50. Kapitel


50. Kapitel

Esthers Erzählung

Als ich von Deal nach Hause kam, fand ich einen Brief von Caddy Jellyby mit der Nachricht vor, ihr Gesundheitszustand, seit einiger Zeit schon nicht der beste gewesen, habe sich verschlimmert, und sie würde sich mehr, als sie sagen könne, freuen, wenn ich sie besuchen käme. Es waren nur wenige Zeilen, offenbar im Bett geschrieben, und ihnen lag ein Brief von ihrem Gatten bei, der ihre Bitte unterstützte.

Caddy war inzwischen Mutter geworden und ich die Patin eines niedlichen, uralt aussehenden Würmchens mit einem Gesicht, so klein, daß man kaum etwas andres als den Mützenbesatz sehen konnte. Seine kleinen magern langfingerigen Händchen hielt es beständig unter dem Kinn zusammengeballt. In dieser Stellung pflegte es nämlich den ganzen Tag dazuliegen, die hellen Äugelchen weit offen und offenbar ganz verwundert, warum es so klein und schwach war. Nur wenn man es nahm, schrie es, aber zu allen andern Zeiten war es so geduldig, daß es der einzige Wunsch seines Lebens zu sein schien, still zu liegen und nachzudenken. Es hatte seltsame tiefblaue kleine Äderchen im Gesicht und merkwürdige dunkle Flecken unter den Augen, die aussahen wie Erinnerungszeichen an Caddys Tintenklecksepoche, und alles in allem bot es für Fremde oder Unbeteiligte einen recht kläglichen Anblick.

Aber Caddy war offenbar daran gewöhnt. Ihre Pläne und Gedanken über der kleinen Esther Erziehung und deren künftige Heirat, mit denen sie sich die Stunden ihres Krankenlagers verkürzte und sich zuweilen bis in die ferne Zukunft verstieg, wo sie erst Großmutter sein würde, sprachen so hübsch von ihrer Liebe und Hingebung zu diesem Stolz ihres Lebens, daß ich gerne noch mehr davon erzählen würde, wenn ich nicht fürchten müßte, mich dabei allzu sehr aufzuhalten.

Um also wieder auf den Brief zurückzukommen. Caddy frönte in bezug auf mich einem Aberglauben, der sich von jenem längst vergangnen Abend, wo sie mit ihrem Kopf auf meinem Schoß eingeschlummert war, herleitete und im Lauf der Zeit immer stärker geworden war. Sie bildete sich nämlich ein, daß ihr meine Nähe gut täte. Natürlich war das nur eine Grille des guten Kindes, die zu erwähnen ich mich fast schäme, der ich aber, wo sie jetzt wirklich krank war, jedenfalls Rechnung tragen mußte. Deshalb fuhr ich mit meines Vormunds Einwilligung bereits mit der nächsten Post zu ihr, und sie und Prince empfingen mich mit einer Überschwenglichkeit, die wirklich schon jedes Maß überstieg.

Den Tag darauf besuchte ich sie abermals, und den nächsten Tag wieder.

Es war durchaus keine beschwerliche Reise, und ich brauchte nur früh etwas zeitiger aufzustehen, um meine Rechnungen in Ordnung zu bringen und die Wirtschaftsangelegenheiten vorzubereiten, ehe ich mich auf den Weg machte; aber nach dem dritten Besuch sagte mein Vormund zu mir, als ich abends zurückkehrte:

»Nein, kleines Frauchen, das geht so nicht weiter. Steter Tropfen höhlt den Stein, und wenn Mütterchen Spinnweb immer so hin und her fahren wollte, würde sie das schließlich sehr angreifen. Wir müssen auf einige Zeit nach London gehen und unsre alte Wohnung wieder beziehen.«

»Bitte, nicht meinetwegen, lieber Vormund«, sagte ich. »Es ermüdet mich gar nicht« – das war auch wirklich der Fall – »und ich fühle mich so glücklich, daß man meiner bedarf.«

»Also dann meinetwegen und Adas wegen. – Morgen ist übrigens, wenn ich nicht irre, irgend jemandes Geburtstag.«

»Es kommt mir wahrhaftig auch so vor.« – Ich küßte meinen Liebling, der morgen einundzwanzig Jahre alt wurde.

»Ja, das ist ein wichtiger Tag«, sagte mein Vormund halb scherzend, halb ernst, »und meine schöne Kusine wird allerhand Wege haben, weil sie volljährig wird. Schon deswegen müssen wir nach London. Das wäre also abgemacht. Sag mal, wie geht es übrigens Caddy?«

»Nicht besonders, Vormund. Ich fürchte, es wird immerhin einige Zeit dauern, ehe sie wieder zu Kräften kommt.«

»Was nennst du einige Zeit?« fragte mein Vormund nachdenklich.

»Einige Wochen, fürchte ich.«

»So, so!« Er schien sich dasselbe gedacht zu haben. »Was meinst du über ihren Arzt? Ist er gut und verläßlich, mein Kind?«

Ich sagte, daß man sich in keiner Hinsicht über ihn beklagen könne, aber Prince und ich hätten heute abend davon gesprochen, sein Urteil noch von einem andern bestätigen zu lassen.

»Da wäre doch Woodcourt am besten«, entgegnete mein Vormund rasch.

Ich hatte gar nicht an ihn gedacht und war daher ein wenig überrascht. Einen Augenblick schienen alle Gedanken, die ich mir je über Mr. Woodcourt gemacht hatte, in meiner Erinnerung aufzuwachen und mich zu verwirren.

»Hast du vielleicht etwas gegen ihn einzuwenden, kleines Frauchen?«

»Etwas gegen ihn einzuwenden? Gewiß nicht.«

»Und du glaubst nicht, daß die Kranke dagegen wäre?«

Ich bezweifelte nicht im geringsten, daß sie großes Vertrauen zu ihm haben und er ihr sehr gut gefallen würde. Sie kenne ihn übrigens persönlich und habe ihn oft bei Miß Flite gesehen.

»Ausgezeichnet«, sagte mein Vormund. »Er war heute hier, und ich werde ihn gleich morgen wegen der Sache aufsuchen.«

Während dieses kurzen Gesprächs hielt mich mein Herzenskind fröhlich umschlungen, und mich beschlich die deutliche Empfindung, trotzdem sie kein Wort sagte oder auch nur mit einem Blick darauf anspielte, daß sie daran dachte, wie mir Caddy damals den kleinen Abschiedsstrauß Mr. Woodcourts übergab. Das brachte mich auf den Gedanken, ich müsse ihr und auch Caddy anvertrauen, daß ich Mr. Jarndyces Gattin werden sollte, und diese Enthüllung schon um meiner selbst willen nicht weiter hinausschieben dürfe. Nachdem wir hinaufgegangen waren und ich gewartet hatte, bis es zwölf Uhr schlug, um als erste meinem Liebling zu ihrem Geburtstag Glück zu wünschen und sie an mein Herz zu schließen, vertraute ich ihr an, welch glückliches Leben mir bestimmt sei, und sie fiel mir um den Hals und war so zärtlich zu mir wie vielleicht nie vorher. Ich freute mich so sehr darüber, und das Gefühl, richtig gehandelt zu haben, war mir eine solche Erleichterung, daß ich mich noch zehnmal glücklicher fühlte als zuvor.

Den Tag darauf fuhren wir nach London. Unsre alte Wohnung stand leer, und in einer halben Stunde fühlten wir uns wieder so gemütlich darin, als hätten wir sie nie verlassen. Zur Feier des Geburtstags meines Lieblings hatte mein Vormund Mr. Woodcourt zu Mittag geladen, und es war so gemütlich, wie es bei der großen Lücke, die Richards Abwesenheit bei einem solchen Feste natürlich bedeuten mußte, nur sein konnte.

Von da an war ich acht oder neun Wochen lang meistens bei Caddy, und so kam es, daß ich Ada viel seltner sah als früher. Sie kam zwar oft zu Besuch, aber wir bemühten uns dann, die Kranke zu zerstreuen oder aufzuheitern, und plauderten daher nicht wie sonst in unsrer gewohnten vertraulichen Weise. So oft ich über die Nacht nach Hause ging, waren wir wohl beisammen, aber das war nicht häufig der Fall, denn ich blieb meistens bei Caddy, die oft vor Schmerzen schlaflos war, um sie zu pflegen.

Was für ein gutes Geschöpf Caddy doch war! Sie liebte ihren Gatten und ihr armes kleines Würmchen von einem Kind so zärtlich und mußte sich doch für ihre Häuslichkeit so abrackern! So voller Selbstverleugnung, so ohne die leiseste Klage, so bestrebt, der andern wegen gesund zu werden, und besorgt, jemand beschwerlich zu fallen, machte sie sich immerwährend Vorwürfe, ihrem Gatten jetzt in seinem Unterricht nicht beistehen und die Bequemlichkeiten des alten Mr. Turveydrop nicht unterstützen zu können, daß ich mir gestehen mußte, ich lernte sie erst jetzt von ihrer besten Seite kennen. Und es war so seltsam, daß sie blaß und hilflos Tag für Tag daliegen mußte, wo doch das Tanzen ihr Lebensberuf war und schon frühzeitig jeden Morgen die Fiedel den Schülern im Ballsaal aufspielte und der melancholische kleine Junge den ganzen Nachmittag allein in der Küche Walzer tanzte.

Auf ihren Wunsch übernahm ich die Oberaufsicht über ihr Zimmer, räumte es auf und schob sie samt ihrem Bett in eine helle, luftigere und freundlichere Ecke, und jeden Tag, wenn alles sauber aufgeräumt worden war, legte ich ihr mein kleines Namensschwesterchen in die Arme und setzte mich neben sie, um zu arbeiten, zu plaudern oder ihr vorzulesen. Bei einer solchen Gelegenheit erzählte ich ihr auch von der bevorstehenden Änderung in meinem Schicksal.

Außer Ada bekamen wir noch mancherlei Besuch. In erste Linie natürlich von Prince, der oft in den ihm so kärglich zugemeßnen freien Minuten zwischen den Lehrstunden vorsichtig hereinkam und sich leise hinsetzte, zärtlich um Caddy und das winzige Kind bekümmert. Mochte sich Caddy gut oder schlecht befinden, immer versicherte sie Prince, sie sei fast schon gesund, und ich versäumte natürlich nicht, ihm das zu bestätigen.

Das pflegte ihn immer sehr aufzuheitern. Er nahm dann zuweilen die Violine aus der Tasche und spielte ein paar Noten, um das Baby in Erstaunen zu versetzen, aber es wollte ihm niemals gelingen, denn mein kleines Namensschwesterchen nahm nicht die geringste Notiz davon.

Zuweilen kam auch Mrs. Jellyby. Sie saß dann in ihrer gewohnten zerstreuten Art ruhig da und blickte über ihr Enkelkind hinaus in unendliche Fernen, als wäre ihre Aufmerksamkeit ganz und gar von irgendeinem jungen Borriobulaner an seinem heimischen Strand in Anspruch genommen. So klaräugig, heiter, ruhig und unsauber wie immer pflegte sie dann stets zerstreut zu fragen: »Nun, Caddy, mein Kind, wie geht es dir heute?« Und dann saß sie wieder liebenswürdig lächelnd da, überhörte die Antwort und schien im Geiste die Zahl der Briefe, die sie empfangen oder noch zu beantworten hatte, zu überschlagen oder über die Ertragsfähigkeit der Kaffeebäume in Borriobula-Gha Berechnungen anzustellen. Ein gewisse fröhliche Geringschätzung der Beschränktheit unsres Wirkungskreises, aus der sie kein Hehl machte, lag dabei stets in ihren Mienen.

Auch der alte Mr. Turveydrop kam zuweilen.

Von Morgen bis Abend und von Abend bis Morgen war er ununterbrochen der Mittelpunkt umfassender Vorsichtsmaßregeln. Schrie zum Beispiel das Wickelkind, so erstickte man es fast, damit der Lärm ihn nicht störe. Mußte das Feuer in der Nacht geschürt werden, tat man es heimlich und so geräuschlos wie möglich.

Zum Dank für solche Rücksicht kam er gewöhnlich ein Mal des Tages mit seinem Segen in das Krankenzimmer und legte dabei eine Herablassung, eine Gönnermiene und ein so huldreiches Wesen an den Tag, wenn er das Licht seiner hochschultrigen Anwesenheit leuchten ließ, daß man hätte meinen sollen, er wäre Caddys Wohltäter von ihrer Kindheit an gewesen.

»Liebe Caroline«, pflegte er zu sagen und sich, soweit ihm das sein Schnürleib erlaubte, über sie zu beugen, »sagen Sie mir, daß Sie sich heute viel besser befinden.«

»Oh, viel besser, ich danke Ihnen, Mr. Turveydrop«, gab dann stets Caddy zur Antwort.

»Entzückend! Bezaubernd! Und Sie, liebe Miß Summerson, brechen Sie nicht vor Ermüdung zusammen ?« Er blinzelte mich dabei immer an und warf mir einen Kußfinger zu, aber glücklicherweise war er in seinen Aufmerksamkeiten bei weitem nicht mehr so übertrieben, seit mein Gesicht entstellt war.

»Oh, durchaus nicht, Mr. Turveydrop!«

»Entzückend! Wir müssen unsre liebe Caroline sehr in acht nehmen, Miß Summerson! Wir dürfen es ihr an nichts fehlen lassen, was zu ihrer Genesung beitragen kann. Wir müssen sie kräftig nähren. Meine liebe Caroline«, pflegte er sich dann jedes Mal mit Gönnermiene und unendlicher Großmut an seine Schwiegertochter zu wenden, »lassen Sie es sich nur ja an nichts fehlen, meine Liebe. Alles im Hause, alles hier im Zimmer steht zu Ihrer Verfügung, meine Tochter. Und nehmen Sie nicht die mindeste Rücksicht«, setzte er manchmal in einem Anfall von Edelmut hinzu, »auf meine einfachen Bedürfnisse, wenn Sie zufällig einmal mit den meinigen in Konflikt geraten sollten, liebe Caroline. Ihre gehen selbstverständlich den meinigen stets vor.«

– Der Glorienschein, der sein Haupt umwob, bildete sein schon von altersher – schon von seiner verstorbnen Gattin her – so angestammtes Recht, daß niemand auch nur auf den Gedanken kam, daran zu rütteln. Ich habe sogar mehrere Male gesehen, wie Caddy und Prince durch seine Opferwilligkeit bis zu Tränen gerührt waren. –

Wenn Caddy in solchen Fällen ihren abgemagerten Arm um seinen fetten Hals schlang, remonstrierte er gewöhnlich: »Nein, nein, ich habe gelobt, euch nie zu verlassen. Erfüllet eure Pflicht gegen mich, meine Kinder, und habt mich lieb, weiter verlange ich nichts. Und jetzt, Gott segne euch! Ich gehe in den Park.«

Wie Caddys Augen standen dann auch immer meine voll Tränen, wenn auch aus ganz andern Gründen.

Er schöpfte im Park frische Luft, natürlich nur, um Appetit zu seinem Mittagessen im Hotel zu bekommen.

Hoffentlich tue ich dem alten Mr. Turveydrop kein Unrecht, aber bessere Züge als die hier getreulich berichteten habe ich wirklich niemals an ihm bemerkt. Höchstens vielleicht, daß er zu dem kleinen Peepy eine Neigung faßte und ihn zuweilen in großem Staat spazieren führte. Bei solchen Gelegenheiten schickte er ihn aber stets nach Hause, wenn er zu Tisch ging, und schenkte ihm hie und da einen halben Penny. Aber auch diese guten Seiten Mr. Turveydrops verursachten mancherlei Kosten und Zeitverlust, denn ehe Peepy genügend geschmückt war, um Hand in Hand mit dem Meister des Anstandes spazieren gehen zu können, mußte er natürlich auf Kosten Caddys und ihres Gatten von Kopf bis zu Fuß neu gekleidet werden.

Der letzte in der Reihe der Besucher war Mr. Jellyby. Ich muß sagen, wenn er des Abends kam und Caddy mit leiser Stimme fragte, wie es ihr gehe, und sich dann hinsetzte, den Kopf an die Wand gelehnt, und niemals auch nur den Versuch machte, ein Wort zu sprechen, hatte ich ihn wirklich gern. Wenn er mich herumschäftern oder irgend etwas aufräumen sah, zog er manchmal seinen Rock halb aus, als beabsichtigte er, mir beizuspringen, aber weiter kam es nie. Seine einzige Beschäftigung war, dazusitzen und den versonnenen Säugling fest anzusehen. Und ich hatte beim Anblick dieses Idylls immer die komische Empfindung, daß sie einander verstünden.

Unter unsern Besuchern habe ich Mr. Woodcourt nicht angeführt, da er ja als Arzt selbstverständlich regelmäßig zu Caddy kam. Unter seiner Behandlung besserte sich ihr Zustand bald; aber er war so sanft, geschickt und unermüdlich, daß das kein Wunder war.

Ich sah Mr. Woodcourt damals sehr oft, trotzdem ich häufig während der Stunden, wo er erwartet wurde und ich Caddy in seinen Händen gut aufgehoben wußte, auf einen Sprung nach Hause eilte. Trotzdem trafen wir uns recht häufig. Ich hatte ihm gegenüber mein Gleichgewicht vollständig wiedergefunden, aber es war mir immer noch ein wohltuendes Gefühl, zu denken, daß er meinetwegen bekümmert war. Er war jetzt Assistent bei Mr. Badger und hatte für die Zukunft noch keine bestimmten Pläne gefaßt.

Um die Zeit, als Caddy sich zu erholen begann, fing ich an, eine Veränderung an meinem Liebling zu bemerken. Ich kann nicht sagen, wann das zuerst geschah, und es war auch eigentlich das Zusammenwirken vieler Kleinigkeiten, das mich darauf aufmerksam machte. Es kam mir so vor, als sei Ada nicht mehr so heiter und offen gegen mich wie früher. Daß sie in ihrer Liebe zu mir so zärtlich und treu wie immer war, daran konnte ich keinen Augenblick zweifeln, aber es bedrückte sie ein stiller Kummer, den sie vor mir verbarg und der von einer heimlichen Wunde herrühren mußte.

Das machte mir oft Sorgen, und das Glück meines Lieblings lag mir so am Herzen, daß ich viel darüber nachdenken mußte. Endlich, als ich wirklich fest überzeugt war, daß Ada mir etwas verberge, kam ich auf die Vermutung, sie sei vielleicht meinetwegen unglücklich, und zwar dessentwegen, was ich ihr hinsichtlich meines zukünftigen Schicksals gesagt hatte. Wieso ich daraufkam, weiß ich nicht, aber keinesfalls war eine selbstsüchtige Ansicht von der Sache meinerseits der Grund, denn ich fühlte mich durchaus nicht unglücklich und war im Gegenteil vollständig zufrieden. Dennoch schien es mir glaubhaft, Ada könne innerlich darüber betrübt sein und vielleicht mit Schmerz daran zurückdenken, was einmal gewesen.

Was könnte ich nur tun, überlegte ich mir, um sie von solchen Gedanken abzubringen und sie eines Bessern zu belehren? Wohl kaum etwas Richtigeres, als so fröhlich und geschäftig zu sein wie möglich. Und so gab ich mir denn die größte Mühe in dieser Hinsicht.

Da Caddys Pflege mehr oder weniger mit meinen sonstigen häuslichen Pflichten kollidiert hatte, wenn ich auch stets morgens meinem Vormund das Frühstück bereitet und er hundert Mal lachend gesagt hatte, es müsse wahrscheinlich zwei kleine Frauchen auf der Welt geben, denn immer sei eine an zwei ganz verschiednen Orten, so beschloß ich doch jetzt, alles nachzuholen und doppelt fleißig zu sein, lief im Hause herum, summte alle Melodien, die ich kannte, und arbeitete von früh bis Abend und schwatzte und plauderte den ganzen langen Tag hindurch.

Aber trotz alledem wollte der Schatten zwischen mir und meinem Herzenskind nicht weichen.

»Also, Mütterchen«, bemerkte mein Vormund eines Abends, als wir alle drei beisammen saßen, und machte sein Buch zu, »also Woodcourt hat Caddy Jellyby wieder zum Vollgenuß ihrer Gesundheit verholfen ?«

»Ja«, sagte ich. »Und solche Dankbarkeit erwecken, wie sie sie für ihn empfindet, heißt Reichtümer sammeln, Vormund.«

»Ich wünschte, ich könnte ihn auch in andrer Hinsicht reich machen«, nickte Mr. Jarndyce gedankenvoll. »Wirklich, von ganzem Herzen.«

Ich stimmte ihm bei und sprach es aus.

»Jawohl. Wir würden ihn so reich machen wie einen Juden, wenn wir nur wüßten, wie, nicht wahr, kleines Frauchen?«

Ich arbeitete an meiner Stickerei weiter und lachte und meinte, daß ich das doch nicht so genau wüßte, denn vielleicht würde es ihn verderben, und so mancher würde dann seine Hilfe entbehren müssen. Wie Miß Flite und Caddy und viele andere.

»Du hast recht, Mütterchen. Das habe ich nicht bedacht. Aber ihn so reich zu machen, daß er davon bequem leben könnte, dagegen hättest du doch nichts? Reich genug, um mit Ruhe arbeiten zu können. Reich genug, um sein eignes glückliches Heim und seine eignen Hausgötter haben zu können – und vielleicht auch seine Hausgöttin?«

»Das wäre natürlich etwas andres«, gab ich zu. Darin wären wir gewiß alle einig.

»Ja, ja«, sagte mein Vormund, »wir alle. Ich habe eine hohe Meinung von Woodcourt und schätze ihn sehr. Übrigens habe ich ihn, ohne es ihn merken zu lassen, über seine Zukunftspläne ausgeholt. Es ist schwer, einem unabhängigen Mann, der so berechtigterweise auf sich stolz sein kann wie er, Hilfe anzubieten, und dennoch täte ich es gern, wenn ich nur wüßte, wie. Er scheint so halb und halb wieder zu einer neuen Seereise entschlossen zu sein, und das bedeutet für einen Menschen wie ihn ungefähr so viel, wie alle seine Talente zu begraben.

»Es könnte ihm doch vielleicht eine neue Welt eröffnen«, sagte ich.

»Ja, ja, vielleicht, kleines Frauchen, und ich zweifle, daß er sich von der alten Welt noch besondre Hoffnungen macht. Ich glaube immer, es hat ihn irgendein Schicksalsschlag oder eine besondre Enttäuschung betroffen. Hast du niemals etwas dieser Art von ihm gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Hm. Dann muß ich mich wohl geirrt haben.«

Es trat eine kleine Pause ein, und ich summte, da ich das für das Beste hielt, meinen Liebling aufzuheitern, eine Melodie, die mein Vormund gern hatte, und arbeitete dabei ruhig an meiner Handarbeit weiter.

»Und glaubst du, es wird dazu kommen, daß Mr. Woodcourt abermals auf Reisen gehen wird, Vormund?«

»Ich weiß nicht recht, was ich darüber denken soll, meine Liebe, aber es macht mir den Eindruck, als wolle er in einem andern Lande sein Glück versuchen.«

»Er nimmt unsre allerbesten und herzlichsten Wünsche mit, wohin er auch gehen mag«, sagte ich, »und wenn das auch keine Reichtümer sind, wird es ihn darum doch nicht ärmer machen, Vormund.«

»Nein, sicher nicht, kleines Frauchen.«

Ich saß auf meinem gewohnten Platz neben meinem Vormund, und als ich Ada mir gegenüber anblickte, sah ich, daß ihre Augen voller Tränen standen. Ich fühlte, daß ich bloß gefaßt und heiter zu sein brauchte, um sie zu beruhigen, und da mir wirklich so zumute war, fiel es mir nicht schwer.

So ließ ich denn meinen Liebling sich an meine Schulter lehnen und sagte ihr, sie sei nicht ganz wohl, schlang meinen Arm um ihre Taille und führte sie hinauf.

Wie wenig ahnte ich, was ihr so schwer auf dem Herzen lag.

Als wir in unserm Zimmer waren und sie, wie ich ihr ansah, mit sich kämpfte, mir etwas anzuvertrauen, was ich nicht zu hören erwartete, verredete ich die Gelegenheit und munterte sie nicht auf, mir ihr Herz auszuschütten, nicht ahnend, wie sehr sie dessen bedurfte.

»Ach, meine liebe gute Esther«, sagte sie, »wenn ich mich nur entschließen könnte, mit dir und meinem Vetter John zu sprechen, wenn ihr beisammen seid.«

»Aber warum tust du es denn nicht, meine Liebe?« fragte ich ganz erstaunt. »Ada?«

Sie ließ nur den Kopf sinken und drückte mich fester ans Herz.

»Du darfst nicht vergessen, liebes Kind«, sagte ich lächelnd, »was für ruhige altmodische Leute wir sind und was für eine gesetzte Matrone ich geworden bin. Du darfst nicht vergessen, welch glückliches friedvolles Leben meiner wartet, und an wessen Seite. Du mußt dir immer vor Augen führen, an der Seite welches hochherzigen Menschen, Ada!«

»Ja, immer, Esther.«

»Aber dann ist ja alles in Ordnung, Liebling. Warum kannst du dann nicht mit uns sprechen?«

»Alles in Ordnung, Esther? Ach, wenn ich an alle diese Jahre, an seine väterliche Sorgfalt und Güte und unsre alten freundschaftlichen Beziehungen und an dich denke, was soll ich da tun, was soll ich da tun?«

Ich sah meinen Liebling ein wenig verwundert an, hielt es aber für das Beste, das Gespräch auf allerlei kleine gemeinsame Erinnerungen zu lenken, um sie zu verhindern, mehr zu sagen.

Als sie sich niedergelegt und eingeschlafen war, kehrte ich noch einmal zu meinem Vormund zurück, um ihm gute Nacht zu sagen, ging dann wieder zu ihr und setzte mich eine kleine Weile an ihr Bett.

Sie schlief bereits fest, und wie ich sie ansah, kam sie mir ein wenig verändert vor. Mehr als ein Mal schon hatte mir das in der letzten Zeit so geschienen, aber auch jetzt konnte ich mir nicht darüber klar werden, woran es lag. Irgend etwas in der mir so vertrauten Schönheit ihres Gesichtes war anders geworden. Traurig gedachte ich der Hoffnungen, die einstmals mein Vormund auf sie und Richard gesetzt hatte, und sagte mir, daß sie sich um ihren Geliebten gegrämt haben müsse. Sorgenvoll fragte ich mich, welches Ende diese Liebe wohl noch nehmen werde.

So oft ich während Caddys Krankheit nach Hause gekommen war, immer hatte Ada bei einer Handarbeit gesessen, sie stets weggelegt, wenn ich eintrat, so daß ich nie erfuhr, was es war. Ein Zipfel davon guckte jetzt aus dem halboffnen Schubkasten neben ihrem Bett hervor. Ich zog den Kasten natürlich nicht auf, aber es wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, welcher Art die Arbeit wohl sein möge, denn für sie selbst war sie gewiß nicht bestimmt.

Auch bemerkte ich, als ich meinen Liebling küßte, daß sie eine Hand unter dem Kopfpolster verborgen hielt.

Wie viel selbstsüchtiger muß ich damals gewesen sein, als ich von mir glaubte, und wie ganz und gar von Selbstzufriedenheit ausgefüllt, daß ich wähnen konnte, es läge nur in meiner Hand, Ada zu trösten und ihrem Herzen den Frieden wiederzugeben.

So in Selbsttäuschung befangen, legte ich mich nieder, und als ich am nächsten Tag erwachte, da lag der alte Schatten immer noch zwischen mir und meinem Herzenskind.

51. Kapitel


51. Kapitel

Mir geht plötzlich ein Licht auf

Als Mr. Woodcourt in London ankam, ging er noch am selben Tag, wie er mir später erzählte, zu Mr. Vholes in Symond’s-Inn. Von dem Augenblick an, wo ich ihn bat, Richards Freund zu sein, vergaß er niemals sein Versprechen. Er hatte mir gesagt, daß er den Auftrag als ein ihm heiliges Vertrauensamt übernähme, und war dem keine Minute untreu geworden.

Er fand Mr. Vholes in seiner Kanzlei und setzte ihn von seiner Übereinkunft mit Richard, sich hier nach seiner Adresse zu erkundigen, in Kenntnis.

»Schon richtig, Sir«, sagte Mr. Vholes. »Mr. C. wohnt keine hundert Meilen von hier, Sir. Wollen Sie gefälligst Platz nehmen, Sir.«

Mr. Woodcourt lehnte dankend ab, denn er hatte weiter nichts mit Mr. Vholes zu besprechen.

»Schon richtig, Sir«, sagte Mr. Vholes, abermals durch Nichtnennen der Adresse stillschweigend auf seiner Aufforderung, sein Besuch möge sich doch niedersetzen, beharrend. »Ich glaube, Sir, Sie haben einen gewissen Einfluß auf Mr. C. – Besser gesagt, ich weiß es.«

»Da wissen Sie mehr als ich, Mr. Vholes.«

»Sir«, entgegnete der Advokat mit seiner gewohnten Zurückhaltung in seiner Stimme und seinem Benehmen, »es gehört sozusagen zu meinen Berufspflichten, solche Dinge besser zu wissen. Es ist ein Teil meiner Pflicht als Anwalt, einen Herrn, der mir seine Interessen anvertraut, zu studieren und von Grund auf zu verstehen. Und meine Pflicht als Advokat werde ich nie versäumen, Sir, wenn ich mir einmal darüber klar bin. Es kann vorkommen, wenn ich sie nicht kenne, aber andernfalls sicher nicht, Sir.«

Mr. Woodcourt bemerkte wiederum, daß er lediglich wegen der Adresse gekommen sei.

»Gestatten Sie mir nur noch einen Augenblick, Sir! Mr. C. spielt um einen beträchtlichen Einsatz, und er kann nicht spielen, ohne… Brauche ich zu sagen, ohne was?«

»Ohne Geld, vermutlich?«

»So ist es. Um ganz offen mit Ihnen zu reden – Offenheit und Ehrlichkeit sind meine Grundprinzipien, ob ich jetzt dabei gewinne oder verliere, und gewöhnlich verliere ich dabei –, so ist es: Geld! Über die Chancen Mr. C.s gebe ich keine Meinung ab – keine Meinung. Es könnte sehr unpolitisch von Mr. C. sein, aufzuhören, nachdem er so lang und so hoch gespielt hat. Es könnte ganz das Gegenteil sein. Ich sage nichts. Nein, Sir.« – Mr. Vholes legte mit großem Nachdruck die Hand flach auf seinen Schreibtisch. – »Nichts!«

»Sie scheinen zu vergessen«, unterbrach Mr. Woodcourt, »daß ich Sie nach nichts frage und auch nicht das mindeste Interesse an dem, was Sie mir da erzählen, habe.«

»Verzeihen Sie, Sir«, entgegnete Mr. Vholes, »Sie fügen sich selbst ein Unrecht zu. Jawohl, Sir. Entschuldigen Sie! Sie sollen nicht in meiner Kanzlei, wenn ich Sie daran hindern kann, ungerecht gegen sich selbst sein. Sie haben ein Interesse für alles und jedes, was sich auf Ihren Freund bezieht. Ich kenne die menschliche Natur viel zu gut, Sir, um auch nur einen Augenblick annehmen zu können, daß ein Herr von Ihrem Aussehen nicht an allem, was seinen Freund betrifft, Interesse haben sollte.«

»Mag sein«, gab Mr. Woodcourt zu. »Aber ein ganz besondres Interesse hab ich an seiner Adresse.«

(»Die Nummer, Sir?«) warf Mr. Vholes so in Parenthese hin (»glaube ich schon erwähnt zu haben)… Wenn Mr. C. fortfahren will, um diesen beträchtlichen Einsatz zu spielen, muß er Fundus haben. Wohl verstanden ! Es sind zur Zeit Kapitalien da, ich sage es also nicht deswegen. Ja, es sind Kapitalien da. Aber um weiter zu spielen, muß man sich nach einem größeren Fundus umsehen, wenn Mr. C. nicht verloren geben will, was er schon gewagt hat… Das allein ist zu erwägen. Ihnen dies als dem Freund Mr. C.s offen zu sagen, ergreife ich jetzt die Gelegenheit, Sir. Ohne Fundus werde ich mich immer glücklich schätzen, Mr. C.s Rechte in dem Maß zu vertreten, als die erforderlichen Kosten von dem Gericht aus dem strittigen Vermögen bewilligt werden, aber nicht einen Schritt weiter. Ich kann und darf es nicht, ohne nicht irgend jemandem ein Unrecht zuzufügen. Entweder muß ich meinen drei lieben Töchtern ein Unrecht zufügen oder meinem verehrten Vater, der ganz von mir abhängt – im Tale von Taunton –, oder irgendeiner andern Person. Es ist aber nun mein Grundsatz, nennen Sie es nun Schwäche oder Torheit, niemandem ein Unrecht zuzufügen.«

Mr. Woodcourt erwiderte etwas scharf, es freue ihn, das zu hören.

»Ich wünsche einen guten Namen zu hinterlassen; deshalb nehme ich jede Gelegenheit wahr, einem Freunde Mr. C.s offen den Stand seiner Angelegenheiten zu unterbreiten. Ich sage, Sir, in bezug auf mich: der Arbeiter ist seines Lohnes wert, und wenn ich versprochen habe, mich mit der Schulter gegen das Rad zu stemmen, so tue ich es und beziehe daraus, was ich verdiene. Zu diesem Zwecke lebe ich hier. Aus diesem Grund steht mein Name draußen an der Tür geschrieben.«

»Und Mr. Carstones Adresse, Mr. Vholes?«

»Sir, wie ich schon erwähnt zu haben glaube, wohnt er gleich daneben. Im zweiten Stock finden Sie seine Wohnung. Mr. C. wünscht in der Nähe seines Rechtsbeistandes zu sein, und ich habe nicht nur nichts dagegen, sondern es im Gegenteil gern, wenn man mich kontrolliert.«

Mr. Woodcourt wünschte Mr. Vholes kurz und kühl guten Tag und suchte Richard auf, dessen verändertes Aussehen er sich jetzt nur zu gut erklären konnte.

Er fand ihn in einem ungemütlichen Zimmer, das mit fadenscheinigen und verschossenen Möbeln ausgestattet war, ziemlich so, wie ich ihn vor gar nicht langer Zeit in seiner Stube in der Kaserne gefunden hatte, nur daß er nicht schrieb, sondern mit einem Buch in der Hand dasaß, mit seinen Gedanken und seiner Aufmerksamkeit sichtlich ganz woanders. Da die Türe zufällig offen stand, konnte Mr. Woodcourt ihn eine Weile betrachten, ohne von ihm bemerkt zu werden, und er sagte mir, daß er das angegriffne Aussehen und die Niedergeschlagenheit Richards, wie er so vor sich hinträumte, nie vergessen könne.

»Mein lieber Woodcourt«, rief Richard aus, sprang auf und streckte dem jungen Arzt die Hände entgegen. »Sie erscheinen ja wie ein Geist.«

»Wie ein guter, Richard«, war die Antwort, »der nur wartet, wie es Geister tun, bis man ihn anredet. Wie geht’s auf dieser Erdenwelt?«

– Sie setzten sich nebeneinander nieder. –

»Schlimm und langsam genug, wenigstens was meine Rolle in diesem Leben betrifft.«

»Was ist das für eine Rolle?«

»Eine, die auf der Kanzleigerichtsbühne gespielt wird.«

»Diese Sorte soll nicht besonders vergnüglich sein, habe ich mir sagen lassen«, bemerkte Mr. Woodcourt mit Kopfschütteln.

»Ich mir auch«, sagte Richard trübe.

Im nächsten Augenblick war er wieder heiterer und begann mit seiner natürlichen Offenheit:

»Woodcourt, ich möchte nicht gern von Ihnen mißverstanden werden, selbst wenn ich dadurch in Ihrer Achtung stiege. Sie müssen nämlich wissen, daß ich jetzt schon lange Zeit nicht besonders gut getan habe. Nicht etwa, daß ich beabsichtigt hätte, Schaden anzurichten, aber ich scheine zu nichts anderm fähig gewesen zu sein. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte mich von dem Netz fern gehalten, in dem ich jetzt hänge, aber ich kann es nicht recht glauben, obgleich ich wetten möchte, daß Sie darüber gar bald andre Meinungen zu hören bekommen werden, wenn das nicht schon der Fall gewesen ist. Der langen Rede kurzer Sinn ist: Ich fürchte, es hat mir an einem Ziel gefehlt, aber jetzt habe ich eins – oder es hat mich. Es ist jetzt zu spät, darüber zu streiten. Sie müssen mich eben so nehmen, wie ich bin, und so gut Sie können.«

»Abgemacht«, sagte Mr. Woodcourt. »Tun Sie dasselbe mit mir.«

»Ach, Sie! Sie können Ihren Beruf um seiner selbst willen betreiben und Hand an den Pflug legen, ohne ein einziges Mal zurückzublicken und in jeder Sache auf ein Ziel loszusteuern. Ja, Sie und ich, wir sind eben ganz verschiedne Menschen.«

Sein Ton war kummervoll, und er versank einen Augenblick wieder in seine müde Abspannung.

»Aber alles muß ein Ende haben«, rief er und schüttelte seine niedergedrückte Stimmung ab. »Wir werden sehen! Sie nehmen mich also, wie ich bin?«

»Ja, das will ich.«

Sie schüttelten einander die Hände, lachend, aber in tiefstem Ernst. Für einen von ihnen wenigstens kann ich mich aus meinem innersten Herzen verbürgen.

»Sie kommen wie von Gott gesandt«, sagte Richard, »denn ich habe hier niemanden zu Gesicht bekommen außer Vholes. – Woodcourt, eine Sache möchte ich ein für alle Mal gleich zu Anfang unsres Vertrages zur Sprache bringen. Sie könnten sonst kaum gut von mir denken, wenn ich es unterließe. Sie wissen wahrscheinlich von meinen Beziehungen zu meiner Kusine Ada?«

Mr. Woodcourt antwortete, ich hätte sie ihm angedeutet.

»Ich bitte Sie also, halten Sie mich nicht für einen berechnenden Egoisten. Glauben Sie nicht, daß ich mir bloß meinetwegen über diesen miserablen Kanzleigerichtsprozeß den Kopf zerbreche und halb und halb auch das Herz. Adas Interessen sind mit den meinen verflochten, und sie können nicht voneinander getrennt werden; Vholes arbeitet also für beide. Bedenken Sie das!«

Die Sache schien ihm so am Herzen zu liegen, daß Mr. Woodcourt ihm wiederholt versicherte, er denke das Beste von ihm.

»Sehen Sie, ich kann es nicht über mich bringen«, sagte Richard, mit ein wenig mehr Pathos – wenn er sich dessen auch nicht bewußt war –auf diesem Punkt verweilend, als gerade nötig gewesen wäre, »ich kann es nicht über mich bringen, einem aufrichtigen ehrlichen Menschen wie Ihnen, der mit einem so freundlichen Gesicht hierherkommt, selbstsüchtig und niedrig zu erscheinen. Ich wünsche, daß Ada zu ihrem Recht kommt, Woodcourt, so gut wie ich. Ich wünsche mein Äußerstes zu tun, um ihr dazu zu verhelfen, so gut wie mir selbst; ich setze aufs Spiel, was ich zusammenscharren kann, um sie und mich aus diesem Netz herauszuwickeln. Ich bitte Sie, bedenken Sie das!«

Später, als Mr. Woodcourt über das damals Geschehene nachdachte, war der Eindruck, den die Leidenschaftlichkeit Richards in diesem Punkte auf ihn gemacht hatte, so stark, daß er ganz besonders lang dabei verweilte, als er mir in großen Zügen von seinem ersten Besuch in Symond’s-Inn erzählte. Es machte die schon früher gehegte Besorgnis in mir wieder lebendig, Mr. Vholes könne auch das kleine Vermögen meines Lieblings heraussaugen und Richard habe sich, weil die Sache vielleicht schon ihren Anfang genommen, deswegen so ängstlich rechtfertigen wollen.

Die Zusammenkunft fand um die Zeit statt, wo ich angefangen hatte, Caddy zu pflegen, und ich kehre jetzt zu dem Zeitpunkt wieder zurück, wo sie genesen war und immer noch der Schatten zwischen mir und meinem Liebling schwebte. Ich schlug Ada eines Morgens vor, Richard zu besuchen, und es setzte mich ein wenig in Erstaunen, daß sie zögerte und nicht so freudig bereit war, als ich erwartet hatte.

»Aber Liebste«, sagte ich, »du hast dich doch nicht am Ende während der langen Zeit meiner Abwesenheit mit Richard gezankt?«

»Nein, Esther.«

»Oder keine Nachrichten von ihm bekommen?«

»Nein, nein.«

– Die Tränen in ihren Augen und dabei so viel Liebe in ihrem Gesicht? Ich konnte aus meinem Liebling nicht klug werden. –

»Soll ich vielleicht allein zu Richard gehen?« fragte ich. Nein, Ada wollte mich begleiten. Ob sie jetzt gehen möchte? »Ja, gehen wir.«

– Wahrhaftig, ich konnte aus meinem Liebling nicht klug werden. Tränen in den Augen!? –

Wir waren bald angezogen und gingen aus. Es war trübes Wetter, und mit Unterbrechungen fielen kalte Regenschauer. Es war einer jener farblosen Tage, wo alles finster und traurig aussieht. Die Häuser blickten uns zürnend an, der Ruß fiel auf uns nieder, und die ganze Natur war schlecht aufgelegt und zeigte ein böses Gesicht. Es kam mir vor, als passe mein hübscher Liebling gar nicht in diese düstern Straßen, und mehr Leichenbegängnisse, als ich je früher gesehen, schienen mir über das unheimliche feuchte Pflaster zu ziehen.

Es galt vor allem, die Lage von Symond’s-Inn zu erfragen. Ich stand eben im Begriff, mich in einem Laden danach zu erkundigen, da sagte Ada, sie glaube, es sei in der Nähe von Chancery-Lane.

»Dann können wir nicht mehr fehlgehen, Liebste, wenn wir diese Richtung einschlagen«, sagte ich.

So gingen wir denn nach Chancery-Lane, und wirklich, dort las ich: Symond’s-Inn.

Wir mußten jetzt die Hausnummer suchen. Oder Mr. Vholes‘ Kanzlei, besann ich mich. Denn Mr. Vholes‘ Kanzlei sollte gleich daneben sein. Vielleicht sei Mr. Vholes‘ Kanzlei an der Ecke dort, meinte Ada. Und richtig war sie dort.

Nun kam die Frage, welches Haustor daneben das richtige sei. Ich stimmte für das eine und mein Herzenskind für das andre, und abermals hatte sie recht. So gingen wir denn in den zweiten Stock hinauf, wo wir Richards Namen in großen weißen Buchstaben auf einer grabsteinähnlichen Platte lasen.

Ich wollte klopfen, aber Ada meinte, wir sollten den Türgriff aufklinken und hineingehen. So überraschten wir Richard, an einem Tisch mit bestaubten Aktenbündeln brütend, die mir wie blind gewordne Spiegel, in denen sich das Abbild seiner Seele malte, erschienen. Wo ich hinsah, las ich die unseligen Worte: »Jarndyce kontra Jarndyce«.

Er empfing uns sehr liebreich, und wir setzten uns.

»Wären sie ein wenig früher gekommen, hätten Sie Woodcourt hier gefunden«, sagte er. »Er ist wirklich ein guter Kerl. Er findet Zeit, mich manchmal zu besuchen, wo ein andrer mit nur der Hälfte seiner Arbeit kaum abkommen könnte. Und er ist so munter und frisch, so verständig, so ernst dabei –, kurz, so ganz das Gegenteil von mir, daß die Wohnung ordentlich freundlicher wird, wenn er kommt, und wieder düster, wenn er geht.«

»Gott segne ihn«, dachte ich, »daß er so Wort hält!«

»Er ist nicht so sanguinisch, Ada«, fuhr Richard fort und warf einen trüben Blick auf die Akten, »wie Vholes und ich gewöhnlich sind, aber er ist nur ein Laie und kennt die Geheimnisse nicht. Wir sind in sie eingedrungen und er eben nicht. Da kann man von ihm natürlich nicht erwarten, daß er sich in einem solchen Labyrinth besonders auskennt.«

– Wie sein Blick wieder über die Papiere hinschweifte und er sich mit beiden Händen über die Stirne strich, bemerkte ich, wie hohläugig er aussah und – wie trocken seine Lippen waren; auch hatte er alle Nägel an den Fingern abgenagt. –

»Glauben Sie, daß es sich hier gesund wohnt, Richard?« fragte ich.

»Nun, meine liebe Minerva«, gab Richard mit seinem alten fröhlichen Lachen zur Antwort, »die Umgebung ist hier freilich weder ländlich noch heiter, und wenn es hier ein wenig heller wird, können Sie mit ziemlicher Sicherheit wetten, daß die Sonne im Freien wolkenlos am Himmel steht. Aber vorläufig ist die Lage nicht schlecht. Es ist nicht weit zum Gericht und ganz in der Nähe von Vholes.«

»Vielleicht würde eine Trennung von beiden –«

»– mir guttun? Meinen Sie?« Richard zwang sich zu einem Lachen. »Leicht möglich! Aber das kann nur auf eine Weise geschehen; entweder muß es mit dem Prozeß aus sein, Esther, oder mit den Parteien. Aber wir werden dem Prozeß schon ein Ende machen, meine Liebe.«

– Die letzten Worte sagte er zu Ada, die ihm zunächst saß. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, da sie es von mir weggewendet hatte. –

»Wir machen gute Fortschritte«, fuhr Richard wieder zu mir gewendet fort. »Fragen Sie nur Vholes. Wir lassen die Sache nicht ruhen. Vholes kennt alle ihre Schliche und Abwege, und wir sind ihr überall auf den Fersen. Wir haben die Siebenschläfer schon oft in Erstaunen versetzt und werden das ganze Nest eines Tages schon aufwecken. Denken Sie an meine Worte.«

– Seine Hoffnungsfreudigkeit hatte mich seit langem schon schmerzlicher berührt als seine Niedergeschlagenheit. Sie hatte so gar nichts von wirklichem Hoffen an sich, war so hungrig und ruhelos, daß es mir lange schon ins Herz schnitt, aber der jetzt unauslöschlich auf sein hübsches Gesicht geschriebne Kommentar machte den Eindruck noch viel peinlicher. Ich sage »unauslöschlich«, denn ich fühlte im tiefsten Innersten, die Spuren frühzeitiger Sorgen, Selbstvorwürfe und Täuschungen würden bis zur Stunde seines Todes ihren Stempel auf sein Gesicht gedrückt haben, selbst wenn der unselige Prozeß in dieser Stunde seine glänzendsten Hoffnungen erfüllt hätte.

»Der Anblick unsres lieben kleinen Mütterchens«, sagte Richard, während Ada immer noch still und ruhig dasaß, »ist mir so liebgewohnt, und ihr Gesicht, so voll Teilnahme, dem Gesicht entschwundner Tage so ähnlich –«

»Ach nein, nein.« Ich lächelte und schüttelte den Kopf.

»– so ganz und gar das Gesicht der entschwundnen Tage« – Richard hatte einen Augenblick seinen alten herzlichen Ton wiedergefunden und ergriff meine Hände mit dem brüderlichen Gefühl, das nichts wanken machen konnte – »daß ich mich vor ihr nicht verstellen kann. Ich schwanke ein wenig, es ist ja wahr. Manchmal hoffe ich, liebe Esther, und manchmal – bin ich ganz verzweifelt. Aber nur scheinbar. Ich werde so müde…« Er ließ sanft meine Hand fallen und ging im Zimmer auf und nieder… Dann warf er sich auf das Sofa.

»Ich werde so müde«, wiederholte er trüb. »Es ist eine aufreibende, aufreibende Arbeit.«

Er stützte sich auf seinen Arm, seine Augen suchten den Boden, und er sagte diese Worte in einem so nachdenklichen Ton, daß mein Liebling aufstand, den Hut abband, neben ihm niederkniete, daß ihr goldblondes Haar wie Sonnenlicht auf sein Haupt herniederfiel, ihn mit ihren beiden Armen umschlang und mir ihr Gesicht zuwendete. – Welche Liebe und Hingebung lag in diesem Antlitz! –

»Liebe Esther«, sagte sie sehr ruhig, »ich gehe nicht wieder nach Hause.«

Mir ging plötzlich ein Licht auf.

»Nein, niemals wieder. Ich bleibe bei meinem lieben Gatten. Wir sind jetzt zwei Monate verheiratet. Geh nach Hause ohne mich, meine liebe Esther. Ich werde nie mehr wieder zurückkommen.«

Mit diesen Worten zog sie sein Haupt an ihre Brust und ließ es dort ruhen. Und wenn ich jemals in meinem Leben eine Liebe gesehen habe, die nur der Tod trennen kann, sah ich sie jetzt in ihrem Gesicht.

»Sprich mit Esther, meine liebe Ada«, unterbrach Richard das Schweigen. »Erzähle ihr, wie alles gekommen ist.«

Ich hob sie auf und schloß sie in meine Arme. Keins von uns sprach; ihre Wange ruhte an der meinen, und ich wollte nichts hören.

»Mein Herz«, sagte ich. »Mein Liebling. Mein armes, armes Kind!«

Ich bedauerte sie so sehr. Ich hatte Richard sehr gern, aber es drängte mich innerlich, sie tief zu bemitleiden.

»Esther, kannst du mir verzeihen ? Wird mir Vetter John verzeihen?«

»Liebes Kind, daran auch nur einen Augenblick zu zweifeln, hieße ihm ein schweres Unrecht tun. Und was mich betrifft…«

Was mich betraf, was hatte ich zu verzeihen?

Ich trocknete meinem schluchzenden Liebling die Tränen und setzte mich neben sie auf das Sofa, und Richard saß auf meiner andern Seite. Ganz so wie damals an jenem denkwürdigen Abend, wo sie mich ins Vertrauen gezogen und mir in ihrer jungen Begeisterung von ihrer Liebe geschwärmt hatten, erzählten sie mir, wie es gekommen war.

»Alles, was ich hatte, gehörte doch Richard«, sagte Ada, »aber er wollte es nicht annehmen, und was konnte ich da anderes tun, als seine Frau werden, wo ich ihn so innig liebte?«

»Und Sie waren so vollkommen von guten Werken in Anspruch genommen, Mütterchen«, erklärte Richard, »daß wir uns nicht entschließen konnten, Ihnen damals etwas davon zu sagen. Und überdies hatten wir nicht lange Zeit zur Überlegung. Wir gingen eines Morgens aus und ließen uns trauen.«

»Und als es geschehen war, Esther«, fiel mein Liebling ein, »sann ich beständig darüber nach, wie ich es dir am besten mitteilen sollte. Manchmal glaubte ich, du müßtest es auf der Stelle erfahren, und manchmal wieder, es dürfte nie sein und ich müßte es vor meinem Vetter John verheimlichen, und so schwankte ich unentschlossen hin und her, und es quälte mich sehr.«

– Wie selbstsüchtig mußte ich gewesen sein, daß ich nicht vorher daran gedacht hatte! –

Ich wußte nicht, was ich jetzt dazu sagen sollte. Es tat mir so leid, und doch hatte ich sie beide so lieb und freute mich, daß sie so aneinander hingen; ich bedauerte sie so sehr und empfand es doch wie Stolz, daß sie sich liebten. Noch nie haben in mir so schmerzliche und milde Empfindungen zu gleicher Zeit gekämpft, und ich wußte nicht, welches Gefühl das stärkere war. Aber eins war sicher, ich durfte ihren Lebensweg nicht verfinstern.

Als ich gefaßter geworden war, nahm mein Herzenskind ihren Trauring aus dem Busen, küßte ihn und steckte ihn an den Finger. Ich erinnerte mich an den gestrigen Abend und sagte Richard, sie habe ihn seit ihrer Verheiratung beständig im Schlafe getragen, und als Ada mich errötend fragte, woher ich das wisse, erzählte ich ihr, wie ich gesehen, und ohne zu ahnen, warum, daß sie die Hand unter dem Kissen versteckt gehalten hatte.

Dann fingen sie mir wieder an zu erzählen, wie alles gekommen war, und ich wurde wieder betrübt und erfreut und wieder ganz kindisch und mußte mein Gesicht verbergen, so gut es ging, um ihnen nicht allen Mut zu nehmen.

So verrann die Zeit, bis ich endlich an das Nachhausegehen denken mußte. Da wurde es am allerschlimmsten, und mein Herzenskind verlor alle Fassung. Sie warf sich an meine Brust, gab mir alle erdenklichen zärtlichen Namen und jammerte, was sie denn ohne mich anfangen solle. Richard ging es nicht viel besser, und ich selbst mußte mich zusammennehmen, um mich nicht am wenigsten gefaßt von uns allen dreien zu zeigen. Nur daß ich mir sagte: »Esther, wenn du dich nicht besser benimmst, spreche ich nie ein Wort mehr mit dir«, half mir ein wenig.

»Wirklich, ich erkläre«, sagte ich, »so eine junge Ehefrau ist mir noch nicht vorgekommen. Man sollte denken, daß sie ihren Mann überhaupt nicht lieb hat. Hier, Richard, nehmen Sie um Himmels willen mein Herzenskind!« Aber ich hielt Ada die ganze Zeit über fest an mich gedrückt und hätte, ich weiß nicht wie lange, an ihrer Wange weinen können.

»Ich gebe hiermit diesem lieben jungen Ehepaar kund und zu wissen«, sagte ich endlich, »daß ich nur gehe, um morgen wieder zu kommen, und das so Tag für Tag, bis Symond’s-Inn meinen Anblick satt hat. Deshalb sage ich ihnen auch nicht Lebewohl, Richard. Was haue das für einen Zweck, wo ich so bald wiederkomme.«

Ich hatte ihm meinen Liebling jetzt übergeben und wollte gehen. Aber ich konnte nicht fort, ohne nicht noch einen letzten Blick auf das liebe Gesicht zu werfen, von dem ich mich nicht trennen konnte, ohne daß es mir das Herz zerriß.

So sagte ich denn in erkünstelter Lustigkeit, wenn sie mich nicht aufforderten, wiederzukommen, wüßte ich nicht, ob ich mir »die Freiheit nehmen« dürfe? Mein Liebling blickte auf, lächelte unter Tränen, und ich nahm ihr liebes Gesicht zwischen meine beiden Hände, gab ihm einen letzten Kuß und lachte und lief fort.

Aber als ich die Treppe unten war, wie weinte ich da! Es war mir fast, als hätte ich Ada auf ewig verloren. Ich fühlte mich so einsam und verlassen ohne sie, und es war so unendlich traurig, nach Hause zu gehen, ohne Hoffnung, sie dort zu finden, daß ich mich eine Weile lang gar nicht trösten konnte und in einer dunkeln Ecke schluchzend und weinend auf und ab ging.

Nach und nach faßte ich mich wieder, nahm eine Droschke und fuhr nach Hause.

Mein Vormund war ausgegangen, um sich nach dem armen Jungen, den ich in St. Albans gefunden und der, wie ich hörte, jetzt im Sterben lag, zu erkundigen, und wollte erst nach dem Mittagessen zurückkehren. So war ich also ganz allein, weinte wieder ein wenig, wenn ich auch, wie ich hoffe, mich nicht mehr so gänzlich fassungslos benahm.

Es war nur natürlich, daß ich mich nicht so leicht an den Verlust meines Lieblings gewöhnen konnte, und es war erst drei oder vier Stunden her, daß ich alles erfahren hatte. Aber die ungemütliche Umgebung, in der ich sie verlassen, ging mir nicht aus dem Sinn, und immer noch sah ich den düstern versteinerten Ort vor mir und sehnte mich so sehr, in Adas Nähe zu sein und mich wenigstens einigermaßen um sie zu sorgen, daß ich mich entschloß, abends wieder hinzugehen, wenn auch nur, um zu ihrem Fenster hinaufzusehen.

Es war kindisch, ich gebe es zu, aber es erschien mir damals gar nicht so, und auch heute denke ich nicht anders darüber. Ich zog Charley ins Vertrauen, und wir gingen bei Dunkelwerden miteinander hin. Es war finster, als wir die neue seltsame Wohnung meines Lieblings erreichten, und Licht schimmerte hinter den gelben Vorhängen. Wir gingen vorsichtig ein paar Mal vorbei und wären mit einem Haar Mr. Vholes in die Arme gelaufen, als er gerade aus seiner Kanzlei kam und ebenfalls vor dem Nachhausegehen einen Blick hinaufwarf. Der Anblick seiner hagern schwarzen Gestalt und das einsame trübe Aussehen dieses Winkelwerks bei Nacht paßten gut zu meiner Gemütsverfassung. Ich dachte an die Jugend, die Liebe und Schönheit meines lieben Mädchens, das in diesem grausamen finstern Gebäude jetzt eingeschlossen war.

Es war jetzt einsam und still, und ich glaubte mich ungesehen die Treppe hinaufschleichen zu können. Ich ließ Charley unten warten und ging auf den Fußspitzen hinauf im Schein der düster brennenden Öllaterne. Ich lauschte einen Augenblick und glaubte in der staubigen verfallenen Einsamkeit des alten stillen Hauses das Gemurmel ihrer jungen Stimmen zu hören. Ich drückte einen Kuß für mein Herzenskind auf das grabsteinartige Türschild und ging still wieder hinunter, mit dem Vorsatz, ihnen diesen Besuch an einem der nächsten Tage einzugestehen.

Ich fühlte mich erleichtert. Obgleich niemand als Charley und ich davon wußte, kam es mir doch vor, als habe der Schmerz der Trennung zwischen Ada und mir sich gesänftigt und als seien wir für einen Augenblick wieder beisammen gewesen. Dann ging ich nach Hause, noch nicht ganz gewöhnt an die Veränderung, aber durch den heimlichen Versuch immerhin ein wenig in besserer Stimmung.

Mein Vormund war inzwischen nach Hause gekommen und stand gedankenvoll am Fenster. Als ich eintrat, erhellte sich sein Gesicht, und er ging zu seinem Stuhle. Als ich mich setzte, fiel das Licht auf mein Gesicht.

»Kleines Frauchen«, sagte er, »du hast geweint?«

»Nun ja, Vormund, ich fürchte, ich habe ein wenig geweint«, gestand ich. »Ada war so betrübt und ist so voller Kummer, Vormund.«

Ich legte meinen Arm auf seine Stuhllehne und sah ihm an, daß meine Worte und mein Blick auf ihren leeren Sessel ihm bereits alles verraten hatten.

»Ist sie verheiratet, Esther?«

Ich erzählte ihm alles, und auch, daß ihr erstes Wort die Bitte gewesen sei, er möge ihr verzeihen.

»Sie braucht darum nicht zu bitten«, sagte er. »Gott segne sie und ihren Gatten!«

Aber wie es auch bei mir die erste Regung gewesen war, sie tief zu bemitleiden, so auch jetzt bei ihm.

»Armes, armes Mädchen! Armer Rick! Arme Ada!«

Wir beiden schwiegen lange, dann seufzte er nach einer Weile: »Ja, ja, es wird wieder einsam in Bleakhaus.«

»Aber seine Herrin bleibt, Vormund.« Obgleich es mir widerstrebte, das zu sagen, tat ich es doch wegen des bekümmerten Tones, mit dem er sprach. »Sie wird ihr möglichstes tun, es glücklich zu machen.«

»Es wird ihr gelingen, Esther!«

Er sah mich mit seinem alten klaren väterlichen Blick an, legte in seiner freundlichen Weise seine Hand auf die meinige und sagte wieder: »Es wird ihr gelingen, mein Kind. Dennoch wird Bleakhaus wieder einsam sein, kleines Frauchen.«

Es tat mir innerlich leid, daß wir weiter nichts darüber sprachen. Ich fühlte mich fast enttäuscht und fürchtete schon, ich sei seit dem Vorfall mit dem Brief vielleicht doch nicht immer so gewesen, wie ich hätte sein sollen.

52. Kapitel


52. Kapitel

Halsstarrigkeit

Nur ein Tag war vergangen, da kam zeitig morgens, eben als wir uns an den Frühstückstisch setzen wollten, Mr. Woodcourt in Eile herein mit der überraschenden Nachricht, ein schrecklicher Mord sei begangen und als mutmaßlicher Täter Mr. George verhaftet worden. Als er uns erzählte, Sir Leicester Dedlock habe eine hohe Belohnung auf die Entdeckung des Mörders gesetzt, konnte ich mir in meiner ersten Bestürzung nicht erklären, warum. Aber ein paar Worte riefen in mir die Erinnerung zurück, daß der Ermordete Sir Leicesters Advokat war, und plötzlich fiel mir ein, wie sehr sich meine Mutter vor ihm gefürchtet hatte.

Die unerwartete und gewaltsame Beseitigung eines Mannes, den sie so lange mit Furcht und Argwohn beobachtet hatte, eines Mannes, dessen sie unmöglich freundlich gedacht haben konnte und den sie stets als einen gefährlichen und versteckten Feind fürchtete, erschien mir in einem doppelt grauenerregenden Lichte. Wie schrecklich, die Nachricht von einem solchen Todesfall zu hören und nicht imstande zu sein, Mitleid zu empfinden! Wie grauenhaft, denken zu müssen, sie könne manchmal dem alten Mann, der jetzt so plötzlich dem Leben entrissen war, den Tod gewünscht haben! Solche Gedanken stürmten auf mich ein, vermehrten noch das Unbehagen und die Furcht, die der Name Tulkinghorn schon immer in mir geweckt hatte, und versetzten mich in so große Aufregung, daß ich es kaum bei Tisch auszuhalten vermochte. Ich konnte dem Gespräch nicht mehr folgen und brauchte erst eine kleine Weile Zeit, um mich zu erholen. Als ich dann sah, wie erschüttert mein Vormund war, und sie in tiefem Ernst von dem Verhafteten sprechen hörte und wir den günstigen Eindruck, den er auf uns alle gemacht hatte, dagegen hielten, erwachte meine Teilnahme für den Kavalleristen so lebhaft in mir, daß ich mich schon allein dadurch wieder erholte.

»Vormund, nicht wahr, du hältst es für unmöglich, daß man ihn mit Grund beschuldigt?«

»Meine Liebe, ich kann es mir nicht denken. Dieser Mann, der immer so offenherzig und mitleidig gewesen ist und neben der Kraft eines Riesen die Sanftmut eines Kindes besitzt und wie der bravste Kerl von der Welt aussieht und so einfach und schlicht ist, kann unmöglich ein Mörder sein. Ich kann es nicht glauben.«

»Und ich auch nicht«, sagte Mr. Woodcourt. »Aber was wir auch von ihm glauben oder wissen, wir dürfen nicht vergessen, daß der Schein gegen ihn spricht. Er war dem Ermordeten durchaus nicht wohlgesinnt und hat das offen bei allen möglichen Gelegenheiten geäußert. Er soll ihn heftig angefahren haben und sprach sich auch einmal mir gegenüber haßerfüllt über ihn aus. Er gibt zu, fast in der Minute an dem Ort, wo der Mord vorgefallen ist, das heißt, begangen worden sein muß, allein gewesen zu sein. Aber trotz alledem möchte ich darauf schwören, daß er an dem Mord so unschuldig ist wie ich. Leider jedoch sind die erwähnten Gründe danach angetan, den Verdacht auf ihn fallen zu lassen.«

»Sehr wahr«, sagte mein Vormund und wendete sich an mich. »Und wir würden ihm einen sehr schlechten Dienst leisten, meine Liebe, wenn wir auch nur hinsichtlich eines dieser Punkte unsre Augen der Wahrheit verschließen wollten.«

Ich fühlte natürlich die Richtigkeit dieser Worte vollkommen. Dennoch wüßte ich – konnte ich mich nicht enthalten zu sagen –, daß alle diese Verdachtsmomente uns nicht bewegen dürften, ihn in seiner Not im Stiche zu lassen.

»Gott sei vor«, entgegnete mein Vormund. »Wir wollen bei ihm aushalten, wie er selbst bei den beiden armen Geschöpfen, die jetzt tot sind, es getan hat.« – Er meinte Mr. Gridley und Jo. –

Mr. Woodcourt erzählte uns dann, daß der Gehilfe des Kavalleristen vor Tagesanbruch bei ihm gewesen war, nachdem er die ganze Nacht wie ein Wahnsinniger in den Straßen umher geirrt sei. Wie eine Last habe Mr. George die Sorge auf der Seele gelegen, daß wir ihn für schuldig halten könnten. Deshalb habe er seinen Gehilfen beauftragt, uns seiner vollkommensten Unschuld mit den feierlichsten Beteuerungen zu versichern. Und Mr. Woodcourt habe den Mann nur durch das feste Versprechen beruhigen können, uns diese Botschaft schon zeitig am Morgen überbringen zu wollen. Er sei soeben im Begriff, setzte er hinzu, den Gefangnen zu besuchen.

Mein Vormund erklärte, sofort mitgehen zu wollen. Und was mich betraf, hatte ich außer einer herzlichen Sympathie für den ehemaligen Soldaten, die auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien, das geheime Interesse, das nur mein Vormund kannte, an dem Geschehnis. Ich hatte das Gefühl, daß es mich nahe angehe, und es schien mir eine Sache von großer Wichtigkeit für meine Person zu sein, daß die Wahrheit entdeckt werde und kein Unschuldiger in Verdacht komme; denn verwirrten sich einmal die Pfade der Wahrheit, wer weiß, –wie weit dann noch alles führen konnte.

Mit einem Wort, mein Pflichtgefühl sagte mir, daß ich sie begleiten müßte, und da mein Vormund es mir nicht ausredete, ging ich mit.

Es war ein großes Gefängnis mit vielen Höfen und Gängen, einander so ähnlich und so ermüdend gleichförmig gepflastert, daß ich zu begreifen anfing, wie einsame Gefangene, wenn sie viele Jahre lang immer in denselben kahlen Wänden eingekerkert vertrauern, ein Pflänzchen oder einen einzelnen Grashalm, wie ich oft gelesen, lieb gewinnen konnten.

Allein in einem gewölbten Raum, der einem Keller über der Erde glich, mit so grellweißen Wänden, daß das starke eiserne Gitter vordem Fenster und die schwere Eisentür dadurch noch tiefer schwarz aussahen, fanden wir den Kavalleristen in einer Ecke stehen. Er hatte dort auf einer Bank gesessen und war aufgesprungen, als er die Schlösser und Riegel hatte rasseln hören.

Als er uns sah, kam er uns mit seinem gewohnten, wuchtigen Gang zwei Schritte entgegen, blieb dann stehen und machte eine zögernde Verbeugung. Aber als ich auf ihn zukam und ihm meine Hand entgegenstreckte, erhellte sich sogleich seine Miene.

»Es fällt mir ein Stein vom Herzen, versichere ich Ihnen, Miß, und Ihnen, meine Herren«, sagte er, holte tief Atem und begrüßte uns mit großer Herzlichkeit. »Und jetzt ist es mir einerlei, wie die Sache endet.«

– In seiner Ruhe und mit seiner soldatischen Haltung sah er viel eher wie ein Kerkermeister als wie ein Gefangener aus. –

»Das ist womöglich ein noch unfreundlicherer Ort als meine Schießgalerie, um den Besuch einer Dame zu empfangen, aber ich weiß, Miß Summerson wird sich daran nicht stoßen.« Er führte mich zu der Bank, auf der er gesessen hatte, und daß ich Platz nahm, schien ihn sehr zu freuen und zu befriedigen.

»Ich danke Ihnen, Miß«, sagte er.

»Nun, George«, bemerkte mein Vormund, »da wir keiner neuen Beteuerung Ihrerseits bedürfen, so glaube ich, brauchen wir unsrerseits Ihnen auch keine zu machen.«

»Gewiß nicht, Sir. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Wäre ich nicht unschuldig an dem Verbrechen, könnte ich Ihnen nicht ins Gesicht sehen und mein Geheimnis vor Ihnen verbergen. Ich empfinde es sehr tief, daß Sie mich hier besuchen. Ich bin keiner von der beredten Sorte, aber ich fühle es tief, Miß Summerson, und Sie, meine Herren.«

Er legte seine Hand einen Augenblick auf seine breite Brust und verbeugte sich leicht gegen uns. Obgleich er sich sofort wieder aufrichtete, verriet sein Gesicht doch die Rührung, die ihn eine Sekunde überwältigt hatte.

»Erstens«, begann mein Vormund, »können wir irgend etwas zur Verbesserung Ihrer Lage tun, Mr. George?«

»Inwiefern, Sir?«

»Wünschen Sie vielleicht irgend etwas, daß Sie Ihre Lage weniger drückend empfinden ließe?«

»Nein, Sir, nichts«, entgegnete Mr. George nach kurzem Nachdenken. »Ich bin Ihnen sehr verbunden; da aber Rauchen nicht erlaubt ist, wüßte ich wirklich nichts.«

»Es wird Ihnen vielleicht nach und nach manches einfallen, und dann, bitte, lassen Sie es uns wissen, George.«

»Besten Dank, Sir. Ein Mann, der sich so lange in der Welt herumgeschlagen hat wie ich«, bemerkte Mr. George mit einem Lächeln auf seinem sonnenverbrannten Gesicht, »kann es auch, wenn es darauf ankommt, an einem Ort wie dem gegenwärtigen aushalten.«

»Und zweitens, was Ihre Sache betrifft«, fuhr mein Vormund fort.

– Mr. George verschränkte die Arme, und etwas wie Neugierde malte sich auf seinem Gesicht. –

»Wie steht es jetzt damit?«

»Nun, Sir, sie ist bis auf ein weiteres Verhör verschoben. Bucket ließ mich wissen, daß er wahrscheinlich von Zeit zu Zeit ein neues Verhör beantragen wolle, bis der Fall vervollständigt sein werde. Wie er vollständiger werden soll, kann ich nicht recht einsehen, aber Bucket wird das schon irgendwie deichseln.«

»Aber Gott bewahre, Mensch!« rief mein Vormund ungeduldig aus. »Sie sprechen ja von sich, als seien Sie dabei gar nicht beteiligt.«

»Nichts für ungut, Sir. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Güte, aber ich verstehe nicht, wie ein Unschuldiger solche Anklagen überhaupt ertragen kann, ohne mit dem Kopf an die Wand zu rennen, wenn er die Sache nicht auf diese Weise auffaßt.«

»Bis zu einem gewissen Grade wahr genug«, gab mein Vormund ein wenig besänftigt zu. »Aber, mein Lieber, selbst ein Unschuldiger muß die notwendigen Maßregeln zu seiner Verteidigung ergreifen.«

»Sicherlich, Sir. Und das habe ich auch getan. Ich habe vor den Beamten erklärt: ‚Meine Herren, ich bin in dieser Sache so unschuldig wie Sie selbst. Die Tatsachen, die Sie mir entgegengehalten haben, sind vollständig wahr, aber weiter weiß ich nichts von der Sache‘. Bei dieser Erklärung gedenke ich zu bleiben, Sir. Was kann ich mehr tun. Es ist die Wahrheit.«

»Aber die Wahrheit allein reicht nicht aus«, wendete mein Vormund ein.

»Reicht nicht aus, Sir? Das ist ja eine schlechte Aussicht für mich«, bemerkte Mr. George gutgelaunt.

»Sie müssen einen Rechtsbeistand haben«, fuhr mein Vormund fort. »Wir müssen Ihnen einen guten Advokaten verschaffen.«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, – Mr. George wich einen Schritt zurück – »ich bin Ihnen wirklich außerordentlich verbunden, aber ich muß Sie entschieden bitten, mich zu entschuldigen…«

»Sie wollen keinen Advokaten haben?«

»Nein, Sir.« Mr. George schüttelte den Kopf mit großer Entschlossenheit. »Ich danke Ihnen nochmals, Sir, aber, bitte, keinen Advokaten.«

»Warum denn nicht?«

»Ich kann diese Sorte nicht besonders ausstehen. Auch Gridley konnte es nicht und… Sie entschuldigen schon, aber ich hätte gedacht, Sie selbst könnten es auch nicht, Sir.«

»Ja, das betrifft Zivilsachen«, erklärte mein Vormund, nach Worten suchend. »Hm, ja, Zivilsachen, George.«

»So, so, Sir«, entgegnete der Kavallerist leichthin. »Ich kenne mich in diesen Unterschieden nicht aus, aber trotzdem kann ich die Sorte nicht ausstehen.«

Er wechselte seine Stellung und stand, seine schwere Hand auf den Tisch gelegt und die andre in die Hüfte gestemmt, wie das Urbild eines Mannes da, den nichts von einem ein Mal gefaßten Entschluß abbringen könne. Vergebens redeten wir ihm alle drei zu und bemühten uns, ihn andern Sinnes zu machen. Er hörte uns mit der Freundlichkeit, die so gut zu seinem derben geraden Wesen stand, aufmerksam zu, aber unsre Vorstellungen machten offenbar auf ihn nicht mehr Eindruck als auf die Kerkermauern.

»Bitte, überlegen Sie sich’s noch ein Mal, Mr. George«, mischte ich mich ein. »Können wir denn gar nichts in Ihrer Angelegenheit tun?«

»Am liebsten wäre mir, ich käme vor ein Kriegsgericht, Miß. Aber das ist leider ausgeschlossen, wie ich recht gut weiß. Wenn Sie so gut sein wollen, Miß, mir nur ein paar Minuten Ihre Aufmerksamkeit zu schenken, so will ich mich bemühen, Ihnen so klar, wie ich kann, auseinanderzusetzen, was ich meine.«

Er sah uns drei der Reihe nach an, schüttelte den Kopf ein wenig, als ob er ihn in der engen Halsbinde einer Uniform zurechtrücke, und fing nach kurzer Überlegung an:

»Miß, man hat mir Handschellen angelegt, mich verhaftet und dann hierher gebracht. Ich bin ein gezeichneter und entehrter Mensch und sitze jetzt hier im Gefängnis. Bucket hat meine Schießgalerie von oben bis unten durchstöbert. Was ich besitze – es ist wenig genug –, ist um und um gewendet worden, bis sich kein Mensch mehr darin auskennt, und ich muß hier sitzen. Ich beklage mich nicht weiter darüber. Ich bin gewiß nicht schuld daran, daß ich mich gegenwärtig hier befinde, aber ich kann recht gut einsehen, daß das nicht geschehen wäre, wenn ich nicht schon von Jugend auf dieses Vagabunden leben geführt hätte. Aber es ist nun einmal geschehen. Jetzt kommt die Frage, wie soll man sich dabei benehmen.«

Er rieb seine gebräunte Stirn einen Augenblick mit einem gut gelaunten Lächeln und entschuldigte sich: »Ich bin ein so kurzatmiger Redner, daß ich immer erst ein wenig zum Nachdenken ‚einnehmen‘ muß.« Nachdem er das offenbar getan, blickte er wieder auf und fuhr fort:

»Also, wie sich benehmen? Der Ermordete war Advokat und hatte mich ziemlich fest an der Gurgel. Ich möchte einem Toten nichts Böses nachsagen, aber er hatte mich, wie ich’s nennen würde, wenn er noch am Leben wäre, höllisch an der Gurgel zu fassen gekriegt, und sein Beruf kommt mir dadurch nicht anziehender vor. Hätte ich mich von seinesgleichen ferngehalten, wäre ich jetzt nicht hier. Aber ich wollte etwas andres sagen. Nehmen wir an, ich hätte ihn wirklich getötet. Nehmen wir an, ich hätte ihn mit einer der vor kurzem abgefeuerten Pistolen, die Bucket in meiner Galerie gefunden hat – und, Herrgott im Himmel, jeden Tag, seit ich dort bin, hätte finden können –, niedergeschossen. Was würde ich getan haben, kaum daß man mich hierher gebracht hätte? Einen Advokaten genommen!«

Er hielt inne, weil man draußen die Schlösser und Riegel klirren hörte, und fing nicht eher wieder an, als bis die Tür aufgegangen und wieder zugemacht worden war. Zu welchem Zweck sie geöffnet wurde, werde ich gleich erwähnen.

»Ich hätte einen Advokaten genommen, und er würde gesagt haben, wie man es so oft in den Zeitungen liest: Mein Klient sagt nichts – mein Klient behält sich seine Verteidigung vor –, mein Klient hin, mein Klient her, mein Klient tut dies, das oder jenes. Es ist meiner Meinung nach dieser Sorte Menschen einfach unmöglich, einen graden Schritt zu tun oder so zu denken, wie es andre Leute tun. Nehmen wir an, ich bin unschuldig und lasse mir einen Advokaten kommen. Er würde mich wahrscheinlich auch für schuldig halten, oder aber es wäre ihm gleichgültig. Was würde er nun tun in diesem oder jenem Falle? Er würde so handeln, als ob ich schuldig wäre, würde mir den Mund verbieten, mir raten, mich nicht zu kompromittieren, manche Umstände zu verschweigen, andre zu verschleiern, würde allerlei Fuchssprünge machen und mich vielleicht auf die Art frei kriegen.

Aber, Miß Summerson, was ist besser, auf diese Art loskommen oder lieber auf seine eigne Manier gehenkt werden? – Sie entschuldigen schon, daß ich vor einer Dame eine so unangenehme Sache beim Namen nenne.«

Er war jetzt warm geworden und brauchte nicht erst wieder »zum Nachdenken einzunehmen«.

»Da würde ich schon vorziehen, mich lieber auf meine eigne Art henken zu lassen. Und das will ich auch. Ich will damit durchaus nicht etwa sagen« – er sah uns der Reihe nach an, seine kräftigen Arme in die Seite gestemmt und die dunkeln Augenbrauen in die Höhe gezogen – »daß ich dem Hängen größeren Geschmack abgewinnen könnte als irgendein andrer. Was ich sage, ist nur, ich muß freikommen, rein und ohne Makel, oder gar nicht. Daher, wenn ich höre, daß man etwas gegen mich vorbringt, das wahr ist, so sage ich: das ist wahr. Und wenn sie mir vorhalten: was Sie da sagen, kann gegen Sie belastend aufgefaßt werden, so sage ich ihnen, das ist mir gleich, soll es das nur. Wenn sie mich nicht mit der ganzen Wahrheit reinwaschen können, so wird es mit der halben erst recht nicht gehen. Und wenn sie es doch können, so hat es keinen Wert für mich.«

Er ging ein paar Mal auf dem steinernen Fußboden auf und ab, trat dann wieder an den Tisch und vollendete, was er noch zu sagen hatte.

»Ich danke Ihnen, Miß, und Ihnen, Gentlemen, vielmals für ihre Aufmerksamkeit, und noch vielmals mehr für Ihre Teilnahme. Aber so liegt die Sache, wie sie sich darstellt vor einem einfachen Soldatenverstand. Ich habe niemals im Leben gut getan außer im Dienst, und sollte es zum Schlimmsten kommen, werde ich eben ernten, was ich gesät habe. Als ich mich von dem ersten Ruck, als Mörder verhaftet zu werden, erholt hatte – bei einem, der sich so viel und unter so mancherlei Schicksal in der Welt herumgeschlagen hat, dauert so etwas nicht besonders lang –, kam ich allmählich zu der Ansicht, die ich Ihnen soeben auseinandergesetzt habe, und bei dieser werde ich bleiben. Ich bringe über keinen Verwandten Schande und breche niemandem das Herz, und – und weiter habe ich nichts zu sagen.«

Die Tür war vorhin aufgemacht worden, um einen andern ebenso soldatenmäßig aussehenden Mann von einem auf den ersten Blick weniger einnehmenden Äußern und eine wettergebräunte, blitzäugige, gesunde Frau mit einem Korb einzulassen, die von ihrem Eintritt an allem, was George gesagt, sehr aufmerksam zugehört hatten.

George hatte sie mit einem Lächeln und einem freundlichen Nicken flüchtig begrüßt, ohne seine Rede zu unterbrechen. Er schüttelte ihnen jetzt herzlich die Hand und sagte: »Miß Summerson und meine Herren, das hier ist ein alter Kamerad von mir, Matthew Bagnet. Und das hier seine Frau, Mrs. Bagnet.«

Mr. Bagnet machte uns eine steife militärische Verbeugung, und Mrs. Bagnet knickste.

»Es sind treue gute Freunde von mir. In ihrem Hause war es, wo ich verhaftet wurde.«

»Mit einem gebrauchten Violoncello. Als Vorwand«, schaltete Mr. Bagnet ein und schüttelte empört den Kopf. »Von gutem Ton. Für einen Freund. Kostenpunkt Nebensache.«

»Mat«, sagte Mr. George, »du hast jetzt so ziemlich alles mit angehört, was ich der Dame und den beiden Herren gesagt habe. Ich setze voraus, daß du es billigst.«

Mr. Bagnet dachte eine Weile nach, dann verwies er die Sache zur Entscheidung an seine Frau. »Alte, sag ihm, ob es meine Billigung findet. Oder nicht.«

»Wahrhaftig, George«, rief Mrs. Bagnet aus, die inzwischen aus ihrem Korb ein Stück kaltes Schweinspökelfleisch, ein wenig Tee und Zucker und einen Laib Brot ausgepackt hatte, »Sie sollten wissen, daß es nicht seinen Beifall findet. Sie sollten wissen, daß es einen ganz wild machen kann, so etwas mit anzuhören. Sie wollen nicht auf diese Weise loskommen und dann wieder nicht auf jene! Gar so wählerisch zu sein! Dummes Zeug. Unsinn, George.«

»Seien Sie nicht so hart gegen mich in meinem Unglück, Mrs. Bagnet«, sagte der Kavallerist mutwillig.

»Zum Kuckuck mit Ihrem Unglück«, rief Mrs. Bagnet, »wenn es Sie nicht verständiger macht, als Sie sich bisher gezeigt haben.

Ich habe mich noch nie so geschämt in meinem Leben, einen Menschen solchen Unsinn sprechen zu hören, wie Sie vorhin vor den anwesenden Herrschaften. Advokaten! Mein Gott, was, außer daß vielleicht viel Köche den Brei verderben, könnte Sie abhalten, ein Dutzend Advokaten anzunehmen, wenn der Herr hier sie Ihnen anbietet?«

»Sie sind eine höchst verständige Frau«, fiel mein Vormund ein. »Ich hoffe, Sie werden ihn überreden, Mrs. Bagnet.«

»Ihn überreden, Sir? Gott segne Sie! Da kennen Sie George schlecht. Da, schauen Sie ihn nur an« – Mrs. Bagnet stellte ihren Korb hin, um mit ihren beiden gebräunten Händen auf den Kavalleristen deuten zu können – »schauen Sie nur, wie er dort steht. So eigensinnig und zu Dummheiten entschlossen, wie nur je einer ein menschliches Geschöpf unter der Sonne hat die Geduld verlieren machen. Sie könnten ebensogut einen Achtundvierzigpfünder aufheben und schultern, wie diesen Menschen andern Sinnes machen, wenn er sich mal etwas in den Kopf gesetzt hat. O Gott, den kenne ich! Oder vielleicht nicht, George? Sie wollen doch nicht etwa nach soviel Jahren neue Eigenschaften vor mir entfalten, will ich hoffen.«

Ihre freundschaftliche Entrüstung wirkte als Beispiel auf ihren Mann, und mehrmals während ihrer Rede setzte er dem Kavalleristen mit einem Kopfnicken zu, als empfehle er ihm stumm, aber dringend, nachzugeben. Mrs. Bagnet hatte mich auch dabei manchmal angesehen, und ich glaubte in ihren Augen zu lesen, daß sie wünschte, ich sollte irgend etwas tun, aber ich konnte nur nicht begreifen, was.

»Ich hab es schon längst aufgegeben, mich mit Ihnen herumzustreiten, alter Junge«, fuhr Mrs. Bagnet fort, blies dabei ein wenig Staub von dem Pökelfleisch weg und sah mich dabei wieder an, »und wenn diese Herrschaften hier Sie erst einmal so gut kennen wie ich, werden sie es auch aufgeben, Ihnen zuzureden. Wenn Sie nicht zu dickschädlig sind, ein paar Bissen als Mittagessen anzunehmen, so steht es hier.«

»Ich nehme es mit vielem Dank an«, entgegnete der Kavallerist.

»Wahrhaftig?« rief Mrs. Bagnet, die immer noch gutmütig fortbrummte. »Nein, da bin ich wirklich höchlichst erstaunt. Es wundert mich nur, daß Sie nicht auch noch auf Ihre eigne Manier verhungern wollen. Es sähe Ihnen ganz ähnlich. Vielleicht setzen Sie sich das nächstens auch noch in den Kopf.«

Sie sah mich abermals an, und jetzt erriet ich aus ihren Blicken, die sie abwechselnd auf die Tür und auf mich richtete, daß sie wünschte, wir möchten gehen und draußen vor dem Gefängnis auf sie warten. Ich teilte dies auf ähnliche Art meinem Vormund und Mr. Woodcourt mit und stand auf.

»Ich hoffe, Sie werden sich eines Bessern besinnen, Mr. George«, sagte ich zum Abschied, »und wenn wir Sie wieder besuchen kommen, werden wir Sie hoffentlich vernünftiger finden.«

»Dankbarer können Sie mich jedenfalls gewiß nicht finden, Miß Summerson.«

»Aber Ratschlägen zugänglicher, hoffe ich. Und ich bitte Sie zu bedenken, daß die Aufklärung dieses Geheimnisses und die Entdeckung des wirklichen Mörders auch noch für andre Personen außer Ihnen von höchster Wichtigkeit sein kann.«

Er hörte mich ehrerbietig an, aber ohne meinen Worten eine größere Beachtung zu schenken – ich sprach sie bereits auf dem Wege nach der Tür, ein wenig abgewendet von ihm, und betrachtete – wie man mir später sagte – mit plötzlich rege gewordner Aufmerksamkeit meine Figur.

»Es ist doch merkwürdig«, sagte er, »schon damals kam es mir so vor!«

Mein Vormund fragte, was er meine.

»Ja, sehen Sie, Sir, als mich damals mein Geschick in der Nacht, als der Mord geschah, an die Treppe des Toten führte, sah ich im Dunkeln eine Gestalt an mir vorübergehen, die Miß Summerson so ähnlich war, daß ich sie beinah angesprochen hätte.«

– Einen Augenblick fühlte ich einen Schauder, wie ich ihn nie vorher gekannt und hoffentlich nie mehr wieder fühlen werde. –

»Sie kam die Treppen herab, gerade als ich hinaufging, und schritt an dem mondbeschienenen Fenster, in einen weiten schwarzen Mantel, mit langen Fransen daran, gehüllt, vorüber. Das hat natürlich mit meiner Angelegenheit nichts weiter zu tun, ausgenommen, daß Miß Summerson der Gestalt gerade jetzt in diesem Augenblick so ähnlich sah, daß es mir wieder einfiel.«

– Ich kann die Gefühle, die in mir aufstiegen, nicht klar definieren und auseinander halten und nur soviel sagen, daß das unbestimmte Pflichtgefühl, das mich schon anfangs bewogen hatte, herzukommen und der Sache nachzugehen, jetzt noch stärker wurde. Warum, wagte ich mich eigentlich nicht zu fragen, trotzdem ich mir gleichzeitig innerlich voll Entrüstung vorhielt, ich könne in keiner Weise Ursache zu Befürchtungen haben.

Wir verließen alle drei das Gefängnis und gingen vor dem Tor, das auf einen einsamen Platz mündete, ein Stückchen auf und ab. Wir hatten nicht lange zu warten, denn Mr. und Mrs. Bagnet kamen bald heraus und eilten auf uns zu. Mrs. Bagnets Augen standen voller Tränen, und ihr Gesicht war gerötet und aufgeregt. »Ich hab es George nicht merken lassen, was ich davon denke, Miß«, waren ihre ersten Worte, als sie uns erreichte. »Aber es steht schlimm mit dem armen alten Burschen.«

»Nicht bei der nötigen Vorsicht und Klugheit und gutem Rechtsbeistand«, beruhigte sie mein Vormund.

»Ein Herr wie Sie muß das natürlich besser wissen, Sir« – Mrs. Bagnet wischte sich mit dem Saum ihres grauen Mantels die Augen – »aber ich habe große Angst um ihn. Er ist viel zu sorglos gewesen und hat so viel gesagt, was er nie hätte sagen sollen. Die Herren vom Schwurgericht können ihn doch nicht so verstehen wie Lignum und ich. Und dann sprechen so viele Verdachtsmomente gegen ihn, und so viele Leute werden gegen ihn als Zeugen antreten, und Bucket ist so schlau.«

»Mit einem gebrauchten Violoncello. Und sagte, er spielte die Querflöte. Als Knabe«, ergänzte Mr. Bagnet mit großer Feierlichkeit.

»Ich will Ihnen was sagen, Miß. Und wenn ich Miß sage, so meine ich Sie alle. Kommen Sie mal hier in die Ecke, und ich will es Ihnen sagen.«

– Mrs. Bagnet eilte mit uns in einen am Ende der Mauer liegenden Winkel und konnte anfangs vor Atemlosigkeit gar kein Wort herausbringen, was ihren Gatten veranlaßte, sie aufzumuntern: »Alte. Sprich.«

– »Also, Miß«, fuhr die Alte fort und band sich, um mehr Luft zu haben, die Hutbänder auf, »Sie könnten ebensogut die Schanzen von Dover vom Fleck rücken als George, wenn Sie nicht ein andres Mittel wissen, um auf ihn einzuwirken. Und ein solches habe ich jetzt in Händen.«

»Sie sind ein Juwel von einer Frau!« rief mein Vormund aus.

»Ich sage Ihnen, Miß« – Mrs. Bagnet schlug vor Aufregung bei jedem ihrer Sätze wohl ein Dutzend Mal die Hände zusammen – »alles, was er da daherredet, er habe keine Verwandten und dergleichen, ist lauter dummes Zeug; sie wissen allerdings nichts von ihm, aber er weiß von ihnen. Er hat mit mir verschiedentliche Male offner gesprochen als mit andern, und nicht umsonst einmal zu meinem Woolwich so etwas von weißem Haar und Gramesfurchen greiser Mütter gesagt. Fünfzig Pfund möchte ich wetten, daß er an jenem Tag seine Mutter gesehen hat. Sie lebt und muß sogleich hierhergebracht werden.«

Ohne eine Sekunde Zeit zu verlieren, nahm Mrs. Bagnet einige Stecknadeln in den Mund und fing an, ihr Kleid ringsherum aufzustecken, so daß es ganz von dem grauen Mantel bedeckt war, womit sie mit überraschender Gewandtheit und Schnelligkeit zu Rande kam.

»Lignum«, sagte sie dann, »daß du mir ein Auge auf die Kinder hast, Alter! Und jetzt gib mir den Schirm! Ich mach jetzt fort nach Lincolnshire, um die alte Dame herzubringen.«

»Du lieber Himmel, was will die Frau?« rief mein Vormund und wühlte in seinen Taschen. »Wo will sie hin? Wieviel Geld hat sie denn?«

Mrs. Bagnet griff wieder unter ihren Mantel und brachte einen ledernen Geldbeutel hervor, in dem sie hastig ein paar Schillinge überzählte, und ihn dann wieder mit größter Befriedigung zuzog.

»Haben Sie keine Sorge um mich, Miß. Ich bin eine Soldatenfrau und gewohnt, auf meine Weise zu reisen. Lignum, mein Alter, da einen Kuß für dich und drei für die Kinder. Ich mache jetzt fort nach Lincolnshire zu Georges Mutter.«

Und sie trabte wirklich fort, während wir drei einander in grenzenlosem Erstaunen ansahen. Mit kräftigem Schritt marschierte sie in ihrem grauen Mantel von dannen und verschwand um die Ecke.

»Und so wollen Sie sie fortlassen, Mr. Bagnet?« fragte mein Vormund.

»Kann’s nicht verhindern. Ist schon ein Mal nach Hause gereist. Aus einem andern Weltteil. Mit demselben grauen Mantel. Und demselben Regenschirm. Wenn die Alte sagt, tue das, soll man’s tun. Wenn die Alte sagt, das tue ich, tut sie’s.«

»Dann ist sie so echt und treu, wie sie aussieht«, entgegnete mein Vormund. »Und es ist unmöglich, mehr zu ihrem Lobe zu sagen.«

»Sie ist Fahnenjunker beim Nonpareil-Bataillon«, rief uns Mr. Bagnet noch über die Schulter zu, als er sich von uns verabschiedet hatte. »Es gibt keine zweite der Art. Aber ich gestehe es vor ihr nicht ein. Disziplin muß sein.«

53. Kapitel


53. Kapitel

Die Spur

Mr. Bucket und sein dicker Zeigefinger halten unter den gegenwärtigen Umständen sehr häufig Beratung miteinander. Wenn Mr. Bucket eine Sache von so großer Wichtigkeit in Händen hat, so scheint sich sein dicker Zeigefinger zur Würde eines Daimonions zu erheben. Ans Ohr gehalten, flüstert er ihm Ratschläge zu. Sein Herr hält ihn an seine Lippen, und er befiehlt ihm Schweigen; reibt seine Nase damit, und ihre Witterung wird schärfer; droht dem Schuldigen mit ihm, bezaubert ihn und stürzt ihn ins Verderben. Die Auguren der Geheimpolizei prophezeien stets, wenn sie Mr. Bucket mit seinem Finger Beratung pflegen sehen, daß man in kurzem von einer schrecklichen Vergeltung hören werde.

Ein sanfter sinniger Beobachter der menschlichen Natur, im großen ganzen ein wohlwollender Philosoph, dem es fern liegt, streng über die Torheiten der Menschen zu urteilen, läßt sich Mr. Bucket in einer Anzahl von Häusern blicken und schlendert in einer Menge von Straßen herum, anscheinend gelangweilt und ohne ein besonderes Ziel im Auge zu haben. Er ist in der freundlichsten Stimmung gegen seine Mitmenschen und pflegt mit den meisten von ihnen einen Schoppen zu trinken. Er ist freigebig mit Geld, leutselig in seinen Manieren, unschuldig in seiner Haltung. Aber durch den Frieden seines Lebens zieht sich eine verborgne Zeigefinger-Unterströmung.

Zeit und Raum können Mr. Bucket nichts anhaben. Wie der Mensch im allgemeinen, so kann er von heute auf morgen verschwunden sein. Aber darin ist er dem Menschen sehr unähnlich, daß er am nächsten Tag wieder aufzutauchen imstande ist. Heute abend wirft er im Vorbeigehen einen Blick auf die Fackelauslöscher vor der Tür von Sir Leicester Dedlocks Haus in der Stadt, und morgen früh sieht man ihn auf den Bleidächern von Chesney Wold umherwandern, wo früher der alte Mann herumging, dessen Geist jetzt mit einem Sühnopfer von hundert Guineen zur Ruhe gebracht werden soll. Schubladenpulte, Taschen, kurz, alles, was Mr. Tulkinghorn gehörte, untersucht Mr. Bucket. Ein paar Stunden später sind dann immer er und der Römer allein beisammen und vergleichen, was ihre Zeigefinger wissen.

Wahrscheinlich vertragen sich diese Beschäftigungen nicht mit häuslichen Freuden, jedenfalls ist es sicher, daß Mr. Bucket gegenwärtig nie nach Hause geht. Obgleich er im allgemeinen das Beisammensein mit Mrs. Bucket sehr hoch schätzt – die Dame erfreut sich eines gewissen angebornen Detektivgenies, das bei weiterer Ausbildung und praktischer Übung Großes hätte leisten können, leider aber auf der Stufe eines geschickten Dilettantismus stehen geblieben ist –, entsagt er doch gegenwärtig ihren zärtlichen Tröstungen. Mrs. Bucket ist daher, wenn sie nicht ganz auf Gesellschaft und Unterhaltung verzichten will, auf ihre Mieterin angewiesen, glücklicherweise eine liebenswürdige Dame, an der sie großes Interesse nimmt.

Eine große Menschenmenge versammelt sich in Lincoln’s-Inn-Fields am Tage des Leichenbegängnisses. Sir Leicester Dedlock allerdings wohnt der Feierlichkeit persönlich bei; aber streng genommen sind außer ihm nur noch drei andre menschliche Leidtragende da, nämlich Lord Doodle, William Buffy und als Zugabe der hinfällige Vetter; aber die Zahl der leeren untröstlichen Equipagen ist unendlich. Der Hochadel stellt mehr vierrädrige Beileidsbezeugungen bei, als jemals in dieser Gegend der Stadt gesehen worden sind. Die Versammlung von Wappen auf Kutschenschlägen ist so groß, daß man fast auf die Vermutung kommen könnte, das Heroldsamt habe Vater und Mutter in einer Nacht verloren. Der Herzog von Woodle schickt einen Trauerprachtbau mit silbernen Beschlägen, Patentachsen und den allerneuesten Verbesserungen, nebst drei Waisenknaben, jeder sechs Fuß hoch, die sich als »letzter Gruß« hinten anklammern. Alle Staatskutscher in London stecken bis über die Ohren in Trauer, und wenn der tote alte Mann mit dem rostigen Anzug nicht bereits hoch über Rosseprunk erhaben ist, so muß er sich an diesem Tag von Herzen freuen.

Ganz still, mitten unter den Leichenbesorgern und den Equipagen und den Waden so vieler gramumflorter Beine, sitzt Mr. Bucket verborgen in einer der untröstlichen Kutschen und überschaut durch die Vorhänge in aller Muße die versammelte Menge. Er hat ein scharfes Auge für das Gewimmel – und für was sonst nicht noch alles –, und wie er umherblickt, bald aus dem linken, bald aus dem rechten Wagenfenster, bald hinauf zu den Fenstern der Häuser und über die Köpfe der Leute hinweg, entgeht ihm nichts.

»Aha, da sind Sie ja, werte Ehehälfte«, sagt Mr. Bucket zu sich selbst und meint damit Mrs. Bucket, die durch seine hohe Verwendung einen Platz auf den Stufen des Trauerhauses bekommen hat. »Da bist du ja. Und recht hübsch siehst du aus, Mrs. Bucket.«

Der Zug hat sich noch nicht in Bewegung gesetzt und man wartet, bis die Leiche herausgebracht wird. Mr. Bucket, in dem vordersten mit Wappen geschmückten Wagen, hält mit seinen beiden dicken Zeigefingern die Vorhänge ein Haarbreit auseinander, um hindurch zu spähen.

Es spricht wirklich sehr für seine Zärtlichkeit als Gatte, daß er sich immer noch mit Mrs. Bucket beschäftigt. »Also da sind Sie ja, werte Ehehälfte«, wiederholt er halblaut. »Und unsre Mieterin auch. Ich sehe Sie ganz gut, Mrs. Bucket, und hoffe, wir sind wohlauf.«

Mr. Bucket spricht kein Wort weiter, sondern sitzt nur mit Augen, denen nichts entgeht, wartend da, bis das eingesargte Depositorium der adligen Geheimnisse heruntergetragen wird.

Wo sind sie jetzt alle, diese Geheimnisse? Bewahrt sie Mr. Tulkinghorn immer noch? Begleiten sie ihn vielleicht auch auf dieser unvorhergesehnen Reise?

Der Zug setzt sich in Bewegung, und Mr. Buckets Gesichtskreis bekommt Abwechslung. Er macht sich’s für eine längere Spazierfahrt bequem und besichtigt die innere Ausstattung der Kutsche, für den Fall ihm einmal eine solche Kenntnis von Nutzen sein könnte.

Kontrast genug zwischen Mr. Tulkinghorn in seiner dunkeln Kutsche und Mr. Bucket in der seinigen. Zwischen der kleinen Wunde, die den einen in ewigen Schlaf versetzt hat, der jetzt so dumpf über das Straßenpflaster rumpelt, und der schmalen Blutspur, die den andern in Wachsamkeit erhält und sich dennoch auch nicht in einem Haar seines Hauptes verrät! Aber eins ist beiden gemeinsam, daß sich keiner von ihnen stören läßt.

Mr. Bucket macht die Prozession mit und schlüpft aus dem Wagen, als die Gelegenheit gekommen ist, die er sich ausersehen hat. Er macht sich auf nach Sir Leicesters Wohnung, wo er zurzeit ganz zu Hause ist, nach Belieben zu allen Stunden kommt und geht, stets willkommen ist und mit Aufmerksamkeit behandelt wird, den ganzen Haushalt kennt und, mit einer Atmosphäre von Geheimnis umgeben, umherwandelt.

Er braucht weder zu klopfen noch zu klingeln. Er hat sich einen Schlüssel geben lassen und kann nach Belieben eintreten. Als er durch die Vorhalle geht, benachrichtigt ihn der Merkur: »Die Post hat wieder einen Brief für Sie gebracht, Mr. Bucket«, und übergibt ihm das Schreiben.

»Wieder einen, so?« sagt Mr. Bucket.

Sollte der Merkur zufällig von Neugierde hinsichtlich Mr. Buckets Briefen gequält werden, so ist der Detektiv der letzte, der sie befriedigen würde. Er blickt in das Gesicht des Mannes wie in eine Aussicht in weiter Ferne, die er sich in aller Muße betrachtet.

»Haben Sie vielleicht eine Tabaksdose bei sich?« fragt Mr. Bucket.

Unglücklicherweise ist der Merkur kein Schnupfer.

»Könnten Sie mir vielleicht irgendwoher eine Prise verschaffen. Ja? Danke schön. Es ist mir gleich, was es für Tabak ist. Ich bin nicht wählerisch. Danke schön.«

Nachdem er mit Muße aus einer unten im Portierstübchen entliehenen Dose eine Prise genommen und sie mit großer Wichtigkeit erst mit einem Nasenloch und dann mit dem andern geprüft hat, erklärt er die Sorte für die richtige und geht mit dem Brief in der Hand hinauf.

Obgleich nun Mr. Bucket die Treppe hinauf nach der kleinen Bibliothek, die an die größere anstößt, mit der Miene eines Mannes geht, der täglich Dutzende Briefe bekommt, ist dennoch ein lebhafter Briefwechsel durchaus nichts Gewöhnliches bei ihm. Er ist kein Mann der Feder und führt sie etwa wie den Amtsstab, den er beständig bei sich trägt, und es ist nicht seine Gewohnheit, Leute aufzufordern, mit ihm Briefe zu wechseln, da es eine zu kunstlose und unmittelbare Art ist, delikate Geschäfte zu erledigen. Außerdem hat er zu oft erlebt, wie häufig kompromittierende Briefe zur Entdeckung führten, und hat daher alle Veranlassung, zu bedenken, wie wenig schlau es gewesen, sie zu schreiben. Aus allen diesen Gründen hat er sehr wenig mit Briefen, weder als Absender noch als Empfänger, zu tun, und um so auffallender ist es, daß er innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden genau ein halbes Dutzend erhielt.

»Und dieser hier«, sagt Mr. Bucket und breitet den eben empfangnen auf dem Tische aus, »enthält dieselben zwei Worte.«

Was für zwei Worte?

Er sperrt die Tür ab, öffnet seine schwarze Brieftasche, die schon für so viele verhängnisvoll geworden ist, legt einen andern Brief daneben und liest in beiden die mit festen Zügen geschriebnen Worte:

»Lady Dedlock.«

»Ja, ja«, sagt Mr. Bucket., »Aber ich hätte das Geld auch ohne diesen anonymen Wink verdienen können.«

Nachdem er die Briefe wieder eingesteckt hat, schließt er die Tür gerade zur rechten Zeit auf, um sein Mittagessen hereinzulassen, das auf einem gedeckten Servierbrett nebst einer Karaffe Sherry gebracht wird.

Mr. Bucket erwähnt häufig im Kreise vertrauter Freunde, ein hohler Zahn voll schönem braunem altem ostindischem Sherry sei ihm das Liebste, was man ihm anbieten könne. Daher füllt und leert er jetzt sein Glas mit schmatzenden Lippen und schlürft seinen Wein. Aber plötzlich fällt ihm etwas ein.

Er öffnet vorsichtig die in das anstoßende Zimmer führende Tür und späht hinein. Die Bibliothek ist leer, und die Glut im Kamin sinkt zusammen. Nach einem raschen Blick durch das ganze Zimmer fällt sein Auge auf einen Tisch, wo man Briefe hinzulegen pflegt, wenn sie ankommen. Die für Sir Leicester angekommene Post liegt jetzt dort. Mr. Bucket tritt näher und liest die Aufschriften. »Nein«, sagt er, »von dieser Hand ist keiner darunter. Man hat also bloß an mich geschrieben. Ich kann es morgen Sir Leicester Dedlock, Baronet, mitteilen.«

Darauf kehrt er wieder zu seinem Essen zurück, verzehrt es mit gutem Appetit und wird nach einem kurzen Schläfchen in den Salon befohlen.

Sir Leicester hat ihn dort die letzten Abende wiederholt empfangen, um zu erfahren, zu welchem Resultat die Nachforschungen bisher geführt haben. Der hinfällige Vetter, von dem Leichenbegängnis stark mitgenommen, und Volumnia sind anwesend.

Mr. Bucket macht jeder der drei Personen eine besondere Verbeugung: Sir Leicester eine huldigungsvolle, Volumnia eine galante und dem ausgemergelten Vetter eine wissende, die ungefähr soviel sagt wie: Sie sind ein etwas anrüchiges Gigerl, werter Herr, und wir kennen uns.

Nachdem er diese kleinen Proben seines Taktgefühls gewissenhaft verteilt hat, reibt er sich die Hände.

»Können Sie mir bereits etwas mitteilen, Inspektor?« fragt Sir Leicester. »Wünschen Sie vielleicht mit mir unter vier Augen zu sprechen?«

»Nein –, heute abend nicht, Sir Leicester Dedlock, Baronet.«

»Sie wissen, meine Zeit steht Ihnen ganz zur Verfügung, wenn es gilt, die Übertretungen des Gesetzes zu ahnden, Inspektor.«

Mr. Bucket hustet und blickt die in Schminke und Halsband prangende Volumnia an, als wolle er ehrerbietig sagen: Ich versichere Ihnen, Sie sind ein entzückendes Geschöpf. Ich habe Hunderte gesehen, die in Ihrem Alter sich zehnmal schlimmer ausnahmen. – Ehrenwort!

Die schöne Volumnia, sich der Wirkung ihrer Reize nicht so ganz unbewußt, hält im Schreiben eines Stoßes dreieckiger Briefchen inne und rückt versonnen das Perlenhalsband zurecht. Mr. Bucket überschlägt im Geiste den Wert des Schmuckes und hält es nicht für ausgeschlossen, daß Volumnia Verse schreibe.

»Wenn ich Sie nicht schon auf das nachdrücklichste beschworen haben sollte, Inspektor«, fährt Sir Leicester majestätisch fort, »all Ihre Geschicklichkeit zur Entdeckung dieser schrecklichen Tat aufzubieten, so möchte ich eine solche Unterlassungssünde jetzt wieder gut machen. Sie dürfen auf Geld keine Rücksicht nehmen, hören Sie? Sie können sich bei Verfolgung der Sache, die Sie in die Hand genommen haben, keine Kosten machen, mit deren Bezahlung ich nur einen Augenblick zögern würde.«

Mr. Bucket verbeugt sich tief, solcher Freigebigkeit seine Anerkennung zu zollen.

»Ich habe mich noch immer nicht«, fährt Sir Leicester mit edler Wärme fort, »seit dieser teuflischen Tat erholen können; wie sich leicht denken läßt. Es wird mir auch fürder nicht so leicht fallen, aber heute abend, nachdem ich die schwere Pflicht vollzogen, einen treuen, eifrigen und ergebenen Diener bestattet zu haben, bin ich geradezu von Entrüstung erfüllt.«

Sir Leicesters Stimme zittert, und sein graues Haar sträubt sich. Tränen treten ihm in die Augen, und die beste Saite seines Wesens vibriert.

»Ich erkläre«, sagt er, »ich erkläre feierlich, daß, solange das Verbrechen nicht entdeckt und der Täter den Händen der Gerechtigkeit überliefert ist, ich fast so darunter leide, als ob ein Schandfleck auf meinem Namen ruhte. Ein Mann, der einen so großen Teil seines Lebens mir gewidmet hat, und zwar bis zum letzten Tage, der beständig an meiner Tafel gesessen und unter meinem Dach geschlafen hat, geht von meinem Haus nach dem seinigen und wird eine Stunde darauf erschlagen. Wie kann ich wissen, ob man ihn nicht von meinem Hause aus verfolgte, vor meinem Hause ihm auflauerte, ja, vielleicht zu der Tat dadurch angeregt wurde, weil er mit meinem Haus in Verbindung stand, und dadurch auf den Gedanken geriet, er sei vermögender und einflußreicher, als sein zurückgezognes Leben mutmaßen ließ? Wenn ich nicht alle Mittel, meinen ganzen Einfluß und meine Stellung aufböte, um sämtliche Mitschuldigen an einem solchen Verbrechen der verdienten Strafe zu überliefern, ließe ich es an Hochachtung dem Gedächtnis des Mannes gegenüber und der Treue, die ich dem schulde, der immer treu zu mir gehalten hat, fehlen.«

Während er dies mit großem Ernst und tiefer Bewegung beteuert und dabei mit der Miene eines Redners vor einer Versammlung um sich blickt, sieht ihn Mr. Bucket ernst und beobachtend an, mit einem Ausdruck, dem, wenn der Gedanke nicht gar so kühn wäre, eine Spur von Mitleid beigemischt sein könnte.

»Die heutige Begräbnisfeierlichkeit«, fährt Sir Leicester fort, »ein glänzendes Zeichen der Hochachtung, die die Blüte des Landes für meinen verstorbnen Freund fühlt« – er legt auf das Wort »Freund« einen besonderen Nachdruck, denn der Tod hebt bekanntlich alle Unterschiede auf – »hat, sage ich, die seelische Erschütterung, die sich meiner bei diesem schrecklichen und unerhörten Verbrechen bemächtigte, noch vertieft. Selbst meinen Bruder würde ich nicht schonen, wenn er die Tat begangen hätte.«

Mr. Bucket macht wiederum ein sehr ernstes Gesicht.

Volumnia äußert über den Verstorbenen, er sei der zuverlässigste und liebste Mensch gewesen.

»Sie müssen seinen Verlust schwer empfinden, Miß«, tröstet Mr. Bucket. »Sicherlich. Er ist ganz ein Mann gewesen, dessen Verlust man schwer fühlt. Wahrhaftig, ja.«

Volumnia verrät Mr. Bucket, ihr gefühlvolles Herz sei fest entschlossen, sich von dem Stoß, solange es schlage, nie wieder zu erholen, und daß ihre Nerven unwiderbringlich zerrüttet seien und sie selbst keine Aussicht mehr habe, je wieder lächeln zu können. Dabei faltet sie ein dreieckiges Briefchen an den alten gefürchteten General in Bath zusammen, in dem sie ihren traurigen Gemütszustand geschildert hat.

»So etwas muß natürlich einer zartbesaiteten Dame einen Stoß geben«, sagt Mr. Bucket voll Mitgefühl. »Aber man erholt sich schon wieder.«

Vor allem wünscht Volumnia zu wissen, was weiter geschehen wird. Ob man nicht schon endlich diesen schrecklichen Soldaten verurteile, ob er Mitschuldige habe, oder wie sie es vor Gericht nennen.

»Ja, sehen Sie, Miß«, erklärt Mr. Bucket und fängt an, seinen Zeigefinger ausdrucksvoll zu bewegen, und seine natürliche Galanterie ist so groß, daß er beinahe gesagt hätte: Meine Liebe. »Es ist nicht so leicht, diese Fragen, wie die Sache gegenwärtig steht, zu beantworten. – Ich habe mich mit dieser Sache, Sir Leicester Dedlock« – Mr. Bucket zieht den Baronet als Hauptperson in das Gespräch – »zu allen Stunden des Tages ununterbrochen und eingehend beschäftigt; ohne ein paar Gläser Sherry hätte ich kaum meinen Geist in einer so beständigen Spannung erhalten können. Ich könnte Ihre Fragen beantworten, Miß, aber die Pflicht verbietet es mir. Sir Leicester Dedlock, Baronet, wird sehr bald alles erfahren, was ich bis jetzt herausgebracht habe. Und ich will hoffen«, – Mr. Bucket macht wieder ein ernstes Gesicht – »daß es ihn befriedigen wird.«

Der hinfällig aussehende Vetter hofft nur, daß – äh – Schweinehund hinjerichtet – äh –, Exempel statuiert, jlaubt, heutzutage mehr alljemeines Interesse. – Mann an Galgen bringen, als jemand Stelle verschaffen mit zehntausend jährlich Jehalt. Ist überzeugt – Beispiels wegen –, viel besser, falschen Kerl hängen, als überhaupt niemanden.

»Sie kennen das Leben, Sir«, sagt Mr. Bucket mit einem gewissen vertraulichen Zwinkern des Auges und einem Krümmen seines Zeigefingers, »und Sie können bestätigen, was ich soeben dieser Dame gesagt habe. Ihnen brauche ich nicht erst zu verraten, daß Nachrichten, die ich bekommen habe, mich dazu veranlaßt haben. Sie verstehen, was man dem Verständnis einer Dame nicht zumuten kann. Besonders einer Dame in Ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung, Miß«, sagt Mr. Bucket und wird blutrot, denn bei einem Haar wäre ihm zum zweiten mal die Anrede »Meine Liebe« entschlüpft.

»Der Inspektor tut seine Pflicht und ist vollkommen im Recht, Volumnia«, betont Sir Leicester.

»Sehr erfreut, mein Vorgehen von Ihnen gebilligt zu sehen, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, murmelt Mr. Bucket.

»Tatsächlich, Volumnia«, fährt Sir Leicester fort, »gibt man kein gutes Beispiel, wenn man dem Inspektor solche Fragen vorlegt, wie Sie sie soeben gestellt haben. Er muß am besten wissen, was er beantworten kann, und es schickt sich nicht für uns, die wir die Gesetze mitmachen helfen, denen, die sie in Anwendung bringen, hindernd in den Weg zu treten. Oder«, sagt Sir Leicester etwas streng, denn Volumnia wollte ihn unterbrechen, noch ehe er seinen Satz abgerundet hatte, »oder denen ihre Pflicht schwer zu machen, die die rächenden Organe unsrer Gesetzgebung repräsentieren.«

Volumnia rechtfertigt sich in aller Demut, daß sie nicht nur als Entschuldigung den Hinweis auf die Neugierde, die eine Eigenschaft der leichtsinnigen Jugend im allgemeinen und die ihres Geschlechtes im besondern bilde, für sich habe, sondern auch fast von Sinnen sei vor Schmerz und Teilnahme für den lieben reizenden Menschen, dessen Verlust sie alle so sehr beklagen.

»Sehr gut, Volumnia«, entgegnet Sir Leicester, »um so mehr können Sie nicht diskret genug sein.«

Mr. Bucket benützt die eingetretne Pause, um sich wieder hören zu lassen.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, eines kann ich jedenfalls der Dame mit Ihrer Erlaubnis, und ganz im Vertrauen, verraten, nämlich, daß ich die Angelegenheit bereits für ziemlich abgeschlossen halte. Es ist ein schöner Fall – ein schöner Fall –, und das Wenige, was noch zu seiner Vervollständigung fehlt, hoffe ich in ein paar Stunden beisammen zu haben.«

»Es freut mich sehr, das zu hören«, sagt Sir Leicester. »Es macht Ihnen sehr viel Ehre.«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich hoffe, die Sache wird nicht nur mir Ehre machen, sondern auch allen Teilen Befriedigung gewähren. Wenn ich sage, es ist ein schöner Fall, Miß«, fährt Mr. Bucket fort und wirft einen ernsten Seitenblick auf Sir Leicester, »müssen Sie im Auge behalten, daß ich ihn von meinem Standpunkt aus betrachte. Von andern Gesichtspunkten aus gesehen, ziehen solche Fälle immer mehr oder weniger Unannehmlichkeiten nach sich. Oft kommen sehr sonderbare Familienangelegenheiten zu unsrer Kenntnis, Miß. Ja, wahrhaftig Dinge, die Sie geradezu für unmöglich halten würden.«

Volumnia glaubt das gern und sagt es mit ihrem naiven halblauten Schrei.

»Ja, und sogar in feinen Familien, in vornehmen Familien, in sehr hohen Familien« – Mr. Bucket sieht abermals Sir Leicester ernst von der Seite an. »Ich habe die Ehre gehabt, schon früher in vornehmen Familien zu Rate gezogen zu werden, und Sie haben keinen Begriff – ich gehe soweit zu sagen, daß selbst Sie keinen Begriff haben, Sir« – dies sagt er zu dem hinfällig aussehenden Vetter – »was da für Geschichten vorkommen.«

Der Vetter, der sich, halbtot vor Langweile, in den Sofakissen gerekelt hat, gähnt: »Woh ö – i« – was »wohl möglich« heißen soll.

Sir Leicester hält es für an der Zeit, den Inspektor zu entlassen, sagt majestätisch: »Sehr gut, ich danke Ihnen«, und gibt mit einer ausdrucksvollen Handbewegung zu verstehen, daß das Gespräch als beendet anzusehen ist und daß vornehme Familien, wenn sie in schlechte Gewohnheiten verfallen, sich eben die Folgen selbst zuzuschreiben haben.

»Vergessen Sie nicht, Inspektor«, setzt er herablassend zu, »daß ich zu jeder Zeit zu Ihrer Verfügung stehe.«

Wieder sehr ernst, erkundigt sich Mr. Bucket, ob es vielleicht morgen vormittag angenehm wäre, falls die Sache bis dahin soweit gediehen sein sollte.

Sir Leicester gibt zur Antwort: »Jede Stunde ist mir recht.«

Mr. Bucket macht seine drei Verbeugungen und will sich entfernen, da fällt ihm ein, daß er noch etwas vergessen hat.

»Dürfte ich beiläufig fragen«, sagt er, geräuschlos und vorsichtig umkehrend, »wer die Bekanntmachung wegen der ausgesetzten Belohnung an der Treppe angeschlagen hat.«

»Ich selbst ließ sie dort anschlagen«, entgegnet Sir Leicester.

»Würde ich mir eine Freiheit herausnehmen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, wenn ich Sie fragte, warum?«

»Durchaus nicht. – Ich wählte die Treppe deswegen, weil diesen Teil des Hauses jedermann betritt. Ich glaubte, es könnte gar nicht aufmerksam genug darauf gemacht werden. Ich wünschte meinen Leuten die Größe des Verbrechens, meinen festen Entschluß, es zu bestrafen, und die Unmöglichkeit, der Strafe zu entgehen, tief einzuprägen. Aber wenn Sie, Inspektor, bei Ihrer größeren Erfahrung in solchen Sachen etwas dagegen einzuwenden haben…«

Mr. Bucket hat jetzt nichts dagegen einzuwenden; da die Bekanntmachung einmal angeschlagen ist, sei es besser, sie nicht zu entfernen. Er wiederholt seine drei Verbeugungen und entfernt sich. Volumnia läßt wieder ihren leisen Schrei hören und leitet damit die Bemerkung ein, daß die Seele dieses entzückend furchtbaren Menschen die reinste Blaubartkammer sei.

Mit seinem Hang zur Geselligkeit und seiner Gewandtheit, mit allen Menschenklassen zu verkehren, steht Mr. Bucket gleich darauf vor dem Kaminfeuer in der Vorhalle – so hell und warm in der frühen Winterabendstunde – und bewundert den Merkur.

»Wahrhaftig, ich glaube, Sie sind sechs Fuß zwei Zoll?«

»Drei«, verbessert der Merkur.

»Wirklich so groß? Aber freilich, ja, Sie sind breit im Verhältnis, und man sieht es Ihnen nicht an. Sie sind keiner von den Spindelbeinen. Haben Sie nie Modell gestanden?« Mr. Bucket sieht ihn mit auf die Seite geneigtem Kopf und dem Blick eines Künstlers an.

Der Merkur hat nie Modell gestanden.

»Dann sollten Sie’s tun«, sagt Mr. Bucket. »Ein Freund von mir, von dem Sie noch eines schönen Tages hören werden, daß er Bildhauer der königlichen Akademie geworden ist, würde etwas springen lassen, wenn er Sie als Modell für eine Marmorstatue bekommen könnte. Mylady ist nicht zu Hause, nicht wahr?«

»Zum Diner ausgefahren.«

»Fährt wohl ziemlich jeden Tag aus, nicht wahr?«

»Ja.«

»Nicht zu verwundern«, meint Mr. Bucket. »Eine so vornehme Frau wie sie, so schön, so anmutig und elegant, ist wie eine frische Zitrone auf einem Speisetisch und eine Zierde überall, wo sie hinkommt. War Ihr Vater auch in einer Stellung wie Sie?«

Die Antwort fällt verneinend aus.

»Aber meiner«, sagt Mr. Bucket. »Mein Vater war erst Page, dann Bedienter, dann Kellermeister, dann Steward, dann Gastwirt. War zu Lebzeiten allgemein geachtet und starb tief betrauert. Sagte mit seinem letzten Atemzug, er betrachte seine Bedientenzeit als den ehrenvollsten Teil seiner Laufbahn, und so war es auch. Ich habe einen Bruder, der Bedienter ist, und einen Schwager. Ist Mylady gut mit den Leuten?«

Der Merkur entgegnet, soweit man das von ihr erwarten könne.

»Aha«, sagt Mr. Bucket, »ein bißchen verwöhnt? Ein bißchen launenhaft? Mein Gott, wie kann es anders sein, wenn man so schön ist. Und je launenhafter sie ist, desto lieber hat man sie.« Der Merkur, die Hände in den Taschen seiner schönen pfirsichblütnen Kniehose, streckt seine symmetrischen seidenüberzognen Beine mit der Miene eines Stutzers von sich und kann es nicht leugnen. Draußen kommt ein Wagen angerollt, und es wird heftig geklingelt.

»Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt«, sagt Mr. Bucket. »Da ist sie.«

Die Türen werden weit geöffnet, und Mylady schreitet durch die Vorhalle. Sie ist immer noch sehr bleich, in Halbtrauer gekleidet, und trägt zwei kostbare Armbänder. Entweder ihre Schönheit oder die Schönheit ihrer Arme erregen Mr. Buckets ganz besondre Aufmerksamkeit. Er sieht mit spähendem Blick hin und klappert mit etwas in der Tasche – vielleicht mit Halfpences.

Sie bemerkt ihn im Hintergrund und wendet sich mit einem fragenden Blick an den andern Merkur, der sie nach Hause brachte.

»Mr. Bucket, Mylady.«

Mr. Bucket macht einen Kratzfuß und tritt hervor, indem er sich mit seinem Hausdämon über den Mund fährt.

»Warten Sie auf Sir Leicester?«

»Nein, Mylady. Ich war bereits bei ihm.«

»Haben Sie mir etwas zu sagen?«

»Jetzt gerade nicht, Mylady.«

»Haben Sie neue Entdeckungen gemacht?«

»Ein paar, Mylady.«

– Sie stellt ihre Fragen nur so im Vorübergehen. Sie bleibt kaum stehen und schwebt allein die Treppe hinauf. –

Mr. Bucket tritt einen Schritt vor und beobachtet sie, wie sie die Stufen hinaufgeht, die der alte Advokat herunterstieg in sein Grab, an mordgierigen Gruppen von Bildhauerwerk vorüber, die sich mit dem Schatten ihrer Waffen an der Wand wiederholen, an der gedruckten Bekanntmachung, auf die sie im Vorbeigehen einen Blick wirft, vorüber. Dann verschwindet sie.

»Wahrhaftig, eine schöne Frau«, sagt Mr. Bucket und kommt zu dem Merkur zurück. »Sieht aber nicht ganz gesund aus.«

Sei auch nicht ganz gesund, teilt ihm der Merkur mit, leide sehr an Kopfschmerzen.

Wahrhaftig? Schade! Spazierengehen würde Mr. Bucket als Heilmittel anempfehlen.

»O, sie geht spazieren«, entgegnet der Merkur. »Geht manchmal zwei Stunden spazieren, wenn ihr Zustand sich verschlimmert. Sogar in der Nacht.«

»Wissen Sie auch ganz sicher, daß Sie genau sechs Fuß drei Zoll hoch sind?« fragt Mr. Bucket. »Sie müssen schon entschuldigen, daß ich Sie einen Augenblick unterbreche.«

»Darüber besteht gar kein Zweifel.«

»Ich hätte das wirklich nicht geglaubt bei Ihren guten Proportionen. Die Garden gelten doch auch als schöne Leute, aber sie sind mir zu schlenkrig und aufgeschossen. – Geht also bei Nacht spazieren? Wenn Mondschein ist?«

O ja, wenn Mondschein ist! Natürlich. Ja natürlich.

– Übereinstimmung auf beiden Seiten. –

»Sie selbst gehen wohl nicht viel spazieren?« fragt Mr. Bucket. »Haben wahrscheinlich nicht viel Zeit dazu übrig?«

Außerdem findet der Merkur keinen Geschmack daran. Zieht Fahren vor.

»Selbstverständlich.« – Mr. Bucket sieht das ein. – »Das ist etwas ganz andres. Übrigens, jetzt fällt mir ein«, sagt Mr. Bucket, indem er sich die Hände wärmt und vergnüglich in die flackernde Flamme schaut, »sie ist an demselben Abend, wo die Geschichte geschehen ist, auch spazieren gegangen.«

»Ja, freilich! Ich schloß ihr den Garten drüben auf.«

»Und verließen sie dort. Richtig, ja. Ich hab es zufällig mit angesehen.«

»Ich habe Sie nicht bemerkt«, sagt der Merkur.

»Ich hatte ziemliche Eile«, erklärt Mr. Bucket, »denn ich wollte gerade eine Tante besuchen, die in Chelsea wohnt – die zweitnächste Tür von dem alten ehemaligen Bun-Haus. Neunzig Jahre alt. Unverheiratet und im Besitz eines kleinen Vermögens. Ja, ich ging gerade zufällig vorbei. Wie spät mochte es wohl gewesen sein? Warten Sie mal. Es war noch nicht zehn.«

»Halb zehn.«

»Ganz richtig. Halb zehn war’s. Und wenn ich mich nicht ganz irre, war Mylady in einen weiten schwarzen Mantel, mit breiten Fransen daran, gehüllt.«

»Ganz richtig.«

»Ganz richtig.« Mr. Bucket muß wieder zu einer kleinen Arbeit zurück, die er oben noch zu verrichten hat, muß aber vorher noch dem Merkur erkenntlich für die angenehm verlebte Viertelstunde die Hand schütteln, und ob er wohl – möchte er noch ein Mal fragen – ob er wohl, wenn er einmal eine halbe Stunde übrig habe, sie dem Bildhauer der königlichen Akademie zum Nutzen beider Teile schenken möge?

54. Kapitel


54. Kapitel

Eine Mine fliegt auf

Vom Schlaf gestärkt, steht Mr. Bucket zeitig morgens auf und macht sich fertig zum Kampfe. Aufgeputzt mit Hilfe eines reinen Hemdes und einer nassen Haarbürste, mit der er bei feierlichen Gelegenheiten die dünnen Locken befeuchtet, die ihm nach einem solchen Leben angestrengten Studiums noch übrig geblieben sind, nimmt er ein Frühstück ein, von dem zwei Hammelkoteletten den Grundstein und Tee, Eier, Zwieback und Marmelade in entsprechender Menge den Aufbau bilden. Nachdem er diese kräftigenden Speisen mit Genuß verzehrt und eine geheime Konferenz mit seinem Hausdämon gehalten hat, ersucht er den Merkur vertraulich, Sir Leicester Dedlock, Baronet, im stillen wissen zu lassen, daß er für ihn bereit sei, wenn es jetzt genehm wäre. Auf die gnädige Antwort, daß Sir Leicester seine Toilette beschleunigen und den Inspektor binnen zehn Minuten in der Bibliothek sehen wolle, begibt sich Mr. Bucket dorthin, steht dort vor dem Kamin, den Finger am Kinn, und blickt in die glühenden Kohlen. Er ist gedankenvoll wie ein Mann, der ein hochwichtiges Werk zu vollenden hat, aber gefaßt, sicher, voller Selbstvertrauen. Nach dem Ausdruck seines Gesichtes könnte man ihn für einen berühmten Whistspieler halten, der um einen großen Einsatz spielt – sagen wir, um hundert Guineen – und der das Spiel in der Hand hat, es aber seinem großen Ruf schuldig ist, auf meisterhafte Weise bis zur letzten Karte durchzuspielen. Mr. Bucket zeigt sich nicht im mindesten erregt, als Sir Leicester erscheint; und wie der Baronet langsam nach seinem Lehnstuhl geht, blickt er ihn wieder wie gestern von der Seite mit dem beobachtenden Ernst an, in den eine Spur von Mitleid gemischt zu sein scheint.

»Es tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen müssen, Inspektor, aber ich habe mich heute morgen ein wenig länger mit dem Ankleiden aufgehalten als gewöhnlich. Ich fühle mich nicht recht wohl. Die Aufregung der letzten Tage hat mich zu sehr angegriffen. Überdies bin ich – Gichtanfällen unterworfen.« Sir Leicester hat anfangs bloß Unpäßlichkeit vorschützen wollen und hätte es auch jedermann gegenüber aufrecht erhalten, aber Mr. Bucket durchschaut ihn offenbar. »Und die Ereignisse der letzten Zeit haben wieder einen Anfall herbeigeführt.«

– Während er, mit einiger Schwierigkeit und seine Schmerzen verbeißend, Platz nimmt, tritt Mr. Bucket etwas näher und stützt sich mit einer seiner großen Hände auf den Bibliothekstisch. –

»Ich weiß nicht, Inspektor«, bemerkt Sir Leicester und blickt auf, »ob Sie mit mir unter vier Augen zu sprechen wünschen. Ich überlasse das ganz Ihnen. Wenn Sie es wünschen, gut, wenn nicht, so würde Miß Dedlock gern…«

»Nun, Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich glaube, wir können gerade jetzt die Sache nicht geheim genug behandeln. Sie werden gleich selbst einsehen, daß wir sie nicht geheim genug behandeln können. Die Anwesenheit einer Dame würde mir unter allen Verhältnissen, zumal wenn sie eine so hohe gesellschaftliche Stellung einnimmt wie Miß Dedlock, nur angenehm sein, aber wenn ich von mir absehe, muß ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen zu versichern, daß wir die Sache nicht geheim genug behandeln können.«

»Das genügt.«

»So geheim, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, fährt Mr. Bucket fort, »daß ich Sie um Erlaubnis bitten wollte, die Tür absperren zu dürfen.«

»Tun Sie das nur.«

Mr. Bucket vollzieht geschickt und geräuschlos diese Vorsichtsmaßregel und bückt sich aus bloßer Gewohnheit einen Augenblick nieder, um den Schlüssel in dem Schloß so zu drehen, daß von außen niemand hereinsehen kann.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich erwähnte gestern abend, daß mir nur noch sehr wenig fehle, um den Fall ganz beisammen zu haben. Heute bin ich so weit und habe die Beweise gegen die Person in Händen, die das Verbrechen begangen hat.«

»Gegen den Soldaten?«

»Nein, Sir Leicester Dedlock. Es ist nicht der Soldat.«

Sir Leicester macht ein erstauntes Gesicht und fragt:

»Ist der Täter verhaftet?«

Mr. Bucket sagt nach einer Pause: »Es ist eine Frau.«

Sir Leicester lehnt sich in seinen Stuhl zurück und ruft atemlos aus: »Gott im Himmel!«

»Jetzt, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, fängt Mr. Bucket an, steht aufrecht da, die Hand auf den Tisch gestützt und den Zeigefinger der andern ausdrucksvoll hin und her bewegend, »jetzt ist es meine Pflicht, Sie auf eine Verkettung von Umständen vorzubereiten, die Sie wahrscheinlich, und ich will soweit gehen, zu sagen, gewiß sehr erschüttern werden. Aber Sir Leicester Dedlock, Baronet, Sie sind ein Gentleman, und ich weiß, was ein Gentleman ist und was ein Gentleman alles ertragen kann. Ein Gentleman wird einen Stoß, der sich nicht abwenden läßt, tapfer und standhaft aushalten. Ein Gentleman muß imstande sein, sich fast auf jeden Schlag gefaßt machen zu können. Nehmen Sie einmal sich an, Sir Leicester Dedlock, Baronet. Wenn ein Schlag Sie treffen soll, so denken Sie natürlich zuerst an Ihre Familie. Sie legen sich die Frage vor, wie alle Ihre Ahnen, bis zu Julius Cäsar zurück – um vorläufig nicht noch weiter zu gehen –, solche Schläge ertragen haben würden, und Sie können dabei gewiß an eine große Anzahl von ihnen denken, die es mit Ehren getragen hätten, und um ihretwegen und des Ansehens der Familie willen ertragen Sie es auch. So würden Sie denken, und so würden Sie auch handeln, Sir Leicester Dedlock, Baronet.«

Sir Leicester, in seinen Lehnstuhl zurückgelehnt, umklammert krampfhaft mit den Fingern die Armlehnen und sieht den Inspektor mit starrem Gesicht an.

»Wenn ich Sie auf diese Weise vorbereite, Sir Leicester Dedlock«, fährt Mr. Bucket fort, »möchte ich Sie bitten, sich keinen Augenblick darüber Sorgen zu machen, daß etwas zu meiner Kenntnis gekommen ist. Ich weiß soviel von einer Unmenge Personen hohen oder niedern Standes, daß eine Geschichte mehr oder weniger nicht das mindeste zu bedeuten hat. Ich glaube nicht, daß es einen Zug auf dem Brett gibt, der mich in Erstaunen setzen würde. Und ob ich nun weiß, daß dieser oder jener Zug in Wirklichkeit geschehen ist, hat weiter nichts zu sagen. Jeder mögliche Zug ist meiner Erfahrung nach ein wahrscheinlicher Zug. Ich sage Ihnen daher nur nochmals, Sir Leicester Dedlock, Baronet, machen Sie sich nur ja deswegen keine Sorgen, daß ich etwas von Ihren Familienangelegenheiten weiß.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Vorbereitung«, entgegnet Sir Leicester nach einer längeren Pause und bewegt weder Fuß noch Hand noch einen Muskel seines Gesichts. »Ich hoffe, sie ist nicht vonnöten, aber ich weiß die gute Absicht zu schätzen. Haben Sie die Güte, fortzufahren. Bitte, nehmen Sie« – Sir Leicester scheint in dem Schatten des Inspektors, in dem er sitzt, zusammenzuschauern – »nehmen Sie einen Stuhl, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Durchaus nicht.« – Mr. Bucket holt sich einen Sessel und verkleinert seinen Schatten. – »Jetzt, Sir Leicester Dedlock, Baronet, komme ich nach dieser kurzen Einleitung zur Sache. Lady Dedlock…«

Sir Leicester erhebt sich halb in seinem Stuhl und starrt den Inspektor wild an.

Mr. Bucket bewegt seinen Finger besänftigend hin und her.

»Lady Dedlock, sehen Sie, wird allgemein bewundert. Ja, das wird die Gnädigste. Sie wird allgemein bewundert.«

»Ich würde vorziehen, Inspektor«, entgegnet Sir Leicester abweisend und kalt, »daß Myladys Name in dieser Angelegenheit überhaupt nicht genannt würde.«

»Ich auch, Sir Leicester Dedlock, Baronet, aber – es ist unmöglich.«

»Unmöglich?«

Mr. Bucket schüttelt erbarmungslos das Haupt.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es ist rein unmöglich. Was ich zu sagen habe, bezieht sich auf die Gnädigste. Sie ist der Punkt, um den sich alles dreht.«

»Inspektor«, entgegnet Sir Leicester mit flammendem Auge und zuckenden Lippen, »Sie kennen Ihre Pflicht. Tun Sie ihre Pflicht, aber hüten Sie sich, darüber hinauszugehen. Ich würde das unter keinen Umständen dulden. Ich würde es nicht ertragen können. Wenn Sie Myladys Namen mit der Sache in Verbindung bringen, so tun Sie das auf Ihre Verantwortung, – auf – Ihre – Verantwortung! Myladys Name ist kein Name, mit dem gewöhnliche Leute spielen dürfen!«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich sage, was ich sagen muß, und nicht mehr.«

»Ich hoffe, daß sich das erweisen wird. Gut. Fahren Sie fort. Fahren Sie fort, Sir.«

Mit einem Blick auf die zornfunkelnden Augen, die ihm jetzt ausweichen, und auf die Gestalt, die vom Kopf bis zu den Füßen in Entrüstung bebt und sich dennoch bemüht, ruhig zu erscheinen, tastet sich Mr. Bucket seinen Weg und fährt mit leiser Stimme fort.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es ist jetzt meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen – daß der verstorbne Mr. Tulkinghorn seit langer Zeit Argwohn und Verdacht gegen Lady Dedlock hegte.«

»Wenn er gewagt hätte, das nur mit einer Silbe anzudeuten, Sir, hätte ich ihn mit eigner Hand getötet«, ruft Sir Leicester aus und schlägt mit der Faust auf den Tisch. Aber selbst mitten in seinem Zornesausbruch hält er inne, gebannt von den wissenden Augen Mr. Buckets, der jetzt seinen Zeigefinger wieder langsam hin und her bewegt und voller Selbstvertrauen und Geduld den Kopf schüttelt.

»Sir Leicester Dedlock, der verstorbne Mr. Tulkinghorn war listig und verschlossen, und was er von Anfang an eigentlich im Sinn gehabt hat, getraue ich mich nicht zu sagen. Aber ich weiß aus seinem eignen Munde, daß er seit langer Zeit Lady Dedlock im Verdacht hatte, sie habe beim Anblick einer Handschrift, die ihr vor Augen gekommen – in diesem Hause hier und in Ihrer Anwesenheit, Sir Leicester Dedlock –, zu ihrem Entsetzen entdeckt, daß eine gewisse Person noch am Leben sei (und zwar in höchst ärmlichen Verhältnissen), die, ehe Sie um Mylady geworben, ihr Geliebter gewesen und ihr Gatte hätte werden müssen.« Mr. Bucket hält inne und wiederholt nachdrücklich: »Der ihr Gatte hätte werden müssen. Darüber ist kein Zweifel. Ich weiß aus Mr. Tulkinghorns eignem Munde, daß er, als dieser Mann kurz darauf starb, Lady Dedlock im Verdacht hatte, seine elende Wohnung und sein noch elenderes Grab allein und im geheimen besucht zu haben. Durch meine eignen Nachforschungen und durch das Zeugnis meiner eignen Augen und Ohren weiß ich, daß Lady Dedlock in den Kleidern ihrer Zofe heimlich diese Orte besucht hat, denn der verstorbne Mr. Tulkinghorn gebrauchte mich dazu, die Gnädigste dingfest zu machen – wenn Sie das Wort entschuldigen wollen, das wir gewöhnlich brauchen –, und ich habe sie so weit vollständig dingfest gemacht. Ich konfrontierte die Zofe in der Kanzlei in Lincoln’s-Inn-Fields mit einem Zeugen, der Lady Dedlock als Führer gedient hatte, und es blieb nicht der Schatten eines Zweifels übrig, daß Mylady die Kleider der Zofe angehabt hatte, ohne daß diese es wußte. Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich habe mich gestern bemüht, sie ein wenig auf diese unangenehme Enthüllung durch die Äußerung vorzubereiten, daß selbst in vornehmen Familien zuweilen sehr seltsame Dinge geschehen. Alles dies und noch mehr hat sich in Ihrer eignen Familie, in Verbindung mit der Gnädigsten, zugetragen. Ich glaube, daß der verstorbne Mr. Tulkinghorn seine Nachforschungen bis zur Stunde seines Todes fortgesetzt hat und daß Lady Dedlock und er sich noch am Abend vor seiner Ermordung wegen dieser Sache entzweit haben. Sie brauchen dies bloß, Sir Leicester Dedlock, Baronet, Mylady mitzuteilen und sie zu fragen, ob sie nicht, nachdem er das Haus hier verlassen, nach seiner Kanzlei gegangen ist, um noch weiter mit ihm darüber zu sprechen, und bei dieser Gelegenheit einen weiten schwarzen Mantel mit langen Fransen daran angehabt hat.«

– Sir Leicester sitzt wie ein Steinbild da und starrt den grausamen Finger an, der in seinem innersten Herzen wühlt. –

»Legen Sie der Gnädigen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, die Frage als von mir, dem Inspektor Bucket von der Geheimpolizei, kommend, vor. Und wenn die gnädige Frau Schwierigkeiten machen sollte, es zuzugestehen, so sagen Sie ihr, daß das nichts nütze. Inspektor Bucket wisse es genau und wisse auch, daß sie an dem Soldaten, wie Sie ihn nennen, vorübergegangen ist und ihm auf der Treppe begegnet ist. Nun, Sir Leicester Dedlock, Baronet, warum, glauben Sie wohl, erzähle ich Ihnen alles das?«

Sir Leicester, das Gesicht mit den Händen verhüllt, läßt nur ein einziges tiefes Stöhnen vernehmen und bittet den Inspektor, einen Augenblick inne zu halten. Als er nach einer Weile seine Hände wieder wegnimmt, hat sein Gesicht seine Würde und äußere Ruhe, wenn es auch nicht mehr Farbe hat als sein weißes Haar, so wiedergewonnen, daß Mr. Bucket fast ergriffen ist. Sein Benehmen hat etwas Starres, Erfrornes, ganz abgesehen von der gewohnten Maske des Hochmuts, und Mr. Bucket fällt es auf, daß er ungewöhnlich langsam spricht und manchmal bei den Anfangsbuchstaben der Worte stottert, was ihn veranlaßt, unartikulierte Töne vernehmen zu lassen. Mit solchen Tönen bricht er jetzt das Schweigen, gewinnt aber bald wieder soviel Herrschaft über sich, daß er sagen kann, er begreife nicht, warum ein so pflichteifriger, wahrheitsliebender Gentleman wie Mr. Tulkinghorn ihm nicht selbst diese peinliche, unerwartete, niederschmetternde und unglaubliche Enthüllung gemacht habe.

»Auch diese Frage können Sie der Gnädigen vorlegen, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, entgegnet Mr. Bucket. »Und wenn Sie es für gut finden, wiederum im Namen des Inspektors Bucket von der Geheimpolizei. Sie werden erfahren, oder ich müßte mich sehr irren, daß der verstorbne Mr. Tulkinghorn die Absicht hatte, Ihnen alles mitzuteilen, sobald er die Sache für reif gehalten haben würde, sowie auch, daß er es der gnädigen Frau zu verstehen gegeben hat. Mein Gott, vielleicht wollte er es Ihnen gerade an dem Morgen, als ich den Tatort besichtigte, mitteilen! Sie wissen auch nicht von mir, Sir Leicester Dedlock, Baronet, was ich nach Ablauf der nächsten fünf Minuten sagen oder tun werde, und angenommen, ich fiele jetzt auf der Stelle tot um, würden Sie sich da wundern, warum ich es nicht getan hätte?«

»W-w-wahr!« Sir Leicester wird nur mit Mühe des Stöhnens Herr, das sich ihm immer wieder in die Kehle drängt, und sagt: »Wohl wahr.« Da lassen sich plötzlich draußen in der Vorhalle lärmende Stimmen vernehmen. Mr. Bucket horcht auf, geht nach der Türe, schließt sie leise auf und öffnet und lauscht wieder.

Dann steckt er den Kopf herein und flüstert hastig, aber bestimmt: »Sir Leicester Dedlock, Baronet, die unglückselige Familiengeschichte ist ruchbar geworden, wie ich gleich befürchtete, als der selige Mr. Tulkinghorn eines so plötzlichen Todes starb. Die einzige Möglichkeit, sie zu vertuschen, ist, die Leute, die sich jetzt da unten mit Ihren Bedienten herumzanken, vorzulassen. Können Sie es über sich bringen, ruhig dazusitzen – der Familie wegen –, während ich mit ihnen fertig werde? Und wollen Sie mir nur zunicken, wenn ich Sie darum zu bitten scheine?«

Sir Leicester gibt verworren zur Antwort: »Inspektor, tun – Sie –, was – Sie für das Beste halten.«

Mr. Bucket nickt, krümmt schlau seinen Zeigefinger und huscht in die Vorhalle hinunter, worauf das Stimmengewirr schnell verstummt.

Nicht lange darauf kehrt er wieder zurück, und einige Schritte hinter ihm kommen der Merkur und ein ebenfalls gepuderter Gott vom selben Rang in pfirsichblütenen Beinkleidern mit einem Stuhl herein, in dem sie einen hilflosen alten Mann tragen. Ein andrer Mann und zwei Frauen schließen den Zug. Mr. Bucket erteilt mit leutseligem, unbefangnem Wesen Befehle, wo der Stuhl hinzustellen sei, entläßt dann die Merkure und schließt die Tür wieder ab. Sir Leicester sieht diesem Einbruch in seine geheiligten Räume starr und eisig zu.

»Sie werden mich vielleicht kennen, meine Damen und Herren«, beginnt Mr. Bucket in vertraulichem Ton. »Ich bin der Inspektor Bucket von der Geheimpolizei, und dies hier« – er läßt die Spitze seines handlichen kleinen Stabes aus der Brusttasche hervorgucken – »ist mein Amtszeichen. Also Sie wünschen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, zu sehen? Gut! Hier sehen Sie ihn, und bedenken Sie wohl, es widerfährt nicht jedermann diese Ehre. Und Ihr Name, mein ehrenwerter alter Herr, ist Smallweed; ich kenne ihn recht gut.«

»So. Und werden noch nichts Böses von ihm gehört haben«, schreit Mr. Smallweed mit schriller lauter Stimme.

»Sie wissen wahrscheinlich nicht, weshalb sie das Schwein geschlachtet haben«, entgegnet Mr. Bucket mit einem durchdringenden Blick, ohne nur im geringsten aus der Fassung zu kommen.

»Nein.«

»Nun, sie schlachteten es, weil es gar zu laut quiekte. Bringen Sie sich nicht in dieselbe Lage, es wäre Ihrer nicht würdig. Sind Sie vielleicht gewöhnt, mit Taubstummen zu verkehren?«

»Ja«, knurrt Mr. Smallweed. »Meine Frau ist taub, wenn auch nicht stumm.«

»Nun, das erklärt, warum Sie so laut sprechen. Aber da sie nicht hier ist, stimmen Sie vielleicht Ihren Ton ein oder zwei Oktaven tiefer. Sie würden mich dadurch nicht nur verpflichten, sondern auch mehr Ehre damit einlegen«, sagt Mr. Bucket. »Der andre Herr hier ist wohl vom Predigergeschäft, nicht wahr?«

»Mr. Chadband«, stellt Mr. Smallweed vor, mit viel leiserer Stimme als vorher.

»Hatte einmal einen Freund und Kameraden, der ebenso hieß«, sagt Mr. Bucket und streckt bewillkommnend seine Hand aus. »Und daher berührt mich der Name sehr wohltuend. – Mrs. Chadband, nicht wahr?«

»Und Mrs. Snagsby.« – Mr. Smallweed stellt die Damen vor.

»Gattin eines Schreibmaterialienhändlers. Eines Freundes von mir«, sagt Mr. Bucket. »Liebe ihn wie einen Bruder! Also, was gibt’s?«

»Meinen Sie, weshalb wir hierhergekommen sind?« fragt Mr. Smallweed, ein wenig verblüfft von der plötzlichen Frage.

»Sie wissen schon, was ich meine. Lassen Sie uns einmal hören, was Sie uns hier vor Sir Leicester Dedlock, Baronet, zu sagen haben. Nur heraus damit.«

Mr. Smallweed winkt Mr. Chadband zu sich und berät sich mit ihm einen Augenblick flüsternd. Mr. Chadband preßt eine beträchtliche Menge Öl aus den Poren seiner Stirn und seiner Handflächen und sagt dann laut:

»Ja. Nach Ihnen.« Dann zieht er sich wieder auf seinen früheren Platz zurück.

»Ich war ein Klient und Freund Mr. Tulkinghorns«, fängt Großvater Smallweed mit dünner Stimme an. »Ich stand mit ihm in Geschäftsverbindung. Ich war ihm nützlich und er mir. Der verstorbne Krook war mein Schwager. Er war der leibliche Bruder der Höllenschwefel – wollte sagen, Mrs. Smallweeds. Ich erbte Krooks Nachlaß. Ich habe alle seine Papiere und alle seine Sachen untersucht. Sie wurden vor meinen Augen ausgepackt. Es befand sich ein Paket Briefe darunter, die einem dort verstorbnen Mieter gehört hatten und hinter einem Brett neben Lady Janes – ich meine die Katze – Korb versteckt waren. Er hat überhaupt allerlei Sachen da und dort versteckt. Mr. Tulkinghorn brauchte die Briefe und hat sie bekommen. Aber ich las sie zuerst durch. Ich bin Geschäftsmann und habe einen Blick hineingeworfen. Die Briefe waren von der Geliebten des Mieters, und mit Honoria unterzeichnet. Das ist kein gewöhnlicher Name, Honoria, was? Es gibt vielleicht in diesem Hause niemanden, der Briefe mit Honoria unterzeichnet, was ? Gott bewahre. Und die Handschrift stimmt auch nicht? Gott bewahre.«

– Mitten in seinem Triumph bekommt Mr. Smallweed einen solchen Hustenanfall, daß er innehalten muß und ausruft: »O Gott, o Gott, das reißt mich noch in Stücke.« –

»Na, wenn Sie jetzt fertig sind«, sagt Mr. Bucket, nachdem er abgewartet hat, bis Mr. Smallweed wieder zu sich gekommen ist, »fangen Sie vielleicht endlich von dem an, was Sir Leicester Dedlock, Baronet, den Herrn dort, angeht.«

»Hab ich vielleicht noch nicht damit angefangen, Mr. Bucket?« ruft Großvater Smallweed. »Geht es den Herrn nichts an? Kapitän Hawdon und seine ewig getreue Honoria und ihr Kind gehen ihn auch nichts an? Kurz und gut, ich möchte wissen, wo die Briefe sind? Das geht mich etwas an, wenn es schon Sir Leicester Dedlock nichts angeht. Ich möchte wissen, wo sie sind. Es kann mir nicht passen, daß sie so mir nichts dir nichts verschwinden. Ich habe sie meinem Freund und Rechtsanwalt Mr. Tulkinghorn übergeben und niemandem sonst.«

»Nun, ich dächte, er hat Sie recht anständig dafür bezahlt«, meint Mr. Bucket.

»Das ist mir einerlei. Ich muß wissen, wer sie hat, und ich will Ihnen sagen, was wir verlangen –; was wir alle hier verlangen, Mr. Bucket. Wir verlangen, daß man sich mit der Entdeckung der Mordtat ein bißchen mehr Mühe gibt! Wir wissen ganz gut, wem der Tod Mr. Tulkinghorns gelegen kommt. Sie haben nicht genug getan. Wenn George, der liederliche Dragoner, die Hand im Spiel hatte, so war er nur ein Komplize und ist dazu angestiftet worden. Sie wissen schon, was ich meine.«

»Hören Sie einmal.« – Mr. Bucket ändert augenblicklich sein Benehmen, tritt dicht an Mr. Smallweed heran und bewegt seinen Zeigefinger mit einer ganz ungewöhnlichen Eindringlichkeit. – »Ich will verdammt sein, wenn ich auch nur einem Menschen auf der Welt gestatte, sich in meine Sachen hineinzumischen oder mir auch nur um eine halbe Sekunde vorzugreifen. Sie verlangen mehr Eifer und Anstrengung? Sie? Schauen Sie sich einmal diese Hand an. Glauben Sie wirklich, daß ich nicht den rechten Zeitpunkt wüßte, wann ich sie auszustrecken habe, um damit den Arm zu packen, der den Schuß abgefeuert hat?«

– So groß ist die Macht des gefürchteten Detektivs, und es ist so schrecklich offenbar, daß er nicht prahlt, daß Mr. Smallweed sofort einlenkt und sich zu entschuldigen beginnt. –

Mr. Bucket ist im Augenblick wieder versöhnt und unterbricht ihn. »Der Rat, den ich Ihnen gebe, ist also, zerbrechen Sie sich den Kopf nicht wegen des Mordes. Das ist meine Sache. Sie richten manchmal, glaube ich, Ihr Augenmerk auf die Zeitungen, und es sollte mich nicht wundern, wenn Sie ziemlich bald etwas darüber lesen sollten, wenn Sie ordentlich aufpassen. Ich kenne mein Geschäft, und weiter habe ich Ihnen über die Sache nichts zu sagen. Jetzt zu den Briefen. – Sie wollen wissen, wer sie hat? Ich will es Ihnen sagen. Ich habe sie. Ist es vielleicht dies Paket hier?«

Mr. Smallweed blickt mit gierigen Augen auf das kleine Bündel, das Mr. Bucket aus den geheimnisvollen Tiefen seines Rockes hervorholt, und erklärt es für das richtige.

»Was haben Sie jetzt weiter zu sagen, Mr. Smallweed? Reißen Sie den Mund nicht zu weit auf. Es steht Ihnen nicht besonders.«

»Ich will fünfhundert Pfund haben.«

»So, so! Sie meinen natürlich fünfzig«, sagt Mr. Bucket gutgelaunt.

Es erweist sich jedoch, daß Mr. Smallweed wirklich fünfhundert Pfund meint.

»Ich bin nämlich von Sir Leicester Dedlock, Baronet, beauftragt, das Geschäft in Erwägung zu ziehen, wohlverstanden, nur in Erwägung zu ziehen.« Sir Leicester neigt mechanisch das Haupt. »Und Sie schlagen fünfhundert Pfund vor. Nun, das ist ja eine wirklich recht – unvernünftige Forderung! Zweimal fünfzig wäre schon schlimm genug, aber immerhin diskutabel. Möchten Sie nicht lieber sagen, zweimal fünfzig?«

Mr. Smallweed möchte das lieber nicht.

»Dann wollen wir uns Mr. Chadband anhören. Mein Gott, wie oft habe ich meinen alten Kameraden mit demselben Namen nennen hören! Ach, und er war ein so gemäßigter Mann, wie man es sich nur wünschen konnte. In jeder Hinsicht. In jeder Hinsicht.«

So eingeladen, tritt Mr. Chadband vor und hält, nachdem er zur Einleitung ölig gelächelt und aus seinen Handflächen ein wenig Tran gequetscht hat, folgende Rede:

»Meine Freunde. Wir sind jetzt – Rachael, meine Gattin, und ich – in den Palästen der Reichen und Großen. Warum sind wir jetzt in den Palästen der Reichen und Großen, meine Freunde? Sind wir etwa eingeladen? Sind wir etwa gebeten, mit ihnen zu schmausen? Sind wir etwa gebeten, mit ihnen die Laute zu spielen? Sind wir vielleicht gebeten, mit ihnen zu tanzen? Nein. Wozu sind wir dann hier, meine Freunde? Sind wir im Besitz eines sündigen Geheimnisses und verlangen wir Korn und Wein und Öl – oder, was dasselbe ist, Geld –, auf daß es bewahrt werde? Wahrscheinlich, meine Freunde.«

»Sie sind Geschäftsmann, wie ich sehe«, entgegnet Mr. Bucket sehr aufmerksam, »und wollen infolgedessen darauf zu sprechen kommen, welcher Art Ihr Geheimnis ist. Sie haben recht. Sie können nichts Besseres tun.«

»So lasset uns denn, mein Bruder, im Geiste der Liebe damit beginnen«, sagt Mr. Chadband mit schlauem Blick. »Rachael, meine Gattin, tritt vor!«

Mehr als bereitwillig kommt Mrs. Chadband dieser Aufforderung nach und drängt dadurch ihren Gatten in den Hintergrund der Aufmerksamkeit. Mit einem harten finstern Lächeln pflanzt sie sich vor Mr. Bucket auf. »Da Sie hören wollen, was wir wissen, will ich es Ihnen sagen. Ich habe Miß Hawdon, die Tochter der Gnädigen, auferziehen helfen. Ich stand in Diensten der Schwester der Gnädigen. Sie hat die Schande, die die Gnädige über sie brachte, tief empfunden und gegenüber jedermann, und selbst gegenüber der Gnädigen, vorgegeben, das Kind sei tot. Es war es auch fast, als es geboren wurde, aber es lebt, und ich kenne es.« Mit diesen Worten und einem Lachen verschränkt Mrs. Chadband, die jedes Mal einen bitteren Nachdruck auf die Worte »die Gnädige« gelegt hat, die Arme und sieht Mr. Bucket herausfordernd an.

»Ich vermute also«, entgegnet der Inspektor, »Sie erwarten demnach eine Zwanzigpfundnote oder ein Geschenk von ungefähr diesem Wert.«

Mrs. Chadband lacht bloß und sagt verächtlich, er könne gerade so gut zwanzig Pence anbieten.

»Nun, und meines Freundes, des Papierhändlers, werte Gattin drüben?« – Mr. Bucket lockt Mrs. Snagsby mit dem Finger zu sich heran. –»Um was handelt es sich denn bei Ihnen, Maam?«

Mrs. Snagsby kann anfangs vor lauter Tränen und Wehklagen kein Wort herausbringen, aber allmählich und sehr konfus wird es offenbar, daß sie eine unter der Last des ihr widerfahrnen Unrechts zusammengebrochne Frau ist, die Mr. Snagsby planmäßig hintergehe, vernachlässige und im dunkeln zu erhalten suche. Ihr Haupttrost in all ihren Leiden sei die Teilnahme des seligen Mr. Tulkinghorn gewesen, der ihr anläßlich eines Besuchs in Cook’s Court, in Abwesenheit ihres treubrüchigen Mannes, soviel Mitleid entgegengebracht habe, daß sie von da an immer ihm ihr Leid geklagt hätte. Alle Welt, nur die Anwesenden ausgenommen, habe sich gegen ihren Seelenfrieden verschworen. Da sei vor allem Mr. Guppy, der Schreiber bei Kenge & Carboy, der anfangs so offenherzig gewesen wie die Sonne um Mittag, plötzlich so geheimnisvoll geworden wie die Mitternacht, zweifellos von Mr. Snagsby verführt und bestochen. Und desgleichen Mr. Weevle, der Freund Mr. Guppys, der geheimnisvolle Mieter in Mr. Krooks Haus, jedenfalls aus denselben naheliegenden Gründen. Nicht minder der verstorbne Krook, der selige Nimrod und der verstorbne Jo. Sie alle seien Eingeweihte gewesen.

In was sie eingeweiht gewesen sein sollen, darüber erklärt sich Mrs. Snagsby nicht besonders deutlich, aber sie wisse ganz gut, daß Jo Mr. Snagsbys Sohn gewesen sei; so unumstößlich sicher, als ob es »mit Drommeten verkündet worden wäre«. Sie sei Mr. Snagsby nachgeschlichen bei seinem letzten Besuch am Sterbelager des Jungen. Wenn es nicht sein Sohn gewesen wäre, warum wäre er dann hingegangen? Die einzige Beschäftigung ihres Lebens sei schon seit langem gewesen, Mr. Snagsby auf Schritt und Tritt zu beobachten und verdächtige Umstände zusammenzutragen – und alles, was sich begeben, wäre höchst verdächtig gewesen. Und auf diesem Weg habe sie bei Tag und Nacht ihr Ziel verfolgt, ihren treubrüchigen Gatten seiner Schuld zu überführen. Bei dieser Gelegenheit und ganz zufällig hätten die Chadbands und Mr. Tulkinghorn einander kennengelernt, und als sie Mr. Tulkinghorn hinsichtlich der an Mr. Guppy bemerkten Veränderung zu Rate gezogen, seien die Umstände an den Tag gekommen, die jetzt die Anwesenden so interessierten. Immer noch befinde sie sich daher auf der breiten Straße, die zu Mr. Snagsbys Entlarvung und zu einer Ehescheidung führen müsse und solle.

Alles das wollte Mrs. Snagsby als schwergekränkte Frau und als Freundin Mr. Chadbands und als Leidtragende um den seligen Mr. Tulkinghorn unter dem Siegel des Vertrauens und mit jeder möglichen und unmöglichen Verwicklung der Tatsachen bestätigen.

Geld ist bei ihr kein Beweggrund, und sie hat kein andres Ziel als das eben erwähnte und bringt hierher und überall hin ihre eigne dicke Staubatmosphäre mit, die aus dem unablässigen Arbeiten der Mühle ihrer Eifersucht entstanden ist.

Während sich ihre Rede abwickelt und viel Zeit in Anspruch nimmt, geht Mr. Bucket, der Mrs. Snagsbys Essigseele bereits auf den ersten Blick durchschaut hat, mit seinem vertrauten Hausdämon zu Rate und läßt die Chadbands und Mr. Smallweed nicht aus den Augen. Sir Leicester Dedlock sitzt unbeweglich da, eingefroren in seinen Eispanzer, und wirft nur hie und da einen Blick auf Mr. Bucket, als verlasse er sich von allen Menschen nur mehr auf ihn.

»Sehr gut«, sagt Mr. Bucket. »Jetzt verstehe ich Sie, sehen Sie; und da mich Sir Leicester Dedlock, Baronet, beauftragt hat, mich in diese kleine Angelegenheit zu mischen« – abermals nickt Sir Leicester mechanisch –»so kann ich ihr ja meine Aufmerksamkeit schenken. Ich will hier nicht auf einen Versuch, Geld zu erpressen, anspielen oder von ähnlichen Dingen sprechen, denn wir sind hier lauter welterfahrne Leute und wollen die Sache in Frieden beilegen; aber ich muß mich wirklich wundern und bin sehr überrascht, wie Sie auf den Einfall kommen konnten, unten in der Vorhalle Lärm zu schlagen. Das war doch ganz gegen ihr Interesse. So betrachte ich die Sache wenigstens.«

»Wir wollten vorgelassen werden«, erklärt Mr. Smallweed.

»Selbstverständlich wollten Sie das«, gibt Mr. Bucket freundlich und bereitwillig zu. »Aber einem alten Herrn in Ihren Jahren und von so wahrhaft ehrwürdigem Alter, muß ich schon sagen, dessen Geist noch durch die Lähmung seiner Glieder geschärft ist, weil das seine ganze Lebendigkeit in den Kopf hinaufsteigen macht, hätte denn doch bedenken müssen, daß für ihn die ganze Sache auch keinen Pfifferling wert ist, wenn er sie nicht gegenwärtig so geheim wie möglich hält. Sie sehen, Sie haben sich von Ihrem Temperament fortreißen lassen und dadurch wesentlich an Terrain verloren«, sagt Mr. Bucket in überzeugendem und freundschaftlichem Ton.

»Ich sagte doch nur, ich wollte nicht eher gehen, als bis einer der Bedienten uns bei Sir Leicester Dedlock anmeldete«, wendet Mr. Smallweed ein.

»Das ist’s ja eben. Da ist Ihr Temperament mit Ihnen durchgegangen. Ein ander Mal werden Sie sich vielleicht besser zu beherrschen wissen, wenn Sie Geld verdienen wollen. Soll ich klingeln, daß man Sie wieder hinunterbringt?«

»Wann werden wir wieder von der Sache hören?« fragt Mrs. Chadband mit großer Entschiedenheit.

»Gott segne Sie! Sie sind eine echte Frau. Immer neugierig ist Ihr entzückendes Geschlecht«, erwidert Mr. Bucket galant. »Ich werde mir das Vergnügen geben, morgen oder übermorgen bei Ihnen vorzusprechen – und auch Mr. Smallweeds Vorschlag von zwei Mal fünfzig Pfund nicht vergessen.«

»Fünfhundert«, verbessert Mr. Smallweed.

»Ganz richtig! Nominell fünfhundert.«

Mr. Bucket legt die Hand an den Klingelzug. »Darf ich Ihnen jetzt guten Tag wünschen, in meinem und im Namen des Herrn vom Hause?« fragt er mit einschmeichelndem Ton.

Da niemand keck genug ist, etwas dagegen einzuwenden, tut er es, und der Besuch entfernt sich, wie er gekommen ist.

Mr. Bucket folgt ihnen bis an die Tür und sagt dann zurückkehrend mit ernster Geschäftsmiene:

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es ist jetzt an Ihnen, sich zu überlegen, ob Sie das Schweigen der Leute erkaufen wollen oder nicht. Ich, an Ihrer Stelle, täte es und glaube, es ist ziemlich billig zu haben. Es liegt auf der Hand, diese kleine Essiggurke Mrs. Snagsby ist von allen Beteiligten zu der Spekulation benützt worden und hat durch falsches Zusammenknüpfen der unrichtigen Enden der Fäden viel mehr Unheil angerichtet, als sie vorsätzlich imstande gewesen wäre. Der verstorbene Mr. Tulkinghorn hatte alle diese Pferde im Zügel und konnte sie beliebig lenken, darüber ist kein Zweifel. Jetzt ist er kopfüber vom Bock gestürzt, und sie haben über die Stränge geschlagen, und jedes zerrt nach einer andern Richtung. So ist es, und so ist das menschliche Leben. Wenn die Katze nicht zu Hause ist, tanzen die Mäuse frei herum. Und wenn das Eis aufgeht, fängt es an zu fließen. – Aber jetzt zu der Person, die ich verhaften muß.«

Sir Leicester Dedlock scheint plötzlich zu erwachen, trotzdem er bis jetzt mit offnen Augen dagesessen hat. Er sieht Mr. Bucket, der auf die Uhr schaut, gespannt an.

»Die zu verhaftende Person befindet sich gegenwärtig hier im Hause«, fährt Mr. Bucket fort, steckt seine Uhr wieder ein und wird lebhafter. »Ich werde sie in ihrem Beisein verhaften. Sir Leicester Dedlock, Baronet, bitte, sprechen Sie kein Wort und rühren Sie keinen Finger. Sie haben keinen Lärm und keine Störung zu befürchten. Ich werde im Lauf des Abends wiederkommen, wenn es Ihnen angenehm ist, und mich bemühen, Ihren Wünschen in bezug auf Ihre unglückliche Familienangelegenheit und über die feinste Art, sie zu vertuschen, nachzukommen. Werden Sie jetzt, Sir Leicester Dedlock, Baronet, nicht nervös darüber, daß die Verhaftung hier vorgenommen werden soll. Sie müssen einen klaren Einblick in den ganzen Fall von A bis Z gewinnen.«

Mr. Bucket klingelt, geht an die Tür, flüstert dem Merkur etwas zu, schließt die Tür wieder und bleibt mit verschränkten Armen dahinter stehen. Nach ein paar Minuten geht die Tür langsam auf, und eine Französin tritt herein. Mademoiselle Hortense.

In dem Augenblick, wo sie im Zimmer steht, schlägt Mr. Bucket die Tür zu und lehnt sich mit dem Rücken dagegen. Das plötzliche Geräusch veranlaßt sie, sich umzudrehen. Und jetzt erst sieht sie Sir Leicester Dedlock in seinem Lehnstuhl.

»Ich bitte um Verzeihung«, murmelt sie hastig. »Man sagte mir doch, es sei niemand hier.«

Sie geht nach der Tür zurück und kommt dadurch gegenüber von Mr. Bucket zu stehen. Krampfhaft zuckt es über ihr Gesicht, und sie wird totenblaß.

»Das ist meine Mieterin, Sir Leicester Dedlock«, sagt Mr. Bucket und nickt ihr zu. »Diese junge Fremde ist seit einigen Wochen meine Mieterin.«

»Was soll das Sir Leicester interessieren, mein Engel?« entgegnet Mademoiselle in scherzendem Ton.

»Das werden Sie schon erfahren, mein Engel.«

Mademoiselle Hortense sieht ihn bös an, und ihr gespanntes Gesicht verzieht sich zu einem geringschätzigen Lächeln. »Sie sind sehr miste-rieux. Sind Sie betrunken?«

»Leidlich nüchtern, mein Engel.«

»Ich bin soeben mit Ihrer Frau in diesem widerwärtigen Haus angekommen. Ihre Frau mich hat verlassen vor ein paar Minuten. Sie mir unten sagen, daß Ihre Frau hier ist. Ich komme hier, und Ihre Frau ist nicht hier. Was soll dieses Possenspiel bedeuten, sagen Sie mir?!« fragt Mademoiselle und verschränkt ruhig die Arme, während etwas in ihrer dunkeln Wange wie eine Uhr pulsiert.

Mr. Bucket droht ihr nur mit seinem Zeigefinger.

»O, mon dieu, Sie sind ein armer Idiot!« ruft Mademoiselle und wirft lachend den Kopf zurück. »Lassen Sie mich vorübergehen die Treppe hinab, großes Schwein.« – Sie stampft mit dem Fuß und runzelt die Stirn. –

»Ich will Ihnen etwas sagen, Mademoiselle«, sagt Mr. Bucket mit ruhigem, entschlossenem Ton. »Setzen Sie sich dort auf das Sofa.«

»Ich will mich setzen auf nichts«, entgegnet sie mit energischem Kopfschütteln.

»Mademoiselle«, wiederholt Mr. Bucket und droht ununterbrochen mit dem Finger, »setzen Sie sich auf das Sofa dort.«

»Warum?«

»Weil ich Sie eines Mordes verdächtig verhafte. Welchen Mordes, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Nun wünsche ich höflich gegen eine Person Ihres Geschlechts, und obendrein eine Fremde, zu sein, wenn ich kann. Wenn ich nicht kann, muß ich grob werden. Und noch Gröbere warten draußen. Wie ich mich zu benehmen haben werde, hängt von Ihnen ab. Ich rate Ihnen daher in aller Freundschaft, sich auf das Sofa zu setzen, ehe noch eine Sekunde vergangen ist.«

Mademoiselle gehorcht und sagt mit gepreßter Stimme:

»Sie sind ein Teufel.«

– Der Puls in ihrer Wange schlägt rasch und deutlich. –

»Sehen sie«, fährt Mr. Bucket billigend fort, »jetzt sind Sie ruhig und benehmen sich, wie man es von einer jungen Französin von Ihrer Einsicht erwarten darf. Daher will ich Ihnen jetzt einen Rat geben, und der lautet: Sprechen Sie nicht zu viel. Man erwartet von Ihnen nicht, daß Sie hier etwas sagen, und Sie können Ihre Zunge nicht genug im Zaum halten. Kurz, je weniger Sie parlühren, desto besser für Sie.« – Mr. Bucket ist sichtlich stolz auf seine Kenntnisse der französischen Sprache. –

Mademoiselle, den alten tigerhaften Ausdruck um den Mund, sitzt, Zornesblitze in ihren schwarzen Augen, auf dem Sofa steif aufrecht da, die Hände geballt – und vielleicht auch die Füße –, und murmelt vor sich hin: »O, Sie, Bucket, Sie sind ein Teufel.«

»Nun hören Sie, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, beginnt Mr. Bucket, und von diesem Augenblick an kommt sein Finger nicht mehr zur Ruhe. »Diese junge Person, meine Mieterin, war seinerzeit Zofe bei der Gnädigen und ist, abgesehen davon, daß sie ungewöhnlich heftig und leidenschaftlich gegen ihre Herrin war, entlassen worden…«

»Lüge«, ruft Mademoiselle dazwischen. »Ich habe selbst gekündigt.«

»Warum befolgen Sie denn meinen Rat nicht?« warnt sie Mr. Bucket in eindringlichem, fast flehendem Tone. »Ich muß mich über Ihr unvorsichtiges Benehmen wahrhaftig wundern. Sie werden plötzlich etwas sagen, was schwer belastend für Sie sein wird. Die Zeit, wo Sie reden können, wird schon kommen. Kümmern Sie sich nicht um das, was ich sage, bis es als Beweis gegen Sie angeführt wird. Ich sage es doch nicht zu Ihnen.«

»Ich, entlassen!« ruft Mademoiselle schäumend. »Von der Gnädigen ! Meiner Treu, eine schöne Gnädige! Ha, ich mich würde brrringen um meine Ruf, wenn ich geblieben wäre bei der Gnädigen, so infam.«

»Meiner Seel, ich muß mich über Sie wundern«, stellt ihr Mr. Bucket vor. »Ich habe immer geglaubt, die Franzosen wären eine höfliche Nation. Und jetzt benimmt sich ein Frauenzimmer so! Und noch dazu vor Sir Leicester Dedlock, Baronet.«

»Er ist ein armer betrogner Mann. Ich auf sein Haus spucken. Auf seinen Namen. Auf seine Einfalt.« Mademoiselle spuckt dabei drei Mal auf den Teppich. »O ja, er ist ein großer Mann. O ja, süperb !Mondieu! Fi!«

»Also, Sir Leicester Dedlock«, fährt Mr. Bucket fort, »auch diese unbändige Französin da bildete sich ein, einen Anspruch an den seligen Mr. Tulkinghorn zu haben, weil er sie bei der erwähnten Gelegenheit in seine Kanzlei bestellt hatte. Daß er sie für ihre Mühe und den Zeitverlust reichlich entschädigte, das…«

»Lüge!« ruft Mademoiselle. »Ich ihm habe geworfen sein Geld vor die Füße!«

»Wenn Sie parlühren wollen, nun gut, dann müssen Sie eben die Folgen auf sich nehmen. – Weiter, Sir Leicester Dedlock. Ob sie schon damals mit der vorgefaßten Absicht, die Tat zu begehen, zu mir zog, um mich sicher zu machen, darüber erlaube ich mir kein Urteil. Aber, kurz und gut, sie wohnte bei mir als Mieterin und hat den verstorbenen Mr. Tulkinghorn in seiner Kanzlei beständig mit ihren Besuchen belästigt, um sich mit ihm herumzuzanken, und gleichzeitig den unglückseligen Papierhändler fast zu Tode gepeinigt.«

»Lügen!« ruft Mademoiselle. »Alles Lügen!«

»Die Mordtat wurde begangen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, und Sie kennen die näheren Umstände. Ich muß Sie jetzt bitten, mir ein paar Minuten Ihre angestrengteste Aufmerksamkeit zu schenken. Man ließ mich holen und vertraute mir den Fall an. Ich untersuchte die Wohnung, die Leiche, die Papiere und alles. Infolge eines Winkes von selten des Schreibers in Mr. Tulkinghorns Kanzlei verhaftete ich George, weil man ihn nachts, ungefähr in der Zeit, als der Mord geschah, im Hause gesehen hatte und außerdem wußte, daß er schon früher heftige Wortwechsel mit dem Verstorbenen gehabt und sogar Drohungen gegen ihn ausgestoßen hatte, was alles der Zeuge bestätigte. Wenn Sie mich fragen, Sir Leicester Dedlock, ob ich von Anfang an George für den Mörder gehalten habe, so sage ich ganz ruhig, nein, aber immerhin hätte er es doch sein können, und es sprach so viel gegen ihn, daß es meine Pflicht war, ihn zu verhaften. Jetzt merken Sie wohl auf!« – Wie sich Mr. Bucket mit ziemlicher Aufregung vorbeugt und seine Rede mit einem unheilschwangeren Hieb seines Zeigefingers durch die Luft einleitet, heftet Mademoiselle Hortense ihre schwarzen Augen mit finsterm Groll auf ihn und preßt ihre fieberhaft trocknen Lippen fest zusammen. –

»Ich ging abends nach Hause, Sir Leicester Dedlock, Baronet, und fand dieses junge Frauenzimmer beim Abendbrot bei meiner Frau, Mrs. Bucket. Von dem ersten Tag an, wo sie sich bei uns einmietete, zeigte sie sich mächtig zu meiner Frau hingezogen; aber an diesem Abend war es auffälliger als je. Sie übertrieb es geradezu. In ebenso übertriebnen Farben schilderte sie ihre Hochachtung und ihre Verehrung für den beklagenswerten Mr. Tulkinghorn. Beim lebendigen Gott, da fuhr es mir durch den Kopf, wie ich sie so mir gegenüber am Tisch mit dem Messer in der Hand dasitzen sah, sie müsse die Tat begangen haben.«

Mademoiselle zischt kaum hörbar durch die Zähne:

»Sie sind ein Teufel.«

»Wo war sie nun an dem Abend, wo der Mord begangen wurde, gewesen?« fährt Mr. Bucket fort. »Im Theater! Sie war auch wirklich dort gewesen, wie ich erfahren habe, sowohl vor wie nach der Tat. Ich war mir bewußt, daß ich es mit einer schlauen Person zu tun hatte und mir der Beweis sehr schwer fallen würde, und ich legte ihr eine Schlinge – eine Schlinge, wie ich sie noch nie gelegt habe. Es war ein Wagestück, wie ich es noch nie unternommen habe. Ich dachte mir die Sache aus, während ich mich mit ihr während des Abendessens unterhielt. Als ich hinauf zu Bett ging, stopfte ich, weil unser Haus klein ist und das Ohr dieses jungen Frauenzimmers scharf, Mrs. Bucket ein Tuch in den Mund, damit sie kein Wort der Überraschung hören ließe, während ich ihr die Geschichte erzählte… Mein Schätzchen, lassen Sie sich das nicht noch ein Mal einfallen, oder ich schließe Ihnen die Füße zusammen.«

– Mr. Bucket hat plötzlich inne gehalten, ganz geräuschlos Mademoiselle überfallen und sie in das Sofa zurückgedrückt. –

»Was haben Sie schon wieder?« fragt sie ihn.

»Lassen Sie sich das nicht noch ein Mal einfallen«, entgegnet Mr. Bucket mit warnendem Finger, »zum Fenster hinausspringen zu wollen. Das habe ich wieder. Geben Sie mir Ihren Arm. Sie brauchen nicht aufzustehen. Ich werde mich neben Sie setzen. Gleich nehmen Sie meinen Arm, bitte. Ich bin doch ein verheirateter Mann, wie sie wissen, und Sie kennen meine Frau. Gleich nehmen Sie meinen Arm!«

Sie versucht, ihre trocknen Lippen zu befeuchten, kämpft stöhnend mit sich und gehorcht.

»So, jetzt sind wir wieder in Ordnung. – Sir Leicester Dedlock, Baronet, der Fall hätte sich nie so schön gestaltet ohne Mrs. Bucket. Eine Frau, wie man unter fünfzigtausend, was sage ich, unter hundertfünfzigtausend keine zweite findet. Um diese junge Person hier sicher zu machen, habe ich seither unser Haus nicht betreten, aber Mrs. Bucket in den Broten und Milchkannen, so oft es nötig war, Mitteilungen zukommen lassen. Nachdem ich ihr also damals in der Nacht das Bettuch in den Mund gestopft hatte, flüsterte ich ihr zu: ‚Meine Liebe, glaubst du, sie durch unbefangnes Erwähnen von Verdachtsmomenten gegen George oder diesen oder jenen in Sicherheit wiegen zu können? Glaubst du, imstande zu sein, sie Tag und Nacht, und ohne zu schlafen, im Auge behalten zu können? Kannst du dir fest vornehmen: sie darf nichts tun ohne mein Wissen, sie soll meine Gefangene sein, ohne es zu ahnen, und mir so wenig entkommen wie dem Tod, und ihr Leben soll mein Leben sein, und ihre Seele meine Seele, bis ich sie in Händen habe, wenn sie diesen Mord begangen hat?‘ Und Mrs. Bucket sagte zu mir, so gut es ihr gelingen wollte, trotz des Knebels zu sprechen: ‚Bucket, das kann ich.‘ Und sie hat ihr Versprechen glorreich gehalten.«

»Lügen!« fährt Mademoiselle wieder auf. »Alles Lügen, mein Freund.«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, und wie trafen nun meine Berechnungen unter diesen Verhältnissen ein? Als ich annahm, daß das leidenschaftliche junge Frauenzimmer wieder nach irgendeiner neuen Richtung hin übertreiben würde, hatte ich da recht oder unrecht? Ich hatte recht. Und was tut sie? Erschrecken Sie nicht darüber. Sie versucht den Verdacht, den Mord begangen zu haben, auf – die Gnädige zu lenken.«

Sir Leicester erhebt sich in seinem Stuhl und sinkt wieder zurück.

»Und sie wurde darin bestärkt, weil sie hörte, ich sei immerwährend hier. Jetzt öffnen Sie einmal diese Brieftasche, Sir Leicester Dedlock, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, sie Ihnen hinüberzuwerfen, und sehen Sie sich die Briefe an, die ich bekam, und von denen jeder die zwei Worte: ‚Lady Dedlock‘ enthält. Öffnen Sie den einen an Sie adressierten, den ich heute morgen auffing, und lesen Sie die drei Worte: ‚Lady Dedlock, Mörderin‘ darin. Es regnete solche Briefe so dicht wie Marienkäfer. Was sagen Sie nun dazu, daß Mrs. Bucket von ihrem Versteck aus gesehen hat, daß dieses Frauenzimmer selbst sie alle geschrieben hat? Was sagen Sie dazu, daß Mrs. Bucket noch vor einer halben Stunde die dazugehörigen andern halben Bogen, die Tinte, und was nicht sonst noch alles, in Sicherheit gebracht hat? Was sagen Sie dazu, daß Mrs. Bucket beobachtet hat, wie das junge Frauenzimmer jeden dieser Briefe selbst auf die Post trug, Sir Leicester Dedlock, Baronet« fragt Mr. Bucket voll Triumph über die Genialität seiner Ehehälfte.

Zwei Umstände fallen jetzt vor allem auf, je weiter Mr. Bucket in seinem Berichte kommt. Erstens, daß er unmerklich ein grauenerregendes Eigentumsrecht auf Mademoiselle zu gewinnen scheint. Zweitens, daß sie aussieht, als ob sogar die Luft sich enger und enger um sie schlösse, als zöge sich ein Netz oder ein Leichentuch immer fester und fester um ihre atemlose Gestalt zusammen.

»Es ist kein Zweifel, daß die Gnädige in der verhängnisvollen Stunde an Ort und Stelle war«, fährt Mr. Bucket fort, »und meine französische Freundin hat sie vermutlich vom obern Treppenabsatz aus gesehen. Die Gnädigste und George und meine französische Freundin folgten einander fast auf den Fersen. Aber das hat weiter nichts zu bedeuten, und ich brauche daher nicht mehr davon zu sprechen. Ich fand den Pfropf der Pistole, mit der der verstorbene Mr. Tulkinghorn erschossen worden war. Er bestand aus einem Stück der gedruckten Beschreibung Ihres Hauses in Chesney Wold. Daraus kann man nicht viel schließen, werden Sie sagen, Sir Leicester Dedlock, Baronet. Nein, allerdings nicht, aber wenn meine französische Freundin sich so hat einlullen lassen, daß sie es für gefahrlos hält, die andern Stücke des Blattes zu zerreißen und wegzuwerfen, und wenn Mrs. Bucket die Stücke zusammensetzt und findet, daß gerade der Fetzen fehlt, aus dem der Pfropf besteht, fängt die Sache an, bedenklich faul zu werden.«

»Das sind sehr lange Lügen«, unterbricht ihn Mademoiselle. »Sie schwatzen sehr viel. Sind Sie endlich bald fertig oder wollen Sie immer so fortreden?«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet«, fährt Mr. Bucket fort, der einen großen Genuß dabei empfindet, den vollständigen Titel herzusagen, und sich Gewalt antut, wenn er auch nur ein Stück davon wegläßt, »der letzte Umstand in dieser Sache, den ich gleich erwähnen werde, zeigt, wie notwendig es in unserm Beruf ist, Geduld zu haben und sich nie zu übereilen. Ich beobachtete die Person gestern ohne ihr Wissen, während sie dem Leichenbegängnis, in Gesellschaft meiner Frau, die sie absichtlich dazu mitgenommen hatte, zusah, und ich besaß schon soviel Beweise gegen sie und der Ausdruck von niederträchtiger Bosheit in ihrem Gesicht gegen die gnädige Frau empörte mich derart, und überdies war die Zeit so recht dazu geeignet, Vergeltung an ihr üben zu lassen, daß eine jüngere und weniger erfahrene Hand als meine sie gewiß verhaftet hätte. Auch gestern abend wieder, als die Gnädige, die so mit Recht allgemein bewundert wird, nach Hause kam und aussah – mein Gott, man könnte fast sagen, wie die Venus, die aus dem Meere emporsteigt –, war es so verletzend und peinlich, zu denken, daß sie unter dem Verdacht, einen Mord begangen zu haben, stehen sollte, daß ich mich schon heftig gedrängt fühlte, der Sache ein Ende zu machen. Aber was hätte mir dann gefehlt? Sir Leicester Dedlock, Baronet, mir hätte das corpus delicti, die Waffe, gefehlt! Meine Gefangene hier schlug nun Mrs. Bucket nach dem Leichenbegängnis vor, mit dem Omnibus über Land zu fahren und in einem hübschen Wirtshause dort einen Tee zu nehmen. Nun befindet sich aber nicht weit von diesem Wirtshaus ein Teich. Während des Tees geht die Gefangene in die Stube, wo die Damen ihre Hüte abgelegt haben, angeblich, um ihr Taschentuch zu holen, bleibt ziemlich lange weg und kommt, ein wenig außer Atem, wieder.

Dies, sowie alle ihre Vermutungen darüber, berichtet mir Mrs. Bucket sogleich, wie sie nach Hause kommt. Ich lasse im Beisein von ein paar von unsern Leuten den Teich untersuchen und habe wirklich bald darauf die Taschenpistole, noch ehe sie ein halbes Dutzend Stunden im Wasser gelegen hat, in Händen. So, und jetzt, mein Schatz, halten Sie einen Augenblick still, ich werde Ihnen nicht wehe tun.«

In einem Nu hat Mr. Bucket ihr eine Handschelle angelegt.

»Das wäre eine«, sagt Mr. Bucket. »Jetzt die andre, mein Liebling. So. Jetzt sind wir fertig.«

Er steht auf, und sie ebenfalls. »Wo«, fragt sie und schließt die Augen, damit man ihren starren, entsetzten Blick nicht sehen solle, »wo ist Ihr falsches, verräterisches, verfluchtes Weib?«

»Sie ist voraus auf die Polizei gegangen«, gibt Mr. Bucket zur Antwort. »Sie werden sie gleich dort treffen, meine Liebe.«

»Ich möchte sie küssen!« ruft Mademoiselle Hortense aus und keucht dabei wie eine Tigerin.

»Und sie beißen, wie?«

»Ja«, sagt sie und reißt die Augen weit auf, »ich möchte sie zerreißen, Stück um Stück.«

»Das kann ich mir wohl denken, mein Schatz«, sagt Mr. Bucket mit Seelenruhe. »Ihr Weiber habt eine merkwürdige Wut aufeinander, wenn ihr uneins seid. Mich hassen Sie wohl nicht halb so viel, nicht wahr?«

»Nein, obgleich Sie auch ein Teufel sind.«

»Also einmal Engel, einmal Teufel, was? Aber ich tue nur meine Pflicht, müssen Sie bedenken. Erlauben Sie mir, Ihnen den Schal umzugeben. Ich habe schon oft Kammermädchen gespielt. Fehlt noch etwas an dem Hut? Es steht ein Cab vor der Tür.«

Mademoiselle Hortense wirft einen zürnenden Blick in den Spiegel und schüttelt sich mit einer einzigen Bewegung zurecht und sieht, es ist nicht zu leugnen, ungewöhnlich elegant aus.

»Hören Sie, mein Engel«, sagt sie und lächelt höhnisch, »Sie sind schrecklich gescheit, aber können sie ihn wieder ins Leben zurückrufen?«

»Nein, das gerade nicht.«

»Das ist sehr komisch. Hören Sie weiter. Sie sind schrecklich gescheit. Können Sie der Gnädigen ihre Ehre wiedergeben?«

»Seien Sie nicht so boshaft«, warnt Mr. Bucket.

»Oder ihm seinen Stolz«, wendet sich Mademoiselle mit unsäglicher Verachtung an Sir Leicester, »he? Sehen Sie ihn nur an! Der arme Kind, hahaha!«

»Kommen Sie, kommen Sie, das ist ein böseres Parlühren als vorhin«, sagt Mr. Bucket. »Kommen Sie jetzt.«

»Also Sie können alles das nicht ändern? Gut. Dann können Sie mit mir machen, was Sie wollen. Es ist nur der Tod, weiter nichts. Gehen wir, mein Engel. Leben Sie wohl, Sie alter Graukopf! Ich bemitleide Sie und verabscheue Sie!«

– Mit diesen Worten beißt Sie ihre Zähne zusammen, und ihr Mund schnappt zusammen wie unter einer Feder. –

Es läßt sich nicht beschreiben, wie Mr. Bucket sie hinausbugsiert, aber er verrichtet das Kunststück auf eine ganz besondre, ihm eigentümliche Weise. Er umgibt sie und umhüllt sie wie eine Wolke und schwebt mit ihr fort, als wäre er ein Jupiter in Zivil und sie der Gegenstand seiner Neigung.

Sir Leicester bleibt allein und rührt sich nicht, als ob er immer noch aufmerksam zuhöre. Endlich wandert sein Blick durch das leere Zimmer, und als er niemanden darin sieht, steht er unsicher auf und wankt ein paar Schritte und stützt sich dabei auf den Tisch. Dann bleibt er stehen. Wieder kommen aus seinem Munde die unartikulierten Töne; er erhebt seine Augen und scheint etwas starr anzublicken.

Der Himmel weiß, was er sehen mag. Die grünen Waldungen von Chesney Wold, den Herrschaftssitz, die Bilder seiner Vorväter, Unbekannte, die sie entstellen, Polizeibeamte, die mit roher Hand seine kostbarsten Erbstücke schänden, Tausende von Fingern, die auf ihn weisen, Tausende von Gesichtern, die ihn höhnisch angrinsen. Aber wenn diese Schatten sinnverwirrend an ihm vorüberschweben, ohne daß er sie festzuhalten vermag, einer ist darunter, den er selbst jetzt noch genau unterscheiden kann und dessen Namen er ruft, sich sein weißes Haar ausraufend und verzweifelt die Arme ausgebreitet.

Sei Jahren ist sie die Hauptwurzel seines Stolzes gewesen, aber nie hat er mit ihr einen selbstsüchtigen Gedanken verknüpft. Er hat sie geliebt, bewundert, geehrt und sie der Welt hingestellt, sich von ihr Hochachtung zollen zu lassen. Und inmitten all des ihn umwuchernden Zeremoniells und der gesellschaftlichen Formalitäten ist sie der Mittelpunkt seiner Liebe und Zärtlichkeit gewesen. Er sieht sie vor sich und vergißt sich selbst dabei. Aber er kann nicht ertragen, sie sich herabgesunken von der Höhe zu denken, die sie so herrlich geziert hat.

Und selbst, wie er schon zu Boden sinkt, um seine Qual nicht mehr zu fühlen, kann er ihren Namen noch aussprechen, mitten unter dem Stöhnen, das wieder aus seiner Brust heraufklingt, – aussprechen, viel eher mit Trauer und Mitleid als mit Vorwurf.

55. Kapitel


55. Kapitel

Flucht

Noch ehe Inspektor Bucket von der Geheimpolizei seinen Hauptcoup ausgeführt hatte und als er noch fest schlief, fuhr auf gefrornen Winterwegen ein zweispänniger Wagen aus Lincolnshire in der Richtung nach London.

Eisenbahnen werden bald die ganze Gegend durchziehen, und rasselnd werden Zug und Maschine mit einem grellen Schein gleich einem Meteor durch die weite Nachtlandschaft brausen und den Mondesglanz erbleichen machen. Aber bis jetzt ist so etwas in den Gegenden noch nicht vorhanden, wenn auch sein Kommen schon geahnt wird. Vorbereitungen aller Art sind im Gang; Messungen werden vorgenommen und Strecken abgesteckt. Brücken sind angefangen, und ihre noch nicht miteinander verbundenen Pfeiler sehen sich über Straßen und Flüsse hinüber an wie Liebespaare aus Ziegel und Kalk, deren Vereinigung noch allerlei Hindernisse im Wege stehen. Dämme sind aufgeworfen, und Ströme aus schmutzigen Wagen und Karren ergießen sich in ihre Schrunde. Dreifüße von langen Stangen erscheinen auf Hügelspitzen, und man raunt, daß da und dort Tunnels gebohrt werden sollen. Alles sieht chaotisch und verödet und hoffnungslos aus.

Die gefrornen Straßen entlang rumpelt durch die Nacht die Postchaise, und kein Gedanke an Eisenbahnen bedrückt ihr Herz.

Mrs. Rouncewell, so lange Jahre nun schon Haushälterin in Chesney Wold, sitzt darin, und neben ihr Mrs. Bagnet mit grauem Mantel und Regenschirm. Die alte Soldatenfrau säße lieber oben auf dem Bock, weil dieser Platz mehr dem Wetter ausgesetzt ist und besser mit ihrer sonstigen Art zu reisen harmoniert, aber Mrs. Rouncewell ist viel zu sehr auf ihr Wohlbefinden bedacht, um so etwas zuzulassen. Sie kann die Alte gar nicht genug ehren. Sie sitzt in ihrer stattlich steifen Weise da, hält die Hand Mrs. Bagnets in der ihren und zieht sie, so rauh sie auch ist, oft an ihre Lippen.

»Sie sind eine Mutter«, sagt sie immer und immer wieder, »und haben meines Georges Mutter aufgefunden.«

»Sehen Sie, George war immer offenherzig zu mir«, entgegnet Mrs. Bagnet. »Und als er bei uns zu Hause zu meinem Woolwich sagte, der größte Trost, den ein Mann haben könne, sei die Gewißheit, an keiner Gramesfurche auf dem Antlitz seiner Mutter und an keinem ihrer grauen Haare schuld zu sein, da erriet ich aus seinem ganzen Benehmen, daß kurz vorher etwas vorgefallen sein mußte, was ihm das Bild seiner Mutter wieder so lebendig ins Gedächtnis gerufen hatte. Er hatte schon oft früher zu mir gesagt, er habe sich schlecht gegen sie benommen.«

»Niemals, niemals!« – Mrs. Rouncewell bricht in Tränen aus. – »Meinen Segen aufsein Haupt! Niemals! Es war mir stets ein guter und zärtlicher Sohn. Mein George! Aber bei seinem Feuergeist war er ein wenig unbändig, und so ging er unter die Soldaten, und ich weiß ganz gut, er wollte uns nicht früher Nachricht geben, als bis er Offizier sein würde, und als er dann nicht avancierte, hielt er sich zu schlecht für uns und wollte uns keine Schande machen. Er hatte ein Löwenherz, mein George, schon als Kind.«

– Die Hände der Greisin greifen unsicher in die Luft, wie immer, wenn sie sich erinnert, was für ein schöner Junge, was für ein lustiger gescheiter Junge er war, wie sie ihn unten in Chesney Wold alle lieb hatten, wie ihn Sir Leicester lieb gewann, als er selbst noch ein junger Herr war, und ihn die jungen Hunde lieb hatten, und selbst die Leute, die ihm zürnten, ihm verziehen, sowie er fort war, der arme Junge! Und ihn jetzt doch noch wiederzusehen, und noch dazu im Gefängnis! Und der breite Schnürleib hebt sich, und die gerade, altmodische Gestalt beugt sich unter der Last bekümmerter Liebe.

Mit dem angebornen Takt eines guten mitfühlenden Herzens überläßt Mrs. Bagnet die alte Haushälterin ein Weilchen ihrer Rührung –nicht ohne sich mit dem Handrücken über ihre eignen Mutteraugen zu fahren – und schwatzt dann mit ihr in ihrer heiteren Weise weiter. »Und so sage ich zu George, wie ich ihn zum Tee hereinrufe, denn er schützte vor, draußen seine Pfeife rauchen zu wollen: ‚Um Gottes willen, was fehlt Ihnen denn nur heute, George. Ich habe Sie schon in jeder Stimmung gesehen, bei guter und bei schlechter Laune, daheim und im Ausland, aber noch nie haben Sie ein so melancholisches Büßergesicht gemacht.‘ – ‚Weil ich wirklich heute melancholisch und bußfertig bin, Mrs. Bagnet‘, hat George gesagt und den Kopf geschüttelt. ‚Was ich angestellt habe, ist vor langen, langen Jahren geschehen, und es ist das Beste, nichts daran mehr ändern zu wollen. Wenn ich je in den Himmel komme, geschieht es nicht, weil ich einer alten verwitweten Mutter ein guter Sohn gewesen bin. Weiter sage ich nichts.‘

Nun, Maam, wie mir George alles das sagt, mache ich mir darüber meine Gedanken, so, wie früher schon manches Mal, und locke aus ihm heraus, wieso er gerade heute nachmittag auf solche Gedanken komme.

Und da erzählt er mir, er habe zufällig bei einem Advokaten eine stattliche alte Frau gesehen, bei deren Anblick er sofort an seine Mutter habe denken müssen, und er spricht über diese alte stattliche Dame, bis er sich ganz und gar vergißt und mir schildert, wie sie vor vielen, vielen Jahren ausgesehen habe.

So frage ich ihn denn, als er fertig ist, wer die alte Dame gewesen wäre, die er gesehen, und er sagt mir, es sei Mrs. Rouncewell, die alte treue Haushälterin bei den Dedlocks unten in Chesney Wold in Lincolnshire. George hatte mir schon früher oft erzählt, er sei aus Lincolnshire, und drum sage ich an diesem Abend zu meinem alten Lignum: ‚Lignum, ich wette fünfundvierzig Pfund, das ist seine Mutter.’«

– Das alles erzählt Mrs. Bagnet jetzt mindestens zum zwanzigsten Male seit den letzten vier Stunden. Sie trillert es in ziemlich hohem Ton wie ein Vogel, damit die alte Dame es bei dem Wagengerassel verstehen kann. –

»Gott segne Sie, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen, meine gute liebe Mrs. Bagnet…«

»Aber Sie schulden mir wahrhaftig keinen Dank, gewiß nicht!« ruft Mrs. Bagnet lustig und natürlich. »Vergessen Sie nur nicht, Maam, vor allem, wenn Sie in George wirklich Ihren Sohn erkennen, darauf zu bestehen, daß er sich Ihretwegen gegen die Anschuldigungen einer Tat zur Wehr setzt, die er so wenig begangen hat wie Sie und ich. Es genügt nicht, daß er die Wahrheit auf seiner Seite hat, er muß auch das Gesetz und die Juristen auf seiner Seite haben«, versichert die Alte, offenbar fest überzeugt, daß Advokat und Gerechtigkeit sich zueinander verhalten wie zwei Kompagnons, die sich für alle Zeit miteinander entzweit haben.

»Es soll ihm jede Hilfe zur Seite stehen, die nur irgend auf der Welt zu haben ist, meine Beste. Ich will alles hingeben, was ich besitze, und mit dankbarem Herzen, wenn ich sie ihm dadurch verschaffen kann. Sir Leicester wird sein möglichstes tun, und die ganze Familie. Ich – ich weiß etwas, meine Liebe, und will auf meine eigne Art bitten als seine Mutter, die ihn so viele Jahre nicht gesehen hat und ihn jetzt endlich im Kerker wiederfindet.«

– Die große Unruhe, mit der die alte Haushälterin das sagt, ihre abgerissnen Worte und ihr Händeringen machen einen mächtigen Eindruck auf Mrs. Bagnet und würden sie noch mehr in Erstaunen setzen, wenn sie nicht alles ihrem Schmerz über die Lage ihres Sohnes zuschriebe. Aber trotzdem wundert sich Mrs. Bagnet, warum Mrs. Rouncewell immer so verzweifelt vor sich hinmurmelt: »Mylady, Mylady, Mylady!« –

Die kalte Nacht schwindet, und der Tag bricht an, und der Postwagen kommt durch den Morgennebel dahergerollt wie das Gespenst einer verstorbenen Chaise. Er hat geisterhafte Gesellschaft in Menge in den Gespenstern der Bäume und Hecken, die langsam verschwindet und der Wirklichkeit des Tages Platz macht.

Die Reisenden erreichen London und steigen aus. Die alte Haushälterin in großer Unruhe und Verwirrung, Mrs. Bagnet frisch und fröhlich wie immer. Sie würde es wahrscheinlich auch sein, wenn die nächste Haltestation das Kap der guten Hoffnung, die Insel Ascension, Hongkong oder irgendeine andre Militärstation wäre.

Als sie sich dann nach dem Gefängnis begeben, hat die alte Dame in ihrem lavendelfarbigen Kleid wieder viel von ihrer alten gefaßten Ruhe zurückgewonnen. Sie sieht aus wie ein wunderbar ernstes und schönes Stück altes Porzellan, obgleich ihr Herz schnell schlägt und sich ihr Schnürleib ungestümer hebt als seit vielen Jahren, wenn sie an ihren Sohn gedacht hat.

Sie nähern sich der Zelle, da geht die Türe auf und ein Wärter tritt heraus. Mrs. Bagnet bittet ihn mit einer raschen Gebärde, sie nicht zu verraten; er nickt beistimmend, läßt sie eintreten und macht die Türe zu.

So blickt George, der an seinem Tische schreibt, in der Meinung, er sei allein, nicht auf, sondern bleibt, in Nachdenken versunken, sitzen. Die alte Haushälterin betrachtet ihn, und ihre unruhig wandernden Hände sind Bestätigung genug für Mrs. Bagnet, selbst wenn sie jetzt, wo sie Mutter und Sohn nebeneinander sieht, noch einen Augenblick an der Verwandtschaft der beiden zweifeln könnte.

Kein Rauschen des Kleides, keine Bewegung, kein Wort verraten die Haushälterin. Sie betrachtet ihren Sohn, wie er ahnungslos weiter schreibt, und nur ihre zitternden Hände geben von ihrer inneren Bewegung Zeugnis. Aber sie sind sehr beredt, sehr, sehr beredt. Mrs. Bagnet versteht sie. Sie sprechen von Dankbarkeit, Freude, Kummer und Hoffnung, von Liebe, die nicht verblassen konnte, seit dieser stahlharte Mann dem Knabenalter entwuchs, und reden eine so rührende Sprache, daß Mrs. Bagnets Augen voller Tränen stehen und die glänzenden Tropfen über ihre sonnenverbrannten Wangen rinnen.

»George! Mein geliebtes Kind!«

Der Kavallerist springt auf, fällt seiner Mutter um den Hals und sinkt vor ihr nieder auf die Knie. Er faltet seine Hände, von dem Gedanken an seine Jugend, der ihn bei ihrem Anblick durchzuckt, überwältigt, wie ein Kind, das ein Gebet hersagt, und läßt das Haupt sinken und weint.

»George, mein lieber, lieber Sohn! Von jeher mein Liebling, wo bist du diese vielen Jahre und Jahre gewesen? Und zu einem solchen Mann herangewachsen, zu einem so schönen stattlichen Mann! So ähnlich dem Bild, daß ich mir von ihm machte, wenn ich hoffte, er sei noch am Leben.«

Eine Zeitlang können beide nichts Zusammenhängendes sprechen. Mrs. Bagnet hat sich abgewendet, lehnt sich mit dem Arm an die weißgetünchte Wand und läßt ihre ehrliche Stirn darauf ruhen. Sie wischt sich mit dem unentbehrlichen grauen Mantel die Augen und freut sich, die brave Alte, wie sie es bei ihrem guten Herzen nur imstande ist.

»Mutter«, sagt der Kavallerist, als sie wieder gefaßter sind, »zuerst vergib mir, denn ich weiß, wie sehr ich dessen bedarf.«

Ihm vergeben! Sie tut es von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Hat sie ihm doch längst verziehen. Sie erzählt ihm, wie sie vor langen Jahren ihr Testament gemacht habe und darin niedergeschrieben, daß er von jeher ihr Lieblingssohn gewesen sei. Nie habe sie etwas Böses von ihm geglaubt. Niemals. Und wenn sie gestorben wäre, ohne dieses große Glück zu erleben, hätte sie ihn mit ihrem letzten Atemzug gesegnet.

»Mutter, ich bin dir ein pflichtvergessner Sohn und ein Kummer gewesen und habe jetzt meinen Lohn. Aber in den letzten Jahren habe ich auch so eine Art Lebenszweck gehabt. Als ich von Hause fortging, wurde mir der Abschied nicht schwer, Mutter, ich fürchte nicht allzuschwer; und ich lief fort und ließ mich anwerben, mir nichts dir nichts, als stünde ich ganz allein in der Welt da.«

– Der Kavallerist hat seine Augen getrocknet und sein Taschentuch eingesteckt, aber er spricht und benimmt sich ganz anders als sonst, und seine gepreßte Stimme wird zuweilen von einem halberstickten Schluchzen unterbrochen. –

»So schrieb ich denn eine Zeile nach Hause, Mutter, wie du gewiß noch weißt, daß ich mich unter einem andern Namen hatte anwerben lassen, und ging übers Meer. Und dort dachte ich manchmal, ich wollte das nächste Jahr nach Hause schreiben, wenn ich eine bessere Stellung haben würde, und wie das Jahr vorüber war, verschob ich es wieder aufs nächste. Und so ging es eine Dienstzeit von zehn Jahren fort, bis ich älter zu werden und mich zu fragen begann, warum ich überhaupt noch schreiben sollte.«

»Ich will dich nicht tadeln, Kind, aber hättest du mir nicht dadurch die Sorgen vom Herzen genommen, George? Hättest du nicht ein Wort an deine dich liebende Mutter, die doch auch älter wurde, schreiben können?«

Das schmettert den Kavalleristen von neuem nieder; aber er bezwingt sich mit einem lauten kräftigen Räuspern.

»Der Himmel verzeihe mir, Mutter, aber ich glaubte damals, es sei kein besonderer Trost, etwas von mir zu hören. Du warst geachtet und geehrt, und mein Bruder, wie ich aus einigen Zeitungen aus dem Norden, die mir zufällig in die Hand kamen, erfuhr, reich und berühmt geworden. Und was war ich dagegen? Ein Dragoner, herumabenteuernd, ohne Heimat, nicht durch eignes Können zu etwas geworden wie er, sondern durch eignes Tun verdorben – ein Mensch, der alles von sich geworfen, das Wenige, was er gelernt, vergessen und keine neuen Kenntnisse dazu erworben hatte. Wozu sollte ich da Nachricht von mir geben? Wozu konnte es gut sein, nachdem ich die ganze lange Zeit hatte verstreichen lassen? Das Schlimmste lag hinter dir, Mutter. Ich wußte, zum Mann geworden, wie du um mich geklagt und geweint und für mich gebetet haben mußtest. Der Schmerz war vorüber oder gelindert, und in deiner Erinnerung war ich besser als in Wirklichkeit.«

Die Greisin schüttelt bekümmert den Kopf, ergreift seine Hände und legt sie liebreich auf ihre Schultern.

»Nein, ich sage ja nicht, daß es so war, Mutter, aber so stellte ich es mir vor. Ich sagte eben, wem hätte es genützt. Liebe Mutter, nur mir; und darin hätte eben die Gemeinheit für mich gelegen. Du hättest mich aufgesucht, mich losgekauft, mich nach Chesney Wold genommen, meinen Bruder mit seiner Familie zusammengetrommelt, und ihr alle hättet euch den Kopf zerbrochen, wie ihr etwas für mich tun und mich zu einem anständigen Zivilisten machen könntet. Aber wie durftet ihr euch dabei auf mich verlassen, wo ich mich doch selbst nicht einmal auf mich verlassen konnte. Mußte ich nicht in euern Augen ein alter abgetakelter Dragoner, mir selbst eine Last und eine Schmach, außer wenn mich der Zwang in Ordnung hielt, sein? Wie konnte ich meines Bruders Kindern ins Gesicht sehen und ihnen ein Vorbild sein, ich, der weggelaufne Junge, der seiner Mutter das Leben verbittert hat? Nein, George, sagte ich zu mir, Mutter, als ich mir all das überlegte – wie man sich bettet, so liegt man.«

Mrs. Rouncewell richtet ihre stattliche Gestalt in die Höhe und schüttelt mit einem Blick auf Mrs. Bagnet, der von Stolz auf ihren Sohn erfüllt ist, den Kopf, als wollte sie sagen: Habe ich es nicht gewußt? Mrs. Bagnet macht ihren Gefühlen Luft und gibt ihre Teilnahme an der Unterhaltung dadurch zu erkennen, daß sie dem Kavalleristen mit ihrem Regenschirm einen derben Stoß zwischen die Schultern gibt. Das wiederholt sie später noch verschiedne Male und ist vor Rührung und Zärtlichkeit ganz aufgelöst. Nachdem sie sich auf diese Weise in die Unterhaltung gemischt, nimmt sie wieder zu der geweißten Wand und dem grauen Mantel ihre Zuflucht.

»Auf diese Weise machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, Mutter, es sei die beste Buße für mich, so liegen zu bleiben, wie ich mich gebettet hatte, und so dereinst zu sterben. Ich besuchte wohl manches Mal heimlich Chesney Wold und sah dich bei Gelegenheiten, wo du es am wenigsten vermuten konntest, aber es wäre wohl nie zu unserm heutigen Wiedersehen gekommen, wenn nicht die Frau meines alten Kameraden hier doch zu schlau für mich gewesen wäre. Und wir dankbar bin ich Ihnen dafür. Ich danke Ihnen dafür, Mrs. Bagnet, wirklich von ganzem Herzen und von ganzer Seele.«

Mrs. Bagnet antwortet mit einem Doppelstoß ihres Regenschirms.

Und dann bindet die alte Dame ihrem Sohn George, ihrem lieben wiedergewonnenen Herzenskind, ihrer Freude und ihrem Stolz, dem Licht ihrer Augen, mit jedem zärtlichen Namen, den sie für ihn ersinnen kann, auf die Seele, er müsse den besten juristischen Berater annehmen, der sich nur durch Geld und Einfluß verschaffen lasse, müsse in dieser ernsten Lage handeln, wie der Advokat es ihm vorschreibe, und dürfe nicht eigensinnig sein, wenn er auch noch so sehr im Recht sei, und feierlich versprechen, einzig und allein seiner alten Mutter Angst und Kummer zu berücksichtigen, sonst bräche er ihr das Herz.

»Mutter, ich mache wenig genug damit wieder gut«, entgegnet der Kavallerist und schließt ihr mit einem Kuß den Mund. »Sag mir, was ich tun soll, und ich werde, wenn auch spät, anfangen, ein gehorsamer Sohn zu sein. Mrs. Bagnet, Sie werden sich meiner Mutter annehmen, nicht wahr?«

Ein derber Stoß mit dem Regenschirm ist die Antwort der Alten.

»Wenn Sie sie Mr. Jarndyce und Miß Summerson vorstellen, wird sie sich mit ihnen ins Einvernehmen setzen und sich von ihnen Beistand und gewiß den besten Rat holen können…«

»Und dann, George«, unterbricht ihn die alte Dame, »müssen wir auf der Stelle nach deinem Bruder schicken. Er ist ein verständiger tüchtiger Mann, wie man mir allgemein versichert – draußen in der Welt, jenseits von Chesney Wold –, und kann uns sehr von Nutzen sein.«

»Mutter«, entgegnet der Kavallerist, »ist es zu bald, wenn ich dich um etwas bitte?«

»Gewiß nicht, mein Sohn.«

»Dann gewähre mir diese eine große Bitte. Sage meinem Bruder nichts.«

»Was soll ich nicht sagen, mein Sohn?«

»Sage ihm nichts von mir. Wahrhaftig, Mutter, ich könnte es nicht ertragen. Ich kann mich dazu nicht entschließen. Er hat sich so verschieden von mir gezeigt und sich emporgeschwungen, während ich Soldat gespielt habe, daß ich eine frechere Stirn haben müßte, um ihn an diesem Ort, und noch dazu unter der Last meiner Anklage, zu sehen. Wie kann ein Mann wie er auch nur die geringste Freude über ein solches Wiedersehen empfinden? Es ist unmöglich. Nein, Mutter, halte ihm die Sache noch geheim. Erweise mir größere Liebe, als ich verdient habe, und halte von allen Menschen vor meinem Bruder die Sache geheim.«

»Aber doch nicht für immer, lieber George?«

»Vielleicht nicht für immer und ewig, Mutter, wenn mir das auch das liebste wäre, aber jedenfalls behalte es jetzt für dich. Ich bitte dich darum. Wenn er jemals erfahren soll, daß sich sein Galgenstrick von einem Bruder wiedergefunden hat, so möchte ich es ihm am liebsten selber sagen« – verzweifelt schüttelt der Kavallerist den Kopf – »und ich würde vorher sondieren, wie er es aufnehmen würde.«

– Offenbar hat er über diesen Punkt eine so stark vorgefaßte Meinung, daß die Mutter seinen Wunsch erfüllt, zumal ihr Mrs. Bagnets Gesicht denselben Rat gibt. –

Er dankt ihr herzlich.

»In jeder andern Hinsicht, liebe Mutter, will ich so fügsam und gehorsam sein, wie du nur wünschen kannst, bloß auf diesem Punkt möchte ich bestehen. Ich bin sogar auf die Advokaten gefaßt. Ich habe hier«, sagt er mit einem Blick auf die auf dem Tisch liegende Schrift, »einen genauen Bericht über alles aufgesetzt, was ich von dem Verstorbenen weiß, und wieso ich in die ganze unglückliche Geschichte verwickelt worden bin. Es ist einfach und genau eingetragen wie in einem Orderbuch und ohne ein überflüssiges Wort. Ich hatte vor, es geradeso abzulesen, wenn man mich auffordern würde, etwas zu meiner Verteidigung vorzubringen. Ich hoffe, man wird auch jetzt noch nichts dagegen haben, doch ich will in dieser Sache keinen freien Willen mehr haben, und mag da was immer beschlossen und geredet werden, ich verspreche, mich zu fügen.«

Da die Sachen soweit zufriedenstellend abgemacht sind und die Zeit vorrückt, schlägt Mrs. Bagnet vor, zu gehen. Immer und immer wieder wirft sich die Greisin ihrem Sohn um den Hals, und immer und immer wieder drückt sie der Kavallerist an seine breite Brust.

»Wo bringen Sie meine Mutter hin, Mrs. Bagnet?«

»In die Stadtwohnung der Familie, lieber George. Ich habe etwas dort zu tun, was keinen Aufschub duldet«, gibt Mrs. Rouncewell zur Antwort.

»Möchten Sie nicht meine Mutter in einem Wagen dorthin bringen, Mrs. Bagnet? Aber natürlich tun Sie’s. Warum frage ich noch.«

»Natürlich«, gibt ihm Mrs. Bagnet mit dem Regenschirm zu verstehen.

»Nehmen Sie sie mit, alte Freundin, und meine Dankbarkeit dazu. Und Küsse für Quebec und Malta und herzliche Grüße meinem Patenkind und einen freundschaftlichen Händedruck für Lignum. Und das für Sie. Und ich wollte, es wären zehntausend Pfund in Gold.« Mit diesen Worten drückt der Kavallerist seine Lippen auf die sonnenverbrannte Stirn der Alten, und die Türe seiner Zelle fällt wieder ins Schloß.

Kein Bitten der guten alten Haushälterin kann Mrs. Bagnet bewegen, die Droschke zu behalten und nach Hause zu fahren. Sie steigt vor der Tür des Palais fröhlich aus, begleitet Mrs. Rouncewell die Stufen hinauf, schüttelt ihr zum Abschied die Hand und marschiert fort. Bald darauf taucht sie wieder inmitten der Bagnet-Familie auf und fängt an, Gemüse zu waschen, als ob nichts geschehen wäre.

Mylady befindet sich in dem Zimmer, wo sie ihre letzte Unterredung mit dem Ermordeten hatte. Sie sitzt an derselben Stelle wie damals und blickt auf den Kamin, vor dem er stand und sie in aller Muße studierte. Da klopft es an die Tür.

»Wer ist da« ?

»Mrs. Rouncewell.«

»Was hat Sie unerwartet in die Stadt geführt, Mrs. Rouncewell?«

»Sorgen, Mylady, Schwere Sorgen. Ach, Mylady, dürfte ich ein Wort allein mit Ihnen sprechen?« Was ist denn schon wieder geschehen? Was macht diese sonst so ruhige Alte so zittern?

»Was gibt es denn? Setzen Sie sich und erholen Sie sich ein wenig.«

»Ach, Mylady, Mylady! Ich habe meinen Sohn gefunden – meinen Jüngsten, der vor langen, langen Jahren unter die Soldaten ging. Und er ist im Gefängnis.«

»Wegen Schulden?«

»Ach nein, Mylady. Ich hätte jede Schuld mit Freuden bezahlt.«

»Weshalb ist er denn dann im Gefängnis?«

»Eines Mordes beschuldigt, Mylady, an dem er so unschuldig ist wie – ich selbst –, angeklagt, Mr. Tulkinghorn ermordet zu haben.«

– Was will sie mit diesem Blick und diese flehentlichen Gebärde? Warum tritt sie so nahe heran. Was hat der Brief in ihrer Hand zu bedeuten? –

»Lady Dedlock, meine liebe Lady, meine gütige Lady, Sie müssen ein Herz haben, um mit mir zu fühlen, Sie müssen ein Herz haben, um mir zu verzeihen. Ich war in diesem Hause lange, ehe Sie geboren wurden. Ich hänge so daran. Aber denken Sie an meinen lieben, unschuldig angeklagten Sohn.«

»Aber ich klage ihn doch nicht an!«

»Nein, Mylady, nein. Aber andre. Und er ist im Gefängnis und in großer Gefahr. – Ach, Lady Dedlock, wenn Sie nur ein Wort für ihn sprechen können, sprechen Sie es.«

– In welchem Wahn mag sie leben? Welche Macht schreibt sie Mylady zu, das Unrecht, wenn es ein solches ist, abwenden zu können, daß sie sie so anblickt? Lady Dedlocks schöne Augen sehen sie mit Staunen, fast mit Furcht an. –

»Mylady, ich verließ gestern abend Chesney Wold, um meinen Sohn als bejahrten Mann wiederzufinden, und die Schritte auf dem Geisterweg klangen so unausgesetzt und feierlich, wie ich sie in all den langen Jahren noch nie gehört habe. Abend für Abend, wenn es dunkel geworden war, schritt es durch Ihre Zimmer, aber vorige Nacht klang es am grauenhaftesten, und mit Dunkelwerden gestern abend, Mylady, bekam ich diesen Brief.«

»Was für einen Brief denn?«

»Still, still!« Die Haushälterin sieht sich um und flüstert erschrocken: »Mylady, ich habe niemand ein Wort davon gesagt. Ich glaube nicht, was darin steht. Ich weiß, daß es nicht wahr sein kann. Wahrhaftig und wirklich, ich bin fest überzeugt, daß es nicht wahr ist. Aber mein Sohn schwebt in größter Gefahr. Haben Sie Mitleid mit mir. Wenn Sie etwas wissen, was andern nicht bekannt ist, wenn Sie einen Verdacht haben, oder eine Vermutung und einen Grund, es für sich zu behalten, o liebe gütige Mylady, denken Sie an mich, vergessen Sie diesen Grund und sagen Sie es. Mehr halte ich ja nicht für möglich. Ich weiß, Sie sind nicht hartherzig, aber Sie gehen immer Ihre eignen Wege, ohne jemandes Hilfe, und vertrauen sich Freunden nie an, und alle, die Sie als schöne und vornehme Dame bewundern, wissen, daß Sie hoch über ihnen stehen und daß man Ihnen nicht nahe kommen darf. Mylady, Sie haben vielleicht aus Stolz Gründe, zu verschweigen, was Sie wissen, und wenn das der Fall ist, so bitte ich Sie, denken Sie an eine treue Dienerin, die ihr ganzes Leben in diesem Hause, das sie so hoch und teuer hält, zugebracht hat; haben Sie Erbarmen und helfen Sie meinem Sohn von diesem schrecklichen Verdacht. Ach, Mylady, meine gute gnädige Lady«, fleht die alte Haushälterin in ihrer Schlichtheit. »Meine Stellung ist so bescheiden und niedrig, und Sie stehen so hoch und so weit über mir, daß Sie vielleicht nicht wissen, was ich für mein Kind fühle, aber ich bin hierher gekommen, um Sie zu bitten und anzuflehen, mir nicht zu zürnen, daß ich so kühn bin, Sie zu bitten, uns in dieser furchtbaren Zeit zu Recht und Gerechtigkeit zu verhelfen.«

Lady Dedlock hebt sie vom Boden auf, ohne ein Wort zu sagen. Dann nimmt sie ihr den Brief aus der Hand.

»Soll ich das lesen?«

»Wenn ich fort bin, Mylady, wenn ich Sie bitten dürfte. Und bedenken Sie, daß ich kein Wort davon glaube. Nur was ich Ihnen gesagt habe, halte ich für möglich.«

»Aber ich wüßte nicht, was ich tun könnte. Ich halte nichts geheim, was Ihrem Sohn nützen könnte! Ich habe ihn nie beschuldigt!«

»Mylady, dann werden Sie ihn als unschuldig Angeklagten nur um so mehr bemitleiden, nachdem Sie den Brief gelesen haben.«

– Die alte Haushälterin verläßt das Zimmer, und Mylady hält den Brief in der Hand. Sie ist von Natur gewiß nicht hartherzig, und es hat eine Zeit gegeben, wo der Anblick der ehrwürdigen Greisin, die sie mit so innigem Ernst anflehte, sie bis zu tiefem Mitleid gerührt hätte. Aber sie ist so lange gewöhnt, Gemütsbewegung niederzuhalten, ist so lange ihrer selbst wegen in die verderbliche Schule gegangen, die die natürlichen Gefühle des Herzens luftdicht absperrt, wie der Bernstein die Mücken, das Gute und das Schlechte, Gefühl und Gefühllosigkeit, Einsicht und Unvernunft mit einem Firnis überzieht, daß sie sogar ihr Staunen bis jetzt unterdrückt hat. –

Sie öffnet den Brief. Er enthält einen gedruckten Befund des Toten, wie er, mit dem Gesicht auf dem Boden, mitten durch das Herz geschossen, dagelegen hat, und darunter steht ihr Name und dabei das Wort »Mörderin« geschrieben.

Er sinkt ihr aus den Händen. Wie lange er auf dem Teppich gelegen haben mag, weiß sie nicht, aber er liegt noch auf der Stelle, wo er hingefallen ist, als ein Bedienter vor ihr steht und den jungen Mann namens Guppy anmeldet. Wahrscheinlich hat der Bediente die Worte schon mehrere Male wiederholt, denn sie klingen ihr noch in den Ohren, ehe sie sie verstehen kann.

»Lassen Sie ihn eintreten.«

Er tritt ein. Sie hat den Brief vom Boden aufgehoben und versucht ihre Gedanken zu sammeln. In Mr. Guppys Augen ist sie dieselbe Lady Dedlock in derselben erkünstelten stolzen kalten Unnahbarkeit wie immer.

»Euer Gnaden werden vielleicht den abermaligen Besuch einer Person, die Ihnen niemals willkommen gewesen ist, nicht zu entschuldigen geneigt sein, aber ich hoffe, wenn ich der Allergnädigsten meine Beweggründe auseinandersetze, wird sie mich nicht tadeln«, sagt Mr. Guppy.

»Sprechen Sie!«

»Ich danke Euer Gnaden. Ich hätte zuerst gleich erwähnen sollen« –Mr. Guppy sitzt verlegen auf der Kante des Stuhles und stellt seinen Hut vor sich auf den Teppich – »daß Miß Summerson, deren Bild, wie ich seinerzeit gegen die Allergnädigste erwähnte, einstmals tief in mein Herz eingegraben war, bis Umstände, über die ich keine Gewalt hatte, es zerstörten, mir mitteilte, sie wünsche dringend, ich möchte keine weiteren Schritte in irgendeiner sie betreffenden Angelegenheit tun. Und da mir Miß Summersons Wunsch Befehl ist, außer wenn er sich auf Verhältnisse bezöge, über die ich keine Gewalt habe, so erwartete ich natürlich niemals wieder, die ausgezeichnete Ehre zu haben, der Allergnädigsten meine Aufwartung machen zu dürfen.«

»Und dennoch sind Sie wieder hier«, unterbricht ihn Lady Dedlock ärgerlich.

»Und dennoch bin ich jetzt hier«, gibt Mr. Guppy zu. »Meine Absicht ist, Euer Gnaden unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitzuteilen, warum ich hier bin.«

Mylady bedeutet dem jungen Mann, daß er sich nicht einfach und kurz genug fassen könne.

»Auch ich«, entgegnet Mr. Guppy ein wenig verletzt, »kann die Allergnädigste nicht angelegentlich genug ersuchen, fest im Auge zu behalten, daß mich kein persönliches Interesse herführt. Wenn mein Miß Summerson gegebenes Versprechen nicht wäre, und meine Verpflichtung, es zu halten, würde ich die Schwelle dieses Hauses wahrhaftig nicht wieder betreten haben.«

– Mr. Guppy hält den Augenblick für günstig, sich mit beiden Händen in das Haar zu fahren, so daß es kerzengerade in die Höhe steht. –

»Euer Gnaden werden sich vielleicht erinnern, daß ich bei meinem letzten Hiersein mit einer in unsern Berufskreisen hoch angesehenen Person, deren Verlust wir alle beklagen, zusammengetroffen bin. Diese Person unterließ von dieser Zeit an nichts, gegen mich auf eine Weise zu verfahren, die man geradezu hart nennen muß, und ließ mich ununterbrochen befürchten, ich könne unwissentlich vielleicht doch Miß Summersons Wünschen zuwider gehandelt haben. Eigenlob ist keine Empfehlung, aber ich möchte immerhin betonen, daß ich auch gerade kein schlechter Geschäftsmann bin.«

Lady Dedlock sieht fragend und streng auf. Mr. Guppy wendet augenblicklich seinen Blick von ihrem Gesicht.

»Es war mir in der Tat so schwer«, fährt er fort, »auch nur eine Ahnung von dem zu haben, was diese gewisse Person im Verein mit andern vorhatte, daß ich bis zu dem Verlust, den wir alle so sehr beklagen, ganz ‚aufgeschmissen‘ war – ein Ausdruck, den die Gnädigste, die sich in höheren Kreisen bewegt, dahin auslegen möge, daß mir der Verstand stillstand. Auch Small – ein Name, der eine andre beteiligte Person bezeichnet –, einer meiner Freunde – Euer Gnaden kennen ihn nicht –, benahm sich mir gegenüber so versteckt und doppelzüngig, daß es einem nicht leicht wurde, sich nicht an den Kopf zu greifen. Jedoch ist es mir endlich mit Aufgebot aller meiner bescheidenen Fähigkeiten und mit Hilfe eines gemeinsamen Freundes von hocharistokratischer Gesinnung namens Tony Weevle, der in seinem Zimmer beständig das Portrait der gnädigen Frau vor Augen hat, gelungen, auf eine Spur zu kommen, die mich veranlaßt, Euer Gnaden zu warnen.

Zuvörderst erlaube mir nun die Allergnädigste zu fragen, ob sie nicht heute morgen einen etwas ungewöhnlichen Besuch gehabt hat. Ich meine nicht Besuch aus der vornehmen Welt, sondern zum Beispiel von der alten Dienerin Miß Barbarys, oder einer Person, deren untere Gliedmaßen gelähmt sind und die auf einem Stuhl die Treppe hinaufgetragen werden muß?«

»Nein.«

»Dann kann ich Euer Gnaden die Versicherung geben, daß solche Personen hier gewesen und empfangen worden sind. Ich habe sie an der Tür gesehen und an der Ecke des Platzes gewartet, bis sie wieder herauskamen. Ich habe einen Umweg von einer halben Stunde machen müssen, um ihnen nicht zu begegnen.«

»Was geht das mich an, oder was haben Sie damit zu tun? Ich verstehe Sie nicht. Was wollen Sie eigentlich?«

»Euer Gnaden, ich komme, um Sie zu warnen. Es ist vielleicht keine Veranlassung dazu. Nun gut; dann habe ich nur mein möglichstes getan, Miß Summerson gegenüber mein Versprechen zu halten. Ich hege starken Verdacht – nach dem, was Small hat fallen lassen und was wir aus ihm herausgekorkziehert haben –, daß die Briefe, die ich seinerzeit Euer Gnaden versprach, bei der bewußten Gelegenheit nicht mitverbrannt sind und ihr Inhalt, wenn er überhaupt etwas zu verraten hat, bereits verraten ist. Der Besuch, von dem ich gesprochen habe, war diesen Morgen hier, um Geld aus der Sache herauszuschlagen. Vielleicht ist es schon geschehen, oder es steht etwas dergleichen bevor.«

Mr. Guppy nimmt seinen Hut und steht auf.

»Euer Gnaden werden am besten wissen, ob das alles von Belang ist oder nicht. So oder so, jedenfalls habe ich Miß Summersons Wunsch, der Sache ihren freien Lauf zu lassen und das, was ich bereits darin getan, so gut wie möglich rückgängig zu machen, befolgt, und das genügt mir. Falls ich mir damit eine Freiheit herausgenommen haben sollte, Euer Gnaden überflüssigerweise gewarnt zu haben, so bitte ich, meine Anmaßung nicht übel auffassen zu wollen.

Ich verabschiede mich jetzt von Euer Gnaden mit der Versicherung, daß die Allergnädigste in keinem Fall wieder durch einen Besuch von mir belästigt werden wird.«

Mylady nimmt die Abschiedsworte kaum durch einen Blick zur Kenntnis; aber als Mr. Guppy eine kleine Weile fort ist, klingelt sie.

»Wo ist Sir Leicester?«

Der Merkur berichtet, daß er sich gegenwärtig in der Bibliothek eingeschlossen habe.

»Hat Sir Leicester diesen Morgen Besuch gehabt?«

»Verschiedene. Vermutlich geschäftliche.« Der Merkur will die Personen beschreiben…

Genug. Er kann gehen. So! Also alles verloren. Ihr Name geht von Mund zu Mund, ihr Gatte kennt ihre Schuld; ihre Schande wird publik werden – ist es vielleicht jetzt schon, während sie noch daran denkt; und außer diesem von ihr so lang vorausgesehenen und von ihrem Gatten so wenig geahnten Schlag klagt sie eine unsichtbare Hand der Ermordung Tulkinghorns – ihres Todfeindes – an.

Ja, er war ihr Feind, und wie oft, wie oft, wie oft hat sie sich gewünscht, er sei tot!

Ihr Feind ist er selbst jetzt noch in seinem Grabe.

Die schreckliche Anklage trifft sie wie eine neue Marter von seiner leblosen Hand. Und wie sie bedenkt, daß sie an jenem Abend in aller Stille an seiner Türe war, bedenkt, wie man den Umstand, daß sie kurz vorher ihre Lieblingszofe fortgeschickt hat, so auslegen könnte, als wollte sie sich jeder möglichen Beobachtung entziehen, schaudert sie. Sie glaubt, die Hand des Henkers bereits an ihrem Halse zu fühlen.

Dann hat sie sich auf den Boden geworfen und liegt da, das Haarwild zerrauft und das Gesicht in die Kissen des Sofas vergraben. Sie steht auf, rast in der Stube auf und ab und wiegt sich stöhnend hin und her und ächzt. Ein namenloses Entsetzen hat sich ihrer bemächtigt. Wenn sie wirklich die Mörderin wäre, könnte es kaum schrecklicher sein.

Was ist jetzt sein Tod anderes als die Beseitigung des Schlußsteins eines vom Einsturz bedrohten Gewölbes?! In tausend Trümmer fällt der Bogen, und jedes einzelne Stück zermalmt und zerschmettert sie.

Es bemächtigt sich ihrer das schreckliche Gefühl, daß es vor diesem Verfolger, lebendig oder ermordet, keine Rettung mehr gibt als den Tod. Unerbittlich und unnahbar steht der Tote vor ihr in der Gestalt, die sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben hat, unnahbarer noch im Sarg als im Leben.

Fort, nur fort! Scham, Angst, Reue und Jammer in schrecklichem Zusammenwirken werfen sie zu Boden, und selbst ihre starke Seele wird im Wirbel fortgerissen wie ein Blatt im Sturmwind. Hastig schreibt sie ein paar Zeilen an ihren Gatten, versiegelt sie und legt sie auf den Tisch.

»Wenn man mich sucht oder des Mordes anklagt, so seien Sie überzeugt, daß ich daran keine Schuld trage. In einer andern Sache, die man mir zur Last legt oder legen wird, verteidige ich mich nicht. An jenem verhängnisvollen Abend teilte er mir mit, daß er Ihnen meine Schuld enthüllen werde. Als er mich verlassen hatte, ging ich aus, unter dem Vorwand, im Garten spazieren gehen zu wollen, in Wirklichkeit, um ihn aufzusuchen und ihn anzuflehen, er möge der schrecklichen Ungewißheit, mit der er mich – Sie wissen nicht, wie lange schon – gefoltert hat, ein Ende machen und so barmherzig sein, am nächsten Morgen den Schlag zu führen. Ich fand seine Wohnung dunkel und still. Ich klingelte zwei Mal an seiner Tür, aber es antwortete niemand, und ich ging wieder nach Hause.

Ich habe kein Heim mehr. Ich werde Ihnen nicht mehr lästig fallen. Mögen Sie in Ihrem gerechten Zorn imstande sein, die Unwürdige zu vergessen, an die Sie Hochherzigkeit und Liebe verschwendet haben und die Sie mit einem Schamgefühl meidet, noch tiefer als das, mit dem sie vor sich selbst fliehen möchte, und Ihnen jetzt dieses letzte Lebewohl schreibt.«

Sie kleidet sich rasch an, verschleiert sich, läßt alle ihre Juwelen und ihr Geld zurück, horcht und geht in dem Augenblick, wo die Vorhalle gerade leer ist, die Treppe hinunter und eilt hinaus in den pfeifenden kalten Wind.

46. Kapitel


46. Kapitel

Aufhalten! Aufhalten!

Finsternis ruht auf »Toms Einöd«. Immer mehr und mehr hat sie sich ausgebreitet, seit abends die Sonne unterging, und ist allmählich so angeschwollen, daß sie alles ausfüllt. Eine Zeitlang brannten noch einige halbverhungerte Lichter, wie die Lebenslampe in »Toms Einöd« brennt, schwer atmend in der ekelhaften Luft. Jetzt sind sie erloschen. Der Mond hat »Toms Einöd« trüb und kalt angestarrt, als sei dieser Ort ein jämmerliches Abbild seiner Wüsteneien, in deren ausgebrannten Kratern nichts leben kann und alles von vulkanischen Feuern zerstört ist. Dann ist er weiter durch die Wolken gezogen. Ein höllischer Alpdruck aus den schwärzesten Regionen liegt auf dem schlafenden »Toms Einöd«. Ein gewaltiges Gerede ist über »Tom« in- und außerhalb des Parlaments gewesen, und zornig wurde darüber gestritten, wie »Tom« geholfen werden könne. Ob ihn Konstabler oder Büttel, Glockenläuten oder ästhetische Grundsätze, die Hochkirche oder die gewöhnliche auf den rechten Weg bringen solle; ob er die polemischen Strohhalme mit dem schartigen Messer seines Geistes spalten oder lieber Steine klopfen solle. Unter all dem aufgewirbelten Staub und dem Lärm ist nur das eine klar: daß »Tom« nur theoretisch, aber nicht praktisch gebessert werden kann, soll und wird. Und in der hoffnungsreichen Zwischenzeit geht »Tom« mit seiner alten entschloßnen Weise, den Kopf voran, zum Teufel. Aber er hat seine Rache. Selbst der Wind ist sein Bote und dient ihm in diesen Stunden der Finsternis.

Da ist kein Tropfen von »Toms« verderbtem Blut, der nicht irgendwohin Ansteckung und Seuche verpflanzte. Noch heute nacht wird er das erlauchte Blut eines normannischen Hauses vergiften, und Seiner Erlaucht, dem Familienoberhaupt, wird es nicht gestattet sein, zu dieser verunehrenden Blutsverbindung nein zu sagen. Nicht ein Atom geht verloren von »Toms« Schmutz, kein Kubikzoll der verpesteten Luft, das er atmen muß, keine Untätigkeit oder Verkommenheit um ihn herum, nichts von der Bosheit, Unwissenheit und Roheit seines Tuns geht verloren, ohne durch alle Gesellschaftsklassen hindurch bis zu den Stolzesten der Stolzen und dem Höchsten der Hohen hinauf Vergeltung zu üben. Wenn man Ansteckung, Raub und Verderbnis zusammen rechnet, wahrhaftig, dann hat »Tom« seine Rache.

Ein strittiger Punkt ist, ob »Toms Einöd« scheußlicher aussieht bei Tag oder bei Nacht. Da es Tatsache ist, daß es um so häßlicher wird, je mehr man davon sieht, und die Phantasie in diesem Fall von der Wirklichkeit noch weit übertroffen wird, so trägt der Tag den Sieg davon.

Er bricht jetzt langsam an, und wenn auch im britischen Reich die Sonne nie untergeht, so wäre es für den Nationalruhm vielleicht besser, wenn sie über einem so scheußlichen Weltwunder wie »Toms Einöd« auch nie aufginge.

Ein sonnenverbrannter feiner Herr, der, außerstande zu schlafen, lieber herumwandern zu wollen scheint, als die Stunden auf schlummerlosem Pfühl zu zählen, hat sich bis hierher verirrt. Von Neugierde getrieben, bleibt er oft stehen und blickt die elenden Seitengassen hinauf und hinunter. Er ist aber auch nicht bloß neugierig, denn in seinem lebhaften dunklen Auge glänzt es wie Mitleid, und wie er umherschaut, scheint er ein gewisses Verständnis für solches Elend zu haben und es vielleicht von früher her zu kennen.

Am Rande des stagnierenden Schmutzkanals, der die Hauptstraße von »Toms Einöd« bildet, ist nichts zu sehen als baufällige Häuser, verschlossen und stumm. Kein wachendes Geschöpf zeigt sich, nur die einsame Gestalt einer Frau sitzt auf einer Türstufe. Dorthin lenkt Mr. Allan Woodcourt seine Schritte, und wie er näher kommt, bemerkt er, daß sie einen langen Weg gereist sein muß und wunde und bestaubte Füße hat. Sie sitzt auf der Türstufe wie jemand, der wartet, den Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in der Hand ruhend. Neben ihr liegt ein leinenes Bündel, das sie getragen hat. Sie scheint im Halbschlummer dazusitzen, denn sie achtet nicht auf das Geräusch seiner näher kommenden Schritte. Der holprige Fußsteig ist so schmal, daß Allan Woodcourt, als er die Frau erreicht, auf den Fahrweg treten muß, um an ihr vorbei zu kommen. Wie er ihr ins Gesicht blickt, begegnet sein Auge dem ihren, und er bleibt stehen.

»Was machen Sie hier?«

»Nichts, Sir.«

»Wollen Sie vielleicht hinein? Hört man Sie nicht drin?«

»Ich warte nur, bis sie in der Nähe aufsperren – das Logierhaus«, gibt die Frau geduldig zur Antwort. »Und auf die Sonne, um mich zu wärmen.«

»Sie sind wohl müde? Es tut mir leid, Sie so auf der Straße sitzen zu sehen.«

»Ich danke Ihnen, Sir. Es macht weiter nichts.«

– Er ist gewohnt, mit armen Leuten zu sprechen, und vermeidet geflissentlich alles Gönnerhafte oder Herablassende und ist dadurch mit der Frau sofort gut freund. –

»Lassen Sie mich Ihre Stirne ansehen«, sagt er und beugt sich nieder. »Ich bin Arzt. Haben Sie keine Angst. Ich werde Ihnen nicht weh tun.«

– Er weiß, daß er durch die Berührung seiner geschickten und geübten Hand ihre Schmerzen nur lindern kann. – Sie wehrt sich ein wenig und sagt: »Es ist nichts.« Aber er hat kaum mit seinen Fingern den wunden Fleck berührt, da dreht sie ihre Stirn dem Licht zu, damit er besser sehen könne.

»Hm! Eine arge Wunde; die Haut ist sehr zerrissen. Es muß sehr weh tun.«

»Es tut ein bißchen weh, Sir«, gibt die Frau zu, während eine Träne über ihre Wange rollt.

»Ich werde versuchen, sie Ihnen weniger schmerzhaft zu machen. Mein Taschentuch wird Ihnen nicht weiter weh tun.«

»Oh, gewiß nicht, Sir.«

Er reinigt die Wunde und trocknet sie, und nachdem er sie sorgfältig untersucht und mit der Handfläche leise gedrückt hat, nimmt er ein Etui aus der Tasche und verbindet sie. Während er so beschäftigt ist, sagt er, bei diesem Versuch, auf der Straße ein Lazarett zu errichten, lächelnd:

»Ihr Mann ist Ziegelstreicher?«

»Wieso wissen Sie das, Sir?« fragt die Frau verwundert.

»Nun, ich schließe es aus der Farbe der Flecken auf Ihrem Bündel und an Ihrem Kleid. Und ich weiß, daß Ziegelstreicher, die auf Stück arbeiten, oft von Ort zu Ort ziehen. Es ist sehr bedauerlich, daß sie oft ihre Weiber mißhandeln.«

Die Frau blickt hastig auf, als wolle sie leugnen, daß ihre Verletzung von einem Schlag herrührt. Aber da sie die Hand des Arztes auf ihrer Stirn fühlt und sein ruhiges Gesicht sieht, läßt sie den Blick stumm wieder sinken.

»Wo ist er jetzt?«

»Er hat gestern abend Ärger mit der Polizei gehabt, Sir, und will mich im Logierhaus aufsuchen.«

»Er wird noch in schlimmere Ungelegenheiten kommen, wenn er seine schwere Hand nicht besser im Zaum hält. Aber da Sie ihm verzeihen, wie ich sehe, so brutal er auch ist, rede ich nichts weiter davon. Ich wünschte nur, er wäre dessen würdig. – Sie haben kein Kind?«

Die Frau schüttelt den Kopf. »Eins, das ich zwar mein nenne, Sir, aber es gehört Liz.«

»Ihres ist tot? Ich verstehe schon. Das arme Kleine!«

– Er ist jetzt fertig und packt sein Etui wieder zusammen. »Ich vermute, Sie haben eine ständige Bleibe. Ist sie weit von hier?« – Er winkt ihr gutmütig ab, als sie aufsteht und ihm danken will.

»Es sind gute zwei- oder dreiundzwanzig Meilen von hier, Sir. St. Albans… Sie kennen St. Albans, Sir?« – Mr. Allan Woodcourt war zusammengezuckt. –

»Ja, ich kenne es ein wenig. Und jetzt will ich Ihnen eine Frage stellen. Haben Sie Geld für Ihre Unterkunft?«

»Ja, Sir. Wirklich und wahrhaftig.« Und sie zeigt es ihm.

»Schon gut, schon gut«, sagt er, als sie wieder halblaut ihren Dank beteuert, wünscht ihr guten Tag und geht.

»Toms Einöd« schläft immer noch, und nichts regt sich.

Doch! Etwas regt sich. Als der Arzt wieder nach der Stelle zurückgeht, von wo aus er die Frau auf der Türstufe hat sitzen sehen, bemerkt er eine zerlumpte Gestalt, die sich vorsichtig dicht an den feuchten Wänden hinschleicht. Dem Äußern nach ist es ein junger Mensch von abgezehrtem Aussehen und mit fieberhaft glühenden Augen. Er ist so darauf bedacht, unbemerkt zu bleiben, daß sogar die Erscheinung eines Fremden in guten Kleidern ihn nicht in Versuchung bringt, sich umzusehen. Wie er zu einem Straßenübergang kommt, verbirgt er das Gesicht hinter seinem zerlumpten Ellbogen und schleicht zusammengekauert, fast kriechend, weiter, die Hand suchend vor sich ausgestreckt. In Lumpen hängen die zerfetzten Kleider um ihn herum, und es ist unmöglich, zu sagen, aus welchem Stoff sie jemals gemacht wurden. Der Farbe und Beschaffenheit nach sehen sie wie ein Bündel im Morast gewachsner Blätter aus, die längst verfault sind.

Allan Woodcourt bleibt stehen und blickt dem Knaben nach, mit dem dunklen Gefühl, ihn schon einmal irgendwo gesehen haben zu müssen. Er kann sich nur nicht erinnern, wann oder wo. Er denkt zuletzt, er werde ihn wohl in einem Hospital oder in einem Asyl getroffen haben, aber er kann nicht herausbekommen, warum er sich so besonders in seiner Erinnerung abhebt.

Er kommt allmählich aus den Grenzen von »Toms Einöd« heraus in den lichten Morgen und denkt noch darüber nach, als er laufende Schritte hinter sich hört und, wie er sich umsieht, den Knaben in großer Eile, verfolgt von der Frau, auf sich zurennen sieht.

»Aufhalten, aufhalten!« ruft die Frau atemlos. »Halten Sie ihn auf, Sir!«

Er springt in die Mitte der Straße, um dem Jungen den Weg abzuschneiden. Aber dieser ist rascher als er, schlägt einen Haken, duckt sich, entschlüpft seinen Händen, kommt ein halbes Dutzend Schritte weiter wieder zum Vorschein und setzt seine Flucht fort.

Immer noch verfolgt ihn die Frau mit dem Ruf: »Aufhalten! Halten Sie ihn auf, Sir!«

Allan, in der Meinung, daß der Junge ihr vielleicht ihr Geld gestohlen habe, macht auf ihn Jagd und läuft so rasch, daß er ihn wohl ein Dutzend Mal überholt, aber jedes Mal schlägt dieser wieder einen Haken, duckt sich und entwischt. Ihm bei einer solchen Gelegenheit einen Schlag zu versetzen, würde der Jagd sogleich ein Ende machen, aber dazu kann sich Mr. Woodcourt nicht entschließen, und so dauert die phantastische lächerliche Verfolgung fort. Endlich verläuft sich der Flüchtling in seiner Bedrängnis in eine schmale Sackgasse. Hier, an einer morschen Planke, kann er nicht mehr entkommen und kauert sich zusammen, seinen Verfolger ankeuchend, der ebenfalls außer Atem vor ihm steht und wartet, bis die Frau herankommt.

»Du, Jo«, ruft die Frau. »Was? Habe ich dich endlich gefunden!«

»Jo?« wiederholt Allan und betrachtet den Jungen aufmerksam. »Jo! Wart einmal. Ja richtig! Ich erinnere mich, dich vor einiger Zeit bei einer Leichenschau gesehen zu haben.«

»Ja, i hab Ihna schon amal bei der Totenschau gsehn«, wimmert Jo. »Was is da weiter? Können S net an Unglücklichen wie mich in Ruh lassn? Bin i net auch so schon unglücklich genug. Wie unglücklich soll i denn noch werdn. I bin hin- und hergestoßn worn, erst von dem einen, dann von dem andern, bis i nur noch Haut und Knochen bin. An der Totenschau war i net schuld. I hab nie nix tan. Er war immer sehr gut gegen mich. Er war der einzige, was mit mir gsprochn hat, wenn er über die Straßen gangen is. Warum hätt i ihm denn a Totenschau wünschn sollen? I wollte, i war selbst schon so weit. I weiß überhaupt net, warum i net hergeh und a Loch ins Wasser mach. Wirkli net…«

Er bringt das mit so einer erbärmlichen Miene vor, seine schmutzigen Tränen scheinen so echt zu sein, und er liegt in dem Winkel der Verplankung, einem Schwamm oder einem andern aus Unreinlichkeit oder dergleichen entstandnen krankhaften Gewächs so ähnlich, daß Allan Woodcourt milder gegen ihn gestimmt wird.

»Was hat denn dieses jämmerliche Geschöpf getan?« fragt er die Frau.

»O du, Jo, habe ich dich endlich gefunden!« Sie schüttelt mehr in Verwunderung als in Zorn den Kopf, wie sie auf die auf dem Boden kauernde Gestalt heruntersieht.

»Was hat er denn getan?« wiederholt Allan. »Hat er Sie beraubt?«

»Nein, Sir, nein. Mich beraubt? Er ist immer gut zu mir gewesen, und das ist eben das Wunder.«

– Allan sieht Jo und die Frau fragend an und wartet, daß eines der beiden ihm das Rätsel lösen werde. –

»Er hat sich einmal zu mir geflüchtet«, sagt die Frau. »O du, Jo… Und er lag krank bei mir, Sir, unten in St. Albans, und eine junge Dame – Gott segne ihr gutes Herz! – hat sich seiner erbarmt und ihn mit nach Hause genommen…«

Allan fährt mit plötzlichem Grausen einen Schritt zurück.

»Ja, Sir, ja! Hat ihn nach Hause genommen und gepflegt, und das undankbare Scheusal ist in der Nacht fortgelaufen und hat nichts mehr von sich sehen oder hören lassen, bis heute. Die junge Dame war so hübsch und hat sich von ihm angesteckt! Sie hat ihr schönes Gesicht verloren, und man würde sie gar nicht mehr wiedererkennen, wenn nicht ihr gutes Herz, ihre hübsche Gestalt und ihre liebe Stimme wären. Weißt du das, du undankbares Geschöpf?! Weißt du, daß alles wegen dir und ihrem Erbarmen zu dir so gekommen ist! ?« fragt die Frau voll Zorn bei der Erinnerung und bricht in leidenschaftliche Tränen aus.

Der Junge, in seiner verwilderten Art und ganz bestürzt von dem, was er hört, fängt an, sich die Stirn mit seiner schmutzigen Hand zu beschmieren, die Erde anzustarren und von Kopf bis Fuß zu zittern, bis die gebrechliche Planke, an die er sich lehnt, klappert. Allan winkt heimlich der Frau, sich zu beruhigen.

»Richard hat mir das schon erzählt«, sagt er stockend. »Ich meine, ich habe davon gehört… Achten Sie einen Augenblick nicht auf mich. Ich werde gleich mit Ihnen sprechen.«

– Er wendet sich weg und blickt eine Weile aus der Sackgasse heraus. Als er zurückkommt, ist er wieder vollkommen gefaßt, nur kämpft er sichtlich gegen eine gewisse Scheu vor dem Knaben an, die so merkwürdig ist, daß sie der Frau auffällt. –

»Du hörst, was sie sagt. Steh doch endlich auf!«

Bebend und zähneklappernd steht Jo langsam auf und steht, wie Menschen seiner Art, wenn sie in einer Klemme sind, mit der Schulter an die Planke gedrückt und reibt sich mit dem linken Fuß den rechten.

»Du hörst, was sie sagt, und ich weiß, daß es wahr ist. Bist du seitdem hier gewesen?«

»I will augenblicklich tot umfalln, wenn i vor heut morgen ‚Toms Einöd‘ wiedergsehn hab«, beteuert Jo mit heiserer Stimme.

»Weshalb bist du jetzt hergekommen?«

Jo schaut sich in der Sackgasse um, sieht dann den Fragenden an, aber nicht höher als bis zum Knie, und antwortet endlich:

»I weiß net, was anfangen, und krieg nix zu tun. I bin sehr arm und krank und hab mi zurückschleichen wolln, wann noch neamd auf is. I hab mi verstecken wollen, bis s dunkel wird, und dann zu Mr. Sangsby gehen und mir was von ihm ausbetteln. Er hat mir immer gern was gebn, wenn auch Mrs. Sangsby immer hinter mir drein gewesen is, wie alle Leut überall.«

»Wo kommst du her?«

Jo sieht sich wieder in der Sackgasse um, blickt wieder das Knie des Fragenden an und lehnt schließlich resigniert den Kopf seitwärts an die Planke.

»Hast du nicht gehört? Wo du jetzt herkommst?«

»Rumgstrichn bin i.«

»Sag mir jetzt«, fährt Allan fort, zwingt sich, seine Scheu zu überwinden, tritt nahe an Jo heran und bückt sich freundlich über ihn. »Sag mir jetzt, warum bist du eigentlich aus dem Hause entflohen, als die gutherzige junge Dame das Unglück hatte, dich aus Mitleid mitzunehmen?«

Jo erwacht plötzlich aus seiner Resignation und erklärt in großer Aufregung der Frau, daß er nie von der jungen Dame vorher gewußt oder gehört habe, ihr nie ein Leid habe tun wollen und sich lieber den Kopf abhacken lassen möchte, als ihr Böses zuzufügen. Sie sei sehr gut gegen ihn gewesen, sehr gut. Und er benimmt sich dabei in seiner verwilderten Art, daß man sehen kann, wie ernst es ihm ist, und schließt dann mit einem kläglichen Schluchzen.

Allan Woodcourt sieht, daß das keine Verstellung ist. Er überwindet sich und faßt den Jungen an. »Komm, Jo, sag es mir!«

»Na. I darf net«, sagt Jo und drückt sich wieder an die Planke. »I darf net, sonst möcht i s schon sagen.«

»Aber ich muß es doch wissen. Trotzdem! Komm, Jo, sag es nur.«

Nach wiederholtem Drängen hebt Jo wieder den Kopf, schaut sich wieder in der Sackgasse um und sagt halblaut: »No, i will Ihnen was sagen. Er hat mi fortgeholt. Das is s.«

»Fortgeholt? In der Nacht?«

»Mhm!« – Voll Angst, es könne ihn jemand belauschen, schaut Jo besorgt umher, und auf den Rand der Planke hinauf, und späht durch die Spalten, ob nicht jemand dahinter versteckt sei.

»Wer hat dich denn weggeholt?«

»I darf n net nennen. Ich darf net, Sir.«

»Aber ich muß es wegen der jungen Dame wissen. Du kannst mir ruhig vertrauen. Es wird es niemand erfahren.«

»Aber i weiß net, ob er’s net am End doch hört«, antwortet Jo und schüttelt in banger Besorgnis den Kopf.

»Aber er ist doch gar nicht hier!«

»Ja, wenn man das wüßt«, sagt Jo. »Er ist immer überall zur gleichen Zeit.«

Allan sieht ihn betroffen an, erkennt aber, daß dieser verwirrten Antwort etwas Wahres zugrunde liegen müsse. Er wartet ruhig auf eine deutlichere Auskunft, und Jo, auf den seine Geduld zwingender wirkt als alles andre, flüstert ihm schließlich verzweifelt einen Namen ins Ohr.

»So!?« sagt Allan. »Was hast du denn angestellt?«

»Nix, Sir. Hab nie nix Unrechts net angstellt, außer die Totenschau, und daß i mi net druckt hab. Aber jetzt muß i fort. I will auf n Friedhof.. . Dort ghör i hin.«

»Nein, nein. Wir wollen versuchen, das zu verhindern. Aber was hat er denn mit dir gemacht?«

»Hat mi ins Siechenhaus gsteckt, bis i wieder gsund worn bin«, erklärt Jo flüsternd. »Nacher hat er mir Geld geben, vier halbe Stutz, und nacher hat er gsagt, bist hier nix nutz, hat er gsagt. Da nimm und schau, daß d weiter kommst. Daß i di net wieder innerhalb vierzg Meilen von London siech, sonst sollst mir’s büßen. Und i wers büßen müssen, wann er mi sieht, und er wird mi sehgn, solang i über der Erd bin«, schließt Jo und wirft wieder forschende Blicke voller Unruhe in der Sackgasse auf und ab.

Allan denkt ein wenig nach, dann bemerkt er, zur Frau gewendet, und sieht dabei immer noch Jo freundlich und ermutigend an:

»Sehen Sie, er ist nicht so undankbar, wie Sie angenommen haben. Er hatte einen Grund zum Fortgehen, wenn auch keinen genügenden.«

»I dank Ihna recht schön!« ruft Jo. »Da sehgn S es wieder, wie hart S gegen mi gewesn sin. Aber sagen S nur der jungen Dame, was der Herr sagt, und s is schon in Ordnung. Denn Sie sin immer gut gegen mi gwesn, i weiß doch.«

»Komm jetzt mit, Jo«, sagt Allan und läßt den Jungen nicht aus den Augen. »Ich will einen bessern Platz für dich finden, wo du dich ausruhen und verstecken kannst. Wenn ich auf der einen Seite der Straße gehe und du auf der andern, damit es nicht auffällt, wirst du nicht fortlaufen, wenn du es versprichst, das weiß ich recht gut?!«

»Na, gwiß net, außer wann i ihn kommen seh, Sir.«

»Also gut. Ich verlasse mich auf dein Wort. Die halbe Stadt steht jetzt erst auf, und eine Stunde drauf wird erst die ganze auf den Beinen sein. Komm mit. Nochmals guten Tag, gute Frau!«

»Guten Tag, Sir, und ich dank Ihnen auch noch vielmals.«

Die Frau hatte sich während der Gespräche auf ihr Bündel gesetzt und aufmerksam zugehört. Jetzt steht sie auf und nimmt es wieder unter den Arm. Jo wiederholt noch ein Mal: »Sagn S es nur der jungen Dame, daß ich ihr nie ka Leid net hab antun wolln, und was der Herr vorhin gsagt hat.« Er zittert, wetzt sich an der Planke, halb lachend, halb weinend, nickt ihr ein Lebewohl zu, setzt dann schleichend an der Wand seinen Weg hinter Allan Woodcourt fort und geht, seinem Auftrag gemäß, dicht an den Häusern auf der andern Seite der Straße hin. So treten sie beide aus »Toms Einöd« hinaus in die vollen Strahlen des Sonnenscheins und in reinere Luft.

47. Kapitel


47. Kapitel

Jos letzter Wille

Während Allan Woodcourt und Jo durch die Straßen gehen, wo die hohen Kirchtürme im Morgenlicht so rein und frisch aussehen, als ob auch die Stadt sich durch den Schlaf erquickt hätte, überlegt Allan, wo und auf welche Art er seinen Begleiter unterbringen könnte. Es ist doch seltsam, denkt er sich, daß mitten im Herzen einer zivilisierten Welt dieses Geschöpf von menschlicher Gestalt schwerer unterzubringen ist als ein herrenloser Hund. Aber trotz seiner Seltsamkeit bleibt es eine Tatsache, und die Schwierigkeit wird dadurch nicht behoben. Anfangs blickt er oft zurück, um zu sehen, ob Jo ihm wirklich noch folge. Aber beständig sieht er ihn dicht an den Häusern gegenüber sich seinen Weg von einer Tür zur andern tasten und dabei gelegentlich aufmerksam zu ihm herüberblicken. Bald überzeugt, daß Jo durchaus nicht daran denkt, davonzulaufen, geht Allan weiter und überlegt mit weniger geteilter Aufmerksamkeit, was er tun solle.

Ein Frühstücksstand an einer Straßenecke erinnert ihn an das, was vor allem nötig ist. Er bleibt dort stehen, blickt zurück und winkt. Jo kommt hinkend und schlotternd über die Straße und reibt die Knöchel seiner rechten Hand in der hohlen Fläche der linken, Schmutz in einem natürlichen Mörser knetend. Ein für Jo leckeres Mahl wird ihm jetzt vorgesetzt, und er fängt an, Kaffee hinunterzuschlingen und Butterbrot zu kauen, und während er ißt und trinkt, sieht er sich wie ein gehetztes Tier ängstlich nach allen Richtungen um. Aber er ist so krank und herabgekommen, daß ihn selbst der Hunger verlassen hat.

»Zerst hab i glaubt, i verhunger fast, Sir«, sagt er und legt das Essen wieder hin. »Aber i kenn mi gar nimmer aus, net amal dadrin mehr. Mir is jetzt ganz gleich, ob i was eß oder was trink.« Dann steht er fieberzitternd auf und sieht das Frühstück verwundert an. Allan Woodcourt befühlt ihm den Puls und die Brust. »Hol einmal Atem, Jo.«

»Er geht so schwer wie a Lastwagn«, sagt Jo. Er könnte sagen, »und rasselt auch so«, aber er murmelt nur vor sich hin: »Jetzt mach i wirkli ‚Marsch vorwärts‘, Sir.«

Allan sieht sich nach einer Apotheke um. Es ist keine in der Nähe, aber eine Schenke ist gerade so gut oder noch besser. Er holt ein wenig Wein und gibt dem Knaben mit großer Vorsicht einen kleinen Schluck davon. Fast schon beim ersten Tropfen fängt Jo an, wieder aufzuleben.

»Wir können die Dosis wiederholen«, bemerkt Allan, nachdem er Jo mit aufmerksamem Gesicht beobachtet hat. »Jo! Jetzt wollen wir fünf Minuten Rast machen und dann weitergehen.«

Er läßt den Jungen auf der Bank des Frühstücksstandes, mit dem Rücken gegen ein eisernes Gitter gelehnt, sitzen und geht in der Morgensonne auf und ab, wobei er von Zeit zu Zeit einen Blick auf ihn wirft, ohne sich anmerken zu lassen, daß er ihn beobachtet. Es bedarf keines Scharfblickes, um zu bemerken, daß es Jo wärmer geworden ist und er sich erquickt fühlt. Wenn sich ein so umdüstertes Gesicht überhaupt aufhellen kann, so ist das jetzt der Fall, und in kleinen Bissen verzehrt Jo den Schnitt Brot, den er vorhin verzweifelt aus der Hand gelegt hat. Als Allan diese Zeichen von Erholung bemerkt, knüpft er ein Gespräch mit dem Knaben an und lockt zu seiner nicht geringen Verwunderung das Abenteuer mit der verschleierten Dame und allen seinen Folgen aus ihm heraus. Jo kaut langsam, wie er es ihm nach und nach erzählt.

Wie er dann mit seiner Geschichte und seinem Brot fertig ist, setzen sie ihren Weg fort.

In der Absicht, sich bei seiner ehemaligen Patientin, der dienstwilligen Miß Flite, Rat zu holen, wo er in seiner Verlegenheit für den Knaben vorläufig einen Zufluchtsort finden will, geht Allan nach dem Hof, wo er und Jo das erste Mal miteinander in Berührung gekommen waren.

In dem Hadern- und Flaschenladen ist jetzt alles anders geworden, und Miß Flite wohnt nicht mehr dort. Er ist geschlossen, und ein Frauenzimmer mit harten, staub geschwärzten Zügen, dessen Alter niemand erraten kann – es ist niemand anders als die interessante Judy –, gibt spitze und kurze Antworten. Aus ihnen entnimmt der junge Arzt, daß Miß Flite mit ihren Vögeln gegenwärtig bei Mrs. Blinder in Beil-Yard wohnt, und begibt sich nach diesem benachbarten Platz, und Miß Flite, die immer früh aufsteht, um pünktlich in dem von ihrem Freund, dem Lordkanzler, abzuhaltenden Gerechtigkeitsschauspiel zu erscheinen, kommt ihm mit Tränen des Willkommens und offnen Armen die Treppe herunter entgegengelaufen.

»Mein lieber Doktor!« ruft sie, »mein verdienstvoller ausgezeichneter höchst ehrenwerter Offizier.« Sie gebraucht einige sonderbare Ausdrücke, aber sie ist so warm und herzlich, wie man es nur von einem Menschen mit gesundem Verstand verlangen könnte –, ist es mehr, als man es oft bei einem solchen findet.

Allan, gewohnt, viel Geduld mit ihr zu haben, wartet, bis ihr die Worte ausgegangen sind, dann zeigt er auf Jo, der zitternd im Torweg steht, und erzählt ihr, wie und wo er ihn gefunden habe.

»Wo kann ich ihn hier in der Nähe unterbringen? Sie wissen so viel und sind so verständig und können mir vielleicht einen Rat geben.«

Miß Flite ist auf dieses Kompliment gewaltig stolz und fängt an, zu überlegen. Aber es dauert lange, ehe ihr etwas einfällt. »Mrs. Blinder hat alles vermietet und wohnt jetzt selbst im Zimmer des armen Gridley. – Gridley!!« ruft sie plötzlich und klatscht in die Hände, nachdem sie den Namen ungefähr zwanzig Mal wiederholt hat. »Gridley! Aber natürlich! Mein bester Doktor, General George wird uns helfen.«

Es wäre ein vergebliches Bemühen, Näheres von General George zu erfahren, auch wenn Miß Flite nicht bereits die Treppen hinaufgelaufen wäre, den zerdrückten Hut aufzusetzen, ihren armseligen kleinen Schal umzunehmen und sich mit ihrem Strickbeutel voll Dokumenten zu bewaffnen. Wie sie dann in vollem Staat herunterkommt, in ihrer zerstreuten Weise erzählt, General George, den sie oft besuche, kenne ihre liebe Fitz Jarndyce und interessiere sich für alles, was sie beträfe, außerordentlich, glaubt Allan, sie könne doch vielleicht das Richtige gefunden haben. Er sagt daher Jo, um ihm wieder Mut zu machen, das Herumlaufen werde jetzt bald vorbei sein, und sie begeben sich zu dem General. Glücklicherweise ist es nicht weit.

Beim Anblick von Georges Schießgalerie, dem langen Gang und der kahlen Perspektive dahinter faßt Allan Hoffnung. Auch Mr. George, der, gerade mit seiner Morgenpromenade beschäftigt, ohne Halsbinde und mit den vom Fechten und Hantelstemmen gestählten Armen, deren gewaltiges Muskelspiel man durch die Hemdärmel hindurch bemerkt, die Pfeife im Mund, auf ihn zuschreitet, flößt ihm Vertrauen ein.

»Ihr Diener, Sir«, grüßt Mr. George militärisch.

Mit einem freundlichen Lächeln, das bis in das krause Haar hinaufspielt, wendet er sich dann zu Miß Flite, die sehr zeremoniell und wortreich Mr. Woodcourt vorstellt. Er grüßt nochmals militärisch mit einem abermaligen »Ihr Diener, Sir«.

»Entschuldigen Sie, Sir, Sie sind Seemann?«

»Es freut mich, daß Sie finden, ich sähe wie ein solcher aus, aber ich bin nur Schiffsarzt«, entgegnet Allan.

»Wirklich, Sir! Ich hätte Sie für eine regelrechte Blaujacke gehalten.«

Mr. Woodcourt gibt der Hoffnung Ausdruck, Mr. George werde ihm die verursachte Störung deshalb um so bereitwilliger verzeihen und vor allem seine Pfeife nicht weglegen, wozu dieser in seiner Höflichkeit Anstalten gemacht hat.

»Sie sind sehr gütig, Sir«, bedankt sich der Kavallerist. »Da ich aus Erfahrung weiß, daß es Miß Flite nicht stört, und Sie auch nichts dagegen haben…« er schließt den Satz, indem er seine Pfeife wieder zwischen die Zähne steckt. Allan erzählt ihm sodann alles, was er von Jo weiß, und Mr. George hört ernsthaft zu.

»Und das ist der Junge, Sir?« fragt er und wirft einen Blick auf den Eingang, wo Jo die großen Buchstaben an der weißen Wand, die für ihn so gar keine Bedeutung haben, unverwandt anstarrt.

»Das ist er. Und, Mr. George, ich befinde mich nun in folgender Verlegenheit seinetwegen. Ich möchte ihn nicht gern in ein Spital schaffen lassen, selbst wenn ich ihn dort sofort unterbringen könnte, weil ich voraussehe, er würde dort nur wenige Stunden bleiben, wenn er überhaupt hinginge. Ebenso verhält es sich mit dem Armenhaus. Selbst wenn ich die Geduld hätte, mich an der Nase herumführen und von Pontius zu Pilatus schicken zu lassen. Ich kann dem System keinen Geschmack abgewinnen.«

»Das kann niemand, Sir«, nickt Mr. George.

»Ich bin überzeugt, er würde an keinem der beiden Orte bleiben, weil er sich vor dem Mann, der ihm befohlen hat, sich nirgends mehr blicken zu lassen, ganz außerordentlich fürchtet. In seiner Unwissenheit glaubt er nämlich, dieser Mensch sei überall und wisse alles.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagt Mr. George, »aber Sie haben den Namen des Mannes nicht genannt. Ist es ein Geheimnis, Sir?«

»Der Junge wenigstens hält es dafür. Der Mann heißt Bucket.«

»Bucket von der Geheimpolizei, Sir?«

»Ja, derselbe.«

»Ich kenne ihn, Sir!« Der Kavallerist bläst eine mächtige Rauchwolke von sich und dehnt seine Brust gewaltig aus. »Der Junge hat insofern recht, als Bucket zweifellos ein – eigentümlicher Kunde ist.«

Mr. George raucht mit einer bedeutungsvollen Miene weiter und sieht Miß Flite schweigend an.

»Nun wünsche ich, daß Mr. Jarndyce und Miß Summerson wenigstens erfahren, daß Jo, der übrigens eine seltsame Geschichte zu erzählen weiß, wieder aufgefunden ist und daß sie mit ihm sprechen können, wenn sie es für gut befinden sollten. Ich möchte ihn deshalb vorderhand in einer ganz bescheidnen Wohnung bei anständigen Leuten unterbringen. Anständige Leute und Jo, Mr. George«, sagt Allan und folgt den Augen des Kavalleristen, die jetzt wieder nach dem Eingang blicken, »haben bisher nicht viel miteinander zu tun gehabt, wie Sie sehen. Darin liegt die Schwierigkeit. Kennen Sie vielleicht zufällig jemand in der Nähe, der ihn gegen Vorausbezahlung eine kurze Zeit bei sich aufnehmen würde?«

Noch während er die Frage stellt, bemerkt er einen kleinen Mann mit einem pulvergeschwärzten Gesicht, der jetzt plötzlich neben dem Kavalleristen steht und zu diesem mit einer seltsam verzwickten Miene aufsieht. Der Kavallerist pafft noch ein paar Züge, blickt dann auf den kleinen Mann herunter und sagt dann: »Ich versichere Ihnen, Sir, ich ließe mir jeder Zeit bereitwillig eins zwischen die Augenbrauen geben, wenn ich damit Miß Summerson einen Dienst leisten könnte. Ich rechne es mir als Ehre an, dieser Dame auch nur den kleinsten Dienst erweisen zu können. Wir behelfen uns hier natürlich ziemlich vagabundenhaft, ich und Phil. Sie sehen ja selbst, was es für ein Lokal ist. Ein stiller Winkel für den Jungen steht Ihnen aber hier zu Diensten, wenn es Ihnen paßt. Zu bezahlen ist nichts. Außer für die Ration. Wir sind hier nicht gerade in blühenden Verhältnissen und können unter Umständen, ohne eine Minute Kündigung, jeden Augenblick mit Sack und Pack hinausgeworfen werden. Aber solange es noch unser ist, steht Ihnen das Lokal so, wie es ist, zu Diensten.« Mit einem umfassenden Schwung seiner Pfeife stellt Mr. George Allan das ganze Gebäude zur Verfügung.

»Da Sie Arzt sind, Sir«, setzt er hinzu, »nehme ich an, daß diesmal vorderhand bei dem armen Jungen nichts von Ansteckung zu befürchten ist?«

Allan beruhigt ihn in dieser Hinsicht.

»Wir haben nämlich schon genug davon gehabt, Sir«, sagt George mit betrübtem Kopfschütteln.

Mr. Woodcourt nickt bekümmert. »Dennoch darf ich Ihnen nicht verhehlen«, bemerkt er, nachdem er seine Versicherung hinsichtlich der Ansteckungsgefahr wiederholt hat, »daß der Knabe sehr angegriffen und schwach ist, vielleicht – ich sage nur vielleicht – überhaupt schon zu schwach ist, um sich jemals wieder zu erholen.«

»Glauben Sie, daß er augenblicklich in Gefahr schwebt, Sir?«

»Ja, ich fürchte es.«

»Dann, Sir«, fällt der Kavallerist mit großer Entschiedenheit ein, »ist es das Beste, wenn er unverzüglich hereinkommt. Ich gehöre selbst ein wenig zu den Vagabunden und verstehe das. Phil! Bring ihn herein!«

Mr. Squod krebst seitwärts hinaus, um den Befehl auszuführen, und der Kavallerist legt die jetzt ausgerauchte Pfeife weg. Jo wird hereingebracht. Er ist nicht einer von Mrs. Pardiggles Tokahupo-Indianern, keins von Mrs. Jellybys Lämmern und hat mit Borriobula-Gha auch nichts zu schaffen; die weite Ferne und der Reiz des Fremdartigen lassen ihn nicht in besserem Licht erscheinen; er ist kein wirklicher, in der Fremde aufgewachsner Wilder, sondern ein ganz gewöhnlicher einheimischer Artikel. Schmutzig, scheußlich, allen Sinnen eine Qual, äußerlich ein niedriges Geschöpf der Straße, ist er auch der Seele nach ein Heide. Heimischer Schmutz bedeckt ihn, heimisches Ungeziefer verzehrt ihn, heimische Krankheiten wüten in ihm, und heimische Lumpen umhüllen ihn. Eingeborne Unwissenheit, auf Englands Boden gewachsen, drückt seine unsterbliche Natur auf eine tiefere Stufe als die eines verendeten Tiers. Ja, ja, zeig dich nur, Jo, ganz so, wie du bist! Vom Scheitel bis zur Sohle ist nichts Interessantes an dir!

Langsam kommt er in Mr. Georges Schießsaal gehumpelt und steht – ein Lumpenbündel – da und hebt seinen Blick nicht von der Erde.

Er scheint zu wissen, daß alle eine Neigung fühlen, von ihm zurückzuweichen, teils wegen dessen, was er ist, teils wegen dessen, was er verschuldet hat. Auch er scheut sich vor ihnen. Er gehört nicht zur selben Wesensreihe in der Schöpfung wie sie. Er gehört zu keiner Klasse und nirgends hin, weder zu den Tieren noch zu den Menschen.

»Schau mal her, Jo«, sagt Allan. »Das ist Mr. George.«

Jo sucht noch eine Zeitlang mit den Augen auf dem Fußboden herum, blickt eine Sekunde lang auf und dann wieder zu Boden.

»Er meint es gut mit dir und will dich hier beherbergen.«

Jo macht mit der Hand eine schaufelnde Bewegung, was wahrscheinlich eine Verbeugung ausdrücken soll. Nach einigem Besinnen und ein paarmal den Fuß, auf dem er seinen Körper ruhen läßt, wechselnd, brummt er, er sei sehr dankbar.

»Du bist hier vollständig in Sicherheit. Vorläufig hast du nichts weiter zu tun, als gehorsam zu sein und wieder zu Kräften zu kommen, aber du mußt uns die Wahrheit sagen, Jo! Verstehst du mich?«

»I soll auf der Stelle tot umfalln, wann is net tu, Sir«, sagt Jo mit seiner Lieblingsbeteuerung. »I hab nie nix angstellt, als was Sie schon wissn, und doch habens mi immer verfolgt. I hab bloß nie nix gwußt, Sir, und hab ghungert.«

»Ich glaub es dir. Gib jetzt acht auf Mr. George. Ich sehe, er will dir etwas sagen.«

»Ich wollte ihm nur zeigen, Sir«, bemerkt Mr. George, unglaublich breitschultrig und kerzengerade aussehend, »wo er sich hinlegen und einmal ordentlich ausschlafen kann, Sir. – Komm mal her.«

Mit diesen Worten führt der Kavallerist Jo in den Hintergrund der Schießstätte und macht die Tür eines der kleinen Verschlage auf. »Das ist für dich. Schau her! Und dort ist eine Matratze. Hier kannst du, wenn du dich gut aufführst, solang bleiben, als Mr… Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, – er wirft einen Blick auf die Karte, die ihm Allan gegeben hat – »solange es Mr. Woodcourt beliebt. Erschrick nicht, wenn du schießen hörst. Es wird auf die Scheibe geschossen und nicht nach dir. – Ich möchte nur noch etwas empfehlen, Mr. Woodcourt. – Phil, komm einmal her!«

Phil laviert in seiner gewohnten Art auf seinen Herrn los.

»Hier ist ein Mann, Sir, den sie einst als kleines Kind im Rinnstein gefunden haben. Daher ist anzunehmen, daß er ein natürliches Interesse an dem armen Teufel nimmt. Was meinst du, Phil?«

»Gewiß und wahrhaftig, Govner«, versichert Phil.

»Meine Meinung ist, Sir«, sagt Mr. George mit einer gewissen soldatischen Offenherzigkeit, als ob er in einem Kriegsrat bei Trommelwirbel etwas vorbrächte, »daß, wenn dieser Mann den Jungen in ein Bad steckte und für ein paar Schillinge ein paar ordinäre Sachen besorgte…«

»Sie denken an alles, Mr. George«, unterbricht ihn Allan und zieht seine Börse heraus. »Ich wollte Sie gerade darum bitten.«

Phil Squod und Jo werden auf der Stelle fortgeschickt, um den Reinigungsprozeß vorzunehmen. Miß Flite, ganz entzückt, daß alles so glatt geht, eilt, so schnell sie kann, nach dem Gerichtshof, denn sie ist in großer Angst, ihr Freund, der Lordkanzler, könne ihretwegen in Sorge sein oder das lang erwartete Urteil in ihrer Abwesenheit erlassen. »Und das«, bemerkt sie, »wäre nach so vielen Jahren denn doch gar zu schrecklich, mein lieber Doktor, und Sie, General.«

Allan benützt die Gelegenheit, einige stärkende Arzneien in der Nähe zu besorgen. Dann kehrt er zurück, findet den Kavalleristen in der Schießstätte auf- und abmarschieren und schließt sich ihm an.

»Ich vermute, Sie kennen Miß Summerson ziemlich gut?« fragt Mr. George.

»Ja, allerdings.«

»Nicht verwandt mit ihr, Sir?«

»Nein, das nicht.«

»Entschuldigen Sie meine Neugierde. Es schien mir wahrscheinlich, daß Sie mehr als gewöhnliche Teilnahme für den armen Teufel deswegen fühlen, weil sich Miß Summerson schon – leider zu ihrem Schaden – so sehr für ihn interessiert hat. So geht es wenigstens mir, Sir.«

»Und mir auch, Mr. George.«

– Der Kavallerist betrachtet von der Seite Allans gebräunte Wange, und sein lebhaftes dunkles Auge mißt mit raschem Blick seinen Wuchs und scheint Gefallen an ihm zu finden. –

»Als Sie fort waren, Sir, ist mir eingefallen, daß ich die Zimmer in Lincoln’s-Inn-Fields, wo Bucket den Jungen, seiner Aussage nach, hinbrachte, kenne. Wenn er auch den Namen nicht weiß, ich kann ihn Ihnen nennen. Tulkinghorn! So heißt er.«

Allan sieht den Kavalleristen fragend an und wiederholt den Namen.

»Tulkinghorn. So heißt er, Sir. Ich kenne den Mann und weiß, daß er früher mit Bucket wegen eines inzwischen Verstorbnen, der ihn einmal beleidigte, zu tun gehabt hat. Ich kenne den Mann, Sir. – Zu meinem Leidwesen.«

Allan fragt natürlich, was für ein Mann Mr. Tulkinghorn sei.

»Was für ein Mann? Meinen Sie, wie er aussieht?«

»Ich glaube, soweit kenne ich ihn. Ich meine, in seinem Wesen. Was er so im allgemeinen für ein Mensch ist?«

»Nun, das will ich Ihnen sagen, Sir.« Der Kavallerist bleibt stehen, verschränkt die Arme über der breiten Brust und wird dabei so zornig, daß sein Gesicht über und über rot wird.

»Er ist eine verdammt schlechte Art Mensch. Einer, der die Leute langsam martert. Er hat ebensowenig Fleisch und Blut wie ein verrosteter alter Karabiner. Er ist ein Mann – beim heiligen Georg –, der mir mehr Unruhe und Sorgen und Unzufriedenheit mit mir selbst verursacht hat als alle Menschen zusammengenommen. Von der Sorte ist Mr. Tulkinghorn einer.«

»Es tut mir leid, eine wunde Stelle berührt zu haben«, entschuldigt sich Allan.

»Eine wunde Stelle?« Der Kavallerist stellt sich breitbeinig hin, befeuchtet die Fläche seiner breiten rechten Hand und legt sie auf die Stelle, wo früher wahrscheinlich sein Schnurrbart gewesen ist. »Das ist Ihre Schuld nicht, Sir. Aber urteilen Sie selbst. Er hat mich ganz in der Hand. Er ist es, von dem ich vorhin sagte, daß er mich jeden Augenblick mit Sack und Pack hinauswerfen könne. Und er hält mich stets in einer beständigen Unruhe. Er greift nicht zu und läßt mich nicht los. Wenn ich ihm eine Zahlung zu machen oder um Stundung zu bitten oder sonst etwas mit ihm zu tun habe, ist er für mich nicht zu Hause – schickt mich zu Melchisedek in Clifford’s-Inn, und Melchisedek in Clifford’s-Inn schickt mich wieder zurück –, und so muß ich endlos hin und her laufen, als sei ich aus Stein wie er. Bei Gott, mein halbes Leben vergeht jetzt damit, daß ich in einem fort an seiner Tür herumlungern muß. Was kümmert’s ihn? Nichts. Gerade so wenig wie den verrosteten alten Karabiner, mit dem ich ihn vorhin verglichen habe. Er peinigt und quält mich bis… Bah, Unsinn, ich vergesse mich, Mr. Woodcourt.« Der Kavallerist nimmt seinen Marsch wieder auf. »Ich sage weiter nichts, als daß er ein alter Mann ist. Aber froh bin ich, daß ich nie Gelegenheit haben kann, meinem Pferd die Sporen zu geben und mit ihm unter gleichen Bedingungen Mann gegen Mann zu stehen. Denn wenn ich dann in einer der Stimmungen wäre, in die er mich immer hineinzwingt, würde ich ihn mir ausborgen, Sir!«

Mr. George hat sich so in die Wut hineingeredet, daß er sich die Stirn mit dem Hemdärmel abwischen muß. Er pfeift zwar seinen Zorn mit der Nationalhymne weg, aber an seinem gelegentlichen Kopfschütteln und dem tiefen Aufatmen seiner breiten Brust kann man erkennen, daß er innerlich immer noch nicht ganz beruhigt ist. Auch zerrt er noch zuweilen mit beiden Händen an seinem offnen Hemdkragen, als sei er ihm zu eng. Kurz, Allan Woodcourt hat nicht den geringsten Zweifel, daß Mr. Tulkinghorn, Mann gegen Mann, in freiem Feld den kürzern ziehen würde.

Der fürsorgliche Phil kehrt bald darauf zurück und geleitet Jo nach seiner Matratze. Allan reicht dem Kranken eigenhändig die Medizin, erteilt Mr. Squod die nötigen Ratschläge und vertraut ihm dann die Mittel an. Es ist jetzt bereits Vormittag. Er begibt sich, um sich umzuziehen und zu frühstücken, in seine Wohnung und dann unverzüglich zu Mr. Jarndyce, um diesem von der gemachten Entdeckung Mitteilung zu machen.

In seiner Begleitung und von ihm im Vertrauen eingeweiht, daß Gründe vorhanden seien, die Sache so geheim wie möglich zu halten, kommt er voll Interesse wieder. Jo wiederholt vor Mr. Jarndyce im großen ganzen genau und ohne wesentliche Abschweifungen, was er heute morgen erzählt hat, nur daß der Lastkarren noch schwerer geht und noch hohler rasselt.

»Lassen S mi ruhig hier liegen und quälen S mi nimmer«, ächzt Jo. »Und sin S so gut, wenn S in die Näh kommen, wo i früher die Straßn kehrt hab, so sagen S Mr. Sangsby, daß Jo, den er früher gut kennt hat, jetzt urdentlich ‚Marsch vorwärts‘ macht. I möcht schön danken dafür.«

– Im Lauf des Tages und noch am nächsten erwähnt er so oft den Schreibmaterialienhändler, daß Allan sich in seiner Gutmütigkeit entschließt, nachdem er mit Mr. Jarndyce beraten hat, selbst nach Cook’s Court zu gehen; um so mehr, als der Lastkarren bald das Ende der Fahrt erreicht zu haben scheint. –

Er begibt sich also nach Cook’s Court. Mr. Snagsby steht in grauem Rock und Schreibärmeln hinter seinem Ladentisch und sieht einen Stoß Akten auf Pergament, der eben von einem Kopisten gekommen ist, durch. Es ist eine unermeßliche Wüste aus Kanzleihandschrift und Pergament, in der nur hie und da ein paar große Buchstaben als Rastorte dienen, um Abwechslung in die grauenhafte Monotonie zu bringen und den Reisenden vor Verzweiflung zu retten. Mr. Snagsby macht bei der Durchforschung einer dieser Titenzisternen halt und begrüßt den Fremden mit einem allgemeinen Einleitungshüsteln.

»Sie erinnern sich meiner wohl nicht mehr, Mr. Snagsby?«

Dem Papierhändler fängt das Herz an heftig zu klopfen, denn er ist seine alten Befürchtungen nie ganz los geworden. Kaum kann er herausbringen: »Nein, Sir, ich kann mich wirklich nicht entsinnen. Ich sollte meinen – um nicht durch die Blume zu sprechen –, daß ich Sie noch nie im Leben gesehen habe, Sir.«

»O doch, zwei Mal«, hilft Allan Woodcourt seinem Gedächtnis nach. »Ein Mal am Totenbett eines Unglücklichen und ein Mal…«

»Also doch!« denkt der Papierhändler niedergeschmettert, und es dämmert in seinem Kopf. »Da haben wir’s! Jetzt ist alles aus!« Aber er hat noch Geistesgegenwart genug, um seinen Besuch in das kleine Komptoir zu drängen und die Türe zu schließen.

»Sind Sie verheiratet, Sir?«

»Nein.«

»Möchten Sie nicht vielleicht, wenn Sie auch Junggeselle sind«, flüstert Mr. Snagsby bekümmert, »so leise wie nur irgend möglich sprechen? Denn meine kleine Frau horcht bestimmt irgendwo. Mein Geschäft und fünfhundert Pfund dazu möchte ich darauf wetten.«

In tiefer Bekümmernis setzt sich Mr. Snagsby auf seinen Stuhl, den Rücken zum Pult gekehrt, und beteuert:

»Ich habe nie ein Geheimnis für mich gehabt, Sir. Ich kann mich nicht entsinnen, meine kleine Frau seit dem Tag, wo wir versprochen wurden, ein einziges Mal absichtlich hintergangen zu haben. Ich würde es unter keinen Umständen getan haben, Sir. – Um nicht durch die Blume zu sprechen –, ich hätte es auch nicht können, nicht einmal wagen dürfen. Und doch bin ich von Geheimnissen und Rätseln so umgeben, daß es mir fast das Leben zur Last macht.«

Der Arzt gibt sein Bedauern zu erkennen und fragt, ob Mr. Snagsby sich Jos erinnere.

»Ja, leider«, seufzt der Papierhändler. »Sie könnten kein menschliches Wesen nennen – mich selbst vielleicht ausgenommen –, gegen das meine kleine Frau entschiedner aufträte als gegen Jo.«

Allan fragt, warum.

»Warum!?« Mr. Snagsby packt in seiner Verzweiflung das Büschel Haare am rückwärtigen Teil seines sonst ganz kahlen Kopfes. »Wie kann ich wissen, warum? Aber Sie sind eben ein lediger Mann, Sir. Mögen Sie lange Zeit nicht nötig haben, einer verheirateten Person eine solche Frage zu stellen.«

– Mit diesem wohlwollenden Wunsch hüstelt Mr. Snagsby einen Husten bekümmerter Ergebenheit und hört mit Duldermiene an, was der Besuch ihm mitzuteilen hat. –

»Da haben wir’s wieder«, sagt er dann, teils aus tiefem Mitgefühl, teils, weil er angsterfüllt so leise flüstert, ganz blaß geworden. »Da geht’s schon wieder los in einer neuen Richtung. Eine gewisse Person beschwört mich aufs feierlichste, niemandem, selbst nicht meiner kleinen Frau, etwas von Jo zu sagen. Dann kommt eine andre gewisse Person in Ihrer Person und beschwört mich in gleich feierlicher Weise, der andern gewissen Person um Gottes willen nichts von Jo zu sagen. Das ist ja das reinste Privatirrenhaus. – Um nicht durch die Blume zu sprechen –, es ist die Landesirrenanstalt selbst, Sir«, sagt Mr. Snagsby.

Aber trotz alledem sieht er ein, daß es hätte noch schlimmer kommen können. Es ist weiter keine Mine unter ihm explodiert, und die Fallgrube, in die er schon früher gestürzt ist, hat sich weiter nicht vertieft.

Und da er ein weiches Herz hat und von dem, was er über Jos Befinden hört, sehr gerührt ist, verspricht er gern, »mal einen Blick hinüber zu werfen«, sobald er es heute abend irgendwie unbemerkt tun kann.

Und als der Abend kommt, begibt er sich ganz im stillen hinüber…

Aber wer weiß, vielleicht tut das Mrs. Snagsby ebenfalls.

Jo freut sich sehr, seinen alten Freund wiederzusehen, und sagt, als sie allein sind, es sei von Mr. Snagsby unendlich freundlich, seinetwegen einen so weiten Weg gemacht zu haben. Ergriffen von dem Anblick, legt der Schreibmaterialienhändler sofort eine halbe Krone auf den Tisch, seinen Zauberbalsam für alle Arten Wunden.

»Und wie geht es dir denn, mein armer Junge?« fragt er mit seinem Teilnahmshüsteln.

»I bin jetzt ganz ausm Wasser, Mr. Sangsby. I brauch gar nix mehr. Mir is wohler, als Ihna denkn können, Mr. Sangsby. Mir is arg leid, daß is tan hab, aber i habs net mit Fleiß tan, Sir.«

Der Papierhändler legt leise noch eine halbe Krone auf den Tisch und fragt ihn, was ihm denn leid tue, getan zu haben.

»Mr. Sangsby«, sagt Jo, »i bin hergangen und bin schuld, daß die Dame krank wordn is, was die andre Dame war und doch wieder nicht war. Keiner von ihnen hat mir deswegn was gsagt, weil s alle so gut sin und i so unglücklich bin. Die Dame is gestern selber herkommn und hat gsagt: ‚Jo‘, hats gsagt, ‚wir dachten schon, mir hätten dich verloren‘, hats gsagt und hat sich ruhig lächelnd hingsetzt und hat net a böses Wort und kan bösen Blick net für mi ghabt, und i hab mi gegen die Wand drehen müssn, Mr. Sangsby, und Mr. Jarnders hat si auch abwendn müssn, wie i gsehgn hab. Und Mr. Woodcot hat mir bei Tag und Nacht was zur Beruhigung gebn, hat si über mi gebeugt und hat mir Mut zugsprochen, aber dabei sin ihm die Tränen heruntergloffn, Mr. Sangsby!«

Gerührt legt der Papierhändler abermals eine halbe Krone auf den Tisch. Nur eine Wiederholung dieses unfehlbaren Mittels ist imstande, sein Herz zu erleichtern.

»Was i mir denkt hab, Mr. Sangsby«, fährt Jo fort, »is, ob Sie leicht recht groß schreiben könnan?«

»Ja, Jo. Gott sei Dank!«

»So ganz groß leicht?« fragt Jo eindringlich.

»Ja, natürlich, mein armer Junge.«

Jo lacht vor Freude. »Was i mir also denkt hab, Mr. Sangsby, is, wenn i so weit Marschvorwärts gmacht hab, bis s kein Schritt mehr weiter geht, ob S da nicht vielleicht so gut sein möchten, es so ganz groß hinzuschreiben, daß es jeder überall sehgn kan, daß es mir wirklich so arg leid tut, daß is tan hab. Und daß is nie hab net tun wolln und daß Mr. Woodcot drüber geweint hat, und er soll mirs vergeben. Wenn die Schrift es so ganz groß sagn könnt, tut ers vielleicht.«

»Ich werde schon machen, Jo. Sehr groß!«

Jo lacht wieder. »I dank Ihnan, Mr. Sangsby. Es is sehr gut von Ihna, Sir, und s is mir jetzt viel wohler, als mir jemals gwesn is.«

Der gutmütige kleine Schreibmaterialienhändler bleibt mitten in seinem Hüsteln stecken und legt leise seine vierte halbe Krone hin. Er hat einen Fall, wo er so viele brauchte, bisher noch nie vor Augen gehabt, und geht erleichtert fort.

Jo und er sollen sich auf dieser kleinen Erde nie mehr begegnen.

Nie mehr. Denn der immer schwerer werdende Lastkarren ist jetzt dem Ziel der Reise nahe und rasselt über steinigen Boden dahin. Das ganze Zifferblatt herum strengt er sich an, die steile und unebne Straße hinaufzukommen, und jeden Augenblick kann er in Trümmer gehen.

Die Sonne kann nicht mehr oft aufgehen und ihn immer noch auf dem mühseligen Wege sehen.

Phil Squod mit seinem pulverrauchgeschwärzten Gesicht ist zugleich Krankenwärter und Büchsenmacher und arbeitet an einem kleinen Tischchen in der Ecke. Er sieht sich von Zeit zu Zeit um und sagt mit einem Nicken seiner grünen Wollmütze, seine eine Augenbraue ermutigend in die Höhe gezogen: »Kopf hoch, mein Junge, Kopf hoch!«

Auch Mr. Jarndyce ist häufig da, und Allan Woodcourt fast immer. Beide denken oft, wie seltsam das Schicksal diesen armen Ausgestoßnen mit den Fäden anderer von seinem so unendlich verschiednen Lebenswege verknüpft hat. Auch der Kavallerist ist ein häufiger Besucher. Er füllt die Tür mit seiner athletischen Gestalt aus und scheint von seinem Überfluß an Leben und Gesundheit Jo, der sich immer bemüht, seinem heiteren Zuruf lauter als andern zu antworten, vorübergehend Kraft zu übertragen.

Jo schläft heute oder ist halb bewußtlos, und Allan Woodcourt, eben erst angekommen, steht vor ihm und blickt auf die abgezehrte Gestalt herab. Nach einer Weile nimmt er vorsichtig neben dem Bett Platz, das Gesicht dem Kranken zugekehrt – gerade wie damals bei dem Advokatenschreiber –, und fühlt nach der Brust und dem Herzschlag.

– Der Karren kann fast nicht weiter und schleppt sich nur noch ein Stück fort. –

Stumm steht der Kavallerist im Torweg. Phil hat mit dem leisen Klopfen aufgehört und hält seinen kleinen Hammer regungslos in der Hand. Mr. Woodcourt sieht sich mit der ernsten Miene des Arztes um, wirft dem Kavalleristen einen bedeutsamen Blick zu und gibt Phil einen Wink, sein Tischchen hinauszutragen.

– Wenn der kleine Hammer wieder gebraucht wird, wird ein Rostfleck darauf sein. –

»Nun, Jo! Warum erschrickst du so?«

»I hab mir denkt«, sagt Jo, der in die Höhe gefahren ist und entsetzt um sich blickt, »i hab mir denkt, i war wieder in ‚Toms Einöd‘. Ist niemand da als Sie, Mr. Woodcot?«

»Niemand.«

»Und man wird mi net wieder nach ‚Toms Einöd‘ bringen, Sir?«

»Nein.«

Jo schließt die Augen und brummt vor sich hin:

»I bin so sehr dankbar.«

Nachdem Allan ihn eine Weile lang aufmerksam beobachtet hat, legt er den Mund dicht an sein Ohr und fragt ihn mit leiser, aber sehr deutlicher Stimme:

»Jo! Kannst du beten?«

»Hab nie nix gwußt, Sir.«

»Auch nicht ein ganz kurzes Gebet?«

»Nein, Sir. Gar keins. Mr. Chadbans hat amal bei Mr. Sangsby bet, und i habn ghört. Aber er hat mit sich selber gsprochn und net mit mir. Er hat viel bet, aber i hab n net verstandn. Dann sin auch andre Leut nach ‚Toms Einöd‘ kommen und habn bet. Sie ham gsagt, daß die andern falsch beten, und ham nacher auch mit sich selbst gsprochn oder auf die andern gschimpft und net mit uns gesprochn. Mir habn nie nix gwußt. I habs net rauskriegen könnan, was s gmeint ham.«

Er braucht lange dazu, um alles das zu sagen, und nur ein erfahrner und aufmerksamer Zuhörer kann sein Flüstern verstehen. Nach einem kurzen Rückfall in Betäubung oder Schlummer macht er plötzlich eine heftige Anstrengung, aus dem Bett zu kommen.

»Bleib nur liegen! Was gibt’s denn?«

»I muß jetzt aufn Friedhof, Sir«, gibt Jo mit einem verstörten Blick zur Antwort.

»Leg dich nur wieder hin und hör mich an. Was für einen Friedhof meinst du denn, Jo?«

»Wo s n hinglegt ham. Er ist so gut zu mir gwesn. Es is Zeit, daß i auch auf n Friedhof geh, damit sie mi neben ihn legn. I möcht auch dortliegn. Er hat immer zu mir gsagt: ‚Heut bin i so arm wie du, Jo‘, hat er gsagt. Ich muß eam sagn, daß i jetzt so arm bin wie er und kommen bin, ummi neben eam z legn.«

»Das hat noch Zeit, Jo. Noch Zeit.«

»Aber vielleicht möchten sie’s net tun, wann i selber hinginget. Vielleicht möchten S mir versprechn, daß man mi neben ihn legt?«

»Ich verspreche es dir!«

»I dank Ihnan vielmals, Sir! Man wird erst den Gatterschlüssel holen müssen, sonst können s mi net einibriiign, s is immer verschlossn. Und a Stufn is dort, was i immer mit in Besen abkehrt hab. Es wird jetzt sehr dunkel, Sir. Kommt denn ka Licht?«

»Gleich kommt Licht, Jo.«

»…Ja, gleich.«

Der Karren geht in Trümmer, und gleich ist der mühsame Weg zu Ende.

»Jo, mein armer Junge!«

»I kann Sie schon hörn, Sir. Aber dunkel is. I find Ihner Hand net. Lassen S mi Ihner Hand halten!«

»Jo, kannst du nachsprechen, was ich dir sage?«

»Alls, was S wolln, Sir, i weiß, daß s gut is.«

»Vater unser!«

»Vater unser… Ja, das is sehr gut, Sir.«

»Der du bist im Himmel.«

»Bist im Himmel… Kommt ka Licht, Sir?«

»Gleich kommt es. – Geheiligt werde dein Name.«

»Geheiligt werde – dein…«

Endlich ist das Licht auf diesen dunkeln umnachteten Weg gefallen!

Tot!

Tot! Euer Majestät. Tot, Mylords und Gentlemen. Tot, Euer Ehrwürden aller Konfessionen. Tot, ihr Männer und Frauen mit himmlischem Erbarmen in euren Herzen.

Ja, ja, so sterben sie rings um uns jeden Tag.

48. Kapitel


48. Kapitel

Das Verhängnis nimmt seinen Lauf

Das Schloß in Lincolnshire hat seine hundert Augen wieder geschlossen, und das Haus in der Stadt ist aufgewacht. In Lincolnshire träumen die Dedlocks der Vergangenheit in ihren Bilderrahmen, und leise seufzt der Wind durch den langen Salon, als ob die Toten regelmäßig atmeten im Schlaf. In der Stadt rasseln die Dedlocks der Gegenwart in ihren feueräugigen Karossen durch die Dunkelheit der Nacht, und die Dedlock-Merkure, Asche oder vielmehr Puder auf dem Haupt zum Zeichen ihrer großen Unterwürfigkeit, verdämmern die schläfrigen Morgenstunden in den kleinen Fenstern der Vorhalle. Die fashionable Welt – fast fünf Meilen im Umkreis – ist in voller Bewegung, und das Sonnensystem kreist um sie ehrfurchtsvoll in der gebührenden Entfernung.

Wo das Gewühl am dichtesten ist, die Lichter am hellsten und den Sinnen mit dem größten Luxus gehuldigt wird, da ist Lady Dedlock. Sie fehlt nie auf der glänzenden Höhe, die sie erstürmt und erobert hat, wenn auch ihr alter Glaube, sie könne unter dem Mantel ihres Stolzes alles, was sie will, verbergen, verschwunden ist. Wenn sie auch nicht weiß, ob das, was sie den andern scheint, morgen noch sein wird, liegt es doch nicht in ihrem Naturell, sich schwach zu zeigen, solange neidische Augen auf sie gerichtet sind. Man sagt von ihr, sie sei in der letzten Zeit noch schöner und stolzer geworden. Der hinfällig aussehende Cousin sagt, sie sei »schön jenuch, um nem janzen Schock Weiber auf die Beene zu helfen, – aber sie is von ner dollen Sorte –, erinnere an – das ekliche Frauenzimmer, das im Schlaf – äh – Bett verläßt und im Hause – äh –rumfuhrwerkt – äh – Shakespeare«.

Mr. Tulkinghorn sagt nichts.

Weder mit Worten noch mit Blicken.

Jetzt wie jemals sieht man ihn an den Türen der Säle mit dem locker umgebundnen weißen Halstuch mit der altmodischen Schleife. Er wird vom Hochadel begönnert und gibt kein Zeichen der Anerkennung von sich. Von allen Menschen möchte man von ihm am letzten glauben, er könne Einfluß auf Mylady haben. Von allen Frauen ist sie noch immer die letzte, der man zutrauen könnte, sie fürchte ihn.

Seit dem Gespräch im Turmzimmer in Chesney Wold liegt ihr ununterbrochen eine Sache auf der Seele. Sie ist jetzt entschlossen und bereit, die Last von sich zu werfen.

Es ist Morgen in der großen Welt, das heißt, Nachmittag in der kleinen gewöhnlichen. Die Merkure, erschöpft vom Zumfensterhinaussehen, ruhen aus in der Vorhalle und lassen ihre schweren Köpfe hängen – diese prachtvollen Geschöpfe – gleich überreifen großen Sonnenblumen. Wie diese scheinen sie mit ihren Fangschnüren und dem übrigen glitzernden Behänge Wassertriebe angesetzt zu haben.

Sir Leicester ist in der Bibliothek über dem Bericht eines Parlamentskomitees zur Hebung vaterländischer Interessen eingeschlafen.

Mylady sitzt in dem Zimmer, wo sie dem jungen Mann namens Guppy einmal Audienz gegeben hat. Rosa ist bei ihr, hat nach dem Diktat ihrer Herrin geschrieben und ihr vorgelesen. Rosa ist jetzt mit einer Stickerei oder einer ähnlichen niedlichen Arbeit beschäftigt, und während sie sich darüber beugt, beobachtet Mylady sie schweigend. Nicht zum ersten Mal heute.

»Rosa!«

Die kleine Dorfschöne blickt munter auf. Aber als sie Myladys ernste Miene sieht, nimmt ihr Gesicht einen verlegnen und überraschten Ausdruck an.

»Sieh mal nach, ob die Türe geschlossen ist.«

»Ja.«

Sie geht, überzeugt sich und sieht noch überraschter drein.

»Ich will dir etwas anvertrauen, mein Kind. Ich weiß, daß ich mich auf deine Anhänglichkeit, wenn nicht auch auf dein Urteil, verlassen kann. In dem, was ich jetzt vorhabe, will ich dir gegenüber ohne alle Verkleidung erscheinen. Aber ich verlasse mich ganz auf dich. Verrate niemandem ein Wort von dem, was ich dir jetzt sage!«

– Die schüchterne kleine Schöne verspricht mit innigem Ernst, sich des geschenkten Vertrauens würdig zu erweisen. –

»Hast du bemerkt«, – Lady Dedlock winkt ihr, mit dem Stuhle näher zu rücken – »hast du bemerkt, Rosa, daß ich gegen dich anders bin als gegen irgend jemanden sonst.«

»Ja, Mylady. Viel gütiger. Aber dann denke ich mir oft, ich kenne Sie eben, wie Sie wirklich sind.«

»Du denkst oft, du kennst mich, wie ich wirklich bin? Armes Kind, armes Kind!«

– Mylady sagt das mit einer Art Hohn – der jedoch nicht Rosa gilt –und sitzt dann eine Weile brütend da mit versonnenem Gesicht. –

»Bist du überzeugt, Rosa, daß du mir ein Trost und eine Erquickung bist? Bist du überzeugt, daß es mir Freude macht, dich in meiner Nähe zu haben, bloß, weil du jung und natürlich bist und mich lieb hast?«

»Ich weiß es nicht, Mylady; ich kann es kaum hoffen. Aber von ganzem Herzen wünsche ich, es wäre so.«

»Es ist so, Kleine!«

– Das freudige Erröten Rosas wird gehemmt durch den düstern Ausdruck Myladys. Schüchtern fragend blickt sie auf. –

»Und wenn ich heute sagte: Geh! Verlaß mich! würde ich etwas sagen, was mir sehr schmerzlich wäre und mich ganz und gar einsam machen würde.«

»Mylady, habe ich Sie beleidigt?«

»Durchaus nicht. Komm zu mir!«

– Rosa kniet vor Myladys Fußbank nieder. Wie damals in der Nacht nach dem denkwürdigen Gespräch mit dem Eisenwerksbesitzer legt Lady Dedlock mütterlich die Hand auf das dunkle Haar der Kleinen und läßt sie sanft dort ruhen. –

»Ich sagte dir damals, Rosa, ich möchte dich glücklich machen, wenn ich überhaupt imstande bin, jemanden auf Erden noch glücklich zu machen. Ich habe jetzt Gründe, an denen du keine Schuld trägst, die es aber ratsam machen, daß du nicht mehr bei mir bleibst. Du darfst nicht hier bleiben! Ich bin fest dazu entschlossen. Ich habe an den Vater deines Geliebten geschrieben, und er wird heute hierher kommen. Ich habe es deinetwegen getan.«

Weinend bedeckt das Mädchen die Hand ihrer Herrin mit Küssen und sagt, sie wisse nicht, was sie tun solle, wenn sie von einander scheiden müßten. Mylady küßt sie auf die Wange und gibt keine Antwort.

»Mögest du unter bcssern Verhältnissen glücklich sein, Kind. Sei geliebt und glücklich!«

»Ach, Mylady, ich habe mir manchmal gedacht – verzeihen Sie mir, daß ich mir eine solche Freiheit herausnehme –, daß Sie selbst nicht glücklich sind.«

»Ich!«

»Würden Sie glücklicher sein, wenn ich nicht mehr bei Ihnen bin? Bitte, bitte, bedenken Sie das noch einmal. Lassen Sie mich nur noch eine kurze Zeit bleiben.«

»Ich habe dir gesagt, mein Kind, daß, was ich tue, nur deinetwillen geschieht. Es ist geschehen. So, wie ich jetzt zu dir bin, Rosa, so bin ich wirklich, und nicht so, wie du mich in einer kleinen Weile sehen wirst. Vergiß das nicht und verschließe in deinem Herzen, was ich dir anvertraut habe. Tue es um meinetwillen, und dann sind alle Bande zwischen uns zerschnitten.«

Sie macht sich von dem Mädchen los und verläßt das Zimmer. Als sie spät nachmittags wieder auf der Treppe erscheint, hat sie ihre stolzeste und kälteste Miene auf; so teilnahmslos ist sie, als ob Leidenschaft, Gefühl und Interessen jeder Art längst in ihrer Seele seit vorsintflutlichen Epochen gestorben wären.

Der Merkur hat Mr. Rouncewell angemeldet. Deshalb erscheint sie jetzt. Mr. Rouncewell ist noch nicht im Bibliothekzimmer, aber sie begibt sich dorthin. Sir Leicester ist dort, und sie wünscht zuerst mit ihm zu sprechen.

»Sir Leicester, ich wollte mit Ihnen… Aber wie ich sehe, sind Sie beschäftigt.«

»Oh, durchaus nicht, Mylady. Nur Mr. Tulkinghorn ist hier.«

– Immer anwesend! Überall lauert er herum! Keinen Augenblick Sicherheit vor ihm! –

»Ich bitte um Entschuldigung, Lady Dedlock. Darf ich mich entfernen?«

Mit einem Blick, der deutlich sagt: Sie wissen doch ganz gut, daß Sie die Macht haben, zu bleiben, wenn Sie wollen, bedeutet sie ihm, es sei nicht nötig, und geht zu einem Sessel. Mr. Tulkinghorn tritt ihr mit seiner altmodischen Verbeugung ein paar Schritte entgegen und zieht sich dann in ein gegenüberliegendes Fenster zurück.

Er steht zwischen ihr und dem sinkenden Licht des Tages, und sein Schatten fällt auf sie und macht alles vor ihr dunkel. So, wie er auch ihr Leben verdüstert.

Auch im besten Fall ist das eine langweilige Straße draußen, in der die beiden langen Häuserzeilen sich gegenseitig mit einer solchen Strenge anstarren, daß ein halbes Dutzend ihrer größten Paläste schon unter solchen Blicken langsam zu Stein geworden wären, wenn man sie nicht schon vorher aus diesem Material gebaut hätte. Es ist eine Straße von so eisiger Größe, so entschlossen, sich nie zum atmenden Leben herabzulassen, daß die Türen und Fenster, staubbedeckt und schwarz, düster Cercle halten – und die hallenden Marställe dahinter ausgestorben und massiv aussehen, als wären sie bestimmt, die steinernen Schlachtrosse der adligen Statuen in sich aufzunehmen. Labyrinthisches eisernes Gitterwerk schlingt sich um die Vortreppen in dieser Ehrfurchtschauer erregenden Straße, und in steinernen Wölbungen gähnen die Auslöscher für die aus der Mode gekommenen Fackeln den Emporkömmling »Gas« an. Hie und da hat ein schwacher eiserner Ringbügel, durch den tagsüber kecke Jungen die ihren Spielgefährten herabgerissnen Mützen zu werfen sich bemühen, seinen Platz unter dem verrosteten Laubwerk behauptet und denkt trauervoll an lang entschwundne Zeiten. Ja sogar das Öl, das noch hie und da in kleinen sonderbaren Glasnäpfchen, mit einem Fleck auf dem Boden gleich einer Auster, übrig geblieben ist, blinzelt jeden Abend die neuen Lichter an, nicht so ganz unähnlich seinen hochgestellten Herren im Oberhaus.

Es ist daher wohl nicht gut möglich, daß Lady Dedlock von ihrem Stuhl aus durch das Fenster, in dessen Nische Mr. Tulkinghorn steht, besonders viel zu sehen wünschen sollte, und doch wirft sie einen Blick in diese Richtung, als ob es ihr innigster Herzenswunsch wäre, daß seine Gestalt sich von dort entfernte.

Sir Leicester bittet Mylady um Verzeihung: sie habe etwas sagen wollen?

»Bloß, daß Mr. Rouncewell da ist – ich habe ihn kommen lassen –, und daß wir am besten der Angelegenheit mit dem Mädchen ein Ende machen sollten. Ich bin der Sache endlich müde.«

»Was kann ich – dabei – tun?« fragt Sir Leicester zögernd und unsicher.

»Empfangen wir ihn hier und machen wir der Sache ein Ende. Möchten Sie ihn nicht herauf kommen lassen?«

»Mr. Tulkinghorn, würden Sie vielleicht die Güte haben, zu klingeln – danke bestens –, lassen Sie den… Eisengentleman«, sagt Sir Leicester zu dem Merkur und kann nicht gleich das richtige Wort finden, »lassen Sie den Eisengentleman heraufkommen.«

Der Merkur entfernt sich, um den »Eisengentleman« zu suchen, findet ihn und bringt ihn. Sir Leicester empfängt ihn sehr gnädig.

»Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, Mr. Rouncewell? Nehmen Sie Platz. – Hier mein Anwalt, Mr. Tulkinghorn. – Mylady wünscht mit Ihnen zu sprechen.« Sir Leicester überweist ihn geschickt mit einem feierlichen Wink seiner Hand Lady Dedlock. »Hem.«

»Es wird mir eine Ehre sein, allem, was Lady Dedlock mir mitzuteilen geruhen wird, mit der größten Aufmerksamkeit zuzuhören.«

– Wie sich Mr. Rouncewell zu Mylady wendet, scheint sie ihm einen weniger angenehmen Eindruck zu machen als damals. Ein gewisses abweisendes geringschätziges Benehmen verbreitet eine eisige Atmosphäre um sie, und in ihrer ganzen Haltung ist nicht mehr das zu entdecken, was ihn bei seinem ersten Besuch zur Offenherzigkeit aufmunterte. –

»Würden Sie mir gestatten, zu fragen«, sagt Lady Dedlock gleichgültig, »ob zwischen Ihnen und Ihrem Sohn in bezug auf dessen Grille etwas vorgefallen ist?«

– In ihrer gelangweilten Stimmung scheint es ihr fast Mühe zu machen, Mr. Rouncewell einen Blick zu schenken, während sie diese Frage stellt. –

»Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, Lady Dedlock, sagte ich, als ich zuletzt die Ehre hatte, Sie zu sehen, daß ich meinem Sohn allen Ernstes raten würde, dieser – Grille Herr zu werden.«

– Der Eisenwerksbesitzer legt auf das Wort einen gewissen Nachdruck. –

»Und haben Sie das getan?« »Ja, natürlich.«

– Sir Leicester nickt billigend. »Sehr schicklich.« – Da der Eisengentleman doch gesagt hatte, er würde es tun, war er auch dazu verpflichtet. In dieser Hinsicht ist zwischen edlen und unedlen Metallen kein Unterschied. »Sehr schicklich.« –

»Und hat er Ihren Rat beherzigt?«

»Darüber kann ich Ihnen wirklich keine bestimmte Antwort geben, Lady Dedlock. Ich fürchte, nein. Wahrscheinlich sogar nicht. Wir in unserm Stande verbinden manchmal mit unsern – unsern Grillen einen Entschluß, der nicht so leicht wankend zu machen ist. Ich glaube, es ist so unsre Art, die Sachen ernst zu nehmen.«

– Sir Leicester hat das unangenehme Gefühl, daß sich unter diesen Worten eine gewisse revolutionäre Bedeutung verbergen könne, und es wird ihm ein bißchen heiß. Mr. Rouncewell ist vollkommen guter Laune und sehr höflich, aber innerhalb dieser Grenzen paßt er offenbar seinen Ton dem Empfang an, den man ihm bereitet hat. –

»Ich habe nämlich über die Sache nachgedacht«, fährt Mylady fort, »und sie ennuyiert mich.«

»Das tut mir wirklich sehr leid.«

»Und auch über das, was Sir Leicester darüber sagte, womit ich ganz übereinstimme.« – Sir Leicester fühlt sich geschmeichelt. – »Und wenn Sie uns nicht die Versicherung geben können, daß die Grille vergessen ist, bin ich zu der Ansicht gekommen, daß es besser ist, wenn das Mädchen geht.«

»Ich kann eine solche Versicherung nicht geben, Lady Dedlock.«

»Dann ist es besser, sie geht.«

»Mylady wolle entschuldigen«, bemerkt Sir Leicester rücksichtsvoll, »aber vielleicht würden wir auf diese Art dem Mädchen ein Unrecht zufügen, das es nicht verdient hat. Wir haben hier ein junges Mädchen«, sagt Sir Leicester und unterbreitet Mr. Rouncewell die Sache großartig wie ein silbernes Service, »das das Glück gehabt hat, die Beachtung und Gunst einer vornehmen Dame zu gewinnen. Die verschiednen Vorteile, die ihr eine solche Stelle gewährt und die unzweifelhaft sehr groß sind, geben zu bedenken. Es fragt sich nun, soll dieses junge Mädchen so vieler Vorteile und einer so glücklichen Lebensstellung verlustig gehen, bloß weil sie« – Sir Leicester schließt mit einer würdevollen Neigung seines Kopfes – »die Aufmerksamkeit von Mr. Rouncewells Sohn auf sich gezogen hat? Hat sie diese Strafe verdient? Ist es gerecht gegen sie gehandelt? Haben wir das vorher wohl bedacht?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, unterbricht ihn Mr. Rouncewell. »Sir Leicester, würden Sie mir ein Wort gestatten? Ich glaube, dazu beitragen zu können, die Sache abzukürzen. Wenn Sie etwas so Unbedeutendes im Gedächtnis behalten haben sollten – was nicht zu erwarten ist –, werden Sie sich vielleicht entsinnen, daß mein erster Gedanke war, sie nicht hier zu lassen.«

– Die Gunst der Dedlocks nicht in Erwägung zu ziehen! O! – Sir Leicester müßte einem Paar Ohren, die er von einer solchen Reihe von Ahnen geerbt hat, mißtrauen, wenn er nicht so deutlich gehört hätte, was der Eisenwerksbesitzer soeben selbst sagte. –

»Es ist nicht notwendig«, bemerkt Mylady mit eisiger Kälte, ehe Sir Leicester noch etwas andres tun kann, als erstaunt Atem zu holen, »näher auf die Sache einzugehen. Rosa ist ein sehr gutes Mädchen, und ich habe ihr durchaus nicht auch nur das Geringste nachzusagen, aber sie ist insofern für all ihre Vorteile hier und ihr Glück unempfänglich, als sie eben – armes Närrchen – verliebt ist oder es zu sein glaubt.«

Sir Leicester erlaubt sich zu bemerken, daß das allerdings die Sache vollständig ändere. Er hätte gleich überzeugt sein können, daß Mylady die besten Gründe für ihre Ansicht habe, und er stimme vollständig mit Mylady überein. Ja, es sei tatsächlich besser, daß das junge Mädchen gehe.

»Wie Sir Leicester schon das letzte Mal bemerkte, wo uns diese Angelegenheit fatiguierte«, fährt Lady Dedlock gelangweilt fort, »können wir Ihnen nichts vorschreiben. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist das Mädchen hier durchaus nicht an seinem Platz, und es ist das Beste, sie geht. Ich habe ihr das selbst gesagt. Ziehen Sie vor, daß wir sie in das Dorf zurückschicken, oder wollen Sie sie selbst mitnehmen?«

»Lady Dedlock, wenn ich offen sprechen darf –«

»Ich bitte darum.«

»– so würde ich den Weg vorziehen, der Ihnen die Last am ehesten abnimmt und das Mädchen am frühesten aus seiner gegenwärtigen Lage entfernt.«

»Und um ebenso offen zu sprechen«, erwidert Mylady mit derselben einstudierten Gleichgültigkeit, »würde ich in Ihrer Lage auch so handeln. Verstehe ich Sie recht, Sie wünschen sie gleich mit sich zu nehmen?«

Der Eisengentleman macht eine steife Verbeugung.

»Sir Leicester, würden Sie wohl die Güte haben, zu klingeln?«

Mr. Tulkinghorn tritt aus der Fensternische und zieht die Klingel. »Ich habe Sie ganz vergessen, ich danke Ihnen.« Der Advokat macht seine gewohnte Verbeugung und tritt wieder ruhig in die Fenstervertiefung zurück. Der Merkur erscheint auf der Stelle, nimmt seine Instruktion, wen er zu bringen habe, entgegen, schwebt fort, bringt das Verlangte und verschwindet.

Rosa hat geweint und ist noch immer sehr bekümmert. Bei ihrem Eintritt steht der Eisenwerksbesitzer von seinem Sessel auf, zieht ihren Arm durch seinen und bleibt mit ihr bei der Tür stehen, bereit, sich zu empfehlen.

»Sie sind in guter Obhut, wie Sie sehen«, sagt Mylady in ihrer müden Weise, »und verlassen uns, verläßlichen Händen anvertraut. Ich habe Ihnen das Zeugnis ausgestellt, daß Sie sehr brav waren, und Sie haben keine Veranlassung zu weinen.«

»Immerhin«, bemerkt Mr. Tulkinghorn und tritt ein wenig aus der Nische hervor, »scheint es ihr leid zu tun, daß sie fortgeht.«

»Wohlerzogen ist sie allerdings nicht«, entgegnet Mr. Rouncewell ein wenig rasch und laut, als sei er froh, wenigstens über den Advokaten herfallen zu können. »Sie ist ein unerfahrnes junges Ding und weiß es nicht besser. Wenn sie hier geblieben wäre, Sir, würde sie sich sicher mehr Schliff angewöhnt haben.«

»Ohne Zweifel«, gibt Mr. Tulkinghorn gelassen zur Antwort.

Rosa schluchzt, es tue ihr sehr, sehr leid, Mylady zu verlassen, und sie sei so glücklich in Chesney Wold gewesen und so glücklich bei Mylady. Und immer und immer wieder dankt sie Mylady.

»Schweig doch schon, Kindchen«, redet ihr der Eisenwerksbesitzer leise und freundlich zu. »Du mußt dich ein wenig fassen, wenn du Wat gern hast.«

Mylady winkt ihr bloß gleichgültig und sagt: »Schon recht, schon recht, Kind! Sie sind ein gutes Mädchen. Gehen Sie nur!«

– Sir Leicester hat sich würdevoll von der Sache losgemacht und sich in das Heiligtum seines blauen Fracks zurückgezogen. Mr. Tulkinghorns unbestimmte Umrisse heben sich gegen die dunkle Straße, in der jetzt vereinzelte Lampen brennen, ab, und Myladys Augen scheinen noch größer und schwärzer als zuvor. –

»Sir Leicester und Lady Dedlock«, beginnt Mr. Rouncewell nach einigen Augenblicken, »ich bitte um Erlaubnis, mich verabschieden zu dürfen, und um Entschuldigung, wenn ich Sie, zwar nicht auf meine Veranlassung, aber doch immerhin noch ein Mal, belästigt habe. Ich kann mir recht gut vorstellen, ich versichere Ihnen, wie ermüdend eine solche nebensächliche Angelegenheit auf Lady Dedlock gewirkt haben muß. Wenn ich mir zweifelhaft bin, ob ich mich richtig dabei benommen habe, so ist dies nur hinsichtlich dessen der Fall, daß ich nicht gleich anfangs im stillen meinen Einfluß geltend machte, meine junge Freundin hier, ohne Sie vorher zu inkommodieren, wegzunehmen. Aber ich habe eben die Wichtigkeit der Sache überschätzt und glaubte mir schuldig zu sein, Ihnen das Verhältnis auseinandersetzen und Ihre Meinung darüber einholen zu müssen. Ich hoffe, Sie werden meine geringe Kenntnis der Gebräuche der feinen Welt entschuldigen.«

Sir Leicester glaubt bei dieser Bemerkung aus seinem Heiligtum heraustreten zu müssen. »Mr. Rouncewell, bitte, sprechen Sie nicht weiter davon. Eine Rechtfertigung ist, hoffe ich, auf keiner Seite nötig.«

»Es freut mich, das zu hören, Sir Leicester, und wenn ich als letztes Wort noch einmal auf das zurückkommen darf, was ich damals von der langjährigen Stellung meiner Mutter bei der Familie sagte, und auf den Wert, von dem sie auf beiden Seiten Zeugnis ablegt, so möchte ich jetzt auch auf dieses kleine Beispiel hier neben mir weisen, das beim Scheiden soviel Gefühl und Anhänglichkeit an den Tag legt und in dem gewiß meine Mutter zur Erweckung solcher Empfindungen, glaube ich, sagen zu dürfen, das ihre getan hat. Obgleich natürlich Lady Dedlock bei ihrer aus dem Herzen kommenden Teilnahme und ihrer gütigen Herablassung noch viel mehr getan hat.«

– Wenn er dies auch ironisch meint, so ist doch im Grunde mehr Wahres daran, als er selbst wissen kann. Er wendet sich bei seinen Worten zu dem Halbdunkel hin, in dem Mylady sitzt. –

Sir Leicester steht auf, um seine Verbeugung zu erwidern. Mr. Tulkinghorn klingelt wieder; wieder schwebt der Merkur herein und hinaus, und Mr. Rouncewell und Rosa verlassen das Haus.

Lichter werden gebracht.

Immer noch steht Mr. Tulkinghorn, die Hände auf dem Rücken, im Fenster, und immer noch sitzt Mylady da, und seine Gestalt benimmt ihr die Aussicht auf die Nacht und auf den Tag. Sie ist sehr blaß. Mr. Tulkinghorn bemerkt es, als sie aufsteht, um zu gehen, und denkt sich:

»Sie hat –wahrhaftig Ursache dazu. Ihre Seelenstärke ist wirklich erstaunlich. Die ganze Zeit über hat sie eine eingelernte Rolle gespielt.«

Aber auch er kann seinerseits eine Rolle spielen – seine gewohnte unveränderliche Rolle. Und wie er dieser Frau die Tür öffnet, könnten auch fünfzig Paar Augen, jedes einzelne fünfzig Mal schärfer als das Sir Leicesters, keine Spur von Rachsucht in ihm entdecken.

Lady Dedlock speist heute allein auf ihrem Zimmer. Sir Leicester muß schleunigst der Doodle-Partei gegen die Coodle-Faktion beispringen. Als sich Lady Dedlock zu Tisch setzt, immer noch totenblaß, fragt sie, ob er schon fort ist.

Ja.

Ob Mr. Tulkinghorn auch schon fort ist.

Nein.

Womit er sich beschäftige?

Der Merkur glaubt, er schreibe Briefe im Bibliothekszimmer, und ob Mylady ihn zu sprechen wünsche?

Keineswegs!

Aber er wünscht Mylady zu sprechen. Nach wenigen Minuten läßt er sich durch den Diener empfehlen und bei Mylady anfragen, ob er nach dem Essen ein paar Worte mit ihr sprechen könne. Mylady wünscht es gleich jetzt.

Er kommt, bittet um Entschuldigung, daß er störe, und sie bleibt am Tisch sitzen. Als sie allein sind, winkt Mylady mit der Hand, allen Firlefanz sein zu lassen. »Was wünschen Sie, Sir?«

»Wirklich, Lady Dedlock«, sagt der Advokat, nimmt auf einem Stuhl in einiger Entfernung von ihr Platz und reibt sich die rostigen Beinkleider auf und ab, auf und ab, auf und ab. »Wirklich, ich bin sehr erstaunt über Ihr Vorgehen.«

»Wirklich?«

»Ja, ganz entschieden. Ich sehe darin eine Verletzung unsres Übereinkommens und Ihres gegebnen Versprechens. Es versetzt uns in eine neue Lage, Lady Dedlock. Ich fühle mich vor die Notwendigkeit gestellt, zu sagen, daß ich es nicht billige.«

Er hält mit dem Reiben inne und sieht sie an, die Hände auf die Knie gestützt.

So undurchdringlich und unverändert er scheinbar ist, so liegt doch in seinem Benehmen eine gewisse Freiheit, die an ihm neu ist und Myladys Blick nicht entgeht.

»Ich verstehe Sie nicht ganz.«

»Ich glaube doch. Ich bitte Sie, Lady Dedlock, wollen wir jetzt nicht mit Worten kämpfen. Sie wissen selbst, daß Sie dieses Mädchen gern haben.«

»Nun, und, Sir?«

»Und Sie wissen – ebenso wie ich –, daß Sie das Mädchen nicht aus den Gründen, die Sie angegeben haben, entließen, sondern um sie soviel wie möglich von – entschuldigen Sie, daß ich es als etwas rein Geschäftliches erwähne – vor jeder Bloßstellung, die Ihnen droht, zu trennen.«

»Nun, und, Sir?«

»Nun, Lady Dedlock«, der Advokat schlägt die Beine übereinander und faltet die Hände auf dem Knie, »dagegen habe ich gar mancherlei einzuwenden. Ich halte diesen Schritt für gefährlich. Erstens ist er nicht nötig, zweitens geeignet, Zweifel, Gerüchte und ich weiß nicht, was sonst alles noch im Hause zu erwecken, und drittens ist es ein Bruch unsrer Vereinbarung. Sie hatten genau so zu bleiben, wie Sie vorher waren. Und es ist Ihnen doch selbst klar, daß Sie an diesem Abend dem zuwiderhandelten. Mein Himmel, Lady Dedlock, einfach zuwiderhandelten!«

»Wenn ich in der Erkenntnis meines Geheimnisses…«

Mr. Tulkinghorn unterbricht sie: »Ich muß bitten, Lady Dedlock, das ist eine Geschäftssache, und in einer solchen kann man die Worte nicht präzis genug wählen. Es ist nicht länger Ihr Geheimnis. Sie entschuldigen schon, aber darin liegt eben der Irrtum. Es ist mein Geheimnis, Sir Leicester und der Familie gegenüber. Wenn es Ihr Geheimnis wäre, Lady Dedlock, säßen wir nicht hier und hielten nicht diese Unterredung miteinander.«

»Das ist sehr wahr, Mr. Tulkinghorn. Aber eben, weil ich das Geheimnis kenne, tue ich mein möglichstes, damit nicht auf ein unschuldiges Mädchen ein Schatten von der mir drohenden Schande fällt… Wenn ich an Ihre eigne Äußerung denke, als Sie meine Geschichte den versammelten Gästen in Chesney Wold erzählten, liegt doch das im Bereich der Möglichkeit. Ich habe also nach einem festen Entschluß gehandelt, und nichts in der Welt und kein Mensch auf Erden könnten mich darin wankend machen oder hätten mich bestimmen können, anders zu handeln.«

– Sie sagt dies mit großer Überlegung und Deutlichkeit und ebenso leidenschaftlich, wie er selbst ist. –

»Wirklich? Dann, Lady Dedlock«, entgegnet er ganz methodisch, als ob sie irgendein empfindungsloses Rad in seinen Machinationen sei, »müssen Sie selbst einsehen, daß kein Verlaß auf Sie ist. Sie selbst haben die Sache ganz unverschleiert dargestellt.«

»Vielleicht werden Sie sich erinnern, daß ich hinsichtlich dieses Punktes, als wir damals in Chesney Wold miteinander sprachen, eine gewisse Angst an den Tag legte, Mr. Tulkinghorn?«

»Ja«, sagt Mr. Tulkinghorn, steht gleichgültig auf und lehnt sich an den Kamin. »Ja. Ich erinnere mich, Lady Dedlock, daß Sie allerdings von dem Mädchen sprachen, aber das geschah, bevor wir unsre Übereinkunft trafen, und sowohl der Buchstabe wie der Geist unsrer Abmachung schließt jeden freien Schritt Ihrerseits, insofern er mit der Entdeckung, die ich gemacht habe, irgendwie zusammenhängt, vollständig aus. Darüber kann gar kein Zweifel bestehen. Sie sprechen von notwendiger Schonung des Mädchens, aber ich frage, welche Wichtigkeit oder welchen Wert hat diese Person? – Schonen! – Lady Dedlock, die Ehre eines Familiennamens steht auf dem Spiel! Man hätte doch denken sollen, der Weg hätte geradeaus, über alles hinweg, weder nach rechts noch nach links, gehen müssen, ohne Rücksicht auf irgend etwas zu nehmen, und ohne Schonung.«

– Mylady hat bisher den Tisch angesehen und wendet dem Advokaten nun ihre Augen zu. Ein finsterer Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht, und man sieht, wie sie die Zähne zusammenbeißt. »Diese Frau versteht mich«, denkt Mr. Tulkinghorn, während sie wieder wegsieht. »Sie rechnet nicht auf Schonung. Warum schont sie andre?« –

– Eine kleine Weile schweigen beide. Lady Dedlock hat keinen Bissen gegessen und nur ein paar Mal mit fester Hand einen Schluck Wasser genommen. Sie steht vom Tische auf, nimmt einen Lehnstuhl und legt sich darin zurück. Nichts in ihren Mienen drückt Schwäche aus oder bittet um Mitleid. Sie ist gedankenvoll auf sich selbst konzentriert. –

»Diese Frau«, denkt Mr. Tulkinghorn, der jetzt vor dem Kamin steht und wieder als schwarzer Hintergrund ihr die Aussicht versperrt, »ist ein Studium.«

Er studiert sie in Muße und spricht eine Zeitlang nicht. Auch sie grübelt über irgend etwas nach. Es ist so unwahrscheinlich, daß sie das erste Wort spräche, und wenn er auch bis Mitternacht noch dastünde, daß er sich schließlich genötigt sieht, das Stillschweigen zu brechen.

»Lady Dedlock. Es bleibt uns noch der unangenehmste Teil dieser geschäftlichen Unterredung zu erledigen. Aber es ist eben eine Geschäftssache. Unsre Abmachung ist nicht eingehalten worden. Eine Dame von Ihrer Einsicht und Charakterstärke wird darauf vorbereitet sein, daß ich sie jetzt als aufgehoben erkläre und meinen eignen Weg gehen werde.«

»Ich bin auf alles gefaßt.«

Mr. Tulkinghorn verneigt sich.

»Ich habe Sie mit nichts weiter mehr zu belästigen, Lady Dedlock.«

Als er das Zimmer verlassen will, hält sie ihn noch mit der Frage zurück:

»Das soll wohl die versprochne Benachrichtigung sein? Ich wünsche nicht, Sie mißzuverstehen.«

»Nicht genau in dem Sinn, Lady Dedlock, wie ich Sie Ihnen zugesagt habe, da das voraussetzte, daß unsre Abmachung eingehalten würde, aber im Grunde genommen ist sie es. Ein Unterschied ist nur in den Augen eines Juristen vorhanden.«

»Sie beabsichtigen also, mir keine andre Warnung zukommen zu lassen?«

»So ist es. Nein.«

»Beabsichtigen Sie, Sir Leicester heute abend aufzuklären?«

»Eine Frage, die auf den Kern losgeht«, sagt Mr. Tulkinghorn mit einem schwachen Lächeln und schüttelt vorsichtig den Kopf. »Nein, heute nicht.«

»Morgen?«

»Wenn ich mir alles genau überlege, muß ich die Beantwortung dieser Frage verweigern, Lady Dedlock. Wenn ich sagte, ich wüßte nicht genau, wann, würden Sie mir nicht glauben, und das hätte also keinen Zweck. Es könnte morgen sein. Ich will lieber nichts weiter sagen. Sie sind vorbereitet, und ich will keine Hoffnungen erwecken, die die Umstände vielleicht nicht rechtfertigen könnten. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«

Sie entfernt die Hand von ihrer Stirn, wendet ihm ihr bleiches Gesicht zu, und wie er schweigend zur Türe geht und sie eben öffnen will, ruft sie ihn noch ein Mal zurück.

»Gedenken Sie noch einige Zeit im Haus zu bleiben? Ich hörte, Sie schrieben in der Bibliothek Briefe. Gehen Sie wieder dorthin?«

»Nur um meinen Hut zu holen. Ich gehe nach Hause.«

Sie grüßt mehr mit den Augen als mit dem Kopf, so leise und seltsam ist ihre Bewegung, und er zieht sich zurück. Draußen sieht er auf seine Uhr und scheint zu mutmaßen, sie könne eine Minute oder zwei falsch gehen, und vergleicht sie daher mit einer prachtvollen Wanduhr auf der Treppe, die, was bei solchen Prunkstücken selten vorkommt, wegen ihres genauen Ganges berühmt ist. »Und was sagst du?« fragt Mr. Tulkinghorn diese Uhr. »Was sagst du?«

Was, wenn sie jetzt sagte: Geh nicht nach Hause?! Was für eine berühmte Uhr würde sie erst werden, wenn sie gerade heute nacht von allen Nächten, die sie schon abgezählt hat, gerade zu diesem alten Mann von all den jungen und alten Leuten, die schon vor ihr gestanden haben, sagen würde: Geh nicht nach Hause!

Mit ihrer lauten hellen Glocke schlägt sie dreiviertel nach sieben und tickt dann weiter.

»Was, du bist ja schlimmer, als ich dachte«, sagt Mr. Tulkinghorn tadelnd zu seiner Taschenuhr. »Zwei Minuten falsch ? Auf diese Art wirst du nicht bei mir bis zu meinem Lebensende aushalten können.«

Wie schön von ihr, vergälte jetzt die Uhr Böses mit Gutem, wenn sie ihm zur Antwort geben würde: Geh nicht nach Hause.

Er tritt auf die Straße und geht, die Hände auf dem Rücken, im Schatten der hohen Häuser dahin, von deren Geheimnissen, Verlegenheiten, Schulden und delikaten Angelegenheiten jeder Art so manches hinter seiner schwarzen Atlasweste aufgespeichert liegt. Er scheint sogar mit den bloßen Mauern im vertrauten Verhältnis zu stehen, und – wer weiß – vielleicht telegraphieren ihm die hohen Schornsteine Familiengeheimnisse zu. Aber keiner von ihnen hat eine Stimme, die ihm zuflüstern würde: Geh nicht nach Hause.

Durch das Leben und Treiben der weniger nobeln Straßen, durch das Geräusch und Getümmel vieler Fuhrwerke, zahlloser Füße und Stimmen, an den grellen beleuchteten Ladenfenstern vorbei, dem Westwind entgegen, schiebt ihn das Gedränge erbarmungslos vorwärts, und nichts ist da, was zu ihm träte und ihm zuflüsterte: Geh nicht nach Hause.

Und wie er endlich sein stilles Zimmer erreicht und die Kerzen anzündet und um sich schaut und den Römer von der Decke herunterdeuten sieht, da ist in dessen Hand keine andre Bedeutung als sonst und warnt ihn nicht: Bleib nicht hier.

Es ist eine helle Nacht, aber der Mond, der eben im Abnehmen begriffen ist, geht erst jetzt über der großen Wildnis von London auf. Die Sterne glänzen wie damals über dem bleiernen Turmdach von Chesney Wold, und die Frau blickt wieder zu ihnen auf wie damals, und in ihrer Seele stürmt es wild. Ihr Herz ist krank und ruhelos. Die großen Zimmer sind ihr zu schwül und eng. Sie kann es nicht länger in ihnen aushalten und will in einem benachbarten Garten allein spazieren gehen. Zu launenhaft und herrisch in allem, was sie tut, als daß sich irgend jemand über etwas verwundern sollte, was sie für gut befindet, geht sie, einen Plaid um die Schultern, in den Mondschein hinaus.

Der Merkur begleitet sie mit dem Schlüssel. Nachdem er die Gartenpforte geöffnet hat, übergibt er ihn Mylady auf ihr Verlangen und erhält den Befehl, wieder hineinzugehen. Sie wolle hier eine Zeitlang spazieren gehen, weil sie Kopfweh habe. Vielleicht eine Stunde, vielleicht länger. Sie bedürfe keiner weitern Begleitung.

Die Gitterpforte fällt klirrend zu, und sie schreitet hinaus in den dunkeln Schatten der Bäume.

Eine schöne Nacht, ein heller Vollmond, unzählige Sterne.

Mr. Tulkinghorn hat zu seinem Keller mit den widerhallenden vielen Türen über einen kleinen gefängnisartigen Hof zu gehen. Er blickt unwillkürlich empor und denkt: Was für eine schöne Nacht, der Vollmond so hell, und die Millionen von Sternen! Eine stille herrliche Nacht!

Ja, eine sehr stille Nacht!

Wenn der Mond besonders hell scheint, so ist es, als gösse er eine Einsamkeit und Stille über die Erde, die selbst menschenreiche und belebte Orte beeinflußt. Die Nacht ist nicht nur still auf staubigen Landstraßen und Hügelgipfeln und auf der weiten Strecke Land ringsum, die stiller und stiller wird, wie sie in einem Waldsaum in den Himmel verläuft mit dem grauen Gespenst des Nachtnebels darüber. In Ruhe liegen die Wälder und Gärten und die frischen grünen Wiesen, an denen das Wasser murmelnd zwischen lieblichen Inseln, flüsterndem Schilf und über Fischwehre dahinglitzert. Überall ist stille Nacht. Auch wo der Strom vorüberfließt an den dicht sich drängenden Häusern, unter den vielen Brücken hindurch, die ihre Bogen in seiner Fläche widerspiegeln, an den Werften vorüber, wo die vor Anker liegenden Schiffe ihm ein schwarzes und schauerliches Aussehen geben. Stille der Nacht überall auf dem Marschland, dessen Signalstangen wie an das Ufer geschwemmte Gerippe aussehen – auf sanft geflügeltem Land, reich an Kornfeldern, Windmühlen und Kirchtürmen. Stille Nacht auf dem ewig wogenden Meer –, an der Küste, wo der Wächter steht und das Schiff mit ausgebreiteten Fittichen quer über seinen Lichtpfad gleiten sieht – Stille selbst über der Wildnis Londons. Die Kirchtürme und der große, große Dom werden ätherischer, die verräucherten Giebel der Häuser verlieren ihre Körperlichkeit in dem bleichen Glanz, das Lärmen auf der Straße wird gedämpfter, und die Schritte auf dem Pflaster gehen ruhiger vorüber als sonst. In diesen Gefilden, wo Mr. Tulkinghorn wohnt und die Schäfer auf ihren Kanzleigerichtspfeifen spielen, unablässig, ohne Pause, und ihre Schafe wohl oder übel festzuhalten wissen, bis sie ganz kahl geschoren sind, verschwimmt jedes Geräusch in dieser Mondnacht in ein ferntönendes Gesumm, als wäre die Stadt ein großes vibrierendes Glas.

Was ist das? Jemand hat eine Flinte oder Pistole abgeschossen. Wo?

Ein paar verspätete Fußgänger fahren zusammen, bleiben stehen und sehen sich erstaunt um. Hie und da gehen Fenster und Türen auf, und Leute treten heraus, um spähend umherzublicken. Es war ein lauter Knall mit schwerem rollendem Echo.

»Das Haus hat förmlich gezittert«, sagt ein Mann, der vorüberging.

Der Schuß hat alle Hunde in der Nachbarschaft aufgeweckt, und sie bellen heftig. Erschrockne Katzen huschen über die Straße. Noch bellen die Hunde, und einer heult wie ein Dämon – da fangen die Turmuhren zu schlagen an, als seien auch sie erschrocken. Das Summen auf den Straßen scheint einen Augenblick zu einem Toben anzuschwellen. Aber es ist bald vorbei. Noch ehe die letzte Uhr anfängt, zehn zu schlagen, nimmt das Geräusch schon ab. Und als sie aufgehört hat, senken die schöne Nacht, der klare Vollmond und das Abertausend von Sternen wieder den alten Frieden herab.

Hat es Mr. Tulkinghorn gestört?

Seine Fenster sind dunkel und still, und seine Türe geschlossen. Ja, das müßte etwas ganz Ungewöhnliches sein, was ihn veranlassen würde, aus seinem Schneckenhaus herauszukommen. Man hört und sieht nichts von ihm. Ob wohl ein Kanonenschuß den verrosteten alten Mann aus seiner unerschütterlichen Fassung bringen könnte?

Seit vielen Jahren hat der beharrliche Römer, ohne damit etwas Besonderes haben sagen zu wollen, von der Decke heruntergedeutet. Es ist nicht wahrscheinlich, daß er heute nacht damit etwas Besonderes meint. Wer ein Mal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht, ob’s jetzt ein Römer oder sogar ein Brite ist. Darum bleibt er jetzt in seiner unmöglichen Stellung und deutet und deutet – erfolglos – die ganze Nacht herunter.

Mondlicht, Dunkelheit, Dämmerung, Morgenrot, Tag. Immer noch deutet er eifrig herunter, und niemand achtet auf ihn.

Aber kurz nach Tagesanbruch kommen Leute, um die Zimmer zu reinigen. Entweder sagt der Römer jetzt wirklich die Wahrheit, oder der erste der Leute, die hereinkommen, ist plötzlich verrückt geworden, denn wie er hinaufblickt zur Decke und dem ausgestreckten Finger folgt, schreit er auf und läuft davon. Die andern blicken ins Zimmer, so wie der erste hineinblickte, und auch sie schreien auf und laufen davon. Alarm entsteht in den Straßen.

Was hat das zu bedeuten? Man läßt kein Licht in das verfinsterte Zimmer, und Leute, die sonst nie hineinkommen, treten auf den Fußspitzen ein und kommen schweren Tritts wieder heraus, tragen etwas in das Schlafzimmer und legen es hin. Den ganzen Tag geht ein Flüstern der Verwunderung durch die Straßen. Nachforschung wird gehalten in jeder Ecke, Fußstapfen auf Fußstapfen aufmerksam verfolgt und sorgfältig die Stellung jedes Stücks Hausrat betrachtet. Aller Augen blicken hinauf zu dem Römer, und Stimmen murmeln: Wenn der reden könnte!

Er deutet beharrlich auf einen Tisch mit einer fast noch vollen Flasche Wein und einem Glas darauf und zwei Kerzen, die kurz nach dem Anbrennen ausgeblasen worden sein müssen. Er deutet auf einen leeren Stuhl und auf einen Fleck auf dem Fußboden davor, den man mit einer Hand bedecken kann. Eine aufgeregte Phantasie könnte sich einreden, es läge darin etwas so Schreckliches, daß das ganze Deckengemälde samt den dickbeinigen Amoretten, samt Wolken, Blumen und Pfeilern, kurz, die ganze Allegorie an Leib und Seele, verrückt werden müßte. Jeder, der in das verdunkelte Zimmer tritt und sich diese Sachen ansieht, blickt auch hinauf zu dem Römer, der jetzt in aller Augen etwas Geheimnisvolles und Schauerliches hat und aussieht wie ein vom Schlag getroffner stummer Zeuge.

Viele Jahre lang noch werden Schauergeschichten von dem Fleck auf dem Fußboden erzählt werden, der so leicht zu bedecken und so schwer wegzuwaschen war; und der Römer wird, solange Staub und Feuchtigkeit und Spinnen ihn verschonen, mit viel größerer Bedeutung als jemals zu Mr. Tulkinghorns Lebzeiten, vom Tode berichtend, herunterdeuten.

Mr. Tulkinghorns Zeit ist vorüber für immer, und der Römer deutete auf die Mörderhand, die sich gegen das Leben erhoben, und deutete rastlos auf den, der den Abend bis Morgen mit dem Gesicht auf dem Fußboden dagelegen hat, mitten durch das Herz geschossen.

5. Kapitel


5. Kapitel

Ein Morgenabenteuer

Obgleich der Morgen rauh war und der Nebel immer noch dicht zu sein schien – ich sage ’schien‘ – denn die Fensterscheiben waren so mit Schmutz überzogen, daß der hellste Sonnenschein durch sie trübe ausgesehen hätte –, konnte ich mir doch das Unbehagliche eines Morgens in diesem Hause zu deutlich vorstellen und war zu neugierig auf London, um den Vorschlag Miß Jellybys, einen Spaziergang zu machen, nicht für einen guten Gedanken zu halten.

»Mama wird so bald nicht herunterkommen«, sagte sie, »und dann wird möglicherweise das Frühstück eine Stunde später fertig. Sie trödeln so. Pa nimmt, was er kriegen kann, und geht dann ins Bureau. Ein ordentliches Frühstück hat er in seinem Leben noch nicht gehabt. Priscilla läßt ihm am Abend vorher Brot und Milch draußen, wenn welche da ist. Manchmal ist keine da, und manchmal säuft sie die Katze. Aber ich fürchte, Sie werden müde sein, Miß Summerson, und möchten sich vielleicht lieber ins Bett legen.«

»Ich bin durchaus nicht müde, liebes Kind, und würde viel lieber ausgehen.«

»Wenn Sie wirklich Lust haben«, sagte Miß Jellyby, »will ich mich anziehen.«

Ada erklärte sich ebenfalls bereit mitzugehen und war bald fertig. Peepy machte ich den Vorschlag, ich wolle ihn waschen – da ich nichts Besseres für ihn tun konnte – und ihn dann wieder in mein Bett legen. Er ließ sich das mit der besten Miene, die man von ihm erwarten konnte, gefallen und glotzte mich während der ganzen Prozedur an, als wäre er in seinem ganzen Leben noch nie so erstaunt gewesen. Er sah dabei recht weinerlich aus, war aber ganz still und fiel sogleich in tiefen Schlaf, als alles vorbei war.

Anfangs hatte ich so meine Bedenken, ob ich mir solche Freiheiten herausnehmen dürfe, aber dann fiel mir ein, daß niemand im Hause es bemerken würde.

Das Kind zu waschen, mich anzuziehen und Ada zu helfen, machte mich bald ziemlich warm. Miß Jellyby fanden wir am Kamin im Schreibzimmer stehen, wo Priscilla mit einem rußigen Talglicht ein Feuer anzuzünden bemüht war. Damit es besser brenne, warf sie schließlich die Kerze hinein. Alles lag noch so da, wie wir es am Abend verlassen hatten, und sollte offenbar immer so bleiben. Unten war das Tischtuch nicht weggenommen, sondern für das Frühstück liegen geblieben. Krumen, Staub und zerknülltes Papier lagen überall im Hause herum. Ein paar blecherne Bierkrüge und eine Milchkanne hingen auf dem Hofgitter. Die Türe stand offen, und wir begegneten der Köchin an der nächsten Ecke, wie sie gerade aus einer Schenke kam und sich den Mund wischte. Sie sagte uns im Vorbeigehen, sie habe nachgesehen, wie spät es sei. Vorher trafen wir noch Richard, der Thavies Inn auf und ab tanzte, um sich die Füße zu wärmen. Unser frühzeitiges Erscheinen überraschte ihn höchst angenehm, und er schloß sich mit großer Freude unserm Spaziergang an.

So nahm er Ada unter seine Obhut, und Miß Jellyby und ich gingen voraus. Miß Jellyby hatte wieder ihr mißgelauntes Wesen angenommen, und ich würde ihr nicht geglaubt haben, daß sie mich so gerne habe, wenn sie es mir nicht wiederholt gesagt hätte.

»Wohin wollen wir gehen?« fragte sie.

»Irgendwohin, liebes Kind.«

»Irgendwohin heißt nirgendshin«, sagte sie und machte störrisch halt.

»Nun, so machen Sie selbst einen Vorschlag!«

Sie fing darauf an, sehr rasch zu gehen.

»Mir ist alles gleich«, rief sie aus. »Sie haben es gehört, Miß Summerson, ich sage, mir ist alles gleich – aber wenn er auch mit seiner glänzenden buckligen Stirn jeden Abend zu uns käme, bis er so alt wäre wie Methusalem, würde ich kein Wort mit ihm sprechen. Zu was für Eseln er und Mama sich machen!«

»Aber Kind«, mußte ich sagen, »Ihre Pflicht als Tochter –«

»Ach, sprechen Sie mir nicht von Kindespflicht, Miß Summerson; erfüllt Mama vielleicht ihre Mutterpflicht? Immerfort Afrika und Öffentlichkeit! Soll Afrika und die Öffentlichkeit Kindespflicht an den Tag legen; sie haben mehr damit zu tun als ich! Das empört Sie wahrscheinlich! Nun, mich empört’s auch; so empört uns die Sache beide, und damit Schluß.«

Sie führte mich noch schneller die Straße entlang.

»Aber trotz alledem, ich sage noch einmal, mag er kommen und kommen und wieder kommen, ich habe mit ihm nichts zu schaffen. Ich kann ihn nicht ausstehen. Wenn ich etwas auf der Welt hasse und verabscheue, so ist es das Zeug, was er und Mama miteinander schwatzen. Ich wundere mich nur, daß die Pflastersteine vor unserm Haus Geduld haben, dort zu bleiben und Zeuge zu sein von solchen Widersprüchen und all dem hohltönenden Unsinn und von Mamas Wirtschaft.«

Sie konnte natürlich nur Mr. Quale meinen, den jungen Herrn, der gestern nach dem Essen erschienen war.

Aus der unangenehmen Lage, mehr über dieses Thema hören zu müssen, retteten mich Richard und Ada, indem sie uns jetzt in scharfem Schritt nachkamen und lachend fragten, ob wir einen Wettlauf veranstalten wollten. So unterbrochen, wurde Miß Jellyby still und ging mürrisch neben mir her, während ich den häufigen Szenenwechsel und die Verschiedenartigkeit der Straßen bewunderte und die vielen schon so früh umhereilenden Leute, die Menge Wagen, die Geschäftigkeit beim Auskehren der Läden und beim Arrangieren der Auslagen und die seltsamen zerlumpten Gestalten, die verstohlen im Kehricht nach Nadeln und anderm Abfall wühlten, anstaunte.

»Schauen Sie nur, Kusine«, sagte hinter mir Richards heitere Stimme zu Ada, »es scheint, als sollten wir gar nicht aus dem Kanzleigericht herauskommen! Wir sind auf einem andern Weg wieder zu dem Ort unseres gestrigen Zusammentreffens gekommen und – beim Großen Siegel –da steht schon wieder die alte Frau!«

Und wirklich, da stand sie, unmittelbar vor uns, knicksend und lächelnd, und sagte mit ihrer gestrigen Gönnermiene:

»Die Mündel in Sachen Jarndyce! Schätze mich unendlich glücklich!«

»Sie stehen zeitig auf, Maam«, sagte ich, als sie mir ihren Knicks machte.

»Ja-a! Ich gehe gewöhnlich hier früh spazieren! Ehe die Sitzung anfängt. Es ist so still hier. Ich sammle hier meine Gedanken für die Geschäfte des Tages«, schwätzte die Alte geziert. »Das Geschäft verlangt sehr viel Überlegung. Dem Kanzleigerichtsrecht zu folgen, ist unendlich schwer.«

»Wer ist das, Miß Summerson?« fragte mich flüsternd Miß Jellyby und drückte meinen Arm fester an sich.

Das Gehör der kleinen Alten war merkwürdig scharf. Sie antwortete auf der Stelle selbst.

»Eine Prozessierende, mein Kind. Zu dienen. Ich habe die Ehre, den Gerichtssitzungen regelmäßig beizuwohnen. Mit meinen Dokumenten. Habe ich die Ehre, mit noch einer der jungen Parteien in Sachen Jarndyce zu sprechen?« fragte sie und richtete sich, den Kopf auf die Seite geneigt, von einem sehr tiefen Knicks wieder auf.

Richard, der seinen gestrigen Verstoß wieder gut machen wollte, setzte mit großer Gutmütigkeit auseinander, daß Miß Jellyby mit dem Prozeß nichts zu tun habe.

»So, so! Sie erwartet also kein Urteil? Sie wird aber doch alt werden. Aber nicht so alt. O Gott nein. Das ist der Garten von Lincoln’s-Inn. Ich nenne ihn meinen Garten. Er ist ein wahres Paradies im Sommer. Wo die Vögel melodisch singen. Ich verbringe die größte Zeit der langen Gerichtsferien hier. In Betrachtung. Die großen Ferien kommen Ihnen wohl auch außerordentlich lang vor?«

– Wir sagten ja, da sie es zu erwarten schien. –

»Wenn die Blätter von den Bäumen fallen und keine Blumen mehr blühen, um zu Sträußen für den Gerichtshof des Lordkanzlers gebunden zu werden, dann sind die Ferien um, und das sechste Siegel, von dem in der Offenbarung die Rede ist, kommt wieder hervor. Bitte, kommen Sie mit und sehen Sie sich meine Wohnung an. Es wäre ein gutes Omen für mich! Jugend und Hoffnung und Schönheit kommen sehr selten hin. Seit langer, langer Zeit haben sie mich nicht besucht.«

Sie hielt mich bei der Hand gefaßt und zog mich und Miß Jellyby vorwärts, während sie Richard und Ada winkte, nachzukommen.

Ich fand keine Ausflucht und blickte hilfesuchend auf Richard. Da ihm die Sache Spaß machte und seine Neugierde erregte und ihm ebenfalls nichts einfiel, wie er die Alte loswerden könnte, ohne sie zu beleidigen, so führte sie uns unbehindert weiter, und er und Ada folgten uns. Ununterbrochen versicherte uns diese seltsame Führerin mit lächelnder Herablassung, daß sie ganz in der Nähe wohne.

Das stimmte. Sie wohnte in so unmittelbarer Nähe, daß wir gar keine Zeit gehabt hätten, uns zu sträuben, und schon in wenigen Augenblicken vor ihrer Wohnung standen. Sie führte uns durch ein kleines Seitenpförtchen in eine schmale Nebengasse, die zu Lincoln’s-Inn gehörte, blieb plötzlich stehen und sagte: »Hier wohne ich. Bitte, treten Sie ein.«

Wir hielten vor einem Laden, über dem geschrieben stand:

Krook: Hadern- und Flaschenlager

darunter in langen dünnen Buchstaben:

Krook: Lager von Kram aller Art

In einem Fenster hing das Bild einer roten Papiermühle, vor der aus einem Wagen Säcke mit Hadern abgeladen wurden. Auf einer andern Scheibe stand:

Ankauf von Knochen

auf einer dritten:

Ankauf von Küchenabfall

auf einer vierten:

Ankauf von altem Eisen

auf einer fünften:

Ankauf von altem Papier

auf einer sechsten:

Ankauf von Herren- und Damenkleidern

Alles schien hier gekauft und nichts verkauft zu werden.

Die Auslage war voll von schmutzigen Flaschen aller Art: Wichsflaschen, Medizin-, Ingwerbier- und Sodawasserflaschen, Einmachgläsern, Wein- und Tintenkrügen. Besonders letztere verliehen dem Laden das Aussehen, zumal er in der Nachbarschaft eines Gerichts sich befand, als ob er gewissermaßen ein schmieriger Schmarotzer oder verstoßener Verwandter des Gesetzes sei. Ihre Zahl war sehr groß. Vor der Tür stand eine kleine, wacklige Bank mit modrigen alten Bänden darauf und einem Zettel:

Juristische Bücher, 9 d das Stück

Von den erwähnten Inschriften waren mehrere mit einer Kanzlistenhand geschrieben, ähnlich den Akten, die ich in der Kanzlei von Kenge & Carboy gesehen, und den Briefen, die ich während so langer Zeit empfangen hatte. Mitten unter ihnen prangte ein Zettel von der gleichen Handschrift, der aber nichts mit dem Geschäfte zu tun hatte, sondern meldete, daß ein anständiger Mann von fünfundvierzig Jahren sich zum reinlichen und pünktlichen Abschreiben juristischer und anderer Schriften empfehle: Adresse: Nemo, abzugeben bei Mr. Krook, hierselbst.

Auch einige alte Advokatentaschen, blaue und rote, hingen herum. Nicht weit von der Tür lagen im Laden auf dem Fußboden Haufen von alten zerknitterten Pergamentrollen und vergilbten Akten mit großen Eselsohren. Die rostigen Schlüssel, die als altes Eisen zu Hunderten übereinander gehäuft waren, mochten wohl früher dazu bestimmt gewesen sein, die Zimmer oder die Akten- und Geldschränke von Kanzleien abzuschließen. Dicke Lumpenbündel, halb aus einer einbeinigen hölzernen Waagschale, die ohne Gegengewicht von einem Balken herabbaumelte, heraushängend, schienen aus zerrissenen Talaren von Anwälten zu bestehen, man brauchte sich nur noch einzubilden, wie Richard Ada und mir zuflüsterte, als wir in der Türe standen, daß der Haufen abgenagter Knochen in der Ecke aus Klientengebeinen bestünde, und das Bild wäre vollständig gewesen.

Da es immer noch neblig und dunkel war und außerdem die nur wenige Schritte entfernte Mauer von Lincoln’s-Inn das Licht absperrte, würden wir wenig gesehen haben, wenn sich nicht ein alter Mann mit Brille und Pelzmütze im Laden mit einer brennenden Laterne herumbewegt hätte. Er wendete sich zufällig nach der Tür und erblickte uns.

Er war klein, leichenhaft und verwittert; der Kopf stak ihm schief zwischen den Schultern, und wie der Atem als sichtbarer Dampf aus seinem Munde kam, sah der Mann aus, als ob er inwendig brenne. Hals, Kinn und Augenbrauen waren so bereift mit weißen Haaren und so runzlig von Adern und Hautfalten, daß er aussah wie eine alte überschneite Wurzel.

»Hihi«, sagte der Alte und trat in die Tür. »Haben Sie etwas zu verkaufen?«

Wir wichen natürlich einen Schritt zurück und sahen unsere Führerin an, die sich bemühte, das Haustor mit einem Schlüssel zu öffnen, nach dem sie lange in der Tasche herumgesucht hatte. Richard sagte zu ihr, wir wollten uns, zumal wir nicht viel Zeit hätten, verabschieden, da wir ihre Wohnung jetzt wüßten. Aber so leichten Kaufes war von ihr nicht loszukommen. Sie benahm sich so phantastisch und bat so ernst und dringend, mit ihr hinaufzukommen und nur einen Augenblick ihre Behausung anzusehen, beharrte in ihrer harmlosen Weise so hartnäckig darauf, besonders mich als gutes Omen hineinzuführen, daß ich ihr gewähren mußte, ohne erst die andern fragen zu können.

Wahrscheinlich waren wir alle mehr oder weniger neugierig; – jedenfalls wurden wir es, als der alte Mann sie mit seinen Überredungskünsten unterstützte und uns zuredete: »Ja, ja! Tun Sie ihr doch den Gefallen! Kostet höchstens eine Minute! Nur herein, nur herein! Kommen Sie durch den Laden, wenn die andere Tür nicht aufzuschließen geht.«

Wir traten daher alle, ermutigt durch Richards fröhliche Laune und auf seinen Schutz vertrauend, ein.

»Mein Hauswirt Krook«, stellte die kleine Alte mit großer Herablassung den Ladeninhaber vor. »Seine Nachbarn nennen ihn den Lordkanzler. Sein Laden heißt: Der Kanzleigerichtshof. Ein sehr exzentrischer Mann. Kurioser Kauz. Ich versichere Ihnen, er ist sehr sonderbar.«

Sie nickte wiederholt und deutete mit dem Finger auf die Stirn, um auszudrücken, daß wir ihm etwas zugute halten müßten.

»Er ist ein klein wenig – Sie wissen schon – ver –«, sagte sie mit gnädiger Herablassung. Der Alte überhörte es scheinbar und lachte.

»Es ist schon wahr«, sagte er, als er uns mit der Laterne vorausleuchtete, »daß sie mich den ‚Lordkanzler‘ und meinen Laden ‚Das Kanzleigericht‘ nennen. Aber warum glauben Sie wohl, nennen sie mich den ‚Lordkanzler‘ und meinen Laden ‚Das Kanzleigericht?’«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Richard ziemlich gleichgültig.

»Sie müssen wissen«, der Alte blieb stehen und drehte sich um, »daß sie… Hi! Ist das aber ein schönes Haar! Ich habe drei Säcke voll Frauenhaar unten im Keller, aber keins ist so schön und weich wie dieses. Was für eine Farbe, und die Geschmeidigkeit!«

»Ich dächte, lieber Freund«, sagte Richard, es höchlichst mißbilligend, daß der Alte eine von Adas Locken durch seine gelbe Hand gleiten ließ, »Sie könnten es bewundern, wie wir andern, ohne sich diese Freiheit zu nehmen.«

Mr. Krook schoß einen so scharfen Blick auf ihn, daß es sogar meine Aufmerksamkeit von Ada ablenkte, die erschrocken und errötend so merkwürdig schön aussah, daß sie selbst die ruhelosen Augen der kleinen Alten zu fesseln schien, – aber da Ada sich einmischte und lachend sagte, sie könne auf eine so ungeschminkte Bewunderung nur stolz sein, beruhigte sich Mr. Krook schnell wieder.

»Sie sehen, ich habe soviel Sachen hier«, fuhr er fort und leuchtete mit der Laterne herum, »so vielerlei, – und alles, wie die Nachbarn, die es nicht verstehen, meinen, nur zum Vermodern, daß man mich und meinen Laden deshalb so getauft hat. Ich habe viele alte Pergamente und Papiere in meinem Lager und eine Vorliebe für Rost und Moder und Spinnweben. Alles, was Fisch ist, geht mir ins Netz. Und es ist mir ganz unmöglich, etwas wieder herauszugeben, was ich einmal habe – so denken wenigstens meine Nachbarn, aber was verstehen die davon –, oder etwas zu ändern, rein machen oder fegen oder ausbessern zu lassen. Dadurch habe ich den Spitznamen ‚Kanzleigericht‘ bekommen. Mir ist das einerlei. Ich besuche meinen vornehmen und gelehrten Kollegen so ziemlich jeden Tag, wenn er im Gericht Sitzung hat. Er beachtet mich nicht, aber ich beachte ihn. Der Unterschied zwischen uns ist nicht groß. Wir wühlen beide in altem Plunder. Hi, Lady Jane!«

Eine große, graue Katze sprang von einem nahen Brett auf seine Achsel und erschreckte uns alle.

»Hi! Zeig ihnen, wie du kratzen kannst. Hi! Kratz, Lady Jane!« Die Katze sprang auf den Boden und hakte ihre tigerartigen Krallen in ein Bündel Hadern. Es gab einen Ton, der mir durch Mark und Bein ging.

»So macht sie es mit jedem Lebendigen auch, auf den ich sie hetze«, sagte der Alte. »Ich handle unter anderm auch mit Katzenfellen, und ihres wurde mir ebenfalls angeboten. Es ist ein sehr schönes Fell, wie Sie sehen, aber ich habe es ihr nicht über die Ohren gezogen! Das war nicht Kanzeleigerichtsbrauch, werden Sie sagen.«

Wir waren jetzt durch den Laden gegangen, und er öffnete eine Hintertür, die auf den Hausflur führte. Während er, die Hand auf das Türschloß gelegt, dastand und uns hinausgehen ließ, bemerkte die kleine Alte gnädig zu ihm:

»Schon gut, Krook. Sie meinen es gut, sprechen aber zuviel. Meine jungen Freunde haben Eile. Ich habe selbst auch keine Zeit übrig und muß bald in die Sitzung. Meine jungen Freunde sind die Mündel in Sachen Jarndyce.«

»Jarndyce!« fuhr der Alte auf.

»In Sachen Jarndyce kontra Jarndyce. In dem großen Prozeß, Krook!«

»Hi!« rief der Alte in einem Ton gedankenvollen Staunens und starrte uns mit noch größeren Augen an als vorher. »Da denke einer!«

Er schien auf einmal so in Gedanken versunken zu sein und sah uns so sonderbar an, daß Richard zu ihm sagte:

»Sie scheinen sich sehr um die Prozesse vor Ihrem vornehmen und gelehrten Kollegen, dem andern Kanzler, zu bekümmern?«

»Ja«, erwiderte der Alte grüblerisch. »Gewiß! Ihr Name muß sein –«

»Richard Carstone.«

»Carstone«, wiederholte er und zählte langsam seine Finger ab. »Ja. Dann ist da der Name Barbary, der Name Clare und der Name Dedlock, glaube ich.«

»Er weiß wahrhaftig von dem Prozeß soviel wie der wirkliche bezahlte Kanzler«, sagte Richard ganz erstaunt zu Ada und mir.

Langsam erwachte der Alte aus seinem Träumen. »Ja! Tom Jarndyce – Sie werden entschuldigen, daß ich so sage, aber man kannte ihn hier unter keinem andern Namen und kannte ihn so gut wie – diese hier.« – Er deutete mit einem leichten Nicken auf seine Mieterin; »Tom Jarndyce war oft hier im Laden. Er hatte sich ein ruheloses Herumlaufen angewöhnt, während sein Prozeß verhandelt wurde, und ließ sich in Gespräche ein mit den kleinen Ladeninhabern und riet ihnen, sich um jeden Preis von dem Kanzleigericht fernzuhalten; denn, sagte er, im Kanzleigericht sein, heißt Stück für Stück von einer langsamen Mühle gemahlen, von einem langsamen Feuer gebraten, von einzelnen Bienen zu Tode gestochen, tropfenweise ertränkt werden, schrittweise den Verstand verlieren. Er war so nahe daran, mit sich ein Ende zu machen, als man nur sein kann, auf derselben Stelle hier, wo jetzt die junge Dame steht.«

Wir hörten mit Grausen zu.

»Er kam zur Türe herein«, fuhr der Alte fort und bezeichnete mit dem Finger langsam und gespenstisch einen Pfad durch den Laden. »Er kam an dem Tage, wo er es tat, zu der Türe dort herein – die ganze Nachbarschaft hatte schon seit Monaten gesagt, er werde es ganz gewiß tun, früher oder später – und setzte sich auf eine Bank, die damals dort in der Ecke stand, und bat mich, ihm eine halbe Flasche Wein zu holen. Denn, sagte er, ‚Krook, ich bin sehr niedergedrückt; meine Sache wird wieder verhandelt, und ich glaube, ich bin dem Richterspruch näher als je.‘

Ich wollte ihn nicht allein lassen und überredete ihn, in die Taverne drüben auf der andern Seite der Kanzleigerichtsgasse zu gehen; und ich ging ihm nach und blickte zum Fenster hinein und sah ihn ganz gemütlich, wie ich glaubte, in einem Lehnstuhl am Feuer sitzen, und Gesellschaft bei ihm. Aber kaum war ich wieder in meinem Laden, hörte ich einen Schuß drüben. Ich lief auf die Straße – die Nachbarn liefen auf die Straße – und zwanzig von uns schrieen auf einmal: Tom Jarndyce!«

– Der alte Mann hielt inne, sah uns scharf an, sah die Laterne an, blies das Licht aus und machte sie dann zu. –

»Wir hatten es erraten, das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Hi! Wie die Nachbarschaft in den Gerichtssaal strömte, als noch am selben Nachmittag der Prozeß zur Verhandlung kam! Wie mein vornehmer und gelehrter Kollege und all die andern übrigen wie gewöhnlich das alte Lied herunterleierten und sich Mühe gaben, ein Gesicht zu machen, als ob sie kein Wort von dem letzten Vorfall gehört hätten und es sie gar nichts anginge, falls zufällig die Rede darauf kommen sollte.«

Adas Gesicht hatte vollständig seine Farbe verloren, und auch Richard war kaum weniger blaß. Wenn auch mich der Prozeß selbst nichts anging, so konnte ich mich doch nicht wundern, daß für ungeprüfte und jugendliche Herzen die Aussicht etwas Erschütterndes hatte, die Erbschaft eines jahrzehntelang hingeschleppten Elends, das für so manchen mit so schrecklichen Erinnerungen verknüpft war, dereinst antreten zu müssen. Ich dachte, die peinliche Erzählung würde auch auf die arme halbverrückte Alte einen tiefen Eindruck gemacht haben, aber zu meiner Verwunderung blieb sie vollkommen gleichgültig und führte uns ruhig die Treppen hinauf. Dabei gab sie uns, nachsichtig wie ein höheres Wesen gegenüber den Schwächen eines gewöhnlichen Sterblichen, zu verstehen, ihr Hauswirt sei »ein klein wenig – ver- Sie verstehen schon!«

Sie wohnte im obersten Stock in einem ziemlich großen Zimmer, von dem sie eine Aussicht auf das Dach der Lincoln’s-Inn-Hall hatte. Dies schien sie ursprünglich hauptsächlich veranlaßt zu haben, ihre Wohnung hier aufzuschlagen.

Sie könne des Nachts hinsehen, sagte sie, besonders im Mondschein.

Das Zimmer war reinlich, aber sehr, sehr kahl. Von Möbeln konnte ich nur das Allernotwendigste bemerken; ein paar alte, aus Büchern gerissene Kupferstiche, Kanzler und Advokaten darstellend, waren mit Oblaten an die Wand geklebt, und ein halbes Dutzend Strickbeutel »mit Dokumenten«, wie sie sagte, hingen herum. Im Roste lagen weder Kohlen noch Asche, und Kleidungsstücke oder Lebensmittel waren nirgends zu bemerken. Auf einem Brett in einem offenen Küchenschrank standen ein paar Teller, eine Tasse und ähnlicher Hausrat; aber alles war bestaubt und leer. Das kümmerliche, spitze Aussehen der Alten kam mir jetzt, wo ich mich umgesehen, ergreifender vor als zuvor.

»Ich fühle mich außerordentlich geehrt«, sagte sie unendlich süßlich, »durch diesen Besuch der Mündel in Sachen Jarndyce. Und ich bin Ihnen außerordentlich für dieses gute Vorzeichen verbunden. Es ist eine stille Lage. Verhältnismäßig. Ich bin in der Wahl meiner Wohnung beschränkt wegen der Notwendigkeit, den Gerichtssitzungen beiwohnen zu müssen. Ich lebe seit vielen Jahren hier. Meine Tage bringe ich im Gerichtssaal zu. Meine Abende und meine Nächte hier. Die Nächte werden mir lang, denn ich schlafe wenig und denke viel. Das ist natürlich unvermeidlich. Denn es gehört zum Kanzleigericht. Ich kann Ihnen leider keine Schokolade anbieten. Ich erwarte binnen kurzem ein Urteil und werde dann meine Wirtschaft auf größerem Fuße einrichten. Für jetzt gestehe ich den Mündeln in Sachen Jarndyce ohne Beschämung, aber in tiefstem Vertrauen, daß es mir manchmal schwer fällt, den äußern Schein der Wohlanständigkeit zu wahren. Ich habe hier gefühlt, was Kälte heißt. Ich habe noch Schlimmeres gefühlt als Kälte. Doch das tut nichts. Bitte entschuldigen Sie, daß ich von so banalen Dingen rede.«

Sie zog den Vorhang des langen niedrigen Dachfensters etwas zurück und machte uns auf eine Anzahl dort hängender Käfige aufmerksam. Es waren Lerchen, Hänflinge und Gimpel darin; mindestens zwanzig.

»Ich fing an, die Tierchen in einer Absicht zu halten, die die Mündel leicht verstehen werden. In der Absicht, ihnen die Freiheit zu geben. Sowie das Urteil erfließen würde. Ja-a! Und dennoch sterben sie im Käfig. Das Leben der armen Dinger ist so kurz im Vergleich mit Kanzleigerichtsprozessen, daß die ganze Sammlung schon mehr als ein Mal ausgestorben ist. Wissen Sie, daß ich sehr zweifle, ob ein einziges von ihnen, so sehr jung sie noch sind, jemals den Tag seiner Freilassung erleben wird? Unendlich traurig, nicht wahr?«

– Wenn sie eine Frage stellte, schien sie selten eine Antwort zu erwarten, sondern schwatzte immer fort, als ob sie sich das so bei ihrem Alleinsein angewöhnt hätte. –

»Wahrhaftig, ich kann Ihnen versichern, manchmal fange ich an zu glauben, daß man mich, während die Sache immer noch nicht abgemacht und das sechste oder Große Siegel immer noch geschlossen ist, auch eines Tages hier tot und starr finden wird, wie ich schon so manchen Vogel im Käfig gefunden habe.«

Richard, Adas mitleidigen Blick verstehend, benützte die Gelegenheit, um leise und unbemerkt etwas Geld auf den Kaminsims zu legen. Wir traten alle näher an die Käfige und stellten uns, als betrachteten wir die Vögel.

»Ich darf sie nicht oft singen lassen«, erklärte die kleine Alte. »Sie werden es seltsam finden, der Gedanke macht mich verwirrt, daß sie singen, während ich der Beweisführung im Gerichtshof folge, und ich muß mir den Kopf so außerordentlich klar erhalten. Sie verstehen! Ein andermal will ich Ihnen ihre Namen sagen. Jetzt nicht. An einem Tag von so guten Vorzeichen sollen sie singen, soviel sie wollen. Zum Preis und Lob der Jugend« – sie lächelte und knickste – »der Hoffnung« – sie lächelte und knickste. »So! Wir wollen volles Licht hereinlassen.«

Die Vögel fingen an zu flattern und zu zirpen.

»Ich kann nicht frische Luft hereinlassen«, begann die kleine Alte wieder – das Zimmer war dumpfig und hätte einer Lüftung dringend bedurft –, »weil die Katze unten – Lady Jane – ihnen nach dem Leben trachtet. Sie lauert am Fenstersims stundenlang. Und ich habe entdeckt«, flüsterte sie uns geheimnisvoll zu, »daß ihre natürliche Grausamkeit geschärft wird durch die Furcht, sie könnten eines Tages in Freiheit gesetzt werden. Infolge des bevorstehenden Urteils. Sie ist schlau und voll Tücke. Manchmal glaube ich so halb und halb, sie ist gar keine Katze, sondern so etwas wie der Wolf aus dem alten Märchen. Es ist so schwierig, sie vom Zimmer fern zu halten.«

Die Schläge der benachbarten Turmuhr, die die Arme daran erinnerten, daß es halb zehn sei, trug mehr zur Beendigung unseres Besuchs bei, als wir selbst hätten tun können. Sie nahm hastig ihren kleinen Dokumentenbeutel, den sie beim Hereintreten auf den Tisch gelegt hatte, und fragte uns, ob wir auch mit in den Gerichtssaal gingen. Als wir verneinten und sie um keinen Preis aufhalten wollten, öffnete sie die Tür, um uns zur Treppe zu geleiten.

»Bei einem so guten Omen ist es sogar notwendiger als gewöhnlich, daß ich dort bin, ehe der Kanzler kommt«, sagte sie, »falls er meine Sache gleich vornehmen sollte. Ich habe eine Ahnung, daß sie wirklich heute morgen zuerst dran kommt.«

Auf der Treppe blieb sie stehen und verriet uns flüsternd, das ganze Haus sei mit allerlei Gerumpel angefüllt, das ihr Wirt stückweise gekauft habe und um keinen Preis mehr hergeben würde, – weil er ein wenig – ver – – – – sei.

Das war auf dem ersten Treppenabsatz. Im zweiten Stock war sie schon ein Mal stehen geblieben und hatte bloß schweigend auf eine dunkle Tür gedeutet.

»Der einzige andre Mieter außer mir!« flüsterte sie erklärend. »Ein Advokatenschreiber. Die Kinder auf der Gasse sagen, er hätte sich dem Teufel verkauft. Ich möchte nur wissen, wo er das Geld hingetan haben sollte. Sst!« –

Sie schien sogar hier zu fürchten, daß der Mietsmann oben sie hören könnte, sagte immerwährend: »Sst!« und ging auf den Zehen vor uns her, als ob der Schall der Tritte ihm schon verraten könnte, was sie gesagt hatte.

Als wir durch den Laden das Haus verlassen wollten, fanden wir den Alten beschäftigt, eine Anzahl Pakete Makulatur in eine Art Brunnen im Fußboden zu packen. Es schien ihn sehr anzustrengen, denn der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Mit einem Stück Kreide malte er jedes Mal einen Haken auf das Wandgetäfel, wenn er einen Pack Papier verstaut hatte.

Richard, Ada, Miß Jellyby und die kleine Alte waren an ihm vorbeigegangen, und ich wollte ihnen gerade folgen, als er meinen Arm berührte, damit ich bleiben sollte, und den Buchstaben J. an die Wand malte; – auf eine sehr seltsame Weise, indem er mit dem untern Ende des Buchstabens anfing und ihn nach rückwärts schrieb. Es war ein Anfangsbuchstabe, nicht von der Form eines gedruckten, sondern von der Art, wie ihn ein Schreiber aus der Kanzlei Kenge & Carboy gemacht haben würde.

»Können Sie ihn lesen?« fragte er mich mit einem stechenden Blick.

»Natürlich. Er ist sehr deutlich.«

»Wie heißt er?«

»Jot.«

Er sah mich wieder an und dann die Tür, wischte den Buchstaben weg und schrieb statt dessen ein kleines a hin und fragte: »Was ist das?«

Ich sagte es ihm.

Er wischte dann das a weg und schrieb ein r hin und stellte dieselbe Frage. So malte er rasch weiter, bis er auf diese seltsame Weise, immer an dem verkehrten Ende der Buchstaben anfangend, das Wort Jarndyce zusammenbrachte, ohne ein einziges Mal zwei Buchstaben zu gleicher Zeit an der Wand stehen zu lassen.

»Wie liest man das?« fragte er mich.

Als ich es ihm sagte, kicherte er.

In derselben seltsamen Weise, aber ebenso schnell, schrieb er dann einzeln die Buchstaben des Wortes: »Bleakhaus« hin und wischte sie einzeln wieder weg.

Auch das las ich mit einigem Erstaunen, und wieder lachte er.

»Hü« sagte er dann und legte die Kreide weg. »Ich habe so meine Art, aus dem Gedächtnis Buchstaben nachzumalen, Miß, obgleich ich weder lesen noch schreiben kann.«

Er sah dabei so häßlich aus und seine Katze starrte mich so boshaft an, als ob ich eine Blutsverwandte der Vögel oben wäre, daß ich mich ordentlich erleichtert fühlte, als Richard an der Tür erschien und sagte:

»Miß Summerson, ich hoffe, Sie verkaufen doch nicht am Ende Ihr Haar hier. Lassen Sie sich nicht verleiten! Drei Säcke im Keller sind gerade genug für Mr. Krook.«

Ich säumte nicht länger und wünschte Mr. Krook guten Morgen, schloß mich dann meinen Freunden an der Straße an, und wir nahmen von der kleinen Alten Abschied. Sie gab uns mit großer Feierlichkeit ihren Segen und erneuerte ihre Versicherung von gestern, sie wolle Ada und mich zu Erben ihrer Güter einsetzen.

Ehe wir aus der Gasse bogen, drehten wir uns noch einmal um und sahen Mr. Krook in seiner Ladentür stehen und uns durch die Brille nachblicken, während die Katze auf seiner Schulter saß und ihr Schwanz sich an seiner Pelzmütze wie eine große Feder in die Höhe bog.

»Wirklich ein Abenteuer für einen Londoner Morgen«, sagte Richard mit einem Seufzer. »Ach Kusine, Kusine, es ist ein trauriges Wort, dieses Kanzleigericht.«

»Das ist es für mich seit der Zeit, da ich denken kann«, entgegnete Ada. »Es macht mir Kummer, daß ich die Feindin einer großen Anzahl von Verwandten und andren Menschen sein muß und sie meine Feinde sein müssen und wir uns alle miteinander zugrunde richten, ohne zu wissen, wieso oder warum, und unser ganzes Leben in beständiger Spannung und Zwietracht verbringen. Da doch auf einer Seite das Recht sein muß, finde ich es wirklich seltsam, daß ein ehrlicher Richter mit rechtem Ernst in diesen vielen Jahren nicht hat herausfinden können, wo es liegt.«

»Ja, Kusine«, sagte Richard, »wirklich seltsam! Dieses zeitverschwenderische, ziellose Schachspielen ist sehr sonderbar. Wie der ganze Gerichtshof gestern so unbekümmert im alten Geleise forttrabte und dabei an den Jammer und das Elend der Steine auf dem Brett denken zu müssen, hat mir Kopfweh und Herzeleid gemacht. Der Kopf glühte mir vor Nachgrübeln, wie so etwas nur möglich sei unter Menschen, die doch weder Narren noch Gauner sind. Das Herz tat mir weh, als ich dachte, ob sie nicht doch vielleicht eins von beiden sind. Aber jedenfalls, Ada, – darf ich Sie Ada nennen?«

»Natürlich, Vetter Richard.«

»– jedenfalls, Ada, soll das Kanzleigericht seine bösen Einflüsse nicht auf uns ausüben. Unserm guten Verwandten sei Dank, daß er uns so glücklich zusammengebracht hat; das Kanzleigericht kann uns jetzt nicht trennen.«

»Niemals, hoffe ich, Vetter Richard«, sagte Ada freundlich.

Miß Jellyby drückte meinen Arm und warf mir einen bedeutsamen Blick zu. Ich antwortete mit einem Lächeln, und wir legten den Rest des Weges recht vergnügt zurück.

Eine halbe Stunde nach unsrer Ankunft erschien Mrs. Jellyby, und innerhalb einer Stunde verirrten sich die verschiedenen, zum Frühstück notwendigen Dinge einzeln in das Speisezimmer.

Ich bezweifle durchaus nicht, daß Mrs. Jellyby wie jeder andere Mensch zu Bett gegangen und wieder aufgestanden war, aber man merkte durchaus nicht, daß sie die Kleider gewechselt hatte. Sie war während des Frühstücks außerordentlich beschäftigt, denn die Morgenpost brachte ein schweres Paket Briefe über Borriobula-Gha, das, wie sie sagte, den ganzen Tag in Anspruch nehmen werde. Die Kinder purzelten herum und kerbten neue Merkzeichen ihrer Unfälle auf ihre Schienbeine, die sowieso schon vollständige kleine Unglückskalender darstellten, und Peepy war anderthalb Stunden lang nicht zu finden, bis ihn ein Polizeidiener von Newgate-Market nach Hause brachte. Der Gleichmut, mit dem Mrs. Jellyby sowohl seine Abwesenheit wie seine Wiederkehr in den Familienkreis hinnahm, setzte uns alle in Erstaunen.

Sie diktierte dann mit nimmer ermüdender Ausdauer ihrer Tochter Caddy, und diese versank wieder ziemlich schnell in den tintenbeklecksten Zustand, in dem wir sie gestern gefunden hatten.

Um ein Uhr fuhr ein offener Wagen für uns vor und ein Karren für unser Gepäck. Mrs. Jellyby trug uns viele Grüße an ihren lieben Freund Mr. Jarndyce auf; Caddy verließ ihr Pult, um uns abreisen zu sehen, küßte mich im Hausflur und stand, an der Feder kauend, schluchzend auf der untersten Stufe der Treppe; Peepy schlief zu meiner Freude, so daß ihm der Schmerz des Abschieds erspart blieb, und die andern Kinder kletterten hinten auf die Barutsche und fielen wieder herunter, und wir sahen sie zu unserm großen Schrecken über das Pflaster von Thavies-Inn hingestreut, als wir zum Tore hinausrollten.