Einundzwanzigstes Kapitel.


Einundzwanzigstes Kapitel.

Neue Gesichter.

Blaugesichtiger und glotzender – sozusagen überreifer als je, trat der Major, der manchmal räusperte – nicht aus Bedürfnis, sondern in einer freiwilligen Entladung von Bedeutsamkeit –, Arm in Arm mit Mr. Dombey einen Spaziergang auf der sonnigen Seite des sternchenland.com Weges an, seine Backen schwollen dabei über der festanliegenden Halsbinde, seine Beine waren majestätisch gespreizt, und sein großer Kopf wackelte von Seite zu Seite, als wundere er sich in seinem Innern, daß er ein so anziehender Gegenstand sei. Alle paar Schritte begegnete der Major jemand, den er kannte; aber er schüttelte gegen sie nur im Vorbeigehen die Finger und führte Mr. Dombey weiter, ihm schöne Orte zeigend und die Zeit mit Geschichten kürzend, die sich an dieselben knüpften.

Mit vieler Behaglichkeit waren der Major und Mr. Dombey eine Weile in dieser Weise, die Arme eingehenkelt, umhergegangen, als sie einen Fahrstuhl auf sich zukommen sahen, in dem eine Dame saß. Letztere lenkte nachlässig ihr Fuhrwerk durch eine Art Steuer, das vorn angebracht war, während von hinten eine unsichtbare Gewalt die Bewegung veranlaßte. Obgleich die Dame nicht jung war, hatte sie doch ein sehr blühendes, eigentlich rosiges Gesicht, während ihr Anzug und ihre Haltung völlig jugendlich sich ausnahmen. Neben dem Stuhle ging, mit stolzer, erschöpfter Miene einen seidenen Sonnenschirm tragend, als ob eine so schwere Anstrengung bald aufgegeben und das Schirmchen weggeworfen werden müsse, eine viel jüngere Dame von großer Schönheit und hochtragender, eigensinniger Bewegung, die den Kopf in die Höhe warf und ihre Augenlider senkte, als wäre es sicherlich nicht die Erde oder der Himmel, wenn es überhaupt in der ganzen Welt außer dem Spiegel etwas gab, das Betrachtung verdiente.

»Ha, wen zum Teufel haben wir da, Sir!« rief der Major, beim Herannahen der kleinen Lokomotive haltmachend.

»Meine liebe Edith«, sprach in singendem Tone die Dame in dem Fahrstuhl, »Major Bagstock!«

Der Major hatte nicht so bald die Stimme gehört, als er Mr. Dombeys Arm losließ, vorwärts stürzte, die Hand der Dame in dem Fahrstuhl ergriff und sie an seine Lippen drückte. Mit nicht geringer vornehmer Bewegung faltete er seine beiden Handschuhe auf der Brust und verbeugte sich tief gegen die andere Dame. Als jetzt der Stuhl haltmachte, wurde die bewegende Kraft in der Gestalt eines hinten nachschiebenden glutroten Pagen sichtbar, der seine Kraft teils durch das Wachsen, teils durch die Anstrengung erschöpft zu haben schien; denn wenn er aufrecht dastand, war er ein langer, spindeldürrer Junge, dessen Zustand um so verkümmerter zu sein schien, weil er die Form seines Hutes ziemlich benachteiligt hatte, indem er die Lokomotive mit dem Kopf vorwärts zu drängen pflegte, wie solches in Ostindien bisweilen bei den Elefanten der Fall ist.

»Joe Bagstock ist ein stolzer und glücklicher Mann für den Rest seines Lebens«, sagte der Major zu den beiden Damen.

»Ihr falscher Mann«, sagte die alte Dame in dem Stuhle geziert. »Wo kommt Ihr her? Ich kann Euch nicht ausstehen.«

»Dann erlaubt dem alten Joe, als Grund, um geduldet zu werden, einen Freund vorzustellen, Ma’am«, entgegnete der Major, ohne sich irremachen zu lassen: »Mr. Dombey, Mrs. Skewton.« Die Dame sternchenland.com in dem Stuhl benahm sich sehr gnädig. »Mr. Dombey, Mrs. Granger.« Die Dame mit dem Sonnenschirm schien kaum zu bemerken, daß Mr. Dombey den Hut abnahm und sich tief verbeugte. »Ich bin entzückt, Sir«, sagte der Major, »diese Gelegenheit zu haben.«

Es schien dem Major Ernst zu sein, denn er schaute sie alle an und schielte dabei in seiner häßlichen Art.

»Mrs. Skewton, Dombey«, sagte der Major, »richtet eigentlich eine Verheerung an in dem Herzen des alten Joes.«

Mr. Dombey deutete an, daß er sich darüber nicht wundere.

»Ihr treuloser Schelm«, sagte die Dame in dem Stuhl, »damit ist’s vorbei. Wie lange seid Ihr schon hier, böser Mann?«

»Einen Tag«, versetzte der Major.

»Und könnt Ihr nur einen Tag«, erwiderte die Dame, ihre falschen Locken und Augenbrauen leicht fächernd und dabei ihre falschen Zähne als Folie zu der Schminke zeigend – »oder auch nur eine Minute in dem Garten von – wie nennt man’s doch –«

»Vermutlich Eden, Mama«, unterbrach sie die jüngere Dame leichthin.

»Meine liebe Edith«, sagte die andere, »ich kann mir nicht helfen: diese schrecklichen Namen entfallen mir stets – von Eden Euch aufgehalten haben, ohne daß Eure ganze Seele und Euer Wesen begeistert sind von dem Anblick der Natur – von dem Wohlgeruch«, fügte Mrs. Skewton bei, indem sie ihr von Parfümerien getränktes Tuch schwenkte – »ihres unverfälschten Atems, Ihr böser Mensch?«

Der Widerstreit der frischen Begeisterung in Mrs. Skewtons Worten und ihrem hoffnungslos verblichenen Wesen war kaum weniger bemerkbar als der zwischen ihrem Alter, das vielleicht siebzig betragen mochte, und ihrem Anzug, der für eine Zwanzigjährige gepaßt haben würde. Ihre stets gleichbleibende Haltung in dem Fahrstuhl war so, wie sie etwa fünfzig Jahre früher von einem damals fashionablen Künstler, der seiner veröffentlichten Skizze den Namen Kleopatra beifügte, in einer Barutsche aufgenommen worden war; denn die Kritiker jener Zeit hatten die Entdeckung gemacht, das Porträt habe eine auffallende Ähnlichkeit mit dem jener Fürstin, wie sie an Bord ihrer Galeere zurückgelehnt saß. Mrs. Skewton war damals eine Schönheit, und die Wildfänge warfen sich ihr zu Ehren Weingläser dem Dutzend nach über die Köpfe. Die Schönheit und die Barutsche waren dahin; aber die Haltung behielt sie noch immer bei, und eben deshalb mußten auch der Fahrstuhl und der schiebende Page Dienste tun, da nur die Attitüde sie bewog, sich nicht ihrer Füße zu bedienen.

»Ich hoffe, Mr. Dombey ist ein Freund der Natur?« sagte Mrs. Skewton, an ihrer Diamantennadel rückend. Wir müssen hier beiläufig bemerken, daß sie hauptsächlich von dem Ruf einiger Diamanten und ihrer Familienverbindungen lebte.

»Mein Freund Dombey, Ma’am«, versetzte der Major, »ist ihr sternchenland.com sternchenland.com vielleicht im stillen zugetan; aber ein Mann, der so hoch steht in der größten Stadt des Universums –«

»Mr. Dombeys umfassender Einfluß kann niemand fremd sein«, sagte Mrs. Skewton.

Während Mr. Dombey dieses Kompliment mit einem Kopfnicken anerkannte, blickte die jüngere Dame nach ihm hin und begegnete seinen Augen.

»Ihr wohnt hier, Madam?« sagte Mr. Dombey, sie anredend.

»Nein, wir sind an vielen Orten herumgekommen. In Harrowgate, in Scarborough und in Devonshire. Wir machten Besuche und hielten uns hier und dort auf. Mama liebt die Veränderung.«

»Edith natürlich nicht«, versetzte Mrs. Skewton mit einer unheimlichen Schalkhaftigkeit.

»Ich habe nicht gefunden, daß solche Plätze überhaupt Abwechslung bieten«, lautete die mit stolzer Gleichgültigkeit hingeworfene Antwort.

»Auch mir sind sie verleidet. Es gibt nur einen einzigen Wechsel, Mr. Dombey«, bemerkte Mrs. Skewton mit einem leichten Seufzer, »der mir wirklichen Genuß brächte, und ich fürchte, daß es mir nicht vergönnt ist, mich je desselben zu erfreuen. Die Menschen schonen einen so gar nicht. Aber Abgeschiedenheit und Betrachtung sind für mich – wie nennt man’s doch –«

»Wenn Ihr ein Paradies meint, Mama, so sprecht Euch lieber aus, um Euch verständlich zu machen«, sagte die jüngere Dame.

»Meine liebe Edith«, erwiderte Mrs. Skewton, »du weißt, daß ich mich wegen dieser häßlichen Namen ganz auf dich verlassen muß. Ich versichere Euch, Mr. Dombey, die Natur hat mich für ein Arkadien geschaffen. So aber bin ich in die Gesellschaft gelangt. Kühe sind meine Leidenschaft. Nach was ich stets verlangte, war die Einsamkeit einer Schweizerhütte, wo ich leben könnte ganz umgeben von Kühen – und Porzellan.«

Dieses wunderliche Zusammenbringen von Gegenständen, die an den berühmten Ochsen erinnert, der irrtümlicherweise in einen Töpferladen geriet, wurde von Mr. Dombey mit großem Ernst aufgenommen, und er gab seiner Ansicht dahin Ausdruck, daß die Natur ohne Zweifel eine sehr achtbare Einrichtung sei.

»Was mir fehlt«, mäkelte Mrs. Skewton, indem sie sich in ihren welken Hals kniff, »ist Herz.« Sie sprach in einem Sinne eine fürchterliche Wahrheit, wenn auch nicht in dem, wie sie die Phrase brauchte. »Nach was ich verlange, ist Offenheit, Vertrauen, weniger Konvenienz und ein freieres Spiel der Seele. Wir leben in einem schrecklich gekünstelten Zustande.«

Die Herren stimmten bei.

»Kurz«, sagte Mrs. Skewton, »ich sehne mich überall nach Natur. Es würde so ungemein entzückend sein.«

»Die Natur ruft uns fort von hier, Mama, wenn Ihr bereit seid«, sagte die jüngere Dame, ihre schönen Lippen aufwerfend.

Auf diesen Wink verschwand der spindeldürre Page, der über der sternchenland.com Lehne des Fahrstuhls hinweg der Gesellschaft zugeschaut hatte, in dem Hintergrunde, als sei er vom Boden verschluckt worden.

»Halt, einen Augenblick, Withers!« rief Mrs. Skewton, als der Stuhl sich zu bewegen begann, dem Pagen mit der ganzen matten Würde zu, mit der sie vorzeiten den Kutscher mit seiner Perücke, dem Blumenstrauß und seidenen Strümpfen zu befehlen pflegte. »Wo wohnt Ihr, Abscheulicher?«

Der Major wohnte mit seinem Freund Dombey im Royal-Hotel.

»Wenn Ihr ordentlich sein wollt, so könnt Ihr uns jeden Abend besuchen«, lispelte Mrs. Skewton, »Will Mr. Dombey uns beehren, so wird es uns freuen. Withers, fort!«

Der Major drückte die Fingerspitzen, die nach dem Kleopatramodell mit studierter Nachlässigkeit auf der Lehne des Fahrstuhls lagen, abermals an seine Lippen, und Mr. Dombey verbeugte sich. Die ältere Dame grüßte beide mit einem sehr huldreichen Lächeln und einem mädchenhaften Schwenken ihrer Hand, während die jüngere ihren Kopf nur so leicht verneigte, als es die gewöhnlichste Höflichkeit gebot. Der letzte Blick auf das runzlige geschminkte Gesicht der Mutter, das sich in der Sonne unendlich hagerer und unheimlicher ausnahm, als solches bei dem Mangel des Rot je hätte geschehen können, und auf die stolze Schönheit der Tochter mit ihrer anmutigen Gestalt und aufrechten Haltung weckte sowohl in dem Major als in Mr. Dombey unwillkürlich die Lust, ihnen nachzusehen, so daß sich beide in dem gleichen Moment umdrehten. Der Page fast so schräg, wie sein eigener Schatten, arbeitet sich bergauf wie ein langsamer Sturmbock dem Fahrstuhle nach; der obere Teil von Kleopatras Hut flatterte auf den Zoll hin genau in derselben Ecke wie zuvor, und die Schönheit, die der Lokomotive ein wenig vorausging, drückte in ihrer eleganten Form von Kopf bis zum Fuß die nämliche stolze Rücksichtslosigkeit gegen Dinge und Personen aus.

»Ich will Euch etwas sagen, Sir«, begann der Major, als sie ihren Spaziergang wieder aufnahmen. »Wenn Joe Bagstock ein jüngerer Mann wäre, so gäbe es in der ganzen Welt kein Frauenzimmer, das er als Mistreß Bagstock jenem dort vorziehen würde. Beim Georg, Sir«, fügte der Major bei, »sie ist prächtig!«

»Meint Ihr die Tochter?« fragte Mr. Dombey.

»Ist Joey B. ein Pinsel, Dombey«, versetzte der Major, »daß er die Mutter meinen könnte?«

»Ihr machtet doch der Mutter so viele Komplimente«, entgegnete Mr. Dombey.

»Eine alte Flamme, Sir«, kicherte Major Bagstock. »Verteufelt alt. Ich habe meinen Spaß mit ihr.«

»Sie macht auf mich den Eindruck, als ob sie vollkommen gentil sei«, sagte Mr. Dombey.

»Gentil, Sir?« versetzte der Major, indem er stehenblieb und seinem Begleiter erstaunt ins Gesicht schaute. »Die hochgeborne Mrs. Skewton ist eine Schwester des verstorbenen Lord Feenix und eine Tante des gegenwärtigen Lords. Die Familie ist nicht reich – sternchenland.com ja sogar arm – und sie lebt von einer kleinen Rente; aber wenn’s aufs Blut ankommt, Sir!«

Der Major stieß seinen Stock heftig auf und ging weiter, wie es schien in Verzweiflung, daß er nicht zu sagen wußte, was dann war, wenn es auf das ankam.

»Ich bemerkte, daß Ihr die Tochter als Mrs. Granger anredetet«, nahm Mr. Dombey nach einer kurzen Pause das Wort wieder auf.

»Edith Skewton, Sir«, entgegnete der Major, der jetzt wieder haltmachte und mit seinem Stock, um sie darzustellen, ein Zeichen in den Boden schlug, »heiratete mit achtzehn Granger.« Der Major deutete ihn durch eine zweite Kerbe an. »Granger, Sir«, fuhr der Major mit Nachdruck fort, indem er das letztere ideale Porträt berührte und dabei den Kopf wiegte, »war Obrist in unserer Armee – ein verteufelt schöner Bursche von einundvierzig, Sir. Er starb im zweiten Jahr seiner Ehe.«

Der Major strich den Repräsentanten des hingeschiedenen Granger mit seinem Spazierstock durch und ging dann wieder weiter, diesen über die Schulter legend.

»Wie lange ist das schon her?« fragte Mr. Dombey, der aufs neue stehenblieb.

»Edith Granger, Sir«, versetzte der Major, indem er das eine Auge schloß, den Kopf seitwärts neigte, den Stock in seine Linke nahm und mit der Rechten seinen Bruststreif glättete, »ist zurzeit nicht ganz dreißig. Und der Teufel soll mich holen, Sir«, beteuerte der Major, abermals seinen Stock schulternd und wieder weitergehend, »sie ist ein unvergleichliches Frauenzimmer!«

»War Familie da?« fragte Mr. Dombey sogleich.

»Ja, Sir«, antwortete der Major. »Ein Knabe.«

Mr. Dombeys Augen suchten den Boden, und ein Schatten überflog sein Gesicht.

»Er ertrank, Sir«, fuhr der Major fort, »als er kaum vier oder fünf Jahre alt war.«

»Wirklich?« entgegnete Mr. Dombey, den Kopf erhebend.

»Durch das Umschlagen eines Bootes, in das ihn seine Wärterin nicht hätte setzen sollen«, sagte der Major. »Das ist seine Geschichte. Edith Granger ist noch immer Edith Granger; aber wenn der alte Joe B. ein wenig jünger und ein wenig reicher wäre, so sollte der Name dieses herrlichen Geschöpfes Bagstock lauten!«

Bei diesen Worten zuckte der Major die Achseln, blies seine Backen auf und lachte mehr als je wie ein übermästeter Mephistopheles.

»Vorausgesetzt, daß die Dame nichts dagegen hätte, will ich doch meinen?« entgegnete Mr. Dombey kalt.

»Bei Gott, Sir«, erwiderte der Major, »das Geschlecht der Bagstocke ist nicht an ein derartiges Hindernis gewöhnt. Freilich hat es vollkommen seine Richtigkeit, daß Edith schon zwanzigmal hätte heiraten können – aber sie ist stolz, Sir – stolz!«

Mr. Dombeys Gesicht schien auszudrücken, daß er um dessenwillen nicht schlechter von ihr denke.

»’s ist im Grund eine schöne Eigenschaft«, sagte der Major. »Bei Gott ’s ist eine hohe Eigenschaft. Dombey, Ihr seid selbst stolz, und Euer Freund, der alte Joe, achtet Euch darum.«

Mit diesem Tribut für den Charakter seines Gefährten, der ihm durch die Gewalt der Umstände und die unwiderstehliche Richtung ihres Gesprächs abgerungen zu sein schien, schloß der Major die Angelegenheit und ging zu einer allgemeinen Auseinandersetzung über, wie er seinerzeit von herrlichen Frauen und prächtigen Geschöpfen geliebt und gehätschelt worden sei.

Zwei Tage später begegnete Mr. Dombey und der Major der hochgeborenen Mrs. Skewton und ihrer Tochter in dem Kursaal, tags darauf wieder in der Nähe desselben Platzes, wo sie das erstemal mit ihnen zusammengetroffen waren. Nachdem es etwa drei- oder viermal im ganzen geschehen, wurde es um der alten Bekanntschaft willen ein Punkt bloßer Höflichkeit, daß der Major einen Abendbesuch machte. Mr. Dombey hatte ursprünglich nicht beabsichtigt, jemand zu besuchen; aber als ihm der Major sein Vorhaben mitteilte, erklärte er, daß er sich das Vergnügen machen werde, ihn zu begleiten. Der Major beauftragte deshalb den Eingeborenen, noch vor dem Diner den Damen sein und Mr. Dombeys Empfehlung zu melden und zu sagen, daß sie sich die Ehre geben würden, einen Abendbesuch zu machen, falls die Damen allein wären. Als Antwort brachte der Eingeborene ein sehr kleines Billet, das sehr stark nach Parfüm roch und in dem die hochgeborene Mrs. Skewton dem Major Bagstock kurz erklärte: »Ihr seid ein abscheulicher Bär, und ich habe gute Lust, Euch gar nicht mehr zu verzeihen; aber wenn Ihr recht lieb sein wollt«, die letzten Worte waren unterstrichen, »so dürft Ihr kommen. Empfehlungen von mir und Edith an Mr. Dombey.«

Die hochgeborene Mrs. Skewton und ihre Tochter Mrs. Granger bewohnten während ihres Aufenthalts zu Leamington ein Quartier, das vornehm und teuer genug, aber in Raum und Bequemlichkeit etwas beschränkt war, so daß die hochgeborene Mrs. Skewton, wenn sie im Bette lag, ihre Füße im Fenster und den Kopf im Kamin hatte, während ihr Mädchen ihre Schlafstätte in einem so ungemein kleinen Alkoven des Besuchszimmers hatte, daß sie, um sich der ganzen Ausgiebigkeit ihres Lagers zu erfreuen, durch die Tür hinein und heraus sich winden mußte, wie eine zierliche Schlange. Withers, der spindeldürre Page, schlief außerhalb des Hauses unmittelbar unter den Dachziegeln eines benachbarten Milchladens, und die Lokomotive, dieser Stein unseres Sisyphus, verbrachte ihre Nächte in einem Schuppen, zu dem besagten Milchladen gehörig, wo stets frisch gelegte Eier zu finden waren und das mit der Milcherei in Verbindung stehende Geflügel unablässig auf einem zerbrochenen Eselkarren stand, allem Anschein nach fest überzeugt, daß es daselbst gewachsen sei und sich von dem Baume nicht losmachen könne.

Mr. Dombey und der Major fanden Mrs. Skewton in den sternchenland.com Kissen eines Sofas als Kleopatra gruppiert – sehr luftig gekleidet und sicherlich ohne Ähnlichkeit mit Shakespeares Kleopatra, die das Alter nicht zum Welken bringen konnte. Als sie die Treppe hinaufstiegen, hörten sie den Ton einer Harfe, die aber, sobald sie angemeldet waren, zu spielen aufhörte. Edith stand neben dem Instrument, reizender und schöner als je. Die Schönheit dieser Dame hatte die merkwürdige Eigenschaft, daß sie ihre Rechte zu behaupten schien sogar ohne Beihilfe und gegen den Willen ihrer Besitzerin. Edith wußte, daß sie schön war, denn das Gegenteil wäre unmöglich gewesen; aber sie sah aus, als wolle sie mit ihrem Stolze sich selbst trotzen.

Ob sie Reize, die nur eine für sie wertlose Bewunderung hervorrufen konnten, gering anschlug, oder ob sie durch einen solchen Gebrauch derselben sie nur wertvoller zu machen beabsichtigte, – mit Ermittlung dieser Frage hielten sich die Bewunderer, die sie zu schätzen wußten, selten auf.

»Ich hoffe, Mrs. Granger«, sagte Mr. Dombey, indem er sich ihr um einen Schritt näherte, »wir sind nicht schuld, daß Ihr Eurem Spiel ein Ende machtet?«

»Ihr? O nein!«

»Warum spielst du dann nicht weiter, meine liebe Edith?« fragte Kleopatra.

»Ich hörte aus demselben Grunde auf, der mich anfangen ließ – aus Laune.«

Die Gleichgültigkeit, mit der sie das sagte – eine Gleichgültigkeit, die sich nichts weniger als blöde ausnahm, sondern absichtlich stolz gehalten war – stand sehr im Gegensatz zu der Unbekümmertheit, mit der sie ihre Hand über die Saiten gleiten ließ, um sodann nach der vorderen Wand des Zimmers zu treten.

»Ihr müßt wissen, Mr. Dombey«, sagte die schmachtende Mutter, indem sie mit einem Handschirm spielte, »daß hin und wieder meine liebe Edith und ich wirklich fast uneinig werden –«

»Nicht bisweilen ganz, Mama?« entgegnete Edith.

»O, nie ganz, meine Liebe! Pfui, pfui, es würde mir das Herz brechen«, erwiderte die Mutter mit einem leichten Versuch, Edith mit ihrem Schirme zu pätscheln, obschon letztere sich nicht rührte, um dieser Liebkosung entgegenzukommen, – »wegen jener kalten Konventionalitäten, die auch in den kleinsten Dingen beobachtet werden sollen. Warum sind wir nicht natürlicher! Ach, Himmel, mit all dem Sehnen, Trachten und instinktartigen Pochen, das unseren Seelen eingepflanzt ist und einen so hinreißenden Zauber ausübt – warum sind wir nicht natürlicher!«

Mr. Dombey entgegnete, das sei sehr wahr – sehr wahr.

»Wir könnten, glaube ich, natürlicher sein, wenn wir es versuchten«, sagte Mrs. Skewton.

Mr. Dombey meinte, es sei möglich.

»Der Teufel auch, Madame«, sagte der Major. »Wir könnten’s nicht. Wenn nicht die Welt mit J.B.’s bewohnt ist – zähen und sternchenland.com derben alten Joes, Ma’am, einfachen Bücklingen mit harten Rogen, Sir – so können wir’s nicht. Nein, durchaus nicht.«

»Ihr garstiger Ungläubiger«, versetzte Mrs. Skewton, »schweigt!«

»Kleopatra befiehlt«, erwiderte der Major, ihr die Hand küssend, »und Antonius Bagstock gehorcht.«

»Der Mann besitzt keine Empfindsamkeit«, sagte Mrs. Skewton, grausam den Handschirm so haltend, daß der Major ausgeschlossen wurde – »keine Sympathie! Und für was leben wir, wenn nicht für Sympathie! Was anderes wäre so ungemein beglückend. Nie könnten wir’s nur aushalten ohne diesen Sonnenstrahl auf unserer öden, kalten Erde?« fuhr Mrs. Skewton fort, indem sie ihren Spitzenkragen ordnete und wohlgefällig die Wirkung ihres bloßen mageren Arms vom Handgelenk an aufwärts betrachtete. »Mit einem Worte, verstockter Mann!« sie blickte um den Schirm herum nach dem Major hin, »ich möchte, daß meine Welt voll Seele wäre; und der Glaube daran ist so ungemein beglückend, daß ich Euch nicht gestatten werde, ihn zu stören. Hört Ihr das?«

Der Major versetzte, es sei hart von Kleopatra, daß sie von der ganzen Welt verlange, voll Seele zu sein, und doch sich selbst die Seelen und Herzen aller Welt zueignen möchte. Das nötigte Kleopatra, ihn zu erinnern, daß Schmeichelei ihr unerträglich sei, und wenn er sich erlaube, sie wieder in solchen Worten anzureden, so werde sie ihn bestimmt nach Hause schicken.

Da jetzt Withers, der Spindeldürre, den Tee herumbot, so wandte sich Mr. Dombey wieder an Edith.

»Es scheint, daß noch nicht viel Gesellschaft hier ist«, sagte Mr. Dombey in seiner wichtigen gentlemanischen Art.

»Ich glaube nicht. Wir empfangen keine.«

»Ja, wahrhaftig«, bemerkte Mrs. Skewton von ihrem Sofa aus. »Es sind noch nicht viele Personen hier, an deren Umgang uns etwas gelegen ist.«

»Sie haben nicht genug Seele«, sagte Edith mit einem Lächeln – das wahre Zwielicht von einem Lächeln – so eigentümlich waren Hell und Dunkel darin gemischt.

»Ihr seht, meine liebe Edith neckt mich«, sagte ihre Mutter, ihren Kopf schüttelnd, der zuweilen von selbst ein wenig wackelte, als wolle er mit dem zitternden Licht der Diamanten konkurrieren, »Gottlose!«

»Wenn ich nicht irre, seid Ihr schon früher hier gewesen?« sagte Mr. Dombey – noch immer zu Edith.

»O ja, schon öfter. Ich denke, wir waren schon überall.«

»Eine schöne Gegend!«

»Ich glaube so. Alle Welt sagt es.«

»Dein Vetter Feenix wütet darüber, Edith«, nahm ihre Mutter von dem Sofa her das Wort.

Die Tochter erhob leicht ihren anmutigen Kopf, zog die Augen um Haaresbreite in die Höhe, als wolle sie damit andeuten, daß der sternchenland.com Vetter Feenix von allen Sterblichen am wenigsten Beachtung verdiene, und wandte sich dann wieder Mr. Dombey zu.

»Ich hoffe zur Ehre meines guten Geschmacks, daß ich der Umgebung müde bin«, sagte sie.

»Ihr habt fast Grund dazu, Madame«, versetzte er, mit einem Blick auf verschiedene reichlich im Zimmer hängende Landschaftszeichnungen, die, wie er bemerkte, zum Teil Partien aus der nächsten Gegend darstellten, »wenn diese schönen Bilder von Eurer Hand sind.«

Sie gab ihm keine Antwort, sondern saß in stolzer Schönheit da – ganz entzückend.

»Haben sie dieses Interesse?« fragte Dombey. »Sind sie von Euch?«

»Ja.«

»Ihr spielt die Harfe, wie ich bereits weiß?«

»Ja.«

»Und singt?«

»Ja.«

Sie beantwortete alle diese Fragen mit einem auffallenden Widerwillen und mit jener merkwürdigen Miene des Selbstwiderspruchs, die, wie wir bereits bemerkten, ihrer Schönheit angehörte. Dabei war sie übrigens nicht verlegen, sondern vollkommen ruhig. Dennoch schien sie das Gespräch nicht vermeiden zu wollen, denn sie wandte ihm ihr Gesicht und – so weit sie konnte – auch ihre Aufmerksamkeit zu, selbst dann, wenn er schwieg.

»Es stehen Euch wenigstens eine Menge Hilfsmittel zu Gebot, um Euch die Zeit zu verkürzen«, sagte Mr. Dombey.

»Wie sie mir auch zustatten kommen mögen«, erwiderte sie, »so kennt Ihr sie jetzt alle. Ich besitze keine weiteren.«

»Darf ich hoffen, daß ich sie näher kennenlerne?« sagte Mr. Dombey mit feierlicher Stimme und Geste, indem er eine Zeichnung, die er in der Hand hielt, niederlegte und nach der Harfe hinwinkte.

»O gewiß, wenn Ihr es wünscht.«

Mit diesen Worten erhob sie sich, ging an dem Sofa ihrer Mutter vorbei und warf ihr einen scharfen Blick zu, der zwar nur einen Moment dauerte, aber (wenn es jemand hätte bemerken können) viele Ausdrücke in sich schloß, unter denen der des Zwielichtslächelns ohne das Lächeln selbst alle übrigen überschattete. Damit verließ sie das Zimmer.

Der Major, der vollkommene Verzeihung erhalten hatte, rückte einen kleinen Tisch vor Kleopatra hin und setzte sich nieder, um mit ihr eine Partie Piquet zu spielen. Mr. Dombey, der das Spiel nicht kannte, nahm sich gleichfalls einen Stuhl und sah ihnen zu, bis Edith zurückkehrte.

»Ich hoffe, wir werden ein wenig Musik erhalten, Mr. Dombey«, sagte Kleopatra.

»Mrs. Granger war so freundlich, mir das zu versprechen«, versetzte Mr. Dombey.

»Ach, das ist aber hübsch. Gebt Ihr vor, Major?«

»Nein, Ma’am«, erwiderte der Major. »Kann’s nicht.«

»Ihr seid ein barbarischer Mensch«, sagte die Dame. »Ich kann nichts machen. Ihr seid ein Liebhaber der Musik, Mr. Dombey?«

»Sehr«, lautete Mr. Dombeys Antwort.

»Ja. Es ist sehr hübsch«, sagte Kleopatra, nach ihren Karten sehend. »So viel Seele darin – unentwickelte Erinnerungen aus einem früheren Zustande des Daseins – und dergleichen – was in der Tat bezaubernd ist. Wißt Ihr auch«, kakelte Kleopatra, den Pique-Buben umkehrend, der mit den Schuhen zu oberst in ihre Karten gekommen war, »daß, wenn mich etwas verlocken könnte, meinem Leben ein Ziel zu setzen, das die Neugierde wäre, zu erfahren, was in allen Dingen steckt und was sie zu bedeuten haben? Es gibt in der Tat so viele herausfordernde Geheimnisse, die vor uns verborgen sind. Major, Ihr habt auszuspielen!«

Der Major spielte aus, und Mr. Dombey, der zu seiner Belehrung zusah, würde wohl durch die Feinheiten des Spiels bald in die größte Verwirrung gekommen sein. Statt demselben aber Aufmerksamkeit zu schenken, machte er sich Gedanken, wann wohl Edith zurückkommen würde.

Endlich erschien sie und setzte sich zu ihrer Harfe nieder. Mr. Dombey stand auf und trat zuhörend an ihre Seite. Er hatte nur wenig Sinn für Musik und kannte die gespielte Arie nicht; aber er sah, wie sie sich niederbeugte, und hörte vielleicht unter den tönenden Saiten eine ferne Musik seiner eigenen Art, die das Ungeheuer der Eisenbahn zähmte und es weniger unerbittlich machte.

Kleopatra hatte beim Piquet ein sehr kritisches Auge. Es glänzte wie das eines Vogels und beschäftigte sich nicht allein mit dem Spiel, sondern durchlief das Zimmer von einem Ende zum andern, in seiner Schnelligkeit bald die Harfe, bald die Spielerin, bald den Zuhörer – kurz alles erfassend.

Nachdem die stolze Schönheit ihr Spiel beendigt hatte, erhob sie sich, den Dank und die Komplimente Dombeys ganz in derselben Weise wie früher hinnehmend, ging, ohne sich eine Pause zu gönnen, nach dem Piano und begann abermals.

Edith Granger, jeden Gesang, nur diesen nicht. Edith Granger, du bist sehr schön; deine Finger greifen herrlich in die Tasten, und deine Stimme ist tief und reich; aber nicht jenes Lied, das die vernachlässigte Tochter seinem sterbenden Sohne vorsang!

Ach, er kannte es nicht, und wenn es vielleicht auch der Fall war, wie hätte eine von ihren Weisen den starren Mann anregen können! Schlaf, einsame Florence – schlaf! Friede sei mit deinen Träumen, obschon die Nacht dunkel geworden ist und Wolken aufsteigen, die sich in Hagel zu entladen drohen! sternchenland.com

Zweiundzwanzigstes Kapitel.


Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Wie Mr. Carker, der Geschäftsführer, ein kleines Geschäft betreibt.

Mr. Carker, der Geschäftsführer, saß so geschmeidig und glatt wie gewöhnlich an seinem Schreibpult und las die Briefe, die ihm zum Öffnen vorbehalten geblieben waren, indem er gelegentlich, je nachdem es ihr Inhalt verlangte, Notizen auf ihre Rückseiten schrieb und sie dann in kleine Haufen abteilte, damit diese an die verschiedenen Departements des Hauses abgegeben werden könnten. Die Post war am Morgen sehr schwer gewesen, und Mr. Carker, der Geschäftsführer, hatte viel zu tun.

Die allgemeine Haltung eines so beschäftigten Mannes, der einen Bündel Papiere in der Hand hat, sie in verschiedene Haufen verteilt, ein anderes Paket aufnimmt, mit zusammengekniffenen Brauen und aufgeworfenen Lippen den Inhalt untersucht, ausgibt, sortiert und zwischendurch nachdenkt, könnte leicht an die eines Kartenspielers erinnern. Das Gesicht Mr. Carkers, des Geschäftsführers, stand im vollen Einklang mit einer derartigen Vorstellung. Es war das Gesicht eines Mannes, der schlau sein Spiel studierte, alle starken und schwachen Punkte desselben genau kannte, seine Karten im Geiste genau nach ihrem Werte ordnete und verschmitzt genug war, die Blätter der andern Spieler zu entdecken, ohne daß er je die in seiner eigenen Hand verriet.

Die Briefe waren in verschiedenen Sprachen geschrieben; aber Mr. Carter, der Geschäftsführer, las sie alle. Wäre in dem Bureau von Dombey und Sohn etwas gewesen, das er nicht lesen konnte, so würde in dem Spiel eine Karte gefehlt haben. Er las fast mit einem Blicke, und kombinierte in schnellem Verlauf einen Brief mit dem andern, ein Geschäft mit dem andern, in solcher Weise dem Häuflein neuen Stoff zufügend – gerade so wie ein Mensch, der die Karten vom Ansehen kennt und im Geiste seine Rechnungen macht, sobald er sie aufgenommen hat. Etwas zu schlau für einen Partner und viel zu schlau für einen Gegner, saß Mr. Carker, der Geschäftsführer, in den Strahlen der Sonne, die schräg durch das Oberlicht der Fenster auf ihn niederfielen, um seinem Spiel allein zuzusehen.

Und obschon es nicht zu dem Instinkt der wilden oder in Häusern wohnenden Katzenzunft gehört, mit Karten zu spielen, war doch Mr. Carker, der Geschäftsführer, katzenartig vom Wirbel bis zur Zehe, während er sich in dem Streifen Sommerlicht wärmte, das auf seinen Tisch und den Boden fiel, als wären letztere eine gebrochene Sonnenuhr und er die einzige Zahl darauf. Mit Haar und Backenbart, die zu allen Zeiten der Farbe ermangelten, nie aber mehr dem Felle einer gelbfleckigen Katze ähnlich, als in dem reichen Sonnenschein, – mit langen, sauber beschnittenen und geschärften Nägeln, mit einem natürlichen Widerwillen gegen jeden Schmutzflecken, der ihn bewog, manchmal innezuhalten, die fallenden Sonnenstäubchen zu beobachten und sie von seiner glatten weißen Hand oder der schneeweißen Leinwand sternchenland.com wegzupusten, saß Mr. Carker, der Geschäftsführer, schlau in seinem Benehmen, mit scharfen Zähnen, leis auftretend, wachsamen Auges, mit glatter Zunge, grausamen Herzens und pünktlich aus Gewohnheit, in geleckter Beharrlichkeit und Geduld an seiner Arbeit, als ob er vor einem Mauseloch lauere. Endlich waren die Briefe abgefertigt, einen einzigen ausgenommen, den er für eine besondere Audienz zurücklegte. Nachdem er die vertraulichere Korrespondenz in ein Schubfach eingeschlossen hatte, läutete er mit seiner Klingel.

»Warum kommst du?« waren die Worte, mit denen er seinen Bruder empfing.

»Der Laufbursche ist unterwegs, und ich bin der nächste«, lautete die unterwürfige Antwort.

»Du der nächste!« murmelte der Geschäftsführer. »Ja! sehr ehrenvoll für mich! Da!«

Er deutete dabei auf den Haufen geöffneter Briefe und wandte sich in seinem Armstuhl verächtlich ab, um das Siegel des Schreibens zu erbrechen, das er noch in seiner Hand hielt.

»Es tut mir leid, dich behelligen zu müssen, James«, sagte der Bruder, sie aufnehmend, »aber – –«

»O, du hast etwas zu sagen. Ich dachte mir’s. Nun?«

Mr. Carker, der Geschäftsführer, erhob seine Augen nicht, um sie auf seinen Bruder zu richten, sondern ließ sie auf dem Briefe haften, obschon er ihn nicht öffnete.

»Nun?« wiederholte er mit Schärfe.

»Ich bin unruhig wegen Harriet.«

»Welcher Harriet? was für einer Harriet? Ich kenne niemand dieses Namens.«

»Sie ist nicht wohl und hat sich in letzter Zeit sehr verändert.«

»Sie hat sich schon vor vielen Jahren sehr verändert«, versetzte der Geschäftsführer. »Weiter kann ich nichts darüber sagen.«

»Ich glaube, wenn du mich anhören würdest –«

»Warum sollte ich dich anhören, Bruder John?« erwiderte der Geschäftsführer, einen sarkastischen Nachdruck auf die beiden letzten Worte legend und den Kopf in die Höhe werfend, obschon er seine Augen nicht aufschlug. »Ich sage dir, Harriet Carker hat schon vor vielen Jahren ihre Wahl getroffen zwischen ihren beiden Brüdern, Vielleicht bereut sie’s, aber sie muß dabei bleiben.«

»Mißverstehe mich nicht. Ich sage nicht, daß sie es bereut. Es wäre schwarzer Undank von mir, wenn ich etwas der Art andeuten wollte«, erwiderte der andere. »Aber glaube mir, James, ihr Opfer tut mir ebenso leid wie dir.«

»Wie mir?« rief der Geschäfteführer. »Wie mir?«

»Ich beklage ihre Wahl – das, was du ihre Wahl nennst – da du darüber zürnst«, sagte der Junior.

»Zürne?« entgegnete der andere und zeigte dabei seine weißen Zähne.

»Oder mißvergnügt bist – wie du willst. Du weißt, was ich sagen will. Es lag nichts Beleidigendes in meiner Absicht.«

»In allem, was du tust, liegt Beleidigung«, erwiderte der Bruder, plötzlich finster nach ihm hinschauend, obschon unmittelbar darauf ein noch weiteres Lächeln folgte, als das letzte. »Sei so gut, diese Papiere fortzunehmen. Ich habe zu tun.«

Seine Höflichkeit war um so viel schneidender als sein Zorn, daß sich der Junior nach der Tür begab. Dort aber machte er noch einmal halt, sah sich um und sagte:

»Als Harriet es vergeblich versuchte, bei deinem ersten gerechten Unwillen und meiner ersten Schmach ein Fürwort für mich einzulegen – als sie dich verließ, James, um meinem Unglück zu folgen und sich in mißverstandener Liebe einem zugrunde gerichteten Bruder zu weihen, weil er ohne sie niemand hatte und verloren gewesen wäre, war sie jung und hübsch. Ich meine, ich könne sie jetzt noch sehen. Wenn du sie besuchen wolltest, so würde sie deine Bewunderung und dein Mitleid erregen.«

Der Geschäftsführer senkte den Kopf und zeigte seine Zähne, als wolle er als Antwort auf ein unbedeutendes Gerede sagen: »Ach, Himmel, ist’s möglich?« aber es kam keine Silbe über seine Lippen.

»Du und ich, wir beide dachten damals, sie werde jung heiraten und ein glückliches frohes Leben führen können«, fuhr der andere fort. »O, wenn du wüßtest, wie freudig sie auf alle diese Hoffnungen verzichtete, wie getrost sie auf dem gewählten Pfade fortging, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzuschauen, so könntest du nicht wieder sagen, ihr Name sei fremd in deinen Ohren. Nein, gewiß nicht!«

Wieder senkte der Geschäftsführer den Kopf, zeigte seine Zähne und schien zu sagen: »In der Tat merkwürdig! Du setzt mich in Erstaunen!« Doch abermals verlautete kein Wort.

»Darf ich weitergehen?« fragte John Carker mild.

»Auf deinem Wege?« versetzte der Bruder lächelnd. »Wenn du die Güte haben willst.«

John Carker war im Begriffe, mit einem Seufzer langsam durch die Tür zu schreiten, als ihn die Stimme seines Bruders noch auf der Schwelle zurückhielt.

»Wenn sie so freudig ihren Weg gegangen ist und noch geht«, sagte er, den noch immer ungeöffneten Brief auf das Pult werfend und die Hände fest in seine Taschen steckend, »so kannst du ihr sagen, daß ich ebenso wohlgemut den meinigen verfolge. Hat sie auch nicht ein einziges Mal zurückgeschaut, so magst du ihr bedeuten, ich habe das bisweilen getan, um mir ins Gedächtnis zurückzurufen, wie sie für dich Partei nahm. Meine Entschlüsse sind so fest« – er lächelte jetzt sehr süß – »wie Marmor.«

»Ich sage ihr nichts von dir. Wir sprechen nie von dir. Einmal im Jahr, an deinem Geburtstag, versäumt Harriet nicht, zu sagen: ›Wir wollen uns des Namens James erinnern und ihm Glück wünschen.‹ Weiter reden wir nicht.«

»So sag‘ es meinetwegen dir selbst«, erwiderte der andere. »Du kannst es dir nicht oft genug wiederholen, als eine Lehre, den fraglichen sternchenland.com Gegenstand gegen mich nie zu berühren. Ich kenne keine Harriet Carker. Für mich gibt es keine solche Person, Du magst eine Schwester haben; mache aus ihr, was du willst. Ich habe keine.«

Mr. Carker, der Geschäftsführer, nahm den Brief wieder auf und winkte mit einem Lächeln höhnischer Höflichkeit nach der Tür hin. Der Junior entfernte sich, und er sah ihm eine Weile finster nach; dann drehte er sich wieder in seinem Lehnstuhl, öffnete den Brief und las aufmerksam dessen Inhalt.

Die Handschrift war die seines großen Prinzipals Mr. Dombey und der Brief von Leamington aus datiert. Obschon Mr. Carker mit allen andern Briefen sehr schnell fertig war, las er diesen doch sehr langsam; er erwog jedes Wort, und alle seine Zähne wirkten dabei aufmerksam mit. Nachdem er damit fertig war, fing er wieder von vorn an und beachtete namentlich folgende Stellen: ›Die Veränderung bekommt mir gut, und ich kann noch keine Zeit für meine Rückkehr bestimmen.‹ ›Ich wünsche, Carker, Ihr möchtet es so einrichten, daß Ihr mich einmal hier besucht und mich persönlich über den Geschäftsgang unterrichtet.‹ ›Ich habe vergessen, mit Euch über den jungen Gay zu sprechen. Wenn er noch nicht mit dem Sohn und Erben abgereist ist oder der Sohn und Erbe noch im Dock liegt, so gebt den Auftrag einem andern jungen Menschen und behaltet ihn vorderhand noch in der City. Ich bin noch unschlüssig.‹ »Schade!« sagte Mr. Carker, der Geschäftsführer, und erweiterte seinen Mund, als wäre er aus Gummi-Elastikum, »denn er ist schon weit weg.«

Gleichwohl fesselte diese Stelle, die in der Nachschrift vorkam, noch einmal seine Aufmerksamkeit und seine Zähne.

»Ich glaube«, sagte er, »mein guter Freund, Kapitän Cuttle, erwähnte etwas vom Fortgetautwerden im Kielwasser jenes Tages. Wie schade, daß er so weit weg ist!«

Er legte das Schreiben wieder zusammen, spielte damit, stellte es der Länge und der Breite nach auf den Tisch und drehte es über und über nach allen Seiten – vielleicht mit seinem Inhalt so ziemlich das gleiche vornehmend. Während er noch in diesem Geschäft begriffen war, klopfte Mr. Perch, der Bote, leise an die Tür, kam auf den Zehenspitzen herein, beugte seinen Körper bei jedem Schritt, als ob Verbeugungen die Wonne seines Lebens seien, und legte einige Papiere auf den Tisch.

»Beliebt es Euch, beschäftigt zu sein, Sir?« fragte Mr. Perch, die Hände reibend und ehrerbietig den Kopf auf die eine Seite neigend, wie ein Mann, der fühlt, daß er nicht befugt sei, denselben in einer solchen Gegenwart aufrechtzuhalten, und ihn deshalb so viel als möglich aus dem Weg schaffen möchte.

»Wer will etwas von mir?«

»Ei, Sir«, versetzte Mr. Perch mit sehr sanfter Stimme, »in der Tat niemand, Sir, bei dem sich’s sonderlich der Mühe verlohnte. Mr. Gills, der Schiffs-Instrumentenmacher, Sir, hat vorgesprochen – wegen einer kleinen Zahlung, wie er sagt; aber ich deutete ihm an, Sir, daß Ihr sehr beschäftigt seid.«

Mr. Perch hustete einmal hinter seiner Hand und wartete auf weitere Befehle.

»Sonst niemand?«

»Ich möchte mir nicht die Freiheit nehmen, Sir«, entgegnete Mr. Perch, »zu erwähnen, daß sonst jemand da gewesen sei; aber der gleiche junge Bursche, der gestern und die letzte Woche hier war, Sir, hat um den Platz herum geschlendert, und es sieht schrecklich ungeschäftsmäßig aus, Sir«, fügte Mr. Perch bei, indem er innehielt, um die Tür zu schließen, »wenn man so mitanschauen muß, wie er den Sperlingen im Hof drunten pfeift und sie veranlaßt, ihm zu antworten.«

»Ihr sagtet, er wünsche Beschäftigung – ist’s nicht so, Perch?« fragte Mr. Carker, indem er sich in seinen Stuhl zurücklehnte und den Boten ansah.

»Ei, Sir«, versetzte Mr. Perch, abermals hinter seiner Hand hustend, »er sprach allerdings davon, daß es ihm an Arbeit fehle und er meine, man könne ihm etwas an den Docks zu tun geben, weil er sich auf das Fischen mit der Rute und Leine verstehe: aber –«

Mr. Perch schüttelte sehr bedenklich den Kopf.

»Was sagt er, wenn er kommt?« fragte Mr. Carker.

»Ja, Sir«, entgegnete Mr. Perch mit einem weiteren Husten hinter seiner Hand – seiner gewöhnlichen Zuflucht als einer Demutsäußerung, wenn ihm nichts anderes einfiel – »seine Bemerkung ist in der Regel, daß er untertänigst einen von den Gentlemen zu sehen wünschte, und daß er gerne etwas verdienen möchte. Aber Ihr seht, Sir«, fügte Perch hinzu, indem er seine Stimme zu einem Flüstern ermäßigte und in der Unverletzlichkeit seines Vertrauens sich umwandte, um mit Hand und Knie der Tür einen Stoß zu geben, als ob dann das bereits Geschlossene noch fester schließe, »es ist kaum zu verwinden, daß ein gemeiner Bursche, wie dieser da, spionierend hierher kommt und behauptet, seine Mutter sei die Amme von unseres Hauses jungem Gentleman gewesen, und daß er von unserem Hause hoffe, man werde ihm darum eine Anstellung geben. Gewiß und wahrhaftig«, bemerkte Mr. Perch, »obgleich meine Frau damals ein so kleines Mädchen nährte, als wir nur je mit einem unsere Familie zu vermehren so frei waren, so würde ich mir doch nicht erlaubt haben, eine Bemerkung fallen zu lassen, daß sie fähig sei, Nahrung abzutreten – nein, und wenn’s zehnmal mehr gewesen wäre!«

Mr. Carker grinste nach ihm hin wie ein Haifisch, aber mit einer zerstreuten, gedankenvollen Miene.

»Ob es nicht wohl das beste wäre«, deutete Mr. Perch nach einem kurzen Schweigen und einem weiteren Husten an, »wenn ich ihm sagte, daß man ihn einsperren lasse, falls er sich wieder hier sehen lasse? Was leibliche Frucht betrifft«, fügte er bei, »so bin ich von Natur aus selbst so schüchtern, Sir, und meine Nerven sind durch Mistreß Perchs Zustand so abgespannt, daß ich’s leicht auf mein Gewissen nehmen könnte.«

»Laßt mich diesen Burschen sehen, Perch«, sagte Mr. Carker. »Bringt ihn herein.«

»Ja, Sir. Aber ich bitt‘ um Verzeihung, Sir«, sagte Mr. Perch, indem er an der Tür zögernd stehenblieb–»er ist grob von Aussehen.«

»Gleichwohl. Wenn er da ist, so soll er hereinkommen. Ich will nachher mit Mr. Gills sprechen. Heißt ihn warten!«

Mr. Perch verbeugte sich, schloß die Tür so genau und sorgfältig, als gedenke er, eine Woche auszubleiben, und ging, um die gewünschte Person unter den Sperlingen des Hofs aufzusuchen. Während seiner Abwesenheit nahm Mr. Carker seine Lieblingsstellung vor dem Kamin ein und schaute nach der Tür hin, so daß er, die untere Lippe zu einem Lächeln verzogen, das die ganze obere Zahnreihe zeigte, ein eigentümlich lauerndes Aussehen gewann.

Der Bote ließ nicht lange auf sich warten, und ihm folgten ein Paar schwere Stiefel, die gleich Koffern den Gang entlang polterten. Mit den unzeremoniösen Worten: »Nur herein mit Euch!« – eine sehr ungewöhnliche Einführungsformel von seinen Lippen – brachte nun Mr. Perch einen kräftig gebauten Knaben von Fünfzehn, mit rundem, rotem Gesicht, rundem, glattem Kopf, runden, schwarzen Augen, runden Gliedern und rundem Leib, der außer der allgemeinen Rundung seines Äußeren einen völlig krempenlosen, runden Hut in der Hand trug, zur Tür herein.

Auf einen Wink von Mr. Carker hatte Perch kaum den Burschen vorgestellt, als er sich wieder entfernte. Sobald die beiden sich allein gegenüber standen, faßte Mr. Carker ohne ein Wort der Einleitung denselben bei der Kehle und schüttelte ihn, bis ihm der Kopf von den Schultern zu fallen schien.

Der Knabe konnte sich trotzdem seines Erstaunens nicht erwehren, den Gentleman mit seinen vielen weißen Zähnen, der ihn würgte, und die Bureauwände wild anzuglotzen, als sei er entschlossen, wenn es ihm wirklich ans Leben gehe, so solle doch sein letzter Blick noch den Geheimnissen gewidmet sein, für deren aufdringliche Erspähung er so schwere Strafe erleiden sollte. Endlich brachte er die Worte hervor:

»Ei, Sir, so laßt mich doch los!«

»Dich loslassen!« rief Mr. Carker. »Wie! Ich habe dich jetzt einmal – he?« Ohne Zweifel war die« der Fall, und zwar recht fest. »Du Hund«, fügte Mr. Carker durch die geschlossenen Kiefer sprechend, bei, »ich will dich erdrosseln!«

Die unverhoffte Art dieses Empfangs schlug den Mut Sieders, der sich doch sonst auch aufs Raufen verstand, völlig nieder, und als sein Kopf endlich stationär wurde und er dem Gentleman ins Gesicht oder vielmehr in die Zähne sah, die nach ihm hinkläfften, so vergaß er endlich seine Mannheit so weit, daß er zu heulen begann.

»Ich habe Euch ja nichts getan, Sir«, sagte Sieder, sonst auch Rob oder Schleifer und stets Toodle.

»Du junger Halunke!« entgegnete Mr. Carker, indem er ihn langsam losließ und rücklings wieder in seine Lieblingsstellung zurücktrat, »was soll das heißen, daß du dich unterstehst, hierherzukommen?«

»Ich habe nichts Unrechtes damit gemeint, Sir«, winselte Rob, indem er die eine Hand an den Hals und die Knöchel der andern an seine Augen legte. »Ich will nie wiederkommen, Sir. Ich wollte nur Arbeit.«

»Arbeit, du junger Kain?« wiederholte Mr. Carker, ihn scharf ansehend. »Bist du nicht der faulste Tagedieb in London?«

Die Beschuldigung war zwar sehr kränkend für Mr. Toodle junior, paßte aber so gut auf seinen Charakter, daß er kein Wort der Widerrede vorzubringen wußte; er sah daher den Gentleman mit erschreckter, selbstanklagender und reuevoller Miene an. Wir müssen bemerken, daß Mr. Carkers Anblick so schreckhaft auf ihn wirkte, daß er seine runden Augen keinen Moment von ihm wandte.

»Bist du nicht ein Dieb?« sagte Mr. Carker, dessen Hände in den Hosentaschen staken.

»Nein, Sir«, entgegnete Rob.

»Ja!« sagte Mr. Carker.

»Nein, gewiß nicht, Sir«, sagte Rob schüchtern. »Ihr dürft mir’s glauben, daß ich in meinem Leben nicht gestohlen habe, Sir. Ich weiß zwar, daß ich auf unrechten Wegen ging, Sir, seit ich das Vogelfangen und Wettlaufen anfing. Ein junger Bursch kann freilich denken«, fügte Mr. Toodle junior, mit einem Reueausbruch bei, »daß singende Vögel eine unschuldige Gesellschaft sind; aber niemand weiß, welches Unheil in den kleinen Geschöpfen steckt und wie sie einen herunterbringen können.«

Ihn schienen sie bis auf eine Velpeljacke, sehr abgetragene Hosen, eine besonders kleine rote Weste, die schon einem Brustlätzchen glich, ein darunter hervorsehendes blau kariertes Hemd und auf den erwähnten Hut heruntergebracht zu haben.

»Ich bin nicht zwanzigmal nach Hause gekommen, seit mir’s die Vögel angetan hatten«, sagte Rob, »und das ist jetzt zehn Monate her. Wie kann ich auch in die Heimat gehen, wo alles sich unglücklich fühlt, wenn es mich zu Gesicht kriegt! Ich wundere mich nur«, fuhr Sieder mit einem lauten Weinen fort, indem er sich die Augen mit dem Rockärmel beschmierte, »daß ich mir nicht schon lange das Leben genommen habe!«

Alles das, samt der erstaunten Äußerung, daß das letztere seltene Kunststück nicht gelungen war, sprach der Knabe so, als zögen es Mr. Carkers Zähne aus ihm heraus, und als liege es nicht in seiner Macht, irgend etwas zu verhehlen, solange diese Anziehungsbatterie in voller Tätigkeit war.

»Du bist mir ein sauberes Früchtlein!« sagte Mr. Carker, den Kopf gegen ihn schüttelnd. »Für dich ist Hanf gesät, du feiner Patron!«

»Jawohl, Sir«, erwiderte der unglückliche Sieder, abermals heulend und aufs neue seine Zuflucht zu dem Rockärmel nehmend, »und bisweilen würde ich mich auch nicht darum kümmern, wenn er schon aufgegangen wäre. Mein ganzes Unglück hat mit dem Schwänzen angefangen, Sir; aber was konnte ich auch anderes tun, als schwänzen?«

»Als was?« fragte Mr. Carker.

»Schwänzen, Sir. Die Schule schwänzen.«

»Willst du damit sagen, du habest getan, als gehest du hin, obschon du es unterließest?« fragte Mr. Carker.

»Ja, Sir – das ist schwänzen, Sir«, erwiderte der vormalige Schleifer sehr gedrückt. »Wenn ich hinging, wurde ich durch die Straßen verfolgt, Sir, und war ich dort, so bekam ich Schläge. Deshalb schwänzte ich und verbarg mich irgendwo – und so fing die Sache an.«

»Und du willst mir sagen«, erwiderte Mr. Carker, indem er ihn wieder an die Kehle packte, auf Armeslänge vor sich hinhielt und eine Weile schweigend betrachtete, »daß du einen Platz wünschest?«

»Ich würde es dankbar annehmen, wenn man es mit mir versuchen wollte, Sir«, entgegnete Toodle junior in ersticktem Tone.

Mr. Carker, der Geschäftsführer, drückte ihn rücklings in eine Ecke – der Knabe ließ sich’s ruhig gefallen und wagte kaum zu atmen, ja nicht einmal ein Auge abzuwenden vom Gesicht des Gentleman – und zog die Klingel.

»Sagt Mr. Gills, er solle herkommen.«

Mr. Perch war zu ehrerbietig, um über die Gestalt in der Ecke ein Merkmal der Überraschung oder des Erkennens auszudrücken, und unmittelbar darauf trat Onkel Sol ein.

»Nehmt Platz, Mr. Gills«, sagte Carker mit einem Lächeln. »Wie geht es Euch? Ich hoffe, Ihr erfreut Euch einer guten Gesundheit.«

»Danke, Sir«, versetzte Onkel Sol, sein Taschenbuch herausnehmend und einige Banknoten überreichend. »Meinen Körper belästigt nichts als das Alter. Fünfundzwanzig, Sir.«

»Ihr seid so pünktlich, Mr. Gills, wie einer von Euren Chronometern«, entgegnete der lächelnde Geschäftsführer und nahm aus einem seiner vielen Schubfächer ein Papier heraus, auf dessen Hinterseite er eine Bemerkung verzeichnete, während Onkel Sol ihm über die Schulter zusah. »Ganz richtig.«

»Ich lese in den Seeberichten, Sir, daß der Sohn und Erbe nicht angetroffen worden ist, Sir«, sagte Onkel Sol mit einiger Erhöhung des gewöhnlichen Zitterns in seiner Stimme.

»Dem Sohn und Erben ist keiner begegnet«, versetzte Carker. »Er scheint stürmisches Wetter gehabt zu haben, Mr. Gills, und wurde wahrscheinlich von seinem Kurse abgetrieben.«

»Gebe Gott, daß er in Sicherheit ist«, sagte der alte Sol.

»Ja, gebe es der Himmel!« pflichtete Mr. Carker in jener stimmlosen Art bei, die den aufmerksamen jungen Toodle wieder zittern machte. »Mr. Gills«, fuhr er laut fort, indem er sich in seinen Stuhl zurückwarf, »Ihr werdet wohl Euren Neffen sehr vermissen.«

Onkel Sol, der an seiner Seite stand, nickte mit dem Kopf und seufzte tief auf.

»Mr. Gills«, sagte Carker, seine weiche Hand um den Mund spielen lassend und dem Instrumentenmacher ins Gesicht sehend, »es wäre doch kurzweiliger für Euch, wenn Ihr jetzt einen jungen Menschen sternchenland.com in Eurem Laden hättet, und ich würde es als Gefälligkeit ansehen, wenn Ihr vorderhand einem solchen Quartier geben wolltet. Nein, ich weiß natürlich wohl«, fügte er hastig bei, um dem, was der alte Mann sagen wollte zuvorzukommen, »daß es bei Euch nicht viel zu tun gibt; aber Ihr könnt ihn das Haus fegen, die Instrumente polieren und sonstige geringe Arbeit verrichten lassen, Mr. Gills. Der dort ist der Junge!«

Sol Gills drückte die Brille von der Stirne nach den Augen nieder und betrachtete Toodle junior, der aufrecht in der Ecke stand. Sein Kopf sah, wie es gewöhnlich der Fall war, aus, als sei er frisch aus einem Eimer kalten Wassers gezogen worden, seine kleine Weste hob sich und fiel rasch unter dem Spiel der inneren Erregungen, und seine Augen hafteten unausgesetzt auf Mr. Carker, ohne die mindeste Berücksichtigung des ihm vorgeschlagenen Dienstherrn.

»Wollt Ihr ihm Quartier geben, Mr. Gills?« fragte der Geschäftsführer.

Ohne gerade in Begeisterung zu geraten, erwiderte der alte Sol, er freue sich über jede Gelegenheit, wie gering sie auch sein möge, Mr. Carker einen Gefallen zu erweisen, da ihm dessen Wunsch in einer solchen Sache Befehl sei; der hölzerne Midshipman werde sich glücklich schätzen, einen Gast, den Mr. Carker auserlesen, in sein Berth aufzunehmen.

Mr. Carkers ganzes Zahnfleisch wurde sichtbar, so daß der achtsame Toodle junior nur noch mehr zitterte. Der Geschäftsführer dankte dem Instrumentenmacher für seine Höflichkeit freundlichst.

»Ich will ihn also bei Euch unterbringen, Mr. Gills«, sagte er, indem er aufstand und den alten Mann bei der Hand nahm, »bis ich mich entschlossen habe, was ich mit ihm anfangen will und was er verdient. Da ich durch meine Empfehlung eine Verantwortlichkeit für ihn übernehme, Mr. Gills«, er warf jetzt Rob ein so weites Lächeln zu, daß dieser am ganzen Leibe bebte, »so wird es mir lieb sein, wenn Ihr ihm scharf auf die Nähte geht und über sein Betragen mir Bericht erstattet. Diesen Nachmittag will ich auf meinem Heimwege seinen Eltern, die achtbare Leute sind, einige Fragen vorlegen und über einige Einzelheiten seiner eigenen Angaben weitere Auskunft einholen. Ist das geschehen, Mr, Gills, so will ich ihn morgen früh zu Euch schicken. Gott befohlen!«

Sein Abschiedslächeln war so voll von Zähnen, daß der alte Sol ganz verwirrt wurde und sich nicht recht behaglich dabei fühlte. Er ging jedoch nach Hause und dachte unterwegs an tobende Wellen, scheiternde Schiffe, ertrinkende Menschen, an eine alte Flasche Madeira, die vielleicht nie ans Licht kam, und an andere unheimliche Dinge.

»Jetzt, Bursche«, sagte Mr. Carker, indem er den jungen Toodle an die Schulter faßte und in die Mitte des Zimmers zog – »hast du mich verstanden?«

»Ja, Sir«, lautete Robs Antwort.

»Du begreifst nun vielleicht«, fuhr sein Gönner fort, »daß du, statt hierher zu kommen, in der Tat besser getan hättest, ins Wasser sternchenland.com zu springen, wenn es dir je einfallen sollte, mich zu täuschen oder mir irgendeinen Streich zu spielen.«

Nichts schien Rob klarer zu sein als das.

»Würdest du mich einmal belogen haben, so komm mir nie wieder in den Weg«, sagte Mr. Carker. »Wenn nicht, so warte heute nachmittag in der Nähe des Hauses deiner Mutter auf mich. Ich reite um fünf Uhr von hier weg. Gib mir die Adresse.«

Rob nannte langsam Straße und Hausnummer, die Mr. Carker aufschrieb; auch buchstabierte sie Rob noch einmal durch, als glaube er, das Auslassen eines Striches oder eines Tüpfelchens könnte ihn zugrunde richten. Mr. Perch führte ihn dann zur Tür hinaus, und Rob, der bis zum letzten Moment seine runden Augen nicht von seinem Gönner gewandt hatte, verschwand für eine Weile.

Mr. Carker hatte im Laufe des Tages noch sehr viel zu tun und zeigte verschiedenen Leuten seine Zähne. Im Bureau, im Hof, auf der Straße und auf der Börse glänzten und starrten sie in ihrer ganzen Fülle. Punkt fünf Uhr langte Mr. Carkers Fuchs an. Der Geschäftsführer saß auf und schlug den Weg nach Cheapside ein.

Da um diese Stunde niemand, selbst wenn er Lust dazu hat, leicht schnell durch das Gedränge der City reiten kann, so ließ Mr. Carker sein Tier zwischen den Karren und Wagen hindurch gemächlich im Schritt gehen. Er mied dabei, wo es immer auch war, die feuchten, schmutzigen Plätze der Straße und gab sich ungemein viel Mühe, sich selbst und sein Roß reinzuhalten. Während er so weiterritt und die Vorübergehenden betrachtete, fiel sein Blick plötzlich auf die runden Augen des glattköpfigen Rob, die so fest auf seinem Gesichte hafteten, als hätten sie sich nie von demselben losgelöst, während der Knabe selbst ein Taschentuch, zusammengedreht wie ein gefleckter Aal, um den Leib geknüpft trug und sich augenscheinlich anschickte, seinen Beschützer zu begleiten, mochte dieser nun im Schritt, Trab oder Galopp gehen.

Diese schmeichelhafte Aufmerksamkeit war von so ungewöhnlicher Art und fesselte auch die Aufmerksamkeit der Passanten so, daß Mr. Carker bei erster Gelegenheit eine saubere Straße benutzte und sein Tier zu traben anfangen ließ. Rob tat augenblicklich dasselbe. Mr. Carker ließ sein Roß schärfer ausgreifen, aber Rob verhielt sich auch hier nicht flau. Dann kam ein kurzer Galopp – auch das brachte den Jungen nicht in Verlegenheit. So oft Mr. Carker seine Blicke nach der Wegseite hinüber richtete, sah er Toodle junior stets mit ihm gleichen Schritt halten, ohne daß es denselben anzufechten schien; denn Rob arbeitete sich nach der erprobtesten Weise der Wettläufer mit dem Ellenbogen vorwärts.

Wie lächerlich sich diese Begleitung auch ausnehmen mochte, war sie doch ein Zeichen des über den Knaben gewonnenen Einflusses, und Mr. Carker ritt, wenn er schon nicht dergleichen tat, als ob er darauf achte, in die Gegend von Mr. Toodles Haus. Dort ließ er sein Tier langsamer schreiten, und Rob ging voraus, um ihm den Weg durch die Straßen anzudeuten. Als endlich Mr. Carker einen sternchenland.com an einem benachbarten Tore stehenden Mann herbeirief, der während seines Besuches in den Gebäuden, die an die Stelle von Staggs Gärten getreten waren, das Roß in Verwahrung nehmen sollte, hielt Rob dem absteigenden Geschäftsführer dienstfertig den Steigbügel.

»Nun, Bürschlein«, sagte Mr. Carker, indem er ihn bei der Schulter faßte, »komm mit!«

Dem verlorenen Sohne war es wahrscheinlich nicht sehr wohl zu Mute beim Besuch der elterlichen Wohnung; da ihn aber Mr. Carker vor sich hinschob, so blieb ihm keine andere Wahl, als die rechte Tür zu öffnen und sich in die Mitte seiner Brüder und Schwestern, die in erstaunlicher Anzahl den Teetisch der Familie umstanden, hineinschieben zu lassen. Beim Anblick des Verlorenen, den ein Fremder am Kamisol hatte, brach die ganze zarte Verwandtschaft in ein allgemeines Geheul aus, das Rob durch seine eigene Stimme verstärken half, sobald er in der Mitte der Familie seiner Mutter ansichtig wurde, die den Jüngsten in den Armen hielt und bei seinem Eintritt blaß und zitternd sich erhob.

Fest überzeugt, der Fremde müsse, wenn er nicht Meister Knüpfauf in Person sei, doch zu dessen Gesellschaft gehören, wehklagte die junge Familie nur um so lauter, während die kindlicheren Mitglieder derselben, die die ihrem Alter eigentümlichen Erregungen nicht zu zügeln vermochten, sich wie junge Vögel, wenn sie durch einen Habicht erschreckt werden, auf den Rücken warfen und ungestüm mit den Füßen zappelten. Endlich gelang es der armen Polly, sich Gehör zu schaffen und mit bebenden Lippen zu sprechen:

»Ach, Rob, mein armer Junge, was hast du getan!«

»Nichts, Mutter«, versetzte Rob mit kläglicher Stimme. »Fragt den Gentleman.«

»Ihr braucht nicht zu erschrecken«, sagte Mr. Carker. »Ich habe etwas Gutes mit ihm vor.«

Bei dieser Ankündigung brach Polly, die bisher nicht geweint hatte, in Tränen aus, und die älteren Toodles, die eine Rettung beabsichtigt hatten, öffneten die geballten Fäuste wieder. Die jüngeren Toodles scharten sich um den Schoß ihrer Mutter und sahen unter ihren eigenen runden Armen nach dem banditenmäßigen Bruder und dessen unbekannten Freunde hin. Alles segnete den Gentleman mit den schönen Zähnen, der in so guter Absicht gekommen war.

»Dieser Bursche ist Euer Sohn«, sagte Mr. Carker zu Polly, indem er Rob leicht rüttelte. »Nicht wahr, Ma’am?«

»Ja, Sir«, schluchzte Polly mit einem Knix. »Ja, Sir.«

»Ich fürchte, ein schlimmer Sohn?« fragte Mr. Carker.

»Nie schlimm gegen mich, Sir«, entgegnete Polly.

»Gegen wen sonst?« fragte Mr. Carker.

»Er ist ein bißchen wild gewesen, Sir«, antwortete Polly, den Jüngsten festhaltend, der mit Armen und Beinen strampelte, um sich durch die Luft auf Sieder niederzulassen, »und ist mit schlimmen Kameraden umgegangen. Aber ich hoffe, er hat seinen Fehler eingesehen, Sir, und wird wieder gut werden.«

Mr. Carker betrachtete Polly, das reinliche Zimmer, die reinlichen Kinder und das einfache Toodle-Gesicht, das, das Bild von Vater und Mutter vereint gebend, sich überall um ihn her reflektierte und wiederholte. Der eigentliche Zweck seines Besuches schien erfüllt zu sein.

»Euer Mann ist wohl nicht zu Hause?« fragte er.

»Nein, Sir«, antwortete Polly. »Er ist mit dem Zug fort.«

Der verlorene Rob schien bei dieser Kunde sich sehr erleichtert zu fühlen, obschon seine Geistesfähigkeiten noch immer von seinem Gönner so in Anspruch genommen waren, daß er seine Augen nicht von dessen Gesicht abwandte, wenn er nicht etwa gelegentlich einen Moment erstahl, um der Mutter einen bekümmerten Blick zuzuwerfen.

»So will ich Euch sagen«, fuhr Mr. Carker fort, »wie mir Euer Junge da in den Wurf kam, wer ich bin und was ich für ihn zu tun beabsichtige.«

Mr. Carker tat das in seiner eigenen Art, indem er sagte, er habe sich anfänglich vorgenommen, namenlose Schrecken auf Robs anmaßendes Haupt zu häufen, weil er es wagte, sich in Dombey und Sohns Bereich zu zeigen; aus Rücksicht auf seine Jugend, seine Reue aber habe sich später sein Herz erweicht. Er fürchte zwar, eine Übereilung zu begehen, wenn er sich für den Knaben interessiere, da er sich dadurch leicht den Tadel anderer Menschen zuziehen könne; er tue es übrigens aus freien Stücken und nehme die Verantwortlichkeit auf sich, denn die frühere Beziehung der Mutter zu Mr. Dombeys Familie und Mr. Dombey selbst habe damit durchaus nichts zu schaffen, so daß er, Mr. Carker, in dieser Sache ganz allein die handelnde Person sei. Nachdem er seine gute Absicht ins beste Licht gestellt und von der ganzen anwesenden Familie den wärmsten Dank entgegengenommen hatte, deutete er zwar mittelbar, aber doch ziemlich deutlich an, daß Robs unbedingte Treue und Anhänglichkeit dessen Pflicht der allergeringste Dank sei, den er erwarten könne. Rob fühlte diese große Wahrheit so tief, daß er, mit über die Backen rollenden Tränen seinen Gönner ansehend, heftig mit dem Kopf nickte, bis er fast so wackelig zu sein schien, wie am Morgen unter den Händen des Gentleman.

Polly, die weiß der Himmel wie viele schlaflose Nächte wegen ihres verirrten Erstgeborenen verbracht und denselben seit Wochen nicht mehr gesehen hatte, fühlte sich so ergriffen, daß sie vor Mr. Carker, dem Geschäftsführer, trotz seiner Zähne, wie vor einem guten Geiste hätte niederknien mögen. Da sich jedoch Mr. Carker zum Gehen erhob, so dankte sie ihm nur mit ihren mütterlichen Gebeten und Segenswünschen – ein reicher Dank, wenn er vom Herzen kommt, ja, überreich für alle Dienstleistungen Mr. Carkers, so daß er wohl hätte einen großen Überschuß herauszahlen dürfen.

Als der Geschäftsführer durch den Kinderschwarm zur Tür ging, eilte Rob auf seine Mutter zu und schloß sie und den Jüngsten in die gleiche reuige Umarmung ein.

»Ich will mir jetzt alle Mühe geben, liebe Mutter. Bei meiner Seele, das will ich!« sagte Rob.

»O, tu‘ es doch, mein lieber Sohn! Ich bin überzeugt, du wirst Wort halten, um unserer und deiner selbst willen«, erwiderte Polly, die ihn unter Tränen küßte. »Aber du kommst doch wieder zurück, um mir zu erzählen, wenn du den Gentleman begleitet hast?«

»Ich weiß nicht, Mutter«, versetzte Rob zögernd und schaute zu Boden. »Der Vater – wann kommt er nach Hause?«

»Nicht vor morgen früh um zwei Uhr.«

»So will ich kommen, liebe Mutter!« rief Rob.

Und er eilte durch das schrille Geschrei, mit dem seine Brüder und Schwestern dieses Versprechen aufnahmen, um Mr. Carker zu folgen.

»Wie?« fragte Mr. Carker, der das Abschiedsgespräch mitangehört hatte, »du hast wohl einen schlimmen Vater?«

»Nein, Sir«, versetzte Rob erstaunt, »Es gibt auf der ganzen Welt keinen besseren oder liebevolleren Vater, als der meinige ist.«

»Warum weichst du ihm aus?« fragte ihn sein Gönner.

»Es ist ein mächtiger Unterschied zwischen einem Vater und einer Mutter, Sir«, entgegnete Rob nach einigem Stocken. »Er würde mir kaum glauben, daß ich mich wirklich bessern wolle – obschon ich weiß, daß er’s gerne tun würde; aber eine Mutter – sie glaubt immer, was gut ist, Sir; wenigstens weiß ich das von meiner Mutter, und Gott möge sie dafür segnen.«

Mr. Carkers Mund öffnete sich zum Sprechen; er schwieg jedoch, bis er sein Pferd bestiegen, und den Mann, der es gehalten, entlassen hatte. Dann schaute er aus seinem Sattel scharf auf das achtsame Gesicht des Knaben nieder und sagte:

»Du kommst morgen früh zu mir. Man wird dir dann sagen, wo der alte Gentleman wohnt, der heute morgen bei mir war. Du hast von mir gehört, daß du zu ihm gehen sollst.«

»Ja, Sir«, versetzte Rob.

»Ich nehme großen Anteil an jenem alten Herrn, und wenn du ihm dienst, dienst du mir – hast du mich verstanden? Schon gut«, fügte er bei, denn er sah das runde Gesicht des Knaben bei dieser Frage zur Antwort erglänzen. »Ich sehe, du verstehst mich. Ich will alles von diesem Gentleman erfahren – wie es ihm von Tag zu Tag ergeht; es ist mir angelegentlich darum zu tun, ihm Dienste zu leisten – und ich muß namentlich wissen, wer ihn besucht. Du begreifst?«

Rob neigte das sich nicht von Mr. Carker abwendende Gesicht und sagte – »Ja, Sir.«

»Es wäre mir lieb, wenn ich hörte, daß er Freunde hat, die ihm Aufmerksamkeit erweisen und mit ihm gut sind – denn der arme Mann lebt jetzt sehr verlassen. Deshalb will ich wissen, wer an ihm und seinem Steffen im Ausland Anteil nimmt. Vielleicht kommt eine sehr junge Lady zu ihm auf Besuch. Namentlich über die möchte ich Auskunft erhalten.«

»Ich will Sorge tragen, Sir«, sagte der Knabe.

»Und nimm dich in acht«, erwiderte der Gönner, indem er sein grinsendes Gesicht dem des Knaben näher brachte und ihn mit dem Handgriff seiner Peitsche auf die Schulter klopfte – »nimm dich in acht, daß du über meine Aufträge mit niemand sprichst, als mit mir.«

»Mit niemand in der Welt, Sir«, entgegnete Rob, mit dem Kopf nickend.

»Weder dort«, fuhr Mr. Carker fort, nach dem Platze hindeutend, den sie eben verlassen hatten, »noch sonst irgendwo. Ich will dich auf die Probe stellen, wie treu und dankbar du sein kannst.«

Nach diesen Worten, die durch das Zeigen der Zähne und die Bewegung des Kopfes ebensogut zu einer Drohung als zu einem Versprechen wurden, wandte er sich von Robs Augen ab, die noch immer auf ihm hafteten, als habe er den Knaben mit Leib und Seele durch einen Zauber gewonnen, und ritt weiter. Er war noch nicht weit gekommen, als er bemerkte, daß sein getreuer Knappe, wie zuvor gegürtet, ihm zur großen Belustigung einiger Zuschauer die frühere Aufmerksamkeit schenkte. Das bewog ihn, sein Tier zu zügeln und Rob Gegenbefehl zu erteilen. Um sich zu überzeugen, daß ihm Gehorsam geleistet wurde, drehte er sich im Sattel und sah dem sich Entfernenden nach. Es war merkwürdig, daß selbst jetzt noch Rob seine Augen nicht ganz von dem Gesichte des Reiters abwenden konnte; denn er drehte noch öfter den Kopf herum, um ihm nachzuschauen, und verwickelte sich dadurch in ein wahres Gewitter von Püffen und Stößen, die er von den auf der Straße Laufenden erhielt, ohne aber daß er in der Verfolgung der einen unabweisbaren Idee etwas davon zu verspüren schien.

Mr. Carker, der Geschäftsführer, ritt mit der ruhigen Miene eines Mannes, der die Angelegenheiten des Tages in befriedigender Weise erledigt hat und deshalb sich im Gemüte behaglich fühlt, im Schritt weiter. So selbstgefällig und freundlich, wie es ein Mensch nur sein kann, summte er auf dem Wege durch die Straßen ein Liedchen vor sich hin. Sein Herz schien vor Freude schneller zu schlagen.

Und im Geiste wärmte sich auch Mr. Carker auf einem Herd. Gemächlich zusammengerollt war er bereit zum Springen, zum Kratzen, zum Zerreißen oder zum Samtpfötchen, je nachdem er Laune hatte oder die Gelegenheit sich darbot. Gab es vielleicht einen Vogel in einem Käfig, der seine Blicke auf sich zog?

»Eine sehr junge Dame!« dachte Mr. Carker während seines Liedchens. »Ja, als ich sie das letztemal sah, war sie ein kleines Kind. Ich erinnere mich, mit schwarzen Augen und Locken, und einem schönen Gesicht – einem sehr schönen Gesicht! Sie ist wahrhaftig hübsch.«

Noch freundlicher, behaglicher, und sein Liedchen vor sich hinsummend, bis seine vielen Zähne dazu vibrierten, trieb Mr. Carker sein Pferd weiter und bog endlich in die schattige Straße ein, wo sternchenland.com Mr. Dombeys Haus stand. Er war so geschäftig gewesen, um für schöne Gesichter Gewebe zu stricken und sie mit Maschen zu verdunkeln, daß er kaum daran dachte, das Ende seines Rittes schon erreicht zu haben, und erst als er durch die kalte Perspektive der hohen Häuser hinunter schaute, hielt er einige Schritte vor der Tür rasch sein Pferd an. Um jedoch zu erklären, warum Mr. Carker sein Roß so hurtig zügelte, und was er jetzt mit nicht geringem Erstaunen bemerkte, müssen wir uns eine kleine Abschweifung erlauben.

Sobald Mr. Toots sich aus Blimbers Knechtschaft emanzipiert hatte und in den Besitz eines gewissen Teils seiner irdischen Habe gekommen war, der, wie er während des letzten Halbjahrs seiner Probezeit jeden Abend Mr. Feeder als neue Entdeckung mitzuteilen pflegte, ihm von den Testamentsvollstreckern nicht vorenthalten werden konnte, legte er sich mit großem Fleiß auf die Wissenschaft des Lebens. Von dem edlen Wetteifer beseelt, eine glänzende und ausgezeichnete Laufbahn zu verfolgen, hatte Mr. Toots eine Auswahl von Zimmern möbliert und unter denselben eines mit den Porträts von gewinnenden Rennpferden, die für ihn keine Spur von Interesse hatten, wie auch mit einem Diwan, auf dem es ihm ganz ärmlich zumute wurde, verschönert. In dieser künstlichen Wohnung widmete sich Mr. Toots der Kultur der schönen Künste, die das Dasein verschönern und humanisieren; sein Hauptlehrer darin war ein interessanter Charakter, der Preishahn genannt, der stets in der Schenkstube zum schwarzen Dachs lärmte, im wärmsten Wetter einen weißen Flaus trug, und dreimal wöchentlich für die kleine Entschädigung von zehn Schillingen sechs Pencen per Gang Mr. Toots um die Ohren klopfte.

Der Preishahn, der der eigentliche Apollo von Mr. Toots‘ Pantheon war, hatte bei ihm einen Marqueur eingeführt, der ihn Billardspielen lehrte, einen Leibgardisten, der Fechtstunden gab, einen Wechselreiter, der im Reiten Unterricht erteilte, einen Gentleman aus Cornwales, von dem im athletischen Fach Nutzen gezogen werden konnte, und zwei oder drei andere Freunde, die in die schönen Künste nicht weniger tief eingeweiht waren. Unter solchen Umständen konnte es kaum fehlen, daß Mr. Toots rasche Fortschritte machte, und er säumte nicht, den Unterricht dieser Lehrer bestens auszunutzen.

Wir wissen nicht, wie es kam, aber während sogar diese Gentlemen noch den Glanz der Neuheit für sich hatten, fühlte sich Mr. Toots, ohne sich dafür einen Grund angeben zu können, nicht ganz wohl und behaglich. Es gab Spreu in seinem Korn, die kein Preishahn herauspicken, und düstere Reisebilder vor seiner Phantasie, die nicht einmal ein Athlet niederzuschlagen vermochte. Nichts schien Mr. Toots so wohl zu bekommen, als wenn er stets Karten an Mr. Dombeys Tür abgeben konnte. Kein Steuereinnehmer in den britischen Domänen – das verbreitetste Gebiet, in dem die Sonne nie untergeht, und unablässig der Steuereinnehmer auf den Beinen sternchenland.com ist – war so regelmäßig und beharrlich in seinen Besuchen, wie Mr. Toots.

Mr. Toots ging nie die Treppe hinauf, sondern verrichtete stets dieselbe Zeremonie, für die er sich reich herausputzte, an der Flurtür.

»Ah, guten Morgen«, lautete regelmäßig seine erste Bemerkung gegen den Diener. »Für Mr. Dombey« die zweite, indem er eine Karte abgab – »für Miß Dombey« die nächste, gleichfalls von einer Karte begleitet.

Mr. Toots wandte sich dann um, als ob er gehen wolle; aber der Diener kannte ihn zu gut und wußte, daß er das nicht tun würde.

»O, ich bitte um Verzeihung«, sagte Mr. Toots, als sei ihm plötzlich ein Gedanke gekommen. »Ist die junge Kammerfrau zu Hause?«

Der Diener glaubte es, wußte es aber nicht genau, deshalb zog er an einer aufwärts gehenden Klingel und schaute die Treppe hinauf. Dann pflegte er zu sagen, ja sie sei zu Haus und komme eben herunter. Miß Nipper erschien dann, und der Diener entfernte sich.

»Ah, wie geht es Euch?« fragte dann Mr. Toots stockend, indem er leicht errötete.

Susanna dankte ihm und erwiderte:

»Ganz gut.«

»Was macht Diogenes?« lautete Mr. Toots‘ zweite Frage.

Er hielt sich in der Tat recht gut. Miß Florence liebte ihn mit jedem Tage mehr. Mr. Toots versäumte nicht, diese Meldung mit einem Ausdruck von Kichern zu begrüßen, ähnlich dem, wenn eine Flasche mit schäumendem Getränk geöffnet wird.

»Miß Florence ist ganz wohl, Sir«, fügte Susanna meistens bei.

»O, es ist nicht von Belang – danke Euch«, lautete dann unabänderlich die Erwiderung des Mr. Toots, der sich alsbald schnell auf die Beine machte.

Nun ist gewiß, daß Mr. Toots eine Art Nebel in seinem Kopf hatte, der ihn zu der Folgerung führte, wenn er im Laufe der Zeit erfolgreich die Hand von Florence anstreben könnte, so dürfte er sich für den glücklichsten Menschen halten. Ferner hat es seine Richtigkeit, daß er auf einem weiten Umwege bis zu diesem Punkt gekommen und hier stehengeblieben war. Sein Herz fühlte sich verwundet und schmolz zusammen; er war verliebt. Einmal des Nachts hatte er in dem verzweifelten Versuch, ein Gedicht auf Florence zu schreiben, bis zum Morgen gesessen und sich damit bis zu Tränen gerührt, obschon er in der Ausführung nie mehr als die Worte zustande brachte: »Für dich, Geliebte«; denn die im voraus niedergeschriebenen sieben andern Anfangsbuchstaben verwirrten den Flug seiner Einbildungskraft dermaßen, daß er keine Silbe weiter zu finden wußte.

Außer der Erfindung jener schlauen und politischen Maßregel, täglich für Mr. Dombey eine Karte abzugeben, wußte Mr. Toots‘ Gehirn zur Annäherung an den Gegenstand, der seine Gefühle gefangen sternchenland.com hielt, nichts zu ersinnen, bis er endlich nach tiefer Erwägung zu der Überzeugung kam, ein wichtiger Schritt vorwärts sei, wenn er sich in Miß Susanna Nippers Gunst einschleiche und sodann dieser Dame einen Wink über den Zustand seines Gemüts gebe.

Einige leichte, scherzhafte Aufmerksamkeiten gegen Miß Nipper schienen ihm da« beste Mittel zu sein, um sie für seinen Plan zu gewinnen. Da er jedoch mit sich selber nicht einig werden konnte, so befragte er den Preishahn, ohne jedoch diesen Gentleman ins Vertrauen zu ziehen, indem er ihm bloß andeutete, ein Freund aus Yorkshire habe sich brieflich von ihm (Mr. Toots) eine Auskunft über einen derartigen Fall erbeten. Der Preishahn antwortete, seine Losung sei stets: »Wagen gewinnt«, und meinte noch weiter: »Habt Ihr Euern Mann vor Euch und wißt Ihr, was zu tun ist, so geht hin und tut es.« Mr. Toots meinte, das unterstütze auch seine Meinung von der Sache, und faßte den heldenmütigen Entschluß, am andern Tag Miß Nipper zu küssen.

Tags darauf ließ sich Mr. Toots mit dem größten Wunder der Schneiderkunst versehen, das je von der Bude von Burgeß und Komp. gekommen war, und trat mit dem vorerwähnten Anschlag seinen Weg nach Mr. Dombeys Haus an. Je näher er aber dem Schauplatze des Handelns kam, desto mehr schwand ihm der Mut, und obgleich er schon nachmittags um drei Uhr in der Nähe des Hauses angelangt war, wurde es doch sechs Uhr, bis er an die Tür klopfte.

Alles verlief wie gewöhnlich bis zu dem Abschnitte, wo Susanna sagte, ihre junge Gebieterin sei wohl, und Mr. Toots darauf erwiderte, daß das nicht von Belang sei. Statt aber wie sonst gleich einer Rakete von hinnen zu schießen, blieb Mr. Toots nach dieser Bemerkung zu ihrem großen Erstaunen stehen und kicherte.

»Vielleicht wollt Ihr die Treppe hinaufgehen?« fragte Susanna.

»Ei, ja, ich denke, ich will hineinkommen«, versetzte Mr. Toots«.

Statt jedoch die Treppe hinaufzugehen, stürzte der kühne Toots, sobald die Tür geschlossen war, linkisch auf Susanna zu, umarmte dieses schöne Geschöpf und küßte sie auf die Wange.

»Fort mit Euch!« rief Susanna – »oder ich kratze Euch die Augen aus!«

»Nur noch einen!« sagte Mr. Toots.

»Macht, daß Ihr fort kommt!« entgegnete Susanna, indem sie ihm einen Stoß gab. Und noch obendrein so unschuldiges Volk, wie Ihr! Wer wird zunächst anfangen! Geht Eurer Wege, Sir!«

Susanna fühlte sich nicht sehr verlegen, denn sie konnte kaum sprechen vor Lachen; aber Diogenes hörte auf der Treppe das Rascheln von Kleidern an der Wand, ein Scharren von Füßen, und bemerkte durch das Geländer, daß gekämpft werde und eine fremde Kriegsmacht im Hause war. Da ihm nun das nicht gefiel, so eilte er zur Rettung herbei und hatte im Nu Mr. Toots bei den Waden.

Susanna kreischte, lachte, öffnete die Haustür und eilte die Treppe hinunter; der kühne Toots stolperte die Straße hinaus, sternchenland.com sternchenland.com während sich Diogenes an seiner Beinbekleidung festhielt, als seien Burgeß und Komp. Köche, die diesen leckeren Bissen zu einer Festtagslabung für ihn zubereitet hätten. Nachdem der Hund abgeschüttelt war, überkugelte er sich im Staub, stand wieder auf, kreiste um den schwindligen Toots her und schnappte nach ihm. Und all das Getümmel sah Mr. Carker, der in kleiner Entfernung sein Pferd hatte haltmachen lassen, zu seinem großen Erstaunen aus Mr. Dombeys stattlichem Hause herauskommen.

Mr. Carker behielt den unglücklichen Toots noch immer im Auge, während Diogenes hineingerufen und die Tür geschlossen wurde. Der junge Gentleman nahm jetzt seine Zuflucht nach einem nahegelegenen Torweg und verband das zerschlissene Bein seiner Pantalons mit einem kostbaren seidenen Taschentuch, das einen Teil der wertvollen Ausstattung für das heutige Abenteuer gebildet hatte.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Mr. Carker, mit dem gewinnendsten Lächeln auf ihn zureitend. »Ich hoffe, Ihr habt keinen Schaden genommen.«

»O nein – ich danke Euch«, versetzte Mr. Toots, sein glührotes Gesicht erhebend; »es ist nicht von Belang.«

Mr. Toots hätte, wenn es tunlich gewesen wäre, gar gerne angedeutet, daß der Schaden ihn empfindlich schmerzte.

»Wenn die Zähne des Hundes ins Fleisch gegangen sind, Sir« – begann Carker mit einer Darstellung seiner eigenen –

»Nein, danke Euch«, sagte Mr. Toots. »Es ist alles recht und gut – danke Euch.«

»Ich habe das Vergnügen, Mr. Dombey zu kennen«, bemerkte Carker.

»Wirklich?« entgegnete Toots errötend.

»Und Ihr erlaubt mir vielleicht«, fuhr Mr. Carker fort, indem er den Hut abnahm, »in seiner Abwesenheit für ihn mein Bedauern und meine Verwunderung auszudrücken, wie dieser Unfall möglich gewesen ist.«

Mr. Toots ist über diese Höflichkeit und über den glücklichen Zufall, sich mit einem Freund von Mr. Dombey zu befreunden, so erfreut, daß er sein Kartenfutteral, das er nie zu benutzen versäumt, wo sich eine Gelegenheit dazu bietet, herauszieht und Mr. Carker seinen Namen und seine Adresse gibt. Letzterer erwidert diese Aufmerksamkeit damit, daß er ihm seine eigene gibt, und so trennen sie sich.

Wie Mr. Carker langsam an dem Haus vorbeireitet, nach dem Fenster hinaufblickt und das sinnige Gesicht hinter dem Vorhang, das nach den Kindern herunterschaut, zu erspähen sucht, kommt der rauhe Kopf des Hundes daneben zum Vorschein, und Diogenes bellt und knurrt ohne Rücksicht auf alle Beschwichtigungsversuche ihm von oben nach, als wolle er auf ihn niederspringen und ihn in Stücke zerreißen.

Wohl gesprochen, Di, so nahe deiner Gebieterin! Belle ihm in sternchenland.com Ermangelung des anderen nur nach – wieder und wieder mit aufgerichtetem Kopf, funkelnden Augen und geiferndem Rachen. Belle nur zu, wie er dahinschleicht! Du hast eine gute Witterung, Di – fass‘, fass‘ die Katze!

Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Florence ist einsam und der Midshipman geheimnisvoll.

Florence lebte allein in dem traurigen großen Hause. Tag um Tag verging – sie blieb einsam, und die weißen Wände schauten mit leerem Stieren auf sie nieder, als hätten sie eine gorgonenartige Lust, ihre Jugend und Schönheit in Stein zu verwandeln.

Kein verzauberter Platz eines Märchens, mitten im dichtesten Wald eingeschlossen, war je für die Phantasie einsamer und verlassener, als das lauernd in der Straße stehende Haus ihres Vaters in seiner grimmigen Wirklichkeit. Selbst bei Nacht, wenn aus den benachbarten Fenstern die Lichter blinkten, stand es mit seiner spärlichen Beleuchtung da wie ein dunkler Klecks, während es bei Tag ein düsteres Zürnen auf seinem nie lächelnden Gesichte zeigte.

Es standen zwar keine zwei Drachen-Schildwachen davor, die in den Märchen gewöhnlich die gefangene Unschuld hüten müssen; aber außer einem glotzenden Gesicht mit boshaft geöffneten dünnen Lippen, das über den Türbogen alle Kommenden anstarrte, sah man ein ungeheuerliches Phantasiestück von rostigem Eisen über der Schwelle, das sich wie eine versteinerte Laube ausnahm, in Speere und korkzieherartige Spitzen auslief und zu jeder Seite zwei unheilverkündende Löschhörner hatte, als sollte damit gesagt werden: »Wer hier eintritt, lasse das Licht hinter sich!« Auf dem Portal waren keine talismanischen Zeichen eingegraben, aber das Haus hatte ein so vernachlässigtes Aussehen, daß die Knaben, namentlich an der Seitenwand um die Ecke, das Geländer und Pflaster mit Kreide bemalten und Gespenster an die Stalltür zeichneten. Wenn dann Mr. Towlinson die gottlose Jugend verscheuchte, so machte sie zum Dank Porträts von ihm, an denen die Ohren wagerecht unter dem Hut hervorwuchsen. Lärm gab es unter dem Schatten des Daches nicht. Die Blechmusikbande, die einmal in der Woche morgens durch die Straße kam, ließ nie eine Note unter diesen Fenstern ertönen, und alle derartigen Musiken, bis zu der quieksenden, geistesschwachen Drehorgel herunter mit den zitterbeinigen Automatentänzern, die durch sich öffnende Türen hinein- und herauswälzten, wichen wie auf gemeinsamen Antrieb davor zurück, als scheuten sie den hoffnungslosen Platz.

Der Bann, der darauf lag, war giftiger, als derjenige, der verzauberte Häuser für eine Zeitlang in Schlaf legte und sie wieder frisch und unbeschadet erwachen ließ. Die Verödung des Nichtgebrauchs zeigte sich überall in stummer Klarheit. Im Hause sternchenland.com selbst verloren die schwerfällig niederfallenden Vorhänge ihre früheren Falten und gewannen das Aussehen von Leichentüchern. Hekatomben von Möbeln, noch aufgeschichtet und zugedeckt, schrumpften ein wie gefangene, vergessene Menschen und veränderten sich unmerklich. Die Spiegel waren blind vom Hauch der Jahre. Die Farben der Teppiche verschossen und wurden matt, wie die Erinnerung an jene unbedeutenden Vorfälle des Jahres. Tische, die bei ungewohnten Fußtritten zusammenfuhren, knarrten und zitterten. Die Schlüssel rosteten in den Türschlössern. Feuchtigkeit bedeckte die Wände, und mit dem Hervortreten der weiß-grauen Stockflecken schienen die Bilder ins Innere zu kriechen und sich zu verbergen. Schimmel und Moder schlichen sich in den Schränken fort, und ganze Bäume von Pilzen wuchsen in den Kellerecken. Der Staub häufte sich derart an, daß niemand wußte, wie oder woher er kam, und jeden Tag hörte man von Spinnen, Motten und Maden. Auf Entdeckungsreisen ausgezogene schwarze Käfer fand man hin und wieder unbeweglich auf den Treppen oder in einem oberen Zimmer, als wunderten sie sich, wie sie dahin gekommen seien, und nachts begannen die Ratten durch die dunkeln Galerien, die sie hinter dem Getäfel untergruben, zu quieksen und zu scharren.

Die traurige Pracht der Gemächer, die in dem durch die geschlossenen Jalousien einfallenden zweifelhaften Lichte nur unvollkommen sichtbar wurden, stand ganz im Einklang mit dem Gedanken an einen verzauberten Platz – ebenso auch die fleckigen Pfoten der vergoldeten Löwen, die verstohlen unter ihren Umhüllungen hervorlugten – die auf Sockeln stehenden marmornen Büsten, die unheimlich durch ihre Schleier schauten – die Uhren, die nie die Stunde angaben, oder, wenn sie zufälligerweise aufgezogen wurden, falsche Zeiten andeuteten und gespenstische Zahlen schlugen, die nicht auf dem Zifferblatt standen – das gelegentliche Geklimper unter den Hängeleuchtern, das noch schauerlicher tönte als das Geläute von Lärmglocken – träge Luftzüge, die unter diesen Gegenständen umherschlichen, und eine geisterhafte Schar von andern Dingen, die sich vermummt wie auferstandene Leichen ausnahmen. Außerdem war auch noch die große Treppe vorhanden, auf die der Herr des Hauses so selten seinen Fuß setzte und vermittels welcher sein kleines Kind zum Himmel hinaufgestiegen war. Ferner andere Treppen und Gänge, die wochenlang von keinem Fuß betreten wurden, dann zwei geschlossene Zimmer mit ihren flüsternden Erinnerungen an tote Mitglieder der Familie; und in der ganzen Wohnung nur Florence, die sanfte Gestalt, die durch die Öde und das Düster wandelte – sie die einzige, welche den leblosen Dingen einen Anflug von menschlichem Interesse verlieh!

Denn Florence lebte allein in dem verlassenen Hause. Tag um Tag verging – sie blieb einsam, und die weißen Wände schauten mit leerem Stieren auf sie nieder, als hätten sie eine gorgonenartige Lust, ihre Jugend und Schönheit in Stein zu verwandeln.

Auf dem Dach und in den Ritzen des Pflasters begann Gras zu wachsen. Eine schuppige zerbröckelnde Vegetation sproßte um die Fensterrahmen. Bruchstücke von Mörtel verloren ihren festen Halt an der Innenseite der unbenutzten Schornsteine und fielen polternd nieder. Die zwei Bäume mit den rauchbraunen Stämmen waren welk bis oben hinauf, und die dürren Zweige überragten die wenigen Blätter. Durch das ganze Gebäude hatte sich das Weiß in Gelb, das Gelb in Braun umgewandelt, und seit der Zeit, als die arme Dame starb, war es langsam zu einer schwarzen Lücke in der langen eintönigen Straße geworden.

Aber Florence blühte hier wie die schöne Königstochter im Märchen. Die Bücher, die Musik und die täglichen Lehrer waren ihre einzigen Gesellschafter, Susanna Nipper und Diogenes ausgenommen, von denen die erstere infolge der Aufmerksamkeit auf die Studien ihrer jungen Gebieterin selbst gelehrt zu werden begann, während der letztere, vielleicht durch denselben Einfluß besänftigt, den Kopf auf die Fensterbank zu legen und den ganzen Sommermorgen über behaglich seine Augen nach der Straße hin auf- und zuzumachen pflegte. Manchmal reckte er auch seinen Kopf, um mit großer Bedeutsamkeit nach einem lärmenden Wagen zu sehen, der durch die Straße rasselte, während er zu andern Zeiten in aufgebrachter und unerklärlicher Erinnerung an seinen vermeintlichen Feind in der Nachbarschaft nach der Tür hinstürzte, ein betäubendes Gebell anschlug und dann mit der possierlichen Selbstgefälligkeit, die ihm eigen war, und mit der Miene eines Hundes, der einen öffentlichen Dienst geleistet hat, wieder zurückkehrte, um seine Schnauze abermals auf die Fensterbank zu legen.

So lebte Florence in ihrer Wildnis von einer Heimat – in dem Kreis ihrer unschuldigen Beschäftigungen und Gedanken, ohne daß sie darin gestört wurde. Sie konnte jetzt, ohne eine Zurückweisung besorgen zu müssen, nach dem Zimmer ihres Vaters hinuntergehen, an ihn denken und ihr bebendes Herz ihm schüchtern nachsenden. Es war ihr nicht verwehrt, die Gegenstände zu betrachten, die ihn umgeben hatten in seinem Leid, und sich in die Nähe seines Stuhles zu schmiegen, ohne Angst vor dem Blicke, dessen sie sich so wohl erinnerte. Sie konnte ihm kleine Zeichen ihrer Aufmerksamkeit geben, indem sie eigenhändig alles für ihn ordnete, kleine Blumensträuße auf seinen Tisch stellte, sie fortwährend mit andern wechselte, da sie welkten, ehe er zurückkam, jeden Tag etwas für ihn zurichtete und in der Nähe seines gewöhnlichen Sitzes irgendein scheues Merkmal ihres Dagewesenseins zurückließ. Heute war es ein kleines, gemaltes Gestell für seine Taschenuhr; aber morgen hatte sie Angst, es dazulassen, und ersetzte es mit einer andern selbstgefertigten Kleinigkeit, die ihm vielleicht weniger auffiel. Wenn sie in den Nächten erwachte, so zitterte sie bei dem Gedanken, er könnte nach Hause kommen und ihr kleines Geschenk zornig zurückweisen; und dann eilte sie in ihren Pantoffeln und mit klopfendem Herzen hinunter, um es wegzuschaffen. Oft legte sie nur ihr sternchenland.com Gesicht auf sein Pult, nichts zurücklassend als einen Kuß und eine Träne.

Doch keiner wußte davon. Wenn nicht in ihrer Abwesenheit das Gesinde ihr stilles Treiben entdeckte – aber alle hatten große Furcht vor Mr. Dombeys Zimmern – so blieb es ein tiefes Geheimnis in ihrer Brust. Florence pflegte sich zur Zeit der Dämmerung, früh am Morgen und wenn drunten das Essen ausgeteilt wurde, nach diesen Zimmern zu stehlen, und obgleich ihre Sorgfalt jede Ecke derselben verschönerte, ging sie doch so ruhig ein und aus wie ein Sonnenstrahl, nur mit dem Unterschied, daß sie ihr Licht zurückließ.

Eine schattenhafte Gesellschaft begleitete Florence auf und ab in dem widerhallenden Hause und setzte sich mit ihr in den öden Zimmern nieder. Als wäre ihr Leben ein Zaubergesicht, stiegen aus ihrer Einsamkeit dienende Gedanken auf, die sie mit phantastischen Wesenheiten bevölkerten. Sie vergegenwärtigte sich so oft, was ihr das Leben sein würde, wenn ihr Vater für sie ein Herz und er in ihr ein geliebtes Kind hätte, daß sie zuweilen für einen Augenblick fast glaubte, es sei wirklich so, und getragen von dem Strom dieser sinnigen Dichtung schien sie sich zu erinnern, wie sie beide dem verstorbenen Bruder ins Grab gesehen, wie sie dessen Herz unter sich geteilt, und wie sie die Erinnerung an ihn gemeinschaftlich empfunden hatten – wie oft sie jetzt noch von ihm sprachen, und wie ihr Vater liebevoll auf sie niedersah und ihr erzählte von ihrer gemeinsamen Hoffnung und von ihrem Vertrauen auf Gott. Zu andern Zeiten dachte sie sich ihre Mutter noch lebend. O, des Glückes, ihr um den Hals zu fallen und sich mit der Liebe und Zuversicht ihrer ganzen Seele an sie anzuklammern! Ach, und dann wieder die Verödung des einsamen Hauses, wenn der Abend kam und niemand da war!

Doch war ein Gedanke vorhanden – ein Gedanke kaum in ihr klar, aber gleichwohl glühend und kräftig in ihrem Innern – der Florence aufrecht erhielt, wenn sie sich bemühte, ihr so schwer geprüftes treues junges Herz mit Beharrlichkeit zu erfüllen. Wie in alle andern, die mit dem großen Leid unserer sterblichen Natur ringen, hatten sich auch in ihr Gemüt festliche Hoffnungen eingeschlichen, die einer unbestimmten jenseitigen Welt entstammten und ihr wie leise Musik von einer Wiedererkennung in dem fernen Lande, wo der Bruder und die Mutter ihrer harrten, zuflüsterten. Gewiß wußten beide von ihr, hatten Liebe und Mitleid für sie, waren unterrichtet von dem Weg, den sie auf Erden ging. Es gereichte Florence zum Trost, solchen Gedanken Raum zu geben, bis eines Tages – es war bald nachher, als sie ihren Vater nachts spät in seinem Zimmer gesehen hatte – die Vorstellung in ihr auftauchte, wenn sie um sein ihr entfremdetes Herz weine, so könnte sie die Geister der Toten gegen ihn aufregen. So ungereimt und kindisch das Zittern vor einem halbgebildeten derartigen Gedanken erscheinen mag, quoll es doch aus einer liebenden Seele sternchenland.com hervor, und von Stunde an kämpfte Florence gegen die grausame Wunde in ihrem Herzen, indem sie versuchte, an den, dessen Hand ihr dieselbe geschlagen hatte, nur mit Hoffnung zu denken.

Ihr Vater wußte nicht – denn sie behielt es seit jener Zeit für sich – wie sehr sie ihn liebte. Sie war sehr jung, hatte keine Mutter, und leider war niemand vorhanden, der sie gelehrt hatte, ihrer Liebe die geeigneten Worte zu verleihen. Deshalb geduldete sie sich in der Erwartung, die Zeit werde sie in dieser Kunst unterrichten und es ihr möglich machen, ihm eine bessere Kenntnis von seinem einzigen Kinde beizubringen.

Dies machte sie sich zur Aufgabe ihres Lebens. Die Morgensonne leuchtete nieder auf das verblichene Haus und fand diesen Entschluß frisch und rege im Herzen seiner einsamen Bewohnerin. Durch alle Obliegenheiten des Tages beseelte er sie; denn Florence hoffte, je mehr sie lerne, je mehr sie sich ausbildete, desto größer werde seine Freude sein, wenn er einmal so weit gekommen sei, sie zu lieben. Bisweilen wunderte sie sich mit schwellendem Herzen und einer aufsteigenden Träne, ob sie sich auch in irgend etwas hinreichend vervollkommnet habe, um ihn zu überraschen, wann sie sich einmal näherstehen würden. Sie machte sich oft und oft Gedanken, ob es nicht irgendeinen Zweig des Wissens gebe, der sein Interesse mehr als ein anderer zu wecken geeignet sei. Bei ihren Büchern, ihrer Musik und ihrer Arbeit – auf ihren Morgenspaziergängen und in ihren nächtlichen Gebeten hatte sie stets nur dieses einzige Ziel im Auge. Eine seltsame Aufgabe für ein Kind, den Weg lernen zu müssen zu dem harten Herzen eines Vaters!

Wenn die Sommerabende sich zur Nacht vertieften, kamen manche Spaziergänger sorglos durch die Straße und sahen nach dem düstern Haus hinüber, wo sie, im Gegensatz zu diesem, die jugendliche Gestalt am Fenster bemerkten; und gewiß würde es ihren Schlaf getrübt haben, wenn sie gewußt hätten, mit welchen Gedanken sie so sehnsüchtig nach den blinkenden Sternen hinaufsah. Das Haus machte den Eindruck, als müßten Gespenster darin spuken, und das äußerliche Düster, das den auf ihren Geschäftswegen daran Hin- und Hergehenden auffiel, wäre noch erhöht worden, wenn sie in dem Antlitz, auf das die Schatten der Nacht fielen, seine Geschichte hätten lesen können. Aber Florence verfolgte ihr heiliges Vorhaben unbemerkt und unablässig. Ihr ganzes Sinnen ging nur darauf hin, wie sie ihren Vater zu der Überzeugung bringen könnte, daß sie ihn liebte, und kein einziger unsteter Gedanke ihres Innern trat als Kläger gegen ihn auf.

So lebte Florence allein in dem verödeten Hause. Tag um Tag entschwand ihr in der Einsamkeit, und die einförmigen Wände schauten mit dem gewohnten Starrblick auf sie nieder, als hätten sie die Lust der Meduse, ihre Jugend und Schönheit in Stein zu verwandeln.

Eines Morgens stand Miß Nipper ihrer jungen Gebieterin gegenüber, als diese eben ein zusammengelegtes Billett siegelte, und deutete durch ihre Miene an, daß sie den Inhalt des Schreibens billigte.

»Besser spät als nie, liebe Miß Floy«, sagte Susanna; »und glaubt mir, sogar ein Besuch bei den alten Skettlesen wird für uns eine Fügung Gottes sein.«

»Es ist sehr gütig von Sir Barnet und Lady Skettles«, versetzte Florence, ihrer Gefährtin in mildem Ton die vertrauliche Erwähnung der fraglichen Familie verweisend, »daß sie ihre Einladung so freundschaftlich wiederholen.«

Miß Nipper, die vielleicht auf der ganzen Erde die entschiedenste Parteigängerin war, indem sie die von ihr ergriffene Seite in allen Dingen, groß oder klein, verfocht und deshalb in ewigem Krieg mit der Gesellschaft lag, warf ihre Lippen auf und schüttelte den Kopf, als protestiere sie gegen jede Anerkennung von Uneigennützigkeit bei den Skettlesen, da Florences Gesellschaft für das Freundliche der Einladung reichen Ersatz biete.

»Wenn je Leute wußten, wie sie daran sind, so ist es bei diesen der Fall«, murmelte Miß Nipper, den Atem anhaltend: »o, lehrt mich die Skettles nicht erst kennen.«

»Ich gestehe, es ist mir nicht sonderlich um diesen Besuch in Fulham zu tun, Susanna«, entgegnete Florence gedankenvoll: »aber es wird recht sein, wenn ich gehe. Ich denke, es ist besser so.«

»Viel besser«, ergriff Susanna mit einem abermaligen, nachdrücklichen Kopfnicken das Wort.

»Zwar wäre ich lieber hingegangen«, sagte Florence, »wenn niemand dort ist; denn während der Ferien werden sich einige junge Leute im Hause aufhalten. Trotzdem habe ich dankbar zugesagt.«

»Und ich sage, Miß Floy, freut Euch darüber!« versetzte Susanna. »Ah! h –h!«

Dieser letzte Ausruf, mit dem Miß Nipper um jene Zeit oft einen Satz schloß, galt unter der Dienerschaft für eine allgemeine Bezugnahme auf Mr. Dombey und schien in Miß Nipper das Verlangen auszudrücken, diesem Gentleman ein wenig die Meinung zu sagen. Sie erklärte sich jedoch nie darüber, und der Laut verband demgemäß mit dem Vorteil eines sehr scharfen Ausdrucks den Zauber des Geheimnisses.

»Wie lange es doch ansteht, bis wir Kunde von Walter erhalten, Susanna!« bemerkte Florence nach einem kurzen Schweigen.

»Ja wohl lange, Miß Floy!« versetzte ihre Jungfer, »und Perch, der vor kurzem erst nachgesehen hat, ob keine Briefe eingelaufen sind, sagte – doch was liegt daran, was dieser sagt!« rief Susanna, indem sie errötend abbrach. »Was kann er davon wissen!«

Florence schlug rasch die Augen auf, und ein glühendes Rot breitete sich über ihr Gesicht.

»Wenn ich nicht«, sagte Susanna Nipper, augenscheinlich mit einer geheimen Beklommenheit kämpfend und ihre junge Gebieterin voll ansehend, während sie sich Mühe gab, sich in einen Zustand von Zorn gegen Mr. Perchs harmloses Bild zu versetzen – »wenn ich nicht mehr Männlichkeit besäße als dieser Einfältigste seines Geschlechtes, sternchenland.com so würde ich nie wieder einen Stolz in meine Haare setzen, sondern sie hinter meinen Ohren aufbinden und eine grobe Haube trauen, ohne Spitzen und alles, bis mich der Tod von meiner Unbedeutsamkeit erlöste; ich bin zwar keine Amazone, Miß Floy, und möchte mich nicht durch eine solche Entstellung herabwürdigen; aber jedenfalls hoffe ich, daß ich nicht alles gleich aufgebe.«

»Was aufgebe?« rief Florence mit der Miene des Schreckens.

»Ach, nichts«, versetzte Susanna. »Du lieber Himmel, nichts! Es ist nur dieser nasse Papierwickel von einem Menschen, der Perch da, daß man ihm fast mit einem Fingerdruck den Garaus machen möchte, und in der Tat, es wäre für alle Teile ein glückliches Ereignis, wenn sich jemand einmal seiner erbarmen und die Güte haben möchte!«

»Gibt er das Schiff auf, Susanna?« fragte Florence sehr blaß.

»Nein, Miß«, erwiderte Susanna, »ich möchte wohl sehen, daß er so dreist wäre, mir etwas Derartiges ins Gesicht zu sagen! Nein, Miß; aber er geht immer mit einem einfältigen Ingwer um, den Mr. Walter Mrs. Perch schicken sollte, schüttelt dabei seinen erbärmlichen Kopf und sagt, er hoffe, daß er noch kommen werde; freilich, sagt er, könne er nicht zur rechten Zeit für die beabsichtigte Gelegenheit eintreffen, aber doch wohl für das nächste Mal, und dies« – fügte Miß Nipper mit sich steigerndem Unmut bei – »bringt mich in der Tat um alle Geduld mit dem Menschen; denn obschon ich viel ertragen kann, bin ich doch weder ein Kamel, noch bin ich« – schloß Susanna nach einer kurzen Überlegung – »wenn ich mich anders kenne, ein Dromedar.«

»Was sagt er sonst noch, Susanna?« fragte Florence dringend. »Willst du es mir nicht sagen?«

»Als ob ich Euch nicht alles und jedes sagen wollte. Miß Floy«, erwiderte Susanna. »Ach, Miß, er sagt, man fange schon überall von dem Schiff zu reden an, und es sei unerhört, daß ein Schiff nur die Hälfte Zeit zu dieser Reise gebraucht habe; das Weib des Kapitäns sei gestern im Bureau gewesen und habe darüber gejammert, aber jedermann konnte das sagen, und wir haben es fast vorher gewußt.«

»Ich muß, ehe ich meine Reise antrete, Walters Onkel besuchen«, sagte Florence hastig. »Ich will noch diesen Morgen zu ihm gehen. Komm, wir wollen nicht säumen, Susanna.«

Da Miß Nipper gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden hatte, sondern im Gegenteil vollkommen damit zufrieden war, so kleideten sie sich hastig an und machten sich auf den Weg zu dem kleinen Midshipman.

Die Gemütsstimmung, in der Walter an dem Tag, als der Makler Brogley zur Besitznahme gekommen war und in der Seele des armen Knaben sogar auf jedem Kirchturm eine Auspfändung vorgenommen zu werden schien, zu Kapitän Cuttle hineilte, glich vollkommen derjenigen, in der sich jetzt Florence nach Onkel Sols Wohnung begab. Es gab nur den einen Unterschied, daß die Qual des Mädchens durch sternchenland.com den Gedanken erhöht wurde, sie sei vielleicht die unschuldige Ursache, die Walter in Gefahr gestürzt und allen, die ihn liebten, sich selbst mit eingeschlossen, die peinliche Angst der Ungewißheit bereitet hatte. Im übrigen glaubte sie aus allem Gefahr und Hoffnungslosigkeit lesen zu müssen. Die Wetterhähne auf den Türmen und Hausgiebeln warfen geheimnisvolle Winke über Stürme hin und zeigten gleich gespenstischen Fingern auf gefährliche Meere, wo vielleicht Trümmer großer Schiffe schaukelten und hilflose Menschen in einen Schlaf gewiegt wurden, so tief wie das unergründliche Wasser. Als Florence in das Stadtzentrum kam und an Gentlemen vorbeieilte, die miteinander sprachen, fürchtete sie, daß sie von dem Schiff und dessen Untergang reden könnten. Die Bilder und Kupferstiche von Fahrzeugen, die mit rollenden Wellen kämpften, erfüllten sie mit Schrecken. Der Rauch und die Wolken, obschon sie sich nur langsam weiter trieben, gingen viel zu schnell für ihre Besorgnisse und flößten ihr die Furcht ein, daß in diesem Augenblick auf dem Meere draußen ein Sturm wüte.

Mochte nun Susanna Nipper ähnliche Gedanken hegen oder nicht, – jedenfalls gewann es den Anschein, als habe sie auf dem Wege nicht viel Muße für grüblerische Gedanken, da sie, so oft die Menschenmassen sich dichter drängten, fortwährend mit Jungen zu kämpfen hatte, sie schien nämlich mit dieser Art des menschlichen Geschlechts in einer natürlichen Feindschaft zu leben, die unabänderlich losbrach, so oft eine Berührung stattfand.

Im Laufe der Zeit erreichten sie den Teil der Straße, der dem hölzernen Midshipman gegenüberlag, und blieben dort stehen, bis sie mit Sicherheit über den Weg hinüberkommen konnten. Zu ihrer Überraschung bemerkten sie aber unter der Haustür des Instrumentenmachers einen rundköpfigen Jungen, der sein pausbackiges Gesicht gen Himmel gerichtet hielt und, während sie nach ihm hinsahen, plötzlich zwei Finger einer jeden Hand in seinen weiten Mund steckte, um unter dem Beistand dieser Maschinerie in erstaunlich gellendem Ton einigen Tauben zu pfeifen, die in beträchtlicher Höhe durch die Luft flogen.

»Mrs. Richards‘ Ältester, Miß«, sagte Susanna, »und die Plage von Mrs. Richards‘ Leben.«

Da Polly von den wiedererwachten Aussichten ihres Sohnes und Erben Florence Mitteilung gemacht hatte, so war diese auf die Begegnung vorbereitet. Die beiden Mädchen achteten daher nicht weiter auf Mrs. Richards‘ Plage, sondern benutzten die erste günstige Gelegenheit, um über die Straße hinüberzueilen. Der vogelkundige Knabe, der von ihrer Annäherung nichts bemerkte, pfiff wieder aus Leibeskräften und schrie dann in entzückter Aufregung: »Hisch! hu– up! hisch!« – eine Kundgebung, die auf die erschrockenen Tauben eine solche Wirkung übte, daß sie, statt unmittelbar einer Stadt im Norden Englands zuzufliegen, wie ihre ursprüngliche Absicht gewesen zu sein schien, auseinanderzuflattern und zu zögern anfingen. Mrs. Richards‘ Erstgeborener begrüßte sie dann abermals mit einem sternchenland.com gellenden Pfiff und schrie mit einer Stimme, die das Getümmel der Straße weit übertönte: »Hisch! hu–up! hisch!«

Aus dieser Verzückung rief ihn plötzlich ein Rippenstoß von Miß Nipper, der ihn durch die Ladentür hineinwarf, zu irdischen Gegenständen zurück.

»Ist das die Art, wie du deine Reue zeigst, nachdem sich Mrs. Richards Monate um Monate um dich abgehärmt hat?« lauteten die Worte, mit welchen Susanna ihre fühlbare Anrede begleitete. »Wo ist Mr. Gills?«

Rob milderte seinen ersten rebellischen Blick auf Miß Nipper, da er ihr Florence folgen sah, fuhr dieser zu Ehren mit den Fingern in sein Haar und antwortete seiner schönen Feindin, daß Mr. Gills ausgegangen sei.

»So hole ihn nach Hause«, versetzte Miß Nipper gebieterisch, »und sage ihm, daß meine junge Dame hier sei.«

»Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist«, entgegnete Rob.

»Ist das deine Reue?« rief Susanna mit beißender Schärfe.

»Aber, wie kann ich ihn holen, wenn ich nicht weiß, wo ich ihn suchen soll?« winselte der verwirrte Rob. »Wie könnt Ihr nur so unvernünftig sein!«

»Hat Mr. Gills gesagt, wann er zurückkommen werde?« fragte Florence.

»Ja, Miß«, antwortete Rob, der abermals seine Finger nach den Haaren führte. »Er sagte, er werde nachmittags früh zurückkommen – in ein paar Stunden etwa, Miß.«

»Ist er sehr in Sorge wegen seines Neffen?« fragte Susanna.

»Ja, Miß«, antwortete Rob, der es unter Vernachlässigung von Miß Nipper vorzog, sich an Florence zu wenden. »Ich kann wohl sagen, daß er sehr in Sorge ist. Es hält ihn gar nichts mehr zu Hause, Miß, und er kann keine Viertelstunde bleiben. Ja, es läßt ihm keine fünf Minuten Ruhe am nämlichen Platz. Er geht umher wie – wie verirrt«, sagte Rob und duckte sich, um durch das Fenster nach den Tauben zu sehen. Dabei hielt er plötzlich mit seinen Fingern inne, die schon zum Zweck eines abermaligen Pfeifens auf dem halben Wege nach dem Munde waren.

»Kennst du nicht einen Freund des Mr. Gills, der Kapitän Cuttle heißt?« fragte Florence nach kurzem Besinnen.

»Den mit dem Haken, Miß?« entgegnete Rob mit einem bildlichen Drehen an seiner linken Hand. »Ja, Miß, er war erst vorgestern hier.«

»Seitdem nicht wieder?« fragte Susanna.

»Nein, Miß«, erwiderte Rob, seine Antwort noch immer an Florence richtend.

»Vielleicht ist Walters Onkel dorthin gegangen, Susanna«, bemerkte Florence zu ihrer Begleiterin.

»Zu Kapitän Cuttle, Miß?« versetzte Rob; »o nein, dort ist er nicht, denn er hat mir ausdrücklich aufgetragen, wenn Kapitän Cuttle sternchenland.com vorspräche, solle ich ihm sagen, sein gestriges Ausbleiben habe ihn sehr überrascht, und er solle warten, bis er wieder zurückkomme.«

»Weißt du, wo Kapitän Cuttle wohnt?« fragte Florence.

Rob antwortete mit Ja und griff nach einem schmierigen Pergamentbuch auf dem Ladentisch, aus dem er laut die Adresse las.

Florence wandte sich wieder an ihre Begleiterin und beriet leise mit ihr, während der rundäugige Rob, des geheimen Auftrags seines Gönners eingedenk, aufmerksam lauschte. Florence machte den Vorschlag, sie sollten zu Kapitän Cuttle gehen, von seinen eigenen Lippen hören, was er von dem langen Ausbleiben aller Nachrichten über den Sohn und Erben halte, und ihn, wenn es anginge, mitbringen, daß er Onkel Sol tröste. Susanna erhob anfangs einige Einwendungen wegen des weiten Weges. Da aber ihre Gebieterin von einer Mietkutsche sprach, so nahm sie ihren Einwand zurück und sagte zu. Es währte einige Minuten, bis sie zu diesem Entschlusse kamen, und Rob, der mit großen Augen dastand, schenkte beiden Sprecherinnen die größte Aufmerksamkeit, indem er abwechselnd sein Ohr der einen oder der andern zuwandte, als sei er der bestellte Schiedsrichter ihrer Gründe.

Endlich wurde Rob abgesandt, um eine Kutsche herbeizuholen, während die beiden Damen im Laden zurückblieben. Als er mit dem bestellten Wagen ankam, stiegen sie ein und trugen ihm auf, Onkel Sol zu melden, daß sie auf dem Rückweg bestimmt wieder vorsprechen würden.

Nachdem Rob der Kutsche nachgeschaut hatte, bis sie ebenso unsichtbar war, wie jetzt die Tauben, setzte er sich höchst diensteifrig hinter das Pult und machte, um ja nichts von dem Gehörten zu vergessen, unter einem ungeheuren Aufwand von Tinte auf verschiedene kleine Papierstreifen seine Notizen. Es war nicht zu besorgen, daß diese Dokumente, wenn sie etwa zufällig verlorengingen, etwas verrieten; denn lange, ehe die Worte trocken geworden, waren sie schon für Rob selbst ein so tiefes Geheimnis, als ob er nie beim Niederschreiben derselben beteiligt gewesen wäre.

Während er noch in dieser Arbeit begriffen war, machte die Mietkutsche, die allerlei unerhörte Schwierigkeiten von Drehbrücken, schmutzigen Straßen, hindernden Kanälen, Frachtwagen, Bohnengärten, Waschhäusern und ähnlichen in jener Gegend reichlich vorkommenden Hemmnissen zu bestehen hatte, an der Ecke von Brig-Place halt. Florence und Susanna Nipper stiegen hier aus und gingen zu Fuß die Straße hinab, um Kapitän Cuttles Wohnung aufzusuchen.

Zum Unglück war gerade einer von Mrs. Mac Stingers großen Scheuertagen. Bei solchen Gelegenheiten ließ sich Mrs. Mac Stinger morgens um drei Viertel auf drei Uhr durch den Polizeidiener wecken und kam dann selten vor nachts zwölf Uhr in die Federn. Die Hauptaufgabe dieser Einrichtung schien darin zu bestehen, daß Mrs. Mac Stinger früh mit dem Dämmern des Tages alles Möbelwerk in den hinteren Garten trug, während des ganzen Tages in Überschuhen sternchenland.com das Haus durchlief und nach Einbruch der Dunkelheit ihre Möbel zurückholte. Diese Feierlichkeiten verstörten jene Täublein, die jungen Mac Stingers, in hohem Grade; denn sie konnten zu solchen Zeiten nicht nur kein Ruheplätzchen finden, sondern wurden auch im Verlauf der Zeremonie in der Regel von dem mütterlichen Vogel tüchtig gepickt und zerzaust.

In dem Augenblick, als Florence und Susanna Nipper sich unter Mrs. Mac Stingers Tür zeigten, war diese würdige, aber furchtbare Frauensperson eben im Begriff, Alexander Mac Stinger, alt zwei Jahre und drei Monate, durch den Hausflur zu tragen und ihn gewaltsam auf das Straßenpflaster niederzusetzen. Alexander war nämlich, weil er nach der Strafe den Atem an sich gehalten, ganz schwarz im Gesicht geworden, und ein kalter Pflasterstein erwies sich in der Regel als ein sehr kräftiges Heilmittel für solche Fälle.

Die weiblichen und mütterlichen Gefühle der Mrs. Mac Stinger wurden natürlich im höchsten Grade verletzt durch die mitleidige Miene, mit der Florence Alexander betrachtete, und so rüttelte und knuffte die empfindsame Dame, statt der Schwäche der Neugier nachzugeben, vor und während der Anwendung des Pflastersteins die Frucht ihres Leibes tüchtig, ohne daß sie den Fremden weitere Aufmerksamkeit schenkte.

»Ich bitte um Verzeihung, Ma’am«, sagte Florence, nachdem das Kind wieder zu Atem gekommen war und denselben zu brauchen anfing, »ist dies Kapitän Cuttles Haus?«

»Nein«, versetzte Mrs. Mac Stinger.

»Nicht Nummer neun?« fragte Florence zögernd.

»Wer hat gesagt, daß es nicht Nummer neun sei?« entgegnete Mrs. Mac Stinger.

Susanna Nipper fiel jetzt plötzlich ein und nahm sich die Freiheit, zu fragen, was Mrs. Mac Stinger damit wolle, und ob sie wisse, mit wem sie spreche.

Als Antwort dafür betrachtete Mrs. Mac Stinger Susanna vom Kopf bis zu den Füßen.

»Was wollt denn Ihr von Kapitän Cuttle? Dies möchte ich doch auch wissen«, sagte Mrs. Mac Stinger.

»Möchtet Ihr? Dann bedaure ich, daß Eure Neugierde nicht befriedigt werden wird«, entgegnete Miß Nipper.

»Sei so gut, zu schweigen, Susanna«, sagte Florence. »Vielleicht habt Ihr die Freundlichkeit, Ma’am, uns zu sagen, wo Kapitän Cuttle wohnt, wenn wir ihn hier nicht finden können.«

»Wer sagt, daß er nicht hier wohnt?« versetzte die ungefällige Mac Stinger. »Ich habe gesagt, es sei nicht Kapt’n Cuttles Haus – und es ist auch nicht sein Haus – Gott behüte, daß es je sein Haus werde – denn Kapt’n Cuttle weiß nicht, wie er ein Haus in Ordnung halten soll – und ist nicht wert, ein Haus zu haben – es ist mein Haus – und wenn ich den oberen Stock an Kapt’n Cuttle vermiete, so tue ich etwas sehr Undankbares und werfe Perlen vor die Säue.«

Mrs. Mac Stinger hatte bei Äußerung dieser Bemerkungen ihre Stimme für die oberen Fenster berechnet und ließ jede Silbe derselben gesondert krachen, als kämen sie aus einer Büchse mit zahllosen Läufen. Nach dem letzten Schuß ließ sich der Kapitän vernehmen, der von seinem Zimmer aus in schwacher Gegenvorstellung die Worte sagte:

»Nur ruhig da unten!«

»Wenn Ihr zu Kapt’n Cuttle wollt – da ist er!« rief Mrs. Mac Stinger mit einer zornigen Handbewegung.

Florence nahm sich jetzt die Freiheit, ohne weiteres Parlamentieren einzutreten, und da auch Susanna ihr folgte, so begann Mrs. Mac Stinger abermals ihre Leibesbewegung in Überschuhen. Alexander Mac Stinger, der noch immer auf dem Pflasterstein saß und zu weinen aufgehört hatte, um auf die Unterhaltung zu lauschen, begann nun wieder zu heulen und unterhielt sich während dieses schrecklichen Konzertes, das eigentlich mechanisch war, mit einer allgemeinen Musterung der Aussicht, die mit der Mietkutsche schloß.

Der Kapitän saß in seinem Zimmer, die Hände in die Taschen gesteckt und die Beine unter seinem Stuhl emporgezogen, auf einer sehr kleinen wüsten Insel, die mitten in einem Ozean von Seifenwasser lag. Seine Fenster, der Kamin und die Wände hatten sich dem Scheuerprozeß unterziehen müssen und waren naß und glänzend von Sand und weicher Seife, die mit ihrem Geruch die Luft erfüllte. In der Mitte dieser traurigen Szene sah sich der nach seiner Insel verschlagene Kapitän mit einer Jammermiene auf dem Meere von Wasser um und schien auf eine freundliche Barke zu harren, die des Weges kam, um ihn aufzulesen.

Als er jedoch den trüben Blick nach der Tür richtete und daselbst Florence mit ihrer Jungfer bemerkte, geriet er in ein Erstaunen, das keine Worte zu schildern vermögen, Mrs. Mac Stingers Beredsamkeit hatte alle andern Laute völlig unvernehmlich gemacht. Deshalb erwartete er denn auch keinen andern Besuch als den des Blutjungen oder des Milchmannes. Als daher Florence eintrat, sich seiner Insel bis an ihre Grenzen näherte und ihre Hand in die seinige legte, stand er entsetzt auf, als glaube er für einen Augenblick, irgendein junges Mitglied aus der Familie des fliegenden Holländers zu sehen.

Der Kapitän gewann jedoch schnell seine Fassung wieder und trug zuerst Sorge dafür, sie auf trockenes Land zu bringen, was durch eine einzige Bewegung seines Armes glücklich vonstatten ging. Dann stach er in die See, faßte Miß Nipper um den Leib und holte sie gleichfalls nach der Insel. Nachdem dies vollbracht war, erhob er mit großem Respekt Florences Hand zu seinen Lippen, steuerte, da die Insel für drei nicht groß genug war, ein wenig auswärts und drehte im Seifenwasser bei, wie eine neue Art von einem Triton.

»Ihr wundert Euch wohl sehr, uns zu sehen,« sagte Florence mit einem Lächeln.

Der unbeschreiblich erfreute Kapitän küßte zur Antwort seinen sternchenland.com Hut und brummte, als läge ein besonders ausgesuchtes Kompliment in den Worten:

»Halt bei! halt bei!«

»Aber ich konnte nicht ruhen«, fuhr Florence fort, »bis ich Eure Ansicht gehört hatte, was Ihr von dem lieben Walter haltet – der jetzt mein Bruder ist. Ich wollte Euch fragen, ob etwas zu fürchten sei und ob Ihr nicht alle Tage seinen armen Onkel besuchen und ihn trösten wollt, bis wir Nachricht von ihm haben.«

Bei diesen Worten schlug Kapitän Cuttle wie in unwillkürlicher Gebärde mit der Hand an den Kopf, der für den Augenblick nicht mit dem harten Glanzhut belastet war, und machte eine Jammermiene.

»Seid Ihr in Sorge wegen Walters Sicherheit?« fragte Florence, von deren Gesicht der verzückte Kapitän seine Augen nicht abzuwenden vermochte, während sie ihrerseits ihn gleichfalls angelegentlich betrachtete, als wolle sie sich von der Aufrichtigkeit seiner Antwort überzeugen.

»Nein, meine Herzensfreude,« sagte Kapitän Cuttle, »ich fürchte nichts. Wal’r ist ein Junge, der durch viel schlimmes Wetter kommen wird. Wal’r ist ein Junge, der jener Brigg so viel Erfolg bringen muß, wie es nur irgendeinem jungen Menschen möglich ist. Wal’r«, fuhr der Kapitän fort, und seine Augen glänzten bei dem Lob des jungen Freundes, während sein Haken sich hob, um eine schöne Redewendung anzukündigen, »ist, was Ihr ein äußeres und ein sichtbares Zeichen der inneren geistigen Kraft nennen könnt – und wenn Ihr es gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«

Florence, die ihn nicht ganz verstand, obschon der Kapitän augenscheinlich meinte, er habe sich sehr deutlich und befriedigend ausgedrückt, blickte ihn mild an, als erwarte sie etwas Weiteres.

»Ich bin völlig unbesorgt, meine Herzensfreude,« nahm der Kapitän seine Rede wieder auf. »Man kann freilich nicht leugnen, daß es in jenen Breiten ganz ungewöhnlich schlechtes Wetter gegeben hat, und die Schiffe sind schon getrieben und getrieben und verschlagen worden – vielleicht bis auf die andere Seite der Welt. Aber das Schiff ist ein gutes Schiff und der Junge ein guter Junge, und es ist, Gott sei Dank,« – der Kapitän machte eine kleine Verbeugung – »nicht leicht, Eichenherzen zu brechen, ob sie nun in Briggen sind oder in eines Menschen Brust. Hier haben wir sie nun in beiderlei Weise, so oder so, und wir dürfen deshalb bis jetzt nicht das mindeste fürchten.«

»Bis jetzt?« wiederholte Florence.

»Nicht das mindeste«, entgegnete der Kapitän, seinen Haken küssend, »und ehe es bei mir so weit kommt, meine Herzensfreude, wird Wal’r von der Insel oder von einem oder dem andern Hafen nach Haus geschrieben haben, so daß alles in Ordnung und schiffsgerecht ist. Und was den alten Sol Gills betrifft«, der Kapitän wurde jetzt feierlich, »so will ich bei ihm aushalten und ihn nicht verlassen, bis der Tod uns trennt, wie auch die stürmischen Winde sternchenland.com wehen, wehen und wehen – seht im Katechismus nach,« sagte der Kapitän nebenher, »und dort werdet Ihr die Ausdrücke finden. Kann es übrigens Sol Gills trösten, wenn er die Ansicht eines seefahrenden Mannes hört, dessen Geist jedem Unternehmen gewachsen ist, das ihm in den Wurf kommt, – eines Mannes, der schon als Lehrling alles durchmachte, so daß er nur mit knapper Not das Leben davontrug, und dessen Name Bunsby ist, so soll ihm dieser Mann in seiner eigenen Stube ein Gutachten geben – ein Gutachten, sage ich Euch, daß ihm Hören und Sehen vergehen wird. Ja« – fügte Kapitän Cuttle prahlerisch bei – »gerade so, als hätte er sich halb den Kopf an der Tür eingerannt!«

»Wir wollen diesen Gentleman zu ihm bringen und mit anhören, was er sagt«, entgegnete Florence. »Ihr werdet doch mit uns gehen? Wir haben eine Kutsche hier.«

Der Kapitän schlug wieder mit der Hand an den seines harten Glanzhutes baren Kopf und schaute verblüfft umher. Doch in demselben Augenblick trug sich ein merkwürdiges Naturereignis zu. Ohne Anmeldung oder Vorbereitung öffnete sich wie von selbst die Tür, und der fragliche harte Glanzhut flog wie ein Vogel ins Zimmer herein, um vor den Füßen des Kapitäns schwerfällig niederzuplumpsen. Dann schlug die Tür ebenso ungestüm, wie sie aufgegangen war, wieder zu, und es erfolgte nichts weiter, um dieses Wunder aufzuklären.

Kapitän Cuttle las seinen Hut auf, betrachtete ihn mit einem Blick der Teilnahme und des Willkomms, drehte ihn und begann mit dem Ärmel daran zu polieren. Während dieser Beschäftigung schaute er gelegentlich nach seinen Gästen hin und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Ihr seht, ich hätte gestern und heute morgen zu Sol Gills hinuntersteuern sollen; aber sie – sie nahm ihn weg und gab ihn nicht heraus. Dies ist das Lange und Kurze von der Sache.«

»Du lieber Himmel, wer tat dies?« fragte Susanna Nipper.

»Die Hausfrau, meine Liebe«, versetzte der Kapitän mit grämlichem Flüstern und unter geheimnisvollen Zeichen. »Wir hatten einen kleinen Wortwechsel wegen des Schwapperns dieser Planken da, und sie – mit einem Wort«, fügte der Kapitän hinzu, indem er nach der Tür hinsah und sich durch einen langen Atemzug Erleichterung verschaffte, »sie hat mich meiner Freiheit beraubt.«

»O, ich wünschte nur, daß sie mit mir zu schaffen hätte!« sagte Susanna, in dem Ungestüm ihres Wunsches errötend. »Ich wollte mit ihr schon fertig werden.«

»Meint Ihr, dies ginge so leicht, meine Liebe?« entgegnete der Kapitän, zweifelhaft den Kopf schüttelnd, aber den rücksichtslosen Mut der jungen Schönen mit augenfälliger Bewunderung aufnehmend. »Ich weiß nicht. Es ist eine schwierige Schiffahrt. Es ist sehr schwer, mit ihr fortzukommen, meine Liebe. Seht Ihr, man kann nie sagen, wie sie ihren Schnabel stellen will. Die eine Minute hält sie ihn voll, die nächste geht’s rund herum. Und wenn nicht sie ein sternchenland.com Berserker ist« – fügte der Kapitän bei, und der Schweiß trat ihm auf die Stirne.

Der Satz schloß mit einem nachdrücklichen Pfeifen. Dann schüttelte der Kapitän den Kopf, kam abermals auf seine Bewunderung von Miß Nippers verzweifelter Tapferkeit zurück und wiederholte schüchtern:

»Meint Ihr, es ginge so leicht, meine Liebe?«

Susanna antwortete nur mit einem hochmütigen Lächeln, in dem jedoch so viel Trotz lag, daß der Kapitän vielleicht noch lange in verzückter Betrachtung dagestanden wäre, wenn nicht Florence in ihrer Angst wieder auf den Vorschlag zurückgekommen wäre, ohne Zögern den orakelhaften Bunsby zu Rate zu ziehen. So an seine Pflicht erinnert, drückte Kapitän Cuttle seinen Glanzhut fest auf den Kopf, griff nach einem andern Knotenstock, womit er den an Walter verschenkten ersetzt hatte, bot Florence seinen Arm und schickte sich an, sich durch den Feind Bahn zu brechen.

Es zeigte sich übrigens, daß Mrs. Mac Stinger schon wieder ihren Kurs geändert und den Schnabel, wie sie nach des Kapitäns Bemerkung oft zu tun pflegte, in eine ganz neue Richtung gestellt hatte. Als sie die Treppen hinunterkamen, fanden sie diese musterhafte Frau, wie sie eben auf der Hausschwelle die Matten ausklopfte, so daß der noch immer auf dem Pflasterstein sitzende Alexander in dem Staubnebel nur undeutlich zu erkennen war. Diese häusliche Verrichtung nahm Mrs. Mac Stinger dermaßen in Anspruch, daß sie, als Kapitän Cuttle und seine Gäste vorbeigingen, nur um so stärker klopfte und weder durch ein Wort noch durch eine Gebärde ein Bewußtsein von ihrer Nähe zu erkennen gab. Die Matten übten zwar auf den Kapitän einen Eindruck wie der reichliche Gebrauch des Schnupftabaks, so daß er niesen mußte, bis ihm die Tränen über das Gesicht herunterliefen. Trotzdem aber war er über dieses leichte Entkommen so erfreut, daß er kaum seinem guten Glück glauben konnte; denn selbst zwischen der Tür und der Mietkutsche schaute er mehr als einmal über seine Schulter zurück, augenscheinlich voll Furcht, Mrs. Mac Stinger möchte noch jetzt Jagd auf ihn machen.

Sie erreichten jedoch die Ecke von Brig-Place, ohne weiter von diesem Schrecknis belästigt zu werden, und der Kapitän stieg auf den Kutschbock, weil es ihm seine Galanterie nicht erlaubte, von dem Ersuchen der Damen, sich mit ihnen in den Wagen zu setzen, Gebrauch zu machen. Von hier aus lotste er den Kutscher in seinem Kurse nach Kapitän Bunsbys Schiff, das die »vorsichtige Klara« hieß und ganz in der Nähe von Ratcliffe lag.

Bei dem Kai, vor dem das Fahrzeug dieses großen Kommandeurs zwischen etwa fünfhundert Kameraden eingeklemmt war, so daß das wirre Takelwerk sich wie eine ungeheure Masse halb weggekehrter Spinnweben ausnahm, erschien Kapitän Cuttle an dem Kutschenschlag und lud Florence und Miß Nipper ein, ihn an Bord zu begleiten. Zugleich bemerkte er, Bunsby sei in Beziehung auf Damen im höchsten Grade weichherzig, und nichts könne mehr dazu beitragen, sternchenland.com seinen gewaltigen Geist in einen Zustand von Harmonie zu bringen, als ihr Erscheinen auf der »vorsichtigen Klara«.

Florence entsprach sogleich seiner Aufforderung, und der Kapitän, der ihre kleine Hand in seine ungeheure Pfote nahm, führte sie mit einem gemischten Ausdruck von Gönnerschaft, väterlicher Liebe, Stolz und Feierlichkeit, der recht erbaulich anzusehen war, über verschiedene sehr schmutzige Decks, bis sie endlich zu der Klara gelangten. Dieses vorsichtige Fahrzeug, das außerhalb des Dammes lag, hatte seine Laufplanke abgetragen und stand etwa sechs Fuß von seinem nächsten Nachbar entfernt. Aus Kapitän Cuttles Erklärung schien hervorzugehen, daß der große Bunsby, wie er selbst, von seiner Hauswirtin grausam behandelt wurde; und wenn sie es ihm zuletzt so arg machte, daß er es nicht mehr auszuhalten vermochte, so brachte er als letzte Zuflucht einen Streifen Wasser zwischen sich und seine schöne Feindin.

»Klara, ahoi!« rief der Kapitän, seine Hand als Trichter für den Mund benutzend.

»Ahoi!« antwortete zum Echo ein Junge, der aus dem Raum heraufkam, des Kapitäns Ruf.

»Bunsby an Bord?« brüllte der Kapitän den Jungen mit einer Stentorstimme an, als sei das Fahrzeug wenigstens ein paar hundert Ruten, nicht aber bloß einige Ellen entfernt.

»Ja!« rief der Junge in dem gleichen Ton.

Der Junge schob sodann eine Planke auf Kapitän Cuttle zu, der sie sorgfältig auflegte und Florence hinüberführte. Nachdem das geschehen war, kehrte er zurück, um Miß Nipper zu holen. Sie befanden sich jetzt auf dem Deck der »vorsichtigen Klara«, in deren stehendem Takelwerk allerlei flatternde Kleidungsstücke in Gemeinschaft mit etlichen Zungen und Makrelen trockneten.

Unmittelbar darauf erhob sich langsam über die Scheidewände der Kajüte ein sehr großer menschlicher Kopf mit einem feststehenden Auge in dem Mahagoni-Gesicht, während das andere nach dem bei einigen Leuchttürmen angebrachten Grundsatze beweglich war. Dieser Kopf war mit zottigem, wergartigem Haar geziert, das keine vorherrschende Neigung gegen Nord, Ost, Süd oder West besaß, sondern nach allen vier Strichen des Kompasses und nach jedem einzelnen Punkte desselben hinging. Dem Kopf folgte eine wahre Wüste von Kinn, ein Hemdkragen samt Halstuch, eine unzerreißbare Lotsenjacke und ein Hosenpaar von demselben festen Gewebe. Dieses wurde durch einen so breiten und hohen Gurt festgehalten, daß er (d.h. der Gurt) zugleich die Stelle der Weste vertrat. Besagter Gurt war in der Nähe des Brustbeins mit einigen massiven hölzernen Knöpfen verziert, die einem Brettspiel entnommen zu sein schienen. Als die unteren Teile der Hose sichtbar wurden, zeigte sich Bunsby endlich in vollem Format, die Hände in seine ungeheuren Taschen gesteckt, während sein Blick sich nicht auf Kapitän Cuttle oder die Damen, sondern nach der Stengenspitze richtete.

Das tiefsinnige Aussehen dieses derben, kräftig gebauten Philosophen, sternchenland.com auf dessen ungemein rotem Gesicht ein Ausdruck von Schweigsamkeit thronte, der in vollem Einklang stand mit dem augenfälligen Stolz seines Charakters, schüchterte fast Kapitän Cuttle ein, obschon er sonst gut Freund mit ihm war. Während er Florence zuflüsterte, Bunsby habe in seinem Leben nie Verblüfftsein an sich bemerken lassen, weshalb man im allgemeinen glaube, er wisse gar nicht, was dieser Ausdruck zu bedeuten habe, beobachtete er den Mann, der seine Stengenspitze betrachtete und nachher sich am Horizont umsah. Als endlich das sich drehende Auge in die Richtung des Kapitäns zu kommen schien, begann dieser:

»Bunsby, mein Junge, wie geht’s?«

Eine tiefe, brummende, heisere Stimme, die in gar keiner Beziehung zu Bunsby zu stehen schien und jedenfalls auch nicht den mindesten Eindruck auf dessen Gesicht hervorrief, gab die Antwort:

»Hei, ja, Schiffskamerad, wie wird’s gehen.«

Zu gleicher Zeit tauchte Bunsbys rechte Hand samt dem Arm aus der Tasche empor, schüttelte die des Kapitäns und kehrte wieder zurück. »Bunsby«, sagte der Kapitän, sogleich auf sein Ziel losgehend, »Ihr seid ein Mann von Geist und ein Mann, der eine Ansicht vertreten kann. Da ist nun eine junge Dame, die Euer Gutachten hören möchte in betreff meines Freundes Wal’r, und außerdem habe ich noch einen andern Freund, Sol Gills, eine Persönlichkeit, die wohl verdient, daß Ihr in ihre Rufweite kommt; denn er ist ein Mann der Wissenschaft, die eine Mutter der Erfindung ist und kein Gesetz kennt. Bunsby, wollt Ihr mir den Gefallen erweisen, zu fieren und mit uns zu kommen?«

Der große Kommandant, der dem Ausdruck seines Gesichtes zufolge stets nach irgendeinem Gegenstand in der weitesten Ferne auszulugen und für nichts, was im Bereich von vier Stunden lag, ein Auge zu haben schien, behielt die Antwort hartnäckig für sich.

»Hier ist ein Mann«, sagte der Kapitän, sich an seine schönen Zuhörerinnen wendend und mit seinem ausgestreckten Haken auf den Kommandanten deutend, »der mehr als irgendein lebender Mensch ausgestanden hat. Ihm sind mehr Unfälle begegnet, als allen den Leuten im Matrosenhospital zusammengenommen, und es sind ihm, als er noch jung war, so viele Spieren, Balken und Bolzen um den Kopf geflogen, daß man damit auf dem Chathamhof eine Lustjacht bauen könnte. Was daher in solchen Dingen seine Erfahrung betrifft, so bin ich überzeugt, daß ihm hierin nichts gleich kommt, weder zu Wasser noch zu Lande.«

Der dickköpfige Kommandant schien durch ein leichtes Zucken seines Ellenbogens einige Zufriedenheit über dieses Lob auszudrücken; aber wenn auch sein Gesicht ebenso fern gewesen wäre wie sein Blick, so hätte es die Anwesenden kaum weniger unterrichten können, was in seinem Innern vorging.

»Schiffskamerad«, sagte Bunsby mit einem Male, indem er sich sternchenland.com niederbeugte, um unter eine im Wege liegende Spiere zu sehen, »was wollen die Damen trinken?«

Kapitän Cuttle, dessen Zartgefühl bei der Verbindung einer solchen Frage mit Florence sich entsetzte, zog den Weisen beiseite, schien ihm eine Aufklärung ins Ohr zu flüstern und begleitete ihn nach der Kajüte hinunter, wo er, um nicht Anstoß zu geben, sich selbst den Trunk belieben ließ, den, wie Florence und Susanna durch das offene Fenster sahen, der Weise, der zwischen seinem Berth und einem sehr kleinen Ofen kaum Raum fand, für sich selbst und seinen Freund eingoß. Sie erschienen bald wieder auf Deck, und Kapitän Cuttle führte Florence triumphierend über den Erfolg seines Unternehmens nach der Kutsche zurück, während Bunsby Miß Nipper, die er unterwegs zur großen Entrüstung dieser jungen Dame mit seinem Lotsenärmel wie ein grauer Bär umkrallte, in seine Obhut nahm.

Der Kapitän brachte sein Orakel im Wagen unter, überglücklich, daß er sich dieses Mannes versichert und einen solchen Geist in eine Mietkutsche gezwängt hatte. Auch konnte er sich nicht enthalten, durch das kleine Fenster hinter dem Kutscher oft nach Florence hineinzusehen und sein Entzücken durch Lächeln oder durch ein Klopfen an seine Stirne auszudrücken, um ihr damit anzudeuten, daß Bunsbys Gehirn in voller Tätigkeit sei. Mittlerweile behauptete Bunsby, der noch immer Miß Nipper umarmt hielt – denn sein Freund hatte die Weichheit seines Herzens nicht übertrieben – gleichförmig seine ernste Haltung und gab durch kein weiteres Zeichen kund, daß er der Anwesenheit seiner Nachbarin oder irgendeines andern Gegenstandes sich bewußt sei.

Onkel Sol, der nach Hause gekommen war, empfing sie an der Tür und führte sie sogleich nach dem kleinen Hinterstübchen, das sich seit Walters Abreise seltsam verändert hatte. Auf dem Tische und im Zimmer umher lagen die Karten, auf denen der betrübte Instrumentenmacher oft und oft das vermißte Schiff über die See verfolgte. Er hatte erst noch vor einer Minute mit einem Zirkel, den er noch immer in der Hand hielt, die Trifftung gemessen, die angenommen werden mußte, wenn das Fahrzeug da oder dorthin gekommen sein sollte. Aus diesen Berechnungen suchte er sich zu beweisen, daß man noch lange nicht die Hoffnung aufgeben dürfe.

»Ob es wohl verirrt ist«, sagte Onkel Sol, gedankenvoll über der Karte wegsehend; »aber nein, das ist fast unmöglich. Oder ob es durch ungestümes Wetter verschlagen wurde – aber das ist vernünftigerweise nicht wohl anzunehmen. Oder ob Hoffnung vorhanden ist, es habe den Kurs so weit geändert, um – doch ich kann das kaum hoffen!«

Mit solchen abgebrochenen Andeutungen streifte der arme alte Onkel Sol über die Karte hin, ohne auf ihr einen Flecken hoffnungsvoller Wahrscheinlichkeit zu finden, der groß genug gewesen wäre, um eine kleine Zirkelspitze darauf zu setzen.

Florence sah augenblicklich – es wäre auch schwer gewesen, das nicht zu bemerken –, daß mit dem alten Manne eine auffallende, unbeschreibliche sternchenland.com Veränderung vorgegangen war; denn neben seinem viel unruhigeren und unsteteren Wesen zeigte er eine eigentümliche, nicht damit im Einklang stehende Entschiedenheit, über die sie sehr betroffen war. Einmal kam es ihr vor, er spreche ohne allen Zusammenhang und aufs Geratewohl; denn als sie gegen ihn ihr Bedauern ausdrückte, daß sie ihn am Morgen nicht getroffen habe, entgegnete er anfangs, er habe sie besuchen wollen, obschon er unmittelbar darauf die Antwort zu widerrufen schien.

»Ihr seid also bei mir gewesen?« fragte Florence. »Heute?«

»Ja, meine liebe junge Lady«, versetzte Onkel Sol, indem er sie ansah und dann in verwirrter Weise wegblickte. »Ich wollte Euch noch einmal mit meinen eigenen Ohren hören, ehe –«

Dann hielt er inne.

»Ehe? Was wollt Ihr mit diesem Ehe sagen?« entgegnete Florence, ihre Hand auf seinen Arm legend.

»Habe ich von ›Ehe‹ gesprochen?« erwiderte der alte Sol. »Wenn ich es tat, so muß ich gemeint haben, ehe wir Kunde von meinem lieben Jungen erhalten.«

»Ihr seid nicht wohl«, sagte Florence liebevoll. »Ihr habt so viel in Angst gelebt – gewiß. Ihr seid nicht wohl.«

»Nein, ich bin gesund«, entgegnete der alte Mann, indem er seine rechte Hand schloß und sie ausstreckte, um sie ihr zu zeigen – »so gesund und kräftig, wie es ein Mann von meinen Jahren nur erwarten kann. Seht – sie ist fest. Sollte ihr Herr nicht ebenso entschlossen und standhaft sein können, wie mancher Jüngere? Ich denke doch. Wir müssen abwarten.«

Sein Benehmen mehr als seine Worte, obgleich ihr auch letztere unvergeßlich blieben, machten auf Florence einen so tiefen Eindruck, daß sie gewünscht hätte, ihre Unruhe sogleich Kapitän Cuttle mitteilen zu können. Dieser aber ergriff die Gelegenheit, um den Stand der Dinge auseinanderzusetzen, über den man das Urteil des weisen Bunsby hören wollte, und bat diese gründliche Autorität, sein Gutachten abzugeben.

Bunsby, dessen Auge fortwährend auf irgendeiner Stelle etwa halbwegs zwischen London und Gravesend zu haften schien, streckte zwei- oder dreimal seinen rauhen rechten Arm aus, als wolle er diesen aus Begeisterung um die schöne Gestalt von Miß Nipper schlingen. Diese junge Dame hatte sich jedoch sehr unzufrieden nach der andern Seite des Tisches zurückgezogen, so daß das weiche Herz des Kommandanten der vorsichtigen Klara sich in unerwiderten Regungen erschöpfen mußte. Nach mehreren derartigen Fehlgriffen ließ sich der große Mann, ohne übrigens seine Worte an irgend jemanden zu richten, folgendermaßen vernehmen; oder vielmehr die Stimme in seinem Innern sprach aus eigenem Antrieb und ganz unabhängig aus dem Manne, als sei er von einem grämlichen Geiste besessen.

»Mein Name ist Jack Bunsby!«

»Er wurde John getauft!« rief der entzückte Kapitän Cuttle. »Hört ihn.«

»Und was ich sage«, fuhr die Stimme nach einiger Erwägung fort, »dabei bleibe ich auch.«

Der Kapitän, der Florences Arm in dem seinen liegen hatte, nickte dem Auditorium zu und schien zu sagen: »Jetzt rückt er mit seinen Offenbarungen heraus. Das wollte ich, als ich ihn hierher brachte.«

»Weswegen«, fuhr die Stimme fort, »und warum nicht, und wenn so, wozu ein Widerspruch? Kann jemand etwas anders sagen? Nein. Also Punktum!«

Nachdem seine Folgerung so weit gediehen war, hielt die Stimme inne und ruhte. Dann fuhr sie sehr langsam, wie folgt, fort:

»Glaube ich, daß jener Sohn und Erbe untergegangen ist, meine Jungen? Kann sein. Sage ich so? Wer behauptet es? Wenn ein Schiffer durch den St.-Georg-Kanal nach den Dünen hinaussteuert, was liegt gerade vor seinem Schnabel? Die Goodwins. Er ist nicht gezwungen, auf die Goodwins zu laufen, aber er kann es. Der Sinn dieser Bemerkung liegt in der Anwendung. Diese gehört nicht zu meinen Obliegenheiten. Also zu, legt gut nach vorne aus, und gut Glück für Euch!«

Die Stimme verließ jetzt das Hinterstübchen und begab sich in die Straße hinaus, den Kommandanten der vorsichtigen Klara mit fortnehmend und ihn mit aller bequemen Eile wieder an Bord begleitend, wo dieser sich ohne weiteres hineinbugsierte und seinen hohen Geist mit einem Schlaf erfrischte.

Es blieb also den Hörern dieser weisen Vorschriften überlassen, selbst ihre Anwendung darauf zu machen – nach einem Grundsatz, der stets das Hauptbein von Bunsbys Dreifuß war, wie er zufälligerweise auch die erste Stütze einiger andern Orakelstühle ist. Sie sahen sich gegenseitig mit einiger Ungewißheit an, während Rob, der Schleifer, der sich die harmlose Freiheit genommen hatte, durch das Hochfenster des Daches zu gucken und zu lauschen, in einem Zustand der größten Verwirrung langsam wieder herunterkam. Dagegen war Kapitän Cuttles Bewunderung gegen Bunsby durch die glänzende Art, wie er seinen Ruf mit einem so feierlichen Schluß gerechtfertigt hatte, wo möglich noch erhöht worden. Er schickte sich jetzt an, auseinanderzusetzen, daß Bunsby damit nichts anderes habe sagen wollen, als daß man am Vertrauen festhalten müsse. Bunsby habe kein Bedenken, und das Gutachten eines solchen Geistes sei der wahre Hoffnungsanker mit dem herrlichsten Verankerungsgrund. Florence versuchte zu glauben, daß der Kapitän recht habe, aber Miß Nippel, die mit dicht verschlungenen Armen dastand, schüttelte in entschlossenem Widerspruch den Kopf und setzte auf Bunsby nicht mehr Vertrauen, als sogar auf Mr. Perch.

Der Philosoph schien Onkel Sol so ziemlich in dem nämlichen Zustand verlassen zu haben, in dem er ihn gefunden; denn der alte Mann streifte, den Zirkel in der Hand, noch immer auf der wässerigen Welt umher und konnte keinen Ruheplatz entdecken für die Spitzen seines Instrumentes. Während er noch immer bei diesem Geschäfte sternchenland.com sternchenland.com begriffen war, flüsterte Florence Kapitän Cuttle etwas ins Ohr, worauf dieser seine schwere Hand auf die Schultern seines Freundes legte.

»Wie ist’s Euch, Sol Gills?« rief der Kapitän in herzlichem Ton.

»Nur so so, Ned«, versetzte der Instrumentenmacher. »Ich habe den ganzen Nachmittag an den Abend denken müssen, an dem mein Junge zum ersten Male aus Dombeys Hause zurückkam. Er saß dort, wo Ihr jetzt steht, beim Essen; wir sprachen von Sturm und Schiffbruch, und es wurde mir kaum möglich, ihn von diesem Gegenstand abzubringen.«

Jetzt begegnete sein Blick dem von Florence, der angelegentlich forschend auf seinem Gesicht ruhte. Der alte Mann hielt inne und lächelte.

»Haltet dichter, alter Freund!« rief der Kapitän. »Macht nur ein munteres Gesicht! Ich will Euch was sagen, Sol Gills; sobald ich die Herzensfreude da glücklich nach Haus gebracht habe« – er küßte dabei seinen Haken gegen Florence – »so komme ich zurück und nehme Euch für den Rest dieses lieben Tages ins Schlepptau. Ihr kommt dann mit mir, und wir nehmen irgendwo unsere Mahlzeit ein, Sol.«

»Heute nicht, Ned!« sagte der alte Mann rasch und augenscheinlich sehr bestürzt über diesen Vorschlag. »Heute nicht. Ich kann nicht!«

»Warum nicht?« entgegnete der Kapitän, ihn erstaunt ansehend.

»Ich – ich habe so viel zu tun. Ich – ich wollte sagen, so viel zu denken und zu ordnen. Ich kann in der Tat nicht, Ned. Ich muß wieder ausgehen und dann allein sein. Es gehen mir heute so viele Dinge durch den Kopf.«

Der Kapitän sah zuerst den Instrumentenmacher, dann Florence und dann wieder den Instrumentenmacher an.

»Also morgen«, sagte er endlich.

»Ja, ja, morgen«, versetzte der alte Mann. »Vergeßt mich morgen nicht. Also morgen.«

»Wohl gemerkt, Sol Gills, ich komme früh«, machte der Kapitän zur Bedingung.

»Ja, ja, morgen so früh Ihr wollt«, entgegnete der alte Sol. »Und nun lebt wohl, Ned Cuttle. Gott behüte Euch.«

Während er das sagte, drückte er die Hand des Kapitäns mit ungewöhnlicher Wärme. Dann wandte er sich an Florence, nahm ihre beiden Hände in die seinen und führte sie an seine Lippen, worauf er in sehr befremdlicher Hast mit ihr nach der Kutsche eilte. Sein auffallendes Benehmen machte einen solchen Eindruck auf den Kapitän, daß er zurückblieb und Rob nachdrücklich einschärfte, er solle bis zum Morgen ja recht achtsam auf seinen Gebieter sein. Diese Ermahnung bekräftigte er mit der Vorausbezahlung eines Schillings und dem Versprechen weiterer sechs Pence, die noch vor dem andern Mittag bezahlt werden sollten. Nach Erfüllung dieses freundlichen Dienstes bestieg er, da er sich als die natürliche und gesetzliche Leibwache Florences betrachtete, nicht wenig stolz auf sternchenland.com seine Schutzbefohlene, den Bock und geleitete sie nach Hause. Zum Abschied gab er Florence die Versicherung, er werde sich treulich Sol Gills‘ annehmen; und da ihm Susanna Nippers mutige Worte in betreff der Mrs. Mac Stinger noch immer durch den Kopf gingen, so fragte er schließlich noch einmal die heldenkühne Jungfrau: »Meint Ihr noch immer, dies ginge so leicht, meine Liebe?«

Als sich das verödete Haus hinter den beiden Mädchen geschlossen hatte, kehrten die Gedanken des Kapitäns wieder zu dem alten Instrumentenmacher zurück. Es war ihm nicht recht wohl zumut bei der Sache. Statt daher nach Hause zu gehen, spazierte er etliche Male auf der Straße auf und ab, dehnte seine Muße bis zum Abend aus und speiste spät in einem gewissen Winkelkneipchen der City, dessen keilförmige Wirtsstube von Glanzhüten reichlich benutzt wurde. Seine Hauptabsicht war, nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal an der Wohnung seines alten Freundes vorbeizugehen und durchs Fenster hineinzuschauen. Das geschah. Da Hinterstübchen stand offen, und er konnte Sol Gills sehen, wie er an dem Tisch drinnen eifrig schrieb, während der kleine Midshipman, der bereits zum Schutz gegen den Nachttau unter Dach gebracht worden war, von dem Ladentisch aus nach ihm hinschaute. Unter dem letzteren machte sich Rob, der Schleifer, sein Bett zurecht und schickte sich an, den Laden zu schließen.

Durch die Ruhe, die im Bann des hölzernen Midshipmans herrschte, zufriedengestellt, richtete der Kapitän seinen Schnabel nach Brig-Place, fest entschlossen, am andern Morgen in aller Frühe wieder den Anker zu lichten.

Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Das Studium eines liebenden Herzens.

Sir Barnet und Lady Skettles, sehr achtbare Personen, bewohnten bei Fulham ein hübsches, an den Ufern der Themse gelegenes Landhaus – eine der angenehmsten Wohnungen von der Welt, wenn etwa wettrudernde Fahrzeuge daran vorbeikamen, obschon sie zu andern Zeiten manche kleine Unbequemlichkeiten bot. Darunter müssen wir namentlich den gelegentlichen Besuch des Flußes im Geschäftszimmer und das zeitweilige Verschwinden des Hofs mit seinem Gesträuch berühren.

Sir Barnet Skettles legte seine persönliche Bedeutsamkeit hauptsächlich durch eine altertümliche goldene Schnupftabaksdose und ein schweres seidenes Taschentuch an den Tag, das er in eindrucksvoller Weise wie ein Banner herauszuziehen und mit beiden Händen zugleich in Anwendung zu bringen pflegte. Die erste Aufgabe seines Lebens bestand unablässig darin, die Kette seiner Bekanntschaften auszudehnen. Wie bei einem ins Wasser geworfenen schweren Körper – wir wollen übrigens durch eine solche Vergleichung sternchenland.com den würdigen Gentleman nicht herabsetzen – lag es in der Natur der Dinge, daß Sir Barnet stets einen weiter und weiter greifenden Kreis um sich verbreitete, bis kein Raum mehr übrigblieb. Oder gleich dem Schall, der nach der Theorie eines scharfsinnigen neueren Naturforschers für immer fortschwingen kann in dem unermeßlichen Raum, vermochte nichts in der Entdeckungsreise durch das gesellschaftliche Leben dem wackern Sir Barnet Skettles Einhalt zu tun, als das Ende seines moralischen Spannseils.

Sir Barnet tat sich ungemein viel darauf zu gut, wenn er Leute mit Leuten bekannt machen konnte. Er liebte diese Aufgabe um ihrer selbst willen und auch deshalb, weil sie seinen Lebenszweck begünstigte. Wenn er zum Beispiel so glücklich war, sich eines ungeleckten Neulings oder eines Dorfgentlemans zu bemächtigen und ihn nach seiner gastfreundlichen Villa zu verlocken, so pflegte er ihn schon am andern Morgen anzureden: »Mein teurer Sir, ist jemand da, den Ihr kennenzulernen wünscht – mit dem Ihr zusammentreffen möchtet? Nehmt Ihr Interesse an Schriftstellern, Malern, Bildhauern, Schauspielern oder derartigen Leuten?« Vielleicht antwortete der Unglückliche mit Ja und nannte irgend jemanden, den Sir Barnet ebensowenig persönlich kannte wie Ptolemäus den Großen. Sir Barnet antwortete aber, es sei nichts leichter, als mit diesem Mann in Berührung zu kommen, da er ihn persönlich sehr gut kenne. Dann ging es zugleich zu dem besagten Jemand. Sir Barnet ließ seine Karte dort, schrieb ein kurzes Billett – »Mein teurer Sir, – Strafe Eurer ausgezeichneten Stellung – ein Freund in meinem Hause hegt natürlich den Wunsch – Lady Skettles und ich teilen ihn – hoffen, das Genie sei erhaben über Förmlichkeiten; Ihr werdet uns die ausgezeichnete Gunst zuteil werden lassen, uns das Vergnügen zu schenken – usw., usw.« – und so waren zwei Vögel mit einem Stein tot geworfen – mausetot.

Mit der Schnupftabaksdose und dem wehenden Banner stellte Sir Barnet Skettles am ersten Morgen nach ihrer Ankunft die gewöhnliche Frage an Florence. Als Florence ihm dankend erwiderte, sie kenne niemanden besonders, den sie zu sehen wünsche, flogen natürlich ihre Gedanken dem armen verlorenen Walter zu. Vielleicht war es ebenso natürlich, daß sie ihr Köpfchen ein wenig sinken ließ und mit weicher, bebender Stimme ihre Verneinung vorbrachte, als Sir Barnet Skettles, sein freundliches Anerbieten weiter verfolgend, mit der Frage kam: »Meine teure Miß Dombey, könnt Ihr Euch denn wirklich an niemanden erinnern, von dem Euer trefflicher Papa – ich bitte, ihm, wenn Ihr ihm schreibt, meine und meiner Gattin besten Grüße zu bestellen – wünschen könnte, daß Ihr ihn kennenlernt?«

Skettles junior mit sehr steifer Krawatte und mit sehr ernüchtertem Geist brachte zu Haus seine Ferien zu und schien sehr ärgerlich zu sein über das Drängen seiner trefflichen Mutter, die ihm stets anlag, er solle doch Florence alle Aufmerksamkeit erweisen. Eine zweite und noch schwerere Qual, unter der die Seele des jungen Barnet sternchenland.com keuchte, war die Gesellschaft des Doktor und der Mrs. Blimber, die zu einem Besuch unter das elterliche Dach eingeladen worden, und von denen der junge Gentleman oft sagte, es wäre ihm lieber, wenn sie ihre Ferien in Jericho zubrächten.

»Könnt Ihr Euch auf niemanden entsinnen, Doktor Blimber?« sagte Sir Barnet Skettles, sich an diesen Gentleman wendend.

»Ihr seid sehr gütig, Sir Barnet«, versetzte Doktor Blimber. »In der Tat, es fällt mir niemand besonders bei, und ich lerne meine Nebenmenschen lieber nur im allgemeinen kennen, Sir Barnet. Wie sagt Terenz? ›Jeder, der Vater eines Sohnes ist, hat Interesse für mich‹.«

»Hat nicht etwa Mrs. Blimber den Wunsch, irgendeine merkwürdige Person kennenzulernen?« fragte Sir Barnet höflich.

Mrs. Blimber erwiderte mit süßem Lächeln und mit Schütteln ihrer himmelblauen Haube, wenn Sir Barnet sie mit Cicero bekannt machen könnte, so möchte sie ihn wohl bemühen; da aber eine solche Vorstellung nicht möglich sei und sie sich bereits Sir Barnets und seiner liebenswürdigen Lady Freundschaft erfreue, außerdem diese beiden verehrlichen Personen sie und den Doktor mit ihrem vereinten Vertrauen hinsichtlich ihres lieben Sohnes erfreut hätten – man bemerkte, daß der junge Barnet hierbei seine Nase aufwarf – so bleibe ihr nichts weiter zu wünschen übrig.

Unter solchen Umständen mußte sich Sir Barnet vorderhand mit der versammelten Gesellschaft zufrieden geben. Florence war froh darüber; denn sie hatte unter ihrer Umgebung ein Studium zu verfolgen, das ihr sehr am Herzen lag und für sie zu kostbar und wichtig war, als daß sie es irgendeinem andern Interesse hätte nachsetzen können.

Es hielten sich einige Kinder im Hause auf – Kinder, die sich gegen ihre Väter und Mütter so frei und glücklich benahmen, wie jene rosigen Gesichter, die ihrem Haus gegenüber wohnten – Kinder, die ihrer Liebe keinen Zwang anzutun nötig hatten und diese unverhohlen zeigten. Florence gab sich alle Mühe, ihnen ihr Geheimnis abzulernen, und suchte herauszubekommen, worin sie gefehlt hatte. Es war ihr sehr darum zu tun, die einfache Kunst sich anzueignen, die ihr unbekannt war – wie sie es nämlich angreifen sollte, ihrem Vater zu zeigen, daß sie ihn liebte, um dessen Gegenliebe zu gewinnen.

Manchen Tag beobachtete Florence gedankenvoll diese Kinder, und oft verließ sie an einem schönen Morgen, wenn die Sonne sich in ihrer Pracht herrlich erhob, ihr Lager, um, noch ehe jemand im Hause wach war, am Flußufer hin und her zu wandeln, nach den Fenstern ihrer Schlafgemächer hinaufzublicken und sich die Kleinen, die so liebevoll gepflegt wurden, in ihrem Schlummer zu vergegenwärtigen. In solchen Augenblicken fühlte sich Florence einsamer, als wenn sie in dem großen Haus allein war, und sie sehnte sich bisweilen nach diesem zurück, weil es ihr einen größeren Frieden brachte, wenn sie sich verbergen konnte, als wenn sie mit ihren Altersgenossen umgehen sollte und dabei finden mußte, wie wenig Ähnlichkeit sternchenland.com sie mit ihr selbst hatten. Aber wie auch jedes kleine Blatt, das sie in dem schweren Lesebuch umschlug, ihr in die Seele schnitt, so fuhr sie doch eifrig fort in ihrem Studium und blieb in ihrem Kreise mit der geduldigen Hoffnung, am Ende dennoch die Kenntnis zu erringen, an der ihr so viel gelegen war.

Aber wie an den Kern zu gelangen – wie vorderhand nur erst die harte Schale zu zerbrechen? Es waren Töchter da, die morgens aufstanden und nachts sich zur Ruhe legten – aber sie besaßen bereits die Herzen ihrer Väter. Sie hatten keine Zurückweisung zu überwinden, keine Kälte zu fürchten, keine finstere Stirne zu glätten. Wenn der Morgen fortschritt, die Fenster nacheinander sich öffneten, der Tau auf Gras und Blumen zu trocknen begann und die jungen Füße den Rasen belebten, sah sich Florence im Kreise der frohen Gesichter um und machte sich Gedanken, was sie wohl von diesen Kindern lernen könne. Aber es war zu spät, ihnen etwas abzusehen, denn jedes durfte sich furchtlos seinem Vater nähern, seine Lippen zu dem bereits fertigen Kuß erheben und den Arm um den Nacken schlingen, der sich liebkosend niederbeugte. Mit einer solchen Kühnheit konnte sie nicht anfangen. O, war es möglich, daß die Hoffnung mehr und mehr sich verlor, je eifriger sie sich ihrem Studium hingab?

Sie erinnerte sich noch, daß sogar die Alte, von der sie in ihrer frühen Jugend beraubt worden war – ihr Bild, ihre Wohnung, ihre Worte und ihre Handlungen waren mit der nachhaltigen Schärfe eines fürchterlichen Eindrucks aus einer frühen Lebensperiode ihrem Gedächtnis eingeprägt – liebevoll von ihrer Tochter gesprochen und in dem Schmerz einer hoffnungslosen Trennung von ihrem Kinde sogar bitter geweint hatte. Freilich – wenn sie weiter nachdachte, so mußte sie sich sagen, daß ihre eigene Mutter sie sehr geliebt hatte, und wenn dann ihre Betrachtungen von Zeit zu Zeit schnell durch den weiten Abstand hinglitten, der sich zwischen ihr und ihrem Vater befand, so wandelte sie ein Zittern an. Tränen traten ihr in die Augen, weil sie sich der Vorstellung nicht erwehren konnte, wenn ihre Mutter noch am Leben wäre, würde sie vielleicht auch ihre Liebe entbehren müssen, weil es ihr an jener unbekannten Anmut fehle, die naturgemäß einen Vater fesseln müsse – einer Anmut, die ihr von der Wiege an gefehlt hatte. Sie wußte zwar, daß sie mit dieser Vorstellung dem Andenken ihrer Mutter unrecht tat, da es solchen Gedanken an aller Wahrheit oder überhaupt an einer möglichen Grundlage gebrach; aber sie konnte doch in ihren Bemühungen, ihn zu rechtfertigen und die ganze Schuld nur bei sich zu suchen, nicht verhindern, daß derartige Bilder gleich einer schwarzen Wolke an dem fernen Horizont ihrer Seele hinschwebten.

Unter den übrigen Gästen traf bald nach Florence auch ein schönes Mädchen ein, das drei oder vier Jahre jünger als sie und eine Waise war. Mit ihr kam eine Tante, eine Dame mit grauem Haar, die sich oft mit Florence unterhielt, gleich allen übrigen sie am Abend gerne singen hörte und bei solchen Gelegenheiten stets sternchenland.com mit mütterlicher Teilnahme in ihrer Nähe ihren Platz suchte. Sie waren erst zwei Tage im Hause, als Florence, die an einem warmen Morgen von einer Gartenlaube aus gedankenvoll einer jugendlichen Gruppe auf der Straße zusah und zugleich für den Kopf eines kleinen Wesens darunter, das der Liebling aller übrigen war, einen Blumenkranz wand – die erwähnte Dame und ihre Nichte, die in einem nahen geschirmten Gartenwege auf und nieder gingen, von sich sprechen hörte.

»Ist Florence auch eine Waise wie ich, Tante?« fragte das Kind.

»Nein, meine Liebe. Sie hat zwar keine Mutter mehr, aber ihr Vater lebt noch.«

»Trägt sie ihr Trauerkleid um ihre verstorbene Mama?« fragte das Kind rasch.

»Nein; für ihren einzigen Bruder.«

»Hat sie keinen andern Bruder?«

»Nein.«

»Keine Schwester?«

»Nein.«

»O, wie bedaure ich sie!« sagte das kleine Mädchen.

Als sie eine Weile nachher stehenblieben, um schweigend einigen Booten nachzusehen, nahm Florence wieder Platz – sie war nämlich, als sie ihren Namen hörte, aufgestanden und hatte ihre Blumen gesammelt, um ihnen entgegenzugehen und dadurch anzuzeigen, daß sie sich in Hörweite befinde. In der Erwartung, daß sie nichts mehr hören werde, hatte sie sich wieder an ihr Geschäft gemacht; aber die Unterhaltung begann im nächsten Augenblicke aufs neue.

»Florence wird hier von jedem Menschen geliebt, und gewiß, sie verdient es auch«, sagte das Kind eifrig. »Wo ist ihr Papa?«

Nach einer kurzen Pause versetzte die Tante, daß sie es nicht wisse. Der Ton ihrer Stimme erregte die Aufmerksamkeit Florences, die eben wieder von ihrem Sitz aufgesprungen war, und fesselte sie an die Stelle. Sie drückte hastig ihren Kranz an die Brust und hielt ihn mit beiden Händen fest, damit die Blumen nicht auf den Boden niederfielen.

»Er ist doch in England, hoffe ich, Tante?« fragte das Kind.

»Ich glaube es. – Ja – ich weiß es gewiß.«

»Ist er nie hier gewesen?«

»Soviel ich weiß, nein.«

»Kommt er nie her, um sie zu besuchen?«

»Ich glaube nicht.«

»Ist er lahm, oder blind, oder krank, Tante?« fragte das Kind.

Die Blumen, die Florence an ihre Brust gedrückt hielt, begannen auf den Boden zu fallen, als sie diese verwundert ausgesprochenen Worte hörte. Sie lauschte aufmerksamer, und ihr Antlitz senkte sich.

»Kätchen«, sagte die Dame nach einer weiteren kurzen Pause, »ich will dir über Florence die ganze Wahrheit sagen, wie ich sie sternchenland.com gehört habe, und wie ich glaube, daß es sich verhält. Du mußt aber niemandem etwas davon sagen, meine Liebe, weil es vielleicht hier nur wenig bekannt ist und du ihr dadurch wehtun könntest.«

»Ich will schweigen!« rief das Kind.

»Ich weiß, du wirst dies«, entgegnete die Dame. »Ich kann dir so gut trauen, wie mir selbst. So höre denn, Kätchen – ich fürchte, Florences Vater kümmert sich nur wenig um sie; er sieht sie selten, war in ihrem ganzen Leben nie freundlich gegen sie und meidet sie namentlich jetzt. Sie würde ihn zärtlich lieben, wenn er es ihr gestatten wollte; aber er tut das nicht – obschon sie dabei keine Schuld trifft; auch ist sie bei allen gefühlvollen Herzen sehr beliebt, und man hat großes Mitleid mit ihr.«

Mehr von den Blumen in Florences Händen fielen flatternd zu Boden, und die zurückbleibenden waren feucht, aber nicht von Tau. Das Antlitz des Mädchens senkte sich auf die vollen Hände nieder.

»Arme Florence! Liebe, gute Florence!« rief das Kind.

»Weißt du, warum ich dir das gesagt habe, Kätchen?« fragte die Dame.

»Damit ich recht freundlich gegen sie sei und mir alle Mühe gebe, ihr gefällig zu werden; ist dies der Grund, Tante?«

»Zum Teil«, versetzte die Dame, »aber nicht ganz. Obschon wir sie so heiter sehen und sie ein freundliches Lächeln für jeden hat, indem sie gerne uns allen verbindlich sein und ihren Anteil zur allgemeinen Unterhaltung beitragen möchte, so kann sie doch kaum recht glücklich sein. Meinst du, das sei möglich, Kätchen?«

»Ich fürchte, nein«, entgegnete die Kleine.

»Und du kannst wohl begreifen«, fuhr die Dame fort, »warum der Anblick von Kindern, deren Eltern liebevoll sind – wir haben eben jetzt viele hier – ihr im geheimen schmerzlich werden muß?«

»Ja, meine liebe Tante«, erwiderte das Kind. »Ich begreife das sehr wohl. Die arme Florence!«

Noch mehr Blumen fielen auf den Boden, und die, welche sie an ihre Brust gedrückt hielt, zitterten, als ob ein winterlicher Wind durch sie wehe.

»Mein Kätchen«, sagte die Dame mit ernster, aber ruhiger und linder Stimme, die vom ersten Augenblick an einen tiefen Eindruck auf Florence gemacht hatte, »von allen den jugendlichen Geschöpfen hier bist du ihre natürliche und harmlose Freundin. Es fehlen dir die unschuldigen Mittel, in deren Besitz glücklichere Kinder sind –«

»Es gibt hier keine glücklicheren, Tante!« rief die Kleine, die sich an ihre Verwandte anzuklammern schien.

»– in deren Besitz andere Kinder sind, liebes Kätchen, um sie an ihr Unglück zu erinnern. Deshalb wäre es mir lieb, wenn du versuchen wolltest, ihr eine kleine Freundin zu sein. Der Verlust, der dich betroffen hat – dem Himmel sei Dank, daß du ihn erlittest, ehe du sein Gewicht zu würdigen vermochtest – gibt dir einen Anspruch und einen sicheren Halt bei der armen Florence.«

»Aber es fehlt mir nicht an elterlicher Liebe, Tante – es hat mir nie daran gefehlt, so lange ich Euch hatte«, versetzte das Kind.

»Wie dem auch sein mag, meine Liebe«, entgegnete die Dame, »dein Unglück ist kleiner als das der Florence; denn in der ganzen weiten Welt kann keine Waise so verlassen sein, wie das Kind, das eines seiner Eltern durch den Tod verloren hat und sich nicht in der Liebe des andern für den Verlust trösten kann.«

Die Blumen flogen wie Staub über den Boden hin; die leeren Hände breiteten sich vor dem Gesicht aus, und die verwaiste Florence, die sich niederkauerte, weinte lang und bitterlich.

Aber voll treuen Herzens hielt Florence entschlossen an ihrem guten Vorsatz fest, wie ihre sterbende Mutter sie selbst festgehalten hatte an dem Tag, der Paul das Leben gab. Er wußte nicht, wie sehr sie ihn liebte, und wie lang es auch dauern mochte, sie wollte fort und fort versuchen, eines Tages wenigstens diese Kunde dem Herzen ihres Vaters beizubringen. Mittlerweile wollte sie sich hüten, ja nicht durch ein gedankenloses Wort, einen unbedachten Blick oder einen zufällig hervorgerufenen Gefühlsausbruch eine Klage gegen ihn erkennbar werden zu lassen oder Veranlassung zu ihm nachteiligen Gerüchten zu geben.

Sogar im Verkehr mit dem verwaisten Kind, dem sie so sehr zugetan war und dessen Worte ihr nie aus ihrem Gedächtnis wichen, blieb Florence ihres Vorsatzes eingedenk. Wenn sie die Kleine allzu deutlich vor den übrigen auszeichnete, so meinte sie, daß sie dadurch jedenfalls in einem Sinne, vielleicht sogar in mehreren den Glauben bekräftigte, ihr Vater sei grausam und unnatürlich, und das Vergnügen, das sie in ihrem Umgange fand, war nicht imstande, diesen Schmerz aufzuwiegen. Was sie gehört hatte, war ein Grund, nicht sich selbst zu beruhigen, sondern ihn nur um so mehr zu schonen, und Florence tat dies im Einklang mit dem Verlangen ihres Herzens.

So hielt sie es immer. Wenn aus einem Buche laut vorgelesen wurde und in der Geschichte etwas vorkam, was auf einen unfreundlichen Vater hindeutete, so fühlte sie sich schmerzlich berührt, nicht um ihretwillen, sondern weil man eine Anwendung auf ihn machen konnte. Ebenso erging es ihr bei allen kleinen Vorkommnissen – wenn z.B. ein Bild gezeigt oder unter ihnen ein Spiel gemacht wurde. Der Anlässe, ihm eine solche Zärtlichkeit zu erweisen, gab es so viele, daß es ihr oft sehr schwer zumute wurde, und sie verlor sich nicht selten in den Gedanken, es dürfte in der Tat besser sein, wenn sie wieder nach dem alten Haus zurückkehrte und ungestört in dem Schatten seiner düstern Wände lebte. Wie wenige, welche die holde Florence in dem Lenz ihres jungen Lebens sahen, hatten wohl einen Sinn für den Gedanken, daß die bescheidene kleine Königin jener unschuldigen Spiele eine schwere Last heiligen Kummers in ihrer Seele trug! Wie wenige von denen, die in der erkältenden Atmosphäre ihres Vaters erstarrten, hatten eine Ahnung, welch einen Haufen feuriger Kohlen sie auf dessen Haupt sammelte!

Florence verfolgte geduldig ihre Aufgabe, und da es ihr nicht sternchenland.com gelang, unter der jugendlichen Gesellschaft, die im Hause versammelt war, das Geheimnis jener unnennbaren Anmut zu entdecken, die ihr so sehr am Herzen lag, so ging sie in frühen Morgenstunden allein aus, um sich unter den Kindern der Armen umzusehen. Aber auch sie waren schon zu weit vorgerückt, als daß sie von ihnen hätte lernen können. Längst waren ihnen ihre Plätze im Hauswesen angewiesen, und sie standen nicht gleich ihr außen vor der Tür, die durch einen Querbalken abgesperrt war.

Bei diesen Gelegenheiten bemerkte sie mehrere Male einen Mann, der sehr früh an der Arbeit war, und ein Mädchen von ihrem eigenen Alter pflegte sich dann in dessen Nähe aufzuhalten. Er war ein sehr armer Mann, der keine regelmäßige Beschäftigung zu haben schien, sondern bald zur Ebbezeit an den Flußufern hinging, ob er in dem Schlamm nicht ein und das andere auffinde, bald in dem schlechten Gärtchen vor seiner Hütte sich beschäftigte, wohl auch an einem schlechten alten Boot, das ihm gehörte, zimmerte oder sonst irgendeine Arbeit, die ihm der Zufall darbot, für einen Nachbar besorgte. Wie auch der Mann seine Zeit verbringen mochte, das Mädchen war nie beschäftigt, sondern saß in der Regel untätig und verdrossen in seiner Nähe.

Florence hatte oft gewünscht, ihn anzureden, aber nie den Mut dazu finden können, da er ihr in keiner Weise entgegenkam. Eines Morgens jedoch führte sie der Weg, der unter Bandweiden nach dem Kieselgestade zwischen seiner Wohnung und dem Wasser hinlief, plötzlich auf ihn zu. Er hatte ein Feuer angemacht, um das Pech zu erhitzen, mit dem er das mit aufwärts gekehrtem Kiel daliegende alte Boot ausdichten wollte. Als er den Ton ihres Fußtrittes hörte, richtete er den Kopf empor und wünschte ihr guten Morgen.

»Guten Morgen«, versetzte Florence, näher herankommend. »Ihr seid früh an der Arbeit.«

»Ich wollte oft gerne noch früher anfangen, Miß, wenn ich nur Arbeit hätte.«

»Ist es denn so schwer, Beschäftigung zu erhalten?« fragte Florence.

»Mir wenigstens wird es schwer genug«, antwortete der Mann.

Florence blickte nach der Stelle hin, wo das Mädchen zusammengekauert saß; es hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, während die Hände dem Knie als Unterlage dienen mußten.

»Ist das Eure Tochter?« fragte Florence.

Er richtete hastig den Kopf auf, schaute mit leuchtendem Blicke nach dem Mädchen und sagte »ja«. Florence sah gleichfalls nach ihr hin und grüßte sie freundlich, das Mädchen aber stieß bloß eine verdrießliche, finstere Antwort aus.

»Fehlt es ihr auch an Beschäftigung?« fragte Florence.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Nein, Miß«, sagte er. »Mein Geschäft muß für uns beide ausreichen.«

»Ihr seid also nur Eurer zwei?« fragte Florence.

»Nur unserer zwei«, entgegnete der Mann. »Ihre Mutter ist schon seit zehn Jahren tot. Martha!« er richtete abermals den Kopf auf und pfiff ihr zu, »hast du nicht ein Wörtchen für die nette junge Dame?«

Das Mädchen machte mit ihren vorwärts gezogenen Schultern eine ungeduldige Gebärde und wandte den Kopf in eine andere Richtung. Ein häßliches, mißgestaltetes, launiges, verdrossenes, zerlumptes, schmutziges Geschöpf – aber es wurde geliebt! Ja – Florence hatte den Blick ihres Vaters gesehen und daraus erkannt, daß dieser Blick durchaus keine Ähnlichkeit habe mit dem Blicke eines gewissen andern.

»Ich fürchte, es ist diesen Morgen schlimmer mit meinem armen Mädchen«, sagte der Mann, in seiner Arbeit innehaltend und das verwahrloste Kind mit einer Teilnahme betrachtend, die in ihrer Rauheit nur um so inniger erschien.

»Sie ist also krank?« fragte Florence.

Der Mann seufzte tief auf.

»Ich glaube nicht, daß Martha in ebenso vielen langen Jahren nur fünf Tage guter Gesundheit hatte«, antwortete er, noch immer nach ihr hinsehend.

»Ja, und mehr als das, John«, sagte ein Nachbar, der heruntergekommen war, um ihm an dem Boote zu helfen.

»Mehr als das, sagt Ihr?« rief der andere, seinen zerbeulten Hut zurückschiebend und mit der Hand über die Stirne fahrend. »Jawohl. Es ist eine lange, lange Zeit.«

»Und je länger es dauerte«, fuhr der Nachbar fort, »desto mehr habt Ihr sie verzogen und ihr den Willen gelassen, John, bis sie zuletzt sich selbst und jedermann sonst zur Last wurde.«

»Mir nicht«, sagte der Vater, wieder an seine Arbeit gehend. »Mir nicht.«

Florence konnte fühlen – wer besser als sie? – welche tiefe Wahrheit in seinen Worten lag. Sie trat ein wenig näher auf den Mann zu. Wie gerne hätte sie dessen rauhe Hand berührt und ihm gedankt für die Güte gegen das unglückliche Geschöpf, das ihm in einem so ganz andern Lichte erschien als allen übrigen Menschen.

»Wer würde auch meinem armen Mädchen den Willen lassen – wer ihr etwas zu Gefallen tun, wenn ich’s nicht täte?« fragte der Vater.

»Freilich, ja, aber alles mit Maß, John«, versetzte der Nachbar. »Ihr beraubt Euch selbst, um ihr geben zu können, und bindet Euch um ihretwillen Hände und Füße. Ihretwegen macht Ihr Euch das Leben elend – und was kümmert sie sich darum? Ich glaube nicht einmal, daß sie es weiß.«

Der Vater erhob abermals den Kopf und pfiff ihr zu. Martha machte mit ihren eingezogenen Schultern dieselbe ungeduldige Gebärde, und er war froh und glücklich.

»Nur deshalb, Miß«, sagte der Nachbar mit einem Lächeln, in dem mehr geheime Sympathie lag, als er in Worten sternchenland.com ausdrückte – »nur um so viel von ihr zu sehen, läßt er sie nie aus seinen Augen.«

»Weil der Tag kommen wird, dem ich schon lang entgegensehen muß«, bemerkte der andere, sich tief über seine Arbeit niederbeugend, »wo nur halb soviel von meinem unglücklichen Kinde – das bloße Zittern eines Fingers oder das Wallen des Haares mir wie ein Auferstehen vom Tod erscheinen wird.«

Florence legte leise einiges Geld auf das alte Boot und entfernte sich.

Und jetzt begann sie sich Gedanken zu machen, ob er wohl dann erfahren würde, daß sie ihn geliebt hatte, wenn sie krank würde und hinschwände gleich ihrem lieben Bruder. Konnte sie dann seinem Herzen teurer werden – kam er vielleicht an ihr Bett, wenn sie schwach war und fast nicht mehr sehen konnte, um sie in seine Arme zu schlingen und die ganze Vergangenheit zunichte zu machen? Wenn sie sich in einer so veränderten Lage befand, vergab er ihr wohl, daß sie nicht imstande gewesen war, ihr kindliches Herz offen vor ihn hinzulegen – daß sie nicht vermocht hatte, ihm die Erregungen mitzuteilen, mit denen sie in jener Nacht sein Zimmer verlassen? O wie viel hätte sie ihm sagen mögen, wenn sie den Mut gehabt hätte, und wie viele Mühe gab sie sich nicht nachher, den Weg kennenzulernen, den sie in ihrer Jugend niemand lehrte!

Ja, wenn es mit ihr zum Sterben käme, dachte sie, so würde sich sicherlich sein Herz erweichen. Sie malte sich aus, wenn sie heiter und sterbensfähig daläge auf dem Bett, das so viele Erinnerungen an den lieben Paul umwebten, so würde er sich ergriffen fühlen und sagen: »Teure Florence, lebe für mich, und wir wollen einander lieben, wie wir es längst hätten tun sollen; ja wie glücklich hätte uns dies nicht seit so vielen Jahren machen können!« Sie dachte, wenn sie solche Worte von ihm hörte und ihre Arme um ihn geschlungen wären, so könnte sie ihm mit einem Lächeln antworten: »Es ist für alles zu spät, nur nicht für dieses. Ich hätte nie glücklicher sein können, mein teurer Vater!« Dies der Abschied von ihm mit einem Segenswunsche auf ihren Lippen.

Das goldene Wasser an der Wand, dessen sich Florence erinnerte, erschien ihr in dem Licht solcher Betrachtungen nur als ein Strom, der zu einem Ruhepunkt und in eine Gegend hineilte, wo die lieben Heimgegangenen Hand in Hand ihrer warteten. Und wenn sie auf den dunklen Fluß niederschaute, der zu ihren Füßen Wellen schlug, entsann sie sich mit heiliger Scheu, aber nicht mit Schrecken jenes wilden Wassers, von dem ihr Bruder so oft gesagt hatte, daß es ihn mit fortreiße.

Der Vater und seine kranke Tochter waren noch frisch in Florences Gedächtnis, überhaupt jene Begegnung kaum eine Woche alt, als Sir Barnet und seine Gattin eines Nachmittags ihr den Vorschlag machten, sie solle sich ihnen zu einem Spaziergang ins Freie anschließen. Da Florence bereitwillig zustimmte, so brachte Lady Skettles als eine Sache, die sich von selbst verstand, den jungen sternchenland.com sternchenland.com Barnet mit herbei; denn nichts bereitete der guten Dame ein größeres Entzücken, als wenn sie ihren jungen Sohn Arm in Arm mit Florence sehen konnte.

Die Wahrheit zu sagen, schien der junge Barnet die Sache in einem ganz andern Licht zu sehen, denn er ließ bei solchen Gelegenheiten oft den bestimmten Ausdruck fallen: »Immer mit dem Mädchen«. Da es jedoch nicht leicht war, Florences sanftes Gemüt zu erregen, so fügte sich der junge Gentleman in der Regel schon nach einigen Minuten gern in sein Schicksal. Sie schlenderten freundschaftlich weiter, während Lady Skettles und Sir Barnet in einem Zustand großer Selbstgefälligkeit und innerer Freude nachfolgten.

In derselben Reihenfolge machten sie auch an jenem Nachmittag ihren Spaziergang, und es war Florence fast gelungen, Skettles junior mit seinem augenblicklichen Schicksal zu versöhnen, als ein Gentleman an ihnen vorüberritt. Dieser sah sie aufmerksam an, packte sein Tier fester beim Zügel, ließ es eine Wendung machen und kam, den Hut in der Hand, wieder zurückgeritten.

Der Gentleman hatte hauptsächlich Florence ins Auge gefaßt, und als die kleine Gesellschaft bei seinem Umkehren haltmachte, verbeugte er sich gegen die junge Dame, noch ehe er Sir Barnet und dessen Gattin begrüßte, Florence konnte sich nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben, sondern fuhr unwillkürlich zurück, als er in ihre Nähe kam.

»Mein Pferd ist vollkommen ruhig, darf ich Euch versichern«, sagte der Gentleman.

Es war nicht dieses, sondern etwas an dem Gentleman selbst – Florence konnte sich selbst nicht Auskunft darüber geben –, was sie zum Zurückweichen bewog, als ob ihr etwas Unangenehmes begegnet sei.

»Ich habe, wenn ich nicht irre, die Ehre, Miß Dombey anzureden?« sagte der Gentleman mit einem höchst gewinnenden Lächeln. Als Florence den Kopf neigte, fuhr er fort: »Mein Name ist Carker. Ich kann kaum hoffen, von Miß Dombey anders als dem Namen nach gekannt zu sein. Carker!«

Florence fühlte ungeachtet des heißen Tages eine eigentümliche Anwandlung von Schauder, stellte aber den Reiter ihren Gastfreunden vor, von denen er sehr höflich aufgenommen wurde.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte Mr. Carker; »aber ich habe im Sinne, morgen Mr. Dombey in Leamington zu besuchen, und wenn Miß Dombey mir einen Auftrag mitzugeben hat, so brauche ich kaum zu sagen, wie überglücklich ich mich schätzen werde, ihn zu besorgen.«

Da Sir Barnet augenblicklich wußte, Florence wünsche ihrem Vater einen Brief zu schreiben, so machte er den Vorschlag, nach Hause zurückzukehren, und ersuchte zugleich Mr. Carker, ohne Umstände ein Diner bei ihm einzunehmen. Mr. Carker war unglücklicherweise schon zu einer Mahlzeit eingeladen; aber wenn Miß Dombey zu schreiben wünschte, so konnte ihm nichts ein größeres sternchenland.com Vergnügen bereiten, als sie nach dem Hause zu begleiten und, solange es ihr beliebte, als ihr dienstwilliger Sklave zu harren. Während er das mit seinem breitesten Lächeln sprach, beugte er sich ganz zu ihr nieder und tätschelte zugleich den Hals seines Pferdes. Florence begegnete seinen Augen und sah weit mehr, als sie es hörte, ihn die Worte sprechen: »Von dem Schiff sind keine Nachrichten eingelaufen.«

Verwirrt, erschreckt und vor ihm zurückweichend – ja nicht einmal gewiß, ob er wirklich diese Worte gesagt hatte, weil es ihr vorkam, er habe sie in irgendeiner außerordentlichen Weise durch sein Lächeln, nicht aber in Lauten kundgegeben, entgegnete Florence mit leisem Ton, sie sei ihm sehr verbunden, wolle aber nicht schreiben, da sie nichts zu melden wisse.

»Nichts zu melden, Miß Dombey?« fragte der Mann, fast die Zähne nicht öffnend.

»Nein«, sagte Florence; »nichts als – als meine liebevollen Grüße – wenn Ihr so gut sein wollt.«

In ihrer Verwirrung erhob sie mit einer flehentlichen, ausdrucksvollen Miene ihre Augen zu seinem Gesicht. Es war auch für ihn deutlich darin zu lesen, was er zuvor schon wußte, daß jeder Verkehr zwischen ihr und ihrem Vater etwas Ungewöhnliches sei, und daß sie ihn deshalb um Schonung bitte. Mr. Carker lächelte, verbeugte sich tief, nahm Sir Barnets Auftrag, Mr. Dombey seine und seiner Gattin beste Grüße auszurichten, entgegen, verabschiedete sich und ritt weiter. Der Mann machte auf das Ehepaar einen sehr günstigen Eindruck. Florence aber wurde bei seinem Weiterreiten von einem so heftigen Schauder erfaßt, daß Sir Barnet, an eine alte volkstümliche Redeweise erinnernd, sagte, sie sähe aus, als ob jemand über ihr Grab gegangen sei. An einer Ecke wandte sich Mr. Carker noch einen Augenblick um, schaute zurück, machte eine Verbeugung und verschwand, als sei er willens, in dieser Absicht geraden Wegs nach dem Kirchhof zu reiten.

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Paul wird immer altmodischer und geht nach Hause in die Ferien.

Beim Nahen der Sommerferien zeigten sich keine besonderen Kundgebungen von Freude unter den bleiäugigen jungen Gentlemen, die in Doktor Blimbers Haus versammelt waren; denn ein ungestümer Ausbruch von Wonne hätte sich durchaus nicht für eine so feine Anstalt geschickt. Die jungen Gentlemen fuhren jeder halbjährlich in ihre Heimat; von einem eigentlichen Aufbrechen dahin war keine Rede, denn eine solche Tätigkeit würden sie geringschätzig von sich abgelehnt haben.

Tozer, der beharrlich durch eine steife weiße Halsbinde gequält wurde – er trug diese lästige Beigabe auf den ausdrücklichen Wunsch der Mrs. Tozer, seiner Mutter, die ihn für die Kirche bestimmt hatte und der Meinung war, er könne diese vorbereitende Stufe nicht zu früh beginnen – Tozer meinte sogar, wenn man ihm zwischen zwei Übeln die Wahl ließe, würde er lieber bleiben, wo er wäre, als nach Hause gehen. Diese Erklärung war jedenfalls sehr aufrichtig, wie sehr sie auch im Widerspruch war mit einem Aufsatz Tozers über diesen Gegenstand, in dem er bemerkt hatte, »die Gedanken an die Heimat und alle Erinnerungen weckten in ihm die angenehmsten Empfindungen der Wonne und des Glücks;« ja er hatte sich, um ein passendes Bild einflechten zu können, mit einem römischen General verglichen, der in triumphierendem Taumel über eine kürzliche sternchenland.com Besiegung der Izener oder beladen mit der karthagischen Beute nur noch wenige Stunden von dem Kapitol stand. Es hatte nämlich den Anschein, als besäße Tozer einen schrecklichen Onkel, der ihn während der Ferien nicht nur über dunkle Punkte examinierte, sondern auch unschuldige Anlässe und Dinge mit einflocht, um sie zu demselben schnöden Zwecke an den Haaren herbeizuziehen. Wenn ihn z.B. sein Onkel in ein Schauspiel oder unter einem ähnlichen Vorwand des Wohlwollens zu einem Riesen, Zwerg, Taschenspieler oder sonst wohin mitnahm, so wußte Tozer im voraus, der alte Gentleman habe über den beabsichtigten Gegenstand irgendeine klassische Anspielung gelesen, und geriet dabei in wahre Todesangst, weil er nicht vorauswissen konnte, wo die Sache losbrechen oder welche Autorität gegen ihn zitiert würde. Was Briggs betraf, so bediente sich sein Vater keiner derartigen Kunstgriffe, sondern erklärte ihm zu allen Stunden und bei jeder Gelegenheit das Gewehr. Ja, diese geistigen Prüfungen waren während der Ferienzeit für diesen unglücklichen Menschen so zahlreich und grausam, daß die Freunde der Familie, die damals in der Nähe von Bayswater bei London wohnte, sich selten jenem künstlich angelegten Teiche in den Kensington-Gärten näherten, ohne sich der Besorgnis hinzugeben, sie würden den Hut des Master Briggs auf dem Spiegel des Wassers schwimmen und eine unvollendete Aufgabe an dem Ufer liegen sehen. Briggs war daher in betreff der Ferien durchaus nicht sanguinisch; und diese beiden Schlafkameraden des kleinen Paul waren so schöne Proben von der Gemütsstimmung der jungen Gentlemen im allgemeinen, daß auch die schwungkräftigsten darunter der Annäherung solcher festlichen Perioden mit gelassener Resignation entgegensahen.

Ganz anders verhielt sich’s bei dem kleinen Paul. Das Ende dieser ersten Ferienzeit sollte ihn von Florence trennen; aber wer denkt je an das Ende von Ferien, die noch nicht begonnen haben? Paul gewiß nicht. Mit dem Näherkommen dieser glücklichen Zeit wurden die Löwen und Tiger, die an den Schlafkammerwänden hinaufkletterten, ganz zahm und lustig. Die grimmigen schiefen Gesichter in dem eingelegten Stubenboden erschienen milder und guckten mit weniger boshaften Augen heraus. Die ernste alte Wanduhr legte in die Weise ihrer Frage mehr persönliches Interesse, und die rastlose See rollte die ganze Nacht durch unter wehmütigen, aber doch angenehmen Lauten, als wollte sie durch das Spiel ihrer Wellen ihn in Schlaf wiegen.

Auch Mr. Feeder, B.A.,schien sich auf die Ferien recht sehr zu freuen, und Mr. Toots entwarf sich von dieser Periode an einen Plan zu lauter Festtagen. Er pflegte nämlich Paul regelmäßig jeden Tag mitzuteilen, dies sei sein letztes halbes Jahr, das er bei Doktor Blimber zubringe, und dann werde er ohne weiteres in den Genuß seines Vermögens eintreten.

Zwischen Paul und Mr. Toots stand es vollkommen fest, daß sie, ungeachtet des Abstandes der Jahre und der Stellung sehr innige Freunde waren. Wie nun die Ferien näher heranrückten und Mr. sternchenland.com Toots, so oft er in Pauls Gesellschaft kam, schwerer atmete und die Augen weiter aufriß, las Paul darin ein Leid darüber, daß sie sich so bald aus dem Gesicht verlieren sollten, und war ihm für seine Gönnerschaft und gute Meinung dankbar.

Ebenso war es für Doktor Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber sowohl als für die jungen Gentlemen im allgemeinen kein Geheimnis, daß Toots sich in irgendeiner Weise selbst zum Beschützer und Vormund von Paul aufgeworfen habe, und der Umstand war sogar für Mrs. Pipchin so notorisch, daß die gute alte Dame eine bittere Eifersucht gegen Toots fühlte, weshalb sie ihn auch in dem Heiligtum ihres Heimwesens wiederholt als einen dickköpfigen Einfaltspinsel bezeichnete. Der nichts ahnende Toots dagegen hatte ebensowenig eine Idee davon, daß er Mrs. Pipchins Groll geweckt haben könnte, als er überhaupt an irgendeine andere bestimmte Möglichkeit oder Folgerung dachte. Im Gegenteil, er war geneigt, sie in dem Lichte eines ziemlich merkwürdigen Charakters zu betrachten, der viele interessante Punkte darbot. Aus diesem Grunde lächelte er ihr mit großer Leutseligkeit zu und fragte sie bei Gelegenheit ihrer kleinen Besuche bei Paul so oft, wie sie sich befinde, daß sie ihm zuletzt eines Abends unverhohlen erklärte, sie sei an dergleichen nicht gewöhnt, was er auch von ihr denken möge; sie könne und wolle es nun einmal nicht dulden, weder von ihm noch von irgendeinem anderen Gecken in der Welt. Über diese unerwartete Erwiderung seiner Höflichkeiten geriet Mr. Toots so in Schrecken, daß er sich, bis sie fort war, in einen abgeschiedenen Platz verkroch und sein Gesicht nie wieder blicken ließ, wenn sich die mannhafte Mrs. Pipchin unter Doktor Blimbers Dache zeigte.

Es waren noch zwei oder drei Wochen bis zum Beginn der Ferien, als eines Tages Miß Cornelia Blimber Paul in ihr Zimmer berief und zu ihm sagte:

»Dombey, ich bin im Begriff, deinem Vater deine Analysis zu schicken.«

»Danke Euch, Ma’am«, versetzte Paul.

»Du weißt doch, was ich damit sagen will, Dombey?« fragte Miß Blimber, indem sie den Knaben scharf durch ihre Brille ins Auge faßte.

»Nein, Ma’am«, entgegnete Paul.

»Dombey, Dombey«, sagte Miß Blimber, »ich fange an, zu fürchten, daß du ein kläglicher Knabe bist. Wenn du den Sinn eines Ausdrucks nicht verstehst, warum verlangst du nicht Belehrung darüber?«

»Mrs. Pipchin sagte mir, ich solle keine Fragen stellen«, erwiderte Paul.

»Ich muß dich bitten, Dombey, mich ja nicht Mrs. Pipchin gegenüber zu erwähnen«, sagte Miß Blimber. »Ich kann dies durchaus nicht gestatten. Der Studienplan in unserer Anstalt verträgt sich ganz und gar nicht mit etwas der Art. Eine Wiederholung solcher Anspielungen würde mich nötigen, dir aufzuerlegen, sternchenland.com daß du morgen früh vor dem Frühstück vom verbum personale an bis hinab zum simillima cigno den ganzen Abschnitt ohne Anstoß auswendig hersagst.«

»Das habe ich nicht wollen, Ma’am«, begann der kleine Paul.

»Ich muß dich bitten, mich nicht mit dem zu behelligen, was du nicht meinst, Dombey«, versetzte Miß Blimber, die in ihren Ermahnungen stets eine ehrfurchtgebietende Feinheit beobachtete. »Dies wäre eine Art von Erwiderung, an deren Zulassung ich nicht im Traume denken möchte.«

Paul hielt es für das Geratenste, gar nichts mehr zu sagen, und blickte deshalb nur zu Miß Blimbers Brille auf. Nachdem diese dann gravitätisch den Kopf geschüttelt hatte, deutete sie auf ein vor ihr liegendes Papier.

»›Analysis des Charakters von P. Dombey‹. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt«, fügte Miß Blimber abbrechend hinzu, »so wird das Wort Analysis im Gegensatz von Synthesis von Walker also definiert: ›die Auflösung eines Objekts, mag dies nun ein solches für die Sinne oder den Verstand sein, in seine ersten Elemente‹. Du bemerkst – im Gegensatz zur Synthesis. Jetzt weißt du, was Analysis ist, Dombey?«

Es hatte den Anschein, als sei Dombey nicht absolut geblendet von dem Licht, das seinem Geiste vorgeführt wurde; er machte daher vor Miß Blimber eine kleine Verbeugung.

»›Analysis‹, nahm Miß Blimber wieder auf, indem sie ihre Blicke über das Papier gleiten ließ, »›des Charakters von P. Dombey. Ich finde, daß die natürlichen Anlagen Dombeys ungemein gut sind, und daß im allgemeinen seine Geneigtheit zum Studium in gleicher Weise prädiziert werden kann. Nehmen wir nun acht als unsere höchste und erforderliche Nummer an, so stellt es sich heraus, daß Dombeys derartige Qualifikationen je mit 6 ¾ bezeichnet werden dürften‹.«

Miß Blimber hielt inne, um zu sehen, wie Paul diese Neuigkeit aufnahm. Da der Knabe nun nicht wußte, ob unter sechs drei Viertel, sechs Pfund fünfzehn Schillinge, oder sechs Pence und drei Farthings, vielleicht auch sechs Fuß drei Zoll, drei Viertel über sechs Uhr, oder sechs andere Dinge nebst drei Bruchteilen darüber, von denen er noch nichts gehört hatte, gemeint waren, so rieb er sich die Hände und schaute Miß Blimber gerade ins Gesicht. Zufälligerweise stimmte dies ebenso gut als irgend etwas anderes, was er hätte sagen können, und Cornelia fuhr fort.

»›Gewalttätigkeit – zwei. Selbstsucht – zwei. Vorliebe für gemeine Gesellschaft, wie sich im Falle einer Person namens Glubb herausgestellt hat – ursprünglich sieben, seitdem aber gemindert. Gentlemanisches Benehmen – vier, sich bessernd mit fortschreitenden Jahren‹. Worauf ich nun aber zuvörderst deine Aufmerksamkeit lenken möchte, Dombey, dies ist der allgemeine Überblick am Schluß dieser Analysis.«

Paul schickte sich an, demselben mit großer Sorgfalt zu folgen. sternchenland.com »Im allgemeinen kann von Dombey bemerkt werden,« sprach Miß Blimber, mit lauter Stimme vorlesend und nach jedem zweiten Wort ihre Brille auf die kleine Gestalt vor ihr richtend, »daß seine Fähigkeiten und Neigungen gut sind, er außerdem auch so viele Fortschritte gemacht hat, als den Umständen nach nur von ihm erwartet werden konnte. Indes ist zu beklagen, daß dieser junge Gentleman in seinem Charakter und Benehmen eine Eigentümlichkeit hat, die man gewöhnlich altmodisch nennt – daß er oft ganz und gar nicht ist wie andere junge Gentlemen seines Alters und seiner gesellschaftlichen Stellung, ohne sich übrigens etwas dabei zu Schulden kommen zu lassen, was entschieden eine Rüge verdiente. »Nun, Dombey«, fügte Miß Blimber bei, indem sie das Papier niederlegte, »verstehst du dies?«

»Ich glaube, Ma’am«, sagte Paul.

»Du siehst, Dombey«, fuhr Miß Blimber fort, »diese Analysis soll an deinen wertgeschätzten Vater geschickt werden. Es wird ihm natürlich sehr schmerzlich fallen, wenn er finden muß, daß du so absonderlich in deinem Charakter und Benehmen bist. Auch uns wird es, wie sich begreifen läßt, zu einem peinlichen Gefühl, denn du siehst selbst ein, Dombey, daß wir dich um dieses Umstandes willen nicht so lieben können, wie wir gern möchten.«

Sie faßte hier den Knaben an einem verfänglichen Punkte, denn in seinem Innern war es, da die Zeit der Abreise herannahte, mit jedem Tage mehr sein angelegentliches Verlangen gewesen, daß alle im Hause ihn lieben möchten. Aus irgendeinem geheimen Grunde, den er – wenn überhaupt – nur unvollkommen verstand, fühlte er eine allmählich sich steigernde Zuneigung fast für jeden Gegenstand und für alle Personen seiner Umgebung, Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß man gleichgültig gegen ihn sein könnte, wenn er weg wäre, und sehnte sich deshalb danach, man möchte ihn in freundlicher Erinnerung behalten. Ja, er hatte sich’s sogar zur Aufgabe gemacht, einen großen, wilden, zottigen Hund, der an der Hinterseite des Hauses an einer Kette lag und früher der Schrecken seines Lebens gewesen war, so für sich zu gewinnen, daß das Tier ihn vermissen möchte, wenn er nicht länger da wäre. Wenig daran denkend, daß er hierin aufs neue nur wieder den Unterschied zwischen sich und seinen Kameraden zeigte, machte der arme kleine Paul Miß Blimber Vorstellungen, so gut er konnte, und bat sie, daß sie, ungeachtet der offiziellen Analysis, die Güte haben möchte, es doch zu versuchen, ob sie ihn nicht lieben könne. Da eben Mrs. Blimber kam, so stellte er an diese Dame dasselbe Gesuch, und als sie sich sogar in seiner Gegenwart nicht enthalten konnte, ihrer oft wiederholten Ansicht Worte zu leihen und zu erklären, daß er ein merkwürdiges Kind sei, entgegnete Paul, er sei überzeugt, daß sie hierin vollkommen recht habe; er wisse es freilich nicht, und er glaube, es müsse in ihm liegen, aber eben deshalb hoffe er, sie werde es übersehen, denn er habe sie alle so lieb.

»So lieb natürlich nicht«, fuhr Paul mit einer Mischung von sternchenland.com Schüchternheit und unverhohlenem Freimut fort, die zu den eigentümlichsten und gewinnendsten Eigenschaften des Kindes gehörten – »so lieb nicht wie Florence, denn dies wäre unmöglich. Dies könnt Ihr gewiß auch nicht erwarten, Ma’am.«

»O, die altmodische kleine Seele!« bemerkte Mrs. Blimber im Flüstertone.

»Aber ich liebe jedermann hier recht sehr«, fuhr Paul fort, »und es würde mir leid tun, wenn ich bei meinem Weggehen denken müßte, es sei irgend jemand froh, daß ich fort sei, oder es kümmerte sich niemand um mich.«

Mrs. Blimber kam nicht recht mit sich ins klare, ob Paul nicht das seltsamste Kind von der Welt sei, und als sie dem Doktor den Vorfall mitteilte, wußte dieser der Ansicht der Gattin nichts entgegenzuhalten. Er bemerkte übrigens, wie schon bei einer früheren Gelegenheit, als Paul zum erstenmal ins Haus kam, das Studium werde viel tun, weshalb er denn auch jetzt seiner Tochter den Rat gab, sie solle nur rasch vorwärts mit ihm zu kommen suchen.

Cornelia hatte freilich schon alles aufgeboten, was in ihren Kräften lag, und dadurch Pauls Leben bitterlich vergällt. Aber abgesehen davon, daß der Knabe sich alle Mühe gab, seine Aufgaben zu erlernen, hatte er sich doch auch noch ein anderes Ziel gesteckt, an dem er eifrig festhielt. Er war ein sanftes, anstelliges, ruhiges Bürschlein, das sich stets Mühe gab, sich die Liebe und Anhänglichkeit seiner Umgebung zu erringen, und obgleich man ihn oft auf seinem alten Posten an der Treppe oder an seinem einsamen Fenster sah, wo er die Wellen und Wolken beobachtete, so fand man ihn doch noch öfter unter den übrigen Knaben, denen er in aller Bescheidenheit manche freiwillige kleine Dienste leistete. So kam es denn, daß selbst unter diesen starren, vom Studium in Anspruch genommenen jungen Anachoreten, die sich unter Doktor Blimbers Dach abquälten, Paul ein Gegenstand allgemeinen Interesses war – ein gebrechliches kleines Spielzeug, das man insgesamt gern hatte, und das niemand rauh behandelt haben würde. Aber sie konnten weder Pauls Wesen ändern, noch seine Analysis umschreiben, und so waren alle darin einig, daß der kleine Dombey ein altmodischer Knabe sei.

Indes knüpften sich an diesen Charakter manche Vorrechte, deren sich niemand anders erfreute. Man hätte weit eher ein neumodisches Kind missen können, und dies allein war schon viel. Wenn an Abenden, ehe man zu Bett ging, die übrigen sich nur vor Doktor Blimber und seiner Familie verbeugten, pflegte Paul sein Händchen auszustrecken und es sowohl dem Doktor, als auch Mrs. Blimber und Cornelia hinzureichen. Handelte sich’s darum, von jemand eine Strafe durch Fürbitte abzuwenden, so war Paul stets der Abgesandte. Sogar der blödsichtige junge Mann hatte sich einmal mit ihm beraten, als es eine Ungeschicklichkeit in betreff von Glas und Porzellan zu vermitteln gab, und man trug sich mit dem unbestimmten Gerücht, daß selbst der Aufwärter ihm eine Geneigtheit erweise, sternchenland.com wie dieser finstere Mann sie nie zuvor gegen einen sterblichen Knaben an den Tag gelegt hatte, indem er zuweilen in sein Tischbier etwas Porter mischte, um ihm mehr zu Kräften zu verhelfen.

Außer diesen sehr umfangreichen Privilegien erfreute sich Paul noch des Rechtes, frei in Mr. Feeders Zimmer treten zu dürfen, aus dem er Mr. Toots zweimal in die Luft hinausgeführt hatte, weil dieser Gentleman infolge eines unglücklichen Versuchs, eine sehr starke Zigarre zu rauchen, fast ohnmächtig geworden war. Diese Zigarre war ein Exemplar aus einem Bündel, das Mr. Toots am Ufer heimlich einem verzweifelten Schmuggler abgekauft hatte, der ihm selbst im Vertrauen mitteilte, daß von der Zollbehörde zweihundert Pfund, tot oder lebendig, auf seinen Kopf gesetzt seien. Mr. Feeders Zimmer war klein, und in einem Alkoven nebenan stand das Bett des Lehrgehilfen. Über dem Kamin hing eine Flöte, die Mr. Feeder noch nicht spielen konnte, obschon er, wie er sagte, im Begriffe war, sie nächstens zu lernen. Man sah auch einige Bücher und eine Angelrute, denn Mr. Feeder versicherte, er werde sich’s sicherlich angelegen sein lassen, fischen zu lernen, sobald er Zeit dazu finde. In ähnlicher Absicht hatte sich Mr. Feeder auch ein schönes kleines Klapphorn aus zweiter Hand angeschafft – ferner ein Schachbrett mit Figuren, eine spanische Grammatik, Zeichenmaterial und ein Paar Boxhandschuhe. Die Kunst der Selbstverteidigung, meinte Mr. Feeder, müsse er sich ohne Zweifel zunächst zu eigen machen; dies sei die Pflicht eines jeden Mannes, da sie leicht dazu Anlaß gebe, zum Schutze für ein bedrängtes Frauenzimmer einzustehen.

Das Hauptbesitztum des Mr. Feeder bestand jedoch in einer großen grünen Flasche mit Schnupftabak, die Mr. Toots beim Schlusse der letzten Ferien als Geschenk mitgebracht und für die er einen hohen Preis bezahlt hatte, weil sie versichertermaßen früher im Besitz des Prinz-Regenten gewesen war. Zwar konnte weder Mr. Toots noch Mr. Feeder von diesem oder irgendeinem andern Schnupftabak, selbst in den winzigsten Dosen, Gebrauch machen, ohne von einem wahren Nieskrampfe befallen zu werden, aber dennoch machte es ihnen großes Vergnügen, eine Dosis mit kaltem Tee anzufeuchten, die Masse auf einem Pergamentstreifen mit der Papierschere durchzukneten und hin und wieder etwas davon zu konsumieren. Während sie so ihre Nasen vollstopften, ertrugen sie die erstaunlichsten Plagen mit der Beharrlichkeit von Märtyrern, und wenn sie in Zwischenräumen Tafelbier dazu tranken, empfanden sie an sich alle die Herrlichkeit üppiger Verschwendung.

Für den kleinen Paul, der oft stumm in ihrer Gesellschaft an der Seite seines Hauptgönners Mr. Toots saß, hatten diese Schlemmerstunden einen wahren Zauber, und wenn Mr. Feeder von den dunkeln Mysterien Londons sprach, oder Mr. Toots sich dahin äußerte, daß er in den nächsten Ferien alle Verzweigungen derselben persönlich aufs genaueste beobachten wolle – ja, daß er zu diesem Zwecke bereits Vorkehrungen getroffen habe, um bei zwei alten Jungfern sternchenland.com zu Peckham in die Kost gehen zu können, sah ihn Paul an, als sei er der Held irgendeines Buchs voll von wilden Reise- und andern Abenteuern, und kriegte fast Angst vor einer so mutigen Person.

Eines Abends, als die Ferien nur noch um einige Tage entfernt waren, kam Paul in dieses Zimmer und traf Mr. Feeder, wie dieser eben in einigen gedruckten Schreiben freigelassene Stellen ausfüllte, während einige andere, deren Lücken bereits ergänzt waren, zerstreut umherlagen und von Mr. Toots gefaltet und gesiegelt wurden.

»Ah, bist du’«, Dombey?« – denn die beiden waren stets sehr freundlich gegen ihn und freuten sich, ihn zu sehen. Dann fuhr der Lehrgehilfe fort, indem er einen der Briefe ihm hinwarf: »Wir haben dich auch da, Dombey. Dieses Schreiben gilt dir.«

»Mir, Sir?« fragte Paul.

»Ja, ’s ist deine Einladung«, entgegnete Mr. Feeder.

Paul betrachtete das Papier und fand, mit Ausnahme seines Namens und des Datums, die von Mr. Feeder eingetragen waren, in Kupferdruck, daß Doktor und Mrs. Blimber sich das Vergnügen von Mr. P. Dombeys Gesellschaft zu einer Partie auf Mittwochabend den siebenzehnten gegenwärtigen Monats erbäten; die Stunde sei halb acht Uhr und der Zweck seien Quadrillen. Mr. Toots zeigte ihm dann, indem er einen ähnlichen Bogen Papier entfaltete, daß Doktor und Mrs. Blimber sich auch das Vergnügen von Mr. Toots Gesellschaft zu einer Partie auf Mittwochabend den siebenzehnten gegenwärtigen Monate erbaten: die Stunde gleichfalls um halb acht Uhr und der Zweck wären Quadrillen. Während nun Paul den Tisch überblickte, an dem Mr. Feeder saß, bemerkte er, daß Doktor und Mrs. Blimber zu derselben gentilen Gelegenheit sich nicht nur das Vergnügen der Gesellschaft von Mr. Briggs und Mr. Tozer, sondern auch von einem jeden jungen Gentleman der Anstalt erbaten.

Mr. Feeder teilte ihm sofort zu seiner großen Freude mit, daß auch Florence eingeladen sei. Es handle sich um ein halbjährlich wiederkehrendes Fest, und da mit diesem Tage auch die Ferien beginnen würden, so könne er, wenn er wolle, unmittelbar von dieser Partie aus mit seiner Schwester den Heimweg antreten – eine Mitteilung, die Paul mit großer Freude aufnahm, indem er sagte, daß er sich recht sehr auf die Rückreise freue. Mr. Feeder gab ihm sodann zu verstehen, man erwarte von ihm, er werde Doktor und Mrs. Blimber in einem sehr schönen Handschreiben mitteilen, daß Mr. P. Dombey sich glücklich schätze, wenn er infolge der höflichen Einladung die Ehre haben könne, seine Aufwartung zu machen. Zum Schluß bemerkte der Lehrgehilfe noch weiter, er werde gut tun, in der Nähe des Doktors und der Miß Blimber des festlichen Anlasses nicht zu erwähnen, da die Präliminarien und sämtliche Vorbereitungen nach den Grundsätzen der Klassizität und der seinen Bildung eingeleitet würden; es müsse nämlich den Anschein gewinnen, als hätten einerseits der Doktor und Mrs. Blimber, andererseits aber die jungen Gentlemen in ihren scholastischen Kapazitäten nicht die mindeste Vorstellung von dem, was in Aussicht stehe.

Paul dankte Mr. Feeder für diese Andeutungen, steckte seine Einladung in die Tasche und setzte sich, wie gewöhnlich, neben Mr. Toots auf einen Schemel nieder. Aber Paul fühlte diesen Abend, daß sein Kopf, der ihn schon lange Zeit mehr oder weniger geschmerzt hatte, recht schwer und leidend wurde – so schwer, daß er ihn mit der Hand stützen mußte. Gleichwohl sank er allmählich immer weiter und weiter nieder, bis er auf Mr. Toots‘ Knie zu liegen kam, wo er ruhen blieb, als habe er nicht im Sinn, sich je wieder aufzurichten.

Dies war nun gerade kein Grund, warum er taub sein mußte; indes mochte es doch, wie er meinte, bei ihm so weit gekommen sein, denn er vernahm endlich, wie ihm Mr. Feeder in die Ohren rief und ihn leicht schüttelte, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Und als er ganz verschüchtert den Kopf erhob und umherschaute, fand er, daß sich Doktor Blimber im Zimmer befand, das Fenster offen stand und seine Stirne von zum Besprengen gebrauchtem Wasser feucht war, obschon er sich durchaus nicht denken konnte, wie all dies ohne sein Wissen vor sich gegangen sein sollte.

»Ah! recht so! So ist’s gut! Wie geht es jetzt meinem kleinen Freund?« sagte Doktor Blimber ermutigend.

»O, ganz gut, danke Euch, Sir«, sagte Paul.

Mit dem Boden schien es übrigens eine eigentümliche Bewandtnis zu haben, denn Paul konnte nicht fest darauf stehen, und etwas Ähnliches mußte mit den Wänden der Fall sein, denn sie hatten Lust, stets sich im Kreise zu drehen, und konnten nur dann festgehalten werden, wenn er recht scharf darnach hinsah. Mr. Toots‘ Kopf sah aus, als sei er mit einem Male viel größer geworden und befinde sich in einem weit größeren Abstand als sonst, und als dieser Gentleman Paul auf seine Arme nahm, um ihn die Treppe hinaufzutragen, bemerkte der Knabe mit großem Erstaunen, daß sich die Tür an einem ganz anderen Platz befand, als er sie zu finden erwartete, ja, es kam ihm anfangs vor, als gehe Mr. Toots mit ihm geradeswegs den Schornstein hinauf.

Es war von Mr. Toots sehr freundlich, daß er Paul mit so viel Zartheit nach dem oberen Teile des Hauses hinauftrug, und der Kleine drückte ihm seine Anerkennung aus. Mr. Toots aber sagte, er würde gern noch viel mehr für ihn tun, wenn er könnte, und tat es auch, indem er Paul auskleiden half, ihn aufs liebevollste zu Bett brachte und dann unter vielem Kichern neben dem Lager Platz nahm. Mr. Feeder, B. A., dagegen lehnte sich über die untere Seite der Bettstelle weg, strich mit seinen knöchernen Händen die kleinen Borsten seines Kopfes bolzgerade, als habe er Lust, nun alles wieder recht sei, mit großer Wissenschaftlichkeit und als echter Kampfhahn gegen Paul anzurennen. Dies war so ungemein spaßhaft und obendrein so freundlich von Mr. Feeder, daß Paul, der nicht recht mit sich ins klare kommen konnte, ob er über ihn lachen oder weinen sollte, lieber beides zugleich tat.

Wie sodann Mr. Toots hinwegging und Mr. Feeder sich in Mrs. Pipchin umwandelte, – Paul dachte nicht daran, hierüber sternchenland.com eine Frage zu stellen und war durchaus nicht neugierig, es zu erfahren – als er übrigens statt Mr. Feeder Mrs. Pipchin an der Unterseite des Bettes stehen sah, rief er ihr zu:

»O, Mrs. Pipchin, sagt es Florence nicht.«

»Was soll ich Florence nicht sagen, mein kleiner Paul«, fragte Mrs. Pipchin, indem sie um das Bettchen herum ging und sich auf den Stuhl setzte.

»Wie es mit mir steht«, sagte Paul.

»Nein, nein«, entgegnete Mrs. Pipchin.

»Was glaubt Ihr wohl, was ich zu tun gedenke, wenn ich groß bin, Mrs. Pipchin?« sagte Paul, indem er auf seinem Kissen das Antlitz gegen sie kehrte und das Kinn auf seinen gefalteten Händchen ruhen ließ.

Mrs. Pipchin konnte es nicht erraten.

»Ich habe im Sinne«, fuhr Paul fort, »all mein Geld miteinander in eine einzige Bank zu legen. Ich werde nie versuchen, noch mehr zu kriegen, sondern will mit meiner lieben Florence aufs Land ziehen, mir einen schönen Garten mit Feldern und Wäldern anschaffen und dort mein ganzes Leben mit ihr zubringen.«

»Wirklich?« rief Mrs. Pipchin.

»Ja«, sagte Paul, »So will ich’s halten, wenn ich –«

Er hielt inne und sann einen Augenblick nach.

Mrs. Pipchins graues Auge forschte in seinem sinnigen Gesicht.

»Wenn ich groß bin«, sagte Paul.

Dann fuhr er fort, Mrs. Pipchin von der Abendpartie, von Florences Einladung und von der Freude zu erzählen, die es ihm machen werde, Zeuge der Bewunderung zu sein, die alle die Knaben für sie fühlen müßten; sie seien auch so freundlich gegen ihn, liebten ihn, und er liebe sie gleichfalls – ein Verhältnis, über das er recht froh sei. Auch von der Analysis wußte er zu erzählen: er sei freilich ein altmodischer Knabe, möchte aber doch auch Mrs. Pipchins Ansicht darüber hören, – ob sie nämlich nicht wisse, warum es so sei und was man darunter verstehen müsse. Mrs. Pipchin leugnete, um sich der Schwierigkeit auf die kürzeste Weise zu entwinden, die Tatsache geradezu ab: Paul war jedoch mit dieser Antwort durchaus nicht zufrieden und sah Mrs. Pipchin, um ihr eine wahrere Antwort abzuringen, so spähend an, daß sie aufstehen und zum Fenster hinaussehen mußte, um seine Augen zu vermeiden.

Es gab einen gewissen zuverlässigen Apotheker, der, wenn einer von den jungen Gentlemen krank war, die Anstalt ärztlich zu beraten pflegte, und auch dieser geriet – Gott weiß wie – in das Zimmer, um sich neben Mrs. Blimber an dem Bett aufzustellen. Paul hatte wenigstens nicht die mindeste Idee davon, wie sie hereingekommen und wie lange sie dagewesen waren: als er sie aber sah, richtete er sich in seinem Bett auf, beantwortete sämtliche Fragen des Apothekers ausführlich und flüsterte ihm zu, Florence dürfe um alles in der Welt nichts davon erfahren, denn er habe sich’s in den Kopf sternchenland.com gesetzt, daß sie sich bei der Abendgesellschaft einfinden müsse. Er plauderte viel mit dem Apotheker und sie schieden als die besten Freunde: als er sich jedoch mit geschlossenen Augen wieder niederlegte, hörte er außerhalb des Zimmers und in weiter Entfernung den Apotheker sagen – oder träumte er nur davon –, es handle sich um einen Mangel an vitalen Kräften (Paul hätte gar gern wissen mögen, was dieser Ausdruck zu bedeuten habe) und um eine große konstitutionelle Schwäche. Da der Kleine darauf erpicht sei, am siebenzehnten sich von seinen Schulkameraden zu verabschieden, so könne man ihm wohl den Willen lassen, falls es bis dahin nicht schlimmer mit ihm werde. Er sei froh, von Mrs. Pipchin zu erfahren, daß der Knabe am achtzehnten zu seinen Freunden nach London abreise. Sobald er in der Sache klarer sehe, wolle er noch vor Beginn der Ferien an Mr. Dombey schreiben. Es sei kein unmittelbarer Grund vorhanden, zu – was? Dieses Wort war Paul entgangen. Das Bürschlein habe ein recht liebes Gemüt, sei aber gleichwohl ein altmodischer Knabe.

Welche alte Mode mochte man wohl damit im Auge haben? Paul wunderte sich darüber mit klopfendem Herzen. Sie mußte ihm wohl sehr deutlich aufgedrückt sein, weil sie von so vielen Leuten bemerkt wurde.

Er konnte jedoch in der Sache nicht ins klare kommen und mochte sich auch nicht lange damit abmühen. Mr«. Pipchin befand sich wieder an seinem Bett, wenn sie sich überhaupt je davon entfernt hatte. Er meinte zwar, sie sei mit dem Doktor weggegangen, aber dies war vielleicht bloß ein Traum gewesen. Kurz, sie nahm in geheimnisvoller Weise eine Flasche und ein Glas in die Hand und schenkte den Inhalt für ihn ein. Sodann genoß er eine wirklich gute Brühe, die ihm Mrs. Blimber selbst gebracht hatte, und er fühlte sich so wohl nachher, daß Mrs. Pipchin, seinen dringenden Bitten entsprechend, nach Hause ging und Mrs. Briggs und Tozer heraufkamen, um sich zu Bett zu legen. Der arme Briggs räsonierte schrecklich über seine eigene Analysis, die ihn kaum mehr hätte dekomponieren können, wenn sie ein wirklicher chemischer Prozeß gewesen wäre: indes benahm er sich sehr freundlich gegen Paul, und Tozer, wie auch alle übrigen, taten das gleiche, denn von den jungen Gentlemen schaute vor dem Schlafengehen einer nach dem andern herein und fragte, wie es Dombey jetzt gehe – er solle nur wohlgemut sein, und dergleichen. Nachdem Briggs in die Federn gekrochen war, blieb er noch lange Zeit wach liegen und lamentierte in einem fort über seine Analysis, indem er sagte, »er wisse wohl, sie sei durchaus falsch, und man hätte einen Mörder nicht schlechter analysieren können – wie es wohl Doktor Blimber gefallen würde, wenn er wisse, daß sein Taschengeld davon abhänge. Es sei sehr leicht, meinte Briggs, einen Knaben für ein halbes Jahr zum Galeerensklaven zu machen und ihn dann als einen Müßiggänger anzuschwärzen – zweimal in der Woche ihn um sein Mittagessen zu verkürzen und ihn dann als einen Fresser zu bezeichnen. So etwas«, sternchenland.com sagte er, »könne man sich unmöglich gefallen lassen«, und dann ging es noch geraume Zeit mit Ach und O fort.

Ehe der blödsichtige junge Mensch am nächsten Morgen die Metallplatte ertönen ließ, kam er zu Paul herauf und teilte ihm mit, daß er liegen bleiben dürfe, worüber Paul sehr froh war. Mrs. Pipchin besuchte ihn eine Weile vor dem Apotheker, und bald nachher kam die gute junge Frauensperson, die Paul an jenem ersten Morgen – wie lang schien ihm dies nicht her zu sein! – beim Reinigen des Ofens getroffen hatte. Sie brachte ihm sein Frühstück. Es fand wieder in weiter Entfernung eine abermalige Konsultation statt – wenn es nicht anders ein Traum unseres Paul war, und dann kam der Apotheker mit dem Doktor und Mrs. Blimber zurück.

»Ich denke, Doktor Blimber«, sagte er, »wir können diesen jungen Gentleman jetzt seiner Bücher entbinden, da ohnehin die Ferien nahe sind.«

»Ich habe durchaus nichts dagegen einzuwenden«, versetzte Doktor Blimber. »Meine Liebe, willst du die Güte haben, Cornelia davon zu unterrichten.«

»Soll geschehen«, entgegnete Mrs. Blimber.

Der Apotheker beugte sich nieder, betrachtete sorgfältig Pauls Augen, befühlte seinen Kopf, seinen Puls, sein Herz und tat alles dies mit so viel Teilnahme, daß Paul zu ihm sagte:

»Ich danke Euch, Sir.«

»Unser kleiner Freund hat nie über etwas geklagt.«

»Ich glaube es wohl«, versetzte der Apotheker. »Man durfte es auch nicht erwarten.«

»Ihr findet ihn viel besser?« fragte Doktor Blimber.

»O ja: er ist viel besser, Sir«, erwiderte der Apotheker.

Paul begann in der ihm eigentümlichen, seltsamen Weise sich Gedanken darüber zu machen, was wohl in jenem Augenblick den Sinn des Apothekers beschäftigen mochte; denn er sah so bedenklich aus, als er Doktor Blimbers beide Fragen beantwortete. Der Apotheker begegnete jedoch den Blicken seines kleinen Patienten, als sie eben diesen geistigen Spürgang antreten wollten, und ging aus seiner Zerstreutheit augenblicklich in ein heiteres Lächeln über, das Paul erwiderte, indem er seine früheren Gedanken darüber aufgab.

Den ganzen Tag lag er schlummernd und träumend in seinem Bett, während Mr. Toots nicht von seiner Seite wich: am nächsten aber stand Paul auf und ging die Treppe hinunter. Siehe da, es mußte etwas mit der großen Wanduhr vorgegangen sein, denn ein Mechanikus, der auf einem Trippel stand, hatte das Zifferblatt heruntergenommen und tastete bei dem Licht einer Kerze mit seinen Instrumenten in dem Werk herum. Dies war ein großes Ereignis für Paul, der sich auf der untersten Treppe niedergesetzt hatte und der Operation aufmerksam zusah. Hin und wieder schaute er nach dem Zifferblatt hin, das schräg an der Wand lehnte, und es wurde ihm ganz angst dabei, denn es kam ihm vor, als ob es ihn mit großen Augen angucke. Der Mechanikus auf dem Trippel war sehr höflich sternchenland.com und fragte, als er Pauls ansichtig wurde: »Wie geht’s dir?« Paul ließ sich in eine Unterhaltung mit ihm ein und erzählte ihm, daß er in letzter Zeit nicht ganz wohl gewesen sei. Nachdem das Eis in dieser Weise gebrochen war, stellte Paul eine Menge Fragen über Glockentöne und Uhren: ob wohl des Nachts Leute in den einsamen Kirchtürmen wachten und schlagen ließen, wie die Glocken läuteten, wenn Leute sterben, und ob es andere Glocken für Hochzeiten gebe, oder ob die ersteren nur in der Einbildung der Lebenden so unheimlich tönten. Als er fand, daß sein neuer Bekannter in betreff der Feuerlöschglocke alter Zeiten nicht sehr gut unterrichtet war, erteilte er ihm Auskunft darüber und fragte ihn auch als einen Praktiker über seine Gedanken von der Idee des Königs Alfred, der die Zeit durch Verbrennen von Kerzen messen wollte. Der Mechaniker meinte, wenn etwas der Art wieder aufkäme, so glaube er, daß das ganze Uhren-Handwerk darüber zugrunde gehen müßte. Und so sah Paul zu, bis die Uhr endlich wieder ihr gewöhnliches Aussehen gewonnen hatte und abermals ihre ruhige Frage aufnehmen konnte. Dann legte der Mechanikus sein Werkzeug in einen großen Korb, wünschte ihm guten Tag und entfernte sich – aber nicht eher, bis er auf der Türmatte dem Bedienten einige Worte zugeflüstert hatte, in denen der Ausdruck »altmodisch« vorkam. Paul hatte denselben ausdrücklich verstanden.

Was mochte wohl das »altmodisch« sein, das die Leute so zu bekümmern schien? Worin konnte es liegen?

Da er jetzt nicht mehr zu lernen hatte, machte er sich häufig Gedanken darüber, obschon nicht so oft, als vielleicht der Fall gewesen wäre, wenn er weniger zu denken gehabt hätte. Stoff dazu gab es übrigens in reicher Menge, und er sann stets den ganzen Tag vor sich hin.

Einmal sollte Florence zu der Abendgesellschaft kommen. Seine Schwester sah dann, wie die Knaben ihn liebten, und dies mußte sie glücklich machen. Hierin fand er ein ergiebiges Thema. Hatte Florence einmal die Überzeugung gewonnen, daß sie sich sanft und gütig gegen ihn benahmen, ja, daß er bei allen so beliebt war, so konnte sie stete an die Zeit denken, die er hier zugebracht hatte, ohne sich sehr darüber zu grämen. Florence war vielleicht dann glücklicher, wenn er wieder zurückkam.

Wenn er wieder zurückkam! Wohl fünfzigmal des Tages glitt sein lautloser kleiner Fuß die Treppe hinauf nach seinem kleinen Stübchen, wo er jedes Buch, jeden Streifen Papier, jede Kleinigkeit, die ihm zugehörte, sammelte, um alles mit nach Haus nehmen zu können. An dem kleinen Paul bemerkte man keinen Schatten, daß er ans Zurückkommen denke; keine Vorbereitungen, keine andere Beziehung darauf war aus allem, was er dachte oder tat, zu entnehmen, als die einzige kleine, die mit seiner Schwester in Verbindung stand. Im Gegenteil, wenn er in seiner beschaulichen Stimmung im Hause umherwandelte, gab ihm alles, was ihm bekannt war, so viel Stoff zum Nachdenken, als schiede er davon für immer – und der sternchenland.com Gegenstände waren in der Tat so viele, daß sie ihn den ganzen Tag über in Anspruch nahmen.

Er mußte in die Stübchen droben hineinsehen und dachte sich dabei, wie einsam sie sein würden, wenn er fort sei; auch hätte er wohl wissen mögen, wie viele stumme Tage, Wochen, Monate und Jahre sie fortfahren würden, ebenso ernst und ruhig auszusehen. Er stellte Betrachtungen darüber an, ob wohl je ein anderes Kind, altmodisch, wie er selbst, zu irgendeiner Zeit darin herumgehen würde – ein Kind, dem sich dieselben wilden Verzerrungen der Tapeten und des Möbelwerks vergegenwärtigten: und ob wohl jemand diesem Knaben vom kleinen Dombey erzählen werde, der einmal hier gewesen.

Ferner trugen sich seine Gedanken mit einem Porträt im obern Stock, das ihm, wenn er wegging und über seine Schultern zurücksah, immer ernst nachblickte und stets nur ihn, nicht aber irgendeinen seiner Kameraden anzuschauen schien, wenn er in Gesellschaft mit andern daran vorbeikam. Dann nahm ihn auch ein Kupferstich sehr in Anspruch, der an einem andern Platze hing: im Mittelpunkt einer verwunderten Gruppe stand eine Figur, die er kannte – eine Figur mit einem Schein um den Kopf, wohlwollend, mild und barmherzig – sie stand da und deutete mit der Hand aufwärts.

An dem Fenster seines Schlafgemachs mischten sich mit diesen noch viele andere Gedanken: sie kamen einer um den andern, wie die rollenden Wellen. Wo lebten wohl die wilden Vögel, die stets auf der See draußen ob den aufgeregten Wogen schwebten; wo stiegen die Wolken auf und wo fingen sie an: woher kam der Wind in seinem rauschenden Flug und wo machte er halt: konnte wohl die Stelle, wo er und Florence so oft gesessen, diesen Dingen zugesehen und darüber gesprochen hatten, in ihrer Abwesenheit gerade so sein, wie sie stets war; konnte sie Florence so vorkommen, wenn er sich an einem andern Orte befand und sie allein dort saß?

Dann kamen ihm Gedanken an Mr. Toots, an Mr. Feeder, B. A., an alle die Knaben, an Doktor Blimber und an Miß Blimber, an die Heimat, an seine Tante und Miß Tox, an seinen Vater Dombey und Sohn, an Walter mit dem armen, alten Onkel, der das Geld erhalten hatte, das er brauchte, und an den Kapitän mit der eisernen Hand und der rauhen Stimme. Außerdem hatte er im Laufe des Tages eine Menge kleiner Visiten zu machen – im Schulzimmer, in dem Studierstübchen des Doktors Blimber, in dem Privatgemach der Mrs. Blimber, bei Miß Blimber und bei dem Hund. Denn er hatte jetzt das ganze Haus frei für sich und konnte darin umherstreifen, wie er wollte. Da er nun wünschte, von jedermann in Liebe zu scheiden, so schenkte er allem in der ihm eigentümlichen Art seine Aufmerksamkeit. Bisweilen suchte er klassische Stellen auf für Briggs, der sie nie finden konnte, zu andern Zeiten schlug er für die jungen Gentlemen, die sich nicht zu helfen wußten, Wörter in den Diktionären nach: ein andermal verrichtete er für Mrs. Blimber das Amt eines Garnhaspels, wieder einmal ordnete er Cornelias Pult, sternchenland.com und bisweilen schlich er sogar in das Studierzimmer des Doktors, wo er sich neben den gelehrten Füßen auf den Teppich setzte und sachte die Globusse drehte, so daß er auf der ganzen Erde herumkam oder einen Flug über die entlegensten Sterne hin machte.

In den Tagen unmittelbar vor den Ferien – mit einem Worte, als die andern jungen Gentlemen darauf losarbeiteten, als gälte es ihr Leben, um die Studien des ganzen halben Jahres zu repetieren, war Paul ein so privilegierter Zögling, wie sich nie zuvor einer im Hause aufgehalten hatte. Er konnte kaum seinen Sinnen glauben; aber seine Freiheit dauerte von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, und der kleine Dombey wurde von jedermann geliebkost, Doktor Blimber nahm so viel Rücksicht auf ihn, daß er eines Tages Johnson aufforderte, er solle sich von der Speisetafel entfernen, weil er ihn unbedachtsamerweise als den »armen kleinen Dombey« angeredet hatte. Dies schien nun freilich unserem Paul ziemlich hart und streng, obschon er für den Augenblick errötet war und sich wunderte, warum wohl John ihn bemitleiden mochte. Diese Handhabung der Gerechtigkeit kam ihm um so bedenklicher vor, weil er abends zuvor mit eigenen Ohren gehört hatte, daß derselbe Doktor in eine Behauptung der Miß Blimber, der arme, liebe, kleine Dombey werde altmodischer als je, eingestimmt hatte. Jetzt fing denn Paul auch an zu glauben, das Altmodische müsse darin bestehen, wenn man sehr schmächtig sei, leicht müde werde und bald Lust zeige, sich irgendwo niederzulegen und auszuruhen: denn daß diese Gewohnheiten mit jedem Tag mehr und mehr bei ihm überhand nahmen, mußte er sich selbst eingestehen.

Endlich kam der Tag heran, an dem die Abendpartie stattfinden sollte, und Doktor Blimber sagte beim Frühstück: »Gentlemen, am fünfundzwanzigsten des nächsten Monats wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen,« Mr. Toots warf nun augenblicklich seine Vasallenschaft ab, steckte seinen Ring an den Finger, und als er kurz nachher im Gespräch des Doktors Erwähnung tat, sprach er von ihm nur als von »Blimber«. Dieses freie Benehmen erfüllte die übrigen Zöglinge mit Bewunderung und Neid: die jugendlicheren Gemüter aber entsetzten sich darob und schienen sich nicht genug wundern zu können, daß kein Blitzstrahl niederfuhr und ihn zerschmetterte.

Weder beim Frühstück noch beim Mittagessen wurde die Abendfeierlichkeit auch nur im mindesten berührt: aber den ganzen Tag über herrschte durch das Haus ein unruhiges Getümmel, und im Lauf seiner Spaziergänge machte Paul Bekanntschaft mit unterschiedlichen fremden Bänken und Leuchtern: auch bemerkte er eine Harfe, die in einem grünen Überrock auf dem Flur neben der Tür des Salons lehnte. Bei dem Mittagessen zeigte der Kopf von Mrs. Blimber etwas Absonderliches, als sei das Haar allzu knapp zusammengedreht worden, und obgleich Miß Blimber auf jeder Seite der Schläfe eine zierliche Lage gescheitelten Haares zeigte, schien sie doch ihre kleinen Locken darunter in Papier und noch obendrein in einen Komödienzettel gewickelt zu haben; denn Paul las: »königliches sternchenland.com Theater« über dem einen, und »Brighton« über dem andern ihrer funkelnden Brillengläser.

Als der Abend herannahte, sah man in den Schlafzimmern der jungen Gentlemen eine reiche Schaustellung von weißen Westen und Halsbinden: auch verbreitete sich ein so widerlicher Geruch von versengtem Haar, daß Doktor Blimber durch den Bedienten sein Kompliment vermelden und die Erkundigung anstellen ließ, ob etwa das Haus in Brand geraten sei. Es war übrigens nur der Haarkünstler, der die jungen Gentlemen bediente und in dem Eifer des Geschäfts die Zange allzu heiß gemacht hatte.

Nachdem Paul angekleidet war – hierzu hatte man nicht lange gebraucht, denn er fühlte sich unwohl und schläfrig, so daß er außerstande war, viel an sich machen zu lassen – ging er nach dem Salon hinunter, wo er Doktor Blimber in voller Gala, aber in würdevoller und ungezwungener Haltung, als halte er es für rein unmöglich, daß nachgerade eine oder die andere Person hereintreten könnte, auf und ab spazierte. Bald nachher erschien Mrs. Blimber, die, wie es Paul vorkam, sehr lieblich aussah; sie hatte eine solche Unzahl von Röcken an, daß es eigentlich zu einer Aufgabe wurde, um sie herum zu gehen. Nach der Mama erschien Miß Blimber, zwar etwas zerdrückt in ihrem Äußern, aber doch sehr bezaubernd.

Die nächsten waren Mr. Tools und Mr. Feeder, von denen jeder den Hut in der Hand hatte, wie wenn er nicht im Hause wohnte, und als sie von dem Aufwärter angemeldet wurden, sagte Doktor Blimber: »So, so – dies ist ja sehr schön!« und schien außerordentlich erfreut zu sein, sie zu sehen. Mr. Tools funkelte von Geschmeide und Knöpfen, auch schien er dies selbst in so hohem Grade zu fühlen, daß er, nachdem er dem Doktor die Hand gereicht und sich gegen Mrs. Blimber und Miß Blimber verbeugt hatte, Paul beiseite nahm und ihn fragte:

»Was sagst du zu alledem, Dombey?«

Aber trotz dieses bescheidenen Selbstvertrauens schien doch Mr. Tools sehr darüber im unklaren zu sein, ob es überhaupt vernünftig sei, den untersten Knopf seiner Weste zuzumachen, oder ob er nach ruhiger Erwägung aller Umstände seine Manschetten zurück- oder niedergeschlagen tragen solle. Als er bemerkte, daß Mr. Feeder die seinigen in der ersteren Weise behandelt hatte, so folgte er dessen Beispiel: der nächste Ankömmling aber hatte die seinigen hängend, und dies war Grund genug für Mr. Toots, sich danach zu richten. Die Unterschiede im Punkte des Zuknöpfens der Weste nicht nur unten, sondern auch oben, wurden, je nachdem mehr und mehr Personen anlangten, so zahlreich und verwickelt, daß Mr. Toots unaufhörlich an diesem Anzugsartikel fingerte, als habe er ein Instrument zu spielen, und man sah ihm deutlich an, daß ihn die fortwährende Abänderung ganz aus der Fassung brachte.

Nachdem die jungen Gentlemen in ihren steifen Krawatten, gebrannten Locken, Tanzschuhen und ihren besten Hüten in den Händen zu verschiedenen Zeiten angekündigt und hineingeführt worden waren, sternchenland.com erschien endlich auch Mr. Baps, der Tanzlehrer, in Begleitung von Mrs. Baps, gegen die sich Mrs. Blimber besonders wohlwollend und herablassend benahm. Mr. Baps war ein sehr ernster Gentleman von langsamer und abgemessener Redeweise; auch hatte er noch keine fünf Minuten unter der Lampe gestanden, als er sich an Mr. Toots, der stumm seine Tanzschuhe mit den eignen verglichen hatte, wendete und ihn fragte, was er wohl mit dem Rohmaterial anfange, wenn es für ausgelegtes gutes Gold in die Häfen komme. Mr. Toots, den die Frage zu verwirren schien, entgegnete, er würde es »kochen«; aber Mr. Baps machte darauf eine Miene, die andeutete, daß dies wohl nicht angehen würde.

Paul glitt nun von der gepolsterten Sofaecke, die bisher sein Beobachtungsposten gewesen, herunter und begab sich in das Teezimmer hinab, um gleich beim Eintritt Florence begrüßen zu können, die er fast vierzehn Tage nicht gesehen hatte. Doktor Blimber hatte ihn nämlich am letzten Sonnabend und Sonntag zu Hause behalten, damit er sich nicht erkälte. Sie ließ nicht lange auf sich warten und sah in ihrem einfachen Ballkleide mit den frischen Blumen in der Hand so schön aus, daß er es kaum über sich gewinnen konnte, sie wieder loszulassen und sich von ihren funkelnden liebevollen Augen abzuwenden, als sie vor dem Bruder niederkniete, seinen Hals umschlang und ihn küßte; denn es war niemand zugegen, als seine Freundin und ein anderes junges Mädchen, der man das Servieren des Tees übertragen hatte.

»Aber was ist dir, Floy?« fragte Paul, denn er glaubte, in ihren Augen eine Träne glänzen zu sehen.

»Nichts, mein Herz, nichts«, entgegnete Florence.

Paul berührte ihre Wangen sanft mit einem Finger, und es war wirklich eine Träne!

»Warum, Floy?« fragte er.

»Wir gehen jetzt miteinander nach Hause, und ich werde dich pflegen«, versetzte Florence.

»Mich pflegen?« wiederholte Paul.

Paul konnte nicht begreifen, was dies damit zu schaffen haben konnte, – ebensowenig, warum die beiden jungen Mädchen ihn mit so ernster Miene ansahen, oder warum Florence für einen Augenblick ihr Antlitz abwandte und es dann wieder, von einem Lächeln erhellt, ihm zukehrte.

»Floy«, sagte Paul, indem er eine Locke ihres dunkeln Haares in seiner Hand hielt, »sage mir aufrichtig, Liebe, bist auch du der Meinung, daß ich altmodisch geworden sei?«

Seine Schwester lachte, streichelte ihn und antwortete mit einem Nein.

»Ich weiß aber, daß die Leute so sagen«, entgegnete Paul, »und ich möchte wissen, was sie damit meinen, Floy.«

An der Tür ließ sich jetzt ein lauter Doppelschlag vernehmen, und Florence eilte nach dem Tisch, so daß dieser Gegenstand nicht weiter erörtert werden konnte. Paul verwunderte sich abermals, sternchenland.com als er bemerkte, daß seine Freundin Florence zuflüsterte, wie wenn sie dieselbe trösten wollte; aber die nun anlangenden Gäste brachten ihn bald wieder auf andere Gedanken.

Sie bestanden aus Sir Barnet Skettles, Lady Skettles und Master Skettles. Master Skettles sollte nach den Ferien in die Anstalt eintreten, und in Mr. Feeders Zimmer war die Fama bereits in Beziehung auf dessen Vater tätig gewesen; denn Mr. Feeder hatte von letzterem gesagt, wenn er einmal den Sprecher ins Auge fasse – man erwartete schon drei oder vier Jahre lang, daß er dies tun werde – könne man im voraus darauf zählen, daß er die Radikalen schlimm mitnehme.

»Was ist z.B. dies für ein Zimmer?« fragte Lady Skettles Pauls Freundin Melia.

»Doktor Blimbers Studierzimmer, Ma’am«, lautete die Antwort.

Lady Skettles nahm durch ihr Glas eine panoramische Musterung vor und sagte mit beifälligem Nicken zu Sir Barnet Skettles:

»Sehr gut.«

Sir Barnet pflichtete bei, aber Master Skettles machte augenscheinlich eine bedenkliche, zweifelhafte Miene.

»Und dieses kleine Wesen da«, sagte Lady Skettles, sich zu Paul wendend – »ist er einer von den –«

»Jungen Gentlemen, Ma’am? Ja, Ma’am«, entgegnete Pauls Freundin.

»Und wie heißt du, blasses Kind?« fragte Lady Skettles. »Dombey«, antwortete Paul.

Nun ergriff Sir Barnet Skettles das Wort und sagte, er habe das Vergnügen gehabt, Pauls Vater bei einem öffentlichen Diner zu treffen – er hoffe, daß sich derselbe wohl befinde. Dann hörte ihn Paul zu Lady Skettles sagen: »City – sehr reich – höchst respektabel – der Doktor hat davon gesprochen.« Hierauf fuhr er gegen Paul fort:

»Willst du die Güte haben, deinem Papa zu sagen, daß Sir Barnet hocherfreut sei, von seinem Wohlbefinden Kunde erhalten zu haben, und daß er ihm seine besten Komplimente sende?«

»Ja, Sir«, antwortete Paul.

»Schön, mein wackerer Junge«, sagte Sir Barnet Skettles. »Barnet«, fügte er gegen Master Skettles gewendet hinzu, der sich für die künftigen Studien an dem Pflaumenkuchen rächte, »dies ist ein junger Gentleman, den du kennenlernen mußt. Dies ist ein junger Gentleman, Barnet, dessen Bekanntschaft du machen darfst«, schloß Sir Barnet Skettles, auf seine Erlaubnis einen großen Nachdruck legend.

»Welche Augen! Welches Haar! Welch ein liebliches Gesicht!« rief Lady Skettles in sanftem Tone, als sie Florence durch ihr Glas betrachtete.

»Meine Schwester«, sagte Paul, indem er sie vorstellte.

Die Freude der Skettlese war nun vollständig. Und da Lady Skettles sich dies beim eisten Augenblick gedacht hatte, weil sie Paul sternchenland.com so gar ähnlich sehe, so gingen sie miteinander die Treppe hinauf. Sir Barnet Skettles nahm Florence unter seine Obhut, und der junge Skettles folgte.

Nachdem sie den Salon erreicht hatten, blieb der junge Barnet nicht länger im Hintergrund, denn Doktor Blimber hatte ihn sogleich veranlaßt, daß er mit Florence tanzte. Wie es Paul vorkam, schien er nicht besonders froh, sondern war im Gegenteil etwas störrisch und achtete nicht viel darauf, was er trieb; da aber der kleine Dombey Lady Skettles, während sie mit ihrem Fächer den Takt schlug, zu Mrs. Blimber sagen hörte, ihr lieber Knabe sei sichtlich in diesen Engel von einem Kind, in die Miß Dombey, sterblich verliebt, so mußte sich Skettles junior wohl in einem Glücksrausch befinden, ohne etwas davon merken zu lassen.

Dem kleinen Paul fiel es als merkwürdig auf, daß niemand seinen Sitz auf den Polstern eingenommen hatte, und daß, als er wieder ins Zimmer kam, alle ihm für den Rückweg Platz machten, sich daran erinnernd, daß es der seine sei. Auch trat niemand vor ihn hin, als man bemerkte, daß er Florence so gern tanzen sah, sondern der Raum vor ihm blieb ganz frei, so daß er ihr stets mit seinen Augen folgen konnte. Auch die Fremden, von denen bald viele eintrafen, benahmen sich sehr gütig gegen ihn, denn sie kamen häufig zu ihm, redeten ihn an und fragten ihn, wie er sich befinde, ob ihn der Kopf schmerze, und ob er müde sei. Für alle diese Aufmerksamkeiten fühlte er sich sehr verpflichtet, und er blieb, Mrs. Blimber und Lady Skettles auf dem gleichen Sofa neben sich, in seiner Ecke sitzen, während Florence, so oft sie einen Tanz beendigt hatte, eine Weile an seiner Seite Platz nahm. Bei solchen Gelegenheiten drückte sich das Gefühl des inneren Glücks auf seinem Gesichtchen aus.

Florence würde den ganzen Abend nicht von seiner Seite gewichen sein und aus eigenem Antrieb gar nicht getanzt haben; aber Paul bewog sie dazu, indem er ihr sagte, wie sehr es ihn freue, sie tanzen zu sehen. Auch hatte er hierin vollkommen die Wahrheit gesprochen, denn sein kleines Herz klopfte schneller, und sein Gesicht glühte, als er bemerkte, wie sie von allen bewundert wurde, und wie sie die einzige schöne Rosenknospe des Zimmers war.

Von seinem Nest in den Kissen aus konnte Paul fast alles, was vorging, sehen und hören, als ob das Ganze nur auf seine Unterhaltung berechnet sei. Unter andern kleinen Vorfällen bemerkte er, daß sich der Tanzmeister Mr. Baps mit Sir Barnet Skettles in ein Gespräch einließ und an denselben bald die gleiche Frage wie an Mr. Toots stellte, was er nämlich mit dem Rohmaterial anfinge, wenn es für gute Zahlung in Gold nach den Häfen gelange. Dies klang für Paul so geheimnisvoll, daß er gar zu gern gewußt hätte, was damit zu geschehen habe. Sir Barnet Skettles jedoch hatte auf diese Frage gar viel zu erwidern, wenngleich es nicht den Anschein hatte, als ob sie dadurch zur Lösung kommen sollte, denn Mr. Baps entgegnete:

»Ja, aber gesetzt der Fall, Rußland träte mit seinem Talg dazwischen?« sternchenland.com Dies brachte Sir Barnet fast zum Verstummen, denn er konnte darauf bloß den Kopf schütteln und sagen: »Ja nun, dann müssen wir uns eben auf unsere Baumwolle werfen.«

Sir Barnet Skettles sah Mr. Baps nach, wie dieser sich entfernte, um Mrs. Baps aufzuheitern, die, ganz verlassen dastehend, tat, als mustere sie das Notenheft des Gentleman, der die Harfe spielte. Augenscheinlich hielt er ihn für einen merkwürdigen Menschen und erklärte dies bald nachher auch dem Doktor, zu dem er sagte, ob er sich wohl die Freiheit nehmen dürfe, zu fragen, wer dieser Herr sei und ob er wohl je in der Handelskammer gesessen habe. Der Doktor antwortete verneinend; er glaube nicht, daß dies der Fall sei, denn er kenne ihn bloß als einen Professor der –

»Einer mit der Statistik verwandten Wissenschaft – ich wollte darauf schwören!« bemerkte Sir Barnet Skettles.

»Dies gerade nicht, Sir Barnet«, versetzte Doktor Blimber, sich das Kinn reibend. »Nein, nicht ganz so.«

»Jedenfalls wollte ich eine Wette darauf eingehen, daß er sich auf Zahlen versteht«, sagte Sir Barnet Skettles.

»Das könnte sein, doch nicht in der Art, wie Ihr meint, Sir«, sagte Doktor Blimber. »Mr. Baps ist ein sehr würdiger Mann, Sir Barnet, und in der Tat nichts anderes, als unser Professor der Tanzkunst.«

Paul war nicht wenig erstaunt, wahrzunehmen, daß diese Mitteilung die Ansicht des Sir Barnet Skettles von Mr. Baps ganz und gar umwandelte, und daß Sir Barnet in eine richtige Wut geriet, und düstere Blicke zu Mr. Baps auf der andern Seite des Zimmers hinüberschoß. Ja, er ging sogar so weit, die Bitterkeit seines Herzens vor Lady Skettles auszuschütten, indem er ihr erzählte, was vorgefallen war, und sich über die unerhörte maßlose Unverschämtheit dieses Menschen ereiferte.

Noch etwas anderes fiel Paul auf. Nachdem nämlich Mr. Feeder etliche Kelche Glühwein zu sich genommen hatte, fing er an, warm zu werden. Der Tanz verlief im allgemeinen sehr formell, und die Musik erinnerte so ziemlich an die in der Kirche; aber nach besagten Kelchen bemerkte Mr. Feeder zu Mr. Toots, daß er nun ein bißchen Feuer in die Sache werfen wolle. Er fing nun nicht nur an zu tanzen, als sei er auf Tanzen erpicht, sondern suchte auch insgeheim die Musik anzuspornen, daß sie lustigere Weisen spiele. Auch wurde er sehr aufmerksam gegen die Damen, und als er mit Miß Blimber tanzte, flüsterte – ich sage flüsterte er ihr zu, obschon nicht so leise, daß nicht für Paul ein Stückchen merkwürdiger Poesie abgefallen wäre:

»Wär‘ treulos auch mein Herz erschaffen.
Euch könnt es kränken sicher nie!«

Dann hörte Paul ferner, wie er dieselben Worte der Reihe nach vor vier jungen Damen wiederholte. Wohl mochte der B.A. Grund haben, zu Mr. Toots zu sagen, er fürchte, er werde es morgen zu büßen haben.

Mrs. Blimber war ob diesem – beziehungsweise gesprochen – abscheulichen Benehmen etwas beunruhigt, namentlich aber ob der Änderung in dem Charakter der Musik, die jetzt Gassenhauer zu spielen begann, denn die Besorgnis lag nahe genug, es könnte dadurch bei Lady Skettles Anstoß erregt werden. Lady Skettles war jedoch so gütig, Mrs. Blimber zu bitten, sie möchte doch der Sache ja nicht erwähnen, und nahm die Erklärung, daß Mr. Feeders Temperament bei solchen Gelegenheiten gerne Sprünge mache, mit der größten Feinheit und Höflichkeit auf; er scheine ihr, sagte sie, für seine Stellung ein recht gebildeter Mensch zu sein, und namentlich gefalle ihr der anspruchslose Schnitt seines Haars, das, wie wir bereits angedeutet haben, ungefähr ein Viertel Zoll lang war.

Als einmal in dem Tanz eine Pause eintrat, bemerkte Lady Skettles zu Paul, er scheine ein großer Freund von Musik zu sein. Paul erwiderte, daß er Musik sehr liebe, und wenn es bei ihr auch der Fall sei, so sollte sie einmal seine Schwester Florence singen hören. Lady Skettles machte nun plötzlich die Wahrnehmung, daß sie vor Begierde fast sterbe, sich dieses Vergnügens zu erfreuen, und obgleich Florence anfangs sehr ängstlich war, als sie aufgefordert wurde, vor so vielen Leuten zu singen, und aufs dringendste um Entschuldigung bat, begab sie sich doch unverweilt an das Piano, als ihr Paul zurief:

»Ich bitte, tu es, Floy – um meinetwillen, Liebe!«

Alle traten nun ein wenig beiseite, um Paul die Aussicht nicht zu versperren, und als er das zarte Wesen allein dort sitzen sah – so jung, so wohlwollend, so schön und so liebevoll gegen ihn – als er hörte, wie ihre von Natur aus so süße Stimme, dieses goldene Kettenglied zwischen ihm und allem Glück, aller Liebe seines Lebens, das Schweigen brach, wandte er sein Gesicht ab, um seine Tränen zu verbergen. Nicht, wie er sagte, als man ihn darüber befragte, weil die Musik zu wehmütig und melancholisch war – nein, weil sie ihm so warm und lieb zu Herzen ging.

Sie alle liebten Florence. Wie hätten sie auch anders können? Paul hatte es voraus gewußt, daß es so kommen werde und müsse; und wie er so in seiner gepolsterten Ecke dasaß, die Hände ruhig gefaltet und das eine Bein leicht untergeschlagen, konnten sich nur wenige eine Vorstellung machen, welche süße Ruhe er empfand, oder welch einen Triumph, welches Entzücken seinen kindlichen Busen schwellte, während er zu ihr hinblickte. Von seiten sämtlicher Knaben klangen verschwenderische Lobpreisungen über »Dombeys Schwester« an sein Ohr, und auf jeder Lippe drückte sich Bewunderung der ruhigen, bescheidenen, kleinen Schönheit aus. Man sprach unaufhörlich von ihrem Verstand, von ihren Talenten, und wie von Sommernachtslüften getragen verbreitete sich ringsher eine Stimmung voll Sympathie für Florence und ihn – eine Stimmung, die beschwichtigend und rührend auf ihn einwirkte.

Er wußte nicht warum; denn alles, was der Knabe jenen Abend bemerkte, fühlte und dachte – Gegenwärtiges und Abwesendes – sternchenland.com was er damals sah und was gewesen war, erschien ihm in dem bunten Farbenspiel des Regenbogens, in dem des Gefieders schöner Vögel, wenn sie von der Sonne beleuchtet werden, oder in dem weichen Lichte des Abendhimmels nach der untergegangenen Sonne. Die vielen Dinge, die in letzter Zeit seinen Geist beschäftigt hatten, schwebten in der Musik an ihm vorbei – nicht als ob sie abermals seine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen oder ihn je wieder beschäftigen wollten, sondern als Gegenstände, die friedlich vergangen und dahin sind. Ein einsames Fenster, durch das er vor Jahren geschaut hatte, wies hinaus auf einen Ozean, Meilen und Meilen weit; auf seinen Gewässern schlummerten die Phantasien, die ihn erst gestern noch so vielfach beschäftigt hatten, still und ruhig gleich abebbenden Wellen. Dasselbe geheimnisvolle Gemurmel, über das er sich so oft gewundert, wenn er am Gestade auf seinem Ruhebette lag, meinte er noch immer durch den Gesang seiner Schwester, durch das Gesumm der Stimmen und durch die Fußtritte zu hören: er schien teilzuhaben an den Gesichtern, die an ihm vorbeischwebten, und sogar an der schwerfälligen Gentilität des Mr. Toots, der häufig zu ihm kam, um ihm die Hand zu drücken. Er meinte, es zu hören durch das allgemeine Wohlwollen, das ihm zuteil wurde, und selbst der Ruf seines altmodischen Wesens schien damit in Verbindung zu stehen, obschon er nicht wußte, wie. So saß der kleine Paul sinnend, sinnend und horchend, zuschauend und träumend da; er fühlte sich sehr glücklich.

Endlich kam die Zeit zum Abschiednehmen, und nun fand in der Tat unter der Gesellschaft eine große Aufregung statt. Sir Barnet Skettles brachte Skettles junior heran, daß er ihm die Hand reichen solle, und ersuchte ihn, seinem guten Papa unter Vermeidung seiner besten Komplimente zu bemerken, er, Sir Barnet Skettles, habe gesagt, er hoffe, die beiden jungen Gentlemen würden sehr gute Bekannte werden. Lady Skettles küßte ihn, strich ihm das Haar aus der Stirn und hielt ihn in ihren Armen; ja, sogar Mrs. Baps – die arme Mrs. Baps! Paul freute sich darüber – kam von dem Notenheft des harfenspielenden Gentleman herüber und verabschiedete sich von ihm ebenso herzlich wie nur irgend jemand im Zimmer.

»Gott befohlen, Doktor Blimber«, sagte Paul, seine Hände ausstreckend.

»Gott befohlen, mein kleiner Freund«, entgegnete der Doktor.

»Ich danke Euch recht sehr, Sir«, entgegnete Paul, unschuldig zu seinem ehrfurchtgebietenden Gesicht aufblickend. »Habt doch die Güte, zu befehlen, daß man für Diogenes Sorge trage.«

Diogenes war der Hund, der nie zuvor einen Freund in sein Vertrauen aufgenommen hatte. Paul war der erste. Der Doktor gab die Zusage, daß es in Pauls Abwesenheit Diogenes an nichts fehlen solle, und der Knabe dankte abermals dafür, indem er ihm wiederholt die Hand reichte. Dann verabschiedete er sich von Mrs. Blimber und Cornelia mit so herzlich gefühlter Innigkeit, daß erstere von diesem Augenblick an vergaß, Lady Skettles gegenüber des sternchenland.com Ciceros zu erwähnen, obschon sie sich den ganzen Abend mit diesem Vorhaben getragen hatte. Cornelia nahm Pauls beide Hände in die ihrigen und sagte:

»Dombey, Dombey, du bist stets mein liebster Zögling gewesen. Gott behüte dich!«

Und hierin zeigte sich Pauls Ansicht nach, wie leicht man einer Person unrecht tun konnte; denn Miß Blimber war es Ernst mit ihren Worten und sie fühlte tief dabei, obschon sie im übrigen gegen ihre Schüler das Zwangssystem liebte.

Und nun lief unter den jungen Gentlemen das Gemurmel herum, daß Dombey gehe. Dem Ruf »der kleine Dombey tritt den Heimweg an!« folgte ein allgemeiner Aufbruch, Paul und Florence nach in die Halle hinunter, und die ganze Familie Blimber schloß sich dem Zuge an. Solches hatte sich, wie Mr. Feeder laut sagte, soweit seine Erfahrung reichte, nie bei einem früheren jungen Gentleman zugetragen; aber es war zweifelhaft, zu ermitteln, ob sich’s hier um eine nüchterne Tatsache handelte, oder ob die Kelche auch ihren Teil daran hatten. Die Bedientenschaft, der Tafeldecker an der Spitze, hatte insgesamt ein großes Interesse daran, den kleinen Dombey abreisen zu sehen, und sogar der blödsichtige junge Mann, der Pauls Bücher und Effekten in die Kutsche beförderte, die den Knaben und Florence zum Übernachten nach Mrs. Pipchins Wohnung bringen sollte, zerschmolz sichtlich.

Nicht einmal der Einfluß der sanfteren Leidenschaft auf die jungen Gentlemen – und sie alle waren bis auf den letzten herunter in Florence ganz vernarrt – konnte sie abhalten, sich von Paul sehr lärmend zu verabschieden. Sie schwenkten ihm ihre Hüte nach, drängten sich auf ihn zu, um ihm mit dem Rufe »Dombey, vergiß mich nicht!« die Hand zu reichen, und ergingen sich in vielen ähnlichen Ausrufen, wie man sie unter dergleichen jungen Chesterfields nicht oft findet. Als Florence unsern Paul, ehe die Tür geöffnet wurde, besser einhüllte, flüsterte er ihr zu, ob sie dies höre, ob sie es je vergessen werde, und ob sie sich dieser Teilnahme freue. Bei diesen Fragen lag ein Strahl innigen Entzückens in seinen Augen.

Um einen letzten Blick auf seine Bekannten zu werfen, drehte er sich noch einmal um und war nicht wenig erstaunt, zu sehen, wie glänzend, wie zahlreich und wie dicht aneinander gedrängt die Gesichter waren, wie in einem übervollen Theater. Wahrend er so zu ihnen hinschaute, kamen sie ihm vor wie Köpfe in einem schwankenden Spiegel, und im nächsten Augenblick saß er draußen in der dunklen Kutsche, sich fest an Florence anschmiegend. So oft er von dieser Zeit an Doktor Blimbers Anstalt zurückdachte, vergegenwärtigte sich ihm nur dieser letzte Anblick; sie schien ihm nichts Wirkliches mehr zu sein, sondern stets nur ein Traum, voll von Augen.

Indes war dies nicht die allerletzte Beziehung zu Doktor Blimbers Etablissement, sondern es gab auch noch eine andere. Wir meinen Mr. Toots, der unerwarteter Weise eins von den Kutschenfenstern niederließ, hereinsah und mit einem ganz erstaunlichen Kichern fragte: »Ist sternchenland.com sternchenland.com Dombey da?« Dann zog er die Blende unverweilt wieder auf, ohne auf eine Antwort zu warten. Aber auch hiermit ließ es Mr. Toots noch nicht bewenden, denn ehe die Kutsche abfahren konnte, machte er mit dem nämlichen Kichern denselben Prozeß an dem andern Fenster, fragte mit dem gleichen Ton der Stimme: »Ist Dombey da?« und verschwand genau so wie früher.

Wie Florence darüber lachte! Paul erinnerte sich oft daran und konnte sich gleichfalls bei solchen Gelegenheiten des Lachens nicht erwehren.

Aber bald nachher – am nächsten Tage und den folgenden – kam noch viel, dessen sich Paul nur verwirrt entsinnen konnte. Warum er zum Beispiel Tage und Nächte in Pipchins Wohnung blieb, statt nach Hause zu gehen, warum er im Bette lag, während Florence an seiner Seite saß, ob sein Vater im Zimmer gewesen oder ob er nur einen hohen Schatten an der Wand gesehen, ob er seinen Doktor oder irgend jemand anders sagen gehört hatte, er hätte wohl vor Gram dahinschwinden können, wenn man ihn von dem Gegenstand entfernt hätte, auf den er im Verhältnis zu seiner Schwäche seine Sympathien so fest gebaut habe.

Er konnte sich nicht einmal erinnern, ob er oft zu Florence gesagt hatte: »o Floy, nimm mich nach Hause und verlaß mich nie!« meinte aber doch, es müsse so gewesen sein. Bisweilen stellte er sich vor, er habe sich selbst wiederholt die Worte sagen hören: »bring‘ mich nach Hause, Floy – bring‘ mich nach Hause.«

So viel war ihm übrigens im Bewußtsein, daß er nach Hause gekommen und die wohlbekannten Treppen hinaufgetragen worden war, daß eine Kutsche viele Stunden hintereinander gerasselt habe, während er auf dem Sitz saß, und daß bei dieser Gelegenheit Florence nicht von seiner Seite gewichen, während die alte Mrs. Pipchin den Platz ihm gegenüber eingenommen. Er entsann sich auch seines alten Bettes, in das man ihn wieder legte, seiner Tante, Miß Tox und der Susanna Nipper; aber es war auch etwas anderes da – etwas ihm Neues, das ihn sehr verwirrte.

»Seid so gut, mich mit Florence sprechen zu lassen«, sagte er, »Mit Florence allein – nur für einen Augenblick.«

Sie beugte sich zu ihm nieder, und die andern traten zurück.

»Floy, mein Herz, war nicht der Papa in der Halle, als man mich aus der Kutsche herausholte?«

»Ja, mein Lieber.«

»Nicht wahr, er weinte nicht und ging in sein Zimmer, Floy, als er mich herankommen sah?«

Florence schüttelte ihr Köpfchen und drückte ihre Lippen an seine Wangen.

»Ich bin recht froh darüber, daß er nicht weinte«, sagte der kleine Paul. »Es kam mir so vor. Du mußt nicht davon reden, was ich dich gefragt habe.« sternchenland.com

Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Erstaunliche Verschmitztheit des Kapitän Cuttle und ein neues Geschäft für Walter Gay.

Walter konnte mehrere Tage nicht mit sich ins klare kommen, was er eigentlich zu Barbados zu tun habe, und gab sich sogar der schwachen Hoffnung hin, es dürfte Mr. Dombey nicht Ernst gewesen sein oder er könnte seinen Sinn ändern und ihm sagen, daß er nicht zu gehen brauche. Da sich übrigens nichts ereignete, was dieser schon an und für sich sehr unwahrscheinlichen Vorstellung einen Funken von Bestätigung geben konnte, und außerdem die Zeit, deren er keine zu verlieren hatte, pfeilschnell verging, so fühlte er, daß er handeln mußte und nicht länger zögern durfte.

Die Hauptschwierigkeit bestand darin, wie er die Veränderung seiner Angelegenheiten dem Onkel Sol beibringen sollte, den die Kunde natürlich wie ein schwerer Schlag treffen mußte. Um so unangenehmer wurde ihm die Aufgabe, Onkel Sol mit einer so erschütternden Nachricht zu betrüben, weil derselbe in letzter Zeit viel heiterer und das kleine Hinterstübchen wieder ganz so traulich geworden war wie früher. Die erste Rate seiner Schuld an Mr. Dombey hatte Onkel Sol abbezahlt, und so hoffte er auch getrost mit den übrigen ins reine zu kommen; aber jetzt forderte es die traurige Notwendigkeit, ihn aufs neue elend zu machen, nachdem er sich eben so mannhaft aus seiner Drangsal erhoben hatte.

Keinesfalls ging es an, ihn nur so plötzlich zu verlassen, und er mußte im voraus wissen, wie die Sachen standen; aber wie es ihm beibringen? Dies war die Hauptsache. Was die Frage des Gehens oder Nichtgehens betraf, so glaubte Walter hierin keine eigene Wahl zu haben. Mr. Dombey hatte ihm ganz richtig bemerkt, er sei jung und die Lage seines Onkels nicht die beste; auch hatte sich in dem Blick des Prinzipals, mit dem diese Erinnerung begleitet war, deutlich ausgedrückt, wenn er zu Hause bleiben wolle, so könne er es zwar tun, aber mit der Beschäftigung in dem Kontor von Dombey und Sohn habe es dann ein Ende. Sein Onkel und er hatten gegen Mr. Dombey große Verpflichtungen, die durch Walters eigene Veranlassung herbeigeführt worden war. Vielleicht verzweifelte er schon im geheimen, je die Gunst dieses Gentleman zu gewinnen, und hin und wieder mochten ihm auch Anwandlungen kommen, nicht eben die beste Meinung von seinem Prinzipal zu haben, was kaum recht war. Aber auch ohne die eben erwähnte Verbindlichkeit hatte Walter doch Pflichten gegen ihn oder glaubte sie wenigstens zu haben, und die mußten erfüllt werden.

Als Mr. Dombey ihm bemerkt hatte, er sei jung und die Lage seines Onkels nicht gut, war dies mit einem Ausdruck von Geringschätzung geschehen, die verächtlich darauf hinzudeuten schien, als wolle sich’s Walter in müßigem Leben wohl sein lassen auf Kosten eines herabgekommenen alten Mannes und dieser Wink traf die edle Seele des Jünglings tief. Er war entschlossen, Mr. Dombey, so sternchenland.com weit dies möglich war, ohne sich gerade in Worten darüber ausdrücken zu müssen, die Überzeugung beizubringen, daß man sein Wesen verkannt hatte, und deshalb zeigte er nach der die westindische Expedition betreffenden Unterredung sogar noch größere Heiterkeit und Tätigkeit als zuvor, wenn dies bei einem Menschen von seinem regsamen Eifer möglich war. In seiner Jugend und Unerfahrenheit dachte er nicht daran, daß eben diese Eigenschaft möglicherweise Mr. Dombey unangenehm sein könnte und daß er wohl schwerlich dessen gute Meinung erringen werde, wenn er sich unter dem Schatten seines gewaltigen Grolls so schwungkräftig und hoffnungsvoll benehme, mochte nun dieser ihn mit Recht oder mit Unrecht treffen. Dagegen war es recht wohl denkbar – wir setzen die Möglichkeit voraus –, daß der große Mann in dieser neuen Kundgebung eines ehrlichen Gemüts einen Trotz gegen sich selbst fühlte und deshalb entschlossen war, eine niederschlagende Arznei dagegen in Anwendung zu bringen.

»Nun, endlich und zuletzt muß es Onkel Sol doch erfahren«, dachte Walter mit einem Seufzer, und da er fürchtete, seine Stimme könnte bei der Mitteilung ein wenig beben oder sein Gesicht nicht ganz so hoffnungsvoll aussehen, als er wohl wünschen mochte, wenn er die Kunde dem alten Mann selbst überbrachte – er vergegenwärtigte sich dabei den Eindruck, den sie auf das Antlitz des Greises machen mußte –, so beschloß er, sich der Dienste jenes mächtigen Vermittlers, des Kapitän Cuttle, zu bedienen. Er machte sich deshalb nächsten Sonntag nach dem Frühstück auf den Weg, um abermals Kapitän Cuttles Quartier aufzusuchen.

Auf dem Wege dahin wirkte die Erinnerung nicht unerfreulich auf ihn, daß Mrs. Mac Stinger jeden Sonntagmorgen in einem sehr entfernten Bethause dem Gottesdienst des ehrwürdigen Melchisedek Howler beizuwohnen pflegte, der auf den falschen Verdacht hin, den der allgemeine Feind der Menschheit ausdrücklich gegen ihn hervorgerufen hatte, als bohre er die Fässer an und setze seine Lippen an die Öffnung, eines Tages von den Westindiendocks entlassen worden war. Dieser Ehrenmann hatte auf heute über zwei Jahre, morgens 10 Uhr, den Untergang der Welt angekündigt und ein vorderes Gemach für die Aufnahme von Ladies und Gentlemen von dem Glaubensbekenntnisse der Schreier eröffnet, auf die schon bei der ersten Versammlung die Ermahnungen des ehrwürdigen Melchisedek einen so gewaltigen Einfluß übten, daß die ganze Herde in der verzückten Aufführung eines heiligen Tanzes, mit dem der Gottesdienst schloß, nach der untern Küche durchbrach und eine Wäscherolle zertrümmerte, die einem Mitglied der Gemeinde gehörte.

Diesen Umstand hatte der Kapitän in einem Augenblicke ungewöhnlicher Heiterkeit und zwischen den Wiederholungen der lieblichen Peg am Abend jenes Tages, als der Pfandleiher Brogley ausbezahlt wurde, Walter und seinem Onkel mitgeteilt. Der Kapitän selbst pflegte sich pünktlich in einer nahe gelegenen Kirche einzufinden, die jeden Sonntagmorgen die Flagge der britischen Marine aufhißte, und wo er die Gefälligkeit hatte, wegen Hinfälligkeit des eigentlichen sternchenland.com Kirchendieners die Jungen zu beaufsichtigen, über die er kraft seines geheimnisvollen Hakens eine große Gewalt übte. Weil nun Walter die regelmäßige Lebensweise des Kapitäns kannte, so beeilte er sich nach Kräften, ihn noch anzutreffen, ehe er ausging; auch tummelte er sich dabei so sehr, daß er, als er nach Brig-Place umbog, das Vergnügen hatte, den weiten blauen Rock und die Weste des Kapitäns vor dem offenen Fenster hängen zu sehen, wo sie in der Sonne lüften sollten.

Es schien unglaublich zu sein, daß je ein sterbliches Auge dieses Rocks und dieser Weste ohne den Kapitän ansichtig werden konnte; sicherlich aber stak er nicht darin, weil sonst seine Beine, da die Häuser in Brig-Place nicht sonderlich hoch waren, die Haustür hätten versperren müssen, und diese zeigte durchaus kein Hindernis. Ganz verwundert über diese Entdeckung, klopfte Walter nur mit einem einzigen Schlage an.

»Stinger«, hörte er oben im Zimmer deutlich den Kapitän sagen, als ob sich’s um eine Sache handle, die ihn durchaus nichts angehe. Walter versuchte es deshalb jetzt mit einem Doppelschlag.

»Cuttle«, hörte er hierauf den Kapitän sagen, und unmittelbar darauf zeigte sich dieser Gentleman in sauberem Hemd, Hosenträgern, einem Halstuch, das wie ein Trauring lose um seinen Hals geschlungen war, und aufgesetztem Glanzhut unter dem Fenster, über dessen mit Rock und Weste behangene Brüstung er sich herüberlehnte.

»Wal’r«, rief der Kapitän, erstaunt auf ihn niederschauend.

»Ja, Kapitän Cuttle«, entgegnete Walter; »ich bin’s nur.«

»Was gibt’s, mein Junge?« fragte der Kapitän mit großer Besorgnis. »Es ist doch dem Gills nicht wieder etwas passiert?«

»Nein, nein«, antwortete Walter. »Bei meinem Onkel ist alles wieder in Richtigkeit, Kapitän Cuttle.«

Der Kapitän drückte seine Freude darüber aus und erklärte, er wolle hinunterkommen und die Tür öffnen, was denn auch geschah.

»Ihr habt Euch früh auf den Weg gemacht, Wal’r«, sagte der Kapitän, ihn noch immer zweifelnd ansehend, als sie oben angelangt waren.

»Je nun, Kapitän Cuttle«, entgegnete Walter, indem er Platz nahm, »die Sache verhält sich so, daß ich fürchtete, Ihr könntet ausgegangen sein, und ich möchte gar gerne aus Eurem freundlichen Rat Nutzen ziehen.«

»Der soll Euch nicht fehlen«, sagte der Kapitän. »Um was handelt sichs?«

»Ich möchte Eure Meinung hören, Kapitän Cuttle«, erwiderte Walter mit einem Lächeln. »Dies ist alles.«

»Nun, so legt los«, sagte der Kapitän. »Stehe Euch von Herzen zu Diensten, mein Junge.«

Walter teilte ihm nun mit, was vorgefallen war, und wie es ihn so schwer ankomme, seinem Onkel die Kunde beizubringen; es wäre ihm daher ein großer Trost, wenn Kapitän Cuttle so freundlich sternchenland.com sein wolle, die Sache in bestmöglichster Weise anzubahnen. Der Kapitän war im höchsten Grade bestürzt und erstaunt über die Aussicht, die hier vor ihm entfaltet wurde, und der Gentleman schwand darüber allmählich so ganz und gar hin, daß sich das Gesicht nur wie ein leerer Raum ausnahm und der schwarze Anzug nebst dem Glanzhut samt dem Haken scheinbar keinen Eigentümer mehr hatten.

»Was mich anbelangt, Kapitän Cuttle«, fuhr Walter fort, »so seht Ihr wohl, ich bin, wie Mr. Dombey sagte, jung und brauche nicht in Betracht gezogen zu werden. Ich weiß, ich werde mich schon in der Welt durchschlagen,– aber auf meinem Wege hierher haben mir doch zwei Punkte zu schaffen gemacht, über die ich sehr besorgt bin, und die meinen Onkel betreffen. Ich will damit nicht sagen, daß ich verdiene, der Stolz und die Wonne seines Lebens zu sein – ich weiß. Ihr traut mir nichts dergleichen zu – aber gleichwohl ist’s der Fall. Seid Ihr nicht auch dieser Ansicht?«

Der Kapitän schien sich alle Mühe zu geben, sich aus dem Abgrund seines Erstaunens zu erheben und wieder in den Besitz seines Gesichtes zu kommen; aber die Anstrengung war ohne Erfolg, und der Glanzhut nickte nur in stummer unaussprechlicher Bedeutsamkeit.

»Wenn ich am Leben und gesund bleibe«, sagte Walter, – »es ist mir allerdings nicht bange davor – aber falls ich wirklich England verlassen muß, kann ich kaum hoffen, meinen Onkel wiederzusehen. Er ist alt, Kapitän Cuttle, und außerdem hat er sich daran gewöhnt –«

»Ohne Kunden sich im Leben durchzuschlagen, Wal’r«, fiel ihm der plötzlich wieder auftauchende Kapitän ins Wort.

»Leider wahr«, entgegnete Walter mit Kopfschütteln, »aber ich meinte es nicht so, Kapitän Cuttle – er ist in seinem Leben ein Gewohnheitsmensch – die Gewohnheit ist sein Kunde. Und wenn er, wie Ihr ohne Zweifel mit allem Recht früher bemerkt habt, bei jener Gelegenheit von dem Verlust seiner Warenvorräte und aller jener Dinge, mit denen er seit vielen Jahren vertraut gewesen ist, den Tod gehabt hätte, glaubt Ihr nicht, daß es viel eher der Fall sein müßte bei dem Verlust –«

»Seines Neffen? Jawohl«, pflichtete der Kapitän bei.

»Gut also«, fuhr Walter fort, indem er versuchte, in einen heiteren Ton überzugehen; »wir müssen daher alle unsere Kräfte aufbieten, um ihm den Glauben beizubringen, daß die Trennung nur eine vorübergehende ist. Freilich weiß ich dies besser, Kapitän Cuttle, oder fürchte wenigstens, daß ich es besser weiß, und da ich so viele Gründe habe, ihn zu lieben und zu ehren, so würde es mir ohne Zweifel gar schlecht gelingen, wenn ich versuchen wollte, ihm eine Überzeugung, die ich nicht teilte, beizubringen. Dies ist der Grund, warum ich wünsche, daß Ihr mir vorarbeiten möchtet, und auch der erste Punkt, den ich im Auge habe.«

»Abgehalten mit dem Schnabel um einen Punkt oder so«, bemerkte der Kapitän mit kontemplativer Stimme.

sternchenland.com »Was habt Ihr gesagt, Kapitän Cuttle?« fragte Walter.

»Haltet an!« entgegnete der Kapitän gedankenvoll.

Walter schwieg eine Weile, um sich zu überzeugen, ob der Kapitän diesem Schlagwort nichts Besonderes hinzuzufügen habe; da aber dies nicht der Fall war, so fuhr er fort:

»Nun zum zweiten Punkt, Kapitän Cuttle. Es tut mir leid, Euch mitteilen zu müssen, daß ich bei Mr. Dombey nicht sehr beliebt bin. Ich habe zwar immer versucht, mein Bestes zu tun, und habe es auch getan; aber dennoch scheint es, daß ich ihm ein Dorn im Auge bin. Er kann vielleicht nicht dafür, daß er einen Widerwillen gegen mich hat, und ich will hierüber nicht sprechen; aber so viel muß ich sagen, ich weiß gewiß, daß er mich nicht leiden kann. Er schickt mich nicht auf diesen Posten, um mir ein gutes Unterkommen zu verschaffen, und verschmäht es sogar, ihn besser darzustellen als er ist; auch zweifle ich sehr, ob er dazu dienen wird, mich in dem Hause weiterzubringen, denn ich möchte im Gegenteil eher glauben, man will mich dadurch für immer abfertigen und aus dem Wege schaffen. Hiervon dürfen wir freilich meinem Onkel nichts sagen, Kapitän Cuttle, sondern müssen ihn auf den Glauben bringen, es handle sich um eine so günstige und verheißungsvolle Anstellung, wie man sie nur wünschen könne. Gegen Euch spreche ich mich über den wahren Sachbestand nur um deswillen aus, damit ich in der Heimat wenigstens einen Freund habe, der meine wahre Stellung kennt, falls es so weit kommen sollte, daß ich in der Fremde im Vaterland einer befreundeten Beihilfe bedarf.«

»Wal’r, mein Junge«, versetzte der Kapitän, »in den Sprichwörtern des Salomo werdet Ihr folgende Worte finden!: ›Möge es uns nie gebrechen an einem Freund in der Not, noch an einer Flasche, um sie mit ihm zu teilen!‹ Wenn Ihr’s gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«

Dann hielt der Kapitän mit der Miene einer Zuversichtlichkeit, die mehr als Bände ausdrückte, Walter die Hand hin und wiederholte zu gleicher Zeit – denn er war stolz auf die Richtigkeit und die passende Anwendung seines Zitats –: »Wenn Ihr’s gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«

»Kapitän Cuttle«, sagte Walter, die ungeheure Faust, die ihm der Kapitän darbot, mit beiden Händen fassend, die durch sie vollständig ausgefüllt wurden, »nach meinem Onkel Sol liebe ich Euch am meisten. Ich bin überzeugt, daß ich niemandem auf Erden zuversichtlicher trauen kann. Handelt sich’s bloß um das Fortkommen, Kapitän Cuttle, so würde ich mir nicht viel daraus machen – warum sollte ich auch? Stünde es mir frei, selbst meinem Glück nachzujagen – könnte ich auch nur als gemeiner Matrose ausziehen und dürfte ich aus eigenem Antrieb fort bis ans fernste Ende der Welt, so würde ich es mit Freuden tun – ja, ich hätte es schon vor Jahren getan und alles, was das Geschick über mich verhängt haben würde, auf mich genommen. Aber es war gegen die Wünsche meines Onkels, gegen die Pläne, die er für mich gebildet hatte, und so konnte natürlich sternchenland.com hiervon keine Rede sein. Freilich fühle ich selbst, Kapitän Cuttle, daß wir lange Zeit ein wenig im Irrtum befangen waren, und daß ich, soweit eine Verbesserung meiner Aussichten in Frage kommt, nicht besser daran bin, als zur Zeit meines Eintritts in Dombeys Hause – vielleicht sogar ein wenig schlechter, denn damals zeigte mir das Haus einige Zuneigung, was jetzt augenscheinlich nicht mehr der Fall ist.«

»Kehr‘ um, Whittington«,1 murmelte der trostlose Kapitän, nachdem er Walter einige Zeit ins Auge gefaßt hatte.

»Ja«, versetzte Walter lachend, »und ich fürchte, man wird noch oft umkehren müssen, Kapitän Cuttle, eh‘ ein Glück wie Richards‘ wiederkehrt. Darüber beklag‘ ich mich übrigens nicht«, fügte er in seiner lebhaften, kräftigen Weise bei. »Ich habe mich über nichts zu beschweren, denn mein Auskommen finde ich wohl, und ich kann leben. Wenn ich mich von meinem Onkel trenne, so überlasse ich ihn Euren Händen – ich bin überzeugt, daß ich ihn keinen bessern anvertrauen könnte, Kapitän Cuttle. Meine Mitteilung machte ich Euch nicht, weil ich kleinmütig bin, sondern nur in dem Wunsche, Euch zu überzeugen, daß ich in Dombeys Hause nicht zu wählen habe – daß ich hingehen muß, wohin man mich sendet, und daß ich anzunehmen habe, was man mir bietet. Für meinen Onkel ist’s am Ende das beste, daß ich fortkomme, denn Ihr wißt selbst, Kapitän Cuttle, daß sich Dombey ihm als einen anerkennungswerten Freund bewiesen hat, und ich bin überzeugt, dies wird um so mehr der Fall sein, wenn ich nicht jeden Tag um ihn bin und sein Mißtrauen wecke. Also hurra, nach Westindien, Kapitän Cuttle! Wie lautet doch das Lied, das die Matrosen singen?

»Nach dem Hafen Barbados!
Wohlauf ihr Jungen!
Laßt Alt-Englands Küst‘ im Rücken!
Wohlauf ihr Jungen!«

Brüllend fiel jetzt der Kapitän als Chor ein:

»Wohlauf, wohlauf ihr Jungen!«

Der letzte Refrain erreichte das achtsame Ohr eines nicht ganz nüchternen, heißblütigen Schiffers, der gegenüber wohnte, der augenblicklich aus seinem Bett sprang, ans Fenster eilte und mit der ganzen Macht seiner Stimme über die Straße herüber einfiel, wodurch ein schöner Effekt hervorgerufen wurde. Da es übrigens unmöglich war, die Schlußnote länger zu dehnen, so plärrte der Schiffer ein schreckliches »Ahoi!« hervor, das teilweise als freundliche Begrüßung gelten, teilweise auch zeigen sollte, daß er noch recht gut bei Lunge war. Nachdem dies geschehen, schloß er das Fenster und legte sich wieder zu Bett.

»Und nun, Kapitän Cuttle«, sagte Walter, indem er eilig den Rock samt der Weste hervorholte, »bitte ich Euch, mit mir zu kommen und Onkel Sol die Nachricht zu hinterbringen. Von Rechts wegen hätte ich sie ihm schon längst mitteilen sollen. Ich begleite Euch bis sternchenland.com an die Tür, mache dann einen Spaziergang und komme nachmittags nach Hause.

Dem Kapitän schien jedoch der Auftrag nicht sonderlich zu behagen, da er kein großes Vertrauen in seine eigene Gewandtheit bei Ausführung desselben setzen mochte. Er hatte Walters künftiges Leben und Geschick so ganz anders geordnet – so ganz und gar zu seiner Zufriedenheit, und sich oft über die Schlauheit und den prophetischen Geist Glück gewünscht, womit er alles ins reine und die verschiedenen Teile so vollkommen in Harmonie gebracht hatte; daß jetzt dieses schöne Bild mit einemmal in Trümmer gehen und er sogar bei dem Werke der Zerstörung mithelfen sollte – nein, dies forderte einen großen Aufwand von Entschlossenheit. Dazu fand es der Kapitän schwer, sich die alten Vorstellungen über den Gegenstand vom Hals zu schaffen und mit der erforderlichen Geschwindigkeit, ohne die alte oder die neue Ladung in Unordnung zu bringen, ein völlig neues Kargo an Bord zu nehmen. Statt also mit einem Ungestüm, das nur einigermaßen mit dem Eifer Walters gleichen Schritt gehalten hätte, Rock und Weste anzulegen, lehnte er es vorderhand ab, sich mit diesen Gewändern zu bekleiden und teilte Walter mit, bei einem so ernstlichen Anlaß müsse es ihm erlaubt sein, »sich ein bißchen in die Nägel zu beißen«.

»’s ist eine alte Gewohnheit von mir, Wal’r«, sagte der Kapitän, »schon seit fünfzig Jahren her. Wenn Ihr Ned Cuttle an seinen Nägeln beißen seht, Wal’r, so könnt Ihr daraus entnehmen, daß Ned Cuttle auf den Strand gelaufen ist.«

Der Kapitän brachte sodann den eisernen Haken zwischen seine Zähne, als ob derselbe eine Hand wäre, und erging sich mit einer Miene von Weisheit und Tiefsinn, in der sich die wahre Konzentration und Vergeistigung aller philosophischen Reflexion und ernsten Denkens ausdrückte, in einer Beschauung des Gegenstandes nach seinen verschiedenen Zweigen.

»Ich habe einen Freund«, murmelte der Kapitän wie in Geistesabwesenheit – »freilich macht er eben jetzt eine Küstenfahrt nach Whitby; aber dieser könnte über einen derartigen Gegenstand oder über jeden nur erdenklichen andern mit einer Ansicht ausrücken, daß er dem Parlament sechs vorgeben und es dennoch auszustechen vermöchte. Der Mann, den ich meine«, fuhr der Kapitän fort, »ist zweimal über Bord geklopft worden; aber es hat ihm nichts geschadet – im Gegenteil. Während seiner Lehrzeit, er mochte sie um die drei Wochen herum angetreten haben, kriegte er eins mit einem Ringbolzen aufs Dach; und doch läuft keiner herum, der einen klareren Kopf hätte.«

Ungeachtet des tiefen Respekts, den Kapitän Cuttle gegen seinen Freund ausdrückte, konnte Walter nicht umhin, innerlich erfreut zu sein über die Abwesenheit dieses Phönix von Weisheit, und gab sich der Hoffnung hin, der klare Verstand desselben möchte nicht mit seinen eigenen Schwierigkeiten behelligt werden, bis sie ganz geordnet wären.

»Wenn Ihr die Boje an dem Nore nähmet und sie diesem Manne zeigtet«, sprach Kapitän Cuttle in dem gleichen Tone weiter – »wenn Ihr ihn dann um seine Ansicht darüber fragtet, Walter, so würde er Euch seine Meinung in einer Art geben, daß sie dieser Boje ebensowenig gliche, als ein Knopf aus dem Rock Eures Onkels. Es läuft keiner herum – sicherlich nicht auf zwei Beinen – der ihm gleichkäme. Nicht entfernt gleich!«

»Und wie ist sein Name, Kapitän Cuttle?« fragte Walter, der sich vorgenommen hatte, auch einiges Interesse für den Freund des Kapitäns zu zeigen.

»Er heißt Bunsby«, sagte der Kapitän. »Aber du meine Güte, was dies betrifft, so könnt‘ er mit dem Geist, den er hat, heißen, wie er wollte.«

Der Kapitän suchte die Idee, die er mit diesem Schlußlobe in Verbindung brachte, nicht weiter zu beleuchten, und auch Walter war es nicht um eine nähere Erörterung zu tun, denn als er mit der Lebhaftigkeit, wie sie seinem Temperament und seiner Stellung natürlich war, die Hauptpunkte seiner Angelegenheit zu betrachten begann, entdeckte er bald, daß der Kapitän wieder in seinen früheren Zustand tiefen Nachsinnens versunken war und nichts von ihm sah und hörte, obschon er seine Blicke stetig unter seinen buschigen Brauen nach ihm hinschießen ließ.

In der Tat arbeitete sich Kapitän Cuttle mit so großartigen Entwürfen ab, daß er – weit entfernt, auf dem Strande zu liegen – gar bald in das tiefste Wasser geriet und für das Brüten gar keinen Boden mehr finden konnte. Allmählich wurde es ihm übrigens vollkommen klar, daß hier ein Irrtum im Spiel sein müsse, der ohne Zweifel mehr auf Seite Walters als auf der seinen liege; denn wenn sich’s wirklich um eine Westindien-Reise handelte, so mußte sie zuverlässig ganz anders aufgefaßt werden, als dies der junge, vorschnelle Walter tat, da er seinerseits nur eine Gelegenheit darin sah, mit ungewöhnlicher Schnelligkeit zu einem schönen Vermögen zu kommen. »Oder wenn’s je eine kleine Spannung zwischen ihnen gibt«, dachte der Kapitän in Beziehung auf Walter und Mr. Dombey, »so bedarf es nur eines Wortes von einem Freunde beider Parteien, um alles wieder ins Geleise zu bringen.«

Kapitän Cuttles Folgerung aus diesen Betrachtungen lief darauf hinaus, er habe bereits das Vergnügen gehabt, Mr. Dombey bei Gelegenheit einer sehr angenehmen halben Stunde kennenzulernen, die er zu Brighton in seiner Gesellschaft verbrachte – er meinte damit den Morgen, als sie das Geld borgten. Unter ein paar Männern von Welt also, die sich verständen und gegenseitig geneigt wären, einer Sache eine angenehme Wendung zu geben, lasse sich eine derartige kleine Schwierigkeit leicht ausgleichen, so daß man zu wirklichen Tatsachen übergehen könne. Die Aufgabe, die folglich seiner Freundschaft oblag, bestand darin, daß er, ohne vorderhand gegen Walter nur ein Wörtchen verlauten zu lassen, sich nach Mr. Dombeys Hause begab, den Diener ersuchte, den Kapitän Cuttle zu sternchenland.com melden, Mr. Dombey mit vertraulicher Miene entgegentrat, ihn mit seinem Haken am Knopfloch packte, die Sache besprach, sie zurechtbrachte und triumphierend wieder von hinnen zog.

Wie sich diese Erwägungen dem Geiste des Kapitäns vergegenwärtigten und ganz allmählich Form und Gestalt gewannen, klärte sich sein Gesicht auf wie ein zweifelhafter Morgen, der einem schönen Mittag Platz macht. Seine Brauen, die im höchsten Grade finster gewesen, verloren ihren rauhborstigen Anblick und wurden heiter, die Augen, die sich in dem Ernst der geistigen Anstrengung fast geschlossen, taten sich wieder auf, und ein Lächeln, das sich anfangs nur an drei Stellen gezeigt hatte – die eine rechts von seinem Mundwinkel und die andern an der Innenseite eines jeden Augen – breitete sich allmählich über sein ganzes Gesicht bis zur Stirn hinauf, wo es sogar den Glanzhut hob, als sei auch dieser mit Kapitän Cuttle auf den Strand gelaufen und jetzt gleich ihm wieder glücklich flott geworden. Endlich hörte Kapitän Cuttle auf, seine Nägel zu beißen, und sagte:

»Nun könnt Ihr mir zu meiner Geschichte da verhelfen, Wal’r.«

Er meinte damit seinen Rock und seine Weste.

Walter ließ sich wenig träumen, warum sich der Kapitän so viele Mühe mit dem Ordnen seiner Halsbinde gab, deren beide Enden er in die Form eines Schweineschwanzes brachte, indem er sie durch einen massiven goldenen Ring zog, den er zum Andenken an einen verstorbenen Freund trug und auf dem ein Grabstein mit einem zierlichen Eisengeländer und einem Baum abgebildet war. Ebensowenig konnte er sich denken, warum der Kapitän seinen Hemdkragen so weit herauszog, als es die irische Leinwand unten nur erlaubte, warum er sich mit ein Paar Brustknöpfen verzierte, warum er seine Schuhe wechselte und warum er ein unvergleichliches Paar Gamaschen anlegte, die er nur bei ganz besonderen Gelegenheiten zu tragen pflegte. Nachdem sich der alte Herr endlich zu seiner vollkommenen Zufriedenheit angekleidet und vom Kopf bis zu Fuß vor einem Rasierspiegel, den er zu diesem Zweck von einem Nagel herunternahm, gemustert hatte, griff er nach seinem Knotenstock und sagte, daß er bereit sei.

Die Haltung des Kapitäns war viel selbstgefälliger, als wenn er bei gewöhnlichen Gelegenheiten ausging; aber Walter meinte, die Gamaschen möchten wohl schuld daran sein, und achtete wenig darauf. Noch ehe sie sehr weit gekommen waren, begegneten sie einem Blumenmädchen. Als ob ihm plötzlich ein glücklicher Einfall gekommen wäre, machte der Kapitän jetzt halt und kaufte sich einen der größten Bündel in dem Korb – einen herrlichen Strauß von fächerartiger Form, der wohl dritthalb Fuß im Umfang hatte und aus den schönsten Blumen bestand, die man sehen konnte.

Mit diesem kleinen Angebinde bewaffnet, das Mr. Dombey zugedacht war, ging Kapitän Cuttle mit Walter weiter, bis sie die Haustür des Instrumentenmachers erreichten, vor der sie stehenblieben.

»Geht Ihr hinein?« fragte Walter.

»Ja,« entgegnete der Kapitän, der fühlte, er müsse sich zuerst Walter vom Halse schaffen, ehe er weitere Schritte tun könne, und dabei meinte, es werde am besten sein, wenn er seinen beabsichtigten Besuch auf eine spätere Stunde des Tages verlege.

»Und Ihr werdet nichts vergessen?« fragte Walter.

»Nein«, versetzte der Kapitän.

»So will ich denn meinen Spaziergang antreten«, sagte Walter. »Ich störe dann in keiner Weise.«

»Macht nur einen langen, mein Junge«, erwiderte der Kapitän, ihm nachrufend.

Walter nickte ihm mit der Hand seine Zustimmung zu und ging seines Weges.

In betreff des letzteren war es ihm so ziemlich gleichgültig, welchen er einschlug, indes meinte er doch, er wolle lieber auf das Feld hinausgehen, wo er über das unbekannte Leben, das ihm bevorstand, nachdenken, unter einem Baum sich niederlegen und ruhige Betrachtungen anstellen könne. Den besten Platz hierfür glaubte er in der Nähe von Hampstead zu finden, und um dahin zu gelangen, mußte er an Mr. Dombeys Hause vorbei.

Als er bei demselben anlangte und an der Vorderseite hinaufsah, nahm es sich so stattlich und düster wie nur je aus. Die Rouleaus waren niedergelassen, die oberen Fenster aber standen weit offen, und der sanfte Wind, der die Vorhänge hin und her wehte, war das einzige Lebenszeichen, das sich zeigte. Walter ging langsam vorüber und war froh, als er einige Haustüren weiter hinter sich hatte. Dann schaute er mit dem Interesse, das er schon manches Jahr seit dem Abenteuer mit dem verirrten Kinde stets für den Platz gefühlt hatte, wieder zurück und blickte namentlich nach den erwähnten oberen Fenstern hinauf. Während er so beschäftigt war, fuhr ein Wagen an der Tür vor, und ein stattlicher Gentleman in Schwarz mit einer schweren Uhrkette stieg aus, um sich in das Haus zu begeben. Als er sich nachher dieses Herrn und seiner Equipage wieder erinnerte, schien es ihm unzweifelhaft, daß dieser ein Arzt gewesen sein müsse, und nun machte er sich Gedanken darüber, wer wohl krank sei. Diese Entdeckung kam ihm übrigens nicht eher, bis er eine ziemliche Strecke weitergegangen und inzwischen sich achtlos mit andern Dingen beschäftigt hatte.

Allerdings nur mit Dingen, die das Haus ihm in die Erinnerung gerufen, denn Walter schwelgte gerne in der Betrachtung, es dürfte vielleicht eine Zeit kommen, wann seine alte Freundin, das schöne Kind, das stets so dankbar gegen ihn gewesen war und sich seitdem immer freute, ihn wiederzusehen, zu seinen Gunsten ihren Einfluß bei ihrem Bruder geltend machen könnte. Im gegenwärtigen Augenblick war ihm dieser Gedanke um so lieber, weil er es für eine weit größere Wonne hielt, in ihrem Andenken fortzuleben, als irgendeines zeitlichen Vorteils sich daraus zu erfreuen; doch eine weitere und sternchenland.com nüchternere Erwägung flüsterte ihm zu, wenn er dann über dem Meer und vergessen, sie aber verheiratet, reich, stolz und glücklich sei! Es war kein Grund vorhanden, warum sie bei einer so veränderten Lage mehr an ihn denken sollte, als an irgendein Spielzeug, das sie besessen – ja nicht einmal so viel.

Gleichwohl idealisierte sich Walter das hübsche Mädchen, das er verirrt auf offener Straße gefunden, und identifizierte es so sehr mit der unschuldigen Dankbarkeit, die es an jenem Abend so einfach und so wahr gegen ihn ausgedrückt hatte, daß er sich selbst den Vorwurf der Verleumdung machte, wenn er nur auf den Gedanken kam, sie könnte je stolz werden. Andererseits waren seine Betrachtungen so phantastischer Art, daß es kaum weniger verleumderisch schien, wenn er sie sich als erwachsene Dame dachte und damit in Verbindung brachte, sie könne dann in einem anderen Licht erscheinen, als in dem des nämlichen arglosen, gewinnenden kleinen Geschöpfs, das sie in den Tagen der guten Mrs. Brown gewesen war. Mit einem Wort, Walter machte die Entdeckung, daß es in der Tat sehr unvernünftig sei, über Florence überhaupt Folgerungen zu ziehen; er könne daher nichts Besseres tun, als seinem Innern ihr Bild einprägen, wie irgendeinen köstlichen, unerreichbaren, wandellosen und unbestimmten Gegenstand – unbestimmt in allem, nur nicht in seinem Vermögen, ihn mit Wonne zu erfüllen, einer Wonne, die ihn gleich der Hand eines Engels von allem Unwürdigen abhielt.

Walter machte an jenem Tage einen weiten Spaziergang durch die Felder, horchte auf den Gesang der Vögel, der Sonntagsglocken und das gedämpfte Getöse der Stadt, atmete den süßen Duft, blickte hin und wieder nach dem düstern Horizont, hinter dem sich der Ort seiner Bestimmung barg, und schaute dann wieder zurück auf das englische Gras und auf die vaterländische Landschaft. Aber auch nicht einer seiner Gedanken, nicht einmal der an die ihm bevorstehende Reise gewann eine bestimmte Klarheit, sondern er erging sich die ganze Zeit über in träumerischem Brüten, in dem er die gründlichere Betrachtung von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute aufzuschieben schien.

Die Felder lagen ihm bereits im Rücken, und er trat in derselben zerstreuten Stimmung den Heimweg an, als er den Schrei eines Mannes und dann die Stimme einer Frau vernahm, die ihn laut bei Namen nannte. Überrascht blickte er auf und wurde eines Wagens ansichtig, der die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, aber in nicht großer Entfernung von ihm haltgemacht hatte. Der Kutscher schaute von seinem Bock aus zurück und winkte ihm mit seiner Peitsche; die Dame aber lehnte sich zum Schlag heraus und schwenkte mit Macht ihr Tuch gegen ihn hin. Er eilte heran und fand, daß die Person in der Kutsche niemand anders als Miß Nipper war, die sich vor Verwirrung nicht zu helfen wußte.

»Staggs Gärten, Mr. Walter!« rief Miß Nipper; »o, seid so gut!«

»Wie?« entgegnete Walter. »Was gibt es?«

»O, Mr. Walter, Staggs Gärten, wenn Ihr so gut sein wollt!« sagte Susanna.

»Da haben wir’s!« rief der Kutscher, sich mit einer Art triumphierender Verzweiflung auf Walter berufend. »So treibt’s die junge Dame wohl schon eine sterbliche Stunde lang und scheucht mich fortwährend auf weglose Pfade, auf denen sie durchaus fahren will. Vom ersten bis auf den letzten hab ich schon mancherlei Personen geführt, aber nie eine solche wie sie.«

»Wollt Ihr nach Staggs Gärten, Susanna?« fragte Walter.

»Ha, freilich will sie dahin! Aber wo sind sie?« brummte der Kutscher.

»Ich weiß es nicht!« rief Susanna außer sich. »Mr. Walter, ich war einmal mit Miß Floy und unserem armen Liebling, dem Master Paul, dort, an demselben Tage, als Ihr Miß Floy in der City fandet, denn wir verloren sie auf dem Heimweg, Mrs. Richards und ich, und ein wütender Stier, und Mrs. Richards‘ Ältester, und obgleich ich später wieder hinging, kann ich mich doch nicht erinnern, wo es ist, ich denke, es muß in den Boden gesunken sein, o Mr. Walter, verlaßt mich nicht, Staggs Gärten, wenn Ihr so gut sein wollt! Miß Floys Liebling – unserer aller Liebling – der kleine, sanfte, liebe Master Paul! O Mr. Walter!«

»Guter Gott!« rief Walter, »ist er denn sehr krank?«

»Die hübsche Blume« – rief Susanna, die Hände ringend – »hat sich’s in den Kopf gesetzt, er möchte seine alte Amme sehen, und ich komme, sie an sein Bett zu bringen, Mrs. Staggs von Polly Toodles Garten – weiß es denn niemand?«

Sehr aufgeregt von dem, was er hörte, und Susannas Unklarheit augenblicklich erfassend, eilte Walter mit einem Eifer, daß der Kutscher genug zu tun hatte, um ihm nachzukommen, voraus und erkundigte sich da, dort und überall nach dem Weg von Staggs Gärten.

Aber es gab keinen solchen Platz mehr. Er war von der Erde verschwunden. Wo vordem die alten, morschen Gartenhäuser gestanden, erhoben sich jetzt Paläste, und gigantische Granitsäulen eröffneten eine Aussicht nach der Eisenbahnwelt jenseits. Der erbärmliche Grund, wo vordem der Schutt aufgehäuft gewesen, war nicht mehr, und an der Stelle der Verwesung sah man Reihen von Magazinen, vollgestopft mit reichen, kostbaren Kaufmannsgütern. Die alten Nebenstraßen wimmelten nun von Fußgängern und Fuhrwerken aller Art, und die neuen, die entmutigt im Schlamm und in den Wagengeleisen steckengeblieben, bildeten nun ganze Städte und riefen eine gesunde Behaglichkeit hervor, die ganz ihr Eigentum war, und an die man nicht gedacht oder die man überhaupt kaum für möglich gehalten hatte, bis er sich einmal im wirklichen Dasein befand. Brücken, die früher nirgends hingeführt hatten, vermittelten nun den Weg zu Gärten, Landhäusern und gesunden öffentlichen Spaziergängen. Die Gerippe der Häuser und die Anfänge neuer Straßen hatten sich der Reihe nach mit der Geschwindigkeit des Dampfes ausgebildet und schossen ins Land hinein mit ungeheuren sternchenland.com Armen. Was die Bewohner jener Gegend betraf, die in den Tagen des Kampfes die Eisenbahn nicht hatten anerkennen wollen, so waren sie jetzt weise und reich geworden, wie es jedem Christen in solchem Falle ergehen kann: sie rühmten sich nun einer so mächtigen und Wohlstand versprechenden Verwandtschaft. In den Läden der Tuchhändler standen Eisenbahnmodelle und in den Fenstern der Zeitungsausträger waren Eisenbahn-Journale ausgebreitet. Die Gasthäuser, Kaffeehäuser, Mietwohnungen und Speisetische verdankten ihr Dasein der Eisenbahn; man sah Eisenbahnkarten, Ansichten, Fahrten-Tafeln, Packpapier, Flaschen und Schachteln – alles mit demselben Stempel; Eisenbahn-Mietkutschen und Kutschenstände, Eisenbahn-Omnibusse, Eisenbahn-Straßen und -Gebäude, Eisenbahn-Anhängsel und Eisenbahn-Schmeichler, so daß sie aller Berechnung Trotz boten. Auch auf den Uhren war die Eisenbahnzeit angemerkt, als ob die Sonne selbst den kürzeren gezogen hätte. Unter den Besiegten befand sich auch der in Staggs Gärten einst so ungläubige Meister Schornsteinfeger, der jetzt in einem drei Stock hohen, mit Stuck verzierten Hause wohnte und sich mit goldenen Schnörkeln auf einem gefirnißten Brett als einen Akkordanten zu erkennen gab, der die Eisenbahnkamine durch Maschinerie reinigte.

Zu dem Herzen dieser großen Veränderung und von demselben weg schossen Tag und Nacht Ströme gleich dem Blute seines Lebens. Scharen von Menschen und Berge von Warenvorräten, zu dutzend- und dutzendmalen im Laufe der 24 Tagesstunden wiederkehrend, bewirkten auf dem Platze ein Gewühl, das stets in Tätigkeit war. Sogar die Häuser schienen geneigt zu sein, aufzupacken und Ausflüge zu machen. Wundervolle Parlamentsmitglieder, die sich vor noch nicht zwanzig Jahren über die unsinnigen Eisenbahn-Theorien und -Ingenieure lustig gemacht und sie im Kreuz- und Querverhör tüchtig in die Enge getrieben hatten, brachen nun, die Uhren in der Hand, nach dem Norden auf und ließen zu gleicher Zeit durch die elektrischen Telegraphen ihre Ankunft melden. Tag und Nacht rasselten die erobernden Maschinen in unablässiger Tätigkeit, näherten sich ruhig dem Ziel ihrer Reise und schlüpften, gleich zahmen Drachen, in die ihnen auf den Zoll hin angewiesenen Ecken, wo sie fauchend schüchtern stehenblieben, die Wände zum Erzittern bringend, als seien sie stolz auf das Geheimnis der großen Kräfte, die man in ihnen noch gar nicht ahnte, und auf ihre noch nicht erfüllten Riesen-Entwürfe.

Aber Staggs Gärten waren mit Wurzel und Zweig abgetragen worden. Wehe dem Tage, wann »keine Rute englischen Grundes«, in Staggs Gärten angelegt, mehr Sicherheit bietet!

Endlich, nach vielem vergeblichen Nachfragen, fand Walter, hinter dem der Kutscher mit Susanna dreinrollte, einen Mann auf, der einmal in dem jetzt verschwundenen Lande gewohnt hatte. Dieser war niemand anders, als der vorerwähnte Meister Schornsteinfeger, der es inzwischen zu ziemlicher Beleibtheit gebracht und nunmehr sogar einen blanken Klopfer an seiner Tür hatte. Wie er sagte, kannte er Toodle wohl.

»Gehört zu der Eisenbahn, nicht wahr?«

»Ja, Sir, ja!« rief Susanna Nipper zum Kutschenschlag heraus.

»Und wo wohnt er?« fragte Walter hastig.

»Er wohnt in den Gebäuden der Kompanie, um die zweite Ecke herum rechts, den Hof hinunter, über denselben weg, dann die zweite Tür wieder rechts.« Es sei Nummer elf: sie könnten sich nicht täuschen, oder wenn auch, so brauchten sie nur nach dem Maschinenheizer Toodle zu fragen, dessen Haus ihnen jedermann zeigen könne. Nach diesem unerwartet glücklichen Ausgang stieg Susanna Nipper mit Eile aus dem Wagen, nahm Walters Arm und trat in atemloser Hast ihre weiteren Nachforschungen zu Fuß an. Die Kutsche sollte warten, bis sie zurückkäme.

»Ist der kleine Knabe schon lange krank, Susanna?« fragte Walter, während sie weiter eilten.

»Unwohl schon lange, aber niemand wußte, wie sehr«, versetzte Susanna und fügte dann mit großer Bitterkeit bei: »O, diese Blimbers!«

»Blimbers?« wiederholte Walter.

»In einer Zeit, wo man so viel über ernstes Unglück zu denken hat, könnte ich mir selbst nicht vergeben, Mr. Walter,« sagte Susanna, »wenn ich jemand zu hart verurteilte, namentlich Personen, von denen der liebe, herzige Paul nur Gutes sagt, aber ich möchte wünschen, diese Familie müßte in steinigem Boden neue Wege anlegen und Miß Blimber mit dem Pickel voraus.«

Miß Nipper schöpfte sodann Atem und beschleunigte ihre Hast, als ob sie in diesem außerordentlichen Erguß Erleichterung gefunden hätte. Walter, dem der Atem gleichfalls fast ausgegangen war, eilte mit ihr fort, ohne weitere Fragen zu stellen, und so gelangten sie in ihrer Ungeduld bald nach einer kleinen Tür, die sie nach einem reinlichen, mit Kindern angefüllten Wohnstübchen führte.

»Wo ist Mrs. Richards!« rief Susanna Nipper, sich umsehend. »O Mrs. Richards, Mrs. Richards, kommt doch sogleich mit mir, meine Liebe!«

»Ei, ist dies nicht Susanna?« rief Polly in großem Erstaunen, ihr ehrliches Gesicht und ihre mütterliche Gestalt aus der Gruppe der Kleinen erhebend.

»Ja, ich bin’s, Mrs. Richards«, sagte Susanna, »und wollte Gott, ich wär’s nicht, obgleich es nicht schmeichelhaft zu sein scheint, wenn ich so sage, aber der kleine Master Paul ist sehr krank und sagte heute zu seinem Papa, er möchte das Gesicht seiner alten Amme wiedersehen, und er und Miß Floy hoffen, Ihr werdet mit mir kommen – und Mr. Walter auch, Mrs. Richards – vergeßt, was vergangen ist, und erweist Liebe dem süßen Herz, das jetzt dahinschwindet – o Mrs. Richards, ja, dahinschwindet!«

Polly vergoß bei Susanna Nippers Anblick und ihrer Mitteilung Tränen, während sämtliche Kinder, einschließlich einiger neuer Kleinen, sich um die Gruppe sammelten. Auch Mr. Toodle, der eben von Birmingham zurückgekommen war und sein Mittagessen verzehrte, sternchenland.com legte Messer und Gabel nieder, holte hinter der Tür hervor Hut und Halstuch seines Weibes, klopfte ihr auf den Rücken und sagte mit mehr väterlichem Gefühl als mit Beredsamkeit:

»Polly, mach‘, daß du fortkommst!«

So langten sie weit früher, als der Kutscher erwartet hatte, bei dem Wagen an. Walter versorgte Susanna und Mrs. Richards im Innern, setzte sich, um weitere Irrtümer zu verhüten, auf den Bock und beförderte seine Fracht wohlbehalten nach der Flur von Mr. Dombeys Haus, wo er, beiläufig bemerkt, einen mächtigen Blumenstrauß liegen sah; er erinnerte sich dabei an den, den Kapitän Cuttle am Morgen in seiner Gegenwart gekauft hatte. Gar gern wäre er eine Weile dageblieben, um mehr von dem kleinen Patienten zu erfahren, oder zu warten, ob man nicht irgendwie seiner Dienste benötigte; da er aber schmerzlich fühlte, wie ein solches Benehmen von Mr. Dombey als anmaßend und aufdringlich angesehen werden dürfte, so wandte er sich langsam ab und ging traurig seines Weges.

Er war übrigens noch nicht fünf Minuten gegangen, als ihm ein Diener nachkam und ihn ersuchte, er möchte wieder umkehren. Walter eilte so schnell als möglich zurück und betrat mit wehmütigen Ahnungen das Haus. sternchenland.com sternchenland.com sternchenland.com sternchenland.com sternchenland.com

  1. Sir Richard Whittington, in der Ballade: Dick Whittington, berühmter Lord-Mayor von London, gest. 1423.

Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

Was die Wellen immer sagten.

Paul hatte sich seitdem nie wieder von seinem Bettchen erhoben. Er lag ganz ruhig da, hörte auf den Lärm der Straße und kümmerte sich nicht viel um den Gang der Zeit, sondern beobachtete und beobachtete alles um ihn her mit aufmerksamem Auge.

Wenn durch die rasselnden Jalousien die Sonnenstrahlen in sein Zimmer drangen und an der entgegengesetzten Wand wie goldenes Wasser zitterten, wußte er, daß der Abend herankam und daß der Himmel rot und schön war. Der Reflex starb dahin, und ein Düster überkroch die Mauer; er folgte dem entschwindenden Licht und dem immer mehr sich vertiefenden Schatten bis in die Nacht hinein. Dann machte er sich Gedanken darüber, wie die lange Straße mit Lampen geziert sei und die friedlichen Sterne oben am Himmel flimmerten. Seine Einbildungskraft hatte eine seltsame Neigung, nach dem Flusse hinzuwandern, der, wie er wohl wußte, durch die große Stadt strömte, und nun dachte er darüber nach, wie schwarz er sein und wie tief er aussehen müsse, wenn sich die Unzahl von Sternen in ihm spiegelte; vor allem aber flößte es ihm Interesse ein, wie verstohlen er seine Wellen weiter rollte, bis sie von dem Meer aufgenommen wurden.

Später in der Nacht, als die Fußtritte in der Straße so selten wurden, daß man sie kommen hören konnte, zählte er sie nach ihren Pausen, bis sie sich in weiter Entfernung verloren, oder er lag da, den vielfarbigen Ring um das Licht betrachtend, und wartete geduldig auf den Tag. Sein einziger Plagegeist war der rasche reißende Fluß. Er fühlte sich bisweilen zu dem Versuch gedrungen, ihm Einhalt zu tun, ihn mit seinen Kinderhänden zu dämmen, oder ihm mit Sand den Weg zu sperren; wenn er dann widerstandslos heranbrauste, so schrie der Knabe laut auf. Aber ein Wort von Florence, die stets an seiner Seite war, brachte ihn wieder zu sich; er lehnte dann sein Köpflein an ihre Brust, erzählte ihr seinen Traum und lächelte.

Wenn der Tag zu grauen begann, so gab er auf die Sonne acht, und wenn ihr freundliches Licht das Zimmer erhellte, malte er sich – malte? nein, er sah – die hohen Kirchtürme, wie sie am Morgenhimmel in die Höhe stiegen, die Stadt, wie sie erwachend wieder in ein rühriges Leben trat, den Fluß, der so schnell wie nur je glänzend dahinrollte, und die im Tau blitzende Landschaft. Bekannte Töne ließen sich allmählich von der Straße herauf vernehmen; die Diener im Hause wurden rührig, Gesichter schauten zur Tür herein, und Stimmen fragten seine Wärter leise, wie es ihm gehe. Paul sternchenland.com antwortete dann gewöhnlich selbst: »Ich fühle mich besser – viel besser, danke schön! Sagt es auch dem Papa!«

Allmählich ermüdete ihn das Geräusch des Tages, das Rasseln der Wagen und Karren und die Fußtritte von hin und her Gehenden; er schlief entweder ein oder dachte immer wieder unruhig – er konnte kaum sagen, ob dies in schlafenden oder wachenden Augenblicken geschah – an den strömenden Fluß.

»Warum will er denn nie haltmachen, Floy?« konnte er dann die Schwester bisweilen fragen. »Ich glaube, er reißt mich mit fort.«

Aber Floy konnte ihn stets zur Ruhe bringen und seinen Mut wieder aufrichten; er war dann glücklich, wenn er sie bewegen konnte, daß sie ihr Köpfchen neben dem seinigen aufs Kissen legte und ein wenig ruhte.

»Du wachst immer für mich, Floy; laß mich jetzt auch für dich wachen.«

Man richtete ihn dann in einer Ecke seines Bettes mit Kissen auf, und so blieb er zurückgelehnt sitzen, während sie an seiner Seite lag. Er beugte sich oftmals vor, um sie zu küssen, und flüsterte denen, die sich in der Nähe befanden, zu, sie sei müde, denn sie sei so viele Nächte bei ihm auf und wach geblieben.

So ging es fort, bis das Licht und die Hitze des Tages abnahm und überall das goldene Wasser an der Wand tanzte.

Nicht weniger als drei gravitätische Ärzte pflegten ihn täglich zu besuchen. Sie versammelten sich gewöhnlich unten und kamen miteinander herauf. Das Zimmer war dabei so still, und Paul, obschon er niemanden fragte, was sie sagten, beobachtete sie so sorgfältig, daß er sogar den Unterschied in dem Picken ihrer Uhren kannte. Das hauptsächlichste Interesse flößte ihm jedoch Sir Parker Peps ein, der stets an seinem Bett Platz nahm, denn Paul hatte vor langer Zeit sagen hören, dieser Gentleman sei zugegen gewesen, als seine Mama vor ihrem Sterben Florence in ihre Arme schloß. Dies konnte er auch jetzt nicht vergessen, und er liebte ihn darum. Von Furcht war bei ihm keine Rede.

Die Personen um ihn her verwandelten sich in so unerklärlicher Weise, wie in jener ersten Nacht bei Doktor Blimber – die einzige Florence ausgenommen, die nie einen Wechsel erlitt. Was eben Sir Parker Peps gewesen, war jetzt sein Vater, der mit auf die Hand gestütztem Kopf dasaß. Die alte Mrs. Pipchin, die in einem Armstuhl schlummerte, verwandelte sich oft in Miß Tox oder in seine Tante, und Paul begnügte sich dann, seine Augen wieder zu schließen, um ruhig abzuwarten, was zunächst geschehen werde. Aber die Figur mit dem auf die Hand gestützten Kopfe kehrte so oft wieder, blieb so lange, saß so still und feierlich da, sprach nie, wurde nie angeredet und hob so selten das Gesicht auf, daß Paul sich zu wundern begann, ob sie wohl eine wirkliche Erscheinung sei; ja wenn sie nachts dasaß, schaute er nur mit Furcht nach ihr hin.

»Floy!« sagte er. »Was ist dies?«

»Wo, mein Lieber?«

»Dort – unten am Bett.«

»Da ist nichts als der Papa.«

Die Gestalt richtete den Kopf auf, erhob sich, kam an die Seite des Bettes und fragte:

»Mein Sohn, kennst du mich nicht?«

Paul blickte zu ihm auf und dachte, ob dies wohl sein Vater sei. Das Gesicht kam ihm so verändert vor, und es verzog sich, während er es ansah, wie im Schmerz. Aber ehe er seine Händchen ausstrecken konnte, um die Gestalt zu erfassen und ihr Antlitz zu sich herunterzuziehen, wandte sie sich rasch von dem Bettchen weg und ging zur Tür hinaus.

Paul blickte nun mit klopfendem Herzen auf Florence; er wußte, was sie sagen wollte, und tat ihr deshalb Einhalt, indem er seine Wange gegen ihre Lippen drückte. Als er das nächstemal die Gestalt wieder unten an seinem Bette sitzen sah, rief er sie an:

»Seid nicht bekümmert um mich, lieber Papa! Ich bin in der Tat ganz wohl.«

Sein Vater kam heran und beugte sich zu ihm nieder – dies geschah schnell und ohne daß er zuerst neben dem Bette haltmachte. Paul umschlang seinen Nacken und wiederholte die vorigen Worte mehreremal mit großer Innigkeit; auch sah er ihn später, mochte es Tag oder Nacht sein, nie wieder in seinem Zimmer, ohne daß er ihm zurief: »Seid um mich unbekümmert! Ich fühle mich in der Tat vollkommen wohl!« So kam es denn, daß er jeden Morgen erklärte, er befinde sich viel besser, und man solle es auch seinem Vater sagen.

Wievielmal das goldene Wasser an den Wänden tanzte, in wievielen Nächten der düstere dunkle Strom nach dem Meere hinrollte, ohne daß er ihm Einhalt zu tun vermochte – Paul zählte es nie und suchte es auch nicht zu erfahren. Wenn die Liebe, die man ihm erwies, oder seine Dankbarkeit dafür sich je steigern konnte, so war beides mit jedem Tage mehr und mehr der Fall; aber ob sich’s um viele Tage handelte oder um wenige, dies schien für den sanften Knaben völlig bedeutungslos zu sein.

Eines Abends hatte er über seine Mutter und über das Bild in dem Besuchzimmer drunten Betrachtungen angestellt; er dachte sich dabei, sie müsse die holde Florence weit mehr geliebt haben, als sein Vater, weil sie während ihres Sterbens das Mädchen in den Armen hielt; denn auch er, ihr Bruder, der sie so sehr liebte, hätte sich nichts Lieberes wünschen mögen, als dies. Die Kette seiner Gedanken brachte ihn auf die Frage, ob er jemals seine Mutter gesehen habe, denn er konnte sich nicht erinnern, ob man ihm mit Ja oder Nein darauf geantwortet hatte, weil der Fluß so gar schnell lief und seinen Sinn verwirrte.

»Floy, habe ich die Mama je gesehen?«

»Nein, mein Herz; warum?«

»Habe ich nie ein freundliches Gesicht gesehen, gleich dem der Mama, das auf mich niederschaute, als ich noch ein kleines Kind war?« sternchenland.com Er fragte ungläubig, als stehe die Vision irgendeines Gesichtes vor ihm.

»O ja, mein Lieber.«

»Und was war dies für eins, Floy?«

»Das deiner Amme. Oft.«

»Und wo ist meine Amme?« fragte Paul. »Ist sie auch tot? Floy, sind wir alle tot, du ausgenommen?«

Einen Augenblick – vielleicht auch länger – aber ihm kam es nur so vor, gab es ein Gewühl in dem Zimmer, und dann wurde wieder alles still. Florence, lächelnd, aber mit bleichem Antlitz, hielt seinen Kopf auf ihrem Arm. Der Arm zitterte sehr.

»Floy, sei so gut, mich die Amme sehen zu lassen!«

»Sie ist nicht hier, mein Herz; aber morgen wird sie kommen.«

»Danke dir, Floy.«

Mit diesen Worten schloß Paul die Augen und schlief ein. Als er wieder erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Es war ein heller, warmer Tag. Er lag eine Weile da und schaute nach dem offenen Fenster hin, wo die Vorhänge rauschend in der Luft hin und her wehten. Dann fragte er:

»Floy, ist es Morgen? Kommt sie?«

Es deuchte ihm, als sei jemand gegangen, um sie aufzusuchen. Vielleicht war es Susanna. Paul meinte, er habe sie, als er seine Augen wieder schloß, zu ihm sagen hören, sie werde bald wieder zurück sein; aber er öffnete sie nicht wieder, um sich zu überzeugen. Sie hielt Wort – oder vielleicht war sie auch gar nicht fort gewesen; kurz, was er zunächst hörte, war ein Geräusch von Fußtritten auf der Treppe, und dann erwachte Paul körperlich und geistig. Er setzte sich in seinem Bette auf und erkannte alles um sich her deutlich. Es lag kein grauer Nebel vor seiner Umgebung, wie es bisweilen nachts gewesen, und er konnte alle bei ihren Namen nennen.

»Und wer ist dies?« fragte das Kind, mit strahlendem Lächeln nach einer hereinkommenden Gestalt hinsehend. »Ist dies meine Amme?«

Ja, ja. Keine andere fremde Person hätte bei seinem Anblick solche Tränen vergießen, ihn ihr liebes, ihr herziges, ihr armes krankes Kind nennen können. Keine andere Frau würde sich neben seinem Bette niedergebeugt, seine abgezehrte Hand ergriffen und sie an Brust und Lippen gedrückt haben – nur eine solche konnte es tun, die einiges Recht darauf hatte, ihn zu lieben. Welche andere Frau wäre auch wohl so voll von Zärtlichkeit und Mitleid gewesen, so daß sie außer ihm und Floy alles übrige vergaß!

»Floy, welch ein liebes, gutes Gesicht!« sagte Paul. »Ich freue mich, es wiederzusehen. O geh nicht fort, liebe Amme! Bleibe hier!«

Seine Sinne erfaßten alles schnell, und er hörte einen Namen, den er kannte.

»Wer hat da von Walter gesprochen?« fragte er, sich umsehend. »Jemand hat Walter gesagt. Ist er hier? Ich möchte ihn so gerne sehen.«

Für den Augenblick keine Antwort, aber bald nachher sagte sein Vater zu Susanna: »So ruft ihn zurück: er soll heraufkommen!«

Nach einer kurzen Pause der Erwartung, während welcher Paul mit freudiger Verwunderung seine Amme betrachtete und die Überzeugung gewonnen hatte, daß auch Floy von ihr nicht vergessen worden, trat Walter in das Zimmer. Sein offenes Gesicht und Wesen, wie auch seine heiteren Blicke hatten ihn Paul stets lieb gemacht, und als der Knabe seiner ansichtig wurde, streckte er ihm mit dem Rufe: »Lebt wohl!« die Hand entgegen.

»Lebt wohl, mein Kind!« rief Mrs. Pipchin, zu den Häupten seines Bettes eilend. »Wer wird so sagen?«

Einen Moment sah Paul mit dem schlauen Gesicht, mit dem er sie so oft in der Ecke beim Feuer betrachtet hatte, nach ihr hin.

»Ach ja«, sagte er ruhig, »lebt wohl! lieber Walter, lebt wohl!« Dann wandte er den Kopf wieder nach der Stelle, wo er stand, und streckte abermals seine Hand aus. »Wo ist der Papa?«

Er fühlte den Atem seines Vaters auf seiner Wange, ehe noch die Worte von seinen Lippen geglitten waren.

»Vergeßt Walter nicht, lieber Papa«, flüsterte er zu seinem Gesicht aufschauend. »Vergeßt Walter nicht. Walter ist lieb zu mir gewesen!« Dann schwenkte er die matte Hand in die Luft, als sollte sie Walter abermals ein ›Lebt wohl‹ zurufen.

»Legt mich jetzt nieder«, sagte er, »und Floy, komm zu mir her, damit ich dich sehe.«

Schwester und Bruder umarmten sich, und das goldene Licht kam strömend herein, die beiden mit ihren Strahlen übergießend.

»Wie schnell der Fluß zwischen seinen grünen Ufern und den Binsen läuft, Floy! Doch es ist nicht weit bis zur See. Ich höre die Wellen! Sie haben immer so gesprochen.«

Dann teilte er ihr mit, die Bewegung des Boots auf dem Strom wirke einschläfernd auf ihn. Wie grün waren nicht jetzt die Ufer, wie bunt die darauf wachsenden Blumen und wie hoch die Binsen! Jetzt hatte das Boot die See erreicht und glitt ruhig weiter. Dort sah er eine Küste vor sich. Wer stand an dem Gestade?

Er faltete seine Hände, wie er es beim Gebete zu tun pflegte. Seine Arme hielten Florence noch immer umschlossen, und er richtete seine zarten Finger hinter ihrem Nacken auf.

»Mama sieht ganz aus wie du, Floy. Ich kenne sie an dem Gesicht! Aber sage ihnen, der Kupferstich bei Blimbers oben sei nicht himmlisch genug. Der Schein um den Kopf folgt mir nach, wohin ich gehe!«

Das goldene Wogen an der Wand kam wieder zurück, und nichts anderes rührte sich im Zimmer. Die alte, alte Weise! Die Weise, die uns anfliegt mit unseren ersten Gewändern und unveränderlich weilt, bis unsere Pilgerfahrt vollendet ist und das weite Firmament sich wie ein Blatt Papier aufrollt. Die alte, alte Weise – der Tod!

O dankt Gott ihr alle, die ihr sie seht, für jene noch ältere Weise – die der Unsterblichkeit! Und schaut auf uns, ihr Engel sternchenland.com von kleinen Kindern, mit nicht ganz entfremdeten Blicken, wenn der rasche Strom uns in den Ozean hinaustreibt!

»Ach Himmel, ach Himmel!« rief Miß Tox, am selben Abend aufs neue sich in Jammer ergießend, als ob ihr das Herz brechen wollte,– »denken zu müssen, daß Dombey und Sohn zuletzt eine Tochter ist!«

Siebzehntes Kapitel.


Siebzehntes Kapitel.

Kapitän Cuttle macht ein kleines Geschäft für die jungen Leute.

Um jenes überraschende Talent für tief angelegte und unergründliche Pläne, mit dem nicht selten Leute von sehr augenfälliger Einfachheit allen Ernstes von Natur aus begabt zu sein wähnen, in Anwendung zu bringen, war Kapitän Cuttle an jenem ereignisvollen Sonntag nach Mr. Dombeys Haus gegangen. Unterwegs blinzelte er stets, um dem überströmenden Scharfsinn einen Abfluß zu gestatten, und so kam es denn, daß er sich bald in der vollen Herrlichkeit seiner Gamaschen Towlinson vorstellen konnte. Zu seinem großen Leidwesen mußte er übrigens von diesem Individuum erfahren, welch ein Unglück bevorstand, und sein Zartgefühl bewog ihn, ganz verdutzt und unverrichteter Dinge wieder abzuschweben. Indes ließ er doch als kleinen Beweis seiner Aufmerksamkeit den Blumenstrauß zurück und der Familie im allgemeinen seine achtungsvollen Komplimente vermelden, die er mit der Kundgebung seiner Hoffnung begleitete, sie möchten unter obwaltenden Umständen ihre Schnäbel gut an den Wind legen. Zugleich fügte er die freundschaftliche Andeutung bei, daß er morgen wieder vorsprechen wolle.

Auf die Komplimente des Kapitäns hatte niemand geachtet und sein Blumenstrauß war, nachdem er die Nacht über in der Halle gelegen, am andern Morgen in den Kehrichtwinkel geworfen worden. So konnte also die schlaue Einleitung des Kapitäns, an die er so große Hoffnungen und Entwürfe geknüpft hatte, als eine völlig vergebliche Mühe betrachtet werden. In ähnlicher Weise leiden Zweige und Büsche mit den zugrunde gehenden Blumen, wenn eine Lawine auf einen Gebirgswald niederstürzt.

Als Walter am Sonntagabend von seinem langen Spaziergang und dessen denkwürdigen Schluß nach Hause zurückkehrte, sah er sich anfangs von der Nachricht, die er zu überbringen hatte, und von den Erregungen, die die durchgemachte Szene zu wecken imstande war, dermaßen in Anspruch genommen, daß er weder bemerkte, sein Onkel sei augenscheinlich von der Kunde, die der Kapitän zu überbringen sich anheischig gemacht hatte, nicht unterrichtet, noch die Signale verstand, die Mr. Cuttle mit seinem Haken machte, um ihn vor einer Berührung des Gegenstandes zu warnen. Allerdings waren auch letztere, wie aufmerksam man auch auf sie achten mochte, nicht sternchenland.com sonderlich einleuchtend, denn gleich jenen chinesischen Weisen, die der Sage nach bei ihren Zusammenkünften gewisse völlig unaussprechbare gelehrte Worte in die Luft schreiben, machte der gute Mann solche Schnörkel und Winkelzüge, daß ihn niemand begreifen konnte, wenn man nicht schon zum voraus in sein Geheimnis eingeweiht war.

Als jedoch Kapitän Cuttle erfuhr, was vorgefallen war, gab er seine Versuche auf, denn er bemerkte wohl, daß er kaum darauf rechnen durfte, vor der Zeit von Walters Abreise den Gegenstand mit Mr. Dombey gemütlich besprechen zu können. Trotzdem er sich aber mit großer Niedergeschlagenheit klarmachen mußte, wie die Angelegenheit einmal stand, ohne im voraus aufgeklärt und durch die Behandlung eines weisen Freundes ins gleiche gebracht zu sein, müsse Sol Gills davon unterrichtet werden und Walter sich für den Aufbruch gefaßt halten, entschlug er sich doch nicht der edlen Selbstzuversicht, er, Ned Cuttle, sei der Mann für Dombey, und es gehöre nichts dazu, als daß sie beide zusammenkämen, um Walter glücklich zu machen. Er konnte nämlich nicht vergessen, wie gut er in Brighton mit Mr. Dombey zurechtgekommen war, mit welcher Feinheit jeder von ihnen das nötige Wörtlein eingeflochten habe, wie genau sie sich gegenseitig das Maß genommen und wie Ned Cuttle derjenige gewesen, der in der äußersten Not jenes Zufluchtsmittel getroffen und die Verhandlung zu einem erwünschten Schluß gebracht habe. Aus allen diesen Gründen beschwichtigte sich der Kapitän mit dem Gedanken, obgleich für die Gegenwart der Beistand Ned Cuttles durch den Drang der Ereignisse fast nutzlos werde, könne er doch in guter Zeit ein feