25. Kapitel
Mrs. Snagsby auf der Lauer
Mißstimmung herrscht in Cook’s Court, Cursitor Street. Schwarzer Verdacht wohnt in diesen friedlichen Regionen. Die Cook’s Courter sind wohl in ihrer gewöhnlichen Gemütsverfassung, aber Mr. Snagsby ist nicht mehr derselbe, und seine kleine Frau weiß es.
‚Toms Einöd‘ und Lincoln’s-Inn-Fields bleiben wie ein paar widerspenstige Durchgeher vor den Wagen von Mr. Snagsbys Phantasie gespannt. Mr. Bucket kutschiert, und drin sitzen Jo und Mr. Tulkinghorn, und das ganze Gefährt saust in wildem Jagen um das Zifferblatt herum. Selbst in der kleinen Küche auf die Gasse heraus, wo die Familie zu speisen pflegt, rasselt sie in scharfem Trab vom Eßtisch weg, wenn Mr. Snagsby im Anschneiden der Hammelkeule innehält und an die Küchenwand starrt.
Mr. Snagsby findet sich in seinem Kopf nicht mehr zurecht. Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Aber was daraus werden soll, wann und aus welchem Winkel es ungeahnt hervortreten wird, ist das verwirrende Rätsel seines Lebens. Seine dunklen Eindrücke von den Talaren und Krönchen, den Sternen und Ordensbändern, die durch die Stauboberfläche von Mr. Tulkinghorns Kanzlei schimmern, seine Ehrfurcht vor den Geheimnissen dieses besten und verschlossensten aller seiner Kunden, den sämtliche Inns, ganz Chancery-Lane und die juristische Nachbarschaft mit Scheu betrachten, seine Erinnerung an den Detektiv Mr. Bucket mit seinem langen Zeigefinger und seinem vertraulichen Getue, dem man weder entgehen noch etwas abschlagen kann, festigen in ihm die Überzeugung, daß er an einem gefährlichen Geheimnis teilhat, ohne zu wissen, was es ist.
Und es ist die schreckliche Eigentümlichkeit dieser Lage, daß zu jeder Stunde, bei jedem Aufgehen der Ladentür, bei jedem Klingeln, bei jeder Ankunft eines Boten oder eines Briefes das Geheimnis Feuer fangen, explodieren und irgend jemanden in die Luft sprengen kann. Wen, weiß Mr. Bucket allein.
Wenn daher ein Unbekannter, wie es doch oft geschieht, in den Laden tritt und fragt: Ist Mr. Snagsby da? oder sonst etwas Unschuldiges, so klopft Mr. Snagsbys Herz laut in seiner schuldbeladenen Brust. So sehr irritieren ihn solche Fragen, daß, wenn Knaben sie stellen, er über den Ladentisch hinweg ihnen eins hinter die Ohren gibt und die Schlingel fragt, was sie damit sagen wollen und warum sie nicht gleich mit allem herausrücken. Weniger irdisch greifbare Männer und Jungen stören beständig Mr. Snagsbys Schlummer und jagen ihn mit rätselhaften Fragen in Furcht, so daß, wenn sich der Hahn in der kleinen Milchwirtschaft in Cursitor Street in seiner gewohnten zwecklosen Weise über den Morgen ausläßt, Mr. Snagsby sich im Stadium des Alpdruckes befindet, bis seine kleine Frau ihn wachrüttelt und sagt: Was hat der Mann nur!
Die kleine Frau selbst trägt nicht wenig zu seiner Qual bei. Zu wissen, daß er immer ein Geheimnis vor ihr verbirgt, unter allen Umständen einen schmerzenden Zahn vor ihr zu verheimlichen hat, den sie ihm stets mit schlauer Begier herauszudrehen bereit ist, gibt Mr. Snagsby seiner Frau gegenüber ganz das Aussehen eines Hundes, der etwas angestellt hat und dem Auge seines Herrn ausweicht. Alle diese kleinen Anzeichen entgehen Mrs. Snagsbys scharfem Blick keineswegs. Snagsby hat etwas auf dem Herzen, sagt sie sich. Und so hält der Argwohn in Cook’s Court, Cursitor Street, seinen Einzug. Vom Argwohn zur Eifersucht findet Mrs. Snagsby den Weg so leicht wie von Cook’s Court nach Chancery-Lane. Und so hält die Eifersucht in Cook’s Court, Cursitor Street, ihren Einzug. Einmal dort – gelauert hat sie immer in der Gegend –, rumort sie rastlos in Mrs. Snagsbys Brust, treibt sie bei Nacht, Mr. Snagsbys Taschen zu untersuchen, Mr. Snagsbys Briefe heimlich zu lesen, im stillen das Hauptbuch und Journal, die kleine und die große Kasse und den Dokumentenschrank zu durchforschen, am Fenster zu lauern, hinter Türen zu horchen und beständig das und jenes mit den unrichtigen Enden zusammenzuknüpfen.
Mrs. Snagsby liegt so beständig auf der Lauer, daß das Haus vor lauter Dielenknistern und Kleiderrascheln einen ganz gespensterhaften Eindruck macht. Die »Stifte« glauben, es müsse jemand in alten Zeiten hier ermordet worden sein. In Gusters Kopf spuken Bruchstücke legendenhafter Ideen, daß unter dem Keller Geld vergraben sei und von einem weißbärtigen Alten bewacht werde, der vor siebentausend Jahren nicht erlöst werden könne, weil er das Vaterunser einmal rückwärts gebetet habe.
Wer war Nimrod? fragt sich Mrs. Snagsby immer wieder. Wer war die Dame – diese »Person« ? Und wer ist der Junge? Da Nimrod so tot ist wie der gewaltige Jägersmann, dessen Namen Mrs. Snagsby für ihre Zwecke mit Beschlag belegt hat, und die »Dame« nicht herbeizuschaffen ist, lenkt sich der Blick ihres Geistes vorderhand mit verdoppelter Wachsamkeit auf den Jungen.
Wer ist dieser Junge? fragt sich Mrs. Snagsby tausend und ein Mal. Wer ist dieser…? Und da geht ihr plötzlich ein Licht auf.
Er hat keinen Respekt vor Mr. Chadband! Nein, den hat er nicht und kann ihn auch nicht haben! Natürlich kann er keinen haben unter solchen ansteckenden Verhältnissen! Mr. Chadband hat ihn eingeladen – Mrs. Snagsby hat es mit eignen Ohren gehört –, wiederzukommen, um zu erfahren, wo Mr. Chadband predige. Und er ist nicht gekommen! Warum ist er nicht gekommen? Weil man es ihm verboten hat! Wer hat es ihm verboten? Wer? Haha! Mrs. Snagsby sieht plötzlich klar.
Aber zum Glück – und Mrs. Snagsby schüttelt grimmig den Kopf und lächelt grimmig – hat Mr. Chadband gestern den Knaben auf der Straße getroffen, und Mr. Chadband hat diesen Knaben, über den er zur Erbauung einer auserlesenen Gemeinde zu predigen wünscht, ergriffen und ihm gedroht, ihn der Polizei zu übergeben, wenn er nicht sage, wo er wohne, und sich nicht morgen seinem Versprechen gemäß in Cook’s Court einfinde. Mor-gen a-bend! wiederholt Mrs. Snagsby des Nachdrucks wegen mit grimmigem Lächeln und Kopfschütteln, und morgen abend wird der Junge kommen, und morgen abend wird Mrs. Snagsby ein Auge auf ihn und noch eine andere gewisse Person haben. O, du magst schon eine hübsche Weile deine Schleichwege gehen, sagt Mrs. Snagsby mit Stolz und Verachtung, aber mich betrügst du nicht!
Mrs. Snagsby hängt es nicht an die große Glocke, was sie sich denkt, sondern schweigt über ihre Pläne und behält ihr Geheimnis für sich.
Morgen kommt. Die schmackhaften Vorbereitungen für die Ölmühle kommen, und der Abend kommt. Es kommt Mr. Snagsby in seinem schwarzen Rock. Es kommen die Chadbands, wenn das »Gefäß« genügend leer ist. Es kommen die »Stifte« und Guster, um sich erbauen zu lassen. Es kommt endlich mit hängendem Kopf und schlottrigem Gang, in der schmutzigen Hand die Pelzmütze, die er rupft wie einen Vogel, den er roh verzehren will, Jo, der Schmier-Ober, den Mr. Chadband bessern will.
Mrs. Snagsby wirft einen wachsamen, aber verstohlenen Blick auf Jo, wie ihn Guster jetzt in das kleine Staatszimmer führt. Er sieht Mr. Snagsby beim Eintreten an. Aha! Warum sieht er Mr. Snagsby an ? – Mr. Snagsby sieht ihn an. Warum tut er das?
Mrs. Snagsby weiß sofort alles. Warum denn sonst wechseln diese beiden einen Blick miteinander, warum denn sonst ist Mr. Snagsby so verlegen und hustet einen Signalhusten hinter seiner Hand, als, weil es klar wie Kristall ist, daß Mr. Snagsby der – Vater dieses Knaben ist.
»Friede sei mit euch, meine Freunde!« salbadert Chadband, steht auf und wischt sich die Ölabsonderungen von seinem Reverendgesicht ab. »Friede sei mit uns! Meine Freunde, warum mit uns? Weil«, sagt er mit seinem fetten Lächeln, »weil er nicht gegen uns sein kann, weil er für uns ist; weil er nicht verhärtet, sondern weil er erweicht; weil er nicht Krieg führt wie der Habicht, sondern zu uns kommt wie die Taube. Deshalb, meine Freunde, sei Friede mit uns! Du, menschlicher Knabe, tritt vor!«
Mr. Chadband streckt die aufgedunsene Pfote aus, legt sie auf Jos Arm und überlegt sich, wo er ihn hinsetzen solle. Jo, sehr argwöhnisch in bezug auf die Absichten Seiner Ehrwürden und keineswegs sicher, ob man nicht etwa eine schmerzliche Operation an ihm vornehmen wolle, brummt: »Lassen S mi gehn. I hab Eahna nix tan. Lassen S mi gehn.«
»Nein, mein junger Freund«, sagt Chadband salbungsvoll. »Ich lasse dich nicht. Und warum? Weil ich einsammle die Ernte; weil ich mich mühe und plage; weil du mir überliefert bist und ein köstlich Werkzeug geworden in meiner Hand. Meine Freunde, möge ich mich dieses Werkzeugs bedienen zu eurem Besten, zu eurem Nutzen, zu eurem Gewinn, zu eurer Wohlfahrt, zu eurer Bereicherung! Mein junger Freund, setze dich auf diesen Stuhl.«
Sichtlich von dem Gedanken beherrscht, daß Seine Ehrwürden ihm die Haare schneiden wolle, schützt sich Jo den Kopf mit beiden Armen und läßt sich nur mit großer Mühe und unter vielem Sträuben hinsetzen.
Als man ihn endlich wie eine Modellpuppe zurechtgerückt hat, zieht sich Mr. Chadband hinter den Tisch zurück, hält seine Bärentatze empor und spricht:
»Meine Froinde!«
Das ist das Signal für die ganze Zuhörerschaft, die Ohren aufzumachen. Die »Stifte« kichern in sich hinein und stoßen sich mit den Ellbogen. Guster verfällt in einen Zustand leeren Vorsichhinstierens, zusammengesetzt aus atemloser Bewunderung Mr. Chadbands und Mitleid mit dem armen freundlosen Ausgestoßnen, dessen Lage sie tief ergreift.
Mrs. Snagsby legt schweigend Pulverminen.
Mrs. Chadband setzt sich mit finsterer Miene an den Kamin und wärmt sich die Knie. Sie findet, daß dies das Zuhören erleichtert.
Mr. Chadband hat die übliche Kanzelpredigergewohnheit, ein Mitglied der Gemeinde zu fixieren und mit fettigem Wohlwollen seine Argumente insbesondere an diese Person zu richten. Von dem Angeredeten wird in solchen Fällen gewöhnlich erwartet, daß er sich zu gelegentlichem Stöhnen, Seufzen, Ächzen oder andern hörbaren Äußerungen des Innenlebens aufschwingt. Diese Äußerung der Seele pflegt dann von einer ältlichen Dame im nächsten Kirchenstuhl zumeist wiederholt zu werden, geht dann wie beim Pfänderspiel im Kreise der leichter gärbaren Sünder unter den Anwesenden herum, erfüllt den Zweck des parlamentarischen »Hört, hört!« und erhält den Prediger in Volldampf.
Aus bloßer Gewohnheit also hat Mr. Chadband bei den Worten »Meine Froinde!« sein Auge auf Mr. Snagsby geheftet und richtet an den armen Schreibmaterialienhändler, dem die Sterne sichtlich übel wollen und der schon verlegen genug ist, unmittelbar seine Rede.
»Meine Freunde!« beginnt Chadband. »Wir haben hier unter uns einen Ungesalbten, einen Heiden, einen Bewohner der Zelte von ‚Toms Einöd‘, einen, der da herumschweift auf Erden. Meine Freunde, wir haben hier unter uns« – Mr. Chadband nestelt das Argument mit seinem schmutzigen Daumennagel auf, wirft ein öliges Lächeln auf Mr. Snagsby, als wolle er sagen, er werde ihn sofort logisch zu Fall bringen, wenn er nicht schon sowieso am Boden liege – »haben hier unter uns einen Bruder und einen Knaben. – Ohne Eltern, ohne Verwandte, ohne Vieh und Herden, ohne Gold und Silber und Edelgestein. Aber, meine Freunde, warum sage ich, daß er dieser Besitztümer ermangelt? Warum? Warum ermangelt er ihrer?« Mr. Chadband wirft die Frage auf, als lege er Mr. Snagsby ein ganz neues ungemein geistreiches Rätsel vor und bäte ihn, nur ja nicht an der Auflösung zu verzweifeln.
Mr. Snagsby, sehr verwirrt von dem Sphinxblick, den sein kleines Frauchen bei den Worten »ohne Eltern« auf ihn wirft, läßt sich zu der bescheidnen Bemerkung verleiten:
»Ich weiß es wirklich nicht, Sir.«
Diese Unterbrechung macht Mrs. Chadband finster aufblicken, und Mrs. Snagsby ruft: »Es ist eine Schande.«
»Ich höre eine Stimmö«, sagt Chadband. »Ist es eine demütige Stimmö, meine Freunde? Ich fürchte nicht, wiewohl ich es hoffen möchte.«
Hörbares Räuspern Mr. Snagsbys.
»…Die da saget, ich weiß es nicht. Und nun will ich euch sagen, warum. Ich sage, dieser Bruder, der da stehet vor uns, ermangelt der Eltern, ermangelt der Verwandten, ermangelt des Viehs und der Herden, ermangelt des Silbers, des Goldes und jeglichen Geschmeides, weil er des Lichtes entbehrt, das da niederscheinet auf einige von uns. Was ist das für ein Licht? Was ist es? Ich frage euch, was ist das für ein Licht?«
Mr. Chadband legt den Kopf zurück und hält inne, aber Mr. Snagsby geht nicht noch einmal auf den Leim.
Mr. Chadband lehnt sich über den Tisch hinüber und bohrt, was er noch zu sagen hat, mit dem bereits erwähnten Daumennagel in Mr. Snagsby hinein.
»Es ist«, erläutert Chadband, »der Strahl der Strahlen, die Sonne der Sonnen, der Mond der Monde, der Stern der Sterne. Es ist das Licht der Waharheit.«
Mr. Chadband richtet sich wieder auf und sieht Mr. Snagsby triumphierend an, als wolle er sich vergewissern, wie seinem Opfer jetzt zumute sei.
»Der Waharheit«, wiederholt Mr. Chadband mit einem neuen Lanzenstich. »Saget mir nicht, daß sie nicht sei die Leuchte der Leuchten. Ich sage euch, sie ist es. Ich sage euch millionenmal, sie ist es. Sie ist es. Ich sage euch, daß ich es euch verkündigen werde, ob ihr da wollet oder nicht. Ja, je weniger ihr wollet, desto lauter will ich es euch verkünden mit Drommetenzungen. Ich sage euch, locket ihr dagegen, werdet ihr fallen, werdet ihr stürzen, werdet ihr zerschlagen, werdet ihr zerbrochen, werdet ihr zermalmet zu Stahub.«
Der kühne Redeflug, von Mr. Chadbands Anhängern wegen seiner Gewaltigkeit ungemein bewundert, macht Seiner Ehrwürden nicht nur unangenehm warm, sondern stellt auch den unschuldigen Mr. Snagsby als einen entschiedenen Feind der Tugend, erzgestirnt und hartherzig, dar, und deshalb gerät der unglückliche Schreibmaterialienhändler noch mehr außer Fassung, als er ohnehin schon ist.
Und da gibt ihm Mr. Chadband zufällig den Gnadenstoß.
»Meine Freunde«, beginnt er wieder, nachdem er seine fette Stirn eine Weile betupft hat – und sie dampft so sehr, daß sein Taschentuch, das nach jedesmaligem Tupfen ebenfalls dampft, daran anzubrennen scheint –, »um den Gegenstand, an dem wir nach unsern bescheidenen Gaben uns zu erbauen trachten, weiter zu verfolgen, wollen wir im Geiste der Liebe fragen: Was ist die Waharheit, von der ich gesprochen habe? Denn, meine jungen Freunde«, wendet er sich an die »Stifte« und Guster, zu deren großer Bestürzung, »wenn mir der Arzt sagt, daß Calomel oder Kastoröl gut für mich seien, so werde ich natürlich fragen, was ist Calomel, und was ist Kastoröl? Ich werde mich darüber vergewissern, ehe ich eins der Mittel oder beide einnehme. Nun, meine jungen Freunde, was ist also diese Waharheit? Erstlich im Geiste der Liebe, was ist die gewöhnliche Art der Waharheit?… Die Werktagswaharheit – sozusagen –, meine jungen Freunde? Ist sie Hintergehung?«
Hörbares Räuspern Mr. Snagsbys.
»Ist sie Verheimlichung?«
Mrs. Snagsby erschauert förmlich vor stummer Verneinung.
»Ist sie heimliches Vorenthalten?«
Ein langes entschiedenes Kopfschütteln Mrs. Snagsbys.
»Nein, meine Freunde, sie ist keins von alledem. Keiner dieser Namen ist ihr echter. Als dieser jetzt unter uns weilende junge Heide, der jetzt, mit dem Siegel der Gleichgültigkeit und Verworfenheit auf seinen Augenlidern, schläft, meine Freunde (wecket ihn nicht, auf daß ich seinetwegen kämpfe und ringe und den Sieg gewinne), als dieser verstockte junge Heide uns eine Geschichte von einem Hahn und einem Stier und einer Dame und einem Sovereign erzählte, war das die Waharheit? Nein. Oder, wenn sie es zum Teil war, war sie es ganz vollständig? Nein, meine Freunde, nein!«
Mr. Snagsby müßte ganz anders beschaffen sein, wenn er den Blick seiner kleinen Frau aushalten sollte, wie er sich jetzt durch die Fenster seiner Seele in sein tiefstes Inneres bohrt.
»Oder, meine jungen Freunde«, fährt Mr. Chadband fort, klettert bis zum tiefsten Niveau der Auffassungskraft der »Stifte« herab und lächelt fett und demütig mit der Miene eines Mannes, der eine hohe Treppe hinuntersteigt, »wenn der Herr dieses Hauses in die Stadt ginge, einen Aal sähe und zurückkehrte, um die Herrin dieses Hauses zu sich zu berufen und ihr zu sagen: Sarah, freue dich mit mir, denn ich habe einen Elefanten gesehen! Wäre das die Waharheit?«
Mrs. Snagsby bricht in Tränen aus.
»Oder nehmen wir an, meine jungen Freunde, daß er einen Elefanten gesehen hätte und heimkehrte und sagte: Siehe, die Stadt ist öde, wahrlich, ich habe nur einen Aal gesehen! Wäre das die Waharheit?«
Mrs. Snagsby schluchzt laut.
»Oder nehmen wir an, meine jungen Freunde«, sagt Chadband, bei dem Tone angeregt, »daß die unnatürlichen Eltern dieses schlummernden Heiden – denn Eltern hat er ohne Zweifel gehabt –, nachdem sie ihn den Wölfen und den Geiern und den wilden Hunden und den jungen Gazellen und den Schlangen hingeworfen, in ihre Wohnung zurückkehrten und sich erfreuten an ihren Pfeifen und ihren Fleischtöpfen und ihrem Flötenspiel und ihren Tänzen und ihrem Gerstensaft und des Schlächters Fleisch und Geflügel – wäre das die Waharheit?«
Mrs. Snagsby antwortet damit, daß sie eine Beute von Krämpfen wird; nicht eine widerstandslose Beute, sondern eine weinende und schluchzende, so daß Cook’s Court von ihrem Jammergeschrei widerhallt. Endlich wird sie kataleptisch und muß die schmale Treppe umständlich wie ein Piano hinaufgetragen werden. Nach unaussprechlichen Leiden, die die größte Bestürzung hervorbringen, melden Eilboten aus dem Schlafzimmer, daß sie frei von Schmerzen, aber noch sehr angegriffen sei. Mr. Snagsby, den man bei diesem Klaviertransport an die Wand gedrückt und auf die Füße getreten und dadurch sehr verschüchtert hat, wagt sich jetzt wieder hinter der Tür des Staatszimmers hervor.
Die ganze Zeit über ist Jo dort, wo er aufgewacht ist, stehen geblieben, hat beständig seine Mütze gerupft und Pelzstückchen in den Mund gesteckt. Er spuckt sie mit reuevoller Miene aus, denn er begreift, daß er von Natur ein unverbesserliches verworfenes Geschöpf ist, dem jeder Versuch, wach zu bleiben, fehlschlägt.
Aber doch ist es möglich, Jo, daß es selbst für so vertierte Gemüter wie dich eine Geschichte gibt, die von Taten handelt, so ergreifend für das Menschenherz, daß sie selbst dich wach erhalten und belehren könnte, wenn sie dir die Chadbands nur ohne Schwulst und schlicht erzählen wollten.
Aber Jo hat nie von einer solchen Historie und solchen Büchern gehört. Seine Verfasser und Reverend Chadband gelten ihm gleich; nur, daß er Ehrwürden Chadband kennt und lieber eine Stunde weit weglaufen möchte, als ihn noch fünf Minuten länger reden zu hören.
»Es hat kan Zweck, no länger zwarten«, sagt Jo. »Mr. Snagsby redet eh nix heit abend.« Und er schlottert die Treppe hinunter.
Aber unten steht die mildtätige Guster, hält sich am Geländer der Küchentreppe fest, um gegen einen herannahenden Krampfanfall, den Mrs. Snagsbys Gekreisch geweckt hat, anzukämpfen. Sie reicht ihr eigenes Abendbrot – Butterschnitt und Käse – Jo hin und wagt ein paar Worte an ihn zu richten.
»Hier hast du was zum Essen, armer Bub.«
»Dank schön, Mum«, sagt Jo.
»Hast an Hunger?«
»Damisch«, sagt Jo.
»Was ist aus deinem Vater und deiner Mutter geworden?«
Jo hält mitten im Abbeißen inne und sieht ganz versteinert aus, denn der Waisenschützling des christlichen Heiligen, dessen Schrein in Tooting steht, hat ihm auf die Schulter geklopft. Das erste Mal in seinem Leben, daß eine anständige Hand ihn so berührt hat.
»I hab nie nix von ihnen ghört«, sagt Jo.
»Und ich von meinen auch nicht«, ruft Guster. Sie unterdrückt einige Krampfsymptome, da verscheucht sie plötzlich etwas, und sie entschwindet auf der Kellertreppe.
»Jo«, flüstert der Schreibmaterialienhändler leise, während der Junge noch zögernd auf der Treppe steht.
»Da bin i, Mr. Sangsby.«
»Ich wußte nicht, daß du schon fort bist… Hier hast du wieder eine halbe Krone, Jo. Du hast es gut gemacht, daß du nichts von der Dame von neulich abends sagtest. Es könnte Unannehmlichkeiten verursachen. Du kannst nicht verschwiegen genug sein, Jo.«
»I bin a Ghauter, Master.«
»Also gute Nacht.«
Ein geisterhafter Schatten in Unterrock und Nachtmütze folgt dem Papierhändler in das Zimmer, aus dem er gekommen ist, und gleitet höher hinauf. Und von nun an, mag Mr. Snagsby gehen, wohin er will, begleitet ihn noch ein andrer Schatten als sein eigner, kaum weniger fest an seine Fersen geheftet, kaum weniger ruhig, kaum weniger geräuschlos als sein eigner. Und in welche Geheimnisatmosphäre sein eigner Schatten auch treten mag, von nun an mögen sich alle an dem Geheimnis Beteiligten in acht nehmen. Die wachsame Mrs. Snagsby liegt auf der Lauer. Bein von seinem Bein, Fleisch von seinem Fleisch, Schatten von seinem Schatten.