Noirtier von Villefort.

 

Noirtier von Villefort.

 

Während der eben mitgeteilten Unterredung zwischen Valentine und Maximilian trug sich im Hause des Staatsanwalts folgendes zu. Herr von Villefort trat mit Frau von Villefort bei dem Vater des ersteren ein. Beide setzten sich an die Seite des Greises, nachdem sie ihn begrüßt und Barrois, einen alten Diener, der schon 25 Jahre in seinem Dienste stand, weggeschickt hatten.

 

Herr Noirtier saß in seinem großen Rollstuhle, auf den man ihn jeden Morgen setzte, einem Spiegel gegenüber, in dem das ganze Zimmer sichtbar war und der dem Greise, ohne daß er eine Bewegung machte, zeigte, wer in sein Zimmer eintrat, wer es verließ und was man um ihn her machte. Unbeweglich wie ein Leichnam, schaute Herr Noirtier mit gescheiten, lebhaften Augen seine Kinder an, deren umständliche Begrüßung ihm irgend einen feierlichen und unerwarteten Schritt verkündigte.

 

Das Gesicht und das Gehör waren noch die einzigen Sinne, die wie zwei Funken dieses bereits zu drei Vierteln dem Grabe angehörige menschliche Gebilde belebten; und von diesen zwei Sinnen vermochte nur einer nach außen das innere Leben des starren Körpers zu enthüllen, das Auge. Und dieses Auge, welches das innere Leben offenbarte, war einem von jenen fernen Lichtern ähnlich, die in finsterer Nacht dem in der Wüste verirrten Reisenden anzeigen, daß es noch ein Wesen gibt, welches in dieser Stille und in dieser Dunkelheit wacht.

 

In dem schwarzen Auge des alten Noirtier, das eine schwarze Braue überragte, während all sein Haar, das er lang und auf die Schultern herabhängend trug, weiß war, – in diesem Auge waren die ganze Tätigkeit, die ganze Gewandtheit, die ganze Kraft, der ganze Verstand, die einst in diesem Körper und in diesem Geiste weilten, nunmehr konzentriert. Fehlten auch die Bewegungen des Armes, die Gebärden des Antlitzes, der Ton der Stimme, die Haltung des Körpers, dieses mächtige Auge ersetzte alles; er befahl mit den Augen, er dankte mit den Augen; es war ein Leichnam mit lebendigen Augen, und nichts war ergreifender anzuschauen, als wenn sich zuweilen in diesem Marmorgesichte ein Zorn entzündete oder eine Freude glänzte. Nur drei Personen verstanden die Sprache des armen Gelähmten: Villefort, Valentine und der alte Diener. Da jedoch Villefort nur selten und eigentlich nur, wenn er es nicht umgehen konnte, seinen Vater sah, so beruhte das ganze Glück des Greises auf seiner Enkelin, und Valentine war durch Ergebenheit, Liebe und Geduld dahin gelangt, daß sie alle Gedanken Noirtiers von seinen Augen ablas. Auf seine stumme, für jeden andern unverständliche Sprache antwortete sie mit ihrer ganzen Stimme, mit ihrer ganzen Physiognomie, mit ihrer ganzen Seele, so daß sogar lebensvolle Gespräche zwischen dem Mädchen und dem Mann mit dem ungeheuren Wissen, dem unerhörten Scharfsinne und dem mächtigen Willen stattfinden konnten.

 

Valentine hatte also das seltsame Problem gelöst, die Gedanken des Greises zu verstehen und ihm ihre Gedanken verständlich zu machen; und infolgedessen kam es nur selten vor, daß sie bei den gewöhnlichen Vorkommnissen des Lebens nicht genau das Verlangen dieser lebendigen Seele oder das Bedürfnis dieses halb unempfindlichen Körpers erraten hätte. Der Diener Barrois kannte alle Gewohnheiten seines Herrn, und Noirtier brauchte nur ausnahmsweise etwas von ihm zu verlangen.

 

Villefort bedurfte keiner Unterstützung, um mit seinem Vater das seltsame Gespräch anzuknüpfen, das er mit ihm zu führen gedachte, denn auch er kannte, wie gesagt, vollkommen das Wörterbuch des Greises, und wenn er sich desselben nicht häufiger bediente, so geschah dies aus Überdruß oder Gleichgültigkeit. Er ließ also vorher Valentine in den Garten hinabgehen, entfernte Barrois, setzte sich rechts von seinem Vater, während Frau von Villefort ihren Platz zu seiner Linken nahm, und begann: Mein Herr, wundern Sie sich nicht, daß Valentine nicht mit uns heraufgekommen ist, und daß ich Barrois entfernte, denn die Unterredung, die wir untereinander haben werden, kann nicht in Gegenwart eines jungen Mädchens oder eines Dieners stattfinden; Frau von Villefort und ich haben Ihnen eine Mitteilung zu machen.

 

Noirtiers Gesicht blieb unempfindlich, während Villeforts Auge bis in die tiefste Seele des Greises dringen zu wollen schien.

 

Diese Mitteilung, fuhr der Staatsanwalt mit dem eisigen Tone fort, der nie einen Widerspruch zuzulassen schien, diese Mitteilung, Frau von Villefort und ich sind fest davon überzeugt, wird Sie erfreuen.

 

Das Auge des Greises blieb teilnahmlos, er hörte nur.

 

Mein Herr, sagte Villefort, wir verheiraten Valentine.

 

Ein Gesicht von Wachs wäre bei dieser Kunde nicht kälter geblieben, als das Gesicht des Greises.

 

Die Heirat wird binnen drei Monaten stattfinden, fügte Villefort hinzu.

 

Das Auge des Greises blieb immer gleich leblos.

 

Frau von Villefort nahm ebenfalls das Wort und sagte hastig:

 

Wir dachten, diese Mitteilung hätte Interesse für Sie, mein Herr; überdies schien Valentine sich stets Ihrer Zuneigung zu erfreuen; wir haben Ihnen also nur noch den Namen des für sie bestimmten jungen Mannes zu sagen. Es ist eine von den ehrenvollsten Partien, auf die Valentine Anspruch machen kann. Der junge Mann besitzt Vermögen, einen schönen Namen, und sein Benehmen und sein Geschmack bieten die vollkommene Gewähr, daß sie glücklich sein wird. Sein Name kann Ihnen nicht unbekannt sein: es handelt sich um Franz von Quesnel, Baron d’Epinay.

 

Während der kurzen Rede seiner Frau heftete Villefort einen noch aufmerksameren Blick als zuvor auf den Greis. Sobald Frau von Villefort den Namen Franz aussprach, bebte Noirtiers Auge, das sein Sohn so gut kannte, und ließ einen Blitz hervorleuchten.

 

Der Staatsanwalt, der mit der früheren politischen Feindschaft, die zwischen seinem Vater und Franzens Vater bestanden hatte, vertraut war, begriff diesen Feuerblick und diese Aufregung; doch er ließ beides scheinbar unbemerkt vorübergehen und nahm die Rede da wieder auf, wo seine Frau abgebrochen hatte.

 

Mein Herr, sagte er, Sie begreifen, es ist von Wichtigkeit, daß Valentine, die nunmehr ihrem neunzehnten Jahre nahe steht, ihre häusliche Versorgung findet. Nichtsdestoweniger haben wir Sie bei unseren Konferenzen nicht vergessen, und wir haben uns zum voraus vergewissert, daß Valentines Gatte einwilligen würde, wenn nicht bei uns zu leben, was für ein junges Ehepaar vielleicht lästig wäre, wenigstens Sie, den Valentine ganz besonders liebt, und der die gleiche Zuneigung für sie zu besitzen scheint, bei sich aufzunehmen. Dann würden Sie keine von Ihren Gewohnheiten aufzugeben brauchen und statt eines zwei Kinder haben, die über Ihre alten Tage wachten.

 

Noirtiers Augenblitz wurde gleichsam blutig. Es ging offenbar etwas Furchtbares im Innern des Greises vor, sicherlich stieg ihm der Schrei des Schmerzes und der Wut in die Kehle und erstickte ihn beinahe, da er nicht ausbrechen konnte, denn sein Gesicht wurde purpurrot, und seine Lippen erbleichten.

 

Villefort öffnete ruhig ein Fenster und sagte: Es ist sehr warm hier, die Wärme bekommt Herrn Noirtier schlecht.

 

Dann kam er zurück, jedoch ohne sich zu setzen.

 

Die erwähnte Heirat, fügte Frau von Villefort hinzu, ist Herrn d’Epinay und seiner Familie sehr angenehm; übrigens besteht diese Familie nur aus einem Oheim und einer Tante. Seine Mutter starb in dem Augenblick, wo sie ihn zur Welt brachte, und da sein Vater 1815, das heißt, als das Kind kaum zwei Jahre alt war, ermordet wurde, so braucht er nur dem eigenen Willen zu folgen.

 

Ein geheimnisvoller Mord, dessen Urheber unbekannt geblieben sind, obgleich der Verdacht sich auf verschiedene lenkte, sagte Villefort.

 

Noirtier machte eine solche Anstrengung, daß seine Lippen sich wie zu einem Lächeln zusammenzogen.

 

Die wahren Schuldigen aber, fuhr Villefort fort, diejenigen, die da wissen, daß sie das Verbrechen begangen haben; diejenigen, welche die Gerechtigkeit der Menschen während ihres Lebens und die Gerechtigkeit Gottes nach ihrem Tode treffen kann, sollten glücklich sein, wenn sie sich an unserem Platze befänden und Herrn Franz d’Epinay eine Tochter bieten könnten, um auch den Schein des Verdachtes zu ersticken.

 

Noirtier hatte sich mit einer Gewalt beruhigt, die man bei dieser gebrochenen Organisation nicht hätte erwarten sollen.

 

Ja, ich begreife, antwortete er Villefort mit einem Blicke, der zugleich tiefe Verachtung und sittlichen Zorn ausdrückte.

 

Villefort erwiderte diesen Blick, dessen Inhalt er gelesen hatte, mit einem leichten Achselzucken. Dann bedeutete er seiner Frau durch ein Zeichen, sie möge aufstehen.

 

Mein Herr, genehmigen Sie nun den Ausdruck meiner Achtung, sagte Frau von Villefort. Erlauben Sie, daß Eduard Ihnen seine Ehrfurcht bezeugt?

 

 

Verabredetermaßen drückte der Greis durch ein Schließen der Augen seine Billigung, seine Weigerung durch ein wiederholtes Blinzeln, und irgend einen Wunsch dadurch aus, daß er seine Augen zum Himmel aufschlug. Verlangte er nach Valentine, so schloß er nur das rechte Auge, verlangte er nach Barrois, so schloß er das linke Auge.

 

Auf Frau von Villeforts Frage blinzelte er heftig.

 

Als Frau von Villefort den Vorschlag mit einer offenbaren Weigerung aufgenommen sah, kniff sie die Lippen zusammen.

 

Ich werde Ihnen also Valentine schicken? sagte sie.

 

Ja, antwortete der Greis, rasch die Augen schließend.

 

Herr und Frau von Villefort grüßten und entfernten sich mit dem Befehle, Valentine zu rufen, der indessen schon gesagt worden war, sie sollte sich im Verlaufe des Tages bei Herrn Noirtier einfinden.

 

Kaum hatten sich die Eltern entfernt, so trat Valentine, noch ganz rosig vor Aufregung, bei dem Greise ein. Ein Blick sagte ihr, wie sehr ihr Großvater litt, und wieviel er ihr zu sagen hatte.

 

Ah, guter Papa, rief sie, was ist denn geschehen? Nicht wahr, man hat dich geärgert, und du bist aufgebracht?

 

Ja, erwiderte er, die Augen schließend.

 

Gegen wen? Gegen meinen Vater? Nein. Gegen Frau von Villefort? Nein. Gegen mich?

 

Der Greis machte ein bejahendes Zeichen.

 

Gegen mich! versetzte Valentine erstaunt.

 

Der Greis wiederholte das Zeichen.

 

Was habe ich dir denn getan, lieber, guter Papa? rief Valentine. – Keine Antwort; sie fuhr fort: Ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen, man hat dir irgend etwas über mich gesagt.

 

Ja, sagte mit Heftigkeit der Blick des Greises.

 

Vergebens suche ich zu erraten. Mein Gott! ich schwöre dir, guter Vater … Ah! nicht wahr, Herr und Frau Villefort gingen soeben von hier weg?

 

Ja.

 

Und sie sind es, welche dir Dinge gesagt haben, die dich ärgern? Was ist es denn? Mein Gott! Was konnten sie dir sagen? Und sie suchte, endlich sagte sie, die Stimme dämpfend und sich dem Greise nähernd. Oh! ich habe es, sie sprachen vielleicht von meiner Verheiratung?

 

Ja, antwortete der zornige Blick.

 

Ich begreife, du grollst mir wegen meines Stillschweigens. Oh! siehst du, sie hatten mir so oft eingeschärft, dir nichts davon zu sagen! Sie hätten mir selbst nichts davon gesagt, würde ich es nicht durch einen Zufall selbst erfahren haben; deshalb war ich so zurückhaltend gegen dich. Vergib mir, guter Papa Noirtier!

 

Wieder starr und ausdruckslos geworden, schien der Blick zu antworten: Es ist nicht allein dein Stillschweigen, was mich betrübt.

 

Was ist es denn? fragte das junge Mädchen; du glaubst vielleicht, ich würde dich verlassen, guter Vater, meine Heirat könnte mich vergeßlich machen?

 

Nein, erwiderte der Greis.

 

Warum bist du dann ärgerlich? Die Augen des Greises nahmen einen Ausdruck von unendlicher Sanftmut an.

 

Ja, ich begreife, sagte Valentine, weil du mich liebst.

 

Der Greis machte ein bejahendes Zeichen.

 

Und du fürchtest, ich könnte unglücklich werden?

 

Ja.

 

Du liebst Herrn Franz nicht?

 

Seine Augen wiederholten drei- oder viermal: Nein.

 

Dann bist du wohl sehr bekümmert, lieber Vater?

 

Ja.

 

Wohl, so höre, sagte Valentine, vor Noirtier niederknieend und ihre Arme um seinen Hals schlingend. Ich bin auch sehr bekümmert, denn ich liebe Herrn Franz d’Epinay ebenfalls nicht.

 

Ein Blitz der Freude erleuchtete die Augen des Greises.

 

Als ich mich ins Kloster zurückziehen wollte, warst du so sehr aufgebracht gegen mich.

 

Eine Träne befeuchtete das trockene Augenlid Noirtiers.

 

Nun wohl, fuhr Valentine fort, ich dachte hieran, um dieser Heirat zu entgehen, die mich in Verzweiflung bringt.

 

Noirtiers Atem wurde keuchend.

 

Diese Heirat macht dir also großen Kummer, guter Vater? Oh, mein Gott! wenn du mir beistehen könntest, wenn wir beide diesen Plan zu vereiteln vermöchten! Aber du bist ohne Kraft gegen sie, du, dessen Geist doch so lebhaft, dessen Wille noch so fest ist; wenn es sich aber darum handelt, zu kämpfen, so bist du schwach und sogar noch schwächer als ich. Ach! du wärest in den Tagen deiner Kraft und deiner Gesundheit ein so mächtiger Beschützer für mich gewesen; aber heute vermagst du nur noch mich zu begreifen und dich mit mir zu freuen oder zu betrüben; es ist dies ein letztes Glück, das mir Gott mit den andern zu nehmen vergessen hat.

 

In Noirtiers Augen lag ein solcher Ausdruck von Kraft und Tiefe, daß das junge Mädchen darin die Worte zu lesen glaubte: Du täuschest dich, ich vermag noch viel für dich.

 

Du vermagst noch etwas für mich, lieber, guter Papa?

 

Ja.

 

Noirtier schlug die Augen zum Himmel auf. Dies war das zwischen ihm und Valentine verabredete Zeichen, wenn er etwas wünschte.

 

Was willst du, lieber, guter Papa?

 

Valentine suchte einen Augenblick in ihrem Geiste, drückte laut ihre Gedanken aus, wie sie ihr hintereinander kamen, und als sie sah, daß der Greis auf alles, was sie sagen mochte, beständig: Nein! antwortete, rief sie: Wohl, wir müssen zu den großen Mitteln greifen, da ich so dumm bin.

 

Dann sagte sie hintereinander alle Buchstaben des Alphabets her vom A bis zum N, während ihr Lächeln das Auge des Gelähmten befragte; beim N machte Herr Noirtier ein bejahendes Zeichen.

 

Ah! sagte Valentine, die Sache, die du begehrst, fängt mit dem Buchstaben N an; laß einmal sehen, na, ne, ni, no …

 

Ja, ja, ja, machte der Greis.

 

Ah, es ist no.

 

Valentine holte ein Wörterbuch, das sie vor Noirtier legte; sie öffnete es, und während das Auge des Greises auf die Blätter geheftet war, lief ihr Finger rasch auf den Seiten herab.

 

Die Übung seit den sechs Jahren, da Noirtier in seinen betrübten Zustand verfallen, machten ihr die Proben so leicht, daß sie so rasch den Gedanken des Greises erriet, als hätte dieser selbst in dem Wörterbuch suchen können.

 

Bei dem Worte Notar gab ihr Noirtier ein Zeichen, einzuhalten.

 

Notar? sagte sie; du willst einen Notar, guter Papa?

 

Der Greis machte ein Zeichen, daß er wirklich einen Notar verlange.

 

Darf es mein Vater wissen?

 

Ja.

 

Dann wird man dir ihn sogleich holen!

 

Valentine lief nach der Glocke, rief einen Bedienten und bat ihn, Herrn oder Frau von Villefort zu dem Großvater zu bitten.

 

Bist du zufrieden? sagte Valentine und lächelte ihrem Großvater zu, wie eine Mutter ihrem Kinde.

 

Herr von Villefort trat, von Barrois gerufen, wieder ein.

 

Was wollen Sie, mein Herr? fragte er den Gelähmten.

 

Mein Großvater verlangt nach einem Notar, sagte Valentine.

 

Bei diesem seltsamen und so unerwarteten Verlangen wechselte Herr von Villefort einen Blick mit dem Gelähmten.

 

Ja, machte der letztere mit einer Festigkeit, die ausdrücken wollte, er sei mit Hilfe von Valentine und seinem alten Diener, der nun wußte, was er haben wollte, bereit, den Kampf aufzunehmen.

 

Warum? fragte Villefort.

 

Der Blick des Gelähmten blieb unbeweglich und folglich stumm, was besagen wollte: Ich beharre auf meinem Willen.

 

Um uns einen schlimmen Streich zu spielen? versetzte Villefort, lohnt sich das der Mühe?

 

Wenn der gnädige Herr einen Notar haben will, so bedarf er seiner offenbar, sagte Barrois mit der, alten Bedienten eigentümlichen Hartnäckigkeit. Also werde ich einen Notar holen.

 

Barrois erkannte keinen andern Herrn an, als Noirtier, und gab nie zu, daß seinem Willen in irgend einer Beziehung widersprochen wurde.

 

Ja, ich will einen Notar, machte der Greis und schloß die Augen mit einer Miene des Trotzes, und als wollte er sagen: Wir wollen doch sehen, ob man es wagt, mir zu verweigern, was ich verlange.

 

Es wird ein Notar kommen, da Sie es durchaus so haben wollen, mein Herr; doch ich werde mich und Sie bei ihm entschuldigen, denn die Szene wird sehr lächerlich sein.

 

In dem Augenblick, wo Barrois wegging, schaute Noirtier Valentine mit einer herausfordernden Teilnahme an, die mehr sagte als Worte. Das Mädchen begriff diesen Blick und Villefort ebenfalls, denn seine Stirn verdüsterte sich, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Er nahm einen Stuhl, setzte sich in dem Zimmer des Gelähmten fest und wartete.

 

Noirtier ließ ihn mit vollkommener Gleichgültigkeit gewähren, forderte aber mit einem kurzen Seitenblick Valentine auf, sich durchaus nicht zu beunruhigen und ebenfalls zu bleiben.

 

Drei Viertelstunden nachher kam der Diener mit dem Notar zurück.

 

Mein Herr, sagte Villefort nach den ersten Begrüßungen, Sie sind von Herrn Noirtier von Villefort hierher berufen worden; eine allgemeine Lähmung hat ihm den Gebrauch der Glieder und der Stimme geraubt, und uns allein gelingt es mit großer Mühe, einige Fetzen seiner Gedanken aufzufassen.

 

Noirtier ließ mit dem Auge eine so ernste und gebieterische Mahnung an Valentine ergehen, daß Sie auf der Stelle hinzufügte: Ich, mein Herr, verstehe alles, was mein Großvater sagen will.

 

Es ist wahr, bestätigte Barrois, alles, durchaus alles, wie ich dem Herrn unterwegs sagte.

 

Erlauben Sie mir, mein Herr, und Sie, mein Fräulein, sagte der Notar, sich an Villefort und Valentine wendend, es ist dies einer von den Fällen, wo der öffentliche Beamte nicht unbedachtsam zu Werke gehen darf, ohne eine gefährliche Verantwortlichkeit zu übernehmen. Wenn ein Akt gültig sein soll, so muß der Notar notwendigerweise vor allem davon überzeugt sein, daß er den Willen dessen, der ihm denselben diktiert, genau aufgefaßt und getreu ausgelegt hat. Ich kann aber unmöglich der Billigung oder der Mißbilligung eines Klienten, der nicht spricht, sicher sein, und da mir der Gegenstand seiner Wünsche oder seines Widerstrebens infolge seiner Stummheit nicht klar dargetan werden kann, so ist meine Tätigkeit hier mehr als unnütz und wäre sogar ungesetzlich ausgeübt.

 

Der Notar tat einen Schritt, um sich zu entfernen. Ein unmerkliches Lächeln des Triumphes zeigte sich auf den Lippen des Staatsanwaltes. Noirtier aber schaute Valentine mit einem so schmerzlichen Ausdrucke an, daß sie sich dem Notar in den Weg stellte.

 

Mein Herr, sagte sie, die Sprache, welche ich mit meinem Großvater spreche, läßt sich sehr leicht erlernen; und ich will sie Ihnen in wenigen Minuten begreiflich machen. Was brauchen Sie, mein Herr, um zur vollkommenen Beruhigung Ihres Gewissens zu gelangen?

 

Sie fragen, was zur Gültigkeit unserer Akte nötig sei? erwiderte der Notar; die Gewißheit der Billigung oder Mißbilligung. Wenn man testieren will, kann man zwar körperlich krank, aber geistig muß man gesund sein.

 

Wohl, mein Herr, mit zwei Zeichen werden Sie die Gewißheit erlangen, daß sich mein Großvater nie mehr, als jetzt, der Fülle seines Verstandes erfreut. Der Stimme und der Beweglichkeit der Gliedmaßen beraubt, schließt Herr Noirtier die Augen, wenn er ja sagen will, und blinzelt wiederholt, wenn er nein sagen will. Sie wissen nun genug, um mit Herrn Noirtier zu sprechen; versuchen Sie es!

 

Der Blick, den der Greis Valentine zuwarf, war so voll Zärtlichkeit und Dankbarkeit, daß ihn selbst der Notar begriff.

 

Sie haben gehört und verstanden, mein Herr, was Ihre Enkelin soeben sagte? fragte der Notar.

 

Noirtier schloß sacht die Augen und öffnete sie dann bald wieder.

 

Und Sie billigen, was sie sagte, nämlich, daß die von ihr angegebenen Zeichen wirklich die sind, mit deren Hilfe Sie Ihre Gedanken begreiflich machen?

 

Ja, machte der Greis.

 

Sie ließen mich rufen, um Ihr Testament zu machen?

 

Ja.

 

Und ich soll mich nicht entfernen, ohne dieses Testament gemacht zu haben?

 

Der Gelähmte blinzelte lebhaft und wiederholt mit den Augen.

 

Begreifen Sie nun, fragte das Mädchen, und ist Ihr Gewissen beruhigt?

 

Doch ehe der Notar antworten konnte, zog ihn Villefort beiseite und sagte zu ihm: Mein Herr, glauben Sie, daß ein Mensch ungestraft einen so furchtbaren körperlichen Schlag, wie ihn Herr Noirtier von Villefort erfahren hat, ertragen könne, ohne daß sein Geist ebenfalls bedenklich angegriffen sein muß.

 

Das beunruhigt mich nicht so sehr, Herr von Villefort, antwortete der Notar, aber ich frage mich, wie wir dazu gelangen, die Gedanken zu erraten, um Antworten hervorzurufen.

 

Sie sehen also, daß es unmöglich ist, sagte Villefort.

 

Valentine und der Greis hörten diese Unterredung mit an. Noirtier heftete seinen Blick so starr und fest auf Valentine, daß er offenbar eine Erwiderung veranlassen wollte.

 

Mein Herr, sagte sie, lassen Sie sich dadurch nicht beunruhigen! So schwierig es auch ist oder vielmehr scheinen mag, die Gedanken meines Großvaters zu entdecken, so werde ich sie Ihnen doch in einer Weise offenbaren, die jeden Zweifel in dieser Hinsicht benehmen muß. Seit sechs Jahren bin ich bei Herrn von Noirtier, und er mag selbst sagen, ob im Verlauf dieser sechs Jahre einer von seinen Wünschen, weil er ihn mir nicht hätte verständlich machen können, in seinem Herzen begraben geblieben ist.

 

Nein, bezeichnete der Greis.

 

Versuchen wir es! sagte der Notar. Sie nehmen das Fräulein zu Ihrem Dolmetscher an?

 

Der Gelähmte machte ein bejahendes Zeichen.

 

Wohl; was wünschen Sie, mein Herr, und welcher Akt soll vorgenommen werden?

 

Valentins! nannte alle Buchstaben des Alphabets bis zum Buchstaben T.

 

Bei dem T hielt Noirtiers beredter Blick an.

 

Der Herr verlangt den Buchsraben T, sagte der Notar; das ist offenbar.

 

Valentine nahm nun das Wörterbuch und blätterte vor den Augen des aufmerksamen Notars. Testament bezeichnete bald ihr Finger, durch Noirtiers Blick festgehalten.

 

Testament! rief der Notar, die Sache ist klar, der Herr will testieren.

 

Ja, machte Noirtier wiederholt.

 

Mein Herr, das ist wunderbar, Sie müssen es selbst gestehen, sagte der Notar erstaunt zu Villefort.

 

In der Tat, versetzte dieser, und noch wunderbarer wäre das Testament; denn ich kann nicht denken, daß Sie die Bestimmungen Wort für Wort ohne die geistreiche Mithilfe meiner Tochter zu Papiere bringen wollen. Valentine ist aber etwas zu sehr bei diesem Testamente interessiert, um als eine entsprechende Dolmetscherin des dunkeln Willens des Herrn Noirtier von Villefort gelten zu können.

 

Nein, nein, nein! machte der Gelähmte.

 

Wie! entgegnete Herr von Villefort, Valentine ist nicht interessiert bei Ihrem Testament?

 

Nein, bezeichnete Noirtier.

 

Mein Herr, sagte der Notar, der, entzückt über ein solches Erlebnis, in der Gesellschaft die einzelnen Umstände dieser malerischen Episode wiederzuerzählen gedachte, – mein Herr, nichts scheint mir jetzt leichter als das, was ich soeben noch für etwas Unmögliches hielt, und dieses Testament wird ganz einfach ein sogenanntes mystisches Testament sein, das heißt von dem Gesetze vorhergesehen und als rechtsgültig anerkannt, vorausgesetzt, daß es in Gegenwart von sieben Zeugen vorgelesen, von dem Testator in ihrer Anwesenheit gebilligt und durch den Notar, ebenfalls in ihrer Anwesenheit, geschlossen wird. Was die Zeit betrifft, so wird es nicht länger dauern, als ein gewöhnliches Testament. Vor allem kommen die ehrwürdigen Formeln in Betracht, die sich immer gleich bleiben, und was die Einzelheiten betrifft, so werden diese sich zum größten Teil nach Lage der Sache und mit Ihrer Hilfe, der Sie die Geschäfte für den Erblasser besorgt haben, von selbst ergeben. Damit übrigens der Akt unangreifbar bleibt, werden wir ihm die vollständige Rechtsgültigkeit geben; einer von meinen Kollegen wird mir als Gehilfe dienen und gegen die Gewohnheit dem Diktieren beiwohnen. Sind Sie zufrieden, mein Herr? fügte der Notar, sich an den Greis wendend, hinzu.

 

Ja, erwiderte Noirtier, strahlend vor Freude, daß man ihn begriff.

 

Was hat er nur vor? fragte sich Villefort, dem seine hohe Stellung so viel Zurückhaltung aufnötigte, während er nicht zu erraten vermochte, worauf sein Vater abzielte.

 

Das Testament.

 

Das Testament.

 

Nach einer Viertelstunde war die ganze Familie im Zimmer des Gelähmten versammelt, und der zweite Notar hatte sich ebenfalls eingefunden.

 

Mit wenigen Worten verständigten sich die beiden Beamten. Man las Noirtier eine allgemeine herkömmliche Testamentsformel vor; dann sagte der erste Notar, sich nach dem Greise umwendend, um gleichsam die Untersuchung seines Verstandes zu beginnen: Wenn man sein Testament macht, mein Herr, so geschieht es zu Gunsten oder zum Nachteil irgend einer Person.

 

Ja, bezeichnete Noirtier.

 

Haben Sie einen Gedanken, wie hoch sich Ihr Vermögen belaufen mag?

 

Ja.

 

Ich will Ihnen, aufwärts gehend, verschiedene Zahlen nennen; Sie werden mich anhalten, wenn ich diejenige erreicht habe, welche Sie als die Ihrige betrachten.

 

Ja.

 

Es war ein eigentümlich feierliches und ergreifendes Schauspiel, bei dem der Kampf des Geistes gegen die Materie auf das packendste in Erscheinung trat.

 

Die Anwesenden schlossen einen Kreis um Noirtier; der zweite Notar saß an einem Tische, bereit zu schreiben; der erste stand vor ihm und fragte: Nicht wahr, Ihr Vermögen übersteigt 300 000 Franken?

 

Noirtier machte ein bejahendes Zeichen.

 

Besitzen Sie 400 000 Franken? fragte der Notar.

 

Noirtier blieb unbeweglich. 600 000? 700 000? 900 000?

 

Noirtier machte ein bejahendes Zeichen.

 

In unbeweglichen Gütern? fragte der Notar.

 

Noirtier machte ein verneinendes Zeichen.

 

In Renteneinschreibungen?

 

Noirtier machte ein bejahendes Zeichen.

 

Diese Einschreibungen sind in Ihren Händen?

 

Auf einen Blick Noirtiers an Barrois ging der alte Diener hinaus und kehrte einen Augenblick nachher mit einer kleinen Kassette zurück.

 

Man öffnete die Kassette und fand für 900 000 Franken Einschreibungen.

 

Der erste Notar überreichte die Einschreibungen eine nach der andern seinem Kollegen; die Sache stimmte.

 

Es ist so, der Verstand des Erblassers erfreut sich offenbar noch seiner vollkommenen Kraft, sagte der Notar. Dann fuhr er, an den Gelähmten sich wendend, fort: Sie besitzen also in Kapitalien 900 000 Franken. Wem wollen Sie dieses Vermögen hinterlassen?

 

Oh! sagte Frau von Villefort, das ist nicht zweifelhaft. Herr Noirtier liebt einzig und allein seine Enkelin, Fräulein Valentine von Villefort; sie ist es, die ihn seit sechs Jahren pflegt und durch ihre beständige Fürsorge die Zuneigung ihres Großvaters, ich möchte beinahe sagen, seine Dankbarkeit zu fesseln wußte; es ist also gerecht und billig, daß sie den Preis ihrer Ergebenheit erntet.

 

Noirtiers Auge schleuderte einen Blitz, als würde er durch das falsche Ziel nicht betört, das Frau von Villefort seinen vermeintlichen Absichten setzte.

 

Wollen Sie Fräulein Valentine von Villefort diese 900 000 Franken vermachen? fragte der Notar, der diese Bestimmung nur noch eintragen zu müssen glaubte.

 

Valentine hatte einen Schritt rückwärts gemacht und weinte mit niedergeschlagenen Augen; der Greis schaute sie eine Sekunde lang mit dem Ausdrucke einer tiefen Zärtlichkeit an, dann wandte er sich gegen den Notar und blinzelte mit den Augen auf die bezeichnete Weise.

 

Nein? sagte der Notar; wie, Sie setzen Fräulein Valentine von Villefort nicht zur Universalerbin ein?

 

Noirtier machte ein verneinendes Zeichen.

 

Täuschen Sie sich nicht? rief der Notar ganz verwundert; Sie sagen nein?

 

Nein, wiederholte Noirtier, nein!

 

Valentine hob das Haupt wieder empor; sie war erstaunt, nicht über ihre Enterbung, sondern darüber, daß ihr Großvater ihr gegenüber das seinem Tun entsprechende Gefühl hegen sollte.

 

Doch Herr Noirtier schaute sie mit so tiefer Zärtlichkeit an, daß sie ausrief: Oh! mein guter Vater, ich sehe wohl, Sie entziehen mir nur Ihr Vermögen, lassen mir aber Ihr Herz?

 

Oh! ja, gewiß, sagten die Augen des Gelähmten mit einem Ausdruck, in dem sich Valentine nicht täuschen konnte.

 

Dank! Dank! murmelte das Mädchen.

 

Diese Weigerung hatte indessen in Frau von Villeforts Herzen eine unerwartete Hoffnung erzeugt; sie näherte sich dem Greise.

 

Sie hinterlassen also Ihr Vermögen Ihrem Enkel Eduard von Villefort, mein lieber Herr Noirtier? fragte die Mutter.

 

Das Blinzeln war furchtbar; es prägte beinahe Haß aus.

 

Nein, sagte der Notar; also Ihrem Sohne?

 

Nein! entgegnete der Greis.

 

Die zwei Notare schauten sich erstaunt an; Villefort und seine Frau fühlten, wie sie aus Scham und Verdruß rot wurden.

 

Aber was haben wir Ihnen denn getan, Vater, sagte Valentine; Sie lieben uns also nicht mehr?

 

Der Blick des Greises flog rasch über seinen Sohn und über seine Schwiegertochter hin und blieb mit einem Ausdruck inniger Zärtlichkeit an Valentine haften.

 

Nun, sagte sie, wenn du mich liebst, guter Vater, so suche diese Liebe mit dem, was du in diesem Augenblick tust, in Einklang zu bringen. Du kennst mich und weißt daher, daß ich nie an dein Vermögen gedacht habe. Überdies sagt man, ich sei von meiner Mutter Seite reich, zu reich; erkläre dich doch!

 

Noirtier heftete einen glühenden Blick aus Valentines Hand.

 

Meine Hand? sagte sie.

 

Ja, bezeichnete Noirtier.

 

Ihre Hand! wiederholten die Anwesenden.

 

Ah! meine Herren, Sie sehen wohl, daß alles vergeblich, und daß mein armer Vater ein Narr ist, sprach Villefort.

 

Oh! ich begreife! rief plötzlich Valentine; nicht wahr, meine Heirat, guter Vater?

 

Ja, ja, ja, wiederholte dreimal der Gelähmte und schleuderte dabei einen Blitz, so oft sich sein Augenlid hob.

 

Nicht wahr, du grollst uns wegen der Heirat?

 

Ja.

 

Das ist albern, sagte Villefort.

 

Verzeihen Sie, mein Herr, sagte der Notar, alles dies ist im Gegenteil sehr logisch und scheint mir durchaus wohlbegründet zu sein.

 

Du willst nicht, daß ich Herrn Franz d’Epinay heirate?

 

Nein, ich will nicht, drückte das Auge des Greises aus.

 

Und Sie enterben Ihre Enkelin, weil sie eine Heirat wider Ihren Willen macht? rief der Notar.

 

Ja, antwortete Noirtier.

 

Ohne diese Heirat wäre sie also Ihre Erbin?

 

Ja.

 

Es trat nun ein tiefes Stillschweigen um den Greis ein. Die beiden Notare berieten sich; Valentine schaute mit gefalteten Händen und einem dankbaren Lächeln ihren Großvater an: Villefort biß sich auf seine dünnen Lippen; Frau von Villefort war außer stande, ein freudiges Gefühl zurückzudrängen, das sich unwillkürlich über ihr Antlitz verbreitete.

 

Aber es scheint mir, sagte endlich Villefort, das Stillschweigen brechend, es scheint mir, daß ich allein befugt bin, über diese Angelegenheit zu urteilen und zu verfügen. Ich, als alleiniger Herr der Hand meiner Tochter, will, daß sie Herrn Franz d’Epinay heiratet, und sie wird ihn heiraten.

 

Valentine fiel weinend auf einen Stuhl.

 

Mein Herr, sagte der Notar, sich an den Greis wendend, was gedenken Sie mit Ihrem Vermögen zu tun, wenn Fräulein Valentine Herrn Franz d’Epinay heiratet? Sie gedenken doch darüber zu verfügen?

 

Ja, bezeichnete Noirtier.

 

Zu Gunsten irgend eines Mitgliedes Ihrer Familie?

 

Nein.

 

Also zu Gunsten der Armen?

 

Ja.

 

Sie wissen doch, daß das Gesetz dem widerstrebt, daß Sie Ihren Sohn völlig ausschließen?

 

Ja.

 

Sie werden also nur über den Teil verfügen, den Sie nach dem Gesetz das Recht haben ihm zu entziehen.

 

Noirtier blieb unbeweglich.

 

Sie wollen immer noch über das Ganze verfügen?

 

Ja.

 

Man wird das Testament nach Ihrem Tode angreifen.

 

Nein.

 

Mein Vater kennt mich, sagte Herr von Villefort, er weiß, daß sein Wille mir heilig sein wird; übrigens erkennt er recht gut, daß ich in meiner Stellung nicht gegen die Armen prozessieren kann.

 

Noirtiers Auge drückte einen Triumph aus.

 

Was bestimmen Sie, mein Herr? fragte der Notar Villefort.

 

Nichts, mein Herr, es ist ein im Herzen meines Vaters feststehender Entschluß, und ich weiß, daß er nie etwas an seinen Entschließungen ändert, sagte Villefort. Ich füge mich also. Diese 900 000 Franken werden der Familie verloren gehen, um Hospitäler zu bereichern; aber ich gebe der Laune eines Greises nicht nach und werde nach meinem Gewissen handeln.

 

Hiernach entfernte sich Villefort mit seiner Frau und überließ es seinem Vater, nach Gutdünken zu testieren.

 

Noch an demselben Tage wurde das Testament gemacht; man holte Zeugen, es wurde von dem Greise gebilligt, in Gegenwart der Zeugen geschlossen und bei Herrn Deschamps, dem Notar der Familie, niedergelegt.

 

Bertuccio.

 

Bertuccio.

 

Mittlerweile war der Graf in seiner Wohnung angelangt; er hatte sechs Minuten gebraucht, den Weg zurückzulegen. Diese sechs Minuten genügten, daß er von zwanzig jungen Leuten bemerkt wurde, die, bekannt mit dem Preise des Gespanns, das sie selbst nicht hatten kaufen können, ihre Rosse in Galopp setzten, um den glänzenden Herrn zu sehen, der sich Pferde im Werte von 20 000 Franken anschaffte.

 

Das von Ali gewählte Haus, das für Monte Christo als Pariser Residenz dienen sollte, lag rechts, wenn man die Champs-Elysées hinaufgeht, zwischen Hof und Garten. Eine üppige Baumgruppe, die sich mitten im Hofe erhob, verbarg einen Teil der Fassade. Das inmitten eines weiten Raumes vereinzelt stehende Haus hatte außer dem Haupteingang noch einen andern Eingang, der sich nach der Rue de Ponthieu öffnete.

 

Ehe der Kutscher den Pförtner angerufen hatte, drehte sich schon das massive Gittertor auf seinen Angeln; man hatte den Grafen kommen sehen, und er wurde in Paris, wie in Rom und überall, mit Blitzesschnelle bedient. Der Kutscher fuhr also hinein, beschrieb den Halbkreis, ohne den Gang seiner Pferde im geringsten zu hemmen, und die Räder krachten noch auf dem Sande der Allee, als bereits das Gitter wieder geschlossen war. Auf der linken Seite der Freitreppe hielt der Wagen an, zwei Männer erschienen am Schlage; der eine war Ali, der seinem Herrn mit unglaublich treuherziger Freude zulächelte und sich durch einen einzigen Blick von Monte Christo bezahlt fand. Der andere verbeugte sich in Demut und reichte dem Grafen den Arm, um ihm aussteigen zu helfen.

 

Ich danke, Herr Bertuccio, sagte der Graf, leicht herausspringend; wie ist’s mit dem Notar?

 

Er wartet im kleinen Salon, antwortete Bertuccio.

 

Und die Visitenkarten, die Sie meinem Befehle gemäß stechen lassen sollten, sobald Sie die Nummer des Hauses wüßten?

 

Sind besorgt, Herr Graf; ich war bei dem besten Graveur des Palais Royal und ließ ihn die Platte in meiner Gegenwart ausführen; die erste abgezogene Karte wurde, wie Sie befohlen, dem Baron Danglars, Deputierten, Rue de la Chaussee d’Antin Nr. 7, überbracht, die andern liegen auf dem Kamin des Schlafzimmers Eurer Exzellenz!

 

Gut. Wieviel Uhr ist es? – Vier Uhr.

 

Monte Christo gab seine Handschuhe, seinen Hut und Stock einem Bedienten und ging dann in den kleinen Salon, wo ihn der Notar, ein ehrliches Schreibergesicht mit der unzerstörbaren Würde eines Pariser Beamten, erwartete.

 

Ist dies der Notar, der den Auftrag hat, das Landhaus zu verkaufen, das ich mir erwerben will? fragte Monte Christo.

 

Ja, Herr Graf, antwortete der Notar; hier ist der Kaufvertrag!

 

Vortrefflich. Und wo liegt das Haus? fragte Monte Christo nachlässig, sich halb an Bertuccio, halb an den Notar wendend.

 

Der Intendant machte eine Gebärde, die wohl bedeuten sollte: Ich weiß es nicht.

 

Der Notar schaute Monte Christo an und rief: Wie, der Herr Graf weiß nicht, wo das Haus liegt, das er kaufen will?

 

Wie zum Teufel soll ich es wissen? Ich komme heute von Cadix, bin nie in Paris gewesen, ja es ist sogar das erste Mal, daß ich französischen Boden betrete.

 

Dann ist es etwas anderes; das Haus, das der Herr Graf kauft, liegt in Auteuil.

 

Bei diesen Worten erbleichte Bertuccio sichtbar.

 

Und wo liegt Auteuil? fragte Monte Christo.

 

Nur ein paar Schritte von hier, Herr Graf, erwiderte der Notar, etwas hinter Paffy, in einer reizenden Gegend.

 

So nahe! sagte Monte Christo, das ist kein Landhaus. Wie zum Teufel konnten Sie ein Haus vor den Toren der Stadt wählen, Herr Bertuccio?

 

Ich! rief der Intendant mit seltsamem Eifer; hat mich der Herr Graf nicht beauftragt, dieses Haus zu wählen? Der Herr Graf wolle die Gnade haben, sich zu besinnen.

 

Ah! es ist richtig, sagte Monte Christo, ich erinnere mich nun, ich habe die Anzeige in irgend einem Blatte gelesen und mich durch den lügnerischen Titel Landhaus verführen lassen.

 

Es ist noch Zeit, sagte Bertuccio lebhaft, und wenn mich Eure Exzellenz beauftragen will, anderswo zu suchen, so werde ich das Beste finden, was es gibt, mag es nun in Enghien, in Fontenay-aux-Roses oder in Bellevue sein.

 

Nein, erwiderte Monte Christo gleichgültig, da dies einmal ins Auge gefaßt ist, will ich’s auch behalten.

 

Und der gnädige Herr hat recht, sagte rasch der Notar, der seine Gebühr zu verlieren fürchtete, es ist ein reizendes Eigentum: fließendes Wasser, Gebüsch, ein, wenn auch seit geraumer Zeit verlassenes, doch äußerst behagliches Wohngebäude, abgesehen von dem Mobiliar, das, so alt es auch ist, doch seinen Wert hat, besonders heutzutage, wo man Altertümer liebt und sucht.

 

Zum Teufel, eine solche Gelegenheit wollen wir nicht versäumen, rief Monte Christo; den Vertrag, Herr Notar!

 

Und er unterzeichnete rasch, nachdem er einen Blick auf die Stelle geworfen hatte, wo die Lage des Hauses und die Namen der Eigentümer angegeben waren, dann befahl er, 55 000 Franken auszuzahlen. Der Intendant ging mit unsichern Schritten hinaus und kehrte mit einem Päckchen Banknoten zurück, die der Notar zählte.

 

Und nun ist allen Förmlichkeiten Genüge geleistet? fragte der Graf. Haben Sie die Schlüssel?

 

Sie sind in den Händen des Hausverwalters, der das Haus bewacht; doch hier ist der schriftliche Befehl, den ich an ihn ergehen lasse, den gnädigen Herrn in sein Eigentum einzuführen.

 

Sehr gut. Begleiten Sie diesen Herrn, sagte der Graf zu Bertuccio.

 

Der Intendant ging hinter dem Notar hinaus.

 

Kaum war der Graf allein, als er aus seiner Tasche ein Portefeuille mit einem Schlosse zog, das er mit einem Schlüsselchen öffnete, das er am Halse trug und nie von sich ließ. Nachdem er einen Augenblick gesucht hatte, nahm er ein Blättchen zur Hand, worauf einige Notizen standen, verglich diese mit dem auf dem Tische liegenden Verkaufsschein und sagte: Auteuil, Rue de la Fontaine Nr. 30, es stimmt. Soll ich nun durch religiösen Schrecken oder durch körperliche Angst ein Geständnis zu entreißen suchen? Jedenfalls werde ich in einer Stunde alles wissen.

 

Bertuccio! rief er, mit einem Hämmerchen auf ein Glöckchen schlagend, das einen scharfen, anhaltenden Ton von sich gab, und der Intendant erschien auf der Schwelle.

 

Herr Bertuccio, sagte der Graf, erzählten Sie mir nicht, Sie seien in Frankreich gereist?

 

Ja, Exzellenz, in einigen Teilen Frankreichs.

 

Sie kennen ohne Zweifel die Gegend von Paris?

 

Nein, Exzellenz, antwortete der Intendant mit einem Beben, das der Graf als Kenner einer heftigen Unruhe zuschrieb.

 

Es ist ärgerlich, daß Sie nie die Gegend von Paris besucht haben, sagte er, denn ich will noch heute abend mein neues Gut in Augenschein nehmen, und wenn Sie mich begleitet hätten, würden Sie mir ohne Zweifel nützliche Auskunft gegeben haben.

 

Nach Auteuil! rief Bertuccio, dessen kupferfarbiges Gesicht plötzlich leichenblaß wurde. Ich nach Auteuil gehen?

 

Aber was ist denn Erstaunliches daran, daß Sie nach Auteuil gehen sollen? Wenn ich in Auteuil wohnen werde, müssen Sie wohl dahin kommen, da Sie doch zum Haushalt gehören!

 

Bertuccio neigte das Haupt vor dem gebieterischen Blicke des Herrn und blieb unbeweglich und ohne zu antworten.

 

Was ist Ihnen denn? Sie lassen mich zum zweitenmale um den Wagen läuten? rief Monte Christo mit dem Tone, in dem Ludwig XIV. das bekannte: Ich habe warten müssen! aussprach.

 

Bertuccio sprang in das Vorzimmer und schrie mit heiserer Stimme: Die Pferde Seiner Exzellenz! Monte Christo schrieb ein paar Briefe; als er den letzten versiegelte, erschien der Intendant wieder und meldete den Wagen.

 

Wohl, nehmen Sie Ihren Hut, sagte Monte Christo.

 

Es gab kein Beispiel, daß man einem Befehle des Grafen widersprochen hätte; der Intendant folgte auch, ohne eine Einwendung zu machen, seinem Herrn und nahm seinen Platz ehrfurchtsvoll auf dem Vordersitz.

 

Der Telegraph.

 

Der Telegraph.

 

Herr und Frau von Villefort erfuhren, als sie in ihre Wohnung zurückkehrten, Herr von Monte Christo sei gekommen, ihnen einen Besuch zu machen, und warte auf sie im Salon. Zu aufgeregt, um sogleich einzutreten, ging Frau von Villefort durch ihr Schlafzimmer, während der Staatsanwalt, mehr seiner Herr, gerade auf den Salon zuschritt.

 

Doch so sehr er auch Herr seiner Empfindungen war, so gut er sein Gesicht zu formen wußte, so vermochte Herr von Villefort die Wolke doch nicht so völlig von seiner Stirn zu entfernen, daß der Graf, der ihm mit einem strahlenden Lächeln entgegentrat, nicht die düstere, brütende Miene bemerkt hätte.

 

Oh! mein Gott! rief Monte Christo nach den ersten Begrüßungen, was haben Sie denn, Herr von Villefort? Bin ich in dem Augenblick gekommen, wo Sie vielleicht eine hochnotpeinliche Anklage abfaßten?

 

Herr von Villefort suchte zu lächeln und erwiderte: Nein, mein Herr Graf, es ist hier kein anderes Opfer, als ich selbst. Ich bin es, der den Prozeß verliert; der Zufall, die Halsstarrigkeit, die Narrheit haben die Anklageschrift abgefaßt.

 

Was wollen Sie damit sagen? fragte Monte Christo mit einer vortrefflich gespielten Teilnahme. Ist Ihnen in der Tat ein ernstes Unglück widerfahren?

 

Oh! Herr Graf, versetzte Villefort mit ingrimmiger Ruhe, es ist nicht der Mühe wert, davon zu sprechen; es ist so gut wie nichts, nur ein Geldverlust.

 

In der Tat, erwiderte Monte Christo, ein Geldverlust ist etwas Geringes bei einem Vermögen, wie Sie es besitzen, und bei Ihrem philosophischen, erhabenen Geiste.

 

Auch ist es nicht die Geldfrage, was mich kümmert, obschon 900 000 Franken immerhin wohl ein Bedauern oder wenigstens eine Regung des Ärgers wert sind, sondern ich fühle mich getroffen durch die Fügung des Schicksals, des Zufalls, des Verhängnisses, ich weiß nicht, wie ich die Macht nennen soll, die den Schlag lenkt, der mich trifft, meine Hoffnungen niederstürzt und vielleicht die Zukunft meiner Tochter durch die Laune eines kindisch gewordenen Greises zerstört.

 

Ei, mein Gott! rief der Graf. 900 000 Franken, sagten Sie? In der Tat, diese Summe verdient wohl ein Bedauern, selbst für einen Philosophen. Und wer bereitete Ihnen diesen Verdruß?

 

Mein Vater, von dem ich mit Ihnen sprach.

 

Herr Noirtier? Sie sagten mir doch, er sei völlig gelähmt, und alle seine Fähigkeiten seien vernichtet?

 

Ja, seine körperlichen Fähigkeiten, denn er kann sich nicht rühren, er kann nicht sprechen, und bei alledem denkt er, will er, handelt er, wie Sie sehen. Ich habe ihn vor fünf Minuten verlassen, und er ist in diesem Augenblick damit beschäftigt, zwei Notaren ein Testament zu diktieren.

 

Er hat also doch gesprochen?

 

Nein, aber er hat sich mit Hilfe des Blickes verständlich gemacht; die Augen haben zu leben fortgefahren und töten, wie Sie sehen.

 

Mein Freund, sagte Frau von Villefort, welche nun ebenfalls eintrat, Sie übertreiben wohl die Lage der Dinge.

 

Gnädige Frau … sagte der Graf sich verbeugend.

 

Frau von Villefort grüßte mit ihrem freundlichsten Lächeln.

 

Was sagt mir denn Herr von Villefort? sagte Monte Christo; und welche unbegreifliche Ungnade …

 

Unbegreiflich, das ist das richtige Wort, versetzte der Staatsanwalt, die Achseln zuckend; die Laune eines Greises!

 

Gibt es denn kein Mittel, ihn von dieser Entscheidung abzubringen?

 

Doch, sagte Frau von Villefort, und es hängt nur von meinem Manne ab, daß dieses Testament statt zum Nachteil für Valentine, gerade zu ihren Gunsten gemacht wird.

 

Als der Graf sah, daß die beiden Ehegatten in Rätseln zu sprechen anfingen, nahm er eine zerstreute Miene an und sah mit größter Aufmerksamkeit und der augenscheinlichsten Billigung Eduard zu, der Tinte in das Trinkgeschirr der Vögel goß.

 

Meine Teure, sagte Villefort, seiner Frau antwortend, Sie wissen, daß ich es nicht liebe, in meinem Hause als Tyrann aufzutreten. Es ist mir indessen daran gelegen, daß meine Entscheidungen in meiner Familie geachtet werden und die Narrheit eines Greises und die Laune eines Kindes nicht einen seit langen Jahren festgestellten Plan umwerfen. Der Baron d’Epinay war mein Freund, wie Sie wissen, und eine Verbindung mit seinem Sohne mußte mir in jeder Beziehung entsprechend erscheinen.

 

Glauben Sie, Valentine sei mit ihm einverstanden? sagte Frau von Villefort; sie widersetzte sich in der Tat von jeher dieser Heirat, und es würde mich nicht wundern, wenn alles, was wir soeben gehört und gesehen haben, die Ausführung eines zwischen ihnen verabredeten Planes wäre.

 

Gnädige Frau, entgegnete Villefort, glauben Sie mir, man verzichtet nicht so leicht auf ein Vermögen.

 

Sie verzichtete doch auf die Welt, als sie vor einem Jahre in ein Kloster gehen wollte.

 

Gleichviel, rief Villefort, ich sage, daß diese Heirat geschlossen werden muß, gnädige Frau.

 

Gegen den Willen Ihres Vaters! sagte Frau von Villefort, eine andere Seite angreifend, das ist sehr ernst!

 

Monte Christo stellte sich, als hörte er nichts, verlor aber kein Wort von dem, was gesprochen wurde.

 

Ich kann wohl sagen, fuhr Villefort fort, daß ich stets meinen Vater geachtet habe, weil sich mit dem natürlichen Gefühle der Abkunft bei mir das Bewußtsein seiner moralischen Überlegenheit verband; doch diesmal muß ich darauf Verzicht leisten, verständige Überlegung in dem Greise anzuerkennen, der nur wegen seines Hasses gegen den Vater auf diese Art den Sohn verfolgt. Es wäre also lächerlich von mir, wenn ich mich in meinem Benehmen nach seinen Launen richtete. Ich werde nicht aufhören, die größte Achtung für Herrn Noirtier zu hegen; ich werde, ohne zu klagen, mich der Geldstrafe unterziehen, die er über mich verhängt; aber ich bleibe unerschütterlich in meinem Willen, und die Welt mag richten, auf welcher Seite die gesunde Vernunft ist. Ich verheirate folglich meine Tochter mit dem Baron Franz d’Epinay, weil diese Verbindung meinen Ansichten nach gut und ehrenvoll ist, und ich meine Tochter verheiraten kann, mit wem es mir beliebt.

 

Ei! sagte der Graf, dessen Billigung der Staatsanwalt beständig mit dem Blicke nachgesucht hatte; ei! Herr Noirtier enterbt, wie Sie sagen, Fräulein Valentine, weil sie den Herrn Baron Franz d’Epinay heiraten soll?

 

Mein Gott! ja, mein Herr; das ist der Grund, rief Villefort, die Achseln zuckend.

 

Läßt sich dies begreifen? entgegnete die junge Frau, ich frage Sie, in welcher Hinsicht mißfällt Herr d’Epinay Herrn Noirtier mehr als ein anderer?

 

In der Tat, sagte der Graf. Ich habe Herrn Franz d’Epinay kennen gelernt; er ist doch der Sohn des Generals von Quesnel, der von König Karl X. zum Baron d’Epinay gemacht wurde?

 

Ganz richtig! erwiderte Villefort.

 

Ei! mir scheint, das ist ein reizender junger Mann.

 

Ich bin fest überzeugt, es ist auch nur ein Vorwand, sagte Frau von Villefort; die Greise sind Tyrannen in ihren Zuneigungen; Herr Noirtier will nicht, daß seine Enkelin heiratet.

 

Können Sie sich nicht diesen Haß irgendwie sonst erklären? Vielleicht stammt er von irgend einer politischen Antipathie?

 

In der Tat, mein Vater und der Vater des Herrn d’Epinay lebten in stürmischen Zeiten, von denen ich nur noch die letzten Tage gesehen habe, sprach Villefort.

 

War Ihr Vater nicht Bonapartist? Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie mir etwas dergleichen sagten.

 

Mein Vater war vor allem Jakobiner, erwiderte Villefort, durch die Aufregung über die Grenzen der Klugheit fortgerissen, und das Gewand des Senators, das ihm Napoleon um die Schultern warf, gab ihm nur eine andere Hülle, ohne etwas an ihm zu ändern. Konspirierte mein Vater, so geschah es nicht für den Kaiser, sondern gegen die Bourbonen, denn mein Vater hatte das Furchtbare an sich, daß er nie für Hirngespinste, sondern stets für mögliche Dinge kämpfte, und daß er zur Durchsetzung seiner Ideen vor keinem Mittel zurückwich.

 

Sie sehen, sagte Monte Christo, Herr Noirtier und Herr d’Epinay werden sich auf politischem Boden entgegengetreten sein. Hatte der General d’Epinay, obgleich er unter Napoleon diente, nicht im Grunde seines Herzens eine royalistische Gesinnung bewahrt, und ist es nicht derselbe, der eines Abends, als er einen napoleonistischen Klub verließ, zu dem man ihn in der Hoffnung des Beitritts eingeladen hatte, ermordet wurde?

 

Villefort schaute den Grafen beinahe mit Schrecken an.

 

Täusche ich mich? fragte Monte Christo.

 

Nein, mein Herr, antwortete Frau von Villefort, im Gegenteil, es ist genau so, und eben, um einen alten Haß zu ersticken, hatte Herr von Villefort den Gedanken, zwei Kinder sich lieben zu lassen, deren Väter sich gehaßt hatten.

 

Erhabener Gedanke! rief Monte Christo, ein Gedanke voll milder Menschenliebe, dem die ganze Welt ihren Beifall zollen müßte. In der Tat, es wäre schön gewesen, Fräulein Noirtier von Villefort sich Frau Franz d’Epinay nennen zu sehen.

 

Villefort bebte und schaute Monte Christo an, als wollte er im Grunde seines Herzens die Absicht lesen, welche den soeben ausgesprochenen Worten zu Grunde lag.

 

Da aber der Graf das wohlwollende Lächeln, an das seine Lippen gewöhnt waren, beibehielt, so vermochte der Staatsanwalt trotz der Schärfe seines Blickes nicht, hinter die Maske Monte Christos zu blicken.

 

Obgleich es ein großes Unglück für Valentine ist, das Vermögen ihres Großvaters zu verlieren, sagte Villefort, so glaube ich doch nicht, daß die Heirat deshalb scheitert; ich glaube nicht, daß Herr d’Epinay vor diesem pekuniären Verlust zurückweicht. Er wird sehen, daß ich wohl mehr wert bin, als diese Summe, die ich dem Wunsche, ihm mein Wort zu halten, opfere; er wird sich zudem sagen, daß Valentine schon durch das Vermögen ihrer Mutter reich ist, das von Herrn und Frau von Saint Meran verwaltet wird, die sie beide zärtlich lieben.

 

Und wohl würdig sind, daß man sie liebt und pflegt, wie dies Valentine bei Herrn Noirtier getan hat, fügte Frau von Villefort hinzu. Sie kommen spätestens in einem Monat nach Paris, und Valentine wird nach einer solchen Beleidigung nicht mehr gebunden sein, sich, wie sie es jetzt getan, bei Herrn Noirtier begraben zu lassen.

 

Der Graf hörte mit Wohlgefallen die disharmonische Stimme verletzter Eitelkeit und in den Staub getretener Interessen und sagte nach kurzem Stillschweigen: Mir scheint, und ich bitte Sie im voraus wegen dessen, was ich sagen werde, um Verzeihung, daß Herr Noirtier, wenn er Fräulein von Villefort, nur weil sie einen jungen Mann heiraten wollte, dessen Vater er gehaßt hat, enterbt, daß Herr Noirtier, sage ich, dem lieben Eduard nicht dasselbe Unrecht vorwerfen kann.

 

Nicht wahr? rief Frau von Villefort mit einem unbeschreiblichen Tone, nicht wahr, das ist ungerecht, abscheulich ungerecht. Dieser arme Eduard ist ebensogut der Enkel des Herrn Noirtier, und dennoch würde er Valentine sein ganzes Vermögen hinterlassen haben, wenn sie nicht Franz hätte heiraten sollen, und Eduard führt überdies den Namen der Familie, abgesehen davon, daß Valentine, wenn sie auch wirklich ihr Großvater enterbt, immer noch dreimal reicher sein wird, als er.

 

Nach diesem kräftigen Ausfall hörte der Graf nur noch zu und sparte sich selbst weitere Anregungen.

 

Nun genug, sagte Villefort. Wir wollen uns nicht länger über diese kleinlichen Familienangelegenheiten unterhalten! Ja, es ist richtig, mein Vermögen wird die Einkünfte der Armen vermehren, die heutzutage die wahren Reichen sind. Ja, mein Vater wird mich um eine gesetzliche Hoffnung gebracht haben, und das ohne Grund; ich aber habe dann als Mann von Verstand, als Mann von Herz gehandelt. Herr d’Epinay, dem ich die Rente von dieser Summe versprach, wird sie bekommen, und sollte ich mir die größten Entbehrungen auferlegen.

 

Es wäre doch vielleicht besser, sagte Frau von Villefort, auf den einzigen Gedanken zurückkommend, der unablässig in der Tiefe ihres Herzens auftauchte; es wäre doch vielleicht besser, man machte Herrn d’Epinay Mitteilung, damit er in der Lage wäre, selbst sich darüber zu entscheiden und sein Wort zurückzugeben!

 

Oh! das wäre ein großes Unglück, rief Villefort.

 

Ein großes Unglück? wiederholte Monte Christo.

 

Allerdings, erwiderte Villefort, sich besänftigend, eine gescheiterte Heirat, und scheitert sie auch aus Geldgründen, wirft ein schlechtes Licht auf ein junges Mädchen. Dann würden auch alte Gerüchte, die ich ersticken wollte, wieder laut werden. Doch nein, dem wird nicht so sein, Herr d’Epinay, der ein ehrenhafter Mann ist, wird sich durch Valentines Enterbung noch mehr für gebunden erachten, als zuvor, sonst würde er ja nur aus Habsucht um unser Kind gefreit haben; nein, das ist nicht möglich.

 

Ich denke wie Herr von Villefort, sagte Monte Christo, seinen Blick auf Frau von Villefort heftend, und wenn ich ihm einen Rat geben dürfte, so würde ich ihn auffordern, jetzt, wo Herr d’Epinay, wie ich höre, zurückkehrt, das Band so fest zu knüpfen, daß es sich nicht mehr lösen läßt. Ich würde unter allen Umständen eine Verbindung zustande bringen, die Herrn von Villefort nur zur Ehre gereichen kann.

 

Villefort erhob sich, von sichtbarer Freude ergriffen, während seine Frau leicht erbleichte.

 

Gut, sagte er, das ist alles, was ich haben wollte, und ich werde mir die Meinung eines Ratgebers, wie Sie sind, zu nutze machen, fügte er, Monte Christo die Hand reichend, hinzu. Hiernach ist alles, was sich hier ereignet hat, als nicht geschehen zu betrachten, und an unsern Plänen hat sich nichts geändert.

 

Mein Herr, sagte Monte Christo, so ungerecht die Welt ist, so wird sie Ihnen doch Dank für diesen Entschluß wissen, dafür stehe ich Ihnen. Ihre Freunde werden stolz darauf sein, und Herr d’Epinay, müßte er auch Fräulein von Villefort ohne Mitgift nehmen, was schwerlich der Fall sein wird, ist sicherlich entzückt über seinen Eintritt in eine Familie, in der man sich auf die Höhe solcher Opfer zu erheben weiß, um sein Wort zu halten und seine Pflicht zu erfüllen.

 

Während der Graf so sprach, stand er auf und schickte sich an, wegzugehen.

 

Sie verlassen uns? sagte Frau von Villefort.

 

Ich bin genötigt, gnädige Frau; ich kam nur, um Sie an Ihr Versprechen für Sonnabend zu erinnern.

 

Befürchten Sie, wir würden es vergessen?

 

Sie sind zu gütig, gnädige Frau; doch Herr von Villefort hat so ernste und zuweilen so dringende Geschäfte …

 

Mein Mann hat sein Wort gegeben, Herr Graf, und Sie konnten soeben sehen, daß er es hält, wenn alles dabei verloren gehen kann; er wird es umsomehr tun, wenn alles dabei zu gewinnen ist.

 

Findet die Gesellschaft in Ihrem Hause in den Champs-Elysées statt? fragte Villefort.

 

Nein, sagte Monte Christo, und das macht Ihr Opfer noch verdienstlicher … auf dem Lande.

 

In der Nähe von Paris?

 

Vor dem Tore, eine halbe Stunde vor dem Tore, in Auteuil.

 

In Auteuil! rief Villefort. Ah! es ist wahr, Frau von Villefort sagte mir, Sie wohnten in Auteuil, wo man sie in Ihr Haus brachte. Und wo in Auteuil?

 

Rue de la Fontaine.

 

Rue de la Fontaine? versetzte Villefort mit gepreßter Stimme; Nummer?

 

Nummer 30.

 

Man hat also an Sie das Haus des Herrn von Saint-Meran verkauft? rief Villefort.

 

Des Herrn von Saint-Meran? fragte Monte Christo. Dieses Haus gehörte Herrn von Saint-Meran?

 

Ja, erwiderte Frau von Villefort; nicht wahr, es ist eine schöne Besitzung?

 

Reizend.

 

Und denken Sie sich, mein Mann wollte nie darin wohnen.

 

In der Tat, mein Herr? Das ist ein Vorurteil, von dem ich mir keine Rechenschaft geben kann.

 

Ich liebe Auteuil nicht, sagte der Staatsanwalt, sich selbst bezwingend.

 

Es würde mich jedoch sehr unglücklich machen, sollte mich diese Antipathie des Vergnügens berauben, Sie bei mir zu empfangen! versetzte Monte Christo.

 

Nein, Herr Graf, ich hoffe wohl … glauben Sie mir, daß ich alles tun werde, was ich vermag …, stammelte Villefort.

 

Oh! ich nehme keine Entschuldigung an, entgegnete Monte Christo. Sonnabend um sechs Uhr erwarte ich Sie, und wenn Sie nicht kämen, so würde ich glauben müssen, es ruhe auf diesem seit zwanzig Jahren unbewohnten Hause irgend eine finstere Überlieferung, irgend eine blutige Legende.

 

Ich werde kommen, sagte Villefort rasch.

 

Meinen Dank. Nun aber müssen Sie mir erlauben, mich von Ihnen zu verabschieden.

 

In der Tat, Sie sagten, Sie müssen uns verlassen, Herr Graf, versetzte Frau von Villefort, und Sie wollten uns sogar mitteilen, warum, als Sie sich unterbrachen, um zu einem andern Gedanken überzugehen.

 

Wahrhaftig, gnädige Frau, ich weiß nicht, ob ich Ihnen sagen soll, wohin ich gehe.

 

Warum nicht? Sagen Sie es nur!

 

Ich will mir etwas ansehen, worüber ich oft stundenlang geträumt habe.

 

Was?

 

Einen Telegraphen.

 

Einen Telegraphen? wiederholte Frau von Villefort.

 

Ei, mein Gott! ja, einen Telegraphen. Zuweilen sah ich am Ende einer Straße auf einem Hügel bei schönem Sonnenscheine die schwarzen, wie die Füße eines ungeheuren Käfers sich biegenden Arme, und dieses Schauspiel hat mich immer merkwürdig ergriffen, das versichere ich Ihnen, denn ich dachte, diese Zeichen, welche die Luft mit unfehlbarer Sicherheit durchschneiden und auf Hunderte von Meilen den unbekannten Willen eines vor einem Tische sitzenden Menschen einem andern am Ende der Linie befindlichen Menschen verkünden, verdanken ihr Dasein nur der Energie des sonderbaren Insektenkörpers. Geister, Sylphen, Gnomen schienen mir dabei im Spiele zu sein. Niemals aber trieb es mich, diese großen Insekten mit den weißen Bäuchen und den schwarzen mageren Füßen von nahem zu sehen; denn ich fürchtete, ich würde unter ihrem steinernen Flügel den kleinen Menschenwitz, sehr ernst und würdig, sehr gründlich und steifleinen, triefend von Wissenschaft, von kleinlicher Eifersüchtelei, vielleicht auch von Aberglauben finden. Eines Morgens erfuhr ich aber, die bewegende Kraft jedes Telegraphen sei ein armer Teufel von einem Angestellten mit einem jährlichen Gehalt von zwölfhundert Franken, der nur mechanische Handgriffe verstehe und so wenig von der wunderbaren elektrischen Kraft wisse, wie ein Nachtwächter von der Poesie der göttlichen Nacht. Da erfaßte mich ein seltsames Verlangen, diese lebendige Puppe einmal näher anzuschauen.

 

Und Sie wollen nun dahin?

 

Ja, gnädige Frau!

 

Und zu welchem Telegraphen wollen Sie gehen? Zu dem im Ministerium des Innern oder zu dem im Observatorium?

 

 

Oh, nein, ich könnte dort Leute antreffen, die mich nötigen wollten, etwas zu begreifen, das ich gar nicht begreifen will, und die mir wider meinen Willen ein Geheimnis zu enthüllen versuchen, das ihnen im Grunde selbst verborgen ist. Zum Teufel! Ich will wenigstens die Illusionen mir erhalten, die ich noch über die Insekten hege; es ist genug, daß ich die, welche ich über die Menschen hatte, verlieren mußte. Ich werde also zu keinem der beiden Pariser Telegraphen gehen, weder zu dem auf dem Observatorium noch dem im Ministerium des Innern. Ich brauche einen Telegraphen im freien Felde.

 

So gehen Sie, denn in zwei Stunden ist es Nacht, und Sie sehen dann nichts mehr.

 

Teufel! Sie erschrecken mich! Wo ist der nächste auf der Straße nach Bayonne?

 

In Chatillon.

 

Und nach dem in Chatillon?

 

Ich glaube, der auf dem Turme von Monthléry.

 

Ich danke; auf Wiedersehen! Sonnabend werde ich Ihnen meine Eindrücke erzählen.

 

Vor der Tür traf der Graf mit den zwei Notaren zusammen, die soeben Valentine enterbt hatten und sich nun wegbegaben … äußerst entzückt, daß sie einen Akt aufgesetzt hatten, der ihnen unfehlbar große Ehre machen mußte.

 

 

Die Familie Morel.

 

Die Familie Morel.

 

Der Graf gelangte in wenigen Minuten in die Rue Mesla Nr. 7. Das Haus war weiß, freundlich und davor ein Hof, in dem man zwei kleine Gartenstücke mit schönen Blumen erblickte.

 

In dem Hausmeister, der ihm die Tür öffnete, erkannte der Graf den alten Cocles, der jedoch den Grafen nicht wiedererkannte. Den ganzen zweiten Stock des freundlichen Hauses bewohnte Maximilian. Dieser überwachte soeben die Wartung seiner Pferde und rauchte eine Zigarre am Eingang des Gartens, als der Wagen des Grafen vor der Tür anhielt.

 

Cocles öffnete, wie gesagt; Baptistin sprang von seinem Bocke und fragte, ob Herr und Frau Herbault und Herr Maximilian Morel für den Grafen von Monte Christo zu sprechen seien.

 

Für den Grafen von Monte Christo! rief Morel, seine Zigarre wegwerfend und dem Besuche entgegeneilend, ich glaube wohl, ich glaube wohl! Ah! Dank, tausendmal Dank, Herr Graf, daß Sie Ihr Versprechen nicht vergessen haben. Und der junge Offizier drückte dem Grafen so innig die Hand, daß dieser sich über die Treuherzigkeit seiner Kundgebung nicht täuschen konnte und mit dem ersten Blicke sah, daß er mit Ungeduld erwartet worden war.

 

Kommen Sie, sagte Maximilian. Meine Schwester ist im Garten und bricht ihre verwelkten Rosen ab; mein Schwager liest seine Zeitungen bei ihr, denn wo Frau Herbault ist, pflegt auch Herr Emanuel zu sein.

 

Bei dem Geräusch der Tritte hob eine junge Frau von dreißig Jahren in einem seidenen Hauskleide den Kopf. Diese Frau, die sorgfältig von einem herrlichen Rosenstock die welken Blumen pflückte, war unsere kleine Julie, nunmehr, wie es der Vertreter des Hauses Thomson und French vorhergesagt hatte, Frau Emanuel Herbault. Sie stieß einen leichten Schrei aus, als sie einen Fremden erblickte, Maximilian aber sagte lachend: Laß dich nicht stören, Schwester; der Herr Graf befindet sich erst seit zwei bis drei Tagen in Paris, weiß aber bereits, was eine Rentière des Marais ist, und wenn er es nicht weiß, so wirst du es ihn lehren.

 

Ah! mein Herr, sagte Julie, Sie so hierher zu führen ist ein Verrat von meinem Bruder, der nicht die geringste Eitelkeit für seine arme Schwester besitzt … Penelon! … Penelon! …

 

Ein Greis, der eine Rabatte umgrub, steckte seinen Spaten in die Erde und näherte sich mit der Mütze in der Hand, während er so gut wie möglich den Kautabak verbarg, den er schleunigst in die Tiefen seiner Backen zurückgeschoben hatte. Einige weiße Büschel versilberten sein noch dichtes Haupthaar, indes seine bronzefarbige Gesichtshaut und sein kühnes, lebhaftes Auge den alten, unter der Sonne des Äquators gebräunten und vom Hauche der Stürme gestählten Seemann verrieten.

 

Ich glaube, Sie haben mich gerufen, Fräulein Julie, sagte er, hier bin ich.

 

Penelon hatte die Gewohnheit beibehalten, die Tochter seines Patrons Fräulein Julie zu nennen, und war nie imstande gewesen, sich daran zu gewöhnen, sie als Frau Herbault anzureden.

 

Penelon, sagte Julie, melde Herrn Emanuel den angenehmen Besuch, der uns zuteil wird, während Maximilian den Herrn Grafen in den Salon führt. Dann, sich an Monte Christo wendend, fuhr sie fort: Sie werden mir wohl erlauben, auf eine Minute zu entfliehen?

 

Und ohne die Einwilligung des Grafen abzuwarten, eilte sie hinter eine Baumgruppe und erreichte das Haus durch eine Seitenallee.

 

Ah! mein lieber Herr Morel, sagte Monte Christo, ich bemerke zu meinem Schmerze, daß ich einen Aufruhr in Ihrer Familie veranlasse.

 

Sehen Sie, erwiderte Maximilian lachend, sehen Sie dort unten den Mann, der ebenfalls sein Wams gegen einen Oberrock zu vertauschen im Begriffe ist? Oh! man kennt Sie, glauben Sie mir, Sie waren angekündigt.

 

Es scheint hier eine glückliche Familie zu wohnen, Herr Morel, sagte der Graf, seinen eigenen Gedanken beantwortend.

 

Oh ja! dafür stehe ich Ihnen, Herr Graf; es fehlt ihnen nichts zu ihrem Glücke, sie sind jung, sie sind heiter, sie lieben sich, und mit ihren 25 000 Franken Rente bilden sie sich ein, den Reichtum Rothschilds zu besitzen.

 

25 000 Franken Rente ist übrigens wenig, sagte Monte Christo mit einer Weichheit, welche in Maximilians Herz wie die Stimme eines zärtlichen Vaters drang; doch sie werden hierbei nicht stehen bleiben, unsere jungen Leute, sie werden ebenfalls Millionäre werden. Ihr Herr Schwager ist Advokat … Arzt? …

 

Er war Kaufmann, Herr Graf, und hatte das Haus meines armen Vaters übernommen. Herr Morel starb mit Hinterlassung eines Vermögens von 500 000 Franken; ich bekam die eine Hälfte und meine Schwester die andere, denn wir waren nur zwei Kinder. Ihr Gatte, der sie ohne ein anderes Erbgut, als seine Redlichkeit, seinen scharfen Verstand und seinen fleckenlosen Ruf geheiratet hatte, wollte ebensoviel besitzen wie seine Frau. Er arbeitete, bis er 250 000 Franken zusammengebracht hatte; hierzu genügten sechs Jahre. Eines Tages suchte Emanuel seine Frau auf und sagte zu ihr: Julie, Cocles hat mir soeben eine Rolle von hundert Franken zugestellt, welche die Summe von 250 000 Franken vollmacht. Wirst du mit dem wenigen, womit wir uns fortan begnügen müssen, zufrieden sein? Höre, das Haus macht jährlich Geschäfte für eine Million und kann einen Nutzen von 40 000 Franken abwerfen. Wir verkaufen, wenn wir wollen, die Kundschaft in einer Stunde für 300 000 Franken an Herrn Delaunay, der uns diese Summe anbietet. Was meinst du?

 

Mein Freund, erwiderte meine Schwester, das Haus Morel kann nur durch einen Morel gehalten werden. Ist es nicht 300 000 Franken wert, den Namen unseres Vaters für immer vor schlimmem Schicksalswechsel zu schützen?

 

Ich meinte dasselbe, erwiderte Emanuel, wollte jedoch deine Ansicht wissen.

 

Gut, mein Freund. Alle unsere Ausstände sind eingezogen, alle unsere Wechsel sind bezahlt; wir können einen Strich unter den letzten des Monats ziehen und unsere Kontore schließen; ziehen wir diesen Strich und schließen wir sie! – Und dies wurde auch auf der Stelle ausgeführt. Es war drei Uhr; um ein Viertel auf vier zeigte sich ein Kunde, der die Fahrt zweier Schiffe versichern lassen wollte. Dies brachte voraussichtlich einen Geschäftsgewinn von 15 000 Franken.

 

Mein Herr, sagte Emanuel, wollen Sie sich wegen dieser Versicherung an Herrn Delaunay wenden. Wir haben das Geschäft aufgegeben.

 

Seit wann? fragte der erstaunte Kunde.

 

Seit einer Viertelstunde.

 

Und auf diese Art haben meine Schwester und mein Schwager nur 25 000 Franken Rente, schloß Maximilian seine Rede lächelnd.

 

Kaum hatte er geendet, als Emanuel wieder erschien; er grüßte wie ein Mann, der den Wert des Gastes zu schätzen weiß, ließ den Grafen das kleine Anwesen sehen und führte ihn in das Hans.

 

Der Salon war bereits von Blumen durchduftet, die in einer ungeheuren japanischen Vase zusammengehalten wurden. Hübsch gekleidet und zierlich frisiert, trat Julie hervor, um den Grafen bei seinem Eintritt zu empfangen. Alles atmete hier Ruhe, vom Gesange des Vogels bis zum Lächeln der Bewohner. Der Graf hatte seit dem Eintritte in das Haus die ganze Fülle dieses ruhigen Familienglücks auf sich wirken lassen. Er blieb stumm und träumerisch und vergaß, daß man ihn anschaute und von ihm die Wiederaufnahme des nach den ersten Komplimenten unterbrochenen Gespräches zu erwarten schien.

 

Endlich bemerkte er das eingetretene Stillschweigen, entriß sich seiner Träumerei und sagte: Gnädige Frau, verzeihen Sie mir meine Gemütsbewegung, die Sie, da Sie an den Frieden und an das Glück gewöhnt sind, in Erstaunen setzen muß; doch für mich ist die Zufriedenheit auf einem menschlichen Antlitz etwas so Neues, daß ich nicht müde werden kann, Sie und Ihren Gatten anzuschauen.

 

Wir sind in der Tat sehr glücklich, versetzte Julie; aber wir hatten lange zu leiden, und wenige Menschen mußten ihr Glück so teuer erkaufen, wie wir.

 

Die Neugierde prägte sich in den Zügen des Grafen aus.

 

Oh! das ist eine ganze Familiengeschichte, wie Ihnen neulich Chateau-Renaud sagte, erklärte Maximilian; für Sie, Herr Graf, der Sie an großartigere und glänzendere Verhältnisse gewöhnt sind, dürfte dieses häusliche Gemälde wenig Interesse bieten. Jedenfalls haben wir, wie Ihnen Julie soeben sagte, heftige Schmerzen ausgestanden, wenn sie auch in diesen kleinen Rahmen eingeschlossen waren.

 

Und Gott hat Ihnen, wie er es bei allen tut, den Balsam des Trostes auf das Leiden gegossen? fragte Monte Christo.

 

Ja, Herr Graf, antwortete Julie; wir können dies wohl sagen, denn er hat für uns getan, was er nur für seine Auserwählten tut; er schickte uns einen von seinen Engeln.

 

Die Röte stieg dem Grafen in die Wangen; er stand auf und schritt, ohne etwas zu erwidern, langsam durch den Salon.

 

Sie lächeln über uns, Herr Graf, sagte Maximilian, der ihm mit dem Auge folgte.

 

 

Nein, nein, entgegnete Monte Christo, äußerst bleich und mit einer Hand die Schläge seines Herzens zurückdrängend, während er mit der andern auf eine kristallene Kugel deutete. unter der eine seidene Börse, kostbar gelagert auf einem Kissen von schwarzem Samt, ruhte. Ich fragte mich nur, wozu diese Börse diene, die, wie mir scheint, auf der einen Seite ein Papier und auf der andern einen ziemlich schönen Diamanten enthält.

 

Maximilian nahm eine ernste Miene an und erwiderte: Das, Herr Graf, ist unser köstlichster Familienschatz.

 

In der Tat, der Diamant ist ziemlich hübsch, wiederholte Monte Christo.

 

Oh! mein Bruder spricht nicht von dem Werte des Steines, obgleich er zu 100 000 Franken geschätzt wird, er will Ihnen nur sagen, daß die Gegenstände, die diese Börse enthält, Reliquien von dem Engel sind, von dem vorhin die Rede war.

 

Ich begreife das nicht und darf auch nicht fragen, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo, sich verbeugend; verzeihen Sie mir, ich wollte nicht indiskret sein.

 

Indiskret, sagen Sie? Oh! wie glücklich machen Sie uns im Gegenteil, wenn Sie uns Gelegenheit geben, uns des weiteren über diesen Gegenstand auszusprechen. Wie gern möchten wir es der ganzen Welt mitteilen, damit wir dadurch etwas über unsern unbekannten Wohltäter erfahren.

 

Maximilian hob die Kristallkugel auf, zog den Brief aus der Börse und reichte ihn dem Grafen. Dieser Brief, sagte er, wurde an einem Tage geschrieben, wo mein Vater einen verzweiflungsvollen Entschluß gefaßt hatte, diesen Diamanten gab der edelmütige Unbekannte meiner Schwester als Mitgift.

 

Monte Christo nahm den Brief und las ihn mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke von Glück; es war das unsern Lesern bekannte, an Julie gerichtete und von Simbad dem Seefahrer unterzeichnete Schreiben.

 

Der Unbekannte, sagen Sie? Also ist der Mann, der Ihnen diesen Dienst geleistet hat, für Sie unbekannt geblieben?

 

Ja, nie haben wir das Glück gehabt, ihm die Hand zu drücken, obwohl wir Gott flehend um diese Gunst baten, sagte Maximilian. In dieser ganzen wunderbaren Begebenheit waltete eine geheimnisvolle Leitung, die wir noch nicht begreifen können.

 

Oh! rief Julie, ich habe noch nicht jede Hoffnung verloren, eines Tags die Hand unseres Wohltäters zu küssen. Vor vier Jahren war Penelon in Triest. Penelon, Herr Graf, ist der brave Seemann, den Sie mit dem Spaten gesehen haben; früher Hochbootsmann ist er nun Gärtner geworden. Penelon war also in Triest und sah auf dem Kai einen Engländer, der sich in einer Jacht einschiffte; sogleich erkannte er den, der am 5. Juni 1823 meinen Vater aufgesucht und mir am 5. September dieses Billett geschrieben hatte. Es war, wie er versichert, derselbe Mann; doch er wagte ihn nicht anzureden.

 

Ein Engländer? versetzte Monte Christo träumerisch und unruhig Julies Blicken folgend, ein Engländer sagen Sie?

 

Ja, erwiderte Maximilian, ein Engländer, der bei uns als Vertreter des Hauses Thomson und French in Rom erschien. Deshalb sahen Sie mich beben, als Sie neulich bei Herrn von Morcerf bemerkten, Thomson und French in Rom seien Ihre Bankiers. Dies ereignete sich im Jahre 1829, wie wir Ihnen sagten, und ich frage Sie im Namen des Himmels, haben Sie diesen Engländer gekannt?

 

Doch sagten Sie mir nicht, es sei von dem Hause Thomson und French beständig in Abrede gestellt worden, daß es Ihnen diesen Dienst geleistet? Sollte dieser Engländer vielleicht aus Dankbarkeit für irgend eine gute Handlung Ihres Vaters diesen Vorwand ergriffen haben, um ihm einen Dienst zu leisten?

 

Unter solchen Umständen ist alles zu vermuten, selbst ein Wunder.

 

Wie hieß er? fragte Monte Christo.

 

Er hat keinen andern Namen hinterlassen, sagte Julie, den Grafen mit großer Aufmerksamkeit betrachtend, als den, womit er das Billett unterzeichnete: Simbad der Seefahrer.

 

Was offenbar kein Name, sondern ein Pseudonym ist.

 

Und als ihn Julie immer aufmerksamer anschaute und die Töne seiner Stimme aufzufangen und zu sammeln schien, fuhr er fort: Sagen Sie, ist es nicht ein Mann etwa von meinem Wuchse, vielleicht etwas größer, etwas schlanker, in eine hohe Halsbinde eingezwängt, gegürtet und beständig einen Bleistift in der Hand haltend?

 

Oh! Sie kennen ihn also? rief Julie mit freudestrahlenden Augen.

 

Nein, ich habe nur eine Vermutung. Ich kannte einen Lord Wilmore, der edle Handlungen der Art auszuführen pflegte.

 

Ohne sich zu erkennen zu geben?

 

Es war ein wunderlicher Mensch, er glaubte nicht an Dankbarkeit.

 

Oh, mein Gott! rief Julie mit einem erhabenen Ausdruck die Hände faltend, woran glaubt denn der Unglückliche?

 

Er glaubte wenigstens nicht daran zur Zeit, wo ich ihn kannte, sagte Monte Christo, den diese aus der Tiefe der Seele kommende Stimme bis in die letzte Fiber erschüttert hatte; seit jener Zeit hat er jedoch vielleicht einen Beweis erhalten, daß es eine Dankbarkeit gibt.

 

Und Sie kennen diesen Mann? fragte Emanuel.

 

Oh! wenn Sie ihn kennen, rief Julie, sprechen Sie, vermögen Sie ihn zu uns zu führen, ihn uns zu zeigen, uns zu offenbaren, wo er ist? Wie, Maximilian, wie, Emanuel, wenn wir ihn je wieder finden würden, würde er nicht an dankbare Herzen glauben müssen?

 

Monte Christo fühlte, wie zwei Tränen in seine Augen traten; er machte noch ein paar Schritte im Salon.

 

Im Namen des Himmels, sagte Maximilian, wenn Sie etwas von diesem Manne wissen, so teilen Sie es uns mit.

 

Ach! erwiderte Monte Christo, die Erschütterung seiner Stimme bewältigend, ach! wenn Lord Wilmore Ihr Wohltäter ist, so befürchte ich, daß Sie ihn nie finden werden. Ich habe ihn vor zwei oder drei Jahren in Palermo verlassen; er reiste damals nach weit entfernten Ländern, und ich zweifle sehr an seiner Rückkehr.

 

Ah! mein Herr, Sie sind grausam, rief Julie voll Schrecken.

 

Und es entstürzten Tränen den Augen der jungen Frau.

 

Gnädige Frau, sagte mit ernstem Tone Monte Christo, während er mit seinen Blicken die beiden Tränenperlen verschlang, die über Julies Wangen herabrollten, wenn Lord Wilmore gesehen hätte, was ich hier sehe, so würde er das Leben noch lieben, denn die Tränen, die Sie vergießen, müßten ihn mit dem Menschengeschlechte aussöhnen. Und er reichte Julie die Hand, und diese gab ihm die ihre, hingezogen von Blick und Ton des Grafen.

 

Doch dieser Lord Wilmore, sagte sie, sich an eine letzte Hoffnung klammernd, hatte er kein Vaterland, Verwandte, Familie, war er bekannt? Könnten wir nicht …

 

Oh! suchen Sie nicht, Madame, bauen Sie keine leeren Hoffnungen auf das Wort, das mir entschlüpft ist! Nein, Lord Wilmore ist wahrscheinlich nicht der Mann, den Sie suchen, er war mein Freund, ich kannte seine Geheimnisse, er hätte mir auch dieses mitgeteilt.

 

Und er sagte Ihnen nichts davon? rief Julie.

 

Nichts.

 

Sie nannten ihn aber doch sogleich?

 

Sie wissen, in solchen Fällen ergeht man sich leicht in Mutmaßungen.

 

Meine Schwester, sagte Maximilian, Monte Christo zu Hilfe kommend, der Herr Graf hat recht. Erinnere dich dessen, was unser guter Vater uns so oft sagte: Der Mann, der unser Glück machte, war kein Engländer.

 

Monte Christo zitterte und sagte lebhaft: Ihr Vater sagte Ihnen dies, Herr Morel?

 

Mein Vater, Herr Graf, erblickte in dieser Handlung ein Wunder. Mein Vater glaubte an einen für uns aus dem Grabe erstandenen Wohltäter. Oh! welch ein rührender Aberglaube, mein Herr! … Während ich selbst ihm nicht beipflichtete, war ich doch weit entfernt, diesen Glauben in seinem Herzen zerstören zu wollen. Wie oft träumte er davon und sprach ganz leise den Namen eines geliebten Freundes, eines verlorenen Freundes aus, und als er nur noch einen Schritt vom Tode entfernt war und das Herannahen der Ewigkeit seinem Geiste etwas von der Erleuchtung des Grabes gegeben hatte, da wurde dieser Gedanke, der bis dahin eine dunkle Vermutung gewesen war, zur Überzeugung, und die letzten Worte, die er sterbend aussprach, lauteten: Maximilian, es war Edmond Dantes.

 

Die immer mehr zunehmende Blässe des Grafen wurde bei diesen Worten furchtbar. Er konnte kaum mehr sprechen, zog seine Uhr, als hätte er die Stunde vergessen, nahm seinen Hut, machte eine ungestüme, verlegene Verbeugung vor Frau Herbault, drückte Emanuel und Maximilian die Hand und stammelte: Gnädige Frau, erlauben Sie mir, Ihnen zuweilen meine Achtung zu bezeigen. Ich liebe Ihr Haus und bin Ihnen dankbar für Ihren Empfang, denn es ist das erste Mal seit Jahren, daß ich mich vergessen habe.

 

Und er entfernte sich mit großen Schritten.

 

Das ist ein seltsamer Mensch … dieser Graf von Monte Christo, sagte Emanuel.

 

Ja, erwiderte Maximilian, aber ich glaube, er hat ein vortreffliches Herz, und ich bin überzeugt, daß er uns liebt.

 

Und mir, sagte Julie, mir war es, als erinnerte sich mein Inneres seiner Stimme, und wiederholt kam es mir vor, als hörte ich sie nicht zum erstenmal.

 

Pyramos und Thisbe.

 

Pyramos und Thisbe.

 

Auf dem Faubourg Saint-Honoré hinter einem schönen Palast dehnte sich damals ein weiter Garten aus, dessen blätterreiche Kastanienbäume die ungeheuren, wallhohen Mauern überragten, und wenn der Frühling kam, ihre rosenfarbigen und weißen Blüten in zwei Vasen von gerieftem Stein fallen ließen, die auf zwei viereckigen Pfeilern einander gegenüberstanden, zwischen die ein eisernes Gitter aus der Zeit Ludwigs XIII gefügt war.

 

Dieser großartigste Eingang war trotz der herrlichen Geranien, die in den Vasen wuchsen, der Öde verfallen, seitdem sich die Eigentümer auf den Besitz des Hauses, des mit Bäumen bepflanzten und nach dem Faubourg gehenden Hofes und des Gartens beschränkten, den dieses Gitter schloß. Da aber der Dämon der Spekulation eine Straße am Ende dieses Küchengartens gezogen, so glaubte man dieses Stück als Bauplatz verkaufen zu können.

 

Jedoch die Spekulation schlug fehl, und der Käufer des Küchengartens verpachtete den Platz an einen Gemüsegärtner, der nur Luzernen darauf wachsen ließ. Eine kleine niedrige Tür, die sich nach der noch im Plane schlummernden Straße öffnete, gewährte Eingang in dieses von Mauern umschlossene Gebiet.

 

Nach dem vornehmen Hause oder, wie man in Paris sagt, nach dem Hotel zu bekränzten Kastanienbäume die Mauer. Auf einer Ecke, wo das Blätterwerk so dicht war, daß das Licht kaum durchzudringen vermochte, deuteten eine steinerne Bank und Gartensitze auf einen Lieblingswinkel für irgend einen Bewohner des hundert Schritte davon entlegenen Hotels, das wegen des grünen, umhüllenden Walles kaum wahrzunehmen war. Die Wahl dieses geheimnisvollen Asyls rechtfertigte sich durch die Abwesenheit der Sonne, durch die angenehme Frische, durch das Gezwitscher der Vögel und durch die Entfernung des Hauses und der Straße.

 

Gegen Abend an einem der heißesten Tage des Frühjahrs lagen auf dieser Steinbank ein Buch, ein Sonnenschirm, ein Arbeitskorb und ein Batisttaschentuch, dessen Stickerei angefangen war; und nicht weit von dieser Bank stand am Gitter vor den Brettern, das Auge an den durchsichtigen Verschlag haltend, eine junge Frau, deren Blick durch eine Spalte den noch öden Raum überlief.

 

Fast in demselben Augenblick schloß sich geräuschlos die Tür dieser kleinen Wüste, und ein junger Mann, groß, kräftig, in einer Bluse von roher Leinwand, eine Samtmütze auf dem Kopf, dessen schwarzer Bart und schwarze, sorgfältig gepflegte Haare jedoch ein wenig mit dieser Volkstracht im Widerspruch standen, trat, nachdem er einen raschen Blick umhergeworfen hatte, um sich zu versichern, daß ihn niemand beobachte, herein und wandte sich mit raschen Schritten nach dem Gitter.

 

Bei dem Anblicke dessen, den sie erwartete, aber wahrscheinlich nicht in dieser Tracht, erschrak das Mädchen und wich ein wenig zurück.

 

Aber der junge Mann hatte durch die Spalte der Tür mit jenem Blicke, der nur Liebenden eigen ist, das weiße Kleid und das lange blaue Gürtelband flattern sehen; er eilte nach dem Verschlage, legte seinen Mund an eine Öffnung und sagte mit halblauter Stimme: Fürchten Sie sich nicht, Valentine, ich bin es.

 

Die Genannte näherte sich und sagte: Oh, warum sind Sie heute so spät gekommen? Wissen Sie, daß wir bald zu Mittag essen, und daß es großer Täuschungskunst und Hurtigkeit bedurfte, um von meiner Stiefmutter, die mich belauert, meiner Kammerfrau, die mich bespäht, meinem Bruder, der mich quält, freizukommen und hier an dieser Stickerei zu arbeiten? Sobald Sie sich für Ihr Zögern entschuldigt haben, werden Sie mir sagen, was dieses neue Kostüm, in dem ich Sie beinahe nicht erkannt hätte, bedeuten soll.

 

Teure Valentine, erwiderte der junge Mann, meine Liebe zu Ihnen ist zu groß, als daß ich hiervon noch sprechen sollte, und dennoch fühle ich, so oft ich Sie sehe, das Bedürfnis, Ihnen zu sagen, daß ich Sie anbete, damit das Echo meiner eigenen Worte Ihr Herz liebkosen möge, wenn ich Sie nicht mehr sehe. Nun danke ich Ihnen für Ihr Schmälen; es ist ganz bezaubernd, denn es beweist mir, daß Sie mich erwarteten und an mich dachten. Sie wollen die Ursache meiner Zögerung und den Beweggrund meiner Verkleidung wissen, ich werde Ihnen beides sagen und hoffe, Sie entschuldigen mich: ich habe mir einen Stand erwählt.

 

Einen Stand? … Was wollen Sie damit sagen, Maximilian? Sind wir denn so glücklich, daß Sie über unsere Lage scherzen?

 

Oh! Gott soll mich bewahren, daß ich mit dem, was mein Leben ausmacht, Scherz treibe. Aber des Mauerkletterns überdrüssig und ernstlich erschrocken über den eines Abends von Ihnen ausgesprochenen Gedanken, Ihr Vater würde mich früher oder später als Dieb vor Gericht ziehen, was die Ehre der ganzen französischen Armee verletzen müßte, dazu erwägend, daß man sich wundern könnte, in dieser Gegend, wo es nicht die geringste Zitadelle zu belagern oder das kleinste Blockhaus zu verteidigen gibt, einen Kapitän der Spahis sich herumtreiben zu sehen, bin ich Gemüsegärtner geworden und habe natürlich die Tracht meines Gewerbes angenommen.

 

Welch eine Tollheit!

 

Im Gegenteil, es ist, wie ich glaube, das vernünftigste, was ich in meinem ganzen Leben getan habe, denn es verleiht uns vollkommene Sicherheit.

 

Erklären Sie sich deutlicher!

 

Wohl, ich habe den Eigentümer dieses Platzes aufgesucht; der Vertrag mit den ehemaligen Pächtern war abgelaufen, und ich pachtete den Garten für mich. Alle diese Luzernen gehören mir, Valentine, und nichts hindert mich, mir eine Hütte unter diesem Gebüsch bauen zu lassen und fortan zwanzig Schritte von Ihnen zu leben. Oh! diese Freude, dieses Glück, ich weiß mich nicht zu fassen! Scheint Ihnen, Valentine, dies nicht unbezahlbar? Und diese ganze Seligkeit, dieses ganze Glück, diese ganze Freude, wofür ich zehn Jahre meines Lebens gegeben hätte, kosten mich, erraten Sie wieviel? … Fünfhundert Franken jährlich, zahlbar in vierteljährlichen Raten. Sie sehen also, es ist in Zukunft nichts mehr zu befürchten. Ich befinde mich hier auf meinem eigenen Grund und Boden, kann Leitern an meine Mauer stellen und hinüberschauen und bin berechtigt, Ihnen zu sagen, daß ich Sie liebe, solange sich Ihr Stolz nicht verwundet fühlt, wenn er dieses Wort aus dem Munde eines armen Tagelöhners mit Bluse und Mütze vernimmt.

 

Valentine stieß einen leichten Schrei freudigen Erstaunens aus, erwiderte aber bald traurig, und als hätte eine eifersüchtige Wolke plötzlich den Sonnenstrahl verschleiert, der ihr Herz erleuchtete: Ach! Maximilian, wir sind nun frei; unser Herz wird uns Gott versuchen lassen; wir werden unsere Sicherheit mißbrauchen, und unsere Sicherheit wird uns zu Grunde richten.

 

Können Sie mir das sagen, liebe Freundin, mir, der ich Ihnen, seitdem ich Sie kenne, jeden Tag beweise, daß ich meine Gedanken und mein Leben Ihren Gedanken und Ihrem Leben untergeordnet habe? Wer hat Ihnen Zutrauen zu mir gegeben? Nicht wahr, meine Ehre. Als Sie mir sagten, ein unbestimmter Instinkt versichere Ihnen, Sie liefen irgend eine große Gefahr, stellte ich meine Ergebenheit zu Ihren Diensten, ohne eine andere Belohnung von Ihnen zu verlangen, als das Glück, Ihnen dienen zu dürfen. Habe ich Ihnen seitdem durch ein Wort, durch ein Zeichen Veranlassung gegeben, zu bereuen, daß Sie mich unter denen auszeichnen, die glücklich gewesen wären, für Sie zu sterben? Armes Kind, Sie sagten mir, Sie seien mit Herrn d’Epinay verlobt, Ihr Vater habe diese Verbindung geschlossen, das heißt, sie wäre gewiß, denn alles, was Herr von Villefort wolle, geschehe unfehlbar. Nun, ich bin im Schatten geblieben und habe alles, nicht von meinem Willen, nicht von dem Ihrigen, sondern von den Ereignissen, von der Vorsehung Gottes erwartet, und dennoch liebten Sie mich, hatten Sie Mitleid mit mir und sagten mir dies. Ich danke Ihnen für dieses süße Wort, das ich Sie von Zeit zu Zeit zu wiederholen bitte, denn es wird mich alles vergessen lassen.

 

Das ist es, was Sie kühn gemacht hat, Maximilian, das ist es, was mir ein sehr süßes und zugleich sehr unglückliches Leben bereitet, so daß ich mich oft frage, was für mich besser sei, der Kummer, den mir einst die Strenge meiner Stiefmutter und die blinde Bevorzugung ihres Kindes verursachten, oder das gefahrvolle Glück, das ich bei Ihrem Anblick genieße.

 

Gefahrvoll! rief Maximilian; können Sie ein so hartes und ungerechtes Wort aussprechen! Sie erlaubten mir zuweilen, ein Wort an Sie zu richten, Valentine, aber Sie verboten mir, Ihnen zu folgen; ich gehorchte. Habe ich, seitdem ich Gelegenheit fand, in dieses Gehege zu schlüpfen, durch diese Tür mit Ihnen zu plaudern, so nahe bei Ihnen zu sein, ohne Sie zu sehen, – sprechen Sie, habe ich je um Erlaubnis gebeten, den Saum Ihres Kleides durch dieses Gitter berühren zu dürfen? Habe ich je einen Schritt getan, um über diese Mauer – bei meiner Jugend und meiner Kraft ein lächerliches Hindernis – zu gelangen? Nie vernahmen Sie von mir einen Vorwurf über Ihre Strenge, nie einen lauten Wunsch; ich hielt blindlings fest an meinem Wort, wie ein Ritter in den alten Zeiten. Gestehen Sie dies wenigstens zu, damit ich Sie nicht für ungerecht halte.

 

 

Das ist wahr, sagte Valentine, ihm zwischen zwei Brettern hindurch die Spitze eines ihrer zarten Finger bietend, auf die Maximilian seine Lippen drückte; es ist wahr, Sie sind ein redlicher Freund. Aber Sie haben am Ende nur aus Berechnung so gehandelt, mein lieber Maximilian; Sie wußten, daß der Sklave von dem Tage an, wo er begehrlich würde, alles verlieren müßte. Sie haben mir die Freundschaft eines Bruders versprochen, mir, die keine Freunde besitzt, mir, die vom Vater vergessen, von der Stiefmutter verfolgt wird; mir, die als einzigen Trost nur den unbeweglichen, stummen, eisigen Greis hat, dessen Hand meine Hand nicht drücken kann, dessen Auge allein zu mir spricht und dessen Herz ohne Zweifel mit einem Überreste von Wärme für mich schlägt. Bitterer Hohn des Geschicks, das mich zur Feindin und zum Opfer aller derer macht, die stärker sind als ich, und mir einen Leichnam zur Stütze und zum Freunde gibt! Oh wahrlich, Maximilian, ich wiederhole Ihnen, ich bin sehr unglücklich, und Sie haben recht, wenn Sie mich um meiner selbst willen und nicht um Ihretwillen lieben.

 

Valentine, sagte der junge Mann, mit tiefer Rührung, ich sage nicht, daß ich Sie allein auf der Welt liebe, denn ich liebe auch meine Schwester und meinen Schwager, aber mit einer sanften, ruhigen Liebe, die in keiner Hinsicht dem Gefühle gleicht, das ich für Sie hege: Wenn ich an Sie denke, wallt mein Blut, schwillt meine Brust, strömt mein Herz über; doch diese Kraft, diese Glut, diese übermenschliche Macht, ich werde sie anwenden, um Sie bis zu dem Tage zu lieben, wo Sie mir sagen, ich solle sie in Ihrem Dienste verwenden. Herr Franz d’Epinay wird, wie ich höre, noch ein Jahr abwesend sein; wie viele günstige Wechselfälle können in einem Jahre zu unsern Gunsten eintreten! Wie viele Ereignisse können uns unterstützen! Hoffen wir also, es ist so schön und süß, zu hoffen! Doch mittlerweile, Valentine, was sind Sie, die Sie mir meine Selbstsucht zum Vorwurf machen, was sind Sie für mich gewesen? Die schöne und kalte Bildsäule der züchtigen Venus. Was haben Sie mir im Austausch für diese Ergebenheit, für diesen Gehorsam, für diese Zurückhaltung versprochen? Nichts; was haben Sie mir bewilligt? Sehr wenig. Sie erwähnen gegen mich des Herrn d’Epinay als Ihres Verlobten und seufzen bei dem Gedanken, eines Tages ihm zu gehören. Sprechen Sie, Valentine, ist das alles, was Sie im Gemüte tragen? Wie! ich verpfände Ihnen mein Leben, ich gebe Ihnen meine Seele, ich widme Ihnen auch den unbedeutendsten Schlag meines Herzens, und während ich Ihnen ganz gehöre, während ich mir ganz leise sage, daß ich sterben werde, wenn ich Sie verliere, erschrecken Sie nicht schon bei dein bloßen Gedanken, eines andern Gattin zu sein? Oh Valentine! Wenn ich wäre, was Sie sind, wenn ich mich geliebt fühlte, wie Sie sich zweifellos geliebt fühlen müssen, so hätte ich schon hundertmal meine Hand zwischen den Stangen dieses Gitters durchgestreckt, die Hand des armen Maximilian gedrückt und ihm gesagt: Dir allein, Maximilian, in dieser und in der andern Welt.

 

Valentine antwortete nicht, aber der junge Mann hörte sie seufzen und weinen.

 

Rasch trat bei ihm die Gegenwirkung ein.

 

Oh, Valentine, Valentine! rief er, vergessen Sie meine Worte, wenn darin etwas für Sie Beleidigendes liegt!

 

Nein, sagte sie, Sie haben recht; aber sehen Sie nicht, daß ich ein armes Geschöpf bin, das so gut wie in einem fremden Hause leben muß? Mein Vater ist mir wirklich fast fremd, und mein Wille wird seit zehn Jahren, Tag für Tag, Minute für Minute durch den eisernen Willen von Gebietern gebrochen, deren Hand unendlich schwer auf mir liegt. Niemand sieht, was ich leide, und ich habe es auch außer Ihnen niemand gesagt. Scheinbar und in den Augen der Welt ist alles gut, ist alles liebevoll gegen mich, in Wirklichkeit aber ist mir alles feindselig. Die Welt sagt: Herr von Villefort ist zu ernst und zu streng, um sehr zärtlich gegen seine Tochter zu sein; aber sie hat wenigstens das Glück, in Frau von Villefort eine zweite Mutter zu finden. Die Welt täuscht sich, mein Vater ist völlig gleichgültig gegen mich, meine Stiefmutter haßt mich mit um so größerer Erbitterung, als sie diese durch ein beständiges Lächeln glaubt verschleiern zu müssen.

 

Sie hassen? Sie, Valentine! Und wie kann man Sie hassen?

 

Ach! mein Freund, ich muß gestehen, daß dieser Haß gegen mich von einem an sich sehr natürlichen Gefühle herrührt. Sie betet ihren Sohn, meinen Bruder Eduard, an. – Nun?

 

Es kommt mir zwar sonderbar vor, daß ich eine Geldfrage in unser Gespräch mischen soll; aber ich glaube, mein Freund, daß ihr Haß davon herrührt. Da sie kein eigenes Vermögen hat, da ich bereits durch die Erbschaft meiner Mutter reich bin und sich dieses Vermögen noch durch das, welches mir eines Tages von Herrn und Frau von Saint-Meran zukommen muß, mehr als verdoppeln wird, so glaube ich, daß sie neidisch ist. Oh, mein Gott! wenn ich ihr die Hälfte dieses Vermögens geben und mich dann bei Herrn Villefort wie eine Tochter im Hause ihres Vaters befinden könnte, ich würde es auf der Stelle tun.

 

Arme Valentine!

 

Ja, ich fühle mich gekettet und fühle mich zugleich so schwach, daß es mir vorkommt, als stützten mich meine Fesseln, so daß ich mich davor fürchte, sie zu zerbrechen. Überdies ist mein Vater nicht der Mann, dessen Befehle man ungestraft übertreten dürfte; er ist mächtig gegen mich, er wäre mächtig gegen Sie, er wäre sogar mächtig gegen den König, beschützt durch eine vorwurfsfreie Vergangenheit und eine beinahe unangreifbare Stellung. Oh! Maximilian, ich schwöre Ihnen, ich kämpfe nicht, weil ich Sie nicht minder als mich in diesem Kampf zu Grunde zu richten befürchte.

 

Aber Valentine, versetzte Maximilian, warum auf diese Art verzweifeln, warum die Zukunft stets so düster sehen?

 

Ah! mein Freund, weil ich nach der Vergangenheit urteile.

 

Aber vergessen Sie nicht, daß ich auch Ihrem Vater kein unwillkommener Freier sein kann. Ich habe gute Aussichten in der Armee, ich besitze ein beschränktes, aber unabhängiges Vermögen; das Andenken an meinen Vater endlich wird bei uns als das eines der ehrlichsten Kaufleute, die je gelebt haben, verehrt. Ich sage, bei uns, Valentine, weil Sie halb und halb von Marseille sind.

 

Sprechen Sie mir nicht von Marseille, Maximilian, dieses einzige Wort erinnert mich an meine gute Mutter, an diesen guten, von der ganzen Welt beklagten Engel; an diese herrliche Frau, die, nachdem sie während ihres kurzen Aufenthaltes auf Erden über ihre Tochter gewacht, jetzt, so glaube ich sicher, im Himmel über sie wacht. Oh! wenn meine Mutter noch lebte, Maximilian, so hätte ich nichts mehr zu fürchten! Ich würde ihr sagen, daß ich Sie liebe, und sie würde uns beschützen.

 

Ach! Valentine, entgegnete Maximilian, wenn sie noch lebte, würde ich Sie ohne Zweifel nicht kennen; denn Sie wären dann, wie Sie sagen, glücklich, und die glückliche Valentine hätte mich von ihrer Größe herab verächtlich angeschaut.

 

Ah! mein Freund! rief Valentine. Sie sind ebenfalls ungerecht … Doch, sagen Sie mir …

 

Was soll ich Ihnen sagen? versetzte Maximilian, als er Valentine zögern sah.

 

Sagen Sie mir, fuhr das Mädchen fort, waltete in Marseille nicht ein Mißverständnis zwischen Ihrem Vater und dem meinigen ob?

 

Nicht, daß ich wüßte, erwiderte Maximilian, wenn nicht dadurch, daß Ihr Vater ein mehr als eifriger Parteigänger der Bourbonen und der meinige ein dem Kaiser ergebener Mann war; das ist, glaube ich, die einzige Uneinigkeit, die zwischen ihnen stattgefunden hat. Doch warum diese Frage, Valentine?

 

Ich will es Ihnen gestehen, versetzte das Mädchen, denn Sie müssen es wissen. Es war an dem Tage, an dem Ihre Ernennung zum Offizier der Ehrenlegion in der Zeitung bekannt gemacht wurde. Wir befanden uns alle bei meinem Großvater, Herrn Noirtier; außerdem war noch Herr Danglars zugegen, Sie wissen, der Bankier, dessen Pferde vorgestern meiner Mutter und meinem Bruder beinahe den Tod gebracht hätten. Ich las die Zeitung meinem Großvater laut vor, während die Herren von der wahrscheinlichen Verheiratung des Herrn von Morcerf mit Fräulein Danglars sprachen. Als ich zu der Sie betreffenden Mitteilung kam, die mir bereits bekannt war, denn Sie hatten mir am Tage vorher die frohe Kunde mitgeteilt, – war ich sehr glücklich, zitterte jedoch, daß ich Ihren Namen laut aussprechen sollte, und ich würde ihn gewiß übergangen haben, hätte ich nicht befürchtet, man könnte mein Stillschweigen übel auslegen; ich raffte also meinen ganzen Mut zusammen und las.

 

Teure Valentine!

 

Nun wohl, sobald Ihr Name erklang, drehte mein Vater seinen Kopf; ich war so überzeugt – sehen Sie, wie töricht ich bin! – alle Welt würde von diesem Namen wie vom Donner gerührt werden, daß ich meinen Vater und sogar Danglars, bei dem es sicher eine Täuschung war, beben zu sehen glaubte.

 

Morel, sagte mein Vater mit gerunzelter Stirn. Sollte es einer von den Morels aus Marseille sein, einer von den wütenden Bonapartisten, die uns im Jahre 1815 so übel mitgespielt haben?

 

Ja, erwiderte Herr Danglars, ich glaube sogar, daß es der Sohn des ehemaligen Reeders ist.

 

Wirklich? versetzte Maximilian; und was antwortete Ihr Vater, Valentine?

 

Oh! etwas Abscheuliches, das ich nicht wiederholen kann.

 

Sagen Sie es immerhin! sagte Maximilian lächelnd.

 

Ihr Kaiser wußte alle diese Fanatiker an ihren Platz zu stellen, fuhr er mit immer düstererer Stirn fort, er nannte sie Kanonenfutter, und das war der einzige Name, den sie verdienen; ich freue mich, daß die gegenwärtige Regierung dieses heilsame Prinzip wieder zur Ausübung bringt. Behielte sie Algerien auch nur aus diesem einzigen Grunde, so würde ich ihr Glück wünschen, obgleich es uns etwas viel kostet.

 

Das ist in der Tat eine ziemlich rohe Politik, sagte Maximilian; doch, meine teure Freundin, erröten Sie nicht über das, was Herr von Villefort gesagt hat. Mein braver Vater gab in Bezug auf diesen Punkt dem Ihrigen in keiner Beziehung nach, denn er wiederholte unablässig: Warum bildet der Kaiser, der so viel Schönes tut, nicht ein Regiment aus lauter Richtern und Advokaten und schickt sie immer ins erste Feuer? Sie sehen, die Parteien geben sich in der Wahl des Ausdrucks und der Feinheit des Gefühls nichts nach. Doch was sagte Herr Danglars zu diesem Ausfalle des Staatsanwaltes?

 

Oh! er brach in jenes ihm eigentümliche, widerwärtige Gelächter aus; einen Augenblick nachher standen sie auf und gingen weg. Mein Großvater war sehr ergriffen. Ich muß Ihnen sagen, Maximilian, daß ich allein die Bewegungen im Innern dieses armen Gelähmten errate, und ich vermute, daß das Gespräch einen sehr starken Eindruck auf ihn hervorgebracht hatte, da er ein fanatischer Anhänger des Kaisers gewesen zu sein scheint.

 

Er ist wirklich einer der bekanntesten bonapartistischen Parteigänger, sagte Maximilian; er ist Senator gewesen und hat, wie Sie wissen, oder wie Sie nicht wissen, Valentine, fast an allen Verschwörungen unter der Restauration teilgenommen.

 

Ja, ich höre zuweilen ganz leise von diesen Dingen sprechen, die mir seltsam vorkommen; der Großvater Bonapartist, der Vater Royalist … Kurz, ich wandte mich also zu ihm. Er deutete mit dem Blicke auf die Zeitung.

 

Was haben Sie, guter Papa? sagte ich. Sind Sie zufrieden? – Er machte mit dem Kopfe ein bejahendes Zeichen. – Mit dem, was mein Vater soeben gesagt hat? – Er machte ein verneinendes Zeichen. – Mit dem, was Herr Danglars gesagt hat? – Er machte abermals ein verneinendes Zeichen. – Damit also, daß Herr Morel zum Offizier der Ehrenlegion ernannt worden ist? – Er machte ein bejahendes Zeichen.

 

Sollten Sie es glauben, Maximilian? Er freute sich darüber, daß Sie zum Offizier der Ehrenlegion ernannt wurden, er, der Sie nicht kennt; es ist vielleicht etwas Narrheit bei ihm, denn er fängt an kindisch zu werden, wie man sagt; doch ich liebe ihn wegen dieser Bejahung.

 

Das ist seltsam, sagte Maximilian; Ihr Vater würde mich also hassen, während Ihr Großvater … Es ist doch etwas Sonderbares um die Liebe und den Haß der Parteien!

 

Still! rief plötzlich Valentine. Verbergen Sie sich, fliehen Sie, man kommt!

 

Maximilian eilte nach seinem Spaten und fing an, die Luzernen unbarmherzig umzugraben.

 

Mein Fräulein! mein Fräulein! rief eine Stimme hinter den Bäumen; Frau von Villefort ruft und sucht sie überall, es ist Besuch im Salon. Ein vornehmer Herr, ein Prinz, wie ich höre, der Graf von Monte Christo.

 

Ich komme, rief Valentine.

 

Sieh da! sagte Maximilian, nachdenkend auf seinen Spaten gestützt, zu sich selbst, woher kennt der Graf von Monte Christo Herrn von Villefort?

 

Giftkunde.

 

Giftkunde.

 

Es war wirklich der Graf von Monte Christo, der bei Frau von Villefort in der Absicht erschien, den Besuch des Staatsanwalts zu erwidern, und es wurde, wie sich leicht denken läßt, durch seinen Namen das ganze Haus in Bewegung gesetzt.

 

Frau von Villefort befand sich allein im Salon, als man den Grafen meldete, und sie ließ sogleich ihren Sohn kommen, damit das Kind seine Danksagung bei Monte Christo wiederhole. Eduard, der seit zwei Tagen unablässig von dieser hohen Person hatte sprechen hören, lief eilig herbei, nicht aus Gehorsam gegen die Mutter und ebensowenig, um dem Grafen zu danken, sondern aus Neugierde und um irgend eine Wahrnehmung zu machen, mit deren Hilfe er einen Streich ausführen könnte, der seine Mutter stets zu der Äußerung veranlaßte: Oh! das böse Kind; doch ich muß ihm verzeihen, es hat so viel Witz!

 

Nach dem ersten Austausche der gewöhnlichen Höflichkeiten erkundigte sich der Graf nach Herrn von Villefort.

 

Mein Gatte speist beim Herrn Kanzler, antwortete die junge Frau; er ist soeben weggefahren und wird gewiß sehr bedauern, nicht das Glück zu haben, Sie zu sehen. Wo ist denn deine Schwester Valentine! sagte Frau von Villefort zu Eduard; man benachrichtige sie, damit ich die Ehre haben kann, sie dem Herrn Grafen vorzustellen.

 

Sie haben eine Tochter, gnädige Frau? fragte der Graf; das muß noch ein Kind sein?

 

Es ist die Tochter des Herrn von Villefort, erwiderte die junge Frau; eine Tochter aus erster Ehe, eine hübsche, große Person.

 

Aber schwermütig, unterbrach sie Eduard.

 

Dieser junge Naseweis hat ziemlich recht und wiederholt nur, was er mich sehr oft mit Kummer hat sagen hören; denn Fräulein von Villefort ist, trotz allem, was wir zu ihrer Zerstreuung tun, von einem traurigen Charakter und von einer Schweigsamkeit, die häufig der Wirkung ihrer Schönheit Eintrag tut. In diesem Augenblick trat Valentine ein. Sie schien in der Tat traurig zu sein, und bei aufmerksamer Betrachtung hätte man in ihren Augen Spuren von Tränen wahrnehmen können.

 

Valentine war groß, schlank, achtzehn Jahre alt, hatte hell kastanienbraune Haare, dunkelblaue Augen und zeichnete sich durch den würdevollen Gang und durch die Haltung aus, die auch ihrer Mutter eigen gewesen war. Ihre weißen, zarten Hände, ihr Perlmutterhals, ihre rosig gefärbten Wangen verliehen ihr beim ersten Anblick das Aussehen einer von den schönen Engländerinnen, die man so poetisch mit Schwänen verglichen hat, welche sich auf der Fläche des Wassers spiegeln.

 

Sie trat also ein und grüßte, als sie bei ihrer Mutter den Fremden erblickte, von dem sie so viel hatte sprechen hören, ohne mädchenhafte Ziererei und ohne die Augen niederzuschlagen, mit einer Anmut, welche die Aufmerksamkeit des Grafen verdoppelte.

 

Fräulein von Villefort, meine Stieftochter, stellte Frau von Villefort vor.

 

Und der Herr Graf von Monte Christo, König von China, Kaiser von Cochinchina, rief der Knabe, seiner Schwester einen versteckten Blick zuwerfend.

 

Diesmal erbleichte Frau von Villefort und war nahe daran, auf diese häusliche Geißel wirklich ärgerlich zu werden. Doch der Graf lächelte im Gegenteil und schien das Kind mit Wohlgefallen zu betrachten, was die Freude und Begeisterung seiner Mutter auf den höchsten Grad steigerte.

 

Aber, gnädige Frau, sagte der Graf, das Gespräch wieder anknüpfend und abwechselnd Frau von Villefort und Valentine anschauend, habe ich nicht bereits die Ehre gehabt, Sie irgendwo zu sehen, Sie und das Fräulein? Ich dachte soeben daran, und als das Fräulein eintrat, warf sein Anblick einen neuen Schimmer auf eine verworrene Erinnerung … verzeihen Sie mir diesen Ausdruck.

 

Es ist nicht sehr wahrscheinlich, Fräulein von Villefort liebt die Gesellschaft nur wenig, und wir gehen selten aus, sagte die junge Frau.

 

Auch habe ich das Fräulein, sowie Sie, gnädige Frau, und diesen reizenden Jungen nicht in der Gesellschaft gesehen. Die Pariser Gesellschaft ist mir übrigens völlig unbekannt, denn ich habe, wie ich glaube, bereits die Ehre gehabt, Ihnen zu bemerken, daß ich erst seit ein paar Tagen in Paris bin. Nein, wenn Sie mir erlauben, einen Augenblick nachzudenken … Warten Sie …

 

Der Graf legte seine Hand an seine Stirn, als wollte er seine Erinnerungen zusammendrängen: Nein, es ist außerhalb … es ist … ich weiß nicht … aber es scheint mir, diese Erinnerung ist unzertrennlich von einer schönen Sonne und einem religiösen Feste … Das Fräulein hielt Blumen in der Hand; das Kind lief im Garten einem prächtigen Pfau nach, und Sie, gnädige Frau, saßen unter einer Weinlaube. Helfen Sie mir doch, gnädige Frau! Erinnern Sie sich an nichts?

 

In der Tat, nein, erwiderte Frau von Villefort.

 

Der Herr Graf hat uns vielleicht in Italien gesehen, bemerkte Valentine schüchtern.

 

In der Tat, in Italien … das ist möglich, sagte Monte Christo. Sie haben Italien bereist, mein Fräulein?

 

Frau von Villefort und ich waren vor zwei Jahren dort. Die Ärzte fürchteten für meine Brust und empfahlen mir die Luft in Neapel. Wir reisten nach Bologna, Perugia und Rom.

 

Ah! so ist es, mein Fräulein, rief Monte Christo, als genüge diese einfache Andeutung, um seine Erinnerungen festzustellen. Es war in Perugia am Tage des Fronleichnamsfestes, im Garten des Gasthauses zur Post, wo der Zufall uns zusammenführte, und wo ich, wie ich mich nun entsinne, Sie zu sehen die Ehre gehabt habe.

 

Ich erinnere mich der Stadt Perugia vollkommen, mein Herr, und ebenso des Gasthauses zur Post und des Festes, von dem Sie sprechen, sagte Fran von Villefort; aber ich entsinne mich ganz und gar nicht, die Ehre gehabt zu haben, Sie dort zu sehen.

 

Ich will Ihnen helfen, versetzte der Graf. Der Tag war glühend heiß; Sie erwarteten Pferde, die wegen der Feierlichkeit nicht kamen. Das Fräulein ging in den Garten, und Ihr Sohn lief einem Vogel nach. Sie, gnädige Frau, verweilten unter der Weinlaube; erinnern Sie sich nicht, daß Sie, auf einer Steinbank sitzend, ziemlich lange mit jemand plauderten?

 

Ja, wahrhaftig ja, sagte die junge Frau errötend, ich entsinne mich dessen, mit einem Manne, der in einen langen wollenen Mantel gehüllt war … mit einem Arzte, glaube ich.

 

Ganz richtig, dieser Mann war ich; ich wohnte in dem Gasthofe und hatte meinen Kammerdiener vom Fieber geheilt, weshalb man mich für einen Arzt hielt. Wir plauderten lange von gleichgültigen Dingen, von Perugino, von Raphael, von Sitten und Gebräuchen, von jener berüchtigten Aqua Tofana, von der man Ihnen, glaube ich, gesagt hatte, daß noch einige Personen in Perugia das Geheimnis bewahrten.

 

Ah! es ist wahr, sagte Frau von Villefort mit einer gewissen Unruhe, ich erinnere mich dessen.

 

Ich kann mich auf die Einzelheiten unserer Unterhaltung nicht mehr besinnen, versetzte der Graf mit vollkommener Ruhe, doch weiß ich noch, daß Sie, den allgemeinen Irrtum über meine Person teilend, mich über die Gesundheit von Fräulein von Villefort um Rat fragten.

 

Aber Sie waren wirklich Arzt, da Sie Kranke heilten?

 

Molière oder Beaumarchais würden Ihnen antworten, gnädige Frau, daß ich, gerade weil ich es nicht war, meine Kranken zwar nicht geheilt habe, aber sie nicht gehindert habe zu genesen; ich begnüge mich, Ihnen zu bemerken, daß ich ziemlich gründlich die Chemie und die Naturwissenschaften studiert habe, aber nur als Liebhaber.

 

In diesem Augenblick schlug es sechs Uhr.

 

Es ist sechs Uhr, sagte Frau von Villefort sichtbar erregt; willst du nicht sehen, Valentine, ob dein Großvater zur Mahlzeit bereit ist?

 

Valentine stand auf, verbeugte sich vor dem Grafen und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sprechen.

 

Oh! mein Gott, sollten Sie Fräulein von Villefort meinetwegen entfernt haben? sagte der Graf, als Valentine weggegangen war.

 

Durchaus nicht, erwiderte lebhaft die junge Frau; es ist die Stunde, wo wir Herrn Noirtier das traurige Mahl einnehmen lassen, das sein unglückliches Dasein fristet. Sie wissen, mein Herr, in welch einem beklagenswerten Zustande sich der Vater meines Gatten befindet?

 

Ja, gnädige Frau, Herr von Villefort hat mir davon gesagt; eine Lähmung, glaube ich.

 

Ach! ja, der arme Greis ist jeder Bewegung unfähig, die Seele allein wacht in dieser menschlichen Maschine, aber ebenfalls bleich und zitternd, und wie eine Lampe, die dem Erlöschen nahe ist. Doch verzeihen Sie, mein Herr, daß ich Sie mit unserem häuslichen Unglück unterhalte. Ich unterbrach Sie in dem Augenblick, wo Sie mir sagten, Sie seien ein geschickter Chemiker.

 

Oh! das sagte ich nicht, gnädige Frau, entgegnete lächelnd der Graf; im Gegenteil, ich studierte die Chemie, weil ich, entschlossen, im Orient zu leben, das Beispiel des Königs Mithridates befolgen wollte.

 

Mithridates, rex Ponticus, rief der junge Naseweis, während er Silhouetten aus einem herrlichen Album schnitt, derselbe, der jeden Morgen eine Tasse Gift mit Rahm frühstückte.

 

Eduard, abscheuliches Kind, laß uns allein! rief Frau von Villefort, das verstümmelte Buch den Händen des Knaben entreißend, und führte ihn zur Tür. Suche deine Schwester bei dem guten Papa Noirtier auf.

 

Der Graf folgte ihr mit den Augen und murmelte: Ich will doch sehen, ob sie die Tür hinter ihm schließt.

 

Frau von Villefort schloß die Tür mit der größten Behutsamkeit hinter ihrem Sohne, der Graf gab sich den Anschein, als bemerkte er es nicht. Dann schaute die junge Frau noch einmal aufmerksam umher und setzte sich wieder.

 

Erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, gnädige Frau, sagte der Graf mit gutmütigem Tone, erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie sehr streng gegen diesen reizenden Jungen sind.

 

Ich muß wohl, Herr Graf, erwiderte Frau von Villefort mit einem wahrhaft mütterlichen Ausdrucke.

 

Herr Eduard rezitierte seinen Cornelius Nepos, als er vom König Mithridates sprach, und Sie unterbrachen ihn bei Anführung einer Stelle, wodurch er bewies, daß sein Lehrer die Zeit nicht mit ihm verloren hat.

 

Es ist nicht zu leugnen, Herr Graf, sagte die Mutter geschmeichelt, daß er alles lernt, was er lernen will. Er hat nur den Fehler, daß er zu eigensinnig ist. Doch um auf das zu kommen, was er vorhin sagte, glauben Sie, Herr Graf, daß sich Mithridates dieser Vorsichtsmaßregeln bediente, und daß dieselben wirksam sind?

 

Ich glaube so sehr daran, gnädige Frau, daß ich selbst, der ich mit Ihnen spreche, in Neapel, in Palermo und in Smyrna, das heißt, bei drei Veranlassungen, wo ich ohne diese Vorsichtsmaßregeln mein Leben hätte lassen können, davon Gebrauch gemacht habe.

 

Ja, es ist wahr; ich erinnere mich, daß Sie mir bereits etwas Ähnliches in Perugia erzählten.

 

Wirklich? rief der Graf mit einem bewunderungswürdig gespielten Erstaunen; ich entsinne mich dessen nicht. Es ist wahr, ich habe Russen, ohne im geringsten dadurch belästigt zu werden, vegetabilische Substanzen verschlingen sehen, die unfehlbar einen Neapolitaner oder einen Araber umgebracht hätten.

 

Sie glauben also, der Erfolg sei bei uns noch sicherer, als im Orient, und in unserm nebeligen und regnerischen Klima gewöhne sich ein Mensch leichter an diese stufenweise Einsaugung des Giftes als in der heißen Zone?

 

Allerdings: doch wohl verstanden, man wird nur gegen das Gift geschützt sein, an das man sich gewöhnt hat?

 

Ich begreife; und wie würden Sie sich daran gewöhnen oder vielmehr, wie haben Sie sich daran gewöhnt?

 

Das ist ganz leicht. Nehmen Sie an, Sie wüßten zum voraus, welches Giftes man sich gegen Sie bedienen will, nehmen Sie an, dieses Gift sei … Brucin zum Beispiel.

 

Das Brucin zieht man, glaube ich, aus der falschen Angosturarinde, sagte Frau von Villefort.

 

Ganz richtig, gnädige Frau; aber ich sehe, ich brauche Sie nicht mehr viel zu lehren, und mache Ihnen mein Kompliment; solche Kenntnisse sind selten bei Frauen.

 

Oh! ich gestehe, erwiderte Frau von Villefort, ich habe die heftigste Leidenschaft für die verborgenen Wissenschaften, die wie Poesie zur Einbildungskraft sprechen und sich wie eine algebraische Gleichung in Ziffern auflösen; ich bitte Sie, fahren Sie fort! Was Sie mir sagen, interessiert mich im höchsten Grade.

 

Nun wohl, fuhr Monte Christo fort, nehmen Sie an, dieses Gift sei Brucin, und Sie nehmen am ersten Tage ein Milligramm, am zweiten zwei Milligramm, so haben Sie nach Verlauf von zehn Tagen ein Zentigramm, nach Verlauf von weiteren zwanzig Tagen drei Zentigramm, das heißt eine Dosis, die bereits für eine nicht ebenso vorbereitete Person sehr gefährlich wäre. Nach Verlauf eines Monats endlich werden Sie, wenn Sie Wasser aus derselben Flasche trinken, die Person töten, die zugleich mit Ihnen von diesem Wasser getrunken hat, ohne an etwas anderem als an einer leichten Unbehaglichkeit wahrzunehmen, daß irgend eine giftige Substanz mit dem Wasser vermischt gewesen ist.

 

Sie kennen kein anderes Gegengift?

 

Ich kenne keines.

 

Ich habe oft Mithridates‘ Geschichte gelesen, hielt sie aber stets für eine Fabel, sagte Frau von Villefort nachdenkend.

 

Nein, es ist ausnahmsweise eine Wahrheit; doch was Sie mich da fragen, gnädige Frau, ist nicht das Resultat einer bloßen Laune, denn Sie richteten bereits vor zwei Jahren ähnliche Fragen an mich, und Sie sagen mir soeben, seit langer Zeit beschäftige Sie Mithridates‘ Geschichte.

 

Es ist wahr, die Lieblingsstudien meiner Jugend waren Botanik und Mineralogie, und als ich später erfuhr, die Anwendung einfacher Heilmittel erkläre häufig die ganze Geschichte der Völker und das ganze Leben der Menschen des Orients, so bedauerte ich, daß ich kein Mann bin, um ein Fontana oder ein Cabanis zu werden.

 

Um so mehr, versetzte Monte Christo, als die Orientalen sich, nicht, wie Mithridates, damit begnügen, sich aus den Giften einen Panzer zu machen, sondern sich auch einen Dolch daraus bilden. Die Wissenschaft wird in ihren Händen nicht allein eine Verteidigungs-, sondern häufig auch eine Angriffswaffe, die eine dient gegen die physischen Leiden, die andere gegen ihre Feinde; mit dem Opium, mit der Belladonna, mit dem Haschisch verschaffen sie sich im Traume das Glück, das ihnen Gott in Wirklichkeit verweigert hat; mit dem Schlangenholz, mit dem Kirschlorbeer schläfern sie die ein, die sie gern stumm machen wollen.

 

Wirklich! rief Frau von Villefort, deren Augen bei diesem Gespräche von einem seltsamen Feuer erglänzten.

 

Ei, mein Gott! ja, gnädige Frau, fuhr Monte Christo fort, die geheimen Dramen des Orients entstehen und entwickeln sich so: von der Pflanze, die Liebe erregt, bis zur Pflanze, die den Tod bringt; von dem Tranke, der den Himmel öffnet, bis zu dem, der einen Menschen in die Hölle versenkt; und die Kunst dieser Chemiker versteht es bewundernswert, das Mittel und das Übel den Liebesbedürfnissen und dem Verlangen der Rache anzupassen.

 

Aber, mein Herr, die orientalische Gesellschaft, in deren Mitte Sie einen Teil Ihres Lebens zugebracht haben, ist also wirklich phantastisch wie die Märchen, die aus Ihrem schönen Lande zu uns kommen? Ein Mensch kann dort ungestraft aus dem Wege geschafft werden? Die Sultane sind in der Tat Harun al Raschids, die nicht nur einem Giftmischer vergeben, sondern ihn sogar zum ersten Minister machen, wenn das Verbrechen geistreich ist?

 

Nein, gnädige Frau, das Phantastische besteht nicht einmal mehr im Orient, es gibt auch dort, unter anderen Namen und unter anderen Kostümen Polizeikommissare, Untersuchungsrichter, Staatsanwälte und Sachverständige. Man hängt, man köpft, man spießt dort die Verbrecher nach Herzenslust; aber als gewandte Betrüger wußten diese Leute die menschliche Gerechtigkeit zu vereiteln und sich den Erfolg ihrer Unternehmungen durch geschickte Berechnungen zu sichern. Will bei uns der vom bösen Geist des Hasses oder der Habgier Besessene einen Feind vernichten oder einen Verwandten auf die Seite schaffen, so geht er zum Apotheker, gibt einen falschen Namen an, durch den er leichter entdeckt wird, als durch seinen wahren, und kauft, unter dem Vorwande, Ratten störten ihn im Schlafe, fünf bis sechs Gramm Arsenik. Ist er sehr geschickt, so geht er zu fünf bis sechs Apothekern und wird nun fünf- bis sechsmal leichter erkannt. Besitzt er dann sein spezifisches Mittel, so flößt er seinem Feinde, seinem Verwandten eine Dosis Arsenik ein, wovon ein Mammut umkommen würde, so daß das Opfer ohne alles weitere ein Gebrüll ausstößt, worüber die ganze Gegend in Aufruhr gerät. Dann kommt eine ganze Heerschar von Polizeiagenten und Gendarmen; man schickt nach einem Arzte, der den Toten öffnet und in seinen Eingeweiden das Arsenik mit Löffeln sammelt. Am andern Tag erzählen hundert Zeitungen die Begebenheit, samt dem Namen des Opfers und des Mörders. Schon an demselben Abend kommen die Apotheker und sagen: Ich habe das Arsenik an den Herrn verkauft; und dann wird der einfältige Verbrecher verhaftet, eingekerkert, verhört, konfrontiert, verurteilt und guillotiniert; ist es aber eine Frau von einiger Bedeutung, so wird sie auf Lebenszeit eingesperrt. So verstehen Ihre Nordländer die Chemie, gnädige Frau.

 

Was wollen Sie! rief lachend die junge Frau, man tut, was man kann. Nicht alle Welt besitzt das Geheimnis der Medici oder der Borgia.

 

Wie ist es aber im Orient, gnädige Frau? Kommen Sie nach Aleppo oder auch nur nach Neapel und Rom, und Sie sehen durch die Straßen aufrechte, frische Menschen schreiten, von denen ihnen der hinkende Teufel sagen könnte: Dieser Herr ist seit drei Wochen vergiftet und wird in einem Monat völlig tot sein.

 

Sie haben also das Geheimnis der berüchtigten Aqua Tofana wiedergefunden, von dem man mir in Perugia sagte, es sei verloren gegangen?

 

Ei, mein Gott! verliert sich etwas bei den Menschen, gnädige Frau? Die Künste rücken von der Stelle und wandern durch die Welt; die Dinge verändern nur ihren Namen, und der gemeine Haufe läßt sich dadurch täuschen; aber es ist immer dasselbe Resultat. Jedes Gift wirkt besonders auf dieses oder jenes Organ, das eine auf den Magen, das andere auf das Gehirn, und wieder ein anderes auf die Eingeweide. Gut, das Gift bewirkt einen Husten, dieser Husten eine Brustentzündung oder irgend eine andere Krankheit, die im Buche der Wissenschaft eingetragen ist, was sie aber nicht abhält, vollkommen tödlich zu sein. Wäre sie es nicht, so würde sie es durch die Mittel, welche die naiven Ärzte, gewöhnlich sehr schlechte Chemiker, anwenden; und so ist ein Mensch mit Kunst und nach allen Regeln getötet, wogegen die Justiz nichts einzuwenden hat, wie einer meiner Freunde, ein furchtbarer Chemiker, der ausgezeichnete Abbé Adelmonte von Taormina in Sizilien, sagte.

 

Das ist schrecklich, aber bewunderungswürdig, ich muß gestehen, ich hielt alle diese Geschichten für Erfindungen des Mittelalters. Es ist ein Glück, sagte Frau von Villefort, daß solche Substanzen nur von Chemikern bereitet werden können, denn, in der Tat, die eine Hälfte der Welt würde die andere vergiften.

 

Durch Chemiker oder durch Personen, die sich mit der Chemie beschäftigen, erwiderte mit gleichgültigem Tone Monte Christo.

 

Und dann, sagte Frau von Villefort, sich mit aller Gewalt ihren Gedanken entreißend, so geistreich es auch ausgeführt sein mag, so bleibt das Verbrechen doch immer Verbrechen, und wenn es der menschlichen Nachforschung entgeht, so entgeht es nicht dem Auge Gottes. Die Orientalen sind gewissenloser als wir; sie kennen keine Hölle. Bei uns aber bleibt immer das Gewissen noch übrig.

 

Ja, ja, erwiderte Monte Christo, zum Glück bleibt das Gewissen noch übrig, sonst wären wir sehr unglücklich. Nach jeder etwas kräftigen Handlung rettet uns das Gewissen, denn es liefert uns tausend gute Entschuldigungen, über die wir allein zu Gericht sitzen, und diese Gründe, so vortrefflich sie auch sein mögen, um uns den Schlaf zu gestatten, wären doch vielleicht nicht viel wert, wenn sie uns vor einem Tribunal das Leben retten sollten. So mußte Richard III. vortrefflich von seinem Gewissen bedient sein, nachdem er die Kinder Eduards IV. auf die Seite geschafft hatte. Er konnte sich in der Tat sagen: Diese Kinder eines grausamen und rachsüchtigen Königs hatten alle Laster ihres Vaters geerbt, was ich allein in ihren jugendlichen Neigungen zu erkennen imstande war, diese Kinder hinderten mich, das englische Volk glücklich zu machen, das sie unfehlbar unglücklich gemacht hätten. So wurde Lady Macbeth von ihrem Gewissen bedient, denn sie wollte, was auch Shakespeare gesagt hat, nicht ihrem Gemahle, sondern ihrem Sohne einen Thron geben. Ah! die mütterliche Liebe ist eine große Tugend, eine so mächtige Triebfeder, daß sie gar viele Dinge entschuldigt; Lady Macbeth wäre auch nach dem Tode Duncans ohne ihr Gewissen eine sehr unglückliche Frau gewesen.

 

Frau von Villefort nahm mit größter Gier diese furchtbaren Grundsätze, diese schauderhaften Behauptungen in sich auf, die der Graf mit der ihm eigentümlichen naiven Ironie aussprach.

 

Nach einem Augenblick des Stillschweigens sagte sie: Wissen Sie, Herr Graf, daß Sie ein furchtbarer Geist sind, und daß Sie die Welt unter einem etwas leichenfarbigen Lichte ansehen? Haben Sie dieses Urteil über die Menschheit gewonnen, indem Sie sie durch Destillierkolben und Retorten betrachteten? Denn Sie hatten recht, Sie sind ein großer Chemiker, und das Elixier, das Sie meinen Sohn nehmen ließen, rief ihn so schnell zum Leben zurück …

 

Oh! trauen Sie ihm nicht, sagte Monte Christo, ein Tropfen von diesem Elixier genügte, um den sterbenden Knaben ins Leben zurückzurufen; aber drei Tropfen hätten das Blut so nach seiner Lunge getrieben, daß sein Herz gar gewaltig geschlagen hätte; sechs hätten ihm den Atem versetzt und eine viel ernstere Ohnmacht verursacht, als die war, in der Sie ihn erblickten, und zehn würden ihn getötet haben. Sie wissen, gnädige Frau, wie rasch ich ihn von den Flaschen entfernte, die er unklugerweise berührte?

 

Es ist also ein furchtbares Gift?

 

Oh, mein Gott! nein! Räumen wir vor allem das Wort Gift beiseite, denn man bedient sich in der Medizin der stärksten Gifte, die durch die Art, wie man sie anwendet, sehr heilsame Arzneimittel werden.

 

Was war es denn?

 

Ein geistreiches Präparat von meinem Freunde, dem vortrefflichen Adelmonte, dessen Anwendung er mich gelehrt hat.

 

Das muß ein vortreffliches Mittel gegen Krämpfe sein!

 

Ausgezeichnet, gnädige Frau, ich mache häufig Gebrauch davon; versteht sich mit aller möglichen Vorsicht, fügte der Graf lachend hinzu.

 

Ich glaube es wohl, versetzte Frau von Villefort in demselben Tone. Ich meinesteils, die so sehr zu Ohnmächten geneigt ist, könnte wohl einen Doktor Adelmonte brauchen, der mir Mittel ersänne, daß ich frei atmen und mich über die Gefahr, eines Tags an Erstickung zu sterben, beruhigen könnte. Da jedoch die Sache in Frankreich schwer zu finden ist und Ihr Abbé mir zuliebe wohl nicht geneigt sein wird, die Reise nach Paris zu machen, so halte ich mich an die krampfstillenden Mittel des Herrn Blanche; auch Minze und Hoffmannsche Tropfen spielen eine große Rolle bei mir. Sehen Sie die Pastillen, die ich mir besonders machen lasse, sind von doppelter Dosis.

 

Monte Christo eröffnete die Schildpattbüchse, die ihm die junge Frau reichte, und zog den Geruch der Pastillen als ein würdiger Kenner dieses Präparates ein.

 

Sie sind ausgezeichnet, sagte er, aber sie müssen verschluckt werden, wozu die ohnmächtige Person oft nicht mehr imstande ist. Mein Spezifikum ist mir lieber.

 

Nach der Wirkung, die ich davon gesehen habe, würde ich es gewiß auch vorziehen, doch es ist ohne Zweifel ein Geheimnis, und ich bin nicht unbescheiden genug, Sie darum zu bitten.

 

Aber ich, gnädige Frau, sagte Monte Christo, gestatte mir, es Ihnen anzubieten.

 

Oh, mein Herr …

 

Nur erinnern Sie sich, daß eine kleine Dosis ein Heilmittel, eine große Gift ist. Ein Tropfen bringt wieder zum Leben, fünf oder sechs müßten unfehlbar töten, und zwar auf eine um so schrecklichere Weise, als sie in einem Glase Wein nicht im geringsten den Geschmack verändern. Doch ich schweige, gnädige Frau, denn es sieht bald so aus, als wollte ich Ihnen raten.

 

Es hatte halb sieben Uhr geschlagen; man meldete eine Freundin der Frau von Villefort, die mit ihr zu Mittag speisen sollte.

 

Wenn ich die Ehre hätte, Sie zum dritten oder vierten Male, statt zum zweiten Male zu sehen, Herr Graf, sagte Frau von Villefort, wenn ich die Ehre hätte, mich Ihre Freundin nennen zu dürfen, statt nur einfach das Glück zu haben, Ihnen verbunden zu sein, so würde ich darauf bestehen, Sie beim Mittagsessen zu behalten, und ließe mich nicht durch eine Weigerung abweisen.

 

Tausend Dank, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo, ich habe selbst eine Verbindlichkeit, der ich mich nicht entziehen kann. Ich versprach einer mir befreundeten griechischen Fürstin, die noch nie die große Oper gesehen hat und in dieser Hinsicht auf mich zählt, sie ins Theater zu führen.

 

Gehen Sie, Herr Graf, aber vergessen Sie mein Rezept nicht!

 

Wie, gnädige Frau, dazu müßte ich die Stunde vergessen, die ich mit Ihnen im Gespräche zugebracht habe, und das ist völlig unmöglich. Der Graf von Monte Christo verbeugte sich und verließ den Salon.

 

Frau von Villefort blieb in Träume versunken.

 

Wahrlich, ein seltsamer Mann! sagte sie, er sieht mir ganz aus, als hieße er mit seinem wirklichen Namen Adelmonte.

 

Was Monte Christo betrifft, so hatte der Erfolg seine Erwartungen übertroffen.

 

Das ist ein guter Boden, sagte er im Weggehen zu sich selbst, ich bin überzeugt, daß das Korn, das man daraus fallen läßt, nicht unfruchtbar bleibt.

 

Und am andern Tage schickte er seinem Versprechen getreu das verlangte Elixier.

 

Robert der Teufel.

 

Robert der Teufel.

 

Der Vorwand des Opernbesuchs war um so näherliegend, als am Abend eine Feierlichkeit in der Akademie royale de Musique stattfinden sollte.

 

Morcerf hatte, wie die meisten reichen jungen Leute, seinen Orchestersperrsitz und konnte außerdem in zehn Logen von Personen seiner Bekanntschaft einen Platz haben. Chateau-Renaud hatte seinen Sperrsitz zunächst bei ihm. Beauchamp hatte als Journalist seinen Platz überall.

 

Lucien Debray war an diesem Tage die Loge des Ministers zur Verfügung gestellt, und er hatte sie dem Grafen von Morcerf angeboten, der auf Mercedes‘ Ablehnung zu Danglars schickte und ihm sagen ließ, er würde wahrscheinlich am Abend der Baronin und ihrer Tochter einen Besuch machen, wenn die Damen die Loge, die er ihnen antrage, annehmen wollten. Die Damen hüteten sich wohl, die Einladung auszuschlagen. Niemand ist so lüstern nach Logen, die nichts kosten, als ein Millionär. Was Danglars betrifft, so erklärte dieser, seine politischen Grundsätze und seine Eigenschaft als oppositioneller Abgeordneter erlaubten ihm nicht, in die Loge des Ministers zu gehen. Die Baronin schrieb sogleich Lucien, er möge sie abholen, da sie nicht allein mit Eugenie in die Oper fahren könnte.

 

In der Tat, wären die beiden Frauen allein gekommen, so hätte man das sicherlich sehr anstößig gefunden. Wenn aber Fräulein Danglars mit ihrer Mutter und deren Liebhaber erschien, so war dagegen nichts einzuwenden; man muß die Welt nehmen, wie sie ist.

 

Ah! ah! sagte Chateau-Renaud, dort sind Personen Ihrer Bekanntschaft, Vicomte. Was zum Teufel schauen Sie denn rechts! Man sieht Sie.

 

Albert wandte sich um, und seine Augen begegneten wirklich denen der Baronin Danglars, die ihn leicht mit dem Fächer begrüßte. Was Fräulein Eugenie betrifft, so senkten sich ihre großen, schwarzen Augen kaum bis zum Orchester.

 

In der Tat, mein Lieber, fuhr Chateau-Renaud fort, ich begreife nicht, was Sie, abgesehen von der Mesalliance, gegen Fräulein Danglars einzuwenden haben; es ist wirklich eine sehr hübsche Person.

 

Allerdings sehr hübsch, erwiderte Albert; doch ich muß Ihnen gestehen, daß ich in Beziehung auf Schönheit etwas Milderes, Zarteres, Weiblicheres vorziehen würde.

 

So sind die jungen Leute, versetzte Chateau-Renaud, der sich als ein Mann von dreißig Jahren Morcerf gegenüber ein väterliches Ansehen gab; Sie sind nie zufrieden. Wie, mein Lieber, man findet für Sie eine Braut, die nach dem Muster Dianas geschaffen scheint, und Sie fühlen sich dadurch nicht befriedigt!

 

Das ist es gerade, ich hätte mir lieber etwas in der Art der Venus von Milo gewünscht. Stets mitten unter ihren Nymphen, erschreckt mich diese Diana ein wenig; ich fürchte, sie könnte mich als Actäon behandeln.

 

In der Tat, ein Blick auf das Mädchen erklärte zum Teil Morcerfs Gefühl. Fräulein Danglars war schön, aber von einer etwas starren Schönheit. Ihre Haare waren sehr schwarz, doch in ihren natürlichen Wellen bemerkte man einen gewissen Widerstand gegen die Hand, die ihnen ihren Willen aufnötigen wollte; ihre Augen, schwarz wie die Haare, überwölbt von herrlichen Brauen, die nur den Fehler hatten, daß sie sich zuweilen zusammenzogen, waren besonders merkwürdig durch einen Ausdruck von Festigkeit, den man in dem Blicke eines Mädchens erstaunlich finden mußte. Ihr Mund war etwas groß, aber mit schönen Zähnen geschmückt, welche ihre Lippen noch bedeutend hervorhoben, deren zu lebhaftes Rot von der Blässe ihrer Gesichtsfarbe stark abstach. Ein schwarzes Mal endlich an der Ecke des Mundes verlieh vollends dieser Physiognomie den entschiedenen Charakter, der Morcerf ein wenig erschreckte. Alles übrige an ihr stand indessen im Einklang mit dem Kopf. Sie war, wie Chateau-Renaud sagte, die jagende Diana, nur mit etwas noch Festerem, noch Muskulöserem in ihrer Schönheit.

 

Ihre Erziehung schien, wie gewisse Züge ihrer Physiognomie, einen mehr männlichen Charakter zu tragen. Sie sprach mehrere Sprachen, zeichnete sehr leicht, machte Verse und komponierte; besonders leidenschaftlich war sie für die Musik eingenommen, die sie mit einer ihrer Freundinnen aus der Pension studierte, einer jungen Person ohne Vermögen, die jedoch alle Anlagen hatte, eine vortreffliche Sängerin zu werden. Ein großer Komponist hegte, wie man sagte, für sie eine mehr als väterliche Teilnahme, und hatte ihr die Hoffnung eingeflößt, sie würde eines Tags ein Kapital in ihrer Stimme finden.

 

Die Möglichkeit, daß Fräulein Lucie d’Armilly, so hieß die junge Künstlerin, später einmal auf der Bühne auftrat, veranlaßte Fräulein Danglars, wenn sie auch das junge Mädchen bei sich empfing, sich doch nie öffentlich in seiner Gesellschaft zu zeigen. Ohne indessen in dem Hause des Bankiers die unabhängige Stellung einer Freundin der Tochter des Hauses zu haben, nahm Lucie immerhin einen höheren Rang ein, als den einer gewöhnlichen Lehrerin.

 

Einige Sekunden nach dem Eintritt der Baronin Danglars sahen die jungen Leute, daß das Parterre sich erhoben hatte und aller Augen sich auf einen Punkt richteten; ihre Blicke folgten der allgemeinen Richtung und hafteten an der Loge des ehemaligen russischen Botschafters. Ein Mann in schwarzer Kleidung von etwa vierzig Jahren war mit einer Frau in orientalischem Kostüm eingetreten. Die Frau war von der höchsten Schönheit und das Kostüm auffallend reich.

 

Ah! rief Albert, es ist Monte Christo mit seiner Griechin.

 

Es waren wirklich der Graf und Haydee. Nach weniger als einer Minute war die junge Frau der Gegenstand der Aufmerksamkeit des ganzen Saales; die Frauen neigten sich aus ihren Logen heraus, um unter dem Feuer des Kronenleuchters diese Kaskade von Diamanten funkeln zu sehen.

 

Der zweite Akt ging unter dem dumpfen Geräusche vorüber, das bei versammelten Massen ein großes Ereignis andeutet. Niemand dachte daran, Stillschweigen zu fordern. Diese junge, schöne, blendende Frau war das seltsamste Schauspiel, das man sehen konnte.

 

Diesmal deutete ein Zeichen von Frau Danglars Albert unzweideutig an, daß er erwartet werde. Sobald der Akt beendigt war, eilte er auf die Vorbühne. Er begrüßte die beiden Frauen und reichte Debray die Hand.

 

Die Baronin empfing ihn mit reizendem Lächeln und Eugenie mit ihrer gewöhnlichen Kälte.

 

Meiner Treu, Freund, sagte Debray, Sie sehen in mir einen ganz erschöpften Menschen, der Sie um Hilfe ruft, um wieder zu Kräften zu kommen. Die Frau Baronin drückt mich zu Boden mit Fragen über den Grafen, und ich soll wissen, von wo er ist, woher er kommt und wohin er geht; ich bin, bei Gott, kein Cagliostro, und um mich aus der Klemme zu ziehen, sagte ich: Fragen Sie Morcerf, er kennt seinen Monte Christo an den Fingern auswendig. Hierauf machte man Ihnen ein Zeichen.

 

Ist es denn glaublich, sagte die Baronin, daß man, wenn man eine halbe Million geheime Fonds zur Verfügung hat, nicht besser unterrichtet ist?

 

Gnädige Frau, entgegnete Lucien, ich bitte Sie, zu glauben, daß ich, wenn ich eine halbe Million zu meiner Verfügung hätte, sie zu etwas anderem verwenden würde, als über Herrn Monte Christo Erkundigungen einzuziehen, denn in meinen Augen hat er kein anderes Verdienst, als daß er zweimal so reich ist, als ein Nabob. Ich habe meinem Freunde Morcerf das Wort abgetreten, besprechen Sie sich mit ihm … mich geht es nichts mehr an.

 

Ein Nabob hätte mir sicherlich nicht ein Paar Pferde von dreißigtausend Franken, nebst vier Diamanten an den Ohren, von denen jeder fünftausend Franken wert ist, zugeschickt!

 

Oh! was die Diamanten betrifft, erwiderte lachend Morcerf, das ist seine Manie. Ich glaube, daß er, wie Potemkin, stets Diamanten in seinen Taschen trägt und sie auf seinem Wege ausstreut, wie es der kleine Däumling mit seinen Kieselsteinen machte.

 

Er wird eine Mine gefunden haben, sagte Frau Danglars. Sie wissen, daß er einen unumschränkten Kredit auf das Haus des Barons hat.

 

Nein, das wußte ich nicht, aber es muß so sein, versetzte Albert.

 

Und daß er Herrn Danglars ankündigte, er gedenke, ein Jahr in Paris zu bleiben und hier sechs Millionen auszugeben!

 

Er ist der Schah von Persien, der inkognito reist.

 

Und diese Frau, Herr Lucien, fragte Eugenie, haben Sie bemerkt, wie schön sie ist?

 

In der Tat, mein Fräulein, ich kenne niemand, der den Personen Ihres Geschlechts so volle Gerechtigkeit widerfahren läßt, wie Sie.

 

Lucien hielt sein Lorgnon an das Auge und rief: Reizend, in der Tat, reizend!

 

Und weiß Herr von Morcerf, wer sie ist?

 

Mein Fräulein, sagte Albert, auf diese fast unmittelbare Aufforderung erwidernd; ich weiß es so ungefähr, wie alles, was die geheimnisvolle Person betrifft, mit der wir uns beschäftigen. Diese Frau ist eine Griechin.

 

Das sieht man leicht an ihrer Tracht, und Sie sagen mir nichts, was nicht bereits der ganze Saal so gut wüßte, wie wir.

 

Es tut mir leid, daß ich ein so unwissender Cicerone bin, entgegnete Morcerf; doch ich muß gestehen, daß sich meine Kenntnisse hierauf beschränken. Ich weiß überdies nur noch, daß sie vortrefflich musikalisch ist, denn als ich eines Tages bei dem Grafen frühstückte, hörte ich die Töne einer Guzla, die nur von ihr kommen konnten.

 

Ihr Graf empfängt also? fragte Frau Danglars.

 

Und zwar auf eine glänzende Weise, das schwöre ich Ihnen.

 

Ich muß Herrn Danglars bewegen, ihn zum Diner und zum Ball einzuladen, damit er uns ähnliches bietet.

 

Wie! Sie wollen ihn besuchen? sagte Debray lachend.

 

Warum nicht? Mit meinem Manne!

 

Aber der geheimnisvolle Graf ist Junggeselle.

 

Sie sehen, daß dies nicht der Fall ist, entgegnete die Baronin, ebenfalls lachend und auf die schöne Griechin deutend.

 

Diese Frau ist eine Sklavin, wie er uns, Sie erinnern sich, Morcerf, bei Ihrem Frühstück selbst gesagt hat?

 

Gestehen Sie, mein lieber Lucien, sagte die Baronin, daß sie vielmehr das Aussehen einer Prinzessin hat.

 

Aus Tausendundeiner Nacht.

 

Aus Tausendundeiner Nacht, das sage ich nicht; doch was macht eine Prinzessin aus, mein Lieber? Die Diamanten, und damit ist sie zur Genüge bedeckt.

 

Sie hat sogar zu viele Diamanten an sich, sagte Eugenie; sie wäre schöner ohnedies, denn man würde ihren Hals und ihre reizend geformten Handgelenke sehen. Oh, die Künstlerin! Sehen Sie, wie leidenschaftlich sie wird! sagte Frau Danglars.

 

Ich liebe alles, was schön ist, sagte Eugenie.

 

Aber was sagen Sie denn zu dem Grafen? fragte Debray, es scheint mir, er ist auch nicht übel.

 

Der Graf, entgegnete Eugenie, als wäre es ihr noch nicht eingefallen, ihn anzuschauen, der Graf ist sehr bleich.

 

Gerade in dieser Blässe liegt das Geheimnis, das wir suchen, sagte Morcerf. Die Ihnen bekannte Gräfin die dort in der Seitenloge sitzt, behauptet, wie Sie wissen, er sei ein Vampir.

 

Morcerf, Sie sollten Ihrem Grafen von Monte Christo einen Besuch machen und ihn zu uns bringen, sagte Frau Danglars.

 

Warum? fragte Eugenie.

 

Damit wir mit ihm sprechen könnten; bist du nicht begierig, ihn zu sehen?

 

Nicht im geringsten.

 

Seltsames Kind! murmelte die Baronin.

 

Oh! er wird wohl von selbst kommen, sagte Morcerf. Er hat Sie gesehen, gnädige Frau, und grüßt Sie soeben.

 

Die Baronin gab dem Grafen seinen Gruß mit einem reizenden Lächeln zurück.

 

Wohl, ich opfere mich, sagte Morcerf; ich verlasse Sie und will sehen, ob es nicht möglich ist, mit ihm zu sprechen.

 

Das ist ganz einfach, gehen Sie in seine Loge.

 

Ich bin nicht vorgestellt.

 

Wem?

 

Der schönen Griechin.

 

Es ist eine Sklavin, sagen Sie.

 

Doch Sie behaupten, es sei eine Prinzessin … Nein! … ich hoffe, wenn er mich hinausgehen sieht, wird er auch hinausgehen.

 

Es ist möglich. Gehen Sie!

 

Ich gehe, sagte Morcerf und ging hinaus. In dem Augenblick, wo er an der Loge des Grafen vorüberkam, öffnete sich wirklich die Tür; der Graf sagte einige arabische Worte zu Ali, der im Flur stand, und nahm Morcerf am Arme.

 

Ali schloß die Tür wieder und stellte sich davor; es bildete sich im Gange eine ganze Versammlung um den Nubier.

 

In der Tat, sagte Monte Christo, Ihr Paris ist eine seltsame Stadt, und Ihre Pariser sind ein seltsames Volk. Schauen Sie, wie sie sich um Ali drängen, der nicht weiß, was das bedeuten soll.

 

Glauben Sie mir, daß sich Ali dieser Popularität nur erfreut, weil er Ihnen gehört und Sie in diesem Augenblick der Mann der Mode sind.

 

Wirklich? Und was erwirbt mir diese Gunst?

 

Bei Gott! Sie selbst. Sie verschenken Gespanne von tausend Louisd’or; Sie retten Staatsanwaltsfrauen das Leben; Sie lassen unter dem Namen Major Black Vollblutpferde mit Jockeys so groß wie Quistitis rennen.

 

Und wer zum Teufel hat Ihnen alle diese Tollheiten erzählt?

 

Zuerst, Frau Danglars, die vor Verlangen stirbt, Sie in Ihrer Loge zu sehen; sodann das Journal von Beauchamp und endlich meine eigene Einbildungskraft. Warum nennen Sie Ihr Rennpferd Vampa, wenn Sie das Inkognito behaupten wollen?

 

Ah! Sie haben recht, das war eine Unklugheit. Doch sagen Sie mir, kommt der Graf von Morcerf nicht auch zuweilen in die Oper? Ich habe ihn überall mit den Augen gesucht und nirgends bemerkt.

 

Ich glaube, er wird heute abend in die Loge der Baronin kommen.

 

Die reizende Person, welche bei ihr sitzt, ist ihre Tochter?

 

Ja.

 

Ich mache Ihnen mein Kompliment. Doch mein lieber Graf, wir sprechen später hiervon. Was sagen Sie aber zu der Musik? Morcerf lächelte und erwiderte: Zu welcher Musik?

 

Zu der, die Sie soeben gehört haben.

 

In diesem Augenblick ertönte das Glöckchen.

 

Sie werden mich entschuldigen, sagte der Graf, nach seiner Loge zurückkehrend.

 

Wie, Sie gehen?

 

Sagen Sie der Gräfin G …, wenn Sie sie sprechen, viel Schönes von ihrem Vampir.

 

Und der Baronin?

 

Ich werde die Ehre haben, wenn sie es mir erlaubt, ihr heute abend meine Aufwartung zu machen.

 

Während des dritten Aktes fand sich der Graf von Morcerf, wie er versprochen hatte, bei Frau Danglars ein. Der Graf war keiner von den Menschen, die in einem Saale einen Aufruhr hervorbringen; auch bemerkte niemand seine Ankunft außer den Personen in seiner Loge.

 

Monte Christo sah ihn indessen, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.

 

Haydee sah nichts, solange der Vorhang ausgezogen war; wie jede Urnatur betete sie alles an, was zum Ohr und zum Gesicht spricht.

 

Nach dem dritten Akt verließ der Graf seine Loge und erschien einen Augenblick nachher in der der Baronin Danglars.

 

Die Baronin konnte sich nicht enthalten, einen Schrei freudigen Erstaunens auszustoßen.

 

Ah! Sie kommen, Herr Graf, rief sie; es drängte mich in der Tat, meinen mündlichen Dank dem schriftlichen hinzuzufügen, den ich bereits bei Ihnen abgestattet habe.

 

Oh! gnädige Frau! Sie erinnern sich noch dieser Kleinigkeit? Ich hatte sie bereits vergessen, sagte der Graf.

 

Ja; aber das vergißt man nicht, Herr Graf, daß Sie am andern Tage meine arme Freundin aus der Gefahr errettet haben, der sie durch eben diese Pferde preisgegeben war.

 

Auch diesmal, gnädige Frau, verdiene ich Ihren Dank nicht; es war Ali, mein Nubier, der das Glück hatte, Frau von Villefort diesen ausgezeichneten Dienst zu leisten.

 

War es auch Ali, der meinen Sohn den Händen der römischen Banditen entriß? sagte der Graf von Morcerf.

 

Nein, Herr Graf, sagte Monte Christo, die Hand drückend, die ihm der General reichte, nein, diesmal nehme ich den Dank für meine Rechnung an; aber Sie haben mir diesen Dank bereits abgestattet, und ich habe ihn angenommen, und es beschämt mich in der Tat, daß ich Sie noch erkenntlich finde. Ich bitte Sie, erweisen Sie mir die Ehre, Frau Baronin, mich Ihrer Fräulein Tochter vorzustellen.

 

Oh! Sie sind schon vorgestellt, wenigstens dem Namen nach, denn seit einigen Tagen sprechen wir nur von Ihnen. Eugenie, fuhr die Baronin, sich gegen ihre Tochter umwendend, fort, der Herr Graf von Monte Christo.

 

Der Graf verbeugte sich; Fräulein Danglars machte eine leichte Bewegung mit dem Kopfe.

 

Sie haben eine bewunderungswürdige Person bei sich, sagte Eugenie, ist es Ihre Tochter?

 

Nein, mein Fräulein, erwiderte Monte Christo, erstaunt über diese außerordentliche Offenherzigkeit oder diese merkwürdige Entschiedenheit, es ist eine arme Griechin, deren Vormund ich bin.

 

Und sie heißt?

 

Haydee, antwortete Monte Christo.

 

Eine Griechin! murmelte der Graf von Morcerf.

 

Ja, Graf, sagte Frau Danglars, sagen Sie mir, ob Sie je an dem Hofe von Ali Pascha Tependelini, dem Sie so glorreich dienten, eine so herrliche Tracht gesehen haben, wie die, welche wir hier vor Augen haben?

 

Ah! Sie haben in Janina gedient, Herr Graf?

 

Ich war Generalinstruktor der Truppen des Paschas, antwortete Morcerf, und ich mache kein Geheimnis daraus, daß mein geringes Vermögen von der Freigebigkeit dieses erhabenen albanesischen Heerführers herrührt.

 

Sehen Sie nur! sagte Frau Danglars.

 

Wo denn? stammelte Morcerf.

 

Dort! sagte Monte Christo.

 

Und den Grafen mit seinem Arme umfassend, neigte er sich mit ihm zur Loge hinaus.

 

In diesem Augenblicke gewahrte Haydee, die den Grafen mit den Augen suchte, seinen bleichen Kopf neben dem Morcerfs, den er umfaßt hielt.

 

Dieser Anblick brachte auf die Griechin die Wirkung eines Medusenhauptes hervor; sie machte eine Bewegung vorwärts, als wollte sie beide mit den Augen verschlingen; dann warf sie sich fast in derselben Sekunde wieder zurück und stieß einen schwachen Schrei aus, der jedoch von den Personen, die ihr zunächst waren, und von Ali gehört wurde, der sogleich die Tür öffnete.

 

Was ist denn Ihrem Mündel begegnet, Herr Graf? fragte Eugenie, man sollte glauben, sie sei unwohl.

 

In der Tat, es scheint so zu sein, sagte der Graf, doch erschrecken Sie nicht darüber. Haydee ist sehr nervös und daher sehr empfindlich gegen Gerüche; ein Geruch, der ihr zuwider ist, kann ihr eine Ohnmacht zuziehen; aber ich habe hier ein Gegenmittel, sagte der Graf, ein Fläschchen aus der Tasche ziehend.

 

Nachdem er die Baronin und ihre Tochter mit einer einzigen Verbeugung gegrüßt und einen letzten Händedruck mit dem Grafen und mit Debray ausgetauscht hatte, verließ er die Loge.

 

Als er in die seinige zurückkehrte, war Haydee noch sehr bleich; sobald er erschien, nahm sie ihn bei der Hand.

 

Monte Christo bemerkte, daß die Hände des Mädchens zugleich feucht und eisig kalt waren.

 

Mit wem sprachst du denn, Herr? fragte das Mädchen.

 

Mit dem Grafen von Morcerf, der im Dienste deines erhabenen Vaters stand und, wie er selbst bekennt, ihm sein Vermögen zu verdanken hat.

 

 

Ha, der Elende! rief Haydee, er ist es, der ihn an die Türken verkauft hat, und dieses Vermögen ist nur der Preis seines Verrates. Wußtest du das nicht, lieber Herr?

 

Ich habe wohl so etwas in Epirus gehört, sagte Monte Christo, aber ich kenne die einzelnen Umstände nicht. Komm, meine Tochter, du wirst sie mir erzählen, sie müssen sehr seltsamer Art sein.

 

Oh ja, komm, komm! Es ist mir, als müßte ich umkommen, wenn ich diesem Menschen länger gegenüber bleibe.

 

Und Haydee stand rasch auf, hüllte sich in ihren mit Perlen und Korallen geschmückten Burnus von weißem Kaschmir und verließ die Loge in dem Augenblick. wo der Vorhang aufgezogen wurde.

 

Sehen Sie, ob dieser Mensch auch nur irgend etwas tut, wie ein anderer! sagte die Gräfin zu Albert, der sich in ihre Loge begeben hatte. Er hört ganz andächtig den dritten Akt an und geht in der Minute, wo der vierte beginnen soll, fort.

 

-Kapitelname unbekannt-

-Kapitelname unbekannt-


Der Graf von Monte Christo. Dritter Band.





Die Vorstellung.

 

Die Vorstellung.

 

Als Albert sich mit Monte Christo allein sah, sagte er: Herr Graf, erlauben Sie mir, Ihnen zunächst meine Junggesellenwohnung zu zeigen. An die italienischen Paläste gewöhnt, werden Sie sich freilich wundern, mit wie wenig Raum ein junger Mann hier in Paris auskommen kann.

 

Monte Christo kannte bereits das Speisezimmer und den Salon im Erdgeschoß. Albert führte ihn nun in sein bevorzugtes Zimmer, sein Atelier. Der Graf wußte alle die zahllosen Gegenstände darin zu würdigen, und Morcerf, der dem Gaste als Erklärer hatte dienen wollen, machte seinerseits unter Leitung seines Gastes einen Kursus in der Archäologie und Naturwissenschaft durch.

 

Man stieg dann in den ersten Stock hinauf, und Albert führte seinen Gast in den Salon, der mit Werken moderner Meister geschmückt war. Wenn er aber erwartet hatte, diesmal wenigstens dem fremden Reisenden etwas Neues zu zeigen, so hörte er zu seinem großen Erstaunen diesen sofort den Namen jedes Meisters nennen, obgleich die Werke häufig nur die Anfangsbuchstaben desselben trugen. Offenbar kannte er nicht nur alle diese Namen, sondern verstand auch jedes dieser Talente zu würdigen.

 

Vom Salon ging man ins Schlafzimmer; es war zugleich ein Muster von Eleganz und von strengem Geschmack; darin glänzte ein einziges künstlerisch ausgeführtes Porträt in mattgoldenem Rahmen. Dieses Bild zog sogleich die Blicke des Grafen an, denn er machte drei rasche Schritte darauf zu.

 

Es war das Porträt einer Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren, von brauner Gesichtsfarbe, mit feurigem, von schön geformtem Augenlide verschleiertem Blicke, sie trug die malerische Kleidung der katalonischen Fischerinnen mit rot und schwarzem Mieder und goldenen, durch die Haare gesteckten Nadeln; sie schaute auf die See hinaus, und ihr hübsches Profil hob sich von dem doppelten Azur der Wellen und des Himmels ab.

 

Es war düster im Zimmer, sonst hätte Albert gesehen, welche Leichenblässe sich über die Wangen des Grafen verbreitete, er hätte das Beben seiner Schultern und seiner Brust bemerken müssen.

 

Nach kurzem Stillschweigen sagte der Graf von Monte Christo mit vollkommen ruhiger Stimme: Graf, Sie haben da eine schöne Geliebte, und dieses Ballkostüm steht ihr zum Entzücken.

 

Oh! erwiderte Albert, Sie irren. Das ist meine Mutter, die Sie ja noch nicht gesehen haben. Die Tracht ist, wie es scheint, ein Phantasiekostüm, und die Ähnlichkeit ist so groß, daß ich meine Mutter noch vor mir zu sehen wähne, wie sie im Jahre 1830 war, als sie dieses Porträt während einer Abwesenheit des Grafen malen ließ. Seltsamerweise mißfiel das Porträt meinem Vater, und der große Kunstwert des Gemäldes ließ ihn den Widerwillen nicht überwinden, den er dagegen gefaßt hatte. Allerdings ist Herr von Morcerf, unter uns gesagt, einer der eifrigsten Politiker, ein berühmter General, aber ein äußerst mäßiger Kunstkenner. Anders meine Mutter, die sehr gut malt, und da sie ein solches Werk zu sehr schätzt, um sich gänzlich davon trennen zu können, hat sie es mir gegeben, damit es Herrn von Morcerf, dessen Porträt ich Ihnen übrigens auch zeigen werde, seltener vor Augen komme. Meine Mutter jedoch kommt selten zu mir, ohne es zu betrachten, und noch seltener geschieht es, daß sie das Bild betrachtet, ohne zu weinen. Übrigens ist die Wolke, die durch dieses Gemälde in unser Haus kam, die einzige, die sich zwischen dem Grafen und der Gräfin erhoben hat, denn sie sind, obgleich seit mehr als zwanzig Jahren verheiratet, noch heute so sehr eins wie am ersten Tage.

 

Monte Christo warf einen raschen Blick auf Albert, als wollte er unter seinen Worten eine verborgene Absicht suchen, aber der junge Mann hatte sie offenbar völlig absichtslos ausgesprochen.

 

Nun haben Sie alle meine Reichtümer gesehen, fuhr Albert fort; erlauben Sie mir, Herr Graf, sie Ihnen anzubieten, so unwürdig sie auch sein mögen. Betrachten Sie sich als hier zu Hause, und um noch heimischer zu werden, haben Sie die Güte, mich zu Herrn von Morcerf zu begleiten, dem ich von Rom den Dienst, den Sie mir geleistet, mitgeteilt. und den Besuch, den Sie mir versprochen, angekündigt habe. Ich darf wohl sagen, der Graf und die Gräfin erwarten mit Ungeduld den Zeitpunkt, wo sie Ihnen danken können. Sie haben hierfür wenig Sinn; ich weiß das, Herr Graf, und Familienszenen üben keine große Wirkung auf Simbad den Seefahrer aus, der so viele andere Szenen gesehen hat. Nehmen Sie indessen, was ich Ihnen bieten kann, als Eingang in das Pariser Leben an, in ein Leben voll Höflichkeitsbesuche und Vorstellungen.

 

Monte Christo verbeugte sich, ohne zu antworten; er nahm den Vorschlag ohne Begeisterung und ohne Widerstreben an … wie eine Pflicht des Anstandes, der sich jeder unterwerfen muß. Albert rief seinen Kammerdiener und befahl ihm, Herrn und Frau von Morcerf den Grafen von Monte Christo zu melden; dann folgte er ihm mit dem Grafen.

 

Als man in das Vorzimmer des Grafen gelangte, sah man über der Tür des Salons ein Wappenschild; der Graf blieb vor dem Wappen stehen, schaute es aufmerksam an und fragte: Ohne Zweifel das Wappen Ihrer Familie, Vicomte? Ich bin sehr unwissend in der Wappenkunde.

 

Sie haben richtig erraten, es sind die Wappen meines Vaters und meiner Mutter, antwortete Morcerf mit dem einfachen Tone der Überzeugung. Von weiblicher Seite bin ich Spanier, doch das Haus Morcerf ist französisch und, wie ich sagen hörte, eines der ältesten im südlichen Frankreich.

 

Ja, sagte der Graf, das deuten die Amseln in den Wappen an. Fast alle Kreuzfahrer wählten als Wappen entweder Kreuze oder Wandervögel. Einer Ihrer väterlichen Ahnen wird einen Kreuzzug mitgemacht haben, und nehmen wir auch an, es sei einer der letzten Züge unter Ludwig dem Heiligen gewesen, so führt dies Ihren Adel schon in das dreizehnte Jahrhundert zurück, was immerhin ein hübsches Alter ist. Sie stammen also zugleich von der Provence und von Spanien her, wodurch sich, wenn das Porträt, das Sie mir gezeigt haben, ähnlich ist, die schöne braune Farbe erklärt, die ich so sehr auf dem Antlitz der edeln Katalonierin bewunderte.

 

Die Ironie, die in diesen Worten lag, die scheinbar das Gepräge der größten Höflichkeit an sich trugen, war schwer zu erraten; Morcerf dankte ihm auch mit einem Lächeln, ging voran und öffnete eine in den Salon führende Tür. An der am meisten in das Auge fallenden Stelle dieses Salons sah man ebenfalls ein Porträt; es war das eines Mannes von etwa sechsunddreißig Jahren in Generalsuniform mit dem Bande der Kommandeure der Ehrenlegion, dem Stern des Großoffiziers vom Erlöser-Orden und dem Großkreuz des Ordens Karls III.

 

Monte Christo beschäftigte sich eben damit, dieses Porträt mit derselben Sorgfalt zu zergliedern wie vorher das andere, als eine Seitentür geöffnet wurde und er sich dem Grafen von Morcerf selbst gegenüber fand.

 

Dieser war ein Mann von vierzig bis fünfundvierzig Jahren; sein schwarzer Schnurrbart und seine schwarzen Augenbrauen stachen seltsam von seinen weißen, nach militärischer Mode bürstenartig geschnittenen Haaren ab; er war bürgerlich gekleidet und trug am Knopfloch ein Ordensband. Der Graf von Morcerf trat mit ziemlich edlem Anstand und mit einem gewissen Eifer ein. Monte Christo ließ ihn auf sich zukommen, ohne einen Schritt zu tun; man hätte glauben sollen, seine Füße seien an den Boden genagelt, wie seine Augen an das Gesicht des Eintretenden.

 

Mein Vater, sagte der junge Mann, ich habe die Ehre, Ihnen den Grafen von Monte Christo, den edelmütigen Freund, vorzustellen, den ich so glücklich war unter den Ihnen bekannten, schwierigen Umständen zu treffen.

 

Der Herr ist willkommen in unserer Mitte, sagte der Graf von Morcerf, Monte Christo mit einem Lächeln begrüßend; er hat unserem Hause durch Erhaltung seines einzigen Erben einen Dienst geleistet, für den wir zu unauslöschlichem Danke verpflichtet sind.

 

Mit diesen Worten bot Morcerf seinem Gaste einen Lehnstuhl, während er sich selbst vor das Fenster setzte. Monte Christo nahm den gebotenen Platz an, richtete es aber so ein, daß er im Schatten der großen Samtvorhänge verborgen blieb, wo es ihm gestattet war, in den Zügen des Grafen, die auffallende Spuren sorgenvoller Ermattung zeigten, eine ganze Geschichte geheimer Leiden zu lesen, die aus den tiefen Furchen sprach, womit ein frühzeitiges Alter sein Gesicht durchzogen hatte.

 

Graf Morcerf sagte hierauf: Die Frau Gräfin war bei der Toilette, als sie der Herr Vicomte von dem Besuche benachrichtigen ließ, den sie zu empfangen die Ehre haben sollte; sie wird in zehn Minuten hier sein.

 

Es ist viel Ehre für mich, erwiderte Monte Christo, daß ich schon am Tage meiner Ankunft in Paris mit einem Manne in Berührung treten kann, dessen Verdienst seinem Rufe gleichkommt, und bei dem das gerechte Schicksal keinen Irrtum beging. Hatte es Ihnen aber nicht auf dem algerischen Kriegsschauplatze einen Marschallsstab anzubieten?

 

Ich habe den Dienst verlassen, sagte Morcerf, ein wenig errötend. Unter der Restauration zum Pair ernannt, nahm ich meinen Abschied, denn wenn man, wie ich, seine Epauletten auf dem Schlachtfelde gewonnen hat, so versteht man nicht auf dem schlüpfrigen Boden des Salons zu manövrieren. Ich habe den Degen niedergelegt und mich auf die Politik geworfen, widme mich der Industrie und studiere die nützlichen Künste. Während der zwanzig Jahre, die ich im Dienste geblieben, hatte ich wohl Lust hierzu, aber es gebrach mir an Zeit.

 

Auf diesen Ansichten beruht die Überlegenheit Ihrer Nation über die anderen Länder, Herr Graf, versetzte Monte Christo. Von vornehmer Herkunft und im Besitz eines schönen Vermögens, haben Sie es doch nicht verschmäht, als gemeiner Soldat von der Pike auf zu dienen, und das ist etwas Seltenes. Zum General, Pair von Frankreich, Kommandeur der Ehrenlegion erhoben, geben Sie sich zu einer zweiten Lehrzeit her, ohne andere Hoffnung und andere Belohnung, als die, eines Tages Ihresgleichen nützlich zu sein. Ah! mein Herr, das ist in der Tat schön, ich sage noch mehr, es ist erhaben!

 

Albert betrachtete und hörte Monte Christo mit Erstaunen; er war nicht gewohnt, ihn so enthusiastisch sich ausdrücken zu hören.

 

Ah! fuhr der Fremde fort, ohne Zweifel, um die unmerkliche Wolke zu verscheuchen, die bei seinen Worten über Morcerfs Stirn hinzog, ah! wir machen es in Italien nicht so, wir wachsen nach unserem Geschlecht und unserer Gattung, und wir behalten dasselbe Blätterwerk, dieselbe Gestalt und leider oft dieselbe Nutzlosigkeit unser ganzes Leben hindurch.

 

Aber, entgegnete der Graf von Morcerf, für einen Mann von Ihrem Verdienste ist Italien kein Vaterland; Frankreich reicht Ihnen seine Arme. Entsprechen Sie dem Rufe, den es an Sie ergehen läßt! Frankreich ist nicht immer undankbar; es behandelt manchmal seine Kinder schlecht, aber für die Fremden zeigt es sich gewöhnlich großherzig.

 

Ei! sagte Albert lächelnd, man sieht, daß Sie den Herrn Grafen von Monte Christo nicht kennen. Seine Befriedigung liegt außerhalb dieser Welt; er strebt nicht nach Auszeichnungen.

 

Sie sind Herr Ihrer Zukunft gewesen und haben den Blumenpfad gewählt, sagte der Graf von Morcerf mit einem Seufzer.

 

Allerdings, erwiderte Monte Christo mit einem Lächeln, das ein Maler schwerlich wiedergeben könnte.

 

Hätte ich nicht den Herrn Grafen zu ermüden befürchtet, sagte der General, offenbar entzückt über die Art seines Gastes, so würde ich ihn in die Kammer geführt haben, es ist heute eine interessante Sitzung.

 

Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, doch für heute hat man mir mit der Hoffnung, der Frau Gräfin vorgestellt zu werden, geschmeichelt, und ich will lieber hierauf warten.

 

Ah! da kommt meine Mutter, rief der Vicomte.

 

Rasch sich umwendend, erblickte Monte Christo wirklich Frau von Morcerf auf der Schwelle der gegenüberliegenden Tür; unbeweglich und bleich, stand sie hier seit einigen Sekunden und hatte die letzten Worte gehört.

 

Monte Christo erhob sich und machte eine tiefe Verbeugung vor der Gräfin, die sich stumm und zeremoniös verneigte.

 

Fehlt Ihnen etwas, teure Mutter? rief der junge Vicomte, Mercedes entgegeneilend.

 

Sie dankte mit einem Lächeln und sagte: Nein, ich fühle mich nur erschüttert beim ersten Anblick des Herrn Grafen, ohne dessen Eingreifen wir heute in Tränen und Trauer wären. Mein Herr, fügte die Gräfin, mit der Majestät einer Königin vorschreitend, hinzu, ich verdanke Ihnen das Leben meines Sohnes und segne Sie für diese Wohltat. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, welches Vergnügen es mir bereitet, daß Sie mir Gelegenheit verschafften, Ihnen aus dem Grunde meines Herzens zu danken, wie ich Sie aus dem Grunde meines Herzens gesegnet habe.

 

Der Graf verbeugte sich abermals, jedoch noch tiefer als das erste Mal; er war bleicher als Mercedes.

 

Gnädige Frau, sagte er, der Herr Graf und Sie belohnen mich zu großmütig für eine ganz einfache Handlung. Einen Menschen retten, dem Vater eine Qual ersparen, das empfindliche Herz einer Frau schonen, heißt nicht ein gutes Werk, sondern ein Gebot der Menschlichkeit ausführen.

 

Auf diese mit außerordentlicher Weichheit und Artigkeit gesprochenen Worte erwiderte die Gräfin mit gefühlvoller Betonung: Mein Herr, mein Sohn ist glücklich, Sie seinen Freund nennen zu dürfen, und ich danke Gott, der die Dinge so gelenkt hat.

 

Mercedes schlug ihre Augen mit grenzenloser Dankbarkeit zum Himmel auf, und Monte Christo glaubte sogar Tränen darin zittern zu sehen.

 

Herr Graf, fuhr sie fort, werden Sie uns die Ehre erweisen, den Rest des Tages mit uns zuzubringen?

 

Glauben Sie mir, gnädige Frau, ich weiß Ihnen den größten Dank für Ihr Anerbieten, aber ich bin heute morgen vor Ihrer Tür aus meinem Reisewagen gestiegen. Ich weiß noch gar nicht, wie ich in Paris eingerichtet bin; ich weiß kaum, wo ich bleibe.

 

So versprechen Sie uns wenigstens, daß wir das Vergnügen ein andermal haben werden, sagte die Gräfin.

 

Monte Christo verbeugte sich, ohne zu antworten.

 

Dann halte ich Sie nicht zurück, sagte die Gräfin, denn meine Dankbarkeit soll keine Last für Sie sein.

 

Lieber Graf, sagte Albert, wenn Sie gestatten, stelle ich Ihnen meinen Wagen zur Verfügung, wie Sie es mir gegenüber in Rom getan haben, bis Sie Zeit gehabt haben, Ihre Equipagen in gehörigen Stand zu setzen.

 

Ich danke Ihnen tausendmal für Ihre Zuvorkommenheit, Vicomte, aber ich denke, Bertuccio wird die fünf Stunden, die ich ihm gelassen, gut angewendet haben, und ich werde vor der Tür einen Wagen finden.

 

Albert war an diese Art und Weise des Grafen gewöhnt, er wußte, daß für ihn etwas Unmögliches so wenig zu bestehen schien, wie für den Kaiser Nero; er wollte sich aber doch selbst überzeugen und begleitete daher den Grafen bis an die Tür des Hauses. Monte Christo hatte sich nicht getäuscht; er fand wirklich einen Wagen, der auf ihn wartete. Es war ein prachtvolles Coupé und ein Gespann, das, wie man in der Pariser Gesellschaft wußte, noch am Tage zuvor nicht für achtzehntausend Franken feil gewesen war.

 

Mein Herr, sagte der Graf zu Albert, ich mache Ihnen nicht den Vorschlag, mich nach Hause zu begleiten, ich könnte Ihnen nur ein improvisiertes Haus zeigen, und ich habe, wie Sie wissen, in Bezug auf Improvisationen einen Ruf zu wahren. Bewilligen Sie mir einen Tag und erlauben Sie mir dann, Sie einzuladen. Und er sprang in den Wagen, der sich hinter ihm schloß, und fuhr im Galopp von dem Hause weg, jedoch nicht so schnell, daß er nicht eine unmerkliche Bewegung wahrgenommen hätte, welche den Vorhang des Salons zittern machte, wo er die Gräfin zurückgelassen hatte.

 

Als Albert zu seiner Mutter zurückkehrte, bemerkte er, daß sie wie aufgelöst in einen samtenen Lehnstuhl zurückgesunken war; in dem halbdunklen Gemache konnte man aber nichts deutlich erblicken, so konnte er auch das Gesicht der Gräfin nicht sehen, doch kam es ihm vor, als bebte ihre Stimme; auch drang durch die Wohlgerüche von Rosen und Heliotropen der herbe, beißende Geruch von Essigäther, und seiner ängstlichen Aufmerksamkeit entging das Flacon der Gräfin nicht, das auf dem Kamin stand.

 

Sie sind doch nicht wohl, teure Mutter! rief er eintretend.

 

Nein, Albert; aber du begreifst, diese Rosen, diese Hyacinthen, diese Orangenblüten strömen während der ersten Wärme so starke Wohlgerüche aus …

 

Dann muß man sie in Ihr Vorzimmer bringen lassen, sagte Morcerf, mit der Hand nach der Glocke greifend. Sie sind in der Tat unpäßlich; schon vorhin, als Sie eintraten, waren Sie sehr bleich.

 

Ich war bleich, sagst du, Albert?

 

Sie waren von einer Blässe, die Ihnen sehr gut steht, meine Mutter, aber darum meinen Vater und mich nichtsdestoweniger erschreckt hat.

 

Sprach dein Vater mit dir darüber? fragte Mercedes rasch.

 

Nein, Mama, doch erinnern Sie sich, er hat Ihnen gegenüber selbst diese Bemerkung gemacht.

 

Ich erinnere mich dessen nicht, versetzte die Gräfin.

 

Ein Diener erschien und trug auf Alberts Geheiß die Blumen ins Vorzimmer.

 

Was für ein Name ist Monte Christo? fragte die Gräfin, nachdem sich der Diener entfernt hatte. Ist es ein Familienname oder nur ein Titel?

 

Ich glaube, es ist nur ein Titel. Der Graf hat eine Insel im toskanischen Archipel gekauft. Übrigens bildet er sich nichts auf den Adel ein und nennt sich einen Zufallsgrafen, obgleich in Rom allgemein die Ansicht herrscht, der Graf sei ein sehr vornehmer Herr.

 

Seine Haltung ist ausgezeichnet, sagte die Gräfin, wenigstens nach dem, was ich während der wenigen Augenblicke, die er hier war, beurteilen konnte.

 

Oh! sie ist ganz vollkommen, so vollkommen, daß sie bei weitem alles übersteigt, was ich Aristokratisches beim englischen, spanischen oder deutschen Adel gesehen habe.

 

Die Gräfin dachte einen Augenblick nach und fuhr dann nach diesem kurzen Zögern fort: Mein lieber Albert … du hast Herrn von Monte Christo in seinem Heim gesehen, du bist mit der Welt vertraut und besitzest mehr Takt, als man in deinem Alter zu haben pflegt, glaubst du, daß der Graf wirklich ist, was er zu sein scheint?

 

Und was scheint er zu sein?

 

Du sagtest es soeben, ein vornehmer Herr.

 

Ich sagte Ihnen, man halte ihn dafür.

 

Und was denkst du davon, Albert?

 

Ich muß gestehen, ich habe keine bestimmte, abgeschlossene Ansicht über ihn; ich habe so viele seltsame Dinge von ihm gehört, daß ich, wenn ich sagen soll, was ich von ihm denke, Ihnen antworte, ich möchte den Grafen für einen Menschen nach Lord Byrons Art halten, dem das Schicksal einen unseligen Stempel aufgedrückt hat, für den Sprossen irgend einer alten Familie, der, seines väterlichen Vermögens enterbt, ein neues durch die Kraft seines abenteuerlichen Geistes fand, der ihn über die Gesetze der Gesellschaft stellte.

 

Du sagst? …

 

Ich sage, Monte Christo ist eine Insel im Mittelländischen Meere, ohne Bewohner, ohne Garnison, ein Schlupfwinkel für Schmuggler und Piraten. Wer weiß, ob diese würdigen Gewerbsleute ihrem Herrn nicht eine Abgabe zahlen?

 

Es ist möglich, sagte die Gräfin, in Sinnen verloren.

 

Doch gleichviel, versetzte der junge Mann, Schmuggler oder nicht, Sie werden zugestehen, meine Mutter, da Sie es selbst gesehen haben, der Herr Graf von Monte Christo ist ein merkwürdiger Mann, und seine Erscheinung in den Salons von Paris wird von dem glänzendsten Erfolg begleitet sein. Schon heute hat er bei mir seinen Eintritt in die Welt damit begonnen, daß er sogar Chateau-Renaud in das höchste Erstaunen versetzte.

 

Wie alt kann der Graf sein? sagte Mercedes, sichtbar ein großes Gewicht auf diese Frage legend.

 

Fünfunddreißig bis sechsunddreißig Jahre, meine Mutter.

 

So jung! Das ist unmöglich, sagte Mercedes, zugleich auf Alberts Worte und ihre eigenen Gedanken erwidernd.

 

Es ist dennoch wahr, drei- oder viermal äußerte er, und gewiß ohne Vorbedacht: damals war ich fünf Jahre, damals zehn, zu jener Zeit zwölf Jahre alt. Meine Neugierde achtete auf diese Einzelheiten, ich stellte die Daten zusammen, und nie fand ich einen Widerspruch bei ihm. Das Alter dieses seltsamen Mannes, der eigentlich kein Alter hat, ist nach meiner festen Überzeugung fünfunddreißig Jahre. Erinnern Sie sich überdies, meine Mutter, wie lebhaft sein Auge ist, wie üppig und ungebleicht seine Haare, und wie runzelfrei seine edle Stirn; er besitzt nicht nur einen kräftigen, sondern auch noch einen jungen Körper.

 

Die Gräfin senkte das Haupt wie unter dem Druck schwerer, bitterer Gedanken.

 

Und dieser Mann hat ein Gefühl der Freundschaft für dich gefaßt, Albert? fragte sie in bebendem Tone, und du liebst ihn?

 

Er gefällt mir, Mutter, was auch Franz d’Epinay sagen mag, dem er als unheimliches, einer andern Welt entstammendes Wesen erscheint.

 

Die Gräfin machte eine Bewegung des Schreckens und sagte stotternd: Albert, stets war ich bemüht, dir Behutsamkeit gegen neue Bekanntschaften zu empfehlen. Nun bist du ein Mann und könntest mir Ratschläge geben, dennoch wiederhole ich dir, sei klug. Albert.

 

Liebe Mutter, wenn nur dieser Rat Nutzen bringen sollte, so müßte ich zum voraus wissen, wogegen sich mein Mißtrauen zu richten hätte. Der Graf spielt nie, der Graf trinkt nur durch einen Tropfen spanischen Wein vergoldetes Wasser, der Graf ist so reich, daß er, ohne sich ins Gesicht lachen zu lassen, kein Geld von mir entlehnen könnte; was soll ich also von ihm befürchten?

 

Du hast recht, meine Furcht ist töricht, besonders da sie einen Mann zum Gegenstand hat, der dir das Leben rettete. Doch sprich, hat ihn dein Vater gut ausgenommen? Es ist wünschenswert, daß wir auf recht gutem Fuße mit dem Grafen stehen. Herr von Morcerf ist zuweilen sehr beschäftigt, seine Angelegenheiten bereiten ihm Sorgen, und es könnte sein, daß er, ohne zu wollen …

 

Mein Vater war, wie man es nur immer wünschen konnte; ich sage noch mehr, er schien geschmeichelt durch ein paar sehr geschickte Komplimente, die der Graf sehr glücklich und passend einfließen ließ, als kennte er ihn seit dreißig Jahren. Jeder von diesen Lobpfeilen mußte meinen Vater kitzeln, fügte Albert lachend hinzu. Sie trennten sich als die besten Freunde der Welt, und Herr von Morcerf wollte ihn sogar in die Kammer mitnehmen, um ihn seine Rede hören zu lassen.

 

Die Gräfin antwortete nicht, sie war in so tiefe Träumerei versunken, daß sich ihre Augen allmählich geschlossen hatten. Vor ihr stehend, betrachtete sie der junge Mann mit jener Sohnesliebe, die besonders zärtlich und innig bei Kindern ist, deren Mütter noch schön und jung sind. Als er sah, wie sich ihre Augen schlossen, als er sie eine Minute lang in ihrer sanften Unbeweglichkeit atmen hörte und sie entschlummert glaubte, entfernte er sich auf den Fußspitzen.

 

Dieser Teufelskerl, murmelte er, den Kopf schüttelnd, ich prophezeite ihm dort schon, er würde in der Welt Aufsehen machen; ich ermesse die Wirkung seiner Person nach einem untrüglichen Thermometer; meiner Mutter ist er aufgefallen, folglich muß er sehr merkwürdig sein. Und er ging in seinen Stall hinab, nicht ohne leisen Ärger darüber, daß sich der Graf, ohne nur daran zu denken, ein Gespann erworben hatte, das seine Braunen bei Kennern in die zweite Reihe schob.