Das Wirtshaus zum Pont du Gard.

 

Das Wirtshaus zum Pont du Gard.

 

An der Straße zwischen Beaucaire und Bellegarde liegt mit der Rückseite nach der Rhone zu ein altes, verwahrlostes Gasthaus. Seit etwa acht Jahren wurde diese kleine Wirtschaft von einem Manne und einer Frau geführt, deren einzige Dienerschaft ein Stubenmädchen, genannt Toinette, und ein Hausknecht, namens Pacaud, bildeten, die indessen für die Bedürfnisse des Dienstes genügten, seitdem ein von Beaucaire nach Aigues-Mortes gegrabener Kanal der Landstraße den Frachtverkehr entzogen hatte.

 

Der Mann, der diese kleine Wirtschaft führte, war ungefähr vierzig Jahre alt, groß, mager und nervig, der wahre südliche Typus, mit seinen tiefliegenden, glänzenden Augen, seiner adlerförmigen Nase und seinen Zähnen, so weiß wie die eines fleischfressenden Tieres. Seine Haare waren, wie sein dichter, krauser Bart, kaum mit etwas Grau vermischt, sein von Natur bräunlicher Teint hatte sich noch tiefer gebräunt, weil sich der arme Teufel vom Morgen bis zum Abend auf seiner Türschwelle aufzuhalten pflegte, um zu sehen, ob ihm nicht zu Fuß oder zu Wagen ein Kunde zukäme, eine Erwartung, in der er fast immer getäuscht wurde, indes er sich vor der sengenden Sonnenhitze nach der Weise der spanischen Maultiertreiber nur durch ein um den Kopf gewickeltes rotes Taschentuch zu schützen suchte. Dieser Mann war unser alter Bekannter Gaspard Caderousse. Seine Frau sah im Gegenteil bleich und kränklich aus. In der Gegend von Arles geboren, war ihr Gesicht, obwohl die ursprünglichen Spuren der bekannten Schönheit ihrer Landsleute bewahrend, langsam unter dem Einfluß eines fast beständigen Sumpffiebers verfallen. Sie hielt sich, fast immer vor Kälte zitternd, in ihrem im ersten Stocke liegenden Zimmer auf, entweder in einem Lehnstuhle ausgestreckt, oder an ihrem Bette lehnend, während ihr Mann an der Tür seine gewöhnliche Wache bezog, die sich um so länger ausdehnte, als ihn seine magere Ehehälfte, so oft er sich wieder mit ihr zusammenfand, mit ihren ewigen Klagen gegen das Schicksal verfolgte, die er gewöhnlich nur mit den philosophischen Worten erwiderte: Schweig, Carconte, Gott will es so!

 

Trotz dieser anscheinenden Fügsamkeit in die Beschlüsse der Vorsehung darf man indessen nicht glauben, daß unser Wirt den armseligen Zustand nicht erkannte, in den ihn der elende Kanal von Beaucaire versetzt hatte, und daß er unverwundbar gegen die ewigen Klagen blieb, mit denen ihn seine Frau verfolgte. Er war, wie alle Südländer, ein mäßiger Mensch und ohne große Bedürfnisse, aber eitel in äußeren Dingen. So ließ er in den Zeiten seines Wohlstandes nie eine Prozession vorübergehen, ohne sich dabei mit der Carconte zu zeigen, er in der malerischen Tracht des Südfranzosen, die die Mitte zwischen der des Andalusiers und des Kataloniers hält, sie in dem reizenden Gewande der Frauen von Arles, das Griechenland und Arabien entlehnt zu sein scheint. Allmählich aber waren Uhrketten, Halsbänder, tausendfarbige Gürtel, gestickte Leibchen, Samtwesten, Strümpfe mit zierlichen Zwickeln, bunte Gamaschen, Schuhe mit silbernen Schnallen verschwunden, und Caderousse, der sich nicht mehr in seinem ehemaligen Glanze zeigen konnte, hatte für sich und seine Frau Verzicht geleistet auf alles weltliche Gepränge, dessen freudiges Geräusch bis in sein armseliges Wirtshaus drang, das ihm mehr als Schirmdach, denn als Einnahmequelle diente.

 

Caderousse hatte sich seiner Gewohnheit gemäß am Morgen vor der Tür aufgehalten und seinen schwermütigen Blick von einem Stückchen kahlen Rasens, woraus ein paar Hühner kauerten, nach den Enden der öden Landstraße spazieren lassen, die einerseits nach Süden und anderseits nach Norden lief, als ihn plötzlich die spitzige Stimme seiner Frau seinen Posten zu verlassen nötigte. Er ging brummend hinein und stieg in den ersten Stock hinauf, ließ aber nichtsdestoweniger seine Tür weit offen stehen, als wollte er die Reisenden einladen, ihn im Vorbeigehen nicht zu vergessen.

 

In dem Augenblick, wo Caderousse hineinging, näherte sich von Bellegarde her ein Reiter. Es war ein Priester mit schwarzem Rock und dreieckigem Hute, der vor der Tür anhielt. Der Reiter stieg ab, zog das Pferd am Zügel nach und band es an; dann schritt er, seine von Schweiß triefende Stirn mit einem roten Tuche abwischend, auf die Tür zu und tat mit dem eisernen Ende seines Stockes drei Schläge auf die Schwelle.

 

Sogleich erhob sich ein großer schwarzer Hund, bellend und seine weißen, scharfen Zähne zeigend. Alsdann erschütterte ein schwerer Tritt die hölzerne Treppe.

 

Hier bin ich! sagte Caderousse ganz erstaunt, hier bin ich. Willst du schweigen, Margotin. Fürchten Sie sich nicht, Herr, er bellt, aber er beißt nicht. Was wünschen Sie, was verlangen Sie, Herr Abbé? Ich stehe zu Befehl.

 

Der Priester schaute den Mann ein paar Sekunden lang mit seltsamer Aufmerksamkeit an, er schien sogar seinerseits die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich lenken zu wollen; als er aber sah, daß die Züge des letzteren kein anderes Gefühl ausdrückten, als ein Erstaunen darüber, daß er keine Antwort erhielt, sagte er mit stark italienischem Ton: Sind Sie nicht Monsou Caderousse?

 

Ja, Herr, antwortete der Wirt noch mehr erstaunt, ich bin es in der Tat, Gaspard Caderousse, Ihnen zu dienen.

 

Gaspard Caderousse? … Ja … ich glaube, das ist der Vorname, nicht wahr, Sie wohnten einst in der Allée de Meillan, im vierten Stocke? – Ja.

 

Und Sie trieben dort das Gewerbe eines Schneiders?

 

Ja, aber die Sache nahm eine schlimme Wendung. Es ist so heiß in dem spitzbübischen Marseille, daß man sich dort am Ende gar nicht mehr kleiden wird. Doch was die Hitze betrifft, wollen Sie sich nicht erfrischen, Herr Abbé?

 

Allerdings! geben Sie mir eine Flasche von Ihrem besten Wein, und wir nehmen dann, wenn’s Ihnen beliebt, das Gespräch wieder auf, wo wir es verlassen.

 

Um die Gelegenheit nicht zu versäumen, eine von den letzten Flaschen Cahors-Wein, die ihm blieben, anzubringen, beeilte sich Caderousse, seinem Gast eine solche vorzusetzen. Als er nach Verlauf von fünf Minuten zurückkehrte, fand er den Abbé auf einem Schemel sitzend, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, während Margotin, der Frieden mit ihm gemacht zu haben schien, seinen fleischlosen Hals und seinen Kopf mit dem schmachtendem Auge auf dem Schenkel des Priesters ausstreckte.

 

Sie sind allein? fragte der Abbé seinen Wirt, während dieser die Flasche und ein Glas vor ihn stellte.

 

Oh! mein Gott, ja, allein oder beinahe so, denn ich habe eine Frau, die mich in nichts unterstützen kann, weil sie immer krank ist, die arme Carconte.

 

Ah! Sie sind verheiratet? sagte der Priester mit einer gewissen Teilnahme und warf einen Blick umher auf das elende Mobiliar des armseligen Haushalts.

 

Sie finden, daß ich nicht reich bin, nicht wahr? sagte Caderousse seufzend; aber was wollen Sie, um in dieser Welt zu gedeihen, genügt es nicht, ein ehrlicher Mann zu sein!

 

Der Abbé heftete einen durchdringenden Blick auf ihn.

 

Ja, ein ehrlicher Mann, dessen kann ich mich rühmen, sagte der Wirt, der den Blick des Abbés aushielt, und in unseren Zeiten kann das nicht jeder von sich sagen.

 

Desto besser, wenn Sie wahr reden, versetzte der Abbé; denn ich habe die Überzeugung, daß früher oder später der ehrliche Mann belohnt und der schlechte bestraft wird.

 

Sie, als Priester, sagen dies wohl, Herr Abbé! versetzte Caderousse mit bitterem Ausdruck. Doch es steht jedem frei, nicht zu glauben, was Sie sagen.

 

Sie haben unrecht, daß Sie so sprechen, mein Herr; denn vielleicht werde ich selbst für Sie der Beweis dessen sein, was ich behaupte.

 

Wie soll ich das verstehen? fragte Caderousse mit erstaunter Miene.

 

Ich muß mich vor allem versichern, daß Sie wirklich der sind, den ich suche.

 

Welche Beweise soll ich Ihnen geben?

 

Haben Sie im Jahre 1814 oder 1815 einen Seefahrer namens Dantes gekannt?

 

Dantes! Ob ich ihn gekannt habe, den armen Edmond! Ich glaube wohl; er war sogar einer meiner besten Freunde! rief Caderousse, dessen Gesicht Purpurröte überströmte, während sich das klare, sichere Auge des Abbés zu erweitern schien.

 

Ja, ich glaube, er hieß wirklich Edmond.

 

Was ist aus dem armen Edmond geworden, mein Herr? fuhr der Wirt fort; haben Sie ihn vielleicht gekannt? Lebt er noch, ist er frei? Ist er glücklich?

 

Er ist im Gefängnis gestorben, elender und verzweiflungsvoller, als die Galeerensklaven, die ihre Kugel in dem Bagno von Toulon schleppen.

 

Eine Totenblässe überflog Caderousses Antlitz. Er wandte sich um, und der Abbé sah, wie er eine Träne mit einer Ecke seines roten Tuches trocknete.

 

Armer Kleiner, murmelte Caderousse. Das ist abermals ein Beweis von dem, was ich Ihnen sagte, Herr Abbé, daß nämlich der gute Gott nur für die Schlechten gut sei. Oh, diese Welt wird immer schlechter.

 

Sie scheinen diesen Jungen von ganzem Herzen lieb gehabt zu haben? fragte der Abbé.

 

Oh! ich liebte ihn ungemein, obgleich ich mir vorzuwerfen habe, daß ich ihn einen Augenblick um sein Glück beneidete. Aber seitdem, das schwöre ich Ihnen, so wahr ich Caderousse heiße, habe ich sein unseliges Geschick sehr beklagt.

 

Es trat ein augenblickliches Stillschweigen ein, während dessen der feste Blick des Abbés nicht eine Sekunde die bewegliche Physiognomie des Wirtes zu erforschen aufhörte. Und Sie haben ihn also gekannt, den armen Kleinen? fuhr Caderousse fort.

 

Ich wurde an sein Sterbebett gerufen, um ihm die letzten Tröstungen der Religion zu bieten.

 

Und woran starb er? fragte Caderousse mit halb erstickter Stimme.

 

Woran stirbt man im Gefängnis im Alter von dreißig Jahren, wenn nicht am Gefängnis selbst?

 

Caderousse trocknete den Schweiß ab, der von seiner Stirn floß.

 

Das Seltsamste bei alledem ist, fuhr der Abbé fort, daß mir Dantes auf seinem Sterbebette bei dem Christus, dessen Füße er küßte, wiederholt schwur, er wisse die wahre Ursache seiner Gefangenschaft gar nicht.

 

Das ist richtig, murmelte Caderousse, er konnte sie nicht wissen; nein, Herr Abbé, der Kleine log nicht.

 

Darum beauftragte er mich, sein Unglück aufzuklären, was er nie selbst zu tun imstande gewesen war, und sein Andenken zu reinigen, wenn ein Flecken darauf ruhte.

 

Und der Blick des Abbés wurde immer starrer und verschlang fast den düstern Ausdruck, der auf Caderousses Antlitz hervortrat.

 

Ein reicher Engländer, fuhr der Abbé fort, sein Unglücksgefährte, der das Gefängnis bei der zweiten Restauration verließ, war Besitzer eines Diamanten von großem Werte. Als er von Dantes, der ihn während einer Krankheit, die er ausgestanden, wie ein Bruder gepflegt hatte, Abschied nahm, wollte er ihm einen Beweis seiner Dankbarkeit zurücklassen und gab ihm diesen Diamanten. Statt sich desselben zu bedienen, um die Gefängniswärter zu bestechen, die den Edelstein ja nehmen und ihn hernach verraten konnten, bewahrte er ihn stets als ein kostbares Kleinod, falls er aus dem Gefängnis käme, denn wenn ihm dies gelang, so war sein Glück durch den Verkauf dieses Diamanten allein gesichert.

 

Es war also, wie Sie sagen, ein Diamant von großem Werte? fragte Caderousse mit glühenden Augen.

 

Alles beziehungsweise, erwiderte der Abbé; er war für Edmond von großem Werte; man hat den Stein auf fünfzigtausend Franken geschätzt.

 

Fünfzigtausend Franken! rief Caderousse; er war also so groß wie eine Nuß?

 

Nein, nicht ganz; doch Sie mögen selbst urteilen, ich habe ihn bei mir. Und der Abbé zog aus seiner Tasche ein kleines Futteral von schwarzem Saffianleder, öffnete es und ließ vor Caderousses geblendeten Augen den herrlichen Stein funkeln, der in einen Ring von bewunderungswürdiger Arbeit gefaßt war.

 

Und das ist fünfzigtausend Franken wert? fragte Caderousse gierig.

 

Ohne die Fassung, die auch ihren Preis hat, sagte der Abbé, machte das Futteral zu und steckte den Diamanten, der in Caderousses Phantasie fortfunkelte, in seine Tasche.

 

 

Aber woher besitzen Sie diesen Diamanten, Herr Abbé? fragte Caderousse; haben Sie ihn von Edmond?

 

Ja, als sein Testamentsvollstrecker. Ich hatte drei gute Freunde und eine Braut, sagte er zu mir; alle vier, ich bin überzeugt, beklagen mich bitterlich; der eine dieser Freunde hieß Caderousse.

 

Caderousse bebte.

 

Der andere, fuhr der Abbé fort, ohne daß er Caderousses Erregung wahrzunehmen schien, hieß Danglars; der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls …

 

Ein teuflisches Lächeln entstellte Caderousses Züge, und er machte eine Bewegung, um den Abbé zu unterbrechen.

 

Warten Sie, sagte der Abbé, lassen Sie mich vollenden, und wenn Sie etwas zu bemerken haben, so können Sie es dann sogleich tun. Der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls und hieß Fernand; der Name meiner Braut war … Ich erinnere mich des Namens der Braut nicht mehr, sagte der Abbé.

 

Mercedes.

 

Ah! ja, versetzte der Abbé mit unterdrücktem Seufzen. Die Braut hieß Mercedes; ja, so ist es. Sie gehen nach Marseille … Verstehen Sie? So sprach Dantes.

 

Ich verstehe.

 

Sie verkaufen diesen Diamanten, Sie machen fünf Teile und geben sie diesen guten Freunden, den einzigen Wesen, die mich auf Erden geliebt haben.

 

Wie, fünf Teile? fragte Caderousse; Sie haben mir nur vier Personen genannt!

 

Weil die fünfte tot ist, wie ich erfuhr … Die fünfte war Dantes‘ Vater.

 

Ach! ja, sagte Caderousse, erschüttert durch die Leidenschaften, die sich in seinem Innern durchkreuzten; ach! ja, der arme Mann ist tot.

 

Ich habe das in Marseille erkundet, erwiderte der Abbé, der Mühe hatte, gleichgültig zu erscheinen; aber der Tod ist schon so lange erfolgt, daß ich über die näheren Umstände nichts erfahren konnte … Wissen Sie vielleicht etwas von dem Ende des Greises?

 

Ei! erwiderte Caderousse, wer kann das besser wissen, als ich? … Ich wohnte Tür an Tür mit dem guten Mann.

 

… Ei! mein Gott; ja, ein Jahr nach dem Verschwinden seines Sohnes starb der arme Greis!

 

Woran starb er?

 

Die Ärzte nannten die Krankheit; er starb, glaube ich, an einer Art Magendarmentzündung; seine Bekannten sagten, er sei vor Schmerz gestorben; … ich aber, der ich ihn beinahe verscheiden sah, sage, er starb …

 

Woran? versetzte der Priester voll Angst.

 

Hungers!

 

Hungers? rief der Abbé, von seinem Schemel aufspringend; Hungers! Die schlechtesten Tiere sterben nicht Hungers; die Hunde, die in den Straßen umherirren, finden eine mitleidige Hand, die ihnen ein Stück Brot zuwirft, und ein Mensch, ein Christ ist vor Hunger gestorben, mitten unter andern Menschen, die sich Christen nannten, wie er? Unmöglich! oh! das ist unmöglich!

 

Was ich gesagt habe, habe ich gesagt, sagte Caderousse.

 

Und du hast unrecht gehabt, rief eine Stimme auf der Treppe; worein mischst du dich?

 

Die Männer wandten sich um und erblickten durch das Treppengeländer Carcontes fiebrigen Kopf; sie hatte sich bis hierher geschleppt und belauschte, auf der letzten Stufe sitzend und den Kopf auf ihre Knie stützend, das Gespräch.

 

Worein mischst du dich, Frau? entgegnete Caderousse. Der Herr verlangt Auskunft, die Höflichkeit will, daß ich ihm entspreche.

 

Ja, aber die Klugheit will, daß du ihm die Auskunft weigerst. Wer sagt dir, in welcher Absicht man dich zum Sprechen veranlaßt, Dummkopf?

 

In einer vortrefflichen, Madame, dafür stehe ich Ihnen, versetzte der Abbé. Ihr Gatte hat nichts zu befürchten, falls er offenherzig antwortet!

 

Nichts zu befürchten … ja, man fängt mit schönen Versprechungen an, hernach beschränkt man sich darauf, zu sagen, man habe nichts zu befürchten; dann geht man und hält nichts von dem, was man versprochen hat, und eines Morgens bricht das Unglück über die armen Leute herein, ohne daß man weiß, woher es kommt.

 

Seien Sie unbesorgt, gute Frau, erwiderte der Abbé, das Unglück wird von meiner Seite nicht über Sie kommen, dafür stehe ich.

 

Die Carconte brummte ein paar Worte, die man nicht verstehen konnte, ließ ihren Kopf wieder auf die Knie sinken, zitterte, fortwährend vom Fieber geschüttelt, und stellte es ihrem Manne frei, das Gespräch fortzusetzen, jedoch nur so, daß sie kein Wort davon verlor.

 

Mittlerweile hatte der Abbé einige Schluck Wasser getrunken und sich etwas gesammelt.

 

Dieser unglückliche Greis, fuhr er fort, war also dergestalt von aller Welt verlassen, daß er eines solchen Todes starb?

 

Oh! Herr, antwortete Caderousse, nicht als hätten ihn Mercedes, die Katalonierin, oder Herr Morel verlassen, aber der unglückliche Greis hatte einen solchen Widerwillen gegen Fernand gefaßt, gerade gegen den, fügte Caderousse mit einem ironischen Lächeln bei, den Dantes Ihnen als einen seiner Freunde bezeichnete.

 

Er war es also nicht? fragte der Abbé.

 

Kann man der Freund eines Menschen sein, dessen Frau man begehrt? Dantes, der ein Goldherz war, nannte alle diese Leute seine Freunde. Armer Edmond! … Es ist besser, daß er nichts erfahren hat; … es hätte ihn zu sehr gequält, ihnen im Augenblick des Todes verzeihen zu sollen. Und was man auch sagen mag, fuhr Caderousse in seiner bilderreichen Sprache fort, mir graut noch mehr vor dem Fluche der Toten, als vor dem Hasse der Lebendigen.

 

Schwachkopf, sagte die Carconte.

 

Sie wissen also, was dieser vermeintliche Freund gegen Dantes getan hat? fragte der Abbé.

 

Ob ich es weiß! Ich glaube wohl!

 

Gaspard, tu, was du willst, ’s ist deine Sache, rief die Frau oben von der Treppe herab, doch wenn du mir Gehör schenktest, sagtest du nichts.

 

Diesmal glaube ich, daß du recht hast, Frau.

 

Sie wollen also nichts sagen? versetzte der Abbé.

 

Wozu soll es nützen? sagte Caderousse. Wenn der Kleine noch am Leben wäre und zu mir käme, um einmal alle seine Freunde und Feinde kennen zu lernen, dann wohl; aber er liegt unter der Erde, wie Sie mir sagen, er kann keinen Haß mehr haben, er kann sich nicht mehr rächen, folglich ausgelöscht die ganze Geschichte!

 

Ich soll also diesen Leuten, die Sie für unwürdige und falsche Freunde erklären, eine für die Treue bestimmte Belohnung geben?

 

Es ist wahr, Sie haben recht, erwiderte Caderousse. Was wäre überdies für sie jetzt das Legat des armen Edmond? Ein in das Meer fallender Tropfen Wasser.

 

Abgesehen davon, daß dich diese Leute mit einer Gebärde vernichten können, sagte die Fran.

 

Wieso? Diese Menschen sind also reich und mächtig geworden?

 

Sie kennen Ihre Geschichte nicht?

 

Nein; erzählen Sie!

 

Caderousse schien einen Augenblick nachzudenken und sprach sodann: Nein, es wäre in der Tat zu lang.

 

Sie mögen nach Ihrem Belieben schweigen, mein Freund, versetzte der Abbé mit dem Tone der größten Gleichgültigkeit, und ich ehre Ihre Bedenklichkeiten; sprechen wir nicht mehr davon! Womit wurde ich beauftragt? Mit einer einfachen Förmlichkeit. Ich werde also diesen Diamanten verkaufen.

 

Und er zog den Edelstein aus der Tasche, öffnete das Futteral und ließ ihn abermals vor Caderousses geblendeten Augen glänzen.

 

Sieh doch, Fran, sagte dieser mit heiserer Stimme.

 

Ein Diamant? sagte die Carconte, aufstehend und mit ziemlich festem Schritte die Treppe herabsteigend. Was ist’s mit diesem Diamanten?

 

Hast du denn nicht gehört, Frau? Es ist ein Diamant, den uns der Kleine vermacht hat, zuerst seinem Vater, sodann Fernand, Danglars, mir und Mercedes, seiner Braut. Dieser Diamant ist fünfzigtausend Franken wert.

 

Oh, der schöne Juwel! rief sie.

 

Also gehört der fünfte Teil dieser Summe uns? fragte Caderousse.

 

Ja, antwortete der Abbé, nebst dem Teile des Vaters von Dantes, den ich unter euch vier zu verteilen mich berechtigt glaube.

 

Und warum unter uns vier? fragte Caderousse.

 

Weil ihr Edmonds vier Freunde seid.

 

Verräter sind keine Freunde, murmelte dumpf die Frau.

 

Ja, ja, sagte Caderousse, das sagte ich auch. Es ist eine Entheiligung, ein Frevel, den Verrat, vielleicht das Verbrechen zu belohnen.

 

Sie wollen es so haben, erwiderte der Abbé und steckte ruhig den Diamanten in die Tasche seiner Soutane. Nun geben Sie mir die Adresse von Edmonds Freunden, damit ich seinen letzten Willen vollstrecken kann.

 

Der Schweiß floß in schweren Tropfen über Caderousses Stirn; er sah den Abbé aufstehen, sich nach der Tür wenden, als wollte er seinem Pferde einen Blick zuwerfen, und zurückkommen. Caderousse und seine Frau schauten sich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an.

 

Der Diamant wäre ganz unser! sagte Caderousse.

 

Glaubst du? erwiderte seine Frau.

 

Ein Geistlicher wird uns gewiß nicht täuschen wollen.

 

Tu, was du willst. Ich wenigstens mische mich nicht drein.

 

Und sie ging fieberschauernd wieder die Treppe hinauf. Ihre Zähne klapperten trotz der Glühhitze. Auf der letzten Stufe blieb sie einen Augenblick stehen und rief: Bedenke wohl, Gaspard.

 

Ich bin entschlossen, antwortete Caderousse.

 

Die Carconte ging, einen Seufzer ausstoßend, in ihre Stube zurück; man hörte die Decke unter ihren Tritten krachen, bis sie ihren Lehnstuhl wieder erreicht hatte, in dem sie sich schwerfällig niederließ.

 

Ich glaube in der Tat, es ist das beste, was Sie tun können, mir alles zu sagen, sagte der Priester; nicht als ob mir viel daran gelegen wäre, die Dinge zu erfahren, die Sie mir verbergen wollen; aber es wird besser sein, wenn Sie mich in den Stand setzen, das Vermächtnis nach dem Willen des Erblassers zu verteilen.

 

Ich hoffe dies, antwortete Caderousse mit von Hoffnung und Gier geröteten Wangen. Er ging an die Tür seines Wirtshauses, verschloß sie und schob zu größerer Sicherheit den Nachtriegel vor. Mittlerweile hatte der Abbé seinen Platz gewählt, um mit Bequemlichkeit zu hören; er saß so in einer Ecke, daß er im Schatten blieb, während das volle Licht auf Caderousses Gesicht fiel. Das Haupt geneigt, die Hände zusammengelegt oder vielmehr krampfhaft zusammengepreßt, schickte er sich an, mit der größten Aufmerksamkeit auf jedes Wort zu lauschen. Caderousse rückte einen Schemel vor und setzte sich ihm gegenüber.

 

Vergiß nicht, daß du’s gegen meinen Willen tust, sagte die zitternde Stimme der Carconte, als hätte sie durch den Boden die Szene unten sehen können.

 

Gut, gut! rief Caderousse; genug, ich nehme alles auf mich.

 

Und er fing an.

 

Die Erzählung.

 

Die Erzählung.

 

Vor allem, Herr, sagte Caderousse, vor allem muß ich Sie bitten, mir zu versprechen, daß Sie, wenn Sie von den Umständen Gebrauch machen, die ich Ihnen mitteilen werde, nie sagen, von wem diese Mitteilung herrührt; denn die Leute, von denen ich zu sprechen habe, sind reich und mächtig, und wenn sie mich nur mit dem Finger berührten, würden sie mich wie Glas zerbrechen.

 

Seien Sie unbesorgt, mein Freund, ich bin Priester, und die Bekenntnisse sterben in meiner Brust. Erinnern Sie sich, daß wir keinen andern Zweck haben als den, den letzten Willen unseres Freundes würdig zu erfüllen. Sprechen Sie also ohne Schonung, wie ohne Haß, sagen Sie die volle Wahrheit! Ich kenne die Personen nicht, von denen die Rede sein wird, und werde sie wohl nie kennen lernen; überdies bin ich Italiener und nicht Franzose; ich gehöre Gott und nicht den Menschen und kehre in mein Kloster zurück, das ich nur verlassen habe, um den letzten Willen eines Sterbenden zu vollziehen.

 

Dieses bestimmte Versprechen schien Caderousse einige Sicherheit zu verleihen. In diesem Falle, versetzte er, will und muß ich Ihnen die Täuschung über diejenigen benehmen, die der arme Edmond für treu und redlich hielt.

 

Fangen Sie mit seinem Vater an, bitte. Edmond hat mit mir viel von dem Greise gesprochen, für den er eine tiefe Liebe hegte.

 

Diese Geschichte ist traurig, mein Herr, erwiderte Caderousse seufzend. Sie kennen wahrscheinlich den Anfang?

 

Ja, versetzte der Abbé, Edmond hat mir die Sache bis zu dem Augenblick erzählt, wo er in einer kleinen Schenke in der Nahe von Marseille verhaftet wurde, und nie hat er eine von den fünf Personen wiedergesehen, die ich Ihnen nannte, nie hat er von ihnen sprechen hören.

 

Nun wohl, als Dantes einmal verhaftet war, lief Herr Morel weg, um Erkundigungen einzuziehen; sie fielen sehr traurig aus. Der Greis kehrte allein nach Hause zurück, legte weinend seinen Hochzeitsrock zusammen, schritt den ganzen Tag in seinem Zimmer auf und ab und ging abends nicht schlafen; denn ich wohnte unter ihm und hörte ihn die ganze Nacht umhergehen; ich muß sagen, ich schlief selbst auch nicht. Der Schmerz dieses armen Vaters tat mir sehr wehe, und jeder seiner Tritte zermalmte mir das Herz. Am andern Tage kam Mercedes nach Marseille, in der Absicht, den Staatsanwalt um seinen Schutz anzuflehen; sie erreichte nichts; sie besuchte zugleich auch den Greis. Als sie sah, daß er so düster und niedergeschlagen war, daß er die Nacht, ohne sich zu Bette zu legen, zugebracht und seit dem vorhergehenden Tage nichts gegessen hatte, wollte sie ihn mit sich nehmen, um ihn zu pflegen; aber der Greis willigte nicht ein. Nein, sagte er, ich werde das Haus nicht verlassen, denn mich liebt mein armer Sohn vor allen andern, und wenn er aus dem Gefängnis kommt, wird er zuerst zu mir laufen. Was würde er sagen, wenn ich ihn nicht hier erwartete? Ich belauschte dies alles durch die Wand, denn es wäre mir lieb gewesen, Mercedes hätte ihn bestimmt, ihr zu folgen; der Tag und Nacht über mir erschallende Tritt ließ mir keinen Augenblick Ruhe.

 

Aber gingen Sie denn nicht selbst zu dem Greise hinaus, um ihn zu trösten? fragte der Priester.

 

Ah! Herr, erwiderte Caderousse, man tröstet nur die, welche getröstet sein wollen, er aber wollte dies nicht. Überdies kam es mir vor, als hätte er einen Widerwillen gegen meinen Anblick. In einer Nacht jedoch, da ich sein Schluchzen hörte, konnte ich nicht widerstehen und ging hinaus; als ich jedoch an die Tür kam, schluchzte er nicht mehr, er betete. Ich kann Ihnen nicht wiederholen, welche beredten Worte, welche erbarmenswerten Bitten er fand; es war mehr als Frömmigkeit, es war mehr als Schmerz; ich, der ich kein Heuchler bin und die Jesuiten nicht liebe, sagte mir auch an diesem Tage: Es ist ein Glück, daß ich allein bin, und daß der liebe Gott mir keine Kinder geschenkt hat, denn wenn ich Vater wäre und empfände einen Schmerz, wie der arme Greis, und könnte weder in meinem Geiste, noch in meinem Herzen finden, was er dem guten Gotte sagt, so stürzte ich mich geradenwegs ins Meer, um nicht länger zu leiden.

 

Armer Vater! murmelte der Priester.

 

Von Tag zu Tag lebte er einsamer und abgeschiedener; Herr Morel und Mercedes kamen oft, ihn zu besuchen, aber seine Tür war verschlossen, und er antwortete nicht, obgleich ich bestimmt wußte, daß er zu Hause war. Als er eines Tages, gegen seine Gewohnheit, Mercedes einließ und das arme Kind, selbst in Verzweiflung, ihn zu trösten suchte, sagte er: Glaube mir, meine Tochter, er ist tot … und statt daß wir ihn erwarten, erwartet er uns. Ich bin sehr glücklich, denn ich bin älter und werde ihn folglich zuerst wiedersehen.

