichkeit macht.

 

Oh! Gott, ja, sagte Monte Christo lächelnd, und das ist alles ein Erzeugnis der Einbildungskraft; denn warum sollte man sich nicht ebensogut dieses Zimmer als ein ehrliches, gutes Zimmer einer biederen Hausfrau vorstellen, dieses Bett mit seinen purpurroten Vorhängen als ein von der fruchtbaren Göttin Lucina besuchtes Lager, und diese geheimnisvolle Treppe als den Gang, durch den sacht, und um den erquickenden Schlaf der Wöchnerin nicht zu stören, der Arzt geht, oder die Amme, oder der Vater, das schlummernde Kind auf dem Arme …?

 

Diesmal stieß Frau Danglars, statt sich zu beruhigen, einen Seufzer aus und fiel in Ohnmacht.

 

Frau Danglars befindet sich unwohl, stammelte Villefort; man sollte sie vielleicht in ihren Wagen bringen.

 

Oh, mein Gott! rief Monte Christo, ich habe meinen Flacon vergessen.

 

Hier ist der meinige, sagte Frau von Villefort und reichte Monte Christo einen Flacon voll eines roten Saftes, dem ähnlich, dessen wohltätige Wirkung der Graf an Eduard versucht hatte.

 

Ah! sagte Monte Christo, während er das Fläschchen aus Frau von Villeforts Händen nahm.

 

Ja, flüsterte ihm diese zu, ich habe es nach Ihren Angaben versucht.

 

Und es ist Ihnen gelungen?

 

Ich glaube.

 

Man hatte Frau Danglars in das Nebenzimmer gebracht. Monte Christo ließ einen Tropfen von dem roten Safte auf ihre Lippen fallen, und sie kam zu sich.

 

Oh! welch ein gräßlicher Traum! rief sie.

 

Villefort drückte ihr kräftig die Hand, um ihr zu verstehen zu geben, sie hätte nicht geträumt.

 

Man suchte Herrn Danglars; Monte Christo schien in Verzweiflung; er nahm Frau Danglars am Arm und führte sie in den Garten, wo man Herrn Danglars fand, zwischen den Herren Cavalcanti Vater und Sohn Kaffee schlürfend.

 

Habe ich Sie wirklich erschreckt? fragte Monte Christo.

 

Nein; aber Sie wissen, die Dinge bringen Eindrücke auf uns hervor, je nach der Stimmung, in der wir uns befinden.

 

Villefort zwang sich zu lachen. Und dann begreifen Sie, sagte er, es genügt eine Voraussetzung, eine Chimäre …

 

Nun wohl, sagte Monte Christo, Sie mögen nur glauben oder nicht, ich habe die feste Überzeugung, daß ein Verbrechen in diesem Hause begangen worden ist.

 

Nehmen Sie sich in acht, entgegnete Frau von Villefort, wir haben einen Staatsanwalt hier.

 

Meiner Treu, rief Monte Christo, da sich dies gerade so trifft, so werde ich es benutzen, um meine Angabe zu machen.

 

Ihre Angabe? fragte Villefort.

 

Ja, und zwar in Gegenwart von Zeugen.

 

Alles dies ist sehr interessant, bemerkte Debray, und wenn wirklich ein Verbrechen vorliegt, so werden wir vortrefflich verdauen.

 

 

Es liegt ein Verbrechen vor, sagte Monte Christo. Kommen Sie hierher, meine Herren, kommen Sie, Herr von Villefort; damit die Angabe gültig ist, muß sie bei der zuständigen Behörde gemacht werden. Monte Christo nahm Villefort am Arme, und während er zugleich Frau Danglars‘ Arm unter den seinigen drückte, zog er den Staatsanwalt bis unter die Platane, wo der Schatten am stärksten war. Die andern Gäste folgten insgesamt.

 

Sehen Sie, sagte Monte Christo, hier, gerade auf dieser Stelle – und er stieß mit dem Fuße auf die Erde – hier ließ ich, um die alten Bäume durch andere zu ersetzen, graben und Erde auslegen; bei dem Graben entdeckten meine Arbeiter ein Kistchen, oder vielmehr die eisernen Bande eines Kistchens, unter denen das Skelett eines neugeborenen Kindes lag. Das ist, denke ich, keine Sinnestäuschung?

 

Monte Christo fühlte, wie Frau Danglars‘ Arm erstarrte und Villeforts Hand zitterte.

 

Ein neugeborenes Kind, wiederholte Debray; Teufel! die Sache wird ernst, wie mir scheint.

 

Oh! wer kann sagen, daß es ein Verbrechen ist? versetzte Villefort mit einer letzten Anstrengung.

 

Wie? Ein Kind in einem Garten lebendig begraben und kein Verbrechen? rief Monte Christo. Wie nennen Sie denn diese Handlung, Herr Staatsanwalt?

 

Aber wer sagt denn, es sei lebendig begraben worden?

 

Warum es hier begraben, wenn es tot war? Dieser Garten ist nie ein Friedhof gewesen.

 

Was widerfährt den Kindesmördern in diesem Lande? fragte naiv der Major Cavalcanti.

 

Mein Gott, man schneidet ihnen ganz einfach, den Hals ab, antwortete Danglars.

 

Ah! man schneidet ihnen den Hals ab, rief Cavalcanti.

 

Ich glaube … nicht wahr, Herr von Villefort? fragte Monte Christo.

 

Ja, Herr Graf, antwortete dieser mit einem Ausdrucke, der nichts Menschliches mehr hatte.

 

Monte Christo sah, daß die beiden Personen, für welche er die Szene vorbereitet hatte, nicht mehr ertragen konnten, und sagte, da er die Sache nicht weiter treiben wollte: Doch, meine Herren, mir scheint, wir vergessen den Kaffee. Und er führte seine Gäste zu dem mitten auf dem Rasen stehenden Tische.

 

In der Tat, Herr Graf, sagte Frau Danglars, ich schäme mich, meine Schwäche zu gestehen, aber alle diese furchtbaren Geschichten haben mich gewaltig angegriffen; ich bitte, erlauben Sie, daß ich mich setze.

 

Und sie fiel auf einen Stuhl.

 

Monte Christo verbeugte sich vor ihr, trat zu Frau von Villefort und sagte zu dieser: Ich glaube, Frau Danglars bedarf abermals Ihres Flacons.

 

Doch ehe sich Frau von Villefort ihrer Freundin näherte, hatte der Staatsanwalt bereits Frau Danglars zugeflüstert:

 

Ich muß Sie morgen sprechen.

 

Wo?

 

Kommen Sie in mein Büro, das ist noch der sicherste Ort.

 

Ich werde kommen.

 

In diesem Augenblick kam Frau von Villefort.

 

Ich danke, liebe Freundin, sagte Frau Danglars, welche zu lächeln suchte, es ist nichts, und ich fühle mich bereits besser.

 

Der Bettler.

 

Der Bettler.

 

Der Abend rückte heran; Frau von Villefort äußerte den Wunsch, nach Paris zurückzukehren, was Frau Danglars trotz ihres augenscheinlichen Unbehagens nicht zu tun wagte.

 

Auf das Verlangen seiner Frau gab Herr von Villefort zuerst das Zeichen zum Aufbruch. Er bot Frau Danglars einen Platz in seinem Wagen, damit sie unter der Sorge seiner Frau wäre. In ein höchst interessantes gewerbliches Gespräch vertieft, schenkte Herr Danglars allem, was um ihn her vorging, nicht die geringste Aufmerksamkeit. Während Monte Christo von Frau von Villefort ihren Flacon verlangte, bemerkte er, daß sich Herr von Villefort Frau Danglars näherte, und erriet nach seiner Kenntnis der Sachlage, was der Staatsanwalt ihr sagte, obgleich dieser so leise sprach, daß es kaum Frau Danglars hörte.

 

Vom Grafen sich verabschiedend ritten Morel, Chateau-Renaud und Debray fort, während die beiden Damen in den Wagen des Herrn von Villefort stiegen und Herr Danglars, immer mehr entzückt von Herrn Cavalcanti dem Vater, diesen einlud, mit ihm in seinem Coupé zu fahren.

 

Was Andrea Cavalcanti betrifft, so benutzte dieser sein neues Tilbury, das ihn vor der Tür erwartete und dessen Eisenschimmel ein Reitknecht hielt. Andrea hatte während des Mittagsmahles nicht viel gesprochen, weil er ein ganz gescheiter Bursche war und die begründete Furcht hegte, es könnte ihm mitten unter diesen reichen und angesehenen Gästen, unter denen sein Auge wohl nicht ohne Bangen einen Staatsanwalt erblickte, eine Albernheit entschlüpfen.

 

Dann war er von Herrn Danglars in Beschlag genommen worden. Dieser glaubte beim Anblick des alten Majors mit dem steifen Kragen und seines noch etwas schüchternen Sohnes und in Hinsicht auf Monte Christos Gastfreundschaft, er habe es mit irgend einem Nabob zu tun, der nach Paris gekommen sei, um seinen einzigen Sohn sich im gesellschaftlichen Leben vervollkommnen zu lassen.

 

Er hatte mit unendlichem Wohlgefallen den ungeheuren Diamanten betrachtet, der an dem kleinen Finger des Majors glänzte, denn als ein kluger und erfahrener Mann hatte der Major, aus Furcht, es könnte seinen Banknoten ein Unglück widerfahren, diese sogleich in einen Wertgegenstand verwandelt. Nach dem Mittagsmahle befragte er, immer unter dem Vorwande industrieller und touristischer Interessen, den Vater und den Sohn über ihre Lebensweise, und da der Vater und der Sohn davon benachrichtigt waren, daß ihnen ihr Kredit, dem einen von 48 000 Franken ein für allemal, dem andern von 50 000 Franken jährlich, bei Danglars eröffnet werden sollte, so waren sie außerordentlich freundlich und zuvorkommend gegen den Bankier.

 

Ein Umstand besonders vermehrte die Achtung, wir möchten sogar sagen, die Verehrung Danglars‘ für Cavalcanti. Getreu dem Grundsatze von Horaz, nil mirari (Laß dich nicht verblüffen!), hatte sich dieser, wie man gesehen, begnügt, einen Beweis seines Wissens nur dadurch zu geben, daß er den See nannte, in dem man die Lampreten fängt. Dann hatte er seinen Teil an dem Fische gegessen, ohne ein Wort zu sagen. Daraus schloß Danglars, dergleichen Kostbarkeiten seien etwas ganz Gewöhnliches für den erhabenen Abkömmling der Cavalcanti.

 

Er nahm es auch mit sichtbarem Wohlgefallen auf, als Cavalcanti zu ihm die Worte sprach: Morgen, mein Herr, werde ich Ihnen in Geschäften einen Besuch machen.

 

Und ich, erwiderte Danglars, werde glücklich sein, Sie zu empfangen.

 

Hierauf schlug er Cavalcanti vor, ihn, wenn es ihm nicht zu unangenehm wäre, sich von seinem Sohne zu trennen, nach dem Hotel des Princes zurückzufahren. Cavalcanti antwortete ihm, sein Sohn sei seit langer Zeit gewohnt, ein Junggesellenleben zu führen, er habe folglich seine eigenen Pferde.

 

Der Major stieg also in Danglars‘ Wagen, und der Bankier setzte sich an seine Seite, immer mehr entzückt über das geordnete, ökonomische Wesen eines Mannes, der doch seinem Sohne jährlich 50 000 Franken gab, was ein Vermögen mit 5 bis 600 000 Franken Zinsen annehmen ließ.

 

Andrea fing, um sich ein vornehmes Ansehen zu geben, damit an, daß er seinem Reitknecht einen Verweis erteilte, weil er ihn, statt an der Freitreppe vorzufahren, an der Ausfahrt erwartet hatte. In diesem Augenblicke legte sich eine Hand auf seine Schulter. Der junge Mann wandte sich um und erblickte erstaunt ein seltsames von der Sonne verbranntes, in einen dichten Bart eingerahmtes Gesicht, wie Karfunkel glänzende Augen und ein spöttisches Lächeln, das einen Mund öffnete, in dem schneeweiße schakalartige Zähne sichtbar wurden.

 

Ein rotkarriertes Taschentuch umgab diesen Kopf mit seinen graulichen, starren Haaren, und ein im höchsten Maße fettiger und zerlumpter Oberrock bedeckte den großen, mageren, skelettartigen Körper darunter.

 

Erkannte der junge Mann dieses Gesicht bei dem Scheine der Laterne seines Tilbury, oder war er nur betroffen von dem furchtbaren Anblick des Menschen, der sich ihm näherte?

 

Was wollen Sie von mir? sagte er.

 

Um Verzeihung, antwortete der Mensch, indem er seine Hand an das rote Taschentuch legte, ich störe Sie vielleicht, habe aber mit Ihnen zu sprechen.

 

Man bettelt nicht am Abend, sagte der Reitknecht, mit einer Bewegung, als wollte er seinen Herrn von dem Lästigen befreien.

 

Ich bettle nicht, mein hübschem Junge, sagte der Unbekannte zu dem Diener mit einem so ironischen Lächeln und einem so furchtbaren Blicke, daß dieser zurückwich; ich will nur ein paar Worte mit Ihrem Herrn reden, der mir vor etwa vierzehn Tagen einen Auftrag gegeben hat.

 

Sprechen Sie, versetzte Andrea kräftig genug, um vor dem Diener seine Unruhe zu verbergen, was wollen Sie? Sagen Sie es geschwind, mein Freund.

 

Ich wünschte … ich wünschte … erwiderte ganz leise der Mann mit dem roten Tuch, ich wünschte, Sie würden mir die Mühe ersparen, zu Fuße nach Paris zurückzukehren. Ich bin sehr müde, habe nicht so gut zu Mittag gespeist wie du und kann mich kaum auf den Beinen halten.

 

Der junge Mann bebte bei dieser seltsamen Vertraulichkeit und entgegnete: Sprechen Sie doch endlich, was wollen Sie?

 

Nun, du sollst mich in deinen schönen Wagen steigen und zurückfahren lassen.

 

 

Andrea erbleichte, antwortete aber nicht.

 

Oh, mein Gott! ja, sagte der Mann, die Hände in seine Tasche steckend und Andrea mit herausfordernden Augen anschauend, es ist so ein Gedanke von mir, verstehst du, mein kleiner Benedetto?

 

Bei diesem Namen überlegte der junge Mann ohne Zweifel, denn er näherte sich seinem Reitknecht und sagte zu ihm: Dieser Mensch hat wirklich einen Auftrag von mir erhalten, über den er mir Bericht erstatten soll. Geh zu Fuß bis ans Tor und nimm dort einen Wagen, damit du nicht zu spät kommst.

 

Der Diener entfernte sich sehr erstaunt.

 

Lassen Sie mich wenigstens in den Schatten treten, sagte Andrea.

 

Oh! was das betrifft, erwiderte der Mann mit dem roten Tuch, ich will dich selbst an einen schönen Platz führen, warte nur.

 

Und er nahm das Pferd beim Gebiß und führte das Tilbury an eine Stelle, wo es wirklich keinem Menschen in der Welt möglich war, zu sehen, welche Ehre ihm Andrea erwies. Oh! es ist bei mir nicht der Stolz, in einen schönen Wagen steigen zu dürfen, sagte der Unbekannte: nein, es geschieht nur, weil ich müde bin und ein wenig in Geschäften mit dir zu sprechen habe.

 

Steigen Sie ein! sagte der junge Mann.

 

Zum Glück war es nicht Tag, denn es wäre ein seltsames Schauspiel gewesen, diesen Bettler breit auf gestickten Kissen neben dem jungen, zierlichen Führer des Tilbury sitzen zu sehen. Andrea ließ sein Pferd bis an das letzte Haus des Dorfes laufen, ohne nur ein Wort zu seinem Gefährten zu sagen, der seinerseits lächelte und schwieg, als sei er entzückt, in einem so schönen Wagen fahren zu dürfen.

 

Sobald Andrea außerhalb Auteuils war, schaute er umher, ohne Zweifel, um sich zu versichern, ob sie niemand sehen oder hören könnte, hielt dann sein Pferd an, kreuzte die Arme vor dem Mann mit dem roten Taschentuch und sagte zu ihm: Nun, Herr Caderousse! Warum kommen Sie und stören mich in meiner Ruhe?

 

Ei, mein Gott! ärgere dich nicht, Kleiner; du mußt doch wissen, was das Unglück bedeutet; das Unglück, sage ich dir, macht eifersüchtig. Ich glaubte, du liefest in Piemont und Toskana umher, genötigt, den Facchino oder Cicerone zu spielen; ich beklagte dich vom Grunde meines Herzens, wie ich mein Kind beklagen würde. Du weißt, daß ich dich stets mein Kind genannt habe.

 

Weiter! Weiter!

 

Und ich sehe dich plötzlich durch das Tor des Bons Hommes, mit einem Reitknecht, mit einem Tilbury und mit funkelneuen Kleidern fahren. Ah! Du hast also eine Goldmine entdeckt oder eine Stelle als Wechselagent gekauft?

 

Sie sind somit, wie Sie gestehen, eifersüchtig?

 

Nein, ich bin zufrieden, so zufrieden, daß ich dir meine Komplimente machen wollte. Kleiner; da ich jedoch nicht gut gekleidet war, nahm ich meine Vorsichtsmaßregeln, um dich nicht zu kompromittieren.

 

Schöne Vorsichtsmaßregeln, Sie reden mich in Gegenwart meines Bedienten an.

 

Ei, was willst du denn, mein Kind? Ich rede dich an, wo ich deiner habhaft werden kann. Du hast ein sehr lebhaftes Pferd, du bist von Natur schlüpfrig wie ein Aal; verfehlte ich dich heute abend, so lief ich Gefahr, dich nie mehr zu erwischen.

 

Sie sehen wohl, daß ich mich nicht verberge.

 

Du bist sehr glücklich, und ich wünschte dasselbe von mir sagen zu können; ich aber verberge mich. Zwar fürchtete ich, du würdest mich nicht erkennen; doch du hast mich erkannt, fügte Caderousse mit seinem schlimmen Lächeln hinzu; du bist sehr artig, mein Junge.

 

Was brauchen Sie? versetzte Andrea.

 

Du duzest mich nicht mehr, und das ist schlimm von einem alten Kameraden; Benedetto, nimm dich in acht, du wirst mich anspruchsvoll machen.

 

Bei dieser Drohung sank der Zorn des jungen Mannes; der Wind des Zwanges wehte ihn nieder. Er ließ sein Pferd wieder im Trab gehen und sagte: Es ist von dir selbst schlimm, Caderousse, daß du dich so gegen einen alten Kameraden benimmst, wie du mich soeben nanntest:; du bist ein Marseiller, ich bin …

 

Du weißt also nun, was du bist?

 

Nein, ich wurde in Korsika aufgezogen; du bist alt und halsstarrig, ich bin jung und starrköpfig. Unter Leuten, wie wir sind, tut eine Drohung nicht gut, und alles muß sich auf gütliche Weise abmachen. Ist es mein Fehler, wenn das Glück, das dir noch den Rücken zukehrt, mir eine freundliche Miene zeigt?

 

Das Glück ist dir also freundlich? Es ist kein entlehnter Reitknecht, es ist kein entlehntes Tilbury, es sind keine entlehnten Kleider, was ich da sehe? Gut, desto besser! sagte Caderousse, in dessen Augen Begierde und Lüsternheit glänzten.

 

Oh! Du siehst es wohl und weißt es wohl, da du mich anredest, sagte Andrea, immer lebhafter werdend. Hätte ich ein Taschentuch, wie du, um meinen Kopf, trüge ich einen fettigen Rock auf den Schultern und durchlöcherte Schuhe an den Füßen, so würdest du mich nicht kennen.

 

Du täuschest dich, du hast unrecht; nun, da ich dich wiedergefunden, hindert mich nichts gekleidet zu sein, wie ein anderer, denn ich weiß, daß du ein gutes Herz hast. Besitzest du zwei Röcke, so wirst du mir wohl einen davon geben; ich gab dir auch eine Portion Suppe und Bohnen, als dich hungerte.

 

Das ist wahr, bestätigte Andrea.

 

Welch einen Appetit hattest du! Hast du immer noch einen so guten Appetit?

 

Ja wohl, sagte Andrea lachend.

 

Du mußt vortrefflich bei dem Fürsten gespeist haben, von dem du kommst.

 

Es ist kein Fürst, sondern nur ein Graf.

 

Ein Graf, und zwar ein reicher, nicht wahr?

 

Ja, doch traue ich ihm nicht, er ist ein Herr, der nicht ganz bequem aussieht.

 

Mein Gott, sei nur unbesorgt! Man hat keine Absichten auf deinen Grafen und überläßt dir ihn ganz allein. Doch, fügte Caderousse mit dem schlimmen Lächeln hinzu, das schon einmal seine Lippen gestreift hatte, doch du begreifst, du mußt etwas dafür geben.

 

Sprich, wieviel brauchst du?

 

Ich glaube, mit 100 Franken monatlich könnte ich leben …

 

Mit hundert Franken?

 

Allerdings schlecht, wie du ebenfalls begreifst!

 

Hier sind zweihundert, sagte Andrea. Und er legte in Caderousses Hand zehn Louisd’or.

 

Gut, sagte Caderousse.

 

Finde dich immer am Ersten des Monats beim Hausmeister ein, und du wirst ebensoviel finden.

 

Du demütigst mich abermals dadurch, daß du mich mit Bedientenvolk in Berührung bringst; nein, siehst du, ich will nur mit dir zu tun haben.

 

Es sei, frage nach mir, und am Ersten jeden Monats erhältst du deine Rente, wenigstens solange ich die meinige erhalte.

 

Schön, schön! ich sehe, daß ich mich nicht täuschte, du bist ein braver Junge, und es ist ein Segen, wenn das Glück bei Leuten deiner Art einkehrt. Erzähle doch, wie dein Glück gekommen ist.

 

Ich habe meinen Vater wieder gefunden. – Deinen wahren Vater? – Verdammt! Solange er bezahlt … – Wirst du es glauben und ihn ehren, das ist ganz richtig. Wie nennt sich dein Vater? – Major Cavalcanti. – Und wer half dir dazu, daß du deinen Vater wiederfandest? – Der Graf von Monte Christo. – Der, von dem du herkamst? – Ja. – Ei, so versuche es doch, mich bei ihm als nächsten Verwandten anzubringen, da er solche Geschäfte treibt.

 

Wohl; ich werde mit ihm über dich sprechen.

 

Du bist sehr gut, daß du es tun willst, sagte Caderousse.

 

Da du so viel Anteil an mir nimmst, versetzte Andrea, so erlaubst du wohl, mir auch einige Auskunft über dich zu erbitten.

 

Das ist richtig … Ich will ein Zimmer in einem ehrlichen Hause mieten, mich mit einem anständigen Kleide bedecken, mich alle Tage rasieren lassen und das Kaffeehaus besuchen, um die Zeitungen zu lesen. Am Abend gehe ich mit irgend einem Claqueur ins Schauspiel; ich sehe dann aus wie ein Bäcker, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat, und das ist mein Ideal.

 

Sehr gut! Willst du diesen Plan ausführen und vernünftig sein, so wird alles gut gehen. Und nun, da du hast, was du willst, und da wir an Ort und Stelle sind, springe aus meinem Wagen und verschwinde.

 

Nein, Kleiner, bedenke doch ein rotes Tuch auf dem Kopf, so gut wie keine Schuhe, keine Spur von Papieren und zehn Napoleons in Gold in der Tasche – man würde mich unfehlbar am Tor anhalten; zu meiner Rechtfertigung wäre ich dann genötigt, zu sagen, du habest mir diese zehn Napoleons gegeben. Dann erfolgt eine Nachforschung, eine Untersuchung; man erfährt, daß ich Toulon verlassen habe, ohne Abschied zu nehmen, und man führt mich ohne Gnade an das Mittelländische Meer zurück. Ich werde wieder ganz einfach Nr. 106, und dahin ist mein Ideal, einem ehemaligen Bäcker zu gleichen! Nein, mein Sohn, ich ziehe es vor, ganz ehrlich in der Hauptstadt zu bleiben.

 

Andrea runzelte die Stirn; der vermeintliche Sohn des Majors von Cavalcanti war, wie er sich dessen selbst gerühmt hatte, ein ziemlich schlimmer Kopf. Er hielt einen Augenblick an, warf einen raschen Blick umher und steckte dann die Hand verstohlen in seine Hosentasche, wo er den Bügel einer Taschenpistole zu streicheln begann.

 

Caderousse aber, der seinen Gefährten nicht aus den Augen verlor, griff mit seinen Händen hinter seinen Rücken und öffnete ganz sacht ein langes, spanisches Messer, das er für jeden Fall bei sich trug.

 

Die beiden würdigen Freunde verstanden einander, wie man sieht. Andreas Hand kam harmlos wieder aus der Tasche hervor und stieg bis zu seinem roten Schnurrbarte hinauf, den er eine Zeitlang zwischen den Fingern drehte.

 

Gut, Caderousse, sagte er, du willst also glücklich werden?

 

Ich werde mein möglichstes tun, erwiderte der Wirt vom Pont du Gard, während er sein Messer wieder in die Scheide steckte.

 

Vorwärts, fahren wir in die Stadt hinein! Doch wie willst du es machen, um durch das Tor zu kommen, ohne Verdacht zu erwecken? Mir scheint, mit deiner Tracht wagst du noch mehr im Wagen, als zu Fuß.

 

Warte, das wirst du sehen, erwiderte Caderousse.

 

Er nahm den Mantel mit großem Kragen, den der Bediente an seinem Platze zurückgelassen hatte, und legte ihn auf seine Schultern; dann griff er nach Cavalcantis Hut und setzte ihn sich auf, worauf er die Stellung eines Bedienten, dessen Herr selbst fährt, einnahm.

 

Und ich, sagte Andrea, soll ich etwa barhaupt bleiben?

 

Bah! Es weht ein so starker Wind, daß er dir wohl deinen Hut fortgenommen haben kann.

 

Vorwärts also, daß wir zu Ende kommen!

 

Sie gelangten ohne Unfall durch das Tor. Bei der ersten Querstraße hielt Andrea sein Pferd an, Caderousse sprang zu Boden.

 

Nun, sagte Andrea, und der Mantel und mein Hut?

 

Oh! erwiderte Caderousse, du wirst nicht wollen, daß ich den Schnupfen bekomme. Und er verschwand in einem Gäßchen.

 

Ach! kann man denn in dieser Welt nie ganz glücklich sein! sagte Andrea, einen Seufzer ausstoßend.

 

Frau von Saint-Meran.

 

Frau von Saint-Meran.

 

Es war wirklich eine düstere Szene im Hause des Herrn von Villefort vorgefallen.

 

Nachdem die drei Damen auf den Ball gegangen waren, wohin trotz aller Bitten der Frau von Villefort ihr Gatte sie nicht begleiten wollte, schloß sich der Staatsanwalt, seiner Gewohnheit gemäß, in sein Kabinett mit einem Haufen von Akten ein, der jeden andern erschreckt, der jedoch im gewöhnlichen Laufe der Dinge seinen kräftigen Arbeitshunger kaum befriedigt hätte.

 

Doch diesmal waren die Aktenstöße nur Sache der Form, Villefort schloß sich nicht ein, um zu arbeiten, sondern um nachzudenken. Nachdem der Befehl gegeben war, ihn nur bei Vorfällen von großer Wichtigkeit zu stören, setzte er sich in seinen Lehnstuhl und fing noch einmal an, alles zu erwägen, was seit sieben bis acht Tagen den Becher seines finstern Kummers und seiner bittern Erinnerungen überströmen ließ.

 

Sodann öffnete er eine Schublade seines Schreibtisches und zog das Bündel mit seinen persönlichen Noten hervor, … wertvolle Manuskripte, auf denen er auch mit Ziffern, die nur ihm bekannt waren, die Namen aller derer verzeichnet hatte, die auf seiner politischen Laufbahn, bei seinen Finanzoperationen, bei seiner Tätigkeit als Staatsanwalt oder bei seinen geheimen Liebschaften seine Feinde geworden waren.

 

Ihre Zahl schien ihm heute, wo er zu zittern anfing, furchtbar, und doch hatten ihn alle diese Namen, so mächtig ihre Träger auch waren, oft lächeln lassen, wie der Reisende lächelt, der von dem höchsten Gipfel des Gebirges herab zu seinen Füßen die spitzigen Felsen, die rauhen, beschwerlichen Wege und die Ränder der Abgründe erblickt, an denen er, um auf die Höhe zu gelangen, so lange und so mühsam hatte umherklettern müssen.

 

Als er alle diese Namen durchgegangen, als er sie wiedergelesen, wohlerwogen und in seinen Listen mit Bemerkungen versehen hatte, schüttelte er den Kopf und murmelte: Nein, keiner dieser Feinde hätte geduldig und in der Stille arbeitend bis zu dem Tage gewartet, zu dem wir nun gelangt sind, um mich jetzt erst mit diesem Geheimnis niederzuschmettern. Zuweilen, wie Hamlet sagt, dringt das Geräusch der am tiefsten verborgenen Dinge aus der Erde hervor und tanzt wie das Feuer des Phosphors, toll in der Luft umher; doch dies sind Flammen, die nur einen Augenblick leuchten, um irrezuleiten. Die Geschichte wird von dem Korsen irgend einem Priester erzählt worden sein, der sie seinerseits weiter erzählt hat. Herr von Monte Christo wird sie erfahren haben, und um sich aufzuklären …

 

Doch wozu sich aufklären? fuhr Herr von Villefort nach kurzem Nachdenken fort; welches Interesse kann Herr von Monte Christo, Herr Zaccone, der Sohn eines maltesischen Reeders, der Besitzer eines thessalischen Silberbergwerks, der zum erstenmal nach Frankreich kommt, welches Interesse kann er haben, sich über eine geheime Tat, wie diese, aufzuklären? Aus all den unzulänglichen Nachrichten, die mir von diesem Abbé Busoni und von diesem Lord Wilmore, von dem Freunde und dem Feinde, gegeben worden sind, ergibt sich eines klar und zweifellos: In keiner Zeit, in keinem Fall, unter keinen Umständen kann die geringste Berührung zwischen ihm und mir stattgefunden haben.

 

Doch Herr von Villefort sagte dies, ohne selbst daran zu glauben. Das Schrecklichste für ihn war nicht die Enthüllung, denn er konnte leugnen oder sich sogar verantworten. Wenig kümmerte ihn das »Mene, tekel, upharsin«, das plötzlich in blutigen Buchstaben an der Wand erschien; aber es bekümmerte ihn, daß er den Körper nicht kannte, dem die schreibende Hand angehörte.

 

In dem Augenblick, wo er sich selbst zu beruhigen suchte und sich, statt der politischen Zukunft, die er in seinen ehrgeizigen Träumen zuweilen in der Ferne erblickt hatte, aus Furcht, diesen seit langer Zeit schlummernden Feind zu wecken, eine auf die Freuden des häuslichen Herdes beschränkte Zukunft ausmalte, erscholl das Geräusch eines Wagens im Hofe. Dann hörte er auf seiner Treppe den Gang einer betagten Person und Schluchzen und Wehklagen.

 

Er stieß schnell den Riegel seiner Tür zurück, und bald trat eine alte Dame ein, ohne angemeldet zu sein, ihren Schal auf dem Arm und ihren Hut in der Hand haltend. Unter ihren weißen Haaren trat eine Stirn, matt wie vergilbtes Elfenbein, hervor, und ihre Augen, in deren Ecken das Alter tiefe Runzeln gegraben hatte, verschwanden beinahe unter der Anschwellung vom Weinen.

 

Oh! mein Herr, sagte sie, oh! mein Herr, welch ein Unglück, ich werde auch sterben; oh! ja, ich sterbe sicherlich ebenfalls.

 

Und sie sank in den Lehnstuhl, welcher der Tür zunächst stand, und brach in ein Schluchzen aus.

 

Die Bedienten, die auf der Schwelle standen und nicht weiter zu gehen wagten, schauten Noirtiers alten Diener an, der, als er das Geräusch vernahm, aus den Zimmern seines Herrn herbeilief. Villefort stand auf und ging auf seine Schwiegermutter zu, denn sie war es.

 

Mein Gott! was ist denn vorgefallen? fragte er, was beugt Sie so sehr nieder? Begleitet Sie Herr von Saint-Meran nicht?

 

Herr von Saint-Meran ist tot, sagte die alte Marquise, ohne Einleitung, ohne Ausdruck und mit einer Art von Stumpfsinn.

 

Villefort wich einen Schritt zurück, schlug seine Hände aneinander und stammelte: Tot? … So gestorben, so plötzlich gestorben?

 

Vor acht Tagen, sagte Fran von Saint-Meran, stiegen wir nach Tische miteinander in den Wagen. Herr von Saint-Meran war seit einiger Zeit leidend; doch der Gedanke, unsere liebe Valentine wiederzusehen, machte ihn mutig, und er wollte, trotz seiner Schmerzen, abreisen. Sechs Stunden von Marseille wurde er aber, nachdem er seine gewöhnlichen Pillen verschluckt hatte, von einem so tiefen Schlafe ergriffen, daß es mir ganz unnatürlich vorkam. Plötzlich schien sich sein Gesicht zu röten und die Adern seiner Schläfe heftiger als gewöhnlich zu schlagen. Da jedoch die Nacht eingebrochen war und ich nichts mehr sah, so ließ ich ihn schlafen; bald stieß er einen dumpfen, schmerzhaften Schrei aus, wie ein Mensch, der im Traume leidet, und warf mit einer ungestümen Bewegung seinen Kopf zurück. Ich ließ den Postillon halten, rief laut den Namen meines Gatten, wollte ihn an meinem Flacon mit flüchtigen Salzen riechen lassen, aber alles war vorbei, er war tot, und ich kam mit seinem Leichnam in Aix an.

 

Villefort stand ganz verwundert und mit offenem Munde vor der alten Dame.

 

Sie ließen ohne Zweifel einen Arzt rufen?

 

Auf der Stelle; doch es war, wie gesagt, zu spät.

 

Allerdings; aber er vermochte doch wenigstens zu erkennen, an welcher Krankheit der arme Marquis gestorben war?

 

Mein Gott, ja! Er sagte mir, es scheine ein Schlagfluß gewesen zu sein.

 

Und was taten Sie sodann?

 

Herr von Saint-Meran äußerte stets, wenn er fern von Paris sterben sollte, so wünsche er, daß man seinen Körper in die Familiengruft bringe. Ich ließ ihn in einen bleiernen Sarg legen und reiste ihm um ein paar Tage voran.

 

Oh Gott! arme Mutter! sagte Villefort, solche Sorgen, nach einem solchen Schlage und in Ihrem Alter!

 

Gott hat mir bis zum Ende Kraft verliehen; überdies hätte er sicherlich für mich getan, was ich für ihn getan habe. Es ist wahr, seitdem ich ihn dort verließ, komme ich mir wie wahnsinnig vor. Ich kann nicht mehr weinen: wohl sagt man, in meinem Alter habe man keine Tränen mehr; es scheint mir jedoch, solange man leidet, sollte man weinen können. Wo ist Valentine, mein Herr? Ihr zu Liebe kehrten wir zurück; ich will meine Valentine sehen.

 

Villefort mochte nicht antworten, Valentine sei auf einem Ball, und sagte der Marquise mir, ihre Enkelin sei mit ihrer Stiefmutter ausgefahren, und man werde sie benachrichtigen. Auf der Stelle, mein Herr, auf der Stelle, ich bitte Sie, sagte die alte Dame.

 

Villefort nahm den Arm der Frau von Saint-Meran unter den seinen und führte sie in ihre Wohnung.

 

Ruhen Sie aus, meine Mutter, sagte er.

 

Die Marquise schaute bei diesen Worten empor, und als sie den Mann sah, der sie an ihre so sehr beklagte Tochter erinnerte, die für sie in Valentine wieder auflebte, fühlte sie sich durch den Namen Mutter erschüttert, brach in Tränen aus und sank auf die Knie vor einem Polsterstuhl, in dem sie ihr ehrwürdiges Haupt begrub.

 

Villefort empfahl sie der Sorge der Frauen, während der alte Barrois ganz erschrocken wieder zu seinem Herrn hinausstieg; denn nichts erschreckt die Greise so sehr, als wenn der Tod einen Augenblick ihre Seite verläßt, um einen andern Greis zu treffen.

 

Während Frau von Saint-Meran immer noch knieend aus der Tiefe ihres Herzens betete, ließ Villefort einen Wagen kommen und suchte bei Frau von Morcerf seine Frau und seine Tochter selbst auf, um sie nach Hanse zu führen.

 

Er war so bleich, als er auf der Schwelle des Salons erschien, daß ihm Valentine mit dem Ausruf entgegenlief: Oh, mein Vater! es ist irgend ein Unglück geschehen!

 

Deine gute Mama ist soeben angekommen, Valentine, sagte Herr von Villefort.

 

Und mein Großvater? fragte das Mädchen zitternd. Herr von Villefort antwortete nur, indem er seiner Tochter den Arm bot.

 

Es war Zeit; Valentine wankte, vom Schwindel ergriffen; Frau von Villefort beeilte sich, sie zu unterstützen, und half ihrem Manne sie nach dem Wagen bringen.

 

Das ist doch seltsam, sagte Frau von Villefort, wer hätte das vermuten können? Oh! das ist seltsam.

 

Und die ganze Familie entfernte sich so und warf einen traurigen Schatten wie einen schwarzen Mantel auf den übrigen Abend.

 

Unten an der Treppe fand Valentine Barrois, der auf sie wartete. – Herr Noirtier wünscht Sie heute abend zu sehen, flüsterte er ihr zu.

 

Sagen Sie ihm, ich werde zu ihm kommen, sobald ich meine gute Großmutter verlasse, sprach Valentine.

 

In seinem Zartgefühle hatte das Mädchen begriffen, daß zu dieser Stunde Frau von Saint-Meran am meisten seiner bedürfe. Valentine traf ihre Großmutter im Bett; stumme Liebkosungen, schmerzhafte Herzenswallungen, unterbrochene Seufzer, brennende Tränen begleiteten dieses Wiedersehen, dem am Arme ihres Gatten Frau von Villefort beiwohnte, anscheinend voll Achtung für die unglückliche Witwe.

 

Nach einem Augenblick neigte sie sich an das Ohr ihres Gatten und sagte: Ich will mich mit Ihrer Erlaubnis entfernen, denn mein Anblick scheint Ihre Schwiegermutter noch mehr zu betrüben.

 

Frau von Saint-Meran hörte dies und flüsterte Valentine zu: Ja, ja, sie mag gehen, aber du bleibst. Frau von Villefort entfernte sich, und Valentine blieb allein am Bette ihrer Großmutter; denn, bestürzt über diesen unvorhergesehenen Tod, folgte der Staatsanwalt seiner Frau.

 

Barrois war indessen wieder zu dem alten Noirtier hinausgegangen; dieser hatte den ganzen Lärm gehört und, wie gesagt, seinen Diener abgeschickt, um sich erkundigen zu lassen.

 

Bei seiner Rückkehr befragte das lebendige und gescheite Auge den Boten. Ach! Herr, sagte Barrois, ein großes Unglück ist geschehen, Frau von Saint-Meran ist angekommen, und ihr Gemahl ist tot.

 

Herr von Saint-Meran und Noirtier waren nie durch enge Freundschaft verbunden gewesen; man weiß aber, welche Wirkung die Kunde vom Tode eines Altersgenossen stets auf einen Greis hervorbringt. Noirtier ließ das Haupt auf die Brust sinken, dann schloß er das linke Auge.

 

Fräulein Valentine? sagte Barrois.

 

Noirtier machte ein bejahendes Zeichen.

 

Sie ist auf dem Ball, wie der gnädige Herr wohl weiß, denn sie kam in großer Toilette hierher, um Abschied zu nehmen.

 

Noirtier schloß abermals das linke Auge.

 

Ja, Sie wollen sie sehen.

 

Der Greis bedeutete durch ein Zeichen, daß er es wünsche.

 

Nun, man wird sie ohne Zweifel bei Frau von Morcerf holen; ich erwarte ihre Rückkehr und sage ihr, sie möge heraufkommen. Ist es so recht?

 

Ja, antwortete der Gelähmte.

 

Barrois wartete, wie wir gesehen, auf Valentines Rückkehr und teilte ihr den Wunsch ihres Großvaters mit, und so ging sie auch zu Noirtier hinauf, als sie Frau von Saint-Meran verließ, die, so aufgeregt sie auch war, endlich der Müdigkeit unterlag und in einen fieberhaften Schlaf verfiel. Man hatte in den Bereich ihrer Hand einen Tisch gestellt, auf dem eine Flasche mit Orangeade, ihrem gewöhnlichen Getränk, und ein Glas standen.

 

Valentine umarmte den Greis, der sie so zärtlich anschaute, daß das Mädchen abermals Tränen, deren Quelle es versiegt glaubte, seinen Augen entstürzen fühlte.

 

Der Greis verharrte bei seinem Blicke.

 

Ja, ja, sagte Valentine, du willst mir sagen, ich habe immer noch einen guten Großvater?

 

Der Greis bedeutete durch ein Zeichen, daß er wirklich dies habe durch seinen Blick sagen wollen.

 

Ach! zum Glücke, versetzte Valentine. Mein Gott, was würde sonst aus mir werden?

 

Es war ein Uhr morgens. Barrois hatte Lust, sich niederzulegen, und bemerkte daher, nach einem so schmerzhaften Abend bedürfe jedermann der Ruhe. Der Greis wollte nicht sagen, seine Ruhe sei es, sein Kind anzuschauen. Er verabschiedete Valentine, der die Ermattung und der Schmerz in der Tat ein leidendes Aussehen verliehen.

 

Als sie am andern Morgen bei ihrer Großmutter eintrat, fand sie diese im Bette; das Fieber hatte sich nicht gelegt, es brannte im Gegenteil ein düsteres Feuer in den Augen der Marquise, und sie schien das Opfer einer heftigen Nervenaufregung zu sein.

 

Oh! mein Gott! gute Mama, leiden Sie mehr? rief Valentine, als sie diese Zeichen der Aufregung wahrnahm.

 

Nein, meine Tochter, nein, sagte Frau von Saint-Meran; aber ich erwartete mit Ungeduld dein Erscheinen, um deinen Vater holen zu lassen.

 

Meinen Vater? fragte Valentine unruhig.

 

Ja, ich will ihn sprechen.

 

Valentine wagte es nicht, sich dem Wunsche ihrer Großmutter, dessen Ursache sie überdies nicht kannte, zu widersetzen, und einen Augenblick nachher trat Villefort ein.

 

Mein Herr, sagte Frau von Saint-Meran, ohne irgend einen Eingang und als befürchtete sie, es könnte ihr an Zeit gebrechen, Sie haben mir geschrieben, es handle sich um die Verheiratung dieses Kindes?

 

Ja, gnädige Frau, antwortete Villefort, und es ist sogar mehr als ein Plan, es ist ein Abkommen.

 

Ihr Schwiegersohn heißt Franz d’Epinay?

 

Ja, gnädige Frau.

 

Er ist der Sohn des Generals d’Epinay, der zu den Unseren gehörte, und einige Tage, ehe der Usurpator von der Insel Elba zurückkehrte, ermordet wurde?

 

So ist es.

 

Diese Verbindung mit einer Enkelin des Jakobiners widerstrebt ihm nicht?

 

Unsere Bürgerkämpfe sind glücklicherweise vorüber, meine Mutter, sagte Villefort; Herr d’Epinay war bei dem Tode seines Vaters beinahe ein Kind; er kennt Herrn Noirtier sehr wenig, und wird ihn, wenn nicht mit Vergnügen, doch wenigstens mit Gleichgültigkeit sehen.

 

Ist er eine schickliche Partie?

 

In jeder Beziehung, der junge Mann erfreut sich allgemeiner Achtung.

 

Während dieser ganzen Unterredung war Valentine stumm geblieben.

 

Wohl, mein Herr, sagte Frau von Saint-Meran nach kurzem Nachdenken, Sie müssen sich beeilen, denn ich habe wenig Zeit mehr zu leben.

 

Sie, gnädige Frau! Sie, gute Mutter! riefen gleichzeitig Herr von Villefort und Valentine.

 

Ich weiß, was ich sage, versetzte die Marquise; Sie müssen sich also beeilen, damit, da es die Mutter nicht vermag, wenigstens die Großmutter ihre Ehe segnen kann. Ich bin die einzige, die ihr noch von seiten meiner armen Renée bleibt, die Sie so schnell vergessen haben, mein Herr.

 

Ah! Sie bedenken nicht, daß ich diesem armen Kinde eine Mutter geben mußte.

 

Eine Stiefmutter ist nie eine Mutter, mein Herr. Doch es handelt sich nicht darum, sondern um Valentine; lassen wir die Toten ruhen.

 

Alles dies wurde mit einer solchen Geschwindigkeit und mit einem Ausdrucke gesprochen, daß es schien, die Aufregung der Kranken gehe in ein Delirium über.

 

Es soll nach Ihrem Wunsche gehen, sagte Villefort, und dies um so mehr, als Ihr Wunsch mit dem meinigen im Einklang steht. Sobald Herr d’Epinay nach Paris zurückgekehrt ist …

 

Meine gute Mutter, unterbrach ihn Valentine, die Schicklichkeit, die neue Trauer … würden Sie eine Ehe unter so trüben Umständen schließen wollen?

 

Meine Tochter, versetzte rasch die Großmutter, keine solchen Alltagsreden, die schwache Geister hindern, auf solide Weise ihre Zukunft zu gründen. Ich habe auch am Sterbebette meiner Mutter geheiratet und bin darum nicht unglücklich gewesen.

 

Abermals dieser Todesgedanke! rief Villefort.

 

Abermals! immer … ich sage Ihnen, daß ich sterben werde, hören Sie? Nun wohl! ehe ich sterbe, will ich meinen Eidam sehen; ich will ihm befehlen, meine Enkelin glücklich zu machen, ich will in seinen Augen lesen, ob er mir gehorchen will; kurz, ich will ihn kennen lernen, um ihn aus der Tiefe meines Grabes aufzusuchen, wenn er nicht wäre, was er sein soll, wenn er nicht wäre, was er sein muß, fügte die alte Frau mit einem furchtbaren Ausdrucke hinzu.

 

Gnädige Frau, sagte Villefort, Sie müssen die aufgeregten Gedanken, die fast an Wahnsinn grenzen, von sich entfernen. Liegen die Toten einmal in ihren Gräbern, so schlafen sie darin, um sich nie mehr zu erheben.

 

Oh ja, ja, gute Mutter! beruhige dich, rief Valentine.

 

Und ich, mein Herr, sage Ihnen, daß es nicht so ist, wie Sie glauben. Diese Nacht lag ich in furchtbarem Schlafe; denn ich sah mich gleichsam schlummern, als ob meine Seele bereits über meinem Leibe schwebte. Meine Augen, die ich gewaltsam offen halten wollte, schlossen sich unwillkürlich, und dennoch, ich weiß wohl, daß Ihnen dies unmöglich vorkommen wird, Ihnen, mein Herr, … ich sah mit geschlossenen Augen, auf derselben Stelle, wo Sie sind, aus jener Ecke kommend, in der eine Tür ist, die nach dem Ankleidezimmer von Frau von Villefort geht, geräuschlos eine weiße Gestalt hervortreten.

 

Valentine stieß einen Schrei aus.

 

Das Fieber hat Sie aufgeregt, sagte Villefort.

 

Zweifeln Sie, wenn Sie wollen, doch ich bin dessen, was ich sage, gewiß. Ich sah eine weiße Gestalt; und als sollte ich durch das Zeugnis eines andern Sinnes noch bestärkt werden, hörte ich das Glas rücken, das hier auf dem Tische steht.

 

Oh! gute Mutter, das war ein Traum.

 

Es war so wenig ein Traum, daß ich die Hand nach der Glocke ausstreckte und daß der Schatten bei dieser Gebärde verschwand. Die Kammerfrau trat mit einem Lichte ein.

 

Doch sie hat niemand gesehen?

 

Die Geister zeigen sich nur denen, die sie sehen sollen, es war die Seele meines Mannes.

 

Oh, sagte Villefort, unwillkürlich in der innersten Tiefe erschüttert, gestatten Sie diesen finstern Gedanken keinen Einfluß; Sie werden mit uns leben, Sie werden lange Zeit glücklich, geliebt, geehrt leben, und wir werden machen, daß Sie vergessen …

 

Nie, nie, nie! rief die Marquise. Wann kommt Herr d’Epinay zurück?

 

Wir erwarten ihn jeden Augenblick.

 

Es ist gut; sobald er angekommen ist, benachrichtigen Sie mich. Eilen wir, eilen wir. Dann möchte ich auch gern einen Notar sehen, um mich zu vergewissern, daß unsere ganze Habe Valentine zukommt.

 

Oh! meine Mutter, murmelte Valentine, ihre Lippen auf die glühende Stirn der alten Frau drückend; Sie wollen mich also töten? Mein Gott! Sie haben Fieber, nicht einen Notar muß man rufen, sondern einen Arzt!

 

Einen Arzt! sagte sie, die Achseln zuckend, ich leide nicht, ich habe nur Durst.

 

Was trinken Sie denn, gute Mama?

 

Du weißt, wie immer meine Orangeade. Mein Glas steht dort, dort auf dem Tische, gib es mir, Valentine.

 

Valentine goß die Orangeade aus der Flasche in ein Glas, nahm dieses mit unwillkürlichem Schrecken und gab es ihrer Großmutter, denn es war dasselbe Glas, das, wie sie behauptete, der Schatten berührt hatte.

 

Die Marquise leerte das Glas auf einen Zug. Dann drehte sie sich auf ihrem Kopfkissen um und wiederholte: Den Notar! den Notar!

 

Herr von Villefort ging weg, Valentine setzte sich an das Bett ihrer Großmutter. Die Arme schien selbst sehr des Arztes zu bedürfen, den sie der alten Frau empfohlen hatte. Eine flammenartige Röte brannte auf ihren Wangen, ihr Atem war kurz und keuchend, und ihr Puls schlug, als ob sie Fieber hätte. Der Grund war, daß sie an Maximilians Verzweiflung dachte, wenn er erfahren würde, daß Frau von Saint-Meran, statt eine Verbündete zu sein, ohne ihn zu kennen, handelte, als ob sie seine Feindin wäre.

 

Mehr als einmal dachte Valentine daran, ihrer Großmutter alles zu sagen, und sie würde keinen Augenblick gezögert haben, hätte Maximilian Morel Albert von Morcerf oder Raoul von Chateau-Renaud geheißen. Aber Morel war von plebejischer Abkunft, und Valentine kannte die Verachtung, welche die stolze Marquise von Saint-Meran gegen alles hegte, was nicht von Adel war. Ihr Geheimnis war also stets in dem Augenblick, wo es zu Tage treten wollte, durch die traurige Gewißheit zurückgedrängt worden, daß sie es unnötig preisgeben würde, und daß alles verloren wäre, wenn das Geheimnis einmal zur Kenntnis ihres Vaters oder ihrer Stiefmutter gelangt sei.

 

So vergingen etwa zwei Stunden, während deren Frau von Saint-Meran in heißem, unruhigem Schlafe lag. Man meldete den Notar.

 

Obgleich diese Meldung sehr leise gemacht wurde, erhob sich doch Frau von Saint-Meran aus ihrem Kopfkissen. Der Notar war an der Tür, er trat ein.

 

Geh, Valentine, sagte Frau von Saint-Meran, und laß mich mit diesem Herrn allein.

 

Aber, meine Mutter …

 

Geh, geh.

 

Das Mädchen küßte ihre Großmutter auf die Stirn und entfernte sich, ihr Taschentuch vor den Augen. An der Tür fand Valentine den Kammerdiener, der ihr sagte, der Arzt warte im Salon.

 

Valentine ging rasch hinab. Der Arzt war ein Freund der Familie und zugleich einer der geschicktesten Männer der Zeit; er liebte Valentine, die er zur Welt hatte kommen sehen, ungemein. Er besaß eine Tochter, ungefähr von dem Alter Valentines; doch diese Tochter war von einer brustkranken Mutter geboren, und der Arzt lebte in beständiger Angst um sein Kind.

 

Ah, sagte Valentine, mein lieber Herr d’Avrigny, wir erwarteten Sie mit Ungeduld. Doch vor allem, wie befinden sich Madeleine und Antoinette?

 

Madeleine war Herrn d’Avrignys Tochter und Antoinette seine Nichte.

 

Herr d’Avrigny antwortete traurig lächelnd: Antoinette sehr gut, Madeleine ziemlich gut. Sie haben mich holen lassen, liebes Kind. Es ist weder Ihr Vater, noch Frau von Villefort krank? Was Sie selbst betrifft, so sehe ich zwar, daß Sie sich von Ihren Nerven nicht freimachen können, glaube aber doch, daß Sie meiner sonst nicht bedürfen, als meines Rates, Ihre Einbildungskraft nicht so auf weitem Felde umherschweifen zu lassen.

 

Valentine errötete; Herr d’Avrigny trieb die Wissenschaft der Divination bis zum Wunderbaren, denn er war einer von den Ärzten, welche das Körperliche stets auf geistigem Wege behandeln.

 

Nein, sagte sie, man hat Sie meiner armen Großmutter wegen gerufen. Nicht wahr, Sie wissen, welch ein Unglück uns widerfahren ist?

 

Ich weiß es nicht.

 

Ach! sagte Valentine, ein Schluchzen unterdrückend, mein Großvater ist gestorben.

 

So plötzlich?

 

An einem Schlagfluß.

 

An einem Schlagfluß? wiederholte der Arzt.

 

Ja. Und meine arme Großmutter hat nun der Gedanke erfaßt, ihr Gatte, den sie nie verlassen, rufe sie, und sie werde bald mit ihm vereinigt sein. Oh! Herr d’Avrigny, gehen Sie zu meiner armen Großmutter, sie ist in ihrem Zimmer, mit dem Notar.

 

Gut, ich eile, und Herr Noirtier?

 

Immer derselbe, vollkommene Klarheit und Schärfe des Geistes, aber auch dieselbe Unbeweglichkeit, dieselbe Stummheit.

 

Und dieselbe Liebe für Sie, nicht wahr, mein gutes Kind?

 

Ja, erwiderte Valentine mit einem Seufzer, er liebt mich sehr.

 

Wer sollte Sie nicht lieben?

 

Valentine lächelte traurig.

 

Und woran leidet Ihre Großmutter?

 

An einer sonderbaren Nervenaufregung; ihr Schlaf ist unruhig und seltsam. Sie behauptete heute morgen, während ihres Schlummers schwebe ihre Seele über dem Körper, und das ist doch Delirium; sie versichert mir, sie habe einen Geist in ihr Zimmer treten sehen und das Geräusch gehört, das der Geist, als er ihr Glas berührte, gemacht habe.

 

Das ist sonderbar, äußerte der Doktor, ich wußte nicht, daß Frau von Saint-Meran solchen Sinnestäuschungen unterworfen ist.

 

Es ist das erste Mal, daß ich sie so gesehen habe, entgegnete Valentine, und es wurde mir sehr angst um sie, denn ich hielt sie für wahnwitzig, und mein Vater, – Sie kennen meinen Vater gewiß als einen ernsten Mann, – nun selbst auf meinen Vater schien die Sache einen starken Eindruck hervorzubringen.

 

Wir werden sehen, versetzte Herr d’Avrigny; was Sie mir da sagen, kommt mir ganz eigentümlich vor.

 

Der Notar entfernte sich, und man benachrichtigte Valentine, ihre Großmutter sei allein.

 

Gehen Sie mit hinauf? fragte der Doktor.

 

Oh! ich wage es nicht, sie hat mir verboten, Sie holen zu lassen! Dann bin ich, wie Sie sagen, selbst aufgeregt, fieberhaft, mißgestimmt; ich will einen Gang in den Garten machen, um mich zu erholen.

 

Der Doktor drückte Valentine die Hand, und während er zu ihrer Großmutter hinaufging, stieg sie die Freitreppe hinab.

 

Wir brauchen nicht zu sagen, welcher Teil des Gartens Valentines Lieblingsspaziergang war. Nachdem sie zwei oder dreimal an dem Blumenbeete hin und her gewandert, welches das Haus umgab, nachdem sie eine Rose gepflückt, um sie in ihren Gürtel oder in ihre Haare zu stecken, wandelte sie gewöhnlich unter der düsteren Allee fort, die zu der Bank führte, und von der Bank begab sie sich zu dem Gitter.

 

Diesmal machte Valentine, ihrer Gewohnheit gemäß, mehrere Gänge unter den Blumen, doch ohne eine zu pflücken, ihr Herz war zu traurig; dann wandte sie sich der Allee zu. Während sie weiter schritt, kam es ihr vor, als hörte sie ihren Namen rufen. Sie blieb stehen.

 

Da gelangte der Ton deutlicher au ihr Ohr, und sie erkannte Maximilians Stimme.