 

Bei aller Gutmütigkeit hört man am Ende doch auf, die Menschen zu besuchen, die einen traurig machen; so blieb der alte Dantes zuletzt ganz allein. Ich sah nur noch von Zeit zu Zeit unbekannte Leute zu ihm hinaufgehen, die mit irgend einem schlecht verborgenen Päckchen zurückkamen; ich begriff, welche Bewandtnis es mit diesen Päckchen hatte; er verkaufte nach und nach, was er besaß, um zu leben. Endlich nahm es bei dem guten Mann ein Ende mit seiner armseligen Habe … Er war drei Mietzinse schuldig, man drohte ihm mit Hinauswerfen. Er bat um acht Tage Geduld, die man ihm bewilligte. Ich erfuhr diesen Umstand, weil der Hauseigentümer mich gleich darauf besuchte. Während der drei ersten Tage hörte ich ihn wie gewöhnlich auf und ab gehen; am vierten … vernahm ich nichts mehr … Ich ging hinauf, die Tür war verschlossen; durch das Schlüsselloch sah ich den Greis jedoch so bleich und entstellt, daß ich ihn für sehr krank hielt, Herrn Morel benachrichtigen ließ und zu Mercedes lief. Beide eilten herbei; Herr Morel brachte einen Arzt; der Arzt erkannte eine Magendarmentzündung und verordnete Diät. Ich war dabei, Herr, und werde nie das Lächeln des Greises bei dieser Verordnung vergessen. Von nun an öffnete er seine Tür, er hatte eine Entschuldigung, daß er nicht mehr aß; der Arzt hatte Diät verordnet.

 

Der Abbé stieß einen Seufzer aus.

 

Mercedes kam wieder; sie fand ihn so verändert, daß sie ihn wie das erste Mal in ihr Haus bringen lassen wollte. Es war dies auch Herrn Morels Ansicht, der ihn mit Gewalt dorthin schaffen wollte; doch der Greis schrie dergestalt, daß sie Angst bekamen. Mercedes blieb an seinem Bett. Herr Morel entfernte sich, nachdem er Mercedes durch ein Zeichen bedeutet hatte, er lasse eine Börse auf dem Kamine. Aber auf Grund der Verordnung des Arztes wollte der Greis nichts zu sich nehmen. Endlich, nach nenn Tagen der Verzweiflung und Enthaltsamkeit, verschied er mit Flüchen für die Urheber seines Unglücks. Zu Mercedes aber sagte er noch: Wenn du meinen Edmond wiedersiehst, so sage ihm, ich sei, ihn segnend, gestorben.

 

Der Abbé stand auf und ging zweimal im Zimmer auf und ab, wobei er seine zitternde Hand an seine trockene Kehle legte.

 

Und Sie glauben, er starb …

 

Hungers, mein Herr, Hungers, dafür stehe ich, so wahr wir hier zwei Christen sind, antwortete Caderousse.

 

Der Abbé ergriff mit krampfhafter Hand noch das halbvolle Glas, leerte es auf einen Zug und setzte sich nieder, die Augen gerötet und die Wangen bleich.

 

Gestehen Sie, daß dies ein großes Unglück ist, sagte er mit heiserer Stimme.

 

Um so größer, mein Herr, als es nicht Gott herbeigeführt hat, sondern die Menschen allein schuld daran sind.

 

Wenden wir uns also diesen Menschen zu, doch vergessen Sie nicht, rief der Abbé mit beinahe drohender Miene, Sie haben mir alles zu sagen versprochen; wer sind die, denen es zuzumessen ist, daß der Sohn vor Verzweiflung und der Vater vor Hunger starb?

 

Zwei Menschen, die auf ihn eifersüchtig waren, der eine aus Liebe, der andere aus Ehrgeiz, Fernand und Danglars.

 

Was haben sie aus Eifersucht getan?

 

Sie denunzierten Edmond als bonapartistischen Agenten.

 

Welcher von beiden tat es? Welcher von beiden ist der wahre Schuldige?

 

Beide, Herr; Danglars schrieb die Anzeige mit der linken Hand, um seine Schrift zu verstellen, und Fernand schickte sie ab.

 

Ja, so ist es, murmelte der Abbé … Oh! Faria! Faria! wie gut kanntest du die Menschen! Waren Sie auch dabei?

 

Ich? versetzte Caderousse erstaunt, wer hat Ihnen gesagt, daß ich dabei war?

 

Der Abbé sah, daß er zu weit gegangen war, und erwiderte: Niemand; doch um alle diese Einzelheiten so genau zu kennen, müssen Sie notwendig Zeuge gewesen sein.

 

Das ist wahr, sagte Caderousse mit erstickter Stimme, ich war dabei.

 

Und Sie haben sich dieser Schändlichkeit nicht widersetzt? Folglich sind Sie ein Mitschuldiger!

 

Herr, sie hatten mich so trunken gemacht, daß ich beinahe die Vernunft verlor. Ich sah nur noch durch eine Wolke. Alles, was ein Mensch in einem solchen Zustande sagen kann, sagte ich, aber beide erwiderten, sie hätten nur einen Scherz machen wollen, und dieser Scherz hätte keine Folgen.

 

Doch am andern Tage sahen Sie, daß er Folgen hatte; Sie sagten aber nichts und waren dabei, als man ihn verhaftete.

 

Ja, Herr, ich war dabei und wollte alles sagen, Danglars hielt mich jedoch zurück. Wenn er etwa schuldig ist, sagte er zu mir, wenn er wirklich an der Insel Elba angehalten, wirklich einen Brief für das bonapartistische Komitee in Paris mitgenommen hat, wenn dieser Brief bei ihm gesunden wird, so werden die, welche ihn unterstützt haben, als seine Mitschuldigen betrachtet werden. Ich fürchtete mich und schwieg; ich gestehe, es war Feigheit, aber kein Verbrechen.

 

Ich begreife, Sie ließen die Sache eben gehen.

 

Ja, Herr, und das plagt mein Gewissen bei Tag und bei Nacht. Ich schwöre Ihnen, ich bitte Gott sehr oft um Verzeihung, und zwar um so mehr, als diese Handlung, die einzige, die ich mir in meinem ganzen Leben vorzuwerfen habe, ohne Zweifel die Ursache meines Unglücks ist. Ich büße einen Augenblick der Selbstsucht und sage auch immer zu Carconte, wenn sie sich beklagt: Schweig, Frau, Gott will es so.

 

Und Caderousse neigte das Haupt mit allen Zeichen wahrer Reue.

 

Gut, sagte der Abbé, Sie haben offenherzig gesprochen; sich so anklagen heißt Verzeihung verdienen.

 

Leider ist Edmond tot und hat mir nicht verziehen.

 

Er wußte es nicht.

 

Aber nun weiß er es vielleicht, sagte Caderousse. Man sagt, die Toten wissen alles.

 

Es trat ein kurzes Stillschweigen ein; der Abbé war aufgestanden und ging nachdenklich auf und ab; dann kehrte er zu seinem Platze zurück und setzte sich wieder.

 

Sie haben mir schon zwei- oder dreimal einen gewissen Herrn Morel genannt, sagte er. Wer war dieser Mann?

 

Der Reeder des Pharao, Dantes‘ Patron.

 

Und welche Rolle spielte er in dieser traurigen Geschichte?

 

Die Rolle eines redlichen, mutigen, liebevollen Mannes. Zwanzigmal verwendete er sich für Edmond; als der Kaiser zurückkehrte, schrieb er, bat er, drohte er dermaßen, daß er bei der zweiten Restauration als Bonapartist hart verfolgt wurde. Zwanzigmal kam er, wie ich Ihnen sagte, zu Dantes‘ Vater, um ihn in sein Haus zu nehmen, und einen oder zwei Tage vor seinem Tode ließ er, wie ich ebenfalls erwähnte, eine Börse auf dem Kamine, womit man die Schulden des guten Mannes bezahlte und seine Beerdigung besorgte, so daß der arme Greis wenigstens sterben konnte, wie er gelebt hatte, ohne jemand unrecht zu tun. Ich habe die Börse noch, eine große Börse von roter Seide.

 

Und dieser Herr Morel lebt noch? – Ja.

 

Dann muß er ein vom Himmel gesegneter Mann, er muß reich, er muß glücklich sein.

 

Caderousse lächelte bitter und erwiderte: Ja, wie ich.

 

Wie, Herr Morel wäre unglücklich? rief der Abbé.

 

Er ist der Armut nahe, mehr noch, er steht an der Grenze der Schande. Ja, nach 25 jähriger Arbeit, nachdem er die ehrenvollste Stellung in der Marseiller Handelswelt erlangt hatte, ist Herr Morel völlig zu Grunde gerichtet. Er hat in zwei Jahren fünf Schiffe verloren, drei Bankerotte erlitten, und seine einzige Hoffnung steht nun auf eben diesem Pharao, den der arme Dantes kommandierte; dieses Schiff soll mit einer Ladung Cochenille und Indigo aus Indien zurückkommen; bleibt es auch aus, wie die andern, so ist er verloren.

 

Hat der Unglückliche Frau und Kinder? fragte der Abbé.

 

Ja, er hat eine Frau, die sich wie eine Heilige benimmt; er hat eine Tochter, die einen Mann heiraten sollte, den sie liebt, den aber seine Familie ein zu Grunde gerichtetes Mädchen nicht heiraten lassen will; er hat endlich einen Sohn, der Leutnant ist. Doch Sie begreifen: alles dies verdoppelt den Schmerz des Armen, statt ihn zu mildern. Wäre er allein, so würde er sich einfach die Hirnschale zerschmettern.

 

Das ist furchtbar! murmelte der Abbé.

 

So belohnt Gott die Tugend! sagte Caderousse. Ich, der, abgesehen von dem, was ich Ihnen erzählte, nie eine schlechte Handlung begangen hat, bin im Elend. Wenn ich meine arme Frau am Fieber habe hinscheiden sehen, ohne etwas für sie tun zu können, werde ich Hungers sterben, wie der alte Dantes, während Fernand und Danglars sich auf dem Golde wälzen.

 

Wieso?

 

Weil sich bei ihnen alles zum Guten gewendet hat, wie sich bei ehrlichen Leuten alles zum Schlimmen wendet.

 

Was ist aus Danglars, dem Schuldigsten, dem Anstifter, geworden?

 

Er hat Marseille verlassen und ist auf Herrn Morels Empfehlung, der nichts von seinem Verbrechen wußte, bei einem spanischen Bankier als Commis eingetreten. Zur Zeit des spanischen Krieges beteiligte er sich an den Lieferungen für das französische Heer und hatte Glück; mit diesem ersten Gelde spielte er in Papieren und verdreifachte, vervielfachte sein Vermögen. Witwer von der Tochter des Bankiers, heiratete er sodann eine Witwe, Frau von Nargonne, Tochter des Herrn von Servieux, der Kammerherr des gegenwärtigen Königs ist und sich der höchsten Gunst erfreut. Er hatte sich zum Millionär gemacht, erhielt dann den Grafentitel und hat nun einen Palast in der Rue du Mont Blanc, zehn Pferde in seinen Ställen, sechs Lakaien in seinem Vorzimmer, und ich weiß nicht wieviel Millionen in seinen Kassen.

 

Ah! rief der Abbé mit einem seltsamen Ausdrucke, und er ist glücklich?

 

Glücklich … wer kann das sagen? Macht ein großes Vermögen das Glück aus, so ist Danglars glücklich.

 

Und Fernand?

 

Fernand war noch glücklicher, er hat zugleich Vermögen und Stellung; er wurde bald nach Dantes‘ Verhaftung zum Heere ausgehoben; ich ebenfalls, und da ich älter als Fernand und verheiratet war, so verwandte man mich beim Dienst an der Küste. Fernand wurde den aktiven Truppen eingereiht, kam mit seinem Regiment an die Grenze und wohnte der Schlacht bei Ligny bei. In der Nacht, die auf das Treffen folgte, stand er Schildwache vor der Tür eines Generals, der in geheimer Verbindung mit dem Feinde stand. In derselben Nacht sollte der General mit den Engländern eine Zusammenkunft haben; er schlug Fernand vor, ihn zu begleiten. Dieser willigte ein, verließ seinen Posten und folgte dem General. Was Fernand vor ein Kriegsgericht gebracht hätte, wenn Napoleon auf dem Throne geblieben wäre, diente ihm bei den Bourbonen zur Empfehlung. Er kehrte nach Frankreich als Unterleutnant zurück, und durch die Gunst des sehr angesehenen Generals wurde er 1823 Kapitän. Fernand war Spanier; er wurde deshalb in diplomatischen Diensten nach Madrid geschickt. Hier leistete er seinem Vaterlande so gute Dienste und bewährte sich in dem folgenden spanischen Feldzug so, daß er nach der Einnahme von Trocadero zum Obersten ernannt wurde und das Offizierskreuz der Ehrenlegion mit dem Baronentitel erhielt.

 

Verhängnis! Verhängnis! murmelte der Abbé.

 

Ja, doch hören Sie, das ist noch nicht alles. Als der Krieg beendigt war, fand Fernand, daß er bei dem langen Frieden, der in Westeuropa nun vorauszusehen war, wenig Aussicht auf Beförderung habe. Er erbat demnach von der Regierung die Erlaubnis, in den Reihen der griechischen Freiheitskämpfer gegen die Türkei zu dienen, während er doch in der französischen Armeeliste fortgeführt wurde. Einige Zeit nachher erfuhr man, daß der Baron von Morcerf, dies war der Name, den er führte, in die Dienste Ali Paschas mit dem Grade eines Generalinstruktors eingetreten war. Ali Pascha wurde getötet; aber ehe er starb, belohnte er Fernands Dienste, indem er ihm eine beträchtliche Summe zustellen ließ, mit der er nach Frankreich zurückkehrte, wo ihm sein Grad als Generalleutnant bestätigt wurde.

 

Und heute? fragte der Abbé.

 

Heute ist er Graf, Deputierter und besitzt ein prachtvolles Haus in Paris, Rue du Helder Nr. 27.

 

Der Abbé öffnete den Mund, zögerte einen Augenblick und sagte dann, sich selbst bezwingend: Und Mercedes? Man hat mir versichert, sie sei verschwunden.

 

Verschwunden, wie die Sonne verschwindet, um am andern Tage glänzender aufzugehen.

 

Sie hat also ebenfalls ihr Glück gemacht? fragte der Abbé mit ironischem Lächeln.

 

Mercedes ist in diesem Augenblicke eine der vornehmsten Damen von Paris, antwortete Caderousse.

 

Fahren Sie fort, sagte der Abbé; es ist mir, als hörte ich die Erzählung eines Traumes. Aber ich habe selbst so außerordentliche Dinge erlebt, daß mich die, welche Sie mir mitteilen, weniger in Erstaunen setzen.

 

Mercedes war anfangs in Verzweiflung über den Schlag, der ihr Edmond raubte. Ich sprach bereits von ihren Bitten bei dem Staatsanwalt und von ihrer Ergebenheit für Dantes‘ Vater. Mitten in ihrer Verzweiflung traf sie ein neuer Schmerz, das Scheiden Fernands, den sie, mit seinem Verbrechen nicht bekannt, als ihren Bruder betrachtete. Fernand reiste als Konskribierter zum Heer, Mercedes blieb allein.

 

Drei Monate verliefen für sie in Tränen; keine Kunde von Edmond, keine Nachricht von Fernand, nichts vor Augen, als einen Greis, der in seiner Verzweiflung hinstarb. Weder Geliebter, noch Freund war ihr geblieben. Plötzlich kam es ihr vor, als hörte sie einen bekannten Tritt; sie wandte sich ängstlich um, die Tür ging auf, und Fernand erschien in seiner Unterleutnants-Uniform. Es war nicht die Hälfte dessen, was sie beweinte, aber es war doch ein Teil ihres vergangenen Lebens, was zu ihr zurückkehrte. Sie faßte Fernands Hände mit einem Entzücken, das dieser für Liebe hielt, während es nur die Freude war, nicht mehr allein auf der Welt zu sein und endlich nach langen Stunden einsamer Trauer einen Freund wiederzusehen. Auch muß ich sagen, Fernand war ihr nie verhaßt gewesen, nur hatte sie ihn nie geliebt. Ein anderer besaß ihr ganzes Herz; dieser andere aber war abwesend, verschwunden, vielleicht tot. Bei diesem letzten Gedanken brach Mercedes in Schluchzen aus und rang die Hände vor Schmerz; aber der Gedanke, den sie verwarf, wenn er ihr von einem andern zugeflüstert wurde, kehrte jetzt von selbst in ihrem betrübten Geiste ein. Überdies sagte der alte Dantes unablässig zu ihr: Unser Edmond ist tot, denn wenn er nicht tot wäre, käme er zu uns zurück.

 

Der Greis starb, wie gesagt; hätte er gelebt, so würde Mercedes vielleicht nie die Frau eines andern geworden sein; denn er wäre da gewesen, um ihr ihre Untreue vorzuwerfen. Fernand sah dies ein. Als er daher den Tod des Greises erfuhr, kehrte er zurück. Diesmal war er Leutnant. Bei seiner ersten Reise hatte er Mercedes kein Wort von Liebe gesprochen, bei der zweiten erinnerte er sie an seine heiße Zuneigung. Ein Jahr war inzwischen vergangen; sie forderte noch sechs Monate, um Edmond zu erwarten und zu beweinen.

 

Das macht im ganzen achtzehn Monate, sagte der Abbé mit bitterem Lächeln. Was kann der angebetetste Geliebte mehr fordern? Dann murmelte er die Worte des englischen Dichters: Schwachheit, dein Name ist Weib.

 

Sechs Monate nachher, fuhr Caderousse fort, fand die Hochzeit in der Kirche des Accoules statt.

 

Es war dieselbe Kirche, in der sie Edmond heiraten sollte, murmelte der Abbé, nur war’s ein anderer Bräutigam.

 

Mercedes heiratete also, sagte Caderousse; doch obgleich sie allen Augen ruhig erschien, wurde sie doch ohnmächtig, als sie vor der Reserve vorbeikam, wo achtzehn Monate vorher ihre Verlobung mit dem gefeiert worden war, den sie noch liebte, wenn sie in den Grund ihres Herzens zu sehen wagte. Glücklicher, aber nicht ruhiger, – denn ich sah ihn in jener Zeit, und er fürchtete beständig die Rückkehr Edmonds, – war Fernand sogleich darauf bedacht, seine Frau aus der Gegend zu entfernen und sich selbst zu verbannen; er hatte zugleich zu viele Gefahren zu befürchten und zu viele Erinnerungen zu bekämpfen, wenn er bei den Kataloniern blieb. Acht Tage nach der Hochzeit reisten sie ab.

 

Sahen Sie Mercedes wieder? fragte der Priester.

 

Ja, zur Zeit des spanischen Krieges, in Perpignan, wo Fernand sie zurückgelassen hatte; sie beschäftigte sich damals mit der Erziehung ihres Sohnes.

 

Der Abbé bebte. Ihres Sohnes? sagte er.

 

Ja, antwortete Caderousse, des kleinen Albert.

 

Aber um den Sohn zu erziehen, sagte der Abbé, muß sie wohl selbst erst noch eine Ausbildung erhalten haben? Es ist mir, als hätte ich von Edmond gehört, sie sei die Tochter eines einfachen Fischers, schön, aber ungebildet gewesen?

 

Oh, kannte er denn seine Braut so schlecht? versetzte Caderousse. Mercedes hätte Königin werden können, wenn die Krone nur auf den schönsten und gescheitesten Köpfen getragen werden sollte. Als ihre Verhältnisse besser wurden, lernte sie wohl auch zeichnen, Musik und was weiß ich alles, aber ich glaube, unter uns gesagt, daß sie dies alles nur tat, um sich zu zerstreuen, um zu vergessen, und daß sie nur so viele Dinge in ihren Kopf brachte, um das zu betäuben, was ihr Herz erfüllte. Nun scheint es jetzt, Vermögen und Ehre haben sie ohne Zweifel getröstet. Sie ist reich, sie ist Gräfin, und dennoch … – Caderousse schwieg.

 

Was dennoch?

 

Dennoch bin ich überzeugt, daß sie nicht glücklich ist.

 

Warum glauben Sie das?

 

Als ich selbst gar sehr im Elend war, dachte ich, meine ehemaligen Freunde würden mich unterstützen. Ich begab mich zu Danglars, der mich nicht einmal empfing. Ich ging zu Fernand, und dieser ließ mir hundert Franken durch seinen Kammerdiener zustellen.

 

Also sahen Sie weder den einen noch den andern?

 

Nein, aber Frau von Morcerf hat mich gesehen. – Während ich hinausging, fiel eine Börse zu meinen Füßen! Sie enthielt fünfundzwanzig Louisd’or. Ich schaute rasch empor und erblickte Mercedes, die den Laden wieder schloß.

 

Und der Staatsanwalt, Herr von Villefort? fragte der Abbé.

 

Oh! er war nicht mein Freund gewesen, ich kannte ihn nicht und hatte nichts von ihm zu fordern.

 

Doch wissen Sie nicht, was aus ihm geworden ist, und welchen Teil er an Edmonds Unglück gehabt hat?

 

Nein, ich weiß nur, daß er einige Zeit, nachdem er Edmond hatte verhaften lassen, Fräulein von Saint-Meran heiratete und bald darauf Marseille verließ. Ohne Zweifel hat ihm das Glück gelächelt, wie den anderen, ohne Zweifel ist er reich wie Danglars, geachtet wie Fernand; ich allein bin, wie Sie sehen, arm, elend und von Gott vergessen geblieben. Sie täuschen sich, mein Freund, sagte der Abbé, Gott kann zuweilen scheinbar vergessen, wenn seine Gerechtigkeit ruht, aber es kommt immer ein Augenblick, wo er sich erinnert, und hier ist der Beweis davon.

 

Bei diesen Worten zog der Abbé den Diamanten aus der Tasche, reichte ihn Caderousse und sagte: Nehmen Sie diesen Diamanten, er gehört Ihnen.

 

Wie, mir allein? rief Caderousse; oh! Herr, Sie scherzen?

 

Dieser Diamant sollte unter Edmonds Freunde verteilt werden! Edmond hatte nur einen Freund, die Verteilung wird also unnötig. Nehmen Sie den Stein und verkaufen sie ihn; ich wiederhole, er ist fünfzigtausend Franken wert, und diese Summe wird hoffentlich genügen, um Sie der Armut zu entziehen.

 

Oh! Herr, sagte Caderousse schüchtern, eine Hand ausstreckend und mit der andern den Schweiß abwischend, der auf seiner Stirn perlte, oh! Herr, treiben Sie nicht Spott mit dem Glück und der Verzweiflung eines Menschen.

 

Ich weiß, was Glück und was Verzweiflung ist, und werde nie damit Kurzweil treiben. Nehmen Sie; dagegen …

 

Caderousse, der bereits den Diamanten berührte, zog seine Hand zurück.

 

Dagegen, fuhr der Abbé lächelnd fort, geben Sie mir die rote seidene Börse, die Herr Morel auf dem Kamin des alten Dantes zurückließ.

 

Immer mehr erstaunt, ging Caderousse an einen großen Schrank von Eichenholz, öffnete ihn und reichte dem Abbé eine lange Börse von erbleichter roter Seide; der Abbé nahm sie und gab dafür Caderousse den Diamanten.

 

Oh! Sie sind ein Mann Gottes, rief Caderousse, denn es wußte in der Tat niemand, daß Edmond Ihnen den Diamanten übergeben hatte, und Sie konnten ihn behalten.

 

Gut, sagte der Abbé zu sich selbst, du hättest es getan, wie mir scheint.

 

Der Abbé stand auf, nahm seinen Hut und seine Handschuhe und sagte: Ist alles, was Sie gesagt haben, wahr, und kann ich Ihnen in allen Punkten glauben?

 

Sehen Sie, Herr Abbé, antwortete Caderousse, dort in jener Ecke ist ein Christus von geweihtem Holze, hier auf dieser Kiste liegt das Evangelienbuch meiner Frau, öffnen Sie dieses Buch, und ich will Ihnen darauf schwören, ich schwöre Ihnen bei dem Heile meiner Seele, bei meinem christlichen Glauben, daß ich Ihnen alles so gesagt habe, wie es vorgefallen ist.

 

Es ist gut, sagte der Abbé, überzeugt, daß Caderousse die Wahrheit gesagt habe, es ist gut; möge Ihnen dieses Geld Nutzen bringen! Leben Sie wohl, ich kehre zurück, um fern von den Menschen zu leben, die so viel Böses tun.

 

Und sich mit Mühe den begeisterten Ergüssen Caderousses entziehend, verließ der Abbé das Zimmer, stieg zu Pferde, grüßte zum letztenmal den Wirt, der sich in geräuschvollen Abschiedsworten sozusagen verwickelte, und entfernte sich in der Richtung, in der er gekommen war.

 

Als sich Caderousse umwandte, sah er hinter sich die Carconte, bleicher und zitternder als je.

 

Ist es wahr, was ich gehört habe? sagte sie.

 

Was? Daß er uns den Diamanten für uns ganz allein gegeben hat? entgegnete Caderousse beinahe närrisch vor Freude.

 

Und wenn er falsch wäre? sagte sie.

 

Falsch, murmelte er, falsch … Und warum sollte mir dieser Mann einen falschen Diamanten gegeben haben?

 

Um dein Geheimnis zu besitzen, ohne es zu bezahlen, Schwachkopf!

 

Caderousse blieb einen Augenblick wie betäubt von dem Gewichte dieser Mutmaßung, bald aber nahm er seinen Hut, setzte ihn auf das rote um seinen Kopf gewickelte Taschentuch und rief: Oh! das werden wir wohl erfahren.

 

Auf welche Art?

 

Es ist Messe in Beaucaire, es sind Pariser Juweliere dort, ich will ihnen den Stein zeigen. Hüte das Haus, Frau, in zwei Stunden bin ich zurück.

 

Und er stürzte aus dem Hause und lief auf der Straße fort. Fünfzigtausend Franken, murmelte die Carconte, als sie allein war, das ist Geld … aber es ist kein Vermögen.

 

Eheliche Szene.

 

Eheliche Szene.

 

Morel, Chateau-Renaud und Debray waren aus der Gesellschaft gemeinsam fortgeritten bis zum Platze Ludwigs XVI.; hier trennten sich die jungen Leute; Morel schlug den Weg über die Boulevards ein, Chateau-Renaud ritt über den Pont de la Revolution, und Debray folgte dem Kai.

 

Morel und Chateau-Renaud kehrten zweifellos nach Hause zurück; nicht so Debray, denn er ritt im scharfen Trab nach der Rue de la Michodière zu und kam vor Herrn Danglars‘ Tür gerade in dem Augenblick an, als der Wagen des Herrn von Villefort, nachdem er diesen und seine Frau im Faubourg Saint-Honoré abgesetzt hatte, anhielt, um die Baronin nach Hause zu bringen.

 

Als ein im Hause bekannter Mann ritt Debray zuerst in den Hof, warf den Zügel einem Bedienten zu und kehrte dann an den Wagenschlag zurück, empfing Frau Danglars und bot ihr den Arm, um sie in ihre Gemächer zu führen. Sobald das Tor geschlossen war und die Baronin und Debray sich im Hofe befanden, fragte der letztere: Was haben Sie, Herminie, und warum ist Ihnen so übel geworden bei der Geschichte oder vielmehr Fabel, die der Graf erzählte?

 

Weil ich heute abend abscheulich aufgelegt war.

 

Nein, Herminie, Sie werden mich das nicht glauben machen. Sie waren im Gegenteil in vortrefflicher Stimmung, als Sie beim Grafen ankamen. Es hat Ihnen irgend jemand etwas getan. Erzählen Sie es mir! Sie wissen wohl, ich dulde es nicht, daß Ihnen eine Beleidigung zugefügt wird.

 

Ich versichere Ihnen, Sie täuschen sich, Lucien, es ist so, wie ich Ihnen gesagt habe.

 

Frau Danglars stand offenbar unter dem Einfluß einer jener Nervenreizungen, von denen die Frauen sich selbst keine Rechenschaft geben können, oder sie hatte, wie Debray annahm, irgend eine geheime Aufregung erfahren, die sie niemand gestehen wollte. Als ein Mensch, der gewohnt ist, die Launen als ein unvermeidliches Element der Weiblichkeit zu betrachten, drang er nicht weiter in sie und beschloß, einen günstigen Augenblick zu neuem Ausforschen oder ein freiwilliges Geständnis abzuwarten.

 

An der Tür ihres Zimmers traf die Baronin Fräulein Cornelie, ihre Lieblingskammerfrau. Was macht meine Tochter? fragte Frau Danglars.

 

Sie hat den ganzen Abend studiert und ist dann zu Bett gegangen, antwortete Fräulein Cornelie.

 

Es kommt mir doch vor, als hörte ich ihr Klavier?

 

Fräulein Louise d’Armilly musiziert, während das Fräulein im Bett liegt.

 

Gut, kleiden Sie mich aus!

 

Man trat in das Schlafzimmer. Debray streckte sich auf einem großen Sofa aus, und Frau Danglars ging mit Fräulein Cornelie in ihr Ankleidekabinett.

 

Einige Minuten nachher kam sie in einem reizenden Negligé aus ihrem Kabinett und setzte sich neben Lucien.

 

Dann fing sie an, träumerisch mit ihrem spanischen Schoßhündchen zu spielen. Lucien betrachtete sie eine Minute schweigend und sagte hierauf mit weichem Tone: Antworten Sie offenherzig, Herminie, nicht wahr, es hat Sie irgend etwas verletzt?

 

Nichts, erwiderte die Baronin.

 

Doch sie mußte aufstehen und suchte freieren Atem zu gewinnen, denn es schnürte ihr die Brust zusammen; sie stellte sich vor einen Spiegel und rief: Ich sehe in der Tat heute abend aus, daß einem vor mir bange werden könnte.

 

Debray erhob sich ebenfalls lächelnd, um Frau Danglars über diesen letzten Punkt zu beruhigen, als plötzlich die Tür sich öffnete. Herr Danglars erschien; Debray setzte sich wieder. Bei dem Geräusch der Tür wandte sich Frau Danglars um und schaute ihren Gatten mit einem Erstaunen an, das sie sich nicht einmal zu verbergen bemühte.

 

Guten Abend, gnädige Frau, sagte Danglars; guten Abend, Herr Debray. Die Baronin glaubte ohne Zweifel, dieser unvorhergesehene Besuch bedeute etwas wie ein Verlangen, die bitteren Worte wieder gutzumachen, die ihm am Tage entschlüpft waren.

 

Sie bewaffnete sich mit einer würdigen Miene, wandte sich gegen Debray um und sagte zu diesem, ohne Danglars‘ Gruß zu erwidern: Lesen Sie mir etwas vor, Herr Debray.

 

Debray, den dieser Besuch anfangs einigermaßen beunruhigt hatte, erholte sich bald wieder, als er die Baronin so unbewegt sah, und streckte die Hand nach einem Buche aus.

 

Verzeihen Sie, sagte der Bankier, doch Sie werden sehr müde werden, Baronin, wenn Sie so lange wachen; es ist elf Uhr, und Herr Debray wohnt sehr weit von hier.

 

Debray war im höchsten Maße erstaunt; nicht als ob Danglars‘ Ton nicht vollkommen ruhig und höflich gewesen wäre; doch hinter dieser Ruhe und Höflichkeit ließ sich die ungewöhnliche Absicht nicht verkennen, an diesem Abend etwas anderes zu tun, als den Willen seiner Frau. Die Baronin war ebenfalls verwundert und bezeigte ihr Erstaunen durch einen Blick, der ihrem Manne ohne Zweifel zu überlegen gegeben haben würde, hätte dieser seine Augen nicht auf eine Zeitung gerichtet gehabt, in der er die Schlußnotierung der Rente suchte. Demzufolge ging dieser Blick ins Leere und verfehlte völlig seine Wirkung.

 

Herr Lucien, sagte die Baronin, ich erkläre Ihnen, daß ich nicht die geringste Lust habe zu schlafen, ich muß Ihnen tausend Dinge erzählen, und Sie werden die Nacht damit zubringen, mich anzuhören, und sollten Sie stehend schlafen.

 

Zu Ihren Befehlen, gnädige Frau, antwortete phlegmatisch Lucien.

 

Mein lieber Herr Debray, sagte der Bankier, bringen Sie sich nicht damit um, daß Sie stundenlang Frau Danglars‘ Torheiten anhören, denn Sie können sie ebensogut noch morgen vernehmen; doch dieser Abend gehört mir, ich muß mir ihn vorbehalten und mit Ihrer gütigen Erlaubnis der Besprechung ernster Interesse mit meiner Frau widmen.

 

Diesmal war der Schlag so unmittelbar, daß er Lucien und die Baronin betäubte; beide befragten sich mit den Augen, als wollte das eine bei dem andern eine Hilfe gegen den Angriff suchen; aber die unwiderstehliche Gewalt des Herrn vom Hause siegte, und die Macht blieb dem Gatten.

 

Glauben Sie indessen nicht, daß ich Sie fortjage, mein lieber Debray, fügte Danglars hinzu, nein, durchaus nicht; infolge eines unvorhergesehenen Umstandes muß ich noch heute eine Unterredung mit der Baronin wünschen; dies kommt so selten vor, daß man mir deshalb nicht grollen darf.

 

Debray stammelte ein paar Worte und verabschiedete sich.

 

Es ist unbegreiflich, sagte er, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wie leicht diese Ehemänner, die wir so lächerlich finden, den Vorteil über uns erringen!

 

Als Lucien weggegangen war, nahm Danglars seinen Platz auf dem Sofa ein, schloß das offen gebliebene Buch und fuhr fort, in einer, wie seine Frau meinte, furchtbar anmaßenden Haltung mit dem Hunde zu spielen. Da jedoch der Hund keine Sympathie für ihn hatte und ihn beißen wollte, so faßte er ihn am Genick und schleuderte ihn an das andere Ende des Zimmers auf eine Chaiselongue.

 

Das Tier stieß einen Schrei aus; doch am Orte seiner Bestimmung angelangt, kauerte es sich hinter ein Kissen und verhielt sich, erstaunt über diese ungewohnte Behandlung, stumm und regungslos.

 

Wissen Sie, Herr Danglars, sagte die Baronin, ohne eine Miene zu verziehen, wissen Sie, daß Sie Fortschritte machen? Gewöhnlich waren Sie nur grob, heute sind Sie roh und unverschämt.

 

Dies kommt davon, daß ich heute abend in einer schlimmeren Laune bin, als gewöhnlich.

 

Herminie schaute den Bankier mit der größten Verachtung an. Sonst brachten solche Blicke den stolzen Bankier außer sich; doch an diesem Abend schien er kaum darauf zu achten.

 

Was geht mich Ihre schlimme Laune an? entgegnete die Baronin, gereizt durch die Unempfindlichkeit ihres Gatten; was habe ich mich darum zu bekümmern? Schließen Sie Ihre schlechten Launen bei sich ein, oder verweisen Sie sie in Ihre Büros, und da Sie Kommis haben, die Sie bezahlen, so lassen Sie an denen Ihre Launen aus.

 

Nein, versetzte Danglars, Ihre Ratschläge sind verkehrt, und ich werde sie nicht befolgen. Meine Kommis sind ehrliche Leute, die mir mein Vermögen verdienen und die ich weit unter ihrem Werte bezahle; ich werde mich also nicht gegen sie erzürnen. In Zorn bringen mich die, welche meine Mittagsmahle verzehren, meine Pferde zu Tode hetzen und meine Kasse zu Grunde richten.

 

Und wer sind denn die, welche Ihre Kasse zu Grunde richten? Ich bitte Sie, erklären Sie sich deutlicher.

 

Oh! seien Sie unbesorgt; spreche ich in Rätseln, so gedenke ich Sie doch nicht lange nach dem Schlüssel suchen zu lassen, versetzte Danglars. Es sind die, welche in einer Stunde 700 000 Franken daraus ziehen.

 

Ich verstehe Sie nicht, entgegnete die Baronin, die zugleich die Aufregung ihrer Stimme und die Röte ihres Gesichtes zu verbergen suchte.

 

Sie verstehen mich im Gegenteil sehr gut, versetzte Danglars; doch wenn Sie in Ihrer Verstellung verharren, so werde ich Ihnen sagen, daß ich 700 000 Franken an den spanischen Papieren verliere.

 

Ah! was höre ich! rief die Baronin hohnlächelnd; und mich machen Sie verantwortlich für diesen Verlust? Ist es meine Schuld, daß Sie 700 000 Franken verloren haben?

 

In jedem Falle ist es nicht die meinige.

 

Mein Herr, ich habe Ihnen ein für allemal gesagt, Sie sollen nicht von Kassenangelegenheiten mit mir sprechen, erwiderte spitzig die Baronin; es ist dies eine Sprache, die ich weder bei meinen Eltern noch bei meinem ersten Manne gelernt habe.

 

Das glaube ich bei Gott wohl, sagte Danglars, weder die einen noch der andere besaßen einen Sou.

 

Ein Grund mehr für mich, bei Ihnen das Rotwelsch der Bank, das mir hier vom Morgen bis zum Abend die Ohren zerreißt, nicht zu lernen; dieser Klang von Talern, die man wieder und wieder zählt, ist mir verhaßt, und außer dem Tone Ihrer Stimme kenne ich nichts, was mir unangenehmer wäre.

 

In der Tat, das ist seltsam! Ich glaubte gerade, Sie nähmen den lebhaftesten Anteil an meinen Operationen!

 

Ich? Wer hat Ihnen eine solche Albernheit vorgeredet?

 

Sie selbst. Erinnern Sie sich vielleicht, daß Sie im verflossenen Februar zu mir zum ersten Male von den haytischen Papieren sprachen; Sie hatten geträumt, ein Schiff laufe in den Hafen von Havre ein, und dieses Schiff bringe die Nachricht, eine Zahlung, von der man glaubte, sie sei auf die lange Bank geschoben, würde wirklich geleistet. Ich traute der Hellseherei Ihres Schlafes, kaufte unter der Hand alle haytischen Schuldscheine, die ich auftreiben konnte, und gewann 400 000 Franken, von denen Ihnen gewissenhaft 100 000 zugestellt wurden. Sie machten damit, was Sie wollten, … das geht mich nichts an.

 

Im März handelte es sich um eine Eisenbahnkonzession. Drei Gesellschaften boten gleiche Garantien. Sie sagten mir, Ihr Instinkt – und obgleich Sie behaupten, Sie seien der Spekulation fremd, so glaube ich doch im Gegenteil, daß Ihr Instinkt in gewissen Dingen sehr entwickelt sei – Sie erklärten mir also, Ihr Instinkt sage Ihnen, das Privilegium werde einer bestimmten Gesellschaft erteilt werden. Ich ließ mich auf der Stelle für zwei Drittel der Aktien dieser Gesellschaft einschreiben; das Privilegium wurde ihr wirklich bewilligt, wie Sie gesagt hatten; die Aktien erhielten einen dreifachen Wert, ich gewann eine Million, wovon Ihnen 250 000 Franken als sogenanntes Nadelgeld zukamen. Wie Sie diese 250 000 Franken angewendet haben, geht mich nichts an.

 

Doch wo wollen Sie denn am Ende mit all dem hinaus, mein Herr? rief die Baronin, zitternd vor Zorn und Ungeduld.

 

Geduld, ich komme zum Ziele. Im April speisten Sie bei dem Minister zu Mittag, Man plauderte von Spanien, und Sie belauschten ein geheimes Gespräch, in dem von der Austreibung Don Carlos‘ die Rede war: ich kaufte spanische Fonds, Die Austreibung fand wirklich statt, und ich gewann 600 000 Franken, Von diesen 600 000 Franken erhielten Sie 50 000 Taler; sie gehörten Ihnen; Sie verfügten darüber nach Ihrer Laune, ich verlange keine Rechenschaft von Ihnen, So haben Sie in diesem Jahre 500 000 Livres erhalten.

 

Nun, und weiter, mein Herr? In der Tat, Sie haben Redensarten …

 

Sie drücken meine Gedanken aus, und das genügt … Vor drei Tagen sprachen Sie mit Herrn Debray über Politik, und Sie glaubten, aus seinen Worten zu vernehmen, Don Carlos sei nach Spanien zurückgekehrt. Da verkaufe ich meine Rente, die Nachricht verbreitet sich, ein manischer Schrecken ergreift die Leute; ich verkaufe nicht mehr, ich verschenke; am andern Tage findet es sich, daß die Nachricht falsch war, und daß ich 700 000 Franken durch diese falsche Nachricht verloren habe.

 

Nun?

 

Nun! da ich Ihnen ein Viertel gebe, wenn ich gewinne, so sind Sie mir auch ein Viertel schuldig, wenn ich verliere; das Viertel von 700 000 Franken macht 175 000 Franken.

 

Was Sie mir sagen, ist ganz ungereimt, und ich sehe gar nicht ein, warum Sie den Namen Debray mit dieser ganzen Geschichte vermengen.

 

Weil Sie, wenn Sie etwa die 175 000 Franken, die ich von Ihnen verlange, nicht haben, sie von Ihren Freunden entlehnen werden, zu denen auch Herr Debray gehört.

 

Pfui! rief die Baronin.

 

Oh! keine Gebärden, kein Geschrei, kein modernes Drama, sonst muß ich Ihnen bemerken, daß ich von hier aus sehe, wie Herr Debray bei den 150 000 Franken, die Sie ihm in diesem Jahre bezahlt haben, hohnlächelt und sich sagt, er habe endlich das gefunden, was die geschicktesten Spieler nie zu entdecken vermochten, nämlich ein Roulette, wo man ohne Einsatz gewinnt, und wo man nichts verspielt, wenn man auch verliert.

 

Die Baronin wurde wütend. Elender, rief sie, wollen Sie sich erdreisten, mir zu sagen, Sie hätten das nicht gewußt, was Sie mir heute zum Vorwurf zu machen wagen?

 

Ich sage Ihnen nicht, daß ich es wußte, ich sage Ihnen auch nicht, daß ich es nicht wußte, ich sage Ihnen nur: Beachten Sie mein Benehmen seit den vier Jahren, seitdem Sie nicht mehr meine Frau sind und ich nicht mehr Ihr Mann bin, und Sie werden sehen, ob es immer folgerecht gewesen ist. Kurze Zeit vor unserem Bruche wünschten Sie von dem berühmten Bariton, der mit so großem Erfolg in der italienischen Oper auftrat, fingen zu lernen; ich wollte von jener Tänzerin tanzen lernen, die sich in London einen so großen Ruf erworben hat. Das kostete mich, sowohl für Sie als für mich, ungefähr 100 000 Franken. 100 000 Franken, damit der Mann und die Frau gründlich tanzen und musizieren lernen, ist nicht zuviel. Bald waren Sie des Gesanges überdrüssig, und Sie wünschten, von einem Ministerialsekretär Diplomatie zu lernen. Ich habe nichts dagegen, da Sie die Lektionen, die Sie nehmen, aus Ihrer Kasse bezahlen. Doch nun sehe ich, daß es auf Rechnung der meinigen geht, und daß mich Ihr Unterricht 700 000 Franken monatlich kosten kann. Halt, meine Dame! Das geht nicht weiter. Entweder gibt der Diplomat unentgeltliche Lektionen, und ich werde ihn dulden; oder er setzt keinen Fuß mehr in mein Haus; verstehen Sie mich?

 

Oh! das ist zu stark, rief sie, vom Zorn beinahe erstickt. Sie überschreiten die Grenzen der Gemeinheit.

 

Sie haben recht; wir wollen unsere Sache ruhig und kalt behandeln, um zum Ziele zu kommen. Wenn ich mich je in Ihre Angelegenheiten mischte, so geschah es nur zu Ihrem Besten, machen Sie es ebenso! Meine Kasse geht Sie nichts an, operieren Sie mit der Ihrigen, aber füllen Sie die meinige nicht, und leeren Sie sie ebensowenig. Wer weiß übrigens, ob nicht diese ganze Geschichte ein politischer Messerstich ist, ob nicht der Minister, wütend darüber, daß ich der Opposition angehöre, sich mit Herrn Debray verständigt hat, um mich zu Grunde zu richten?

 

Wie wahrscheinlich ist das!

 

Allerdings; wer hat je so etwas gesehen … eine falsche telegraphische Nachricht, das scheint ja unmöglich oder fast unmöglich! Es ist in der Tat ausdrücklich für mich geschehen.

 

Sie wissen, sagte die Baronin, wie es scheint, nicht, daß der Telegraphenbeamte sogar fortgejagt wurde, daß man den Befehl erteilte, ihn zu verhaften, und daß dieser Befehl vollstreckt worden wäre, hätte er sich nicht der ersten Nachforschung durch Flucht entzogen, woraus sich seine Verrücktheit oder seine Schuld ergibt … Das ist ein Irrtum.

 

Ja, der mich 700 000 Franken kostet.

 

Mein Herr, sagte plötzlich Herminie, wenn diese ganze Geschichte Ihrer Ansicht nach von Herrn Debray herrührt, warum sagen Sie es mir, statt es unmittelbar ihm selbst zu sagen? Warum beschuldigen Sie den Mann und halten sich an die Frau?

 

Kenne ich Herrn Debray? Will ich ihn kennen? Will ich wissen, daß er Ratschläge gibt? Will ich sie befolgen? Spiele ich? Nein, Sie tun dies alles und nicht ich!

 

Doch da Sie Nutzen daraus ziehen …

 

 

Danglars zuckte die Achseln und erwiderte: In der Tat, tolle Geschöpfe, diese Weiber! Sie halten sich für Genies, weil sie ein paar Intrigen so durchgeführt haben, daß nicht ganz Paris davon voll ist. Doch bedenken Sie, hätten Sie Ihre Extratouren auch Ihrem Manne verborgen, was das ABC der Kunst ist, da die Ehemänner meist gar nicht sehen wollen, so wären Sie doch nur eine blasse Kopie von dem, was die Hälfte Ihrer Freundinnen, die Frauen von Welt, tun. Das ist aber nicht mein Fall. Ich habe seit etwa sechzehn Jahren gesehen und immer gesehen, Sie konnten mir vielleicht einen Gedanken verbergen, aber nie einen Schritt, Handlung, einen Fehler. Während Sie sich selbst wegen Ihrer Geschicklichkeit Beifall spendeten und fest überzeugt waren, Sie täuschten mich, was war das Resultat? Daß infolge meiner vermeintlichen Täuschung, von Herrn von Villefort an bis zu Herrn Debray, nicht einer von Ihren Freunden nicht vor mir zitterte. Jeder behandelte mich als Herrn des Hauses; keiner wagte es, Ihnen von mir zu sagen, was ich Ihnen heute selbst sage. Ich erlaube Ihnen, mich verhaßt zu machen, aber ich werde Sie verhindern, mich lächerlich zu machen, und ich verbiete Ihnen besonders auf das bestimmteste und vor allein, mich zu Grunde zu richten.

 

Bis zu dem Augenblick, wo der Name Villefort ausgesprochen wurde, beobachtete die Baronin eine ziemlich gute Haltung; doch bei diesem Name erbleichte sie, streckte, indem sie, wie von einer Feder geschnellt, auffuhr, ihre Arme aus, wie um eine Erscheinung zu beschwören, und machte drei Schritte gegen ihren Gatten, als wollte sie ihm das volle Geheimnis entreißen.

 

Herr von Villefort! Was soll das bedeuten? Was wollen Sie damit sagen?

 

Das soll bedeuten, daß Herr von Nargonne, Ihr erster Mann, der weder ein Philosoph noch ein Bankier war und sah, daß sich aus einem Staatsanwalt kein Nutzen ziehen ließ, aus Kummer oder aus Ingrimm starb, als er Sie nach einer Abwesenheit von neun Monaten im sechsten Monat schwanger fand. Ich bin roh und unverschämt, ich weiß es nicht nur, sondern ich rühme mich dessen; es ist eines von meinen Mitteln, in Geschäftsunternehmungen Erfolg zu erzielen. Warum hat er sich selbst töten lassen, statt zu töten? Weil er keine Kasse zu retten hatte; aber ich bin mich meiner Kasse schuldig. Herr Debray, mein Associé, ist schuld, daß ich 700 000 Franken verliere! er trage seinen Teil am Verlust, und wir setzen unsere Geschäfte fort; wenn nicht, so mache er mir Bankerott mit diesen 175 000 Livres, und tue dann, was Bankerottierer tun, er verschwinde! Mein Gott! ich weiß wohl, er ist ein reizender Bursche, wenn seine Nachrichten pünktlich und richtig sind; doch wenn sie dies nicht sind, so gibt es fünfzig in der Welt, die mehr Wert haben, als er.

 

Frau Danglars war niedergeschmettert; sie machte jedoch eine äußerste Anstrengung, um diesen letzten Angriff zu erwidern. Sie fiel in einen Lehnstuhl, denn sie dachte an Villefort, an die Szene in Auteuil, au die Unglücksfälle, die seit ein paar Tagen über ihr Haus hereingebrochen waren.

 

Danglars schaute sie nicht einmal an, obgleich sie alles mögliche tat, um ohnmächtig zu werden. Er öffnete die Tür des Schlafzimmers, ohne ein Wort hinzuzufügen, und kehrte in seine Wohnung zurück, so daß Frau Danglars, als sie von ihrer Halbohnmacht wieder zu sich kam, glauben konnte, sie hätte einen bösen Traum gehabt.

 

Heiratspläne.

 

Heiratspläne.

 

Am Tage nach dieser Szene machte Debray Frau Danglars keinen Besuch.

 

Gegen halb zwei Uhr verlangte die Dame nach ihrem Wagen und fuhr aus.

 

Danglars hatte, hinter dem Fenster stehend, dieses Ausfahren, das er erwartete, beobachtet. Er gab Befehl, ihn zu benachrichtigen, sobald seine Frau wiedererscheinen würde; doch um zwei Uhr war sie noch nicht zurückgekehrt.

 

Von Mittag bis zwei Uhr war Danglars in seinem Kabinett geblieben, wo er Depeschen entsiegelte, immer düsterer wurde, Ziffern auf Ziffern häufte, und unter anderen Besuchen auch den des Majors Cavalcanti empfing, der stets gleich blau, gleich steif und gleich pünktlich zu der am Tage vorher bezeichneten Stunde sich einfand, um seine Angelegenheit mit dem Bankier abzumachen.

 

Um zwei Uhr forderte er seine Pferde, begab sich in die Kammer, zeigte sich hier sehr aufgeregt und war herber und bitterer gegen das Ministerium, als je. Nach der Sitzung stieg er wieder in seinen Wagen und befahl dem Kutscher, ihn nach der Avenue der Champs-Elysées zu fahren.

 

Monte Christo war zu Hause, nur befand sich jemand bei ihm, und er bat Danglars, einen Augenblick im Salon zu warten.

 

Während der Bankier wartete, öffnete sich die Tür, und er sah einen als Abbé gekleideten Mann eintreten, der, statt zu warten wie er, ohne Zweifel vertrauter in dem Hause, ihn grüßte, in das Innere der Gemächer ging und verschwand.

 

Einen Augenblick nachher öffnete sich die Tür, durch die der Priester eingetreten war, abermals, und Monte Christo erschien.

 

Verzeihen Sie, lieber Baron, sagte er, einer meiner Freunde, der Abbé Busoni, den Sie wohl bemerkt haben, ist soeben angekommen; wir waren seit langer Zeit getrennt, und ich hatte nicht den Mut, ihn sogleich zu verlassen; ich hoffe, daß Sie mich deshalb entschuldigen.

 

Wie! rief Danglars, das ist ganz einfach, ich habe meine Zeit schlecht gewählt und entferne mich.

 

Keineswegs, im Gegenteil, setzen Sie sich! Aber, guter Gott! Was haben Sie denn? Sie sehen ganz sorgenvoll aus, in der Tat, Sie erschrecken mich; ein betrübter Kapitalist ist wie ein Komet und weissagt der Welt stets ein großes Unglück. Mein Herr, das Unglück ruht seit ein paar Tagen auf mir, und ich erfahre nur Schlimmes, antwortete Danglars.

 

Mein Gott! haben Sie einen Umschlag an der Börse erlebt?

 

Nein, davon bin ich geheilt, wenigstens auf einige Tage; es handelt sich für mich um einen Bankerott in Triest.

 

Wirklich? Meinen Sie etwa Jacopo Manfredi?

 

Ganz richtig! Denken Sie sich einen Menschen, der, ich weiß nicht seit wie langer Zeit, für 8 bis 900 000 Franken Geschäfte jährlich mit mir macht. Nie ein Verrechnen, nie eine Zögerung; ein Mann, der bezahlte wie ein Fürst immer bezahlte. Ich lasse mich auf einen Kredit von einer Million mit ihm ein, und der Teufel von Jacopo Manfredi stellt seine Zahlungen ein! Das ist ein unerhörtes Unglück. Ich ziehe auf ihn 600 000 Livres, die mir unbezahlt zurückkommen; mehr noch! Ich bin der Inhaber von 400 000 Franken Wechsel, von ihm unterzeichnet und zahlbar Ende dieses bei seinem Korrespondenten in Paris. Wir haben den dreißigsten, ich schicke hin, um einkassieren zu lassen, ah, ja wohl! der Korrespondent ist verschwunden. Mit der spanischen Geschichte macht das einen schönen Monatsschluß. – Sagen Sie, bringen Ihnen die spanischen Papiere wirklich Verlust?

 

Allerdings, nicht weniger als 700 000 Franken!

 

Wie, zum Teufel, kam es, daß Sie, ein alter Luchs, eine solche Schule durchmachen mußten?

 

Es ist der Fehler meiner Frau. Es träumte ihr, Don Carlos sei nach Spanien zurückgekehrt; sie glaubt an Träume. Allerdings spielte sie nicht um mein Geld, sondern um das ihrige. Doch gleichviel, Sie begreifen, wenn 700 000 Franken aus der Tasche der Frau gehen, so merkt es der Mann immer ein wenig. Wie! Sie wußten das nicht? Die Sache hat doch ungeheueres Aufsehen gemacht?

 

Ich habe davon sprechen hören, kannte aber die einzelnen Umstände nicht, auch verstehe ich nicht das geringste von Börsengeschäften. Sie spielen also nicht?

 

Ich! wie soll ich spielen? Habe ich doch so schon Mühe genug, meine Finanzen in Ordnung zu halten. Ich wäre genötigt, außer meinem Intendanten noch einen Kommis und einen Kassengehilfen zu nehmen. Doch was Spanien betrifft … mir scheint, die Frau Baronin hat Don Carlos‘ Rückkehr nicht völlig geträumt; erzählten nicht die Zeitungen davon?

 

Das ist gerade das Unerklärliche, daß diese Rückkehr des Don Carlos wirklich eine telegraphische Nachricht war.

 

Somit verlieren Sie diesen Monat ungefähr siebzehnhunderttausend Franken? Teufel! für ein Vermögen dritten Ranges ist dies immerhin ein Schlag, sagte Monte Christo.

 

Dritten Ranges, entgegnete Danglars etwas gedehnt, was verstehen Sie darunter?

 

Ich mache drei Rangklassen; ersten Ranges sind Vermögen, die, in liegenden Gütern, in Bergwerken und dergleichen angelegt, einen Gesamtbetrag von hundert Millionen ausmachen; zweiten Ranges sind Vermögen mit einer Rente von 1 1/2 Millionen, d. h. einem Kapital von fünfzig Millionen und dritten Ranges solche, die sich wie das Ihrige auf fünfzehn Millionen eingebildetes oder wirkliches Kapital belaufen. Daraus geht hervor, fuhr Monte Christo mit unzerstörbarer Ruhe fort, daß ein Haus dritten Ranges mit sechs Monatsschlüssen, wie dieser, im Todeskampfe läge.

 

Wie rasch Sie zu Werke gehen! versetzte Danglars mit bleichem Lächeln.

 

Setzen wir sieben Monate, sagte der Graf mit demselben Tone. Sagen Sie mir, haben Sie zuweilen daran gedacht, daß siebenmal siebzehnhunderttausend Franken ungefähr zwölf Millionen machen? Nein … Nun, Sie haben recht, denn bei dergleichen Betrachtungen würde man nie seine Kapitalien einsetzen, die für den Finanzmann ungefähr das sind, was für den zivilisierten Menschen die Haut ist. Wir besitzen mehr oder minder kostbare Kleider, das ist unser Kredit; doch wenn der Mensch stirbt, hat er nur seine Haut, wie Sie, wenn Sie aus dem Geschäft austreten, nur Ihren wirklichen Besitz, das heißt, höchstens fünf oder sechs Millionen, haben. Von diesen fünf bis sechs Millionen, die Ihr wirkliches Aktivvermögen bilden, haben Sie in jüngster Zeit etwa zwei verloren, ein Verlust, der zugleich Ihr eingebildetes Vermögen, das heißt Ihren Kredit, vermindert; das bedeutet, mein lieber Herr Danglars, Ihre Haut ist durch einen Aderlaß geöffnet worden, der, viermal wiederholt, den Tod nach sich ziehen würde. Ei! ei! nehmen Sie sich in acht, Herr Danglars. Brauchen Sie Geld, soll ich Ihnen leihen?

 

Was für ein schlechter Rechner sind Sie! sagte Danglars, indem er seine ganze Philosophie und seine ganze Verstellungsgabe zu Hilfe rief; zu dieser Stunde ist das Geld durch andere Spekulationen, die mir gelungen sind, wieder in meine Kasse zurückgeflossen; das durch den Aderlaß entzogene Blut hat sich durch Nahrung wieder ersetzt. Ich habe eine Schlacht in Spanien verloren, ich bin in Triest geschlagen worden, doch meine Kriegsflotte in Indien wird wohl einige Gallionen genommen und meine Bergleute in Mexiko werden wohl eine Mine entdeckt haben.

 

Sehr gut! sehr gut! doch die Narbe bleibt und öffnet sich wieder bei dem nächsten Verluste.

 

Nein, ich bin meiner Sache ganz gewiß, fuhr Danglars mit der Alltagsberedsamkeit des Charlatans fort, der gewöhnt ist, seinen Kredit herauszustreichen; um mich zu stürzen, müßten drei Regierungen untergehen. Doch da wir von Geschäften reden, fügte er, froh, einen Grund zur Veränderung des Gespräches zu finden, hinzu, sagen Sie mir doch, was ich für Herrn Cavalcanti tun kann.

 

Geben Sie ihm Geld, wenn er einen Kredit auf Sie hat, und dieser Kredit Ihnen gut scheint.

 

Vortrefflich! er hat sich heute morgen bei mir eingefunden mit einer Anweisung von 40 000 Franken, zahlbar nach Sicht, auf Sie, unterzeichnet Busoni, und durch Sie mit Ihrem Indossement an mich zurückgeschickt; Sie begreifen, daß ich ihm auf der Stelle seine vierzig Scheine auszahlte.

 

Monte Christo machte mit dem Kopfe ein Zeichen, das seine ganze Beistimmung andeutete.

 

Doch das ist noch nicht alles, fuhr Danglars fort; er hat seinem Sohne bei mir einen Kredit eröffnet.

 

Sagen Sie, wieviel gibt er dem jungen Manne, wenn ich, ohne unbescheiden zu sein, fragen darf?

 

5000 Franken monatlich.

 

60 000 Franken jährlich. Ich dachte mir’s, sagte Monte Christo, die Achseln zuckend, die Cavalcanti sind Filze. Was soll der junge Mann mit 5000 Franken monatlich machen?

 

Sie begreifen, wenn er ein Paar tausend Franken mehr braucht …

 

Tun Sie das nicht, der Vater würde Sie nicht entschädigen; Sie kennen diese italienischen Millionäre nicht, es sind wahre Geizhälse. Und durch wen ist dieser Kredit eröffnet worden?

 

Oh! durch das Haus Fenzi, eines der besten in Florenz.

 

Ich will durchaus nicht sagen, daß Sie dabei Gefahr laufen; doch halten Sie sich genau an den Buchstaben des Kreditbriefes.

 

Sie hätten also kein Vertrauen zu diesem Cavalcanti?

 

Ich würde ihm sechs Millionen auf seine Unterschrift geben. Seines gehört zu den Vermögen zweiten Ranges, nach meiner Einteilung, mein lieber Herr Danglars.

 

Und wie einfach ist er dabei! Ich hätte ihn für einen Major gehalten, nichts anderes.

 

Und Sie würden ihm damit, denke ich, noch eine Ehre angetan haben, denn in der Tat, er besticht nicht durch sein Aussehen. Als ich ihn zum erstenmal sah, machte er auf mich den Eindruck eines alten, unter der Epaulette verschimmelten Leutnants. Doch alle Italiener sind so; sie gleichen alten Juden, wenn sie nicht wie die Magier des Orients blenden.

 

Der junge Mann sieht besser aus, sagte Danglars. Ja, vielleicht ein wenig schüchtern, doch im ganzen kam er mir anständig vor. Ich war seinetwegen in Unruhe.

 

Warum?

 

Weil er, als Sie ihn in meinem Hause gesehen haben, wenigstens, wie er mir sagt, eben erst in die Welt eingetreten ist. Er reiste mit einem sehr strengen Hofmeister und war nie in Paris.

 

Alle diese Italiener von Stande haben die Gewohnheit, sich untereinander zu verheiraten, nicht wahr? fragte Danglars scheinbar gleichgültig; sie lieben es, ihre Reichtümer znsammenzuhäufen.

 

Gewöhnlich machen sie es allerdings so; doch Cavalcanti ist ein Original und tut nichts wie die anderen. Ich lasse es mir nicht nehmen, daß er seinen Sohn nach Frankreich schickt, damit er hier eine Fran findet.

 

Und Sie haben von seinem Vermögen sprechen hören?

 

Dies ist eben eine zweifelhafte Sache; die einen gestehen ihm Millionen zu, die andern behaupten, er besitze keinen Heller.

 

Und was ist Ihre Meinung?

 

Darauf können Sie sich nicht stützen, denn sie ist ganz persönlich.

 

Und Sie glauben …

 

Ich glaube, daß alle diese alten Podestas, alle diese ehemaligen Condottieri, denn die Cavalcanti haben Heere befehligt und Provinzen regiert, ich glaube, sage ich, daß sie Millionen in Winkeln vergraben haben, die nur ihre Erstgeborenen kennen und deren Kenntnis so von Geschlecht zu Geschlecht überliefert wird.

 

Das ist gut, rief Danglars, und um so mehr, als man von allen diesen Leuten nicht weiß, ob sie auch nur einen Quadratzoll Land besitzen.

 

Mindestens sehr wenig, ich weiß es wohl, denn ich kenne als Cavalcantis Grundbesitz nur seinen Palast in Lucca.

 

Ah! er hat einen Palast! sagte Danglars lachend, das ist schon etwas.

 

Ja, und er vermietet ihn an den Minister der Finanzen, während er selbst in einem kleinen Häuschen wohnt. Oh! ich habe es Ihnen gesagt, ich halte ihn für einen großen Geizhals.

 

Sie schmeicheln ihm nicht.

 

Hören Sie, ich kenne ihn kaum und habe ihn höchstens dreimal in meinem Leben gesehen; was ich weiß, weiß ich von dem Abbé Busoni und von ihm selbst. Er sprach heute morgen mit mir über seine Absichten mit seinem Sohn und ließ durchblicken, daß er es müde sei, in Italien, das ein totes Land sei, beträchtliche Fonds schlummern zu lassen, und ein Mittel suche, um entweder in Frankreich oder in England seine Millionen nutzbar zu machen. Doch wollen Sie immerhin bemerken, daß ich für nichts stehe, obschon ich zu dem Abbé Busoni persönlich das größte Zutrauen hege.

 

Gleichviel, ich danke Ihnen für den Kunden, den Sie mir zugeschickt haben; es steht ein guter Name mehr in meinen Registern, und mein Kassierer, dem ich erklärte, wie es mit diesem Cavalcanti steht, ist ganz stolz darauf. Doch sagen Sie, – die Frage kommt mir nur eben in den Mund – geben diese Leute ihren Söhnen, wenn sie sie verheiraten, eine Mitgift?

 

Ei, mein Gott! jenachdem. Ich kannte einen italienischen Fürsten, so reich wie ein Goldbergwerk, einen der ersten Namen von Toskana. Verheirateten sich seine Söhne nach seinem Gefallen, so gab er ihnen Millionen; verheirateten sie sich gegen seinen Willen, so beschränkte er sich darauf, ihnen eine Rente von dreißig Talern monatlich auszusetzen. Nehmen wir an, Andrea verheirate sich nach den Ansichten seines Vaters, so wird er ihm vielleicht eine, zwei, drei Millionen geben. Handelte es sich z. B. um die Tochter eines Bankiers, so würde er wohl Teilhaber des Hauses werden. Mißfällt ihm dagegen seine Schwiegertochter, dann gute Nacht! Der Cavalcanti steckt den Schlüssel in seine Kasse, dreht ihn zweimal um, und mein Andrea ist genötigt, davon zu leben, daß er die Karten zeichnet und die Würfel kneipt.

 

Der junge Mann wird eine bayerische oder eine peruanische Prinzessin finden; er wird eine Krone haben wollen.

 

Nein, diese vornehmen Herren heiraten häufig einfache Sterbliche; sie lieben es, das Blut zu mischen. Doch sagen Sie, wollen Sie Andrea verheiraten, lieber Herr Danglars, daß Sie alle diese Fragen an mich stellen?

 

Meiner Treu, es scheint mir keine schlechte Spekulation zu sein, und ich bin ein Spekulant.

 

Aber ich denke, nicht mit Ihrer Fräulein Tochter? Sie wollen doch wohl nicht den armen Andrea von Albert ins Jenseits befördern lassen?

 

Albert, versetzte Danglars die Achseln zuckend, dem liegt gerade etwas daran!

 

Er ist doch der Verlobte Ihrer Tochter?

 

Das heißt, Herr von Morcerf und ich sprachen zuweilen von dieser Heirat, aber Frau von Morcerf und Albert …

 

Halten Sie diesen für keine gute Partie?

 

Jedenfalls denke ich, Fräulein Danglars ist so viel wert wie Herr von Morcerf.

 

Fräulein Danglars‘ Mitgift wird in der Tat nicht übel sein, daran zweifle ich nicht, besonders wenn der Telegraph keine neuen Torheiten begeht.

 

Oh! es handelt sich nicht allein um Mitgift. Aber sagen Sie mir doch bei dieser Gelegenheit, warum haben Sie Morcerf und seine Familie nicht eingeladen?

 

Ich habe dies getan, doch er entschuldigte sich um einer Reise nach Treport mit Frau von Morcerf, der man die Seeluft angeraten habe.

 

Ja, ja, sagte Danglars lachend, die muß ihr wohl gut bekommen? – Warum dies? – Weil es die Luft ist, die sie in ihrer Jugend einatmete.

 

Monte Christo ließ diesen Witz vorübergehen, ohne daß er ihn zu beachten schien.

 

Aber wenn Albert auch nicht so reich ist, wie Fräulein Danglars, sagte der Graf, so können Sie doch nicht leugnen, daß er einen schönen Namen führt?

 

Gerade darum würde ich Herrn Andrea Cavalcanti Herrn Albert von Morcerf vorziehen.

 

Ich denke die Morcerf stehen den Cavalcanti nicht nach, entgegnete Monte Christo.

 

Die Morcerf! … Herr Graf, nicht wahr, Sie sind ein Kenner von Wappen?

 

Ein wenig.

 

Nun wohl, schauen Sie die Farbe des meinigen an; sie ist haltbarer, als die von Morcerfs Wappen.

 

Warum dies?

 

Weil ich, wenn ich auch nicht Baron von Geburt bin, doch wenigstens Danglars heiße, während er nicht Morcerf heißt.

 

Wie, er heißt nicht Morcerf?

 

Keineswegs, mich hat man zum Baron gemacht, und somit bin ich es.

 

Unmöglich.

 

Hören Sie, lieber Graf, fuhr Danglars fort, Herr von Morcerf ist mein Freund, oder vielmehr mein Bekannter seit dreißig Jahren. Wohl! als ich noch ein kleiner Kommis war, war Morcerf ein einfacher Fischer, namens Fernand Mondego.

 

Wissen Sie das sicher?

 

Er hat, bei Gott! Fische genug an mich verkauft, daß ich ihn kenne.

 

Warum würden Sie ihm dann Ihre Tochter geben?

 

Weil Fernand und Danglars beide geadelte, beide reich gewordene etwa gleichwertige Emporkömmlinge sind, abgesehen von gewissen Dingen, die man von ihm gesagt und nie von mir gesehen hat.

 

Ah! ja, ich begreife; was Sie hier sprechen, frischt mein Gedächtnis für den Namen Fernand Mondego auf. Ich habe diesen Namen in Griechenland gehört.

 

In Zusammenhang mit Ali Pascha? – Ganz richtig. – Das ist eben das Geheimnis, und ich gestehe, ich hätte viel darum gegeben, es zu entdecken. – Das wäre nicht schwierig, wenn Sie große Lust dazu hätten. – Wieso? – Ohne Zweifel haben Sie einen Korrespondenten in Janina? – In Janina? Ja! – Gut, so schreiben Sie an ihn und fragen ihn, welche Rolle in der Katastrophe von Ali Tependelini ein Franzose namens Fernand gespielt habe.

 

Sie haben recht! rief Danglars rasch aufstehend; ich will noch heute schreiben.

 

Tun Sie dies. Und wenn Sie irgend eine belastende Nachricht bekommen …

 

So teile ich sie Ihnen mit.

 

Sie werden mir ein Vergnügen bereiten.

 

Danglars eilte aus dem Zimmer und machte gleichsam nur einen Sprung in den Wagen.

 

Das Kabinett des Staatsanwalts.

 

Das Kabinett des Staatsanwalts.

 

Lassen wir den Bankier in scharfem Trabe seiner Pferde nach Hause fahren und folgen Frau Danglars bei ihrem Morgenausfluge. Sie war, wie gesagt, um halb zwei Uhr ausgefahren und ließ bei der Passage du Pout-Neuf halten. Sie stieg aus und ging durch die Passage. Ihre Kleidung war sehr einfach, wie es sich für eine Frau von Geschmack geziemt, wenn sie sich morgens auf der Straße zeigt.

 

In der Rue Génégaut stieg sie in einen Fiaker und bezeichnete als Ziel die Rue de Harlay. Kaum war sie in dem Wagen, als sie aus ihrer Tasche einen sehr dichten schwarzen Schleier zog, den sie an ihrem Strohhute befestigte; dann setzte sie ihren Hut wieder auf und bemerkte mit Vergnügen, als sie sich in einem kleinen Taschenspiegel beschaute, daß man von ihr nichts als ihre weiße Haut und die funkelnden Augensterne sehen konnte. Der Fiaker fuhr zum Justizpalast. Hier eilte Frau Danglars zur Treppe, stieg diese leicht hinauf und gelangte bald in den Saal des Pas-Perdus.

 

Am Morgen gibt es im Justizpalast sehr viel geschäftige Leute, die sich wenig umeinander kümmern. Frau Danglars durchschritt daher den Saal des Pas-Perdus, ohne von andern bemerkt zu werden, als von zwei Frauen, die hier auf ihren Advokaten warteten.

 

Das Vorzimmer des Herrn von Villefort war gedrängt voll von Menschen, doch Frau Danglars hatte nicht einmal nötig, ihren Namen zu nennen. Sobald sie erschien, stand ein Gerichtsdiener auf, ging ihr entgegen und fragte sie, ob sie nicht die Person sei, die der Herr Staatsanwalt beschieden habe. Auf ihre bejahende Antwort führte er sie durch einen besonderen Gang in Herrn von Villeforts Kabinett.

 

Der Beamte schrieb, in seinem Lehnstuhl sitzend, den Rücken der Tür zuwendend. Er hörte die Tür sich öffnen, den Diener die Worte: Treten Sie ein, gnädige Frau! aussprechen und die Tür sich wieder schließen, ohne die geringste Bewegung zu machen. Doch kaum bemerkte er, daß sich die Tritte des Gerichtsdieners verloren, als er sich rasch umwandte, die Riegel vorschob, die Vorhänge herabließ und jeden Winkel des Kabinetts untersuchte. Sobald er Gewißheit erlangt hatte, daß er weder gehört, noch gesehen werden konnte, sagte er: Gnädige Frau, meinen innigen Dank für Ihre Pünktlichkeit. Und er bot Frau Danglars einen Stuhl, den sie annahm, denn ihr Herz schlug so gewaltig, daß sie sich dem Ersticken nahe fühlte.

 

Es ist schon lange, sagte der Staatsanwalt, während er sich Frau Danglars gegenübersetzte, daß ich nicht mehr das Glück gehabt habe, mit Ihnen allein zu sprechen, und zu meinem großen Bedauern finden wir uns wieder zusammen, um eine sehr peinliche Unterredung zu pflegen.

 

Sie sehen jedoch, mein Herr, daß ich auf Ihre erste Aufforderung gekommen bin, obgleich diese Unterredung für mich noch peinlicher sein muß, als für Sie.

 

Es ist also wahr, sagte er, mehr auf seine eigenen Gedanken als auf Frau Danglars‘ Worte erwidernd, daß alle unsere Schritte in diesem Leben dem Zuge der Schlangen auf dem Sande gleichen und eine Furche machen! Ach! für viele ist dies eine Tränenfurche.

 

Mein Herr, sagte Frau Danglars, nicht wahr, Sie begreifen meine Erschütterung? Schonen Sie mich also, ich bitte Sie. Dieses Zimmer, durch das so viele Schuldige zitternd und voll Scham gekommen sind, dieser Stuhl, auf den ich mich ebenfalls beschämt und zitternd setze! … Oh! ich bedarf meiner ganzen Vernunft, um nicht in mir eine sehr schuldige Frau und in Ihnen einen drohenden Richter zu sehen; schon habe ich gestern eine schwere Strafe für meine Schuld erlitten.

 

Arme Frau! sagte Villefort, ihr die Hand drückend. Sie war zu schwer für Ihre Kräfte, denn zweimal waren Sie nahe daran, zu unterliegen, und doch müssen Sie Ihren Mut zusammenraffen, gnädige Frau, denn Sie sind noch nicht am Ziele!

 

Mein Gott! rief Frau Danglars erschrocken, was gibt es denn noch?

 

Sie sehen nur die Vergangenheit, und diese ist allerdings düster. Doch stellen Sie sich eine Zukunft vor, die vielleicht noch viel blutiger ist!

 

Die Baronin kannte Villeforts Ruhe, sie war so erschrocken über seinen gereizten Zustand, daß sie den Mund öffnete, um zu schreien, aber der Schrei erstarb in ihrer Kehle.

 

Wie ist sie wiedererwacht, diese furchtbare Vergangenheit? rief Villefort; wie ist sie aus der Tiefe des Grabes und aus der Tiefe unserer Herzen, wo sie schlummerte, hervorgetreten, einem Gespenst ähnlich, um unsere Wangen erbleichen und unsere Stirnen erröten zu lassen?

 

Ach! ohne Zweifel durch Zufall! sagte Herminie.

 

Durch Zufall! versetzte Villefort: nein, nein, nein, gnädige Frau, es gibt keinen Zufall!

 

Doch wohl; ist es nicht ein Zufall, allerdings ein unseliger, aber immerhin ein Zufall, der dies alles herbeigeführt hat? Hat nicht durch Zufall der Graf von Monte Christo dieses Haus gekauft? Hat er nicht durch Zufall die Erde ausgraben lassen? Ist nicht endlich durch Zufall das unglückliche Kind unter den Bäumen ausgegraben worden? Armes, unschuldiges, mir entsprossenes Geschöpf, dem ich nie einen Kuß geben konnte, während ich ihm viele Tränen weihte. Ach! mein ganzes Herz flog dem Grafen entgegen, als er von der teuren Hülle sprach, die man unter den Blumen fand.

 

Nein, nein, gnädige Frau; das ist es gerade, was ich Ihnen Furchtbares zu sagen habe, erwiderte Villefort mit dumpfer Stimme; nein, man hat keine Hülle unter den Bäumen gefunden; nein, es war dort kein vergrabenes Kind; nein, Sie dürfen nicht weinen; nein, Sie dürfen nicht seufzen, Sie müssen zittern.

 

Was wollen Sie damit sagen? rief Frau Danglars schauernd.

 

Ich will damit sagen, daß Herr von Monte Christo, als er am Fuße der Bäume graben ließ, weder das Skelett eines Kindes, noch die Beschläge einer Kiste finden konnte, weil unter diesen Bäumen weder das eine noch das andere vorhanden war.

 

Es war weder das eine noch das andere vorhanden! wiederholte Frau Danglars, auf den Staatsanwalt Augen heftend, deren furchtbar erweiterter Stern den tiefsten Schrecken andeutete; es war weder das eine noch das andere vorhanden, wiederholte sie noch einmal, wie eine Person, die durch den Klang ihrer Worte und das Geräusch ihrer Stimme ihre Gedanken festzuhalten versucht.

 

Nein! rief Villefort, während er seine Stirn in seine Hände sinken ließ; nein, hundertmal nein … Sie hatten also das arme Kind nicht dort niedergelegt, mein Herr? Warum täuschten Sie mich, sprechen Sie, in welcher Absicht taten Sie dies?

 

Hören Sie mich, gnädige Frau, und Sie werden mich beklagen, mich, der ich zwanzig Jahre lang, ohne den geringsten Teil auf Sie zu werfen, eine Last von Schmerzen getragen habe. Sie wissen, wie jene schmerzhafte Nacht verging, wo Sie, mit dem Tode ringend, auf Ihrem Bette in jenem Zimmer von rotem Damast lagen, während ich, fast ebenso keuchend wie Sie, Ihre Entbindung erwartete. Das Kind kam, wurde mir ohne Bewegung, ohne Atem, ohne Stimme übergeben, wir hielten es für tot.

 

Frau Danglars machte eine rasche Bewegung, als wollte sie vom Stuhle aufspringen. Doch Villefort hielt sie zurück, indem er, die Hände faltend, sie gleichsam um Aufmerksamkeit anflehte.

 

Wir hielten es für tot, wiederholte er; ich legte es in ein Kistchen, das den Sarg ersetzen sollte, ging in den Garten, grub ein Grab und verscharrte es in Eile. Kaum hatte ich das Kistchen mit Erde bedeckt, als sich der Arm des Korsen nach mir ausstreckte. Ich sah es wie einen Schatten sich emporrichten, wie einen Blitz leuchten. Ich fühlte einen Schmerz, ich wollte schreien, ein eisiger Schauer durchlief meinen ganzen Leib und schnürte mir die Kehle zusammen. Ich glaubte, meine letzte Minute sei gekommen, und brach zusammen. Nie werde ich Ihren erhabenen Mut vergessen, als ich mich, wieder zu mir gekommen, mit der größten Anstrengung bis unten an die Treppe schleppte, und Sie mir, selbst sterbend, entgegenkamen. Wir mußten völliges Stillschweigen über diese Katastrophe beobachten; Sie kehrten, von Ihrer Amme unterstützt, in Ihr Haus zurück; ein Duell diente als Vorwand für meine Wunde. Gegen alle Erwartung blieb unser Geheimnis bewahrt. Drei Monate lang kämpfte ich gegen den Tod; endlich, da ich wieder zum Leben zurückzukehren schien, verordnete man mir die Sonne und die Luft des Südens. Ich wurde nach Marseille gebracht, und Frau von Villefort folgte mir. Meine Wiedergenesung dauerte zehn Monate; ich hörte nichts von Ihnen und wagte nicht, mich zu erkundigen, was aus Ihnen geworden sei. Als ich nach Paris zurückkehrte, erfuhr ich, Sie hätten nach Herrn von Nargonnes Tode Herrn Danglars geheiratet.

 

Woran hatte ich, seitdem bei mir das Bewußtsein wiedergekehrt war, gedacht? Immer an dasselbe, immer an den Leichnam des Kindes, der jede Nacht in meinen Träumen dem Schoße der Erde entstieg und, mich mit Blick und Gebärde bedrohend, über dem Grabe schwebte. Kaum war ich nach Paris zurückgekehrt, als ich mich erkundigte; das Haus war, seitdem wir es verlassen, nicht wieder bewohnt, jedoch kurz zuvor auf neun Jahre vermietet worden. Ich suchte den Mieter auf, ich stellte mich, als hätte ich ein großes Verlangen, dieses Haus, das dem Vater und der Mutter meiner Frau gehörte, nicht in fremde Hände übergehen zu sehen, ich bot eine Entschädigung, wenn man den Vertrag aufheben wolle. Man verlangte 6000 Franken von mir; ich hätte 10, ja 20 000 gegeben. Ich trug die Summe bei mir, ließ auf der Stelle den Rücktritt unterzeichnen und ritt, sobald ich die ersehnte Abtretung in Händen hatte, im Galopp nach Auteuil. Niemand hatte das Haus betreten, seitdem ich es verlassen hatte. – Es war fünf Uhr nachmittags; ich ging in das rote Zimmer und wartete die Nacht ab. Alles, was ich mir seit einem Jahre in beständigem Todeskampfe sagte, stellte sich hier bedrohlicher vor mich als je in meinen Gedanken.

 

Der Korse, der mir die Vendetta erklärt hatte, der mir von Nimes nach Paris gefolgt war, der sich im Garten verborgen, mir den Stoß versetzt, mich das Grab hatte bereiten sehen, er hatte auch gesehen, wie ich das Kind verscharrt; es konnte ihm gelingen, Sie kennen zu lernen; er kannte Sie vielleicht bereits … Würde er sich nicht eines Tages das Geheimnis dieser furchtbaren Geschichte bezahlen lassen? … Wäre es nicht für ihn eine süße Rache, wenn er erführe, sein Dolchstich habe mich nicht getötet? Es war daher vor allem dringend, daß ich unter jeder Bedingung die Spuren der Vergangenheit verschwinden ließ. Aus diesem Grunde hob ich den Mietsvertrag auf, deshalb war ich gekommen, deshalb wartete ich.

 

Als die Nacht dicht und düster genug geworden war, ging ich ans Werk. Ich stand ohne Licht in jenem Zimmer, wo Windstöße die Türvorhänge zittern ließen, hinter denen ich beständig irgend einen verborgenen Spion zu sehen glaubte: von Zeit zu Zeit bebte ich, es kam mir vor, als hörte ich hinter mir, in jenem Bette, Ihre Klagen, und ich wagte nicht, mich umzuwenden. Mein Herz pochte laut, und ich fühlte es so heftig schlagen, daß ich glaubte, meine Wunde wolle sich wieder öffnen; endlich schienen alle Geräusche umher erstorben zu sein. Ich sah, daß ich nichts mehr zu befürchten hatte, daß ich weder gesehen, noch gehört werden konnte, und entschloß mich, hinabzugehen.

 

Hören Sie, Herminie, ich hielt mich für so mutig, wie ein Mann sein kann; als ich aber aus meiner Brusttasche jenen kleinen Treppenschlüssel hervorzog, jenen Schlüssel, den wir beide so sehr liebten, und den Sie an einem goldenen Ring befestigen ließen, – als ich die Tür öffnete, als ich den bleichen Mond einen langen Streifen weißen Lichtes, einem Gespenste ähnlich, durch die Fenster auf die schneckenförmigen Stufen werfen sah, da hielt ich mich an der Mauer und war nahe daran, zu schreien. Es war mir, als würde ich verrückt.

 

Es gelang mir, wieder meiner Herr zu werden. Ich stieg Stufe für Stufe die Treppe hinab; das einzige, was ich nicht zu überwinden vermochte, war ein seltsames Zittern in den Knien. Ich hielt mich an dem Geländer, hätte ich es nur einen Augenblick losgelassen, so wäre ich hinabgestürzt. Ich gelangte an die untere Tür. Außen lehnte ein Spaten an der Mauer; ich nahm ihn und schritt dem Gebüsche zu. Ich hatte mich mit einer Blendlaterne versehen; mitten auf dem Rasen blieb ich stehen, um sie anzuzünden, und setzte dann meinen Weg fort. – Der November war seinem Ende nahe; alles Grüne des Gartens war verschwunden, und das dürre Laub raschelte mit dem Sande unter meinen Tritten. Die Angst schnürte mir so gewaltig das Herz zusammen, daß ich, als ich mich den Bäumen näherte, eine Pistole aus der Tasche zog und den Hahn spannte. Beständig glaubte ich die Gestalt des Korsen durch die Zweige zu sehen.

 

Ich beleuchtete das Gebüsch mit meiner Blendlaterne; es war leer; ich schaute rings umher und fand mich allein; kein Geräusch störte die Stille der Nacht. Das Gras war den Sommer hindurch hier sehr hoch gewachsen, und niemand hatte es gemäht. Eine weniger bewachsene Stelle fesselte meine Aufmerksamkeit; hier hatte ich offenbar die Erde ausgegraben.

 

Ich schritt zum Werke. Endlich war ich zu dem Ziele gelangt, das ich seit mehr als einem Jahr ersehnte! Doch wie ich auch hoffte, wie ich arbeitete, wie ich jedes Stückchen Rasen untersuchte, im Glauben, ich würde am Ende meines Spatens Widerstand finden … nichts! Und ich machte doch ein Loch, zweimal so groß, als das erste gewesen war. Ich glaubte mich in der Stelle getäuscht zu haben, ich schaute mich um, ich betrachtete die Bäume, ich suchte die einzelnen Gegenstände, die mir früher in das Auge gefallen waren, wiederzuerkennen.

 

Ein kalter, scharfer Wind strich durch die entblätterten Zweige, und dennoch floß der Schweiß von meiner Stirn. Ich erinnerte mich, daß ich den Dolchstoß in dem Augenblick erhalten hatte, wo ich die Erde einstampfte, um das Grab wieder zu füllen. Beim Einstampfen hielt ich mich an einer Bauhinie; hinter mir war ein künstlicher Fels, der als Bank diente, denn als ich niedersank, fühlte meine Hand, die den Baum losgelassen hatte, diesen Stein. Zu meiner Rechten war die Bauhinie, hinter mir der Fels; ich fiel, indem ich mich setzen wollte; ich stand wieder auf und fing an, aufs neue zu graben und das Loch zu erweitern; – nichts, abermals nichts; das Kistchen war nicht da.

 

Das Kistchen war nicht da? murmelte Frau Danglars, vom Schrecken beinahe erstickt.

 

Glauben Sie nicht, daß ich mich auf diesen ersten Versuch beschränkte, fuhr Villefort fort, nein, ich durchwühlte das ganze Gebüsch; ich dachte, der Mörder habe im Glauben, es sei ein Schatz, das Kistchen ausgegraben, sodann, nachdem er seinen Irrtum wahrgenommen, selbst ein anderes Loch gemacht, und es dort hineingelegt … nichts! Dann kam mir der Gedanke, er sei nicht so vorsichtig zu Werke gegangen, und habe das Kistchen in einen Winkel geworfen. Um dies feststellen zu können, mußte ich aber den Tag abwarten. Ich ging wieder ins Zimmer hinauf und wartete. Bei Tagesanbruch ging ich abermals hinab. Zuerst begab ich mich wieder zu der Baumgruppe, wo ich Spuren zu finden hoffte, die mir in der Dunkelheit entgangen wären. Ich hatte die Erde in einer Oberfläche von mehr als zwanzig Quadratfuß und zwei Fuß tief umgewühlt. Es war ein reichliches Tagewerk eines bezahlten Arbeiters, was ich in einer Stunde getan hatte. Nichts, ich sah nicht das geringste.

 

Dann forschte ich nach, ob das Kistchen vielleicht weggeworfen worden sei. Es mußte dies auf dem Wege geschehen sein, der zu der kleinen Ausgangstür führte; aber diese neue Nachforschung war ebenso vergeblich, wie die erste, und mit gepreßtem Herzen kehrte ich zu der Baumgruppe zurück.

 

Oh! das war, um wahnsinnig zu werden! rief Frau Danglars.

 

Ich hoffte dies einen Augenblick, aber ich war nicht so glücklich, sagte Villefort. Indem ich aber meine Kräfte und damit meine Gedanken zusammenraffte, fragte ich mich: Warum sollte dieser Mensch den Leichnam mitgenommen haben?

 

 

Sie sagten ja selbst, um einen Beweis zu haben, versetzte Frau Danglars. Nein, das konnte es nicht mehr sein; man behält einen Leichnam nicht ein Jahr lang, man zeigt ihn einem Beamten, man macht seine Anzeige; doch nichts von dem war geschehen, Nun, und also? fragte Herminie stammelnd.

 

Dann gibt es noch etwas Furchtbareres, Unseligeres, Schrecklicheres für uns: das Kind lebt vielleicht, und der Mörder hat es gerettet.

 

Frau Danglars stieß einen gräßlichen Schrei aus, ergriff Villefort bei den Händen und sagte: Mein Kind lebte! Sie haben mein Kind lebendig begraben! Sie wußten nicht gewiß, ob es tot war, und begruben es! oh! …

 

Frau Danglars hatte sich aufgerichtet und stand drohend vor dem Staatsanwalt, dessen Fäuste sie mit ihren zarten Händen preßte.

 

Was weiß ich? Ich sage Ihnen dies, wie ich etwas anderes sagen würde, erwiderte Villefort mit einer Starrheit des Blickes, die andeutete, daß dieser kraftvolle Mann nahe daran war, die Grenzen der Verzweiflung und des Wahnsinns zu erreichen.

 

Oh! mein Kind, mein armes Kind! rief die Baronin, auf ihren Stich! zurücksinkend und ihr Schluchzen in ihrem Taschentuche erstickend.

 

Villefort kam wieder zu sich, er fühlte, daß er, um den mütterlichen Sturm abzuwenden, der sich über seinem Haupte sammelte, bei Frau Danglars den Schrecken, den er selbst fühlte, wirken lassen mußte.

 

Sie begreifen, wenn sich die Sache so verhält, sagte er, ebenfalls aufstehend und sich der Baronin nähernd, um leiser mit ihr zu sprechen, Sie begreifen, dann sind wir verloren! Dieses Kind lebt, es weiß jemand, daß es lebt, es ist jemand im Besitze unseres Geheimnisses, und da Monte Christo von einem Kinde spricht, das an einer Stelle vergraben worden sein soll, wo dieses Kind nicht war, so besitzt er dieses Geheimnis.

 

Gott! gerechter Gott! rächender Gott! Villefort antwortete nur durch eine Art von Röcheln.

 

Doch dieses Kind, mein Herr, dieses Kind? versetzte hartnäckig die Mutter.

 

Oh! wie habe ich es gesucht! erwiderte Villefort, die Hände ringend; wie oft habe ich es in meinen langen, schlaflosen Nächten gerufen! Wie oft habe ich mir einen königlichen Reichtum gewünscht, um einer Million Menschen eine Million Geheimnisse abzukaufen und das meinige darunter zu finden! Eines Tages endlich, als ich zum hundertsten Male den Spaten nahm, fragte ich mich auch zum hundertsten Male, was der Korse mit dem Kinde habe tun können? Ein Kind setzt einen Flüchtigen in Verlegenheit; vielleicht hatte er es, als er wahrnahm daß es noch lebte, in den Fluß geworfen.

 

Unmöglich! rief Frau Danglars; man ermordet einen Menschen aus Rache, aber man ertränkt nicht ein Kind mit kaltem Blute.

 

Vielleicht hatte er es zu den Findelkindern gebracht.

 

Oh! ja, ja, mein Kind ist dort.

 

Ich lief in das Hospiz und erfuhr, daß man in eben dieser Nacht, in der Nacht vom 20. September, ein Kind dort niedergelegt hatte; es war in die Hälfte einer absichtlich zerrissenen Serviette von feiner Leinwand eingewickelt. Diese Hälfte der Serviette zeigte die Hälfte einer Baronenkrone und den Buchstaben H.

 

So ist es, so ist es! rief Frau Danglars, alle meine Wäsche war so gezeichnet. Herr von Nargonne war Baron, und ich heiße Herminie. Ich danke Gott, mein Kind war nicht tot! – Nein, es war nicht tot. –

 

Und Sie sagen mir das! Sie sagen es, ohne zu befürchten, ich werde vor Freude sterben! Wo ist es? Wo ist mein Kind?

 

Villefort zuckte die Achseln und erwiderte: Weiß ich es? Glauben Sie, wenn ich es wüßte, ließe ich Sie alles dies durchmachen? Nein, ach! nein, ich weiß es nicht. Eine Frau war ungefähr sechs Monate zuvor, um das Kind zurückzufordern, mit der andern Hälfte der Serviette gekommen. Die Frau hatte alle vom Gesetze vorgeschriebenen Garantien geliefert, und man gab es ihr.

 

Sie hätten sich nach dieser Frau erkundigen, sie entdecken müssen.

 

Und glauben Sie, ich hätte das nicht getan? Ich schützte eine Kriminaluntersuchung vor und ließ durch alles, was die Polizei an geschickten Spürhunden, an gewandten Agenten besitzt, Nachforschungen anstellen. Man fand ihre Spur bis Chalons; in Chalons hat man sie verloren.

 

Frau Danglars hatte jeden einzelnen Umstand dieser Erzählung mit einem Seufzer, mit einer Träne, mit einem Schrei begleitet.

 

Und das ist alles? sagte sie, und hierbei ließen Sie es bewenden?

 

Oh! nein, erwiderte Villefort, ich habe nie aufgehört, zu suchen, mich zu erkundigen, nachzuforschen. Erst seit ein paar Tagen ließ ich ein wenig nach. Heute aber will ich mit mehr Beharrlichkeit und Schärfe als je wieder anfangen, und es wird mir gelingen, denn es ist nicht das Gewissen, was mich antreibt, sondern die Furcht.

 

Der Graf von Monte Christo weiß nichts, entgegnete Frau Danglars, sonst würde er Sie nicht so bevorzugen und zu gewinnen suchen, wie er dies tut.

 

Oh! die Bosheit der Menschen ist sehr tief, denn sie ist tiefer, als die Güte Gottes. Haben Sie die Augen dieses Mannes wahrgenommen, während er mit uns sprach? – Nein.

 

Haben Sie ihn zuweilen genauer betrachtet?

 

Er ist allerdings bizarr, mehr nicht; nur ist mir aufgefallen, daß er von dem ganzen kostbaren Mahle, das er uns vorgesetzt hat, nicht das geringste berührte.

 

Ja! ja! bestätigte Villefort. Ich habe dies ebenfalls bemerkt. Wenn ich gewußt hätte, was ich jetzt weiß, würde ich auch nichts berührt haben; ich hätte geglaubt, er wolle uns vergiften. Und Sie hätten sich getäuscht, wie Sie sehen.

 

Ja wohl; doch glauben Sie mir, dieser Mensch hat andere Pläne. Deshalb wollte ich Sie sehen, deshalb bat ich Sie um eine Unterredung, deshalb wollte ich Sie vor aller Welt und besonders vor ihm warnen. Sagen Sie mir, fuhr Villefort, seine Augen noch schärfer als bis jetzt auf die Baronin heftend, fort, Sie haben mit niemand von unserer Verbindung gesprochen?

 

Niemals mit irgend einem Menschen.

 

Sie verstehen mich, ich sage mit niemand? sagte Villefort liebevoll; verzeihen Sie mir diese dringende Frage, nicht wahr, mit niemand auf der ganzen Welt?

 

Oh! ja, ja, ich verstehe sehr gut, sagte die Baronin errötend, niemals, ich schwöre es Ihnen.

 

Sie haben nicht die Gewohnheit, am Abend aufzuschreiben, was am Morgen vorgefallen ist? Sie führen kein Tagebuch?

 

Nein! Ach! vom Leichtsinn fortgerissen, vergesse ich selbst mein vergangenes Leben.

 

Sie träumen nicht laut, soviel Sie wissen?

 

Ich habe den Schlaf eines Kindes; erinnern Sie sich dessen nicht mehr?

 

Purpur stieg in das Gesicht der Baronin, und Blässe übergoß Villeforts Antlitz.

 

Es ist wahr, sagte er so leise, daß man es kaum hörte.

 

Nun? fragte die Baronin.

 

Nun! ich sehe, was ich zu tun habe, versetzte Villefort; ehe acht Tage vergehen, weiß ich, wer Herr von Monte Christo ist, woher er kommt, wohin er geht, und warum er in unserer Gegenwart von Kindern spricht, die man in seinem Garten begräbt.

 

Villefort sprach diese Worte mit einem Tone, der den Grafen hätte schaudern lassen, wenn er ihn hätte hören können. Dann drückte er die Hand, die ihm die Baronin nur mit Widerstreben gab, und geleitete sie achtungsvoll bis an die Tür.

 

Ein Sommerball.

 

Ein Sommerball.

 

An demselben Tage, ungefähr zu der Stunde, wo Frau Danglars die Unterredung mit dem Staatsanwalt hatte, lenkte eine Kalesche in die Rue du Helder ein, fuhr durch das Tor von Nr. 27 und hielt im Hofe an.

 

Nach einem Augenblick öffnete sich der Kutschenschlag, und Frau von Morcerf stieg, auf den Arm ihres Sohnes gestützt, aus. Kaum hatte Albert seine Mutter in ihre Wohnung zurückgeleitet, als er seine Pferde verlangte und sich nach den Champs-Elisées zu dem Grafen von Monte Christo führen ließ.

 

Der Graf empfing ihn mit seinem gewöhnlichen Lächeln. Es war seltsam; nie schien man einen Schritt im Herzen oder Geiste dieses Mannes vorwärtszutun. Wer sich, so zu sagen, den Zugang zu seinem Vertrauen erzwingen wollte, fand eine eherne Mauer. Morcerf, der mit geöffneten Armen auf ihn zulief, ließ, als er ihn anschaute, trotz seines freundschaftlichen Lächelns, die Arme wieder sinken und wagte es kaum, ihm die Hand zu reichen.

 

Monte Christo berührte sie wie immer, ohne sie zu drücken.

 

Hier bin ich wieder, lieber Graf, sagte Albert. Ich bin erst vor einer Stunde von Treport zurückgekehrt, und mein erster Besuch gehört Ihnen.

 

Das ist sehr liebenswürdig, sagte Monte Christo gleichmütig.

 

Nun, was gibt es Neues in Paris? Wie war Ihr Fest in Auteuil?

 

Oh, nichts weiter, ein einfaches Diner, Herr von Danglars und Andrea Cavalcanti …

 

Ihr italienischer Fürst?

 

Wir wollen nicht übertreiben, Herr Andrea gibt sich nur den Titel eines Grafen. – Er ist es also nicht? – Weiß ich es? Er gibt sich, ich gebe ihm, man gibt ihm diesen Titel; ist das nicht, als ob er ihn hätte? – Sie sind ein seltsamer Mann! Nun, Herr Danglars hat also bei Ihnen zu Mittag gespeist?

 

Ja. Mit dem Grafen Andrea Cavalcanti, dem Marquis seinem Vater, mit Frau Danglars, Herrn und Frau von Villefort, reizenden Leuten, Herrn Debray, Maximilian Morel und dann noch mit wem … warten Sie … ah! mit Herrn von Chateau-Renaud. – Man hat von mir gesprochen?

 

Kein Wort. – Desto schlimmer, denn wenn man nicht von mir sprach, so dachte man viel an mich, und dann bin ich in Verzweiflung.

 

Was ist Ihnen daran gelegen, da Fräulein Danglars nicht unter der Zahl derer war, die hier an Sie dachten? Ah! sie konnte allerdings zu Hause an Sie denken.

 

Oh! was das betrifft, nein, dessen bin ich gewiß; oder wenn sie an mich dachte, so geschah es auf dieselbe Weise, wie ich an sie denke.

 

Eine rührende Sympathie! Sie hassen sich also?

 

Hören Sie, sagte Morcerf, wenn Fräulein Danglars geeignet wäre, Mitleid mit dem Märtyrertum zu empfinden, das ich für sie erdulde, und mich außerhalb des von unsern Familien beschlossenen Ehebundes belohnen wollte, so würde mir dies vortrefflich zusagen. Kurz, ich glaube, Fräulein Danglars wäre eine entzückende Geliebte, doch als Frau, Teufel! …

 

Das ist also die Art und Weise, wie Sie über Ihre Zukünftige denken? sagte Monte Christo lachend.

 

Oh! mein Gott, ja, zwar etwas roh, aber wenigstens klar. Da man jedoch aus diesem Traume keine Wirklichkeit machen kann, da, eines gewissen Zieles wegen, Fräulein Danglars meine Frau werden, das heißt mit mir leben, bei mir denken, bei mir singen, zehn Schritte von mir Verse und Musik machen muß, und dies mein ganzes Leben hindurch, so erschrecke ich. Eine Geliebte, lieber Graf, verläßt man, aber eine Frau, zum Teufel! das ist was anderes, die behält man, und zwar ewig, nahe oder ferne; Fräulein Danglars aber stets zu behalten, und wäre es auch nur in der Ferne, ist in der Tat schrecklich.

 

Sie sind schwer zu befriedigen, Vicomte.

 

Ja, denn häufig denke ich an etwas Unmögliches. Ich wünsche, eine Frau für mich zu finden, wie mein Vater eine gefunden hat.

 

Monte Christo erbleichte und schaute Albert an, während er mit prächtigen Pistolen spielte, deren Federn er knacken ließ.

 

Ihr Vater ist also sehr glücklich gewesen? sagte er.

 

Sie wissen, wie ich von meiner Mutter denke, Herr Graf: ein Engel des Himmels, immer noch schön, besser als je. Ich komme von Treport zurück. Für einen andern Sohn wäre die Begleitung seiner Mutter eine Gefälligkeit oder ein Frondienst gewesen, ich aber habe acht Tage unter vier Augen mit ihr zufriedener, ruhiger, poetischer, sage ich Ihnen, zugebracht, als wenn ich Titania nach Treport geführt hätte.

 

Das ist eine erschreckliche Vollkommenheit, und Sie machen denen, die Sie hören, große Lust, Junggesellen zu bleiben.

 

Gerade weil ich weiß, daß es auf der Welt eine vollkommene Frau gibt, getraue ich mir nicht, Fräulein Danglars zu heiraten. Haben Sie zuweilen bemerkt, wie unsere Selbstsucht alles, was uns gehört, in glänzende Farben kleidet? Der Diamant, den wir im Schaufenster des Juweliers funkeln sahen, wird viel schöner, sobald er unser Diamant ist. Doch wie schmerzlich ist es, wenn man weiß, daß es einen von reinerem Wasser gibt, während man selbst verurteilt ist, den geringeren Diamanten ewig zu tragen?

 

Weltmensch! murmelte der Graf.

 

Deshalb werde ich vor Freude springen an dem Tage, wo Fräulein Eugenie wahrnimmt, daß ich ein dürftiges Atom bin und kaum so viele 100 000 Franken besitze als sie Millionen hat.

 

Monte Christo lächelte.

 

Ich hatte wohl einen Gedanken, fuhr Albert fort; Franz liebt das Exzentrische, und ich wollte ihn in Fräulein Danglars verliebt machen; doch obgleich ich ihm vier Briefe lockendsten Inhalts schrieb, antwortete er mir stets und unabänderlich: Ich bin allerdings exzentrisch, aber das geht bei mir nicht so weit, daß ich mein Wort zurücknehme, wenn ich es einmal gegeben habe.

 

Das nenne ich eine aufopfernde Freundschaft, einem andern eine Frau geben, die man selbst nur zur Geliebten haben möchte.

 

Albert lächelte.

 

Wissen Sie, daß dieser liebe Franz zurückkommt? sagte Morcerf; doch es ist Ihnen wenig daran gelegen, Sie lieben ihn, glaube ich, nicht?

 

Ich! ei mein lieber Vicomte, woher glauben Sie denn, daß ich Franz nicht liebe? Ich liebe die ganze Menschheit.

 

Und ich bin in dieser Menschheit mit einbegriffen … Ich danke.

 

Wir wollen die Sache nicht verwirren, sagte Monte Christo, ich liebe die ganze Menschheit so, wie wir nach Gottes Befehl unsern Nächsten lieben sollen, das heißt auf eine christliche Weise; doch ich hasse nur gewisse Personen. Kommen wir aber auf Herrn d’Epinay zurück. Sie sagen, er kehre zurück?

 

Ja, von Herrn von Villefort zurückgerufen, der, wie es scheint, ebenso begierig ist, Fräulein Valentine zu verheiraten, wie Herr Danglars, Fräulein Eugenie zu verehelichen. Der Zustand eines Vaters, der erwachsene Töchter besitzt, muß recht angreifend sein; es scheint, er verursacht ihnen Fieber, und ihr Puls schlägt neunzigmal in der Minute, bis sie die Tochter los sind.

 

Herr d’Epinay gleicht Ihnen nicht, er nimmt, wie ich glaube, sein Unglück in Geduld hin.

 

Er tut noch etwas Besseres, er nimmt die Sache ernst, zieht weiße Halsbinden an und spricht bereits von seiner Familie. Übrigens hegt er eine große Achtung vor den Villeforts.

 

Nicht wahr, eine wohlverdiente? Ich glaube, Herr von Villefort galt immer für einen strengen, aber gerechten Mann.

 

Das lasse ich mir gefallen, sagte Monte Christo, es ist doch wenigstens einer, den Sie nicht wie den armen Herrn Danglars behandeln.

 

Dies kommt vielleicht daher, daß ich nicht genötigt bin, seine Tochter zu heiraten, entgegnete Albert lachend.

 

In der Tat, mein Herr, sagte Monte Christo, ich wundere mich über Sie.

 

Und warum?

 

Weil Sie sich gegen eine Heirat mit Fräulein Danglars sträuben. Mein Gort! lassen Sie die Dinge ihren Gang gehen, und Sie brauchen vielleicht gar nicht zuerst Ihr Wort zurückzunehmen.

 

Bah! rief Albert mit großen Augen.

 

Allerdings, mein lieber Vicomte, man wird Ihnen nicht mit Gewalt den Kopf zwischen Tür und Angel stecken! Sprechen Sie im Ernste, sagte Monte Christo, den Ton ändernd, haben Sie Lust zu brechen?

 

Ich gebe 100 000 Franken dafür.

 

Wohl, so seien Sie froh! Herr Danglars ist bereit, das Doppelte zu geben, um zu demselben Ziele zu gelingen.

 

Ist dieses Glück wahr? sagte Albert, der es indessen, während er so sprach, nicht verhindern konnte, daß eine unmerkliche Wolke über seine Stirn hinzog. Doch, mein lieber Herr Graf, Herr Danglars hat also Gründe?

 

Ah! hier kommt die stolze, selbstsüchtige Natur zu Tage. Gut, ich finde hier wieder den Menschen, der die Eitelkeit eines andern mit der Axt totschlagen will und schreit, wenn man die seinige mit einer Nadel ansticht.

 

Nein! doch es scheint mir, Herr Danglars …

 

Sollte von Ihnen entzückt sein, nicht wahr? Ei! Herr Danglars ist entschieden ein Mann von schlechtem Geschmacke und noch mehr entzückt von einem andern … Studieren Sie, schauen Sie, ergreifen Sie die Anspielungen im Fluge, und ziehen Sie Nutzen daraus!

 

Gut, ich begreife; hören Sie, meine Mutter … nein! nicht meine Mutter, mein Vater hat den Gedanken gehabt, einen Ball zu geben. – Einen Ball zu dieser Jahreszeit? – Die Bälle sind stets in der Mode. – Wären sie es nicht, so dürfte die Gräfin nur wollen, und sie würde sie in Mode bringen.

 

Nicht übel; Sie begreifen, es sind Vollblutbälle; die, welche im Monat Juli in Paris bleiben, sind wahre Pariser. Wollen Sie eine Einladung für die Herren Cavalcanti übernehmen? – Wann wird der Ball stattfinden? – Sonnabend. – Herr Cavalcanti Vater wird abgereist sein. – Doch Herr Cavalcanti Sohn bleibt; wollen Sie es übernehmen, Herrn Cavalcanti Sohn zu bringen? – Hören Sie, Vicomte, ich kenne ihn nicht. – Sie kennen ihn nicht? – Nein, ich habe ihn vor drei oder vier Tagen zum erstenmal gesehen und stehe in keiner Beziehung zu ihm. – Doch Sie empfangen ihn?

 

Ja, das ist etwas anderes; er ist mir durch einen braven Abbé empfohlen worden, den man getäuscht haben kann. Laden Sie ihn immerhin selbst ein, sagen Sie mir aber nicht, ich soll ihn bei Ihnen vorstellen. Sollte er später Fräulein Danglars heiraten, so könnten Sie mich eines Schleichwegs beschuldigen und Lust bekommen, sich auf Leben und Tod mit mir zu schlagen; überdies weiß ich nicht, ob ich selbst auf Ihren Ball kommen werde.

 

Warum werden Sie nicht kommen?

 

Einmal, weil ich noch nicht eingeladen bin.

 

Ich erscheine ausdrücklich hier, um Ihnen Ihre Einladung persönlich zu überbringen.

 

Oh! das ist entzückend; doch ich kann verhindert sein.

 

Wenn ich Ihnen eines gesagt habe, sind Sie liebenswürdig genug, um uns alle Hindernisse zum Opfer zu bringen.

 

Sprechen Sie! Meine Mutter bittet Sie.

 

Die Frau Gräfin von Morcerf? versetzte Monte Christo bebend. In der Tat, Sie überhäufen mich mit Artigkeiten!

 

Sehen Sie, diesen Vorzug hat man, wenn man ein lebendiges Problem ist! Sie kommen also Sonnabend?

 

Da mich Frau von Morcerf darum bittet.

 

Sie sind bezaubernd.

 

Und Herr Danglars?

 

Oh! er hat bereits eine dreifache Einladung erhalten; mein Vater übernahm dies. Wir werden auch bemüht sein, Herrn von Villefort heranzuziehen, doch es ist zweifelhaft, ob er zusagt. Tanzen Sie, Herr Graf?

 

Nein, ich tanze nicht, aber ich sehe gern tanzen. Tanzt Frau von Morcerf?

 

Niemals; Sie plaudert gern und hat große Lust, mit Ihnen zu plaudern.

 

Wirklich?

 

Bei meinem Ehrenwort! Ich erkläre Ihnen, Sie sind der erste Mann, für den meine Mutter Interesse zeigt.

 

Albert nahm seinen Hut und stand auf; der Graf führte ihn an die Tür.

 

Ich mache mir einen Vorwurf, sagte er, ihn oben an der Freitreppe zurückhaltend, ich war indiskret, ich hätte nicht von Herrn Danglars sprechen sollen.

 

Im Gegenteil, sprechen Sie abermals, sprechen Sie oft, sprechen Sie immer davon, doch immer auf die gleiche Weise.

 

Gut! Sie beruhigen mich, Sagen Sie mir, wann kommt Herr d’Epinay?

 

Spätestens in fünf bis sechs Tagen.

 

Und wann heiratet er?

 

Sobald Herr und Frau von Saint-Meran eingetroffen find.

 

Bringen Sie ihn zu mir, wenn er in Paris ist. Obgleich Sie behaupten, ich liebe ihn nicht, erkläre ich Ihnen doch, daß ich mich freuen werde, ihn wiederzusehen.

 

Ihre Befehle sollen vollzogen werden, Herr Graf. Auf Wiedersehen!

 

Der Graf grüßte Albert mit der Hand und folgte ihm mit den Augen. Als der Vicomte in seinen Phaeton gestiegen war, wandte sich Monte Christo um und fragte, da er Bertuccio hinter sich fand: Nun? – Sie ist in den Justizpalast gefahren. – Ist sie lange dort geblieben? – Anderthalb Stunden. – Und dann nach Hause zurückgekehrt? – Unmittelbar.

 

Wohl, mein lieber Herr Bertuccio, wenn ich Ihnen nun einen Rat geben soll, so sehen Sie in der Normandie nach, ob Sie nicht das kleine Landgut finden, von dem ich mit Ihnen sprach.

 

Herr Bertuccio verbeugte sich, und da seine Wünsche mit dem Befehle, den er erhalten, vollkommen im Einklang standen, so reiste er noch an demselben Abend ab.

 

Nachforschungen.

 

Nachforschungen.

 

Herr von Villefort hielt Frau Danglars und besonders sich selbst Wort, indem er zu erfahren suchte, wie der Graf von Monte Christo Kenntnis von der Geschichte des Hauses in Auteuil erlangt habe.

 

Er schrieb an demselben Tage an einen gewissen Herrn von Boville, der, nachdem er einst Inspektor der Gefängnisse gewesen war, jetzt eine höhere Stellung bei der Sicherheitspolizei einnahm, um von diesem die gewünschte Auskunft zu erhalten. Herr von Boville verlangte zwei Tage, um in Erfahrung zu bringen, bei wem man genaue Kunde einziehen könnte. Nach zwei Tagen erhielt Herr von Villefort folgende Note:

 

Die Person, die man den Grafen von Monte Christo nennt, ist besonders dem Lord Wilmore, einem reichen Fremden, bekannt, den man zuweilen in Paris sieht, und der sich in diesem Augenblick hier befindet? sie ist ebenfalls bekann! dem Abbé Busoni, einem sizilianischen Priester, der im Orient viele gute Werke verrichtet hat und dort einen großen Ruf genießt.

 

Herr von Villefort antwortete durch einen Befehl, über diese beiden Fremden auf das schleunigste und genaueste Erkundigungen einzuziehen; am andern Abend waren seine Befehle vollzogen, und er erhielt folgende Notizen:

 

Der Abbé, der nur auf einen Monat in Paris war, bewohnte hinter Saint-Sulpice ein kleines Haus, bestehend aus einem Stocke und einem Erdgeschoß; vier Zimmer, zwei oben, zwei unten, bildeten die ganze Wohnung, deren einziger Mieter er war.

 

Die zwei unteren Zimmer bestanden aus einem Speisesaal mit Tischen, Stühlen und Büfett von Nußbaumholz und einem Salon mit weiß angemaltem Getäfel, ohne Zieraten, ohne Teppiche und ohne Uhr. Man sah, daß sich der Abbé für seine Person auf das Notwendigste beschränkte. Der Abbé bewohnte vorzugsweise den Salon im ersten Stocke, der ganz mit theologischen Büchern und Pergamenten, unter denen man ihn, wie sein Kammerdiener sagte, sich Monate lang vergraben sah, ausgestattet war.

 

Sein Diener betrachtete die Besucher durch eine Art von Gitter, und wenn ihm ihr Gesicht unbekannt war oder mißfiel, so antwortete er, der Abbé sei nicht in Paris, womit sich viele begnügten, denn man wußte, daß er häufig reiste und zuweilen lange auf der Reise blieb. Mochte er übrigens zu Hause sein oder nicht, so gab der Abbé doch immer reichliche und ständige Almosen. Das andere Zimmer, das neben der Bibliothek lag, war ein Schlafzimmer. Ein Bett ohne Vorhänge, vier Lehnstühle und ein Sofa bildeten nebst einem Betpult seine ganze Ausstattung.

 

Lord Wilmore wohnte in der Rue Saint-George, Er gehörte zu den englischen Touristen, die ihr ganzes Vermögen auf der Reise verzehren. Er mietete eine möblierte Wohnung, in der er nur zwei bis drei Stunden des Tages zubrachte und sehr selten schlief. Er hatte unter andern die Manie, durchaus nicht französisch sprechen zu wollen, jedoch soll er ziemlich korrekt französisch geschrieben haben.

 

Am andern Tage, nachdem diese kostbare Auskunft bei dem Staatsanwalt eingetroffen war, klopfte ein Mensch, der an der Ecke der Rue Férou aus dem Wagen stieg, an eine olivengrün angemalte Tür, fragte nach dem Abbé Busoni und erhielt von einem Diener die Antwort, der Herr Abbé sei ausgegangen.

 

Ich kann mich mit dieser Antwort nicht begnügen, sagte der Besuch, denn ich komme im Auftrage einer Person, für die man immer zu Hause ist. Doch wollen Sie dem Herrn Abbé Busoni …

 

Ich habe Ihnen bereits gesagt, er sei nicht zu Hause, wiederholte der Diener.

 

So geben Sie ihm, wenn er zurückkehrt, diese Karte und dieses versiegelte Papier. Wird der Herr Abbé heute abend um acht Uhr zu Hause sein?

 

Ohne allen Zweifel, mein Herr.

 

Ich werde heute abend zur genannten Stunde wiederkommen, versetzte der Besuch und entfernte sich.

 

Zur bestimmten Stunde kam derselbe Mensch in demselben Wagen, der, statt an der Ecke der Rue Férou anzuhalten, diesmal vor der grünen Tür anhielt. Er klopfte, man öffnete ihm, und er trat ein.

 

Aus den Zeichen der Ehrfurcht, die ihm der Diener erwies, ersah er, daß der Brief die gewünschte Wirkung hervorgebracht hatte.

 

Ist der Herr Abbé zu Hause? fragte er.

 

Ja, er arbeitet in seiner Bibliothek; doch er erwartet den Herrn, sagte der Diener.

 

Der Fremde stieg eine ziemlich schlechte Treppe hinauf und erblickte an einem Tische, dessen Oberfläche mit der Helle übergossen war, die ein weiter Lichtschirm konzentrierte, während der Rest des Zimmers im Schatten lag, den Abbé in geistlicher Kleidung, den Kopf mit einer von jenen Kappen bedeckt, wie sie im Mittelalter die Gelehrten trugen. Habe ich die Ehre, mit Herrn Busoni zu sprechen? fragte der Fremde.

 

Ja, antwortete der Abbé, und Sie sind die Person, die Herr von Boville, der ehemalige Intendant der Gefängnisse, im Auftrage des Herrn Polizeipräfekten zu mir schickt? – Ganz richtig, mein Herr. – Einer von den Agenten, die für die Sicherheit von Paris zu sorgen haben? – Ja, mein Herr, antwortete der Fremde mit einem gewissen Zögern und etwas errötend.

 

Der Abbé richtete die große Brille zurecht, die nicht nur seine Augen, sondern auch, seine Schläfe bedeckte, setzte sich wieder und bedeutete dem Fremden durch ein Zeichen, er möge sich ebenfalls setzen.

 

Ich höre Sie, mein Herr, sagte der Abbé mit scharf italienischem Akzente.

 

Die Sendung, die ich übernommen habe, mein Herr, sagte der Besuch, jedes seiner Worte so langsam aussprechend, als hätten sie Mühe aus dem Munde zu gehen, gereicht sowohl dem zum Vertrauen, der sie vollzieht, wie dem, bei dem sie vollzogen wird.

 

Der Abbé verbeugte sich.

 

Ja, mein Herr, fuhr der Fremde fort, Ihre Redlichkeit ist dem Herrn Polizeipräfekten so wohl bekannt, daß er als Beamter von Ihnen eine Sache erfahren will, bei der die öffentliche Sicherheit beteiligt ist, in deren Namen ich bei Ihnen erscheine. Wir hoffen, Herr Abbé, daß weder Bande der Freundschaft, noch menschliche Rücksichten Sie veranlassen werden, der Justiz die Wahrheit zu verbergen.

 

Vorausgesetzt, daß die Dinge, die Sie zu erfahren wünschen, in keiner Beziehung die Bedenklichkeiten meines Gewissens berühren. Ich bin Priester, und die Geheimnisse der Beichte, zum Beispiel, müssen mir und der Gerechtigkeit Gottes und nicht mir und der menschlichen Gerechtigkeit vorbehalten bleiben. Oh, seien Sie unbesorgt, Herr Abbé, sagte der Fremde, jedenfalls werden wir Ihr Gewissen nicht belasten.

 

Bei diesen Worten drückte der Abbé auf seiner Seite auf den Lichtschirm nieder und hob ihn auf der andern Seite, so daß das Gesicht des Fremden völlig beleuchtet wurde, das seinige aber ganz im Schatten blieb.

 

Verzeihen Sie, Herr Abbé, sagte der Abgeordnete des Polizeipräfekten, dieses Licht ist höchst schmerzhaft für meine Augen.

 

Der Abbé drückte den grünen Pappendeckel nieder.

 

Sprechen Sie nun!

 

Ich komme zur Sache. Sie kennen ohne Zweifel den Grafen von Monte Christo?

 

Sie meinen Herrn Zaccone?

 

Zaccone … heißt er denn nicht Monte Christo?

 

Monte Christo ist der Name eines Gutes, oder vielmehr eines Felsens und kein Familienname.

 

Wohl, es mag sein; streiten wir nicht über Worte, und da Herr von Monte Christo und Herr Zaccone derselbe Mensch ist, so wollen wir von Herrn Zaccone sprechen; kennen Sie ihn? – Genau. – Wer ist er? – Er ist der Sohn eines reichen Reeders in Malta. – Ja, ich weiß, das sagt man; doch Sie begreifen, die Polizei kann sich nicht mit einem ›man sagt‹ begnügen!

 

Wenn aber, versetzte der Abbé mit sehr freundlichem Lächeln, dieses man sagt die Wahrheit ist, so muß sich die ganze Welt damit begnügen, und die Polizei ebenfalls.

 

Sind Sie dessen, was Sie sagen, gewiß?

 

Ob ich dessen gewiß bin!

 

Bemerken Sie wohl, mein Herr, ich, setze durchaus keinen Zweifel in Ihre Glaubwürdigkeit. Ich frage Sie: Sind Sie Ihrer Sache gewiß?

 

Hören Sie, ich habe Herrn Zaccone, den Vater, gekannt und habe mit dem Sohne, als er noch ein Kind war, wohl zehnmal auf den Werften gespielt.

 

Doch dieser Grafentitel? …

 

Sie wissen, so was läßt sich kaufen.

 

Doch diese Reichtümer, welche, wie man sagt, ungeheuer sind …

 

Oh! was das betrifft, erwiderte der Abbé, ungeheuer, das ist das richtige Wort.

 

Wieviel glauben Sie, daß er besitzt?

 

Oh! er hat gewiß 200 000 Franken Rente.

 

Ah! das läßt sich hören, versetzte der Fremde, aber man sprach von drei, von vier Millionen Rente!

 

Oh, das ist nicht glaublich!

 

Und Sie kennen seine Insel Monte Christo?

 

Gewiß: jeder, der von Palermo, von Neapel oder Rom nach Frankreich reist, kennt diese Felseninsel, weil er sie im Vorüberfahren sehen muß.

 

Und warum hat der Graf diese Felsen gekauft?

 

Gerade, um Graf zu sein. Um in Italien Graf zu werden, bedarf man auch einer Grafschaft.

 

Sie haben ohne Zweifel von den Jugendabenteuern des Herrn Zaccone sprechen hören?

 

Ah! hier fängt die Ungewißheit bei mir an, denn hier habe ich meinen Kameraden aus dem Gesichte verloren.

 

Sie sind nicht sein Beichtvater?

 

Nein, mein Herr? ich glaube, er ist Lutheraner.

 

Wie? Lutheraner?

 

Ich sage, ich glaube; ich weiß es nicht genau. Übrigens war ich der Ansicht, in Frankreich bestehe Freiheit des Kultus.

 

Allerdings, auch beschäftigen wir uns in diesem Augenblick nicht mit seinem Glauben, sondern mit seinen Handlungen; im Namen des Herrn Polizeipräfekten fordere ich Sie auf, zu sagen, was Sie davon wissen.

 

Er gilt für einen sehr wohltätigen und menschenfreundlichen Mann. Unser heiliger Vater, der Papst, hat ihn, eine Gunst, die er kaum Fürsten bewilligt, zum Ritter des Christusordens für die großen Dienste ernannt, die er den Christen im Orient geleistet; er hat so fünf bis sechs Großkreuze für Dienste erhalten, die von ihm den Fürsten oder den Staaten erwiesen worden sind.

 

Und er trägt sie? – Nein, doch er ist stolz darauf; er sagt, er liebe mehr die den Wohltätern der Menschheit geltenden Belohnungen, als die, welche man den Zerstörern der Menschen zubilligt. – Weiß man, daß er Freunde hat? – Ja, denn es sind alle die seine Freunde, die ihn kennen. – Doch hat er gar keinen Feind? – Einen einzigen. – Wie heißt er? – Lord Wilmore. – Wo ist er? Kann er mir Auskunft geben? – Kostbare. Er war zu gleicher Zeit mit Zaccone in Indien und wohnt, glaube ich, jetzt irgendwo in der Chaussée d’Antin.

 

Sie stehen schlecht mit diesem Engländer?

 

Ich liebe Zaccone, und er haßt ihn; unser Verhältnis ist darum nicht das beste.

 

Mein Herr Abbé, glauben Sie, der Graf von Monte Christo sei je in Frankreich gewesen, vor der Reise, die er jetzt nach Paris gemacht hat?

 

Nein, mein Herr, er ist nie hier gewesen, denn er hat sich vor sechs Monaten an mich gewendet, um die erforderliche Auskunft zu erhalten. Da ich meinerseits nicht wußte, wann ich in Paris sein würde, so wies ich ihn an Herrn Bartolomeo Cavalcanti.

 

Sehr gut, mein Herr; ich habe Sie nur noch eines zu fragen und fordere Sie im Namen der Menschheit, der Ehre und der Religion auf, mir ohne Umschweife zu antworten.

 

Sprechen Sie, mein Herr!

 

Wissen Sie, in welcher Absicht Herr von Monte Christo ein Haus in Auteuil kaufte?

 

Gewiß, denn er hat es mir gesagt. Um daraus ein Hospiz für Geisteskranke nach Art dessen zu machen, das der Baron von Pisari in Palermo gegründet hat.

 

Kennen Sie dieses Hospiz?

 

Ich habe davon gehört; es soll eine herrliche Anstalt sein. Hierauf grüßte der Abbé den Fremden, wie ein Mensch, der zu verstehen geben will, es sei ihm nicht unangenehm, eine unterbrochene Arbeit wiederaufnehmen zu können.

 

Begriff der Besuch das Verlangen des Abbés, oder war er mit seinen Fragen zu Ende … er stand ebenfalls auf. Der Abbé begleitete ihn bis zur Tür, und der Fremde entfernte sich.

 

Der Wagen führte ihn geradeswegs zu Herrn von Villefort.

 

Eine Stunde nachher kam der Wagen abermals heraus, und diesmal wandte er sich nach der Rue Fontaine-Saint-George, bei Nr. 5 hielt er an. Hier wohnte Lord Wilmore. Der Fremde hatte Lord Wilmore schriftlich um eine Zusammenkunft gebeten, die dieser auf zehn Uhr bestimmte. Als der Abgesandte des Polizeipräfekten zehn Minuten vor zehn Uhr ankam, antwortete man ihm, Lord Wilmore, die Pünktlichkeit und Genauigkeit in Person, sei noch nicht zurückgekehrt, aber er werde sicher Punkt zehn Uhr erscheinen.

 

Der Besuch wartete im Salon. Dieser Salon hatte nichts Merkwürdiges und war wie alle Salons in einem Hotel garni. Ein Kamin mit zwei schönen Porzellanvasen, eine Pendeluhr mit einem Amor, der seinen Bogen spannt; ein Spiegel, auf jeder Seite dieses Spiegels ein Kupferstich, eine Tapete in Grau: das war der Salon des Lord Wilmore.

 

Er wurde durch Kugeln von geschliffenem Glase beleuchtet, die nur ein mattes Licht verbreiteten, das ausdrücklich für die schwachen Augen des Abgeordneten des Herrn Polizeipräfekten berechnet zu sein schien.

 

Nachdem dieser zehn Minuten gewartet hatte, schlug es zehn Uhr; beim fünften Schlage öffneten sich die Türen, und Lord Wilmore erschien.

 

 

Lord Wilmore war ein Mann, mehr groß als klein, mit dünnem, rotem Backenbarte, weißer Gesichtsfarbe und blonden, gräulich werdenden Haaren. Er war auf echt englisch-bizarre Weise gekleidet, das heißt, er trug einen blauen Frack mit goldenen Knöpfen und einem hohen, gesteppten Kragen, wie sie 1811 Mode waren, eine weiße Weste und Hosen von Nankin, die drei Zoll zu kurz waren, aber durch Stege von demselben Stoffe verhindert wurden, bis an die Knie zurückzuweichen. Sein erstes Wort beim Eintritt war: Sie wissen mein Herr, daß ich nicht Französisch spreche?

 

Ich weiß wenigstens, daß Sie es nicht gern sprechen, antwortete der Bote des Herrn Polizeipräfekten.

 

Doch Sie können es sprechen, versetzte Lord Wilmore, denn wenn ich es auch nicht spreche, so verstehe ich es doch.

 

Und ich, sagte der Besuch, das Idiom wechselnd, spreche leicht genug Englisch, um eine Unterredung in dieser Sprache führen zu können. Tun Sie sich also keinen Zwang an, mein Herr.

 

Oh! rief Lord Wilmore mit jenem Tone, der nur den reinsten Eingeborenen Großbritanniens angehört.

 

Der Abgeordnete des Polizeipräfekten übergab Lord Wilmore sein Beglaubigungsschreiben. Dieser las es mit englischem Phlegma … Als er damit zu Ende war, sagte er englisch: Ich begreife, ich begreife sehr gut.

 

Nun begannen die Fragen.

 

Es waren ungefähr dieselben, die man dem Abbé Busoni vorgelegt hatte. Da jedoch Lord Wilmore als Feind des Grafen von Monte Christo nicht mit derselben Zurückhaltung antwortete, wie der Abbé Busoni, so wurden sie vervielfacht. Er erzählte von der Jugend Monte Christos, der, seiner Behauptung nach, in einem Alter von zehn Jahren in den Dienst eines der kleinen indischen Fürsten getreten war, die mit England beständig im Streite liegen; hier traf ihn Wilmore seiner Aussage nach zum ersten Male, und sie kämpften gegeneinander. Und in eben diesem Kriege wurde Zaccone zum Gefangenen gemacht, nach England geschickt und auf die Pontons gebracht, von wo er schwimmend entfloh. Hierauf folgten seine Reisen, seine Zweikämpfe, seine Leidenschaften; es kam der Aufstand in Griechenland, und er diente in den Reihen der Hellenen. Während er in ihren Diensten war, entdeckte er eine Silbermine in den Gebirgen Thessaliens; doch er hütete sich, mit irgend jemand davon zu sprechen. Nach der Schlacht bei Navarin, und nachdem sich die griechische Regierung befestigt hatte, verlangte er von König Otto ein Privilegium zur Ausbeutung dieser Miene, das ihm bewilligt wurde. Daher rührte sein Vermögen, das sich nach der Ansicht Lord Wilmores auf eine bis zwei Millionen Einkünfte belaufen mochte, ein Vermögen, das nichtsdestoweniger versiegen konnte, wenn sein Bergwerk versiegte.

 

Doch wissen Sie, warum er nach Frankreich gekommen ist?

 

Er will in Eisenbahnen spekulieren, sagte Lord Wilmore; und als geschickter Chemiker und nicht minder ausgezeichneter Physiker hat er einen Telegraphen erfunden, dessen praktische Ausbeutung er im Auge hat.

 

Wieviel gibt er ungefähr jährlich aus? fragte der Abgeordnete des Polizeipräfekten.

 

Oh! höchstens 5 bis 600 000 Franken, er ist geizig. Offenbar ließ der Haß den Engländer so sprechen; er wußte nicht, was er dem Grafen zum Vorwurf machen sollte, und warf ihm Geiz vor.

 

Wissen Sie etwas von seinem Hause in Auteuil?

 

Sie fragen, warum er es gekauft hat? – Ja.

 

Der Graf ist ein Spekulant, der sich in Versuchen und Utopien zu Grunde richten wird. Er behauptet, es gebe in Auteuil, in der Gegend des von ihm erkauften Hauses, eine Mineralquelle, die den ersten französischen Wassern gleich komme. Er will aus seiner Erwerbung ein Badehaus machen. Bereits hat er zwei bis dreimal seinen ganzen Garten umgewühlt, und weil er die berühmte Quelle nicht finden konnte, so werden Sie sehen, daß er binnen kurzem alle Häuser kauft, die an das seinige grenzen. Da ich ihm grolle und hoffe, daß er sich mit seiner Eisenbahn, mit seinem elektrischen Telegraphen oder seiner Bäderspekulation zu Grunde richten wird, so folge ich ihm, um mich an seiner Niederlage zu weiden, die früher oder später eintreten muß.

 

Und warum grollen Sie ihm? fragte der Besuch.

 

Ich grolle ihm, antwortete Lord Wilmore, weil er bei einem Aufenthalte in England die Frau eines meiner Freunde verführt hat.

 

Doch wenn Sie feindselig gegen ihn gesinnt sind, warum suchen Sie sich nicht an ihm zu rächen?

 

Ich habe mich bereits dreimal mit ihm geschlagen, das erste Mal auf Pistolen, das zweite Mal mit dem Degen, das dritte Mal auf Säbel.

 

Und was war der Erfolg dieser Duelle?

 

Das erste Mal zerschmetterte er mir den Arm, das zweite Mal durchstieß er mir die Lunge, und das dritte Mal brachte er mir diese Wunde bei. Der Engländer schlug einen Hemdkragen zurück, der ihm bis an die Ohren ging, und zeigte eine anscheinend ziemlich frische Narbe.

 

Deshalb bin ich sein Feind, wiederholte der Engländer, und er wird sicherlich nur von meiner Hand sterben.

 

Doch es scheint mir, Sie schlagen nicht den rechten Weg ein, um ihn zu töten, bemerkte der Fremde.

 

Ao! rief der Engländer, ich gehe jeden Tag zum Schießen, und Grisier kommt alle zwei Tage zu mir.

 

Das war alles, was der Fremde wissen wollte, oder es war vielmehr alles, was der Engländer zu wissen schien. Der Agent stand auf und entfernte sich, nachdem er Lord Wilmore gegrüßt hatte, der ihm mit englischer Steifheit und Höflichkeit vergalt.

 

Als Lord Wilmore hörte, daß sich die Tür nach der Straße wieder hinter dem Fremden schloß, kehrte er in sein Schlafzimmer zurück, wo er in einer Sekunde seine blonden Haare, seinen roten Backenbart, seine falsche Kinnlade und seine Narbe verlor, um die schwarzen Haare und die matte Gesichtsfarbe des Grafen von Monte Christo wieder anzunehmen.

 

Allerdings war es Herr von Villefort und kein Bote des Polizeipräfekten, der in die Wohnung des Staatsanwaltes zurückkehrte. Dieser fühlte sich durch diesen doppelten Besuch, der ihm wenigstens nichts Beunruhigendes eröffnet hatte, ein wenig beschwichtigt. Die Folge davon war, daß er zum erstenmal seit dem Fest in Auteuil in der nächsten Nacht sich eines friedlichen Schlafes erfreute.

 

Der Schatz.

 

Der Schatz.

Die Sonne hatte ungefähr ein Drittel ihres Tageslaufes zurückgelegt, und ihre Strahlen fielen warm und belebend auf die Felsen. Tausende von Grillen ließen im Heidekraut ihr eintöniges, unablässiges Zirpen vernehmen, und in der Ferne sah man auf den Felsen wilde Ziegen springen, die zuweilen einen Jäger auf die Insel locken; mit einem Worte, das Eiland war voll Leben. Dennoch fühlte sich Edmond allein in Gottes Hand, und es erfaßte ihn etwas wie Furcht. Dieses Gefühl war so stark, daß er, als er zur Arbeit schreiten wollte, innehielt, seine Hacke niederlegte, die Flinte wieder aufnahm, zum letztenmal den höchsten Felsen der Insel erstieg und einen weiten Blick über seine Umgebung warf. Alles, was er sah, beruhigte ihn; die Brigantine, die bei Tagesanbruch die Anker gelichtet hatte, war am Horizont verschwunden, die Tartane fuhr in entgegengesetzter Richtung an Korsika hin. Er faßte nun seine nähere Umgebung ins Auge. Kein Mensch war auf der Insel sichtbar, keine Barke an ihrem Gestade, nichts als das azurblaue Meer, das den Strand peitschte. Dann stieg er mit raschen Schritten, aber vorsichtig hinab; er hütete sich ängstlich vor einem Unfall, wie er ihn so geschickt und erfolgreich seinen Gefährten vorgetäuscht hatte.

 

Dantes war, wie gesagt, den Spuren der in den Felsen gehauenen Zeichen rückwärts gefolgt und hatte gesehen, daß sie zu einer kleinen, verborgenen Bucht führten, die tief genug war, daß ein kleines Fahrzeug darin ankern konnte. Er sagte sich, der Kardinal Spada sei, in der Absicht, nicht bemerkt zu werden, in dieser Bucht gelandet, habe sein kleines Fahrzeug darin versteckt, die gezeichnete Linie verfolgt und an ihrem Ende seinen Schatz vergraben. In dieser Annahme war Dantes wieder zu dem runden Felsen gelangt. Nur eins beunruhigte ihn und machte ihn wankend in seiner Vermutung. Wie hatte man ohne gewaltige Kraftanstrengung diesen Felsen, der etwa fünfzig Zentner schwer war, auf die Stelle hinaufbringen können, auf der er jetzt ruhte?

 

Plötzlich kam Dantes ein Gedanke. Konnte man den Felsen nicht auch von oben heruntergebracht haben? Und er eilte hinaus, um die Stelle des ersten Standortes zu suchen. Er erkannte in der Tat bald, daß der Fels herabgeglitten war und an der Stelle Halt gemacht hatte, wo ihm ein anderer Fels als Untersatz diente. Steine und Kiesel waren sorgfältig wieder so gelegt worden, daß man die vorgenommene Änderung nicht merkte. Pflanzenerde war darauf gedeckt worden. Gras war gewachsen, und Moos hatte sich ausgebreitet. Dantes nahm vorsichtig die Erde weg und erkannte, wie sinnreich die Sache angelegt war. Dann fing er an, mit der Hacke die im Laufe der Zeit dicht gewordene Zwischenmauer anzugreifen.

 

Nach einer Arbeit von zehn Minuten gab die Mauer nach, und es entstand ein Loch, durch das man den Arm schieben konnte. Dantes fällte nun einen starken Olivenbaum, steckte ihn in das Loch und machte so einen Hebel daraus; aber der Fels war zu schwer und zu fest durch den unteren Felsen unterlegt, als daß eine menschliche Kraft ihn hätte erschüttern können. Da wurde ihm klar, daß er diese Unterlage selbst angreifen müsse, aber durch welches Mittel? Er schaute spähend umher, und sein Blick fiel auf sein Pulverhorn, das ihm sein Freund Jacopo zurückgelassen hatte; er lächelte: des Pulvers Kraft sollte das Werk verrichten.

 

Mit Hilfe seiner Hacke grub Dantes zwischen dem oberen und unteren Felsen einen Minengang, dann stopfte er ihn mit Pulver voll, fädelte sein Taschentuch aus, rollte es in Salpeter und machte eine Lunte daraus. Sobald die Lunte brannte, entfernte er sich. Die Explosion ließ nicht auf sich warten; der obere Fels wurde einen Augenblick durch die gewaltige Kraft aufgehoben, der untere zersprang in Stücke.

 

Dantes näherte sich. Nunmehr ohne Stütze, neigte sich der obere Fels gegen den Abgrund. Der unermüdliche Sucher ging um ihn herum, wählte eine von den schwankendsten Stellen, stützte seinen Hebel an eine der Ecken und stemmte sich mit ganzer Kraft gegen den Felsen. Schon wankte dieser, und als Dantes seine Anstrengung verdoppelte, gab er endlich nach, rollte, stürzte nieder und verschwand, im Meer versinkend. Er ließ einen kreisförmigen Platz entblößt und brachte einen eisernen Ring an den Tag, der mitten in eine Platte von viereckiger Form gelötet war.

 

Dantes stieß bei diesem glänzenden Erfolge einen Schrei der Freude und des Erstaunens aus. Dann steckte er seinen Hebel in den Ring und hob ihn kräftig empor. Die Platte öffnete sich, und eine Art von Treppe wurde sichtbar, die sich im Schatten einer immer dunkler werdenden Grotte verlor.

 

Dantes blieb eine Minute unbeweglich. Dann aber stieg er hinab, ein Lächeln auf den Lippen, und murmelte das letzte Wort der menschlichen Weisheit: Vielleicht …

 

Aber statt der Finsternis, die er zu finden erwartet hatte, statt einer undurchsichtigen, schlechten Atmosphäre, sah er nur einen Schimmer sanften, bläulichen Tageslichtes. Luft und Licht drangen nicht nur durch die Öffnung, die er gemacht hatte, sondern auch durch Felsspalten des oberen Bodens, durch die man das Azur des Himmels erblickte, auf dem die zitternden Zweige der grünen Eichen und die dornigen Brombeerstauden spielten. Nach einem Aufenthalte von ein paar Sekunden, vermochte sein an die Finsternis gewöhnter Blick die entferntesten Winkel der aus glitzerndem Granit bestehenden Höhle zu erforschen. Dantes erinnerte sich des Testaments, das er auswendig wußte: In der entferntesten Ecke der zweiten Öffnung.

 

Er war aber nur in die erste Grotte gedrungen und mußte nun den Eingang in die zweite suchen. Diese mußte natürlich in das Innere der Insel verlaufen. Er untersuchte die Steinlagen und schlug an eine Wand, von der er bestimmt glaubte, daß sich hinter ihr die zweite Höhle befinde. Die Hacke entlockte dem Felsen einen matten Ton. Endlich kam es dem beharrlichen Gräber vor, als ob ein Teil der Granitmauer ein dumpferes, tieferes Echo gebe. Er näherte seinen glühenden Blick der Wand und erkannte mit den scharfen Augen des Gefangenen, daß hier eine Öffnung sein mußte. Um sich jedoch keine unnötige Arbeit zu machen, untersuchte er auch die anderen Wände mit seiner Hacke, prüfte den Boden mit dem Schafte seiner Flinte, durchwühlte den Sand an verdächtigen Stellen und kehrte, als er nichts fand, nichts erkannte, zu dem Teile der Wand zurück, der den tröstlichen Ton von sich gab. Hier mußte er wühlen und ging kräftig an die Arbeit. Nach einigen Schlägen bemerkte er, daß die Steine nicht festgemauert, sondern nur übereinander gelegt und mit einem Anwurf bedeckt waren. Edmond steckte das Eisen der Hacke in eine Spalte, drückte auf den Stiel und sah zu seiner großen Freude den Stein wie auf Angeln rollen und zu seinen Füßen fallen. Nun hatte er nur noch jeden Stein mit dem eisernen Zahn der Hacke an sich zu ziehen, und einer nach dem andern rollte zu dem ersten.

 

Die zweite Grotte war niedriger, düsterer und sah furchtbarer aus als die erste. Die Luft, die nur durch die soeben gemachte Öffnung eindrang, erfüllte schwefliger Geruch, den Dantes zu seinem Erstaunen in der ersten nicht gefunden hatte. Er ließ der äußeren Luft Zeit, diese tote Atmosphäre wieder zu beleben, und trat dann ein. Links von der Öffnung war eine tiefe, finstere Ecke, die jedoch für Dantes‘ scharfe Augen nicht undurchdringlich war. Er untersuchte die zweite Grotte, aber auch sie war leer wie die erste. Der Schatz mußte also, wenn überhaupt vorhanden, in der düstern Ecke vergraben sein.

 

Nun ergriff ihn aber die Angst der Bangigkeit; er hatte nur noch zwei Fuß Erde zu durchwühlen, und der Erfolg mußte ihm entweder die höchste Freude oder die höchste Verzweiflung bereiten. Unverzüglich griff er zur Hacke und schlug auf den Boden. Beim fünften oder sechsten Hiebe erklang Eisen. Daneben fand er denselben Widerstand, aber nicht denselben Ton. Es ist eine hölzerne Kiste mit eisernen Reifen, sagte er.

 

In diesem Augenblick zog ein rascher Schatten vorüber. Dantes ließ seine Hacke fallen, ergriff seine Flinte, schlüpfte durch die Öffnung und stürzte hinaus. Eine wilde Ziege war beim Eingang zur ersten Grotte vorüber gesprungen und weidete einige Schritte davon. Dantes schnitt einen harzigen Baum ab, entzündete ihn an dem noch rauchenden Feuer, an dem die Schmuggler ihr Frühstück bereitet hatten, und kehrte mit dieser Fackel zurück. Er näherte die Fackel der Ecke und erkannte, daß er sich nicht getäuscht hatte. Seine Streiche hatten abwechselnd das Eisen und das Holz getroffen. Er steckte nun seine Fackel in die Erde und ging wieder ans Werk. In einem Augenblicke war eine drei Fuß lange und etwa zwei Fuß breite Stelle frei, und Dantes vermochte eine Kiste zu erkennen, die mit Reifen von ziseliertem Eisen umlegt war. In der Mitte des Deckels glänzte auf silberner Platte das Wappen der Familie Spada, ein pfahlartig auf ovalem Wappenschild ruhendes Schwert und darüber ein Kardinalshut.

 

Im Augenblick war die ganze Umgebung der Kiste abgeräumt, und Dantes sah nach und nach das mittlere Schloß, das zwischen zwei Vorlegschlössern angebracht war, und die beiden Griffe an der Seite erscheinen. Er faßte die Kiste an den Griffen und suchte sie aufzuheben; es war unmöglich. Er wollte sie öffnen, aber die Schlösser waren geschlossen und schienen als getreue Wächter ihren Schatz nicht herausgeben zu wollen. Er schob die schneidende Seite seiner Hacke zwischen die Kiste und den Deckel, drückte auf den Stiel, und der Deckel krachte und zersprang.

 

 

Ein schwindelartiges Fieber ergriff Dantes, er nahm seine Flinte und stellte sie mit gespanntem Hahn neben sich. Anfangs schloß er die Augen, wie es Kinder tun, um in der funkelnden Nacht ihrer Einbildungskraft mehr Sterne zu sehen, als sie am gestirnten Himmel zählen können, dann öffnete er sie wieder und blieb geblendet.

 

Drei Abteilungen enthielt die Kiste; in der ersten glänzten die Goldtaler mit ihren rötlichgelben Reflexen, in der zweiten befanden sich in guter Ordnung aufgereihte, aber schlecht geglättete Goldstangen, aus der dritten endlich, die halb voll war, zog Dantes handvollweise Diamanten, Perlen, Rubine heraus. Nachdem er berührt, betastet, seine bebenden Hände in Gold und Edelsteinen gebadet hatte, erhob er sich wieder und lief durch die Höhlen, vor Erregung zitternd, wie ein Mensch, der dem Wahnsinne nahe ist. Er sprang auf einen Felsen, von wo er das Meer überschauen konnte, und sah nichts; er war allein, ganz allein mit diesen unberechenbaren, unerhörten, fabelhaften Reichtümern, die ihm gehörten. Er war ungewiß, ob er wache oder träume. War es ein flüchtiger Traum, oder umfaßte er die Wirklichkeit?

 

Er mußte sein Gold wiedersehen, und dennoch fühlte er, daß er in dieser Minute nicht die Kraft hatte, seinen Anblick zu ertragen. Er drückte einen Augenblick beide Hände an den Kopf, als wollte er die Vernunft nicht entfliehen lassen; dann stürzte er durch die Insel, ohne einer bestimmten Richtung zu folgen, scheuchte die wilden Ziegen auf und erschreckte die Seevögel durch sein Geschrei und seine heftigen Gebärden. Endlich kehrte er noch zweifelnd auf einem Umwege zurück, eilte von der ersten Grotte in die zweite und befand sich wieder im Angesichte der ungeheuren Gold- und Diamantenmine. Diesmal fiel er auf die Knie, preßte seine Hände krampfhaft an sein springendes Herz und murmelte ein für Gott allein verständliches Gebet. Bald fühlte er sich ruhiger und folglich auch glücklicher, denn jetzt erst fing er an, an sein Glück zu glauben.

 

Er begann, sein Vermögen zu zählen; er fand tausend Goldstangen, jede von zwei bis drei Pfund; dann häufte er fünfundzwanzigtausend Goldtaler auf, je im Werte von etwa achtzig Franken und alle mit dem Bildnis Papst Alexanders VI. und seiner Vorgänger, und er bemerkte, daß das Fach nur halb leer war; endlich maß er zweimal die Weite seiner beiden Hände in Perlen, in Edelsteinen, in Diamanten, von denen viele, von den besten Goldschmieden ihrer Zeit gefaßt, abgesehen von ihrem Preise an sich, einen besonderen Wert durch die Arbeit besaßen.

 

Dantes sah den Tag sich neigen und allmählich erlöschen. Er befürchtete, überrascht zu werden, wenn er in der Höhle bliebe, und ging, seine Flinte in der Hand, hinaus. Ein Stück Zwieback und einige Schluck Wein waren sein Abendbrot. Dann setzte er den Stein wieder an seine Stelle, legte sich darauf und schlief, mit seinem Leibe den Eingang der Höhle bedeckend, nur wenige Stunden.

 

Römische Banditen.

 

Römische Banditen.

 

Am nächsten Tage nach ihrer Ankunft beabsichtigten die beiden Freunde noch nach dem Abendessen bei Mondschein eine Spazierfahrt vor die Tore der ewigen Stadt zu machen. Aber der Wirt Pastrini, der einen Wagen besorgen sollte, machte alle möglichen Ausflüchte und riet ernstlich von einer so gefährlichen, nächtlichen Partie ab. Als die neugierig gemachten Freunde energisch nach dem wahren Grunde seines ängstlichen Zögerns fragten, erklärte er endlich, daß die Kampagna gerade in letzter Zeit der Schauplatz häufiger Raubanfälle gewesen sei, und daß der bekannte Räuberhauptmann Luigi Vampa mit seinen gefährlichen Banditen die ganze Umgegend unsicher mache.

 

Die ungläubigen Zuhörer baten ihren Wirt um ausführlichere Auskunft über den berüchtigten Räuber, worauf Pastrini anfing:

 

Luigi Vampa war ein einfacher Hirtenknabe auf dem Gute des Grafen San Felice, das zwischen Palestrina und dem Gabri-See liegt. In Pampinara geboren, trat er in einem Alter von fünf Jahren in den Dienst des Grafen. Sein Vater, selbst ein Hirte, hatte eine eigene kleine Herde und lebte von der Wolle seiner Hammel und der Einnahme aus der Milch seiner Schafe, die er in Rom verkaufte. Luigi war gelehrig, und ein hervorragender Nachahmungstrieb befähigte ihn, alles rasch aufzufassen; so lernte er spielend lesen und schreiben, zeichnen und hübsche Holzschnitzereien anfertigen.

 

Ein Mädchen, etwas jünger als Vampa, hütete ebenfalls seine Schafe in der Nähe von Palestrina; die Kleine war Waise, in Valmontone geboren und hieß Teresa. Die Kinder trafen sich, setzten sich nebeneinander, ließen ihre Herden zusammen weiden, plauderten, lachten und spielten; am Abend trennte man die Schafe des Grafen San Felice von denen des Barons von Cervetri, und die Kinder kehrten nach Hause zurück mit dem gegenseitigen Versprechen, sich am nächsten Morgen wieder aufzusuchen. Bei diesem Leben wurde der Knabe zwölf, das Mädchen elf Jahre alt.

 

Inzwischen entwickelten sich ihre natürlichen Gaben. Bei seinen künstlerischen Neigungen, seinem feinen Geschmack für die Kunst zeigte sich Luigi eigensinnig, leidenschaftlich, unberechenbar und stets höhnisch. Kein Knabe aus Pampinara, Palestrina oder Valmontone vermochte je einen Einfluß auf ihn zu gewinnen oder sein Kamerad zu werden. Denn immer herrisch stieß er mit seinem eigenwilligen Temperament jede freundschaftliche Regung zurück. Teresa allein beherrschte mit einem Worte, mit einem Blick diesen festen Charakter, der sich unter eine weibliche Hand schmiegte, aber unter dem Einfluß eines Mannes bis zum Brechen starr geworden wäre. Teresa ihrerseits war lebhaft, munter, heiter, aber im Übermaß gefallsüchtig; die zwei Piaster, die Luigi als Monatslohn erhielt, gingen für allerlei Schmuck- und Putzgegenstände auf. Die Kinder wuchsen heran, brachten alle Tage miteinander zu und überließen sich ohne Widerstand dem Zuge und der Phantasie ihrer unverdorbenen Natur; so sah sich Vampa in seinen Gesprächen und Träumen stets als Schiffskapitän, als General eines Heeres, als Gouverneur einer Provinz; Teresa wähnte sich reich, in den schönsten Kleidern und von Bedienten umgeben.

 

Eines Tages sagte der junge Hirt dem Intendanten des Grafen, er habe einen Wolf aus dem Sabinergebirge hervorkommen und um seine Herde schweifen sehen. Der Intendant gab ihm eine Flinte; damit hatte sich Luigis langgehegter Wunsch verwirklicht. Von diesem Augenblick an widmete er jede freie Zeit den Übungen im Gebrauch seiner Flinte; er kaufte Pulver und Blei, und nichts war vor seiner Kugel sicher. Bald war er so geschickt, daß Teresa mit Vergnügen zusah, wie ihr Gefährte jedes Ziel unfehlbar traf. Eines Tages kam in der Nähe der jungen Leute ein Wolf aus einem Fichtenwalde hervor, den Luigis Kugel nach kaum zehn Schritten tot niederstreckte. Stolz auf den ersten Erfolg, lud Vampa den Wolf auf seine Schultern und trug ihn nach Hause. Dies alles verschaffte ihm einen gewissen Ruf in der Gegend, der junge Hirte galt als der geschickteste, stärkste, mutigste Bursche weit und breit in der Runde, und obgleich Teresa eines der hübschesten Mädchen des Sabinerlandes war, wagte doch niemand, ihr ein Wort von Liebe zu sagen, denn man wußte, daß sie von Vampa geliebt wurde.

 

Als Teresa sechzehn, Vampa siebzehn Jahre alt waren, fing man an, viel von einer Räuberbande zu sprechen, die sich in den Lepinerbergen bildete. Die Räuberei ist in der Nähe der ewigen Stadt nie ernstlich ausgerottet worden. Es fehlt oft an Anführern, aber wenn sich ein Anführer zeigt, fehlt es selten an einer Bande. In den Abruzzen umstellt, aus dem Königreiche Neapel, wo er geradezu einen Feldzug geführt hatte, vertrieben, durchzog Cucumetto das Garigliano, eine neue Bande bildend. Mehrere junge Leute von Palestrina, Frascati und Pampinara verschwanden, und bald erfuhr man, daß sie sich an Cucumettos Bande angeschlossen hatten. Nach einiger Zeit wurde Cucumetto der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. Man erzählte sich von diesem Banditenanführer Züge von außerordentlicher Kühnheit und von empörender Roheit.

 

Eines Tages raubte er ein junges Mädchen, die Tochter des Feldmessers von Frosinone. Nach dem Brauch der Banditen gehört ein junges Mädchen zuerst dem, der es raubt, dann ziehen die anderen das Los, und die Unglückliche dient der ganzen Bande zum Vergnügen, bis sie verlassen wird oder stirbt. Sind die Eltern reich genug, um sie loszukaufen, so schickt man einen Boten ab, der um das Lösegeld unterhandelt; der Kopf der Gefangenen haftet für die Sicherheit des Abgesandten. Wird das Lösegeld verweigert, so ist die Gefangene unwiderruflich verurteilt. Das Mädchen hatte seinen Liebhaber in Cucumettos Bande, er hieß Carlini. Als die Unglückliche den jungen Mann erkannte, streckte sie die Hände nach ihm aus; doch dem armen Carlini brach das Herz bei ihrem Anblick, denn er wußte, welches Los ihrer harrte.

 

Da er indessen Cucumettos Liebling war, mit dem er seit drei Jahren alle Gefahren geteilt, und dem er das Leben gerettet hatte, hoffte er, Cucumetto würde Mitleid haben. Er bat daher den Hauptmann, zu seinen Gunsten eine Ausnahme zu machen und Rita zu schonen, wobei er ihm bemerkte, der Vater sei reich und würde ein gutes Lösegeld bezahlen. Cucumetto schien auch wirklich den Bitten seines Freundes nachzugeben. Da trat Carlini freudig zu seiner Geliebten, sagte ihr, sie sei gerettet, und forderte sie auf, ihrem Vater einen Brief zu schreiben und ihm zu sagen, das Lösegeld sei auf dreihundert Piaster festgesetzt. Man gab dem Vater eine Frist bis zum andern Morgen um neun Uhr.

 

 

Sobald der Brief geschrieben war, lief Carlini fort, um einen Boten zu suchen. Er fand einen jungen Hirten, der sich sogleich mit dem Versprechen entfernte, in einer Stunde in Frosinone zu sein. Carlini kam ganz heiter zurück, um wieder mit seiner Geliebten zusammenzutreffen und ihr die frohe Kunde mitzuteilen. Er fand die Bande auf einer Lichtung, wo sie lustig die Mundvorräte verzehrte, welche die Banditen wie einen Tribut von den Bauern erhoben; doch vergebens suchte er unter den fröhlichen Gästen Cucumetto und Rita. Er fragte, wo sie wären; die Banditen antworteten mit einem schallenden Gelächter. Ein kalter Schweiß lief Carlini über die Stirn, und er fühlte, wie ihn die Angst bei den Haaren faßte. Er wiederholte seine Frage. Einer von den Genossen füllte ein Glas mit Orvieto-Wein, reichte es ihm und sagte: Auf die Gesundheit des braven Cucumetto und der schönen Rita!

 

In diesem Augenblick glaubte Carlini den Schrei einer Frau zu hören, und er erriet alles. Er nahm das Glas, zerschmetterte es am Gesichte dessen, der es ihm reichte, und eilte in der Richtung des Schreies fort. Nachdem er hundert Schritte gelaufen war, fand er in einem Gebüsche Rita ohnmächtig in Cucumettos Armen. Als dieser Carlini erblickte, erhob er sich, in jeder Hand eine Pistole haltend. Die Banditen schauten einander einen Augenblick an, der eine mit dem Lächeln der Unzucht auf den Lippen, der andre mit der Blässe des Todes auf der Stirn. Es war, als sollte etwas Furchtbares zwischen den beiden Männern vorgehen, aber allmählich verloren Carlinis Züge ihre Spannung, und seine Hand, die er an eine Pistole in seinem Gürtel gelegt hatte, fiel an der Seite nieder; Rita lag zwischen beiden. Der Mond beleuchtete die Szene.

 

Nun! sagte Cucumetto, hast du deinen Auftrag besorgt?

 

Ja, Kapitän, antwortete Carlini; morgen vor neun Uhr wird Ritas Vater mit dem Gelde hier sein.

 

Vortrefflich. Inzwischen wollen wir die Nacht lustig zubringen. Das Mädchen ist reizend, und du hast wahrhaftig einen guten Geschmack, Carlini. Da ich nicht eigennützig bin, so wollen wir zu den Kameraden zurückkehren und das Los ziehen, wem sie nun gehören soll.

 

Ihr seid also entschlossen, sie allen zu überantworten? fragte Carlini.

 

Warum sollte man bei ihr eine Ausnahme machen? – Ich glaubte auf meine Bitte … – Bist du etwa mehr, als die andern? – Das ist richtig. – Doch sei unbesorgt, früher oder später kommt ja auch die Reihe an dich.

 

Bei diesen Worten preßte Carlini krampfhaft die Zähne zusammen.

 

Nun vorwärts, sagte Cucumetto, einen Schritt nach den Genossen zu machend, kommst du?

 

Ich folge Euch.

 

Cucumetto entfernte sich, jedoch ohne Carlini aus dem Gesichte zu verlieren, denn er fürchtete ohne Zweifel, er könnte von hinten auf ihn schießen; doch nichts deutete bei dem Banditen eine feindselige Absicht an. Er stand mit gekreuzten Armen bei der immer noch ohnmächtigen Rita. Einen Augenblick dachte Cucumetto, der junge Mann würde sie in seine Armen nehmen und mit ihr fliehen. Es war ihm nun auch wenig mehr daran gelegen, denn er hatte von Rita, was er haben wollte, und auch das geringe Lösegeld ließ ihn gleichgültig. Er setzte daher seinen Weg nach der Lichtung fort, ohne umzuschauen; doch zu seinem großen Erstaunen kam Carlini beinahe mit ihm hier an. Das Los gezogen! riefen die Banditen, als sie ihren Anführer erblickten. Man legte alle Namen, den Carlinis wie die der andern, in einen Hut, und der jüngste der Bande zog ein Zettelchen aus der improvisierten Urne. Auf diesem Zettelchen stand der Name Diavolaccio. Es war derselbe, dem Carlini, als er ihm auf die Gesundheit des Anführers zutrank, das Glas im Gesichte zerschmettert hatte. Als Diavolaccio sich so vom Glücke begünstigt sah, brach er in ein schallendes Gelächter aus.

 

Alle glaubten, Carlini werde losbrechen; aber zum allgemeinen Erstaunen nahm er ein Glas und rief mit vollkommen ruhiger Stimme: Auf deine Gesundheit, Diavolaccio! und leerte das Glas, ohne daß seine Hand zitterte. Dann setzte er sich ans Feuer, aß und trank, als ob nichts vorgefallen wäre, während sich Diavolaccio entfernte.

 

Die Banditen schauten ihn voll Erstaunen an, denn sie begriffen diese Unempfindlichkeit nicht, als sie hinter sich den Boden unter einem schweren Tritte erdröhnen hörten. Sie wandten sich um und sahen Diavolaccio, der Rita in seinen Armen hielt; ihr Kopf war zurückgeworfen und ihre langen Haare hingen bis zur Erde herab. Als Diavolaccio mehr in den Kreis des vom Feuer sich verbreitenden Lichtes trat, sah man, daß das Mädchen wie der Bandit ausfallend bleich waren. Erstaunt und beunruhigt standen alle auf mit Ausnahme von Carlini, der sitzen blieb und zu trinken und zu essen fortfuhr, als ob ihn alles nichts anginge. Diavolaccio näherte sich unter dem tiefsten Stillschweigen und legte Rita zu den Füßen des Kapitäns nieder.

 

Jetzt sahen alle, daß in Ritas linker Brust ein Messer stak, bis ans Heft eingebohrt. Alle Augen richteten sich auf Carlini; die Scheide hing leer an seinem Gürtel.

 

Auch rohe Naturen sind imstande, eine kraftvolle Handlung zu würdigen; obgleich schwerlich ein anderer von den Banditen die gleiche Tat ausgeführt hätte, so begriffen sie doch, was er getan.

 

Nun, sagte Carlini, ebenfalls aufstehend und dem Leichnam sich nähernd, während er die Hand an den Kolben einer Pistole legte, ist vielleicht noch einer hier, der mir diese Frau streitig machen will?

 

Nein, erwiderte der Anführer, sie gehört dir.

 

Carlini nahm sie nun in seine Arme und trug sie aus dem Lichtkreise fort.

 

Am Fuße einer alten Eiche fand ihn am Morgen Ritas Vater, der herbeigeeilt war, das Lösegeld zu bringen.

 

Elender! rief der Greis, was hast du getan?

 

Und er blickte voll Schrecken auf Rita, die bleich, unbeweglich, mit einem blutigen Messer in der Brust, da lag.

 

Cucumetto hatte deine Tochter geschändet, sagte der Bandit, und da ich sie liebte, mußte ich sie töten, denn nach ihm hätte sie der ganzen Bande zum Spielzeug gedient.

 

Der Greis sprach kein Wort, er wurde nur bleich wie ein Gespenst.

 

Räche sie nun, wenn ich unrecht gehabt habe, fügte Carlini hinzu.

 

Und er riß das Messer aus dem Busen des Mädchens und reichte es dem Greise mit der einen Hand, während er mit der andern seine Weste auf die Seite schob und ihm seine nackte Brust darbot.

 

Du hast wohl getan, sprach der Greis mit dumpfer Stimme, umarme mich, mein Sohn!

 

Carlini warf sich schluchzend in die Arme des Vaters seiner Geliebten. Es waren die ersten Tränen, die dieser Blutmensch vergoß.

 

Dann begruben sie das Mädchen, und Carlini schwur blutige Rache; doch er konnte seinen Schwur nicht halten, denn zwei Tage nachher wurde er in einem Kampfe von römischen Carabinieri getötet. Man wunderte sich nur, daß er, dem Feinde das Gesicht bietend, eine Kugel zwischen die Schultern bekommen hatte. Das Erstaunen hörte aber auf, als einer von den Banditen gegen seine Kameraden bemerkte, Cucumetto habe zehn Schritte hinter Carlini gestanden. Man erzählt sich von diesem Räuberhauptmann noch zehn andere, ebenso grauenvolle Geschichtchen, und es zitterte auch alles von Fondi bis Perugia, wenn man nur Cucumettos Namen nannte.

 

Diese Geschichten boten Luigi und Teresa oft Stoff zur Unterhaltung. Das Mädchen hörte immer diese Erzählungen bebend an, aber Vampa beruhigte sie mit einem Lächeln und schlug an seine nie fehlende Flinte. War sie dann noch nicht völlig beruhigt, so zeigte er ihr auf hundert Schritte einen Raben, der auf einem dürren Aste saß, schlug an, drückte los, und das Tier fiel wohlgetroffen an dem Fuß des Baumes nieder.

 

Mittlerweile verlief die Zeit; die jungen Leute hatten beschlossen, sich zu heiraten, wenn Vampa zwanzig Jahre alt wäre. Sie waren beide Waisen und hatten nur ihre Herren um Erlaubnis zu bitten; sie baten darum und erhielten auch die Einwilligung.

 

Als sie eines Tages von ihren Zukunftsplänen sprachen, vernahmen sie ein paar Schüsse; dann trat plötzlich ein Mann aus dem Gehölze hervor, bei dem die jungen Leute ihre Herden zu werden pflegten, lief auf sie zu und rief: Ich werde verfolgt, könnt ihr mich verbergen?

 

Die jungen Leute erkannten sogleich, daß der Flüchtige ein Bandit war; doch zwischen dem römischen Bauern und dem römischen Banditen herrscht eine angeborene Sympathie, weshalb der erste immer bereit ist, dem zweiten Dienste zu leisten. Luigi lief, ohne ein Wort zu sagen, nach dem Steine, der den Eingang einer nahen Grotte verstopfte, entblößte diesen Eingang, hieß den Flüchtling durch ein Zeichen in dieses nur ihm und Teresa bekannte Asyl schlüpfen, stieß den Stein wieder an seine vorige Stelle, kehrte zu Teresa zurück und setzte sich neben sie. Beinahe im selben Augenblick erschienen vier Carabinieri zu Pferde am Saume des Waldes. Sie gewahrten die jungen Leute, sprengten im Galopp auf sie zu und befragten sie; doch diese gaben an, sie hätten nichts gesehen.

 

Das ist ärgerlich, sagte der Brigadier; denn der, den wir suchen, ist der Anführer.

 

Cucumetto? riefen Teresa und Luigi unwillkürlich.

 

Ja, antwortete der Brigadier, und da ein Preis von 1000 Talern auf seinen Kopf gesetzt ist, so wären 500 euch zugekommen, wenn ihr mir geholfen hättet, ihn aufzufinden.

 

Die jungen Leute wechselten einen Blick. Der Brigadier hatte eine Minute lang Hoffnung. 500 römische Taler sind ein Vermögen für arme Waisen, die sich heiraten wollen.

 

Ja, das ist schade, erwiderte Vampa, doch wir haben ihn nicht gesehen. Die Carabinieri durchstreiften nun die Gegend in verschiedenen Richtungen, aber vergebens; dann verschwanden sie allmählich. Vampa zog den Stein zurück, und Cucumetto trat hervor.

 

Er hatte durch eine Spalte die jungen Leute mit den Carabinieri sprechen hören und den Gegenstand ihres Gespräches vermutet. Jetzt zog er aus seiner Tasche eine Börse voll Gold und bot sie ihnen zum Lohn an. Aber Vampa hob stolz das Haupt empor, während Teresas Augen bei dem Gedanken all alles das glänzten, was sie sich für dieses Gold an reichen Juwelen und schönen Kleidern kaufen könnte. Cucumetto war ein listiger Teufel. Er erhaschte diesen Blick, erkannte in Teresa eine würdige Tochter Evas und kehrte voll böser Lust in den Wald zurück, wobei er sich wiederholt, als wolle er seine Befreier noch einmal grüßen, umdrehte. Es vergingen mehrere Tage, ohne daß man Cucumetto wiedersah oder von ihm sprechen hörte. Der Karneval nahte heran, und der Graf von San Felice veranstaltete einen Ball, wozu die ganze elegante Welt Roms eingeladen war. Teresa hatte große Lust, diesen Ball zu sehen. Luigi bat seinen Beschützer, den Intendanten, um Erlaubnis für sie und für sich, unter den Dienern des Hauses verborgen, dem Feste beiwohnen zu dürfen, was ihm auch zugestanden ward.

 

Der Ball wurde von dem Grafen hauptsächlich gegeben, um seiner Tochter Carmela, die er anbetete, ein Vergnügen zu bereiten. Carmela war gerade von Teresas Alter und Wuchs, und Teresa war wenigstens ebenso schön, als Carmela. Am Abend des Balles wählte Teresa ihre schönste Toilette, ihre reichsten Nadeln, ihren glänzendsten Glasschmuck. Sie trug die Tracht der Frauen von Frascati, Luigi die malerische Festkleidung der römischen Bauern. Beide mischten sich, wie man es ihnen erlaubt hatte, unter die zuschauenden Diener und Bauern. Das Fest war prachtvoll. Nicht nur die Villa war glänzend beleuchtet, sondern es hingen auch Tausende von farbigen Lampen an den Bäumen im Garten. Bald strömte der Festjubel vom Palast auch auf die Terrassen über, und von den Terrassen wogte es in den Alleen. An jedem Kreuzweg gab es ein Orchester, Trinktische und Erfrischungen aller Art; die Spaziergänger blieben stehen, es bildeten sich Quadrillen, und man tanzte, wo einem die Lust dazu ankam. Carmela war wie die Frauen von Sonnino gekleidet; sie trug eine mit Perlen gestickte Mütze, die Nadeln in ihren Haaren waren von Gold und Diamanten, ihr Gürtel war von türkischer Seide, ihr Oberrock von Kaschmir, ihre Schürze von indischem Musselin, dir Knöpfe ihres Mieders bestanden aus Edelsteinen. Zwei andere Gefährtinnen von ihr hatten, die eine die Tracht der Frauen von Nettuno, die andere die der Riccianerinnen.

 

Vier junge Männer aus den edelsten und reichsten Familien Roms begleiteten sie mit jener italienischen Zwanglosigkeit, die in keinem andern Lande der Welt ihresgleichen hat; sie waren als Bauern gekleidet. Carmela kam der Gedanke, eine Quadrille zu bilden; es fehlte nur noch an einer Teilnehmerin. Carmela schaute umher, keine von den Eingeladenen hatte eine der ihrigen und der ihrer Gefährtinnen entsprechende Tracht. Da zeigte ihr der Graf von San Felice mitten unter den Bäuerinnen Teresa, die sich auf Luigis Arm stützte.

 

Erlauben Sie mir, mein Vater? sagte Carmela.

 

Allerdings, erwiderte der Graf; sind wir nicht im Karneval? Carmela neigte sich an das Ohr eines jungen Mannes, der sie plaudernd begleitete, und sagte ihm leise ein paar Worte, wobei sie mit dem Finger auf Teresa deutete. Der junge Mann lud Teresa ein, an der von der Tochter des Grafen geleiteten Quadrille teilzunehmen. Teresa fühlte es wie eine Flamme über ihr Gesicht hinziehen, sie befragte Luigi mit dem Blicke – es war ihr nicht möglich, zu widerstreben; Luigi ließ langsam ihren Arm los, und Teresa entfernte sich, geführt von ihrem zierlichen Kavalier, und nahm zitternd ihren Platz in der aristokratischen Quadrille an. Bei ihrer Eitelkeit und Putzsucht war sie von den feinen Stickereien, dem Glanz des Kaschmirs ganz geblendet, und das Feuer der Diamanten und Saphire machte sie toll. Luigi seinerseits fühlte ein unbekanntes Etwas in sich entstehen, es war anfangs wie ein dumpfer Schmerz, der ihm das Herz durchzuckte. Er verfolgte mit den Augen jede Bewegung Teresas und ihres Kavaliers. Wenn ihre Hände sich berührten, flimmerte es vor seinen Augen, und das Blut hämmerte in seinen Adern. Zwar hörte Teresa, wenn sie miteinander sprachen, nur schüchtern und mit niedergeschlagenen Augen zu, aber Luigi, der in den glühenden Blicken des schönen jungen Mannes las, daß seine Reden Schmeicheleien waren, kam es dennoch vor, als drehte sich die Erde unter ihm, und als flüsterten ihm alle Stimmen der Hölle Mordgedanken zu. Dann klammerte er sich, aus Furcht, sich von seinem Wahnsinn hinreißen zu lassen, mit einer Hand an der nahen Buche an, erfaßte mit der andern in krampfhafter Bewegung seinen Dolch und zog ihn, ohne es gewahr zu werden, mehrmals fast ganz aus der Scheide.

 

Als endlich der Tanz zu Ende war, führte ihr schöner Kavalier Teresa mit vielen Artigkeiten an den Platz zurück, wo Luigi ihrer harrte. Wiederholt hatte Teresa während des Kontertanzes einen Blick auf Luigi geworfen, und jedesmal waren ihr seine verstörten Züge aufgefallen. So faßte sie zitternd den Arm ihres Geliebten wieder, der sie, ohne ein Wort zu sagen, mit sich fortzog. Erst als sie eben in ihre Wohnung traten, fragte er: Teresa, woran dachtest du, als du der jungen Gräfin von San Felice gegenüber tanztest?

 

Ich dachte, ich würde die Hälfte meines Lebens für eine Kleidung geben, wie sie die Gräfin trägt.

 

Und was sagte dir dein Kavalier?

 

Er sagte mir, es hinge nur von mir ab, eine solche zu haben, und es koste mich nur ein Wort.

 

Er hatte recht, sagte Luigi. Wünschest du eine solche Tracht so glühend, wie du sagst? – Ja. – Wohl, du sollst sie haben.

 

Erstaunt schaute Teresa empor, um ihn zu befragen; aber sein Gesicht war so düster und furchtbar, daß das Wort auf ihren Lippen erstarb. Übrigens entfernte sich Luigi sogleich. Teresa folgte ihm in der Dunkelheit mit den Augen, solange sie ihn sehen konnte. Als er verschwunden war, trat sie in ihre Wohnung.

 

In derselben Nacht ereignete sich ein großes Unglück, ohne Zweifel durch die Unvorsichtigkeit eines Bedienten, der die Lichter auszulöschen vergaß. Es brach unmittelbar neben den Gemächern der schönen Carmela Feuer aus. Mitten in der Nacht durch den Schein der Flammen aufgeweckt, sprang sie aus dem Bette, hüllte sich in ihr Nachtkleid und suchte zu entfliehen; aber der Hausflur, durch den sie gehen mußte, war schon vom Feuer ergriffen. Da kehrte sie in ihr Zimmer zurück und rief aus Leibeskräften um Hilfe, als plötzlich ihr zwanzig Fuß über dem Boden liegendes Fenster sich öffnete, ein junger Bauer in das Gemach stürzte, sie in seine Arme nahm und mit übermenschlicher Kraft und Gewandtheit auf den Rasen vor der Villa schleppte, wo sie ohnmächtig niedersank. Als sie wieder zu sich kam, war ihr Vater bei ihr. Alle Diener umgaben sie, um ihr Hilfe zu leisten. Ein ganzer Flügel der Villa war abgebrannt; doch was lag daran, Carmela war unversehrt. Man suchte überall ihren Retter, aber der Retter fand sich nirgends; niemand hatte ihn gesehen. Carmela war so sehr von Angst ergriffen gewesen, daß sie ihn nicht erkannt hatte.

 

Am andern Tage fanden sich die jungen Leute zur gewöhnlichen Stunde am Saume des Waldes ein. Luigi war zuerst gekommen. Er ging dem Mädchen mit großer Heiterkeit entgegen und schien die Szene vom vorhergehenden Abend völlig vergessen zu haben. Teresa war sichtlich nachdenkend; als sie aber Luigi so gestimmt sah, heuchelte sie eine lachende Sorglosigkeit, die den Grundzug ihres Charakters bildete, wenn sie nicht von irgend einer Leidenschaft ergriffen war. Luigi nahm Teresa beim Arm und führte sie zum Eingang der erwähnten Grotte. Hier blieb er stehen. Das Mädchen begriff, daß etwas Außerordentliches bevorstand, und schaute ihn fest an.

 

Teresa, sagte Luigi, gestern hast du mir gesagt, du würdest alles in der Welt darum geben, eine Kleidung wie die der Grafentochter zu besitzen?

 

Allerdings, erwiderte Teresa erstaunt, aber ich war toll, daß ich einen solchen Wunsch hegte.

 

Und ich antwortete dir: Gut, du sollst sie haben. – Ich habe dir nie etwas versprochen, Teresa, ohne es dir zu geben, geh in die Grotte und kleide dich an.

 

Bei diesen Worten zog er den Stein heraus und zeigte Teresa die Grotte, die von zwei Kerzen beleuchtet war, zwischen denen ein prachtvoller Spiegel stand; auf dem von Luigi verfertigten rohen Tische waren Diamantnadeln und ein Perlenhalsband ausgebreitet; auf einem Stuhle daneben lag die übrige Kleidung. Teresa stieß einen Freudenschrei aus und stürzte, ohne zu fragen, woher diese wertvollen Dinge kämen, ohne sich Zeit zu lassen, Luigi zu danken, in die Grotte. Luigi drückte den Stein wieder hinter ihr hinein, denn er erblickte auf der Höhe eines kleinen Hügels einen Reisenden zu Pferd, der einen Augenblick anhielt, als wäre er des Weges nicht kundig. Luigi hatte sich nicht getäuscht, der Reisende, der von Palestrina nach Tivoli ritt, war im Zweifel über seinen Weg. Der junge Mann wies ihn zurecht, und der Reisende bat Luigi, ihm ein kleines Stück als Führer zu dienen. Luigi begleitete ihn bis zum nächsten Kreuzweg und sagte: Hier ist Ihr Weg, Exzellenz, Sie können, nun nicht mehr fehlen.

 

Und hier ist deine Belohnung, sagte der Reisende und bot dem jungen Hirten einige kleine Münzen.

 

Ich danke, versetzte Luigi, seine Hand zurückziehend, ich leiste Dienste, ich verkaufe sie nicht.

 

Wohl, entgegnete der Reisende, wenn du eine Belohnung ausschlägst, so nimmst du wenigstens ein Geschenk an.

 

Oh! ja, das ist etwas anderes.

 

So nimm diese zwei venetianischen Zechinen und gib sie deiner Braut, die sich ein paar Ohrringe dafür kaufen soll.

 

Und Sie nehmen diesen Dolch, sagte der junge Hirt, und reichte ihm die von seiner eigenen kunstfertigen Hand geschnitzte Waffe. Sie finden von Albano bis Civita Castellana keinen, dessen Griff besser geschnitzt wäre.

 

Ich nehme ihn an, sagte der Reisende. Wie heißt du?

 

Luigi Vampa. Und Sie?

 

Ich? Ich heiße Simbad der Seefahrer.

 

Franz d’Epinay stieß einen Schrei des Erstaunens aus.

 

Simbad der Seefahrer? wiederholte er.

 

Ja, diesen Namen nannte der Reisende.

 

Was haben Sie gegen diesen Namen einzuwenden? fragte Albert, es ist ein sehr schöner Name, und die Abenteuer des Ersten dieses Namens haben mich in meiner Jugend ungemein belustigt.

 

Franz antwortete nicht. Der Name Simbad der Seefahrer hatte bei ihm eine ganze Welt von Erinnerungen geweckt.

 

Vampa, fuhr der Wirt fort, steckte verächtlich die Zechinen in die Tasche und schlug langsam den Rückweg wieder ein. Zwei- bis dreihundert Schritte von der Grotte glaubte er einen Schritt zu hören. Er sprang wie eine Gemse, spannte den Hahn seiner Flinte im Laufe und gelangte in weniger als einer Minute auf die Spitze des kleinen Hügels dem gegenüber, wo er den Reisenden erblickt hatte. Hier hörte er rufen: Zu Hilfe! Er schaute sich um und sah, wie ein Mann Teresa fortschleppte. Der Unbekannte war wenigstens zweihundert Schritte vor ihm voraus, und er hatte keine Hoffnung, ihn einzuholen, ehe er das Gehölz erreichte. Der junge Hirt blieb stehen, als hätten seine Füße Wurzel gefaßt. Er stützte den Schaft seiner Flinte an seine Schulter, hob sacht das Rohr in der Richtung des Räubers und gab Feuer. – Der Räuber hielt an, seine Knie bogen sich, und er fiel, Teresa mit sich zur Erde ziehend; Teresa erhob sich sogleich wieder. Als Luigi sich überzeugt hatte, daß sie unversehrt war, wandte er sich gegen den Verwundeten um, der mit geballten Fäusten und schmerzverzogenem Munde tot dalag. Vampa erkannte Cucumetto. Der Bandit hatte sich an dem Morgen, wo ihn die jungen Leute retteten, in Teresa verliebt und geschworen, das Mädchen sollte ihm gehören. Seit jenem Morgen spähte er nach ihr, und im Augenblick, wo Luigi Teresa allein ließ, um dem Reisenden den Weg zu zeigen, packte er sie und betrachtete sie bereits als seine Beute, als Vampas Kugel ihm das Herz durchdrang. Vampa schaute ihn ohne die geringste Bewegung an, während Teresa, noch ganz zitternd, sich dem toten Banditen nur mit kleinen Schritten zu nähern wagte und zögernd über die Schulter ihres Geliebten einen Blick auf den Leichnam warf. Nach ein paar Sekunden wandte sich Vampa zu dem Mädchen um und rief: Ah! das ist gut, du bist angekleidet; nun muß ich mich ebenfalls putzen. Teresa erschien in der Tat vom Kopf bis zu den Füßen in der Tracht der Tochter des Grafen von San Felice. Vampa nahm Cucumettos Leiche in seine Arme und trug ihn in die Grotte, während Teresa außen blieb.

 

Es war ein sonderbarer Anblick: eine Schäferin, die ihre Lämmer im Kaschmirkleide, mit Ohrringen und Halsband von Perlen, mit Diamantnadeln und Knöpfen von Saphiren, Smaragden und Rubinen hütete. Nach einer Viertelstunde kam Vampa ebenfalls aus der Grotte heraus. Seine Tracht war in ihrer Art nicht minder zierlich, als die Teresas. Er hatte ein Wams von granatfarbigem Samt mit ziselierten goldenen Knöpfen, eine mit Stickereien bedeckte seidene Weste, eine um den Hals geknüpfte römische Schärpe, eine mir Gold und roter und grünen Seide gesteppte Patronentasche, Hosen von himmelblauem Samt, die über dem Knie mit Diamantschnallen befestigt waren, bunte Gamaschen von Damhirschleder und einen Hut, woran Bänder von allen Farben flatterten; zwei Uhren hingen an seinem Gürtel, und ein prachtvoller Dolch stak in seinem Patronenleder.

 

Teresa stieß einen Schrei aus; Vampa hatte Cucumettos Kleidung angelegt. Der junge Mann bemerkte die Wirkung, die er auf seine Braut hervorbrachte; ein Lächeln des Stolzes umspielte seinen Mund, und er sagte zu Teresa: Bist du nun bereit, mein Schicksal zu teilen, wie es auch sein mag?

 

Oh ja! rief das Mädchen voll Begeisterung.

 

So nimm meinen Arm und vorwärts, denn wir haben keine Zeit zu verlieren.

 

Teresa schlang ihren Arm durch den ihres Geliebten, ohne ihn nur zu fragen, wohin er sie führte; denn in diesem Augenblick kam er ihr schön, stolz und mächtig vor, wie ein Gott. Und beide schritten dem Walde zu, dessen Saum sie nach ein paar Minuten hinter sich hatten. Vampa kannte alle Pfade des Gebirges; er wanderte daher, ohne zu zögern, im Walde fort. Nach ungefähr anderthalb Stunden erreichten sie eine tiefe Schlucht. Plötzlich erschien, zehn Schritte vor ihnen, ein Mann, der auf Vampa zielte und rief: Keinen Schritt weiter, oder du bist tot!

 

Ruhig, sagte Vampa, die Hand mit einer verächtlichen Gebärde aufhebend, während Teresa sich schreckhaft an ihn drängte; zerreißen sich die Wölfe untereinander?

 

Wer bist du? fragte die Wache.

 

Ich bin Luigi Vampa, der Hirte von dem Gute San Felice, und will mit deinen Genossen sprechen, die auf der Lichtung von Rocca Bianca versammelt sind.

 

So folge mir, sagte die Wache, oder geh vielmehr voraus, da du weißt, wo es ist.

 

Vampa lächelte über diese Vorsichtsmaßregel und ging mit gleichmäßig festen, ruhigen Schritten, von Teresa begleitet, voran. Nach fünf Minuten hieß sie der Bandit durch ein Zeichen stille stehen; die jungen Leute gehorchten. Der Bandit ahmte dreimal das Krächzen des Raben nach, und ein ähnliches Geschrei beantwortete diesen Ruf.

 

Gut, sagte der Bandit. Du kannst nun weiter gehen. Luigi und Teresa machten sich wieder auf den Weg, doch je mehr sie vorrückten, desto fester preßte sich die zitternde Teresa an ihren Geliebten an, denn man sah nun durch die Bäume Menschen erscheinen und Flintenläufe funkeln. Die Lichtung von Rocea Bianca lag oben auf einem kleinen Berge. Teresa und Luigi erreichten die Anhöhe und befanden sich in demselben Augenblick zwanzig Banditen gegenüber.

 

Dieser junge Mann sucht euch und will euch sprechen, sagte die Wache.

 

Und was will er uns sagen?

 

Ich will euch sagen, daß ich es satt habe, die Schafe zu hüten, antwortete Vampa.

 

Ah! ich begreife, sagte ein anderer, und du kommst, uns um Aufnahme in unsere Reihen zu bitten?

 

Er sei willkommen! riefen mehrere Banditen von Ferrusino, Pampinara und Anagni, die Luigi Vampa erkannten.

 

Ja, nur will ich euch um etwas anderes bitten, als um die Gunst, euer Gefährte zu sein.

 

Was verlangst du von uns? fragten die Banditen erstaunt.

 

Ich will euer Kapitän werden.

 

Die Banditen brachen in ein Gelächter aus.

 

Was berechtigt dich, auf diese Ehre Anspruch zu machen? fragte der Leutnant.

 

Ich habe euren Anführer Cucumetto getötet, dessen Nachlaß ihr an mir seht, und Feuer an die Villa San Felice gelegt, um meiner Braut ein Hochzeitskleid zu schenken.

 

Eine Stunde nachher war Luigi Vampa an Cucumettos Stelle zum Kapitän erwählt. –

 

Nun, mein lieber Albert, sagte Franz, sich an seinen Freund wendend, was denken Sie von Luigi Vampa?

 

Ich sage, es ist eine Mythe, und er hat gar nie existiert.

 

Was ist das, eine Mythe? fragte Pastrini.

 

Es wäre zu lang, Ihnen dies zu erklären, mein lieber Wirt, antwortete Franz. Und Sie sagen, Herr Vampa treibe sein Gewerbe in diesem Augenblick in der Gegend von Rom?

 

Ja, und zwar mit einer Kühnheit, von der nie ein Bandit vor ihm ein Beispiel gegeben hat.

 

Die Polizei hat seiner also nicht habhaft werden können?

 

Was wollen Sie? Er ist zugleich mit den Hirten der Ebene, mit den Fischern des Tiber und den Schmugglern an der Küste im Einverständnis. Sucht man ihn auf dem Gebirge, so ist er auf dem Fluß; verfolgt man ihn auf dem Fluß, so erreicht er die offene See; und glaubt man, er habe sich auf die Isola del Giglio, del Gnanuti oder nach Monte Christo geflüchtet, so sieht man ihn plötzlich in Albano, in Tivoli oder la Riccia auftauchen.

 

Und wie verfährt er gegen die Reisenden?

 

Oh, mein Gott! Das ist ganz einfach. Je nach der Entfernung, in der man sich von der Stadt befindet, gibt er ihnen acht Stunden, zwölf Stunden oder einen Tag, das Lösegeld zu bezahlen; ist diese Zeit abgelaufen, so gewährt er noch eine Stunde Gnadenfrist. Hat er nach sechzig Minuten das Geld noch nicht, so schießt er dem Gefangenen eine Kugel vor den Kopf oder stößt ihm seinen Dolch ins Herz, und alles ist abgemacht.

 

Nun, Albert, fragte Franz seinen Gefährten, sind Sie immer noch geneigt, vor die Stadt zu fahren?

 

Allerdings, wenn der Weg malerisch ist.

 

In diesem Augenblick schlug es neun Uhr, die Tür ging auf, und der Kutscher erschien.

 

Exzellenz, sagte er, der Wagen erwartet Sie.

 

Wohl! rief Franz, also nur in das Kolosseum.

 

Ah! mein Lieber, versetzte Albert, ebenfalls aufstehend und eine Zigarre anzündend, ich hielt Sie in der Tat für mutiger.

 

Hierauf gingen die jungen Leute die Treppe hinab und stiegen in den Wagen.

 

Erscheinungen.

 

Erscheinungen.

 

Auf der Fahrt durch die dunkle Stadt sprach Franz kein Wort, sein Geist beschäftigte sich mit dem, was er über Luigi Vampa gehört hatte, denn es war ihm befremdlich erschienen, daß Pastrini dabei den Namen seines Gastgebers auf Monte Christo genannt und diese Insel als Schlupfwinkel der Banditen bezeichnet hatte. Dabei erinnerte er sich, daß er bei seiner Landung auf Monte Christo bei den Matrosen auch zwei flüchtige Banditen getroffen hatte. So sehr auch alles dies seinen Geist beschäftigte, so war es doch völlig vergessen in dem Augenblick, wo er das düstere, riesige Gespenst des Kolosseums, auf das der Mond seine langen, bleichen Strahlen warf, vor sich sah. Der Wagen hielt, die jungen Leute sprangen heraus und standen vor einem Führer. Franz kannte das Kolosseum, denn er hatte es bereits mehr als zehnmal besucht; aber auf seinen Gefährten, der das gewaltige Monument zum erstenmal betrat, brachte der Anblick einen mächtigen Eindruck hervor. Man hat in der Tat, wenn man es nicht gesehen, keinen Begriff von der Majestät einer solchen Ruine, deren Verhältnisse in dieser geheimnisvollen Beleuchtung des südlichen Mondes verdoppelt erscheinen.

 

Kaum hatte Franz gedankenvoll hundert Schritt unter den inneren Säulengängen gemacht, als er, Albert seinem Führer überlassend, der ihm den Löwengraben, die Loge der Gladiatoren, das Podium der Cäsaren zeigen wollte, eine halb in Trümmer zerfallene Treppe hinaufstieg und sich im Schatten einer Säule vor einem Ausschnitte niederließ, der ihm den Granitriesen in seiner ganzen majestätischen Ausdehnung zu erfassen gestattete. Franz war ungefähr eine Viertelstunde hier und blickte jetzt nach Albert hinüber, der, begleitet von zwei Fackelträgern, aus einer Vertiefung am andern Ende des Kolosseums hervorkam. Die Führer stiegen eben wie Schatten, die einem Irrlichte folgen, von Stufe zu Stufe zu den den Vestalinnen vorbehaltenen Plätzen hinab, als es ihm schien, als hörte er in die Tiefen des Gebäudes einen von der gegenüberliegenden Treppe abgestürzten Stein rollen. Es kam ihm vor, als wäre der Stein unter dem Fuße eines Menschen gewichen, und als vernähme er ein Geräusch.

 

Nach einen: Augenblick erschien wirklich ein Mensch; er trat allmählich aus dem Schatten hervor, während er die von dem Monde beleuchtete Treppe hinaufstieg. Es konnte ein Reisender sein, wie er, der eine einsame Betrachtung dem Geschwätz seiner Führer vorzog, aber aus dem vorsichtigen Zögern, mit dem er die letzten Stufen erstieg, aus der Art und Weise, wie er, auf der Plattform angelangt, still stand und zu horchen schien, ging klar hervor, daß er zu einem besonderen Zwecke gekommen war und auf jemand wartete. Unwillkürlich verbarg sich Franz so viel als möglich hinter der Säule. Zehn Schritte davon war das Gewölbe ausgebrochen, und eine runde Öffnung ließ den mit Sternen besäten Himmel hereinschauen. Um diese Öffnung her, die vielleicht schon seit Jahrhunderten den Mondstrahlen Durchgang gestattete, wuchsen Gesträuche, deren grüne Umrisse sich kräftig von dem matten Azur des Firmaments abhoben, während große Lianen und mächtige Efeuranken von der obern Terrasse herabhingen und sich, schwelgendem Tauwerk ähnlich, unter dem Gewölbe wiegten.

 

Der Mann, dessen geheimnisvolles Erscheinen Franzens Aufmerksamkeit erregt hatte, stand so im Halbdunkel, daß man seine Züge nicht zu unterscheiden vermochte, doch war die Tracht des Unbekannten zu erkennen: er war in einen großen braunen Mantel gehüllt, dessen rechte Spitze, über die linke Schulter geworfen, den unteren Teil seines Gesichtes verbarg, während sein breitkrempiger Hut seinen Kopf bedeckte. Nur das äußerste Ende seiner Kleidung wurde von dem schiefen Lichte beleuchtet, das durch die Öffnung drang und ein schwarzes, einen Lackstiefel zierlich umschließendes Beinkleid gewahren ließ. Der Mann gehörte offenbar, wenn nicht der Aristokratie, doch wenigstens der guten Gesellschaft an. Er war ungefähr zehn Minuten anwesend und gab sichtbare Zeichen der Ungeduld von sich, als sich ein leichtes Geräusch auf der obern Terrasse hören ließ. In demselben Augenblick verdeckte ein Schatten den Lichtschein, ein Mann zeigte sich an der Öffnung, tauchte seinen durchdringenden Blick in die Finsternis und gewahrte den Mann im Mantel; sogleich ergriff er eine Handvoll herabhängender Lianen und Efeuranken, ließ sich hinabgleiten und sprang, sobald er nur noch drei Fuß vom Boden entfernt war, leicht zur Erde. Dieser Mann zeigte die vollständige Tracht eines Trasteveriners.

 

 

Entschuldigen Sie, Exzellenz, sagte er in römischem Dialekt, ich ließ Sie warten, doch nur ein paar Minuten, denn es hat soeben zehn Uhr geschlagen.

 

Ich kam zu früh und nicht Ihr zu spät, antwortete der Fremde, also keine Umstände; hättet Ihr mich übrigens auch warten lassen, so würde ich vermutet haben, ein von Eurem Willen unabhängiger Beweggrund halte Euch zurück.

 

Und Sie hätten recht gehabt, Exzellenz, ich komme vom Kastell St. Angelo, wo ich die größte Mühe hatte, bis es mir endlich gelang, mit Beppo zu sprechen.

 

Wer ist Beppo?

 

Beppo ist ein Angestellter beim Gefängnis, dem ich eine kleine Rente dafür zukommen lasse, daß ich erfahre, was im Innern der Burg Seiner Heiligkeit vorgeht.

 

Ah! ah! ich sehe, Ihr seid ein vorsichtiger Mann, mein Lieber.

 

Man weiß nicht, was geschehen kann, Exzellenz; vielleicht werde ich auch eines Tages im Netze gefangen, wie der arme Peppino, und bedarf einer Ratte, um einige Maschen meines Gefängnisses zu durchnagen.

 

Sprecht, was habt Ihr in Erfahrung gebracht?

 

Dienstag um zwei Uhr sollen zwei Hinrichtungen stattfinden, wie dies in Rom bei Eröffnung großer Feste gebräuchlich ist; einer von den Verurteilten wird durch Totschlag hingerichtet ( mezzolato); er ist ein Elender, der einen Priester umgebracht hat, von dem er erzogen worden ist, und der keine Teilnahme verdient; der andere wird mit der Guillotine enthauptet, das ist der arme Peppino.

 

Was wollt Ihr, mein Lieber. Ihr flößt nicht nur der päpstlichen Regierung, sondern auch den benachbarten Staaten einen so großen Schrecken ein, daß man durchaus ein Beispiel geben muß.

 

Aber Peppino gehört nicht einmal zur Bande, er ist ein armer Hirte, der kein anderes Verbrechen beging, als daß er uns Lebensmittel lieferte.

 

Was ihn vollkommen zu Eurem Mitschuldigen macht. Es wird also ein Schauspiel stattfinden, das den Geschmack des römischen Volkes befriedigen wird.

 

Dazu soll dann noch ein unerwartetes Schauspiel kommen, das ich mir vorbehalte, versetzte der Trasteveriner.

 

Mein lieber Freund, entgegnete der Mann im Mantel, erlaubt mir die Bemerkung, daß Ihr mir ganz geneigt zu sein scheint, irgend eine Albernheit zu begehen.

 

Ich bin zu allem geneigt, um die Hinrichtung des armen Teufels zu verhindern, der in der Klemme steckt, weil er mir gedient hat. Bei der heiligen Jungfrau, ich müßte mich als feig betrachten, wenn ich nicht etwas für den braven Jungen unternähme.

 

Und was gedenkt Ihr zu tun?

 

Ich stelle etwa zwanzig Mann um das Schafott, und in dem Augenblick, wo man ihn herbeibringt, stürzen wir auf ein Signal, das ich geben werde, mit dem Dolche in der Faust auf die Eskorte los und entführen ihn.

 

Das scheint mir sehr unsicher, und mein Plan taugt entschieden mehr, als der Eurige.

 

Und worin besteht dieser Plan, Exzellenz?

 

Ich gebe irgend einem, den ich kenne, zweitausend Piaster; dafür bewirkt er, daß Peppinos Hinrichtung auf das nächste Jahr verschoben wird; im Verlaufe des Jahres gebe ich sodann weitere zweitausend Piaster einem andern, den ich ebenfalls kenne, und bringe es dahin, daß man ihn entschlüpfen läßt.

 

Sind Sie des Gelingens sicher?

 

Mein Lieber, ich sage, ich werde mit meinem Golde mehr bewirken, als Ihr und Eure Leute mit allen ihren Dolchen, Pistolen und Büchsen. Laßt mich also machen!

 

Vortrefflich; doch wenn Sie scheitern, sind wir immer noch bereit.

 

Haltet Euch immerhin bereit, wenn es Euch Vergnügen macht, doch seid überzeugt, daß ich die Freiheit für ihn erlange.

 

Vergessen Sie nicht, daß schon übermorgen Dienstag ist. Sie haben nur noch morgen.

 

Wohl, aber ein Tag besteht aus 24 Stunden, jede Stunde aus 60 Minuten, jede Minuten aus 60 Sekunden, und in 86 400 Sekunden bringt man viel zu Wege.

 

Wie werden wir es erfahren, Exzellenz, wenn es Ihnen gelungen ist?

 

Das ist ganz einfach: die drei letzten Fenster des Palastes Rospoli sind von mir gemietet; habe ich den Aufschub erlangt, so sollen die zwei Fenster an der Ecke mit gelbem, das in der Mitte aber mit weißem Damast mit rotem Kreuz behängt werden.

 

Gut; und durch wen werden Sie die Begnadigung in die betreffenden Hände gelangen lassen?

 

Schickt mir einen von Euren Leuten, als Büßer verkleidet, und ich gebe sie ihm. Mit seinem Gewande wird er bis zum Fuße des Schafotts vordringen, wo er die Bulle dem Obersten der Brüderschaft übergibt, der sie dem Nachrichter einhändigt. Mittlerweile laßt diese Kunde Peppino zu Ohren kommen, daß er nicht vor Angst stirbt oder ein Narr wird, sonst hätten wir eine unnötige Ausgabe für ihn gemacht.

 

Hören Sie, Exzellenz, sagte der Trasteveriner, ich bin Ihnen ergeben, und davon sind Sie überzeugt, nicht wahr?

 

Ich hoffe es wenigstens.

 

Nun! Wenn Sie Peppino retten, so wird meine Ergebenheit sich in Gehorsam wandeln.

 

Gebt wohl acht auf das, was Ihr sagt, mein Lieber! Ich werde Euch eines Tages daran erinnern, denn vielleicht bedarf ich Euer einst ebenfalls.

 

Wohl, Exzellenz, dann sollen Sie mich zur Stunde der Not finden, wie ich Sie zu derselben Stunde gefunden habe. Wären Sie am andern Ende der Welt, so brauchen Sie mir nur zu schreiben: Tue dies, und ich werde es tun, so wahr ich …

 

Still! sagte der Unbekannte, ich höre Geräusch.

 

Es sind Reisende, die das Kolosseum mit Fackeln besuchen.

 

Sie sollen uns nicht beisammen finden. Diese Spione von Führern könnten Euch erkennen, und so ehrenwert auch Eure Freundschaft ist, mein Lieber, so befürchte ich doch, es dürfte mir meinen Kredit nehmen, wenn man erführe, in welchem Grade wir miteinander verbunden sind.

 

Also, wenn Sie den Aufschub haben?

 

So ist am mittleren Fenster ein Damastvorhang mit rotem Kreuze.

 

Wenn Sie die Bulle nicht haben?

 

Drei gelbe Vorhänge.

 

Und dann?

 

Dann spielt mit dem Dolche nach Eurem Belieben, ich erlaube es Euch und werde da sein, um Euch zuzusehen.

 

Gott befohlen, Exzellenz, ich zähle auf Sie, zählen Sie auf mich!

 

Nach diesen Worten verschwand der Trasteveriner auf der Treppe, während der Unbekannte, sein Gesicht noch mehr als zuvor mit dem Mantel verhüllend, zwei Schritte entfernt an Franz vorüberging und auf den äußeren Stufen in die Arena hinabstieg. Eine Sekunde nachher hörte Franz seinen Namen unter dem Gewölbe erschallen; es war Albert, der ihn rief. Er wartete, um zu antworten, bis sich die beiden Männer entfernt hätten, denn er wollte nicht, daß sie erführen, sie hätten einen Zeugen gehabt, der, wenn er auch ihr Gesicht nicht sehen konnte, wenigstens kein Wort von ihrem Gespräche verlor. Kaum waren zehn Minuten vergangen, als Franz nach dem Hotel Stadt London zurückfuhr. Er ließ Albert seine Eindrücke erzählen, ohne viel zu erwidern, denn er wollte sobald als möglich allein sein, um ungestört das, was in seiner Gegenwart vorgefallen war, überlegen zu können.

 

Von den beiden Männern war ihm der eine offenbar fremd, und er sah und hörte ihn zum erstenmal; nicht so war es mit dem andern, und obgleich Franz sein beständig im Schatten oder durch den Mantel verborgenes Gesicht nicht hatte unterscheiden können, so war ihm doch der Ton dieser Stimme sofort zu sehr aufgefallen, als daß sie in ihm nicht bestimmte Erinnerungen geweckt hätten. Es lag in dieser Stimme etwas Scharfes, Metallisches, das ihn ebensosehr im Kolosseum, wie in der Grotte von Monte Christo hatte erbeben lassen; er war auch vollkommen überzeugt, daß dieser Mann Simbad der Seefahrer war.

 

Unter allen andern Umständen hätte er sich bei der Neugierde, die ihm dieser Mann eingeflößt, ihm zu erkennen gegeben; aber das Gespräch, das er bei dieser Veranlassung gehört, war so vertraulicher Natur, daß ihn die Überzeugung, seine Erscheinung müßte ihm unangenehm sein, zurückhielt. Doch während er fern blieb, gelobte er sich, daß er sich eine zweite Gelegenheit mit ihm zu sprechen, nicht entschlüpfen lassen wollte.

 

Franz war zu sehr von seinen Gedanken in Anspruch genommen, um zu schlafen. Er brachte die Nacht damit hin, daß er alle Umstände, die sich auf den Mann in der Grotte und den Unbekannten im Kolosseum bezogen und die auf die Gleichheit beider Personen deuteten, in Erwägung zog; und je mehr Franz nachdachte, desto mehr wurde er in seiner Meinung, es sei ein und dieselbe Person, bestärkt. Er entschlummerte bei Tagesanbruch und erwachte daher sehr spät. Albert hatte als echter Pariser bereits seine Maßregeln für den Abend getroffen und eine Loge im Theater Argentina genommen. Franz mußte mehrere Briefe schreiben und überließ deshalb Albert den Wagen für den ganzen Tag. Um fünf Uhr kehrte Albert zurück; er hatte seine Empfehlungsbriefe abgegeben, Einladungen für alle Abende erhalten und Rom gesehen.

 

Albert war in der letzten Zeit sehr unzufrieden, denn seit den vier Monaten, wo er Italien in allen Richtungen durchkreuzte, hatte er nicht ein einziges galantes Abenteuer gehabt. Die Sache war um so peinlicher, als er, nach der bescheidenen Anschauung seiner Landsleute, von Paris mit der Überzeugung abgereist war, er würde in Italien die größten Erfolge erringen. Ach! es war dem nicht so gewesen; die reizenden genuesischen, florentinischen und neapolitanischen Gräfinnen hielten sich zwar nicht an ihre Ehemänner, aber an ihre Liebhaber, und Albert erlangte die grausame Überzeugung, die Italienerinnen hätten vor den Französinnen wenigstens den Vorzug, daß die meisten in ihrer Untreue treu blieben.

 

Und dennoch war Albert nicht nur ein vollkommen eleganter Kavalier, sondern auch ein Mann von viel Geist; ferner war er Vicomte, allerdings Vicomte von neuem Adel; doch heutzutage, wo man keine Ahnenproben mehr zu liefern hat, was liegt daran, ob der Adelstitel von 1399 oder von 1815 datiert? Dabei hatte er, was schwerer ins Gewicht fiel, fünfzigtausend Franken Rente, und das war mehr, als man brauchte, um in Paris Mode zu sein. Es erschien also einigermaßen demütigend, daß er in keiner von den Städten, die er besucht, Aufsehen erregt hatte.

 

Er hoffte sich in Rom zu entschädigen, da der Karneval in allen Ländern der Erde, die dieses herrliche Fest feiern, eine Zeit der Freiheit ist, wo sich die Strengsten zu einer Tollheit hinreißen lassen. Weil nun der Karneval am andern Tage begann, so war es für Albert von großer Wichtigkeit, sich der vornehmen Welt noch vorher bemerklich zu machen. Er hatte daher eine von den am meisten ins Auge fallenden Logen des Theaters gemietet, und eine tadellose Toilette gemacht. Indes hegte er noch eine andere Hoffnung: er dachte, wenn es ihm gelänge, einen Platz im Herzen einer schönen Römerin zu erobern, so würde er damit natürlich auch einen Platz in einem Wagen erlangen und er dann in der Lage sein, den Karneval von der Höhe eines aristokratischen Gefährtes oder eines fürstlichen Balkons herab zu genießen.

 

Alle diese Gedanken trugen dazu bei, Albert lebhafter zu machen, als er es je gewesen war. Er wandte den Schauspielern den Rücken zu, neigte sich mit halbem Leibe aus der Loge heraus, lorgnettierte alle jungen Frauen, was aber keine bewog, ihn mit einem einzigen Blicke zu belohnen. Alle Plauderten von ihren eigenen Angelegenheiten, von ihren Liebschaften, von ihren Vergnügungen, vom Karneval, von der nächsten heiligen Woche, ohne nur einen Augenblick den darstellenden Künstlern oder dem Stücke die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Gegen das Ende des ersten Aktes öffnete sich die Tür einer Loge, die bis jetzt leer geblieben war, und Franz sah eine Dame eintreten, der er in Paris vorgestellt zu werden die Ehre gehabt hatte; bis dahin war er der Meinung gewesen, sie befände sich noch in Frankreich. Albert sah, daß sein Freund beim Erscheinen der Dame erregt wurde, wandte sich zu ihm und fragte: Kennen Sie diese Frau?

 

Ja; wie finden Sie sie?

 

Reizend, mein Lieber. Es ist eine Französin?

 

Nein, eine Venetianerin!

 

Und sie heißt?

 

Gräfin***.

 

Ah! ich kenne sie dem Namen nach, rief Albert; man sagt, sie sei ebenso geistreich als hübsch. Teufel! Wenn ich bedenke, daß ich mich ihr bei dem letzten Ball von Frau von Villefort hätte vorstellen lassen können, und daß ich Dummkopf dies versäumte!

 

In diesem Augenblick gewahrte die Gräfin Franz und machte ihm mit der Hand ein anmutiges Zeichen, das er mit einer höflichen Verbeugung erwiderte.

 

Ah! es scheint mir, Sie stehen sehr gut mit ihr? sagte Albert.

 

Mein Lieber, was Sie hier täuscht und was uns Franzosen im Auslande tausend Albernheiten begehen läßt, ist, daß wir alles von unserm Pariser Gesichtspunkt betrachten. In Spanien und in Italien besonders dürfen Sie die Vertrautheit der Leute nie nach der Freiheit in ihren Umgangsformen beurteilen. Wir haben eine gewisse Sympathie zu einander gehegt, das ist alles.

 

Endlich fiel der Vorhang zur großen Freude des Vicomte von Morcerf, der seinen Hut nahm und seinen Freund bat, ihn der Gräfin vorzustellen. Die beiden Freunde betraten die Loge der Gräfin, und Franz stellte Albert als einen durch gesellschaftliche Stellung und Geist ausgezeichneten Kavalier vor. Er fügte hinzu, in Verzweiflung darüber, daß er den Aufenthalt der Gräfin in Paris nicht benutzt, um sich ihr vorstellen zu lassen, habe er ihn beauftragt, diesen Fehler gutzumachen, und er entledige sich dieses Auftrags, indem er die Gräfin, bei der er selbst eines Fürsprechers bedurft hätte, bitte, seine Unbescheidenheit entschuldigen zu wollen. Die Gräfin antwortete, Albert anmutig begrüßend und Franz die Hand reichend. Von ihr eingeladen, nahm Albert den leeren Platz vorn ein, und Franz setzte sich in die zweite Reihe hinter die Gräfin.

 

Albert fand einen vortrefflichen Gegenstand zur Unterhaltung: Paris; er sprach mit der Gräfin von ihren gemeinschaftlichen Bekannten. Franz seinerseits ließ sich von seinem Freunde dessen Riesenlorgnette geben und fing ebenfalls an, sich im Saal umzusehen. Allein, auf dem Vordersitze einer Loge, im dritten Rang ihnen gegenüber, saß eine bewunderungswürdig hübsche Frau in griechischem Kostüm, das sie mit so viel Anmut trug, daß es offenbar ihre Landestracht sein mußte. Hinter ihr saß ein Mann, dessen Gesicht sich jedoch nicht erkennen ließ. Franz unterbrach das Gespräch Alberts mit der Gräfin, um diese zu fragen, ob sie die schöne Albanesin kenne, die wohl würdig wäre, nicht nur die Aufmerksamkeit der Männer, sondern auch die der Frauen zu erregen.

 

Nein, sagte sie, ich weiß nur, daß sie seit dem Anfange der Saison in Rom ist, denn bei Eröffnung des Theaters habe ich sie da gesehen, wo sie jetzt sitzt, und seit einem Monat versäumt sie keine Vorstellung; bald begleitet sie der Mann, der in diesem Augenblick bei ihr ist, bald folgt ihr nur ein schwarzer Diener.

 

Franz und die Gräfin tauschten ein Lächeln aus, dann setzte die Gräfin ihr Gespräch mit Albert fort, während Franz wieder seine Albanesin betrachtete. Die Ouverture des zweiten Aktes begann. Bei den ersten Bogenstrichen sah Franz den Herrn aufstehen und sich der Griechin nähern, die sich umwandte, um einige Worte an ihn zu richten, und sich abermals mit dem Ellenbogen auf die Brüstung der Loge stützte. Das Gesicht ihres Begleiters war immer noch im Schatten, und Franz vermochte seine Züge nicht zu unterscheiden.

 

Der Vorhang ging auf, Franzens Aufmerksamkeit richtete sich nun selbstverständlich auf die Schauspieler, und seine Augen verließen für kurze Zeit die Loge der schönen Griechin, um sich nach der Szene zu richten.

 

Als der zweite Akt zu Ende war, wollte er eben Beifall spenden, als das Bravo, das seinem Munde entschlüpfen wollte, auf seinen Lippen erstarb.

 

Der Mann in der Loge war völlig aufgestanden, und Franz erkannte nun in ihm, da sein Kopf vom Licht getroffen wurde, den geheimnisvollen Bewohner von Monte Christo, den Mann, dessen Stimme er am Abend zuvor in den Ruinen des Kolosseums wiederzuhören geglaubt hatte. Es unterlag keinem Zweifel, der fremde Reisende wohnte in Rom. Wahrscheinlich drückte sich auf Franzens Gesicht die Unruhe aus, die diese Erscheinung in seinem Innern hervorrief, denn die Gräfin schaute ihn an und fragte ihn, was er hätte.

 

Frau Gräfin, antwortete Franz, wenn ich Sie vorhin fragte, ob Sie jene albanesische Frau kennen, so frage ich Sie nun, ob Sie ihren Gatten kennen.

 

Ebensowenig als sie. Jedenfalls, sagte sie, mit Alberts Glas nach der Loge sehend, muß es aber ein Abgeschiedener sein, der mit Erlaubnis des Totengräbers aus seinem Sarge gestiegen ist, denn er sieht furchtbar blaß aus.

 

So sieht er immer aus, sagte Franz.

 

Sie kennen ihn also? sagte die Gräfin; dann ist es an mir, Sie zu fragen, wer er ist.

 

Ich habe ihn, glaube ich, bereits gesehen und erkenne ihn wieder.

 

In der Tat, sagte die Gräfin, während sie mit den Schultern eine Bewegung machte, als durchliefe ein Schauer ihre Adern, ich begreife, daß man einen solchen Menschen nie vergißt, wenn man ihn einmal gesehen hat.

 

Die Wirkung, die Franz an sich empfunden, war also keine besondere, da sie sich auch bei einer andern Person fühlbar machte.

 

Nun! fragte Franz die Gräfin, als sie zum zweiten Male zu dem Fremden hinübersah, was denken Sie von diesem Manne?

 

Hören Sie, erwiderte die Gräfin, der verstorbene Lord Byron hat mir geschworen, er glaube an Vampire, er sagte mir sogar, er habe welche gesehen. Er schilderte mir ihr Gesicht, und wahrhaftig, gerade so, wie ich’s dort drüben sehe: die schwarzen Haare, die großen, von seltsamem Feuer glänzenden Augen, die Totenblässe; bemerken Sie ferner, daß er mit keiner gewöhnlichen Frau zusammen ist, es ist eine Fremde, eine Griechin, … eine Abtrünnige … eine Magierin ohne Zweifel, wie er …

 

Die Gräfin war in der Tat sehr erregt, und Franz selbst konnte sich einem gewissen abergläubischen Schrecken nicht entziehen, der um so natürlicher erschien, als das, was bei der Gräfin die Folge eines instinktartigen Eindrucks war, bei ihm durch bestimmte Erinnerungen hervorgebracht wurde. Er fühlte, daß sie zitterte, als sie in den Wagen stieg. Er begleitete sie nach Hause; es war niemand da, und sie wurde nicht erwartet; Franz machte ihr darüber einen Vorwurf.

 

In der Tat, sagte sie zu ihm, ich fühle mich nicht wohl und bedarf der Einsamkeit; der Anblick dieses Menschen hat mich völlig verstört.

 

Franz versuchte zu lachen.

 

Lachen Sie nicht, sagte die Gräfin; Sie haben auch gar keine Lust dazu. Aus Gründen, die ich Ihnen nicht sagen kann, wünschte ich zu erfahren, wer dieser Mann ist, woher er kommt und wohin er geht. Aber nun guten Abend! Schlafen Sie wohl, ich weiß, wer nicht schlafen wird.

 

Als Franz in den Gasthof kam, fand er Albert im Schlafrock eine Zigarre rauchend und wütend darüber, daß ihm der Hotelbesitzer wiederholt erklärt hatte, daß zu dem Karneval weder ein Wagen noch ein Fenster zum Zuschauen mehr zu bekommen sei.

 

Auch Franz bedauerte lebhaft das Mißgeschick, als der Wirt nochmals eintrat und sagte: Der Graf von Monte Christo, der auf dem gleichen Stocke mit Ihnen wohnt, hat durch mich von der Verlegenheit, in der Sie sich befinden, gehört und bietet Ihnen zwei Plätze in seinem Wagen und zwei an seinen Fenstern im Palaste Rospoli an.

 

Albert und Franz schauten einander ins Gesicht.

 

Können wir das Anerbieten eines Fremden, eines uns völlig unbekannten Mannes annehmen? fragte Albert.

 

Wer ist dieser Graf von Monte Christo? fragte Franz den Wirt.

 

Ein vornehmer Herr aus Sizilien oder Malta, ich weiß nicht genau, aber edel wie ein Borghese und reich wie eine Goldmine.

 

In diesem Augenblick klopfte man an die Tür.

 

Auf Franzens Herein erschien ein Diener in sehr zierlicher Livree auf der Schwelle und sprach: Von dem Grafen von Monte Christo für Herrn Franz d’Epinay und den Herrn Vicomte Albert von Morcerf.

 

Und er reichte dem Wirte zwei Karten, die dieser den jungen Leuten zustellte.

 

Der Herr Graf von Monte Christo, fuhr der Diener fort, läßt die Herren um Erlaubnis bitten, sich ihnen als Nachbar morgen früh vorstellen zu dürfen; er wird die Ehre haben, sich bei den Herren erkundigen zu lassen, um welche Stunde sie zu sprechen sind.

 

Sagen Sie dem Grafen, antwortete Franz, wir werden die Ehre haben, ihm unsern Besuch zu machen.

 

Der Bediente entfernte sich.

 

Das nenne ich mit Artigkeit erstürmen, rief Albert; Sie haben offenbar recht, Herr Wirt, Ihr Graf von Monte Christo ist ein Mann von der besten Lebensart.

 

Das Anerbieten von zwei Plätzen an einem Fenster des Palastes Rospoli erinnerte Franz an das Gespräch, das er in den Ruinen des Kolosseums zwischen seinem Unbekannten und dem Trasteveriner gehört, wobei der Mann mit dem Mantel die Verbindlichkeit übernommen hatte, Begnadigung für einen Verurteilten zu erlangen. War aber der Mann im Mantel, wie Franz allem Anschein nach glauben mußte, derselbe, dessen Erscheinen im Theater Argentina ihn so sehr in Anspruch genommen hatte, so erkannte er ihn ohne Zweifel wieder, und nichts sollte ihn dann abhalten, seine Neugierde in Bezug auf seine Person zu befriedigen.

 

Franz brachte einen Teil der Nacht damit zu, daß er von dem zweimaligen Auftauchen des Grafen träumte und den andern Tag herbeiwünschte. Der andere Tag sollte wirklich alles aufklären, und diesmal – besäße sein Wirt von Monte Christo nicht den Ring des Gyges und damit die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen – würde er ihm sicherlich nicht entgehen. Er erwachte vor acht Uhr und ließ sogleich den Wirt rufen.

 

Herr Wirt, sagte er zu ihm, soll nicht heute eine Hinrichtung stattfinden?

 

Ja, aber wenn Sie mich fragen, um einen Platz dazu zu bekommen, so wird es zu spät sein.

 

Wahrscheinlich werde ich nicht hingehen; doch möchte ich gern die Anzahl der Verurteilten, ihre Namen und die Art der Hinrichtung wissen.

 

Das trifft sich gut, Exzellenz, man hat mir soeben die Tavolette gebracht.

 

Was ist das: Tavolette?

 

Die Tavolette sind hölzerne Täfelchen, die man am Tage vor einer Hinrichtung an allen Straßenecken anhängt, und worauf die Namen der Verurteilten, der Grund ihrer Verurteilung und die Art ihrer Hinrichtung angegeben sind. Damit werden die Gläubigen aufgefordert, zu Gott zu beten, er möge den Schuldigen eine aufrichtige Reue verleihen. Ich will sie Ihnen gleich holen.

 

Einen Augenblick später brachte er Franz die Tafel. Auf dieser stand wörtlich:

 

Es wird hiermit männiglich zu wissen getan, daß Dienstag den 22. Februar am ersten Tage des Karnevals durch Spruch des Tribunals der Rota auf der Piazza del popolo Andrea Rondolo, schuldig des Mordes an der Person des hochwürdigen und hochverehrten Don Cäsar Torlini, Kanonikus der Kirche St. Giovanni in Laterano, und Peppino, genannt Rocca Priori, überwiesen der Genossenschaft mit dem verabscheuungswürdigen Banditen Luigi Vampa und den Leuten seiner Bande, hingerichtet werden sollen. Der erste wird mazzolato (totgeschlagen) und der zweite decapitato (enthauptet). Mitleidige Seelen wollen Gott um aufrichtige Reue für diese unglücklichen Verurteilten bitten.

 

Das war genau dasselbe, was Franz zwei Tage vorher in den Ruinen des Kolosseums gehört hatte. Somit war aller Wahrscheinlichkeit nach der Trasteveriner kein anderer, als der Bandit Luigi Vampa, und der Mann im Mantel Simbad der Seefahrer, der in Rom, wie in Porto Vecchio und Tunis als Menschenfreund in den Gang der Gerichte eingriff.

 

Indessen war es neun Uhr geworden, und Franz schickte sich an, Albert zu wecken, als dieser zu seinem großen Erstaunen ganz angekleidet aus seinem Zimmer trat. Der Karneval ließ ihn nicht länger schlafen und hatte ihn früher auf die Beine gebracht, als sein Freund dies hoffte.

 

Franz und Albert hatten, um zum Grafen von Monte Christo zu gelangen, dem sie ihre Aufwartung machen wollten, nur den Flur zu durchschreiten. Der Wirt ging voran und klingelte für sie; ein Diener öffnete, verbeugte sich und bedeutete durch ein Zeichen, sie möchten eintreten. Sie durchschritten zwei Zimmer, die mit einem Luxus ausgestattet waren, den sie in Pastrinis Gasthofe nicht vermutet hätten, und gelangten endlich in einen Salon von vollkommener Eleganz. Ein türkischer Teppich war auf dem Boden ausgebreitet, und die behaglichsten Möbel mit schwellenden Kissen und zurückgebogenen Lehnen luden zum Sitzen ein. Herrliche Gemälde hingen neben kunstvollen Waffen an den Wänden, und große gestickte Vorhänge wogten von allen Fenstern und Türen.

 

Wollen sich Eure Exzellenzen setzen, sagte der Diener, ich werde den Herrn benachrichtigen. Und er verschwand durch eine der Türen.

 

Nun, fragte Franz seinen Freund, was sagen Sie zu all diesen Herrlichkeiten?

 

Meiner Treu, mein Lieber, unser Nachbar muß ein Wechselagent sein, der auf das Fallen der spanischen Papiere spekuliert hat, oder ein Fürst, der inkognito reist.

 

Still! Wir werden es bald erfahren, denn hier kommt er. Eine Tür öffnete sich, der Vorhang hob sich, und der Besitzer dieser Reichtümer erschien. Albert ging ihm entgegen, Franz aber blieb wie an seinen Platz genagelt.

 

Der Eintretende war kein andrer, als der Mann mit dem Mantel im Kolosseum, der Unbekannte der Loge, der geheimnisvolle Wirt von Monte Christo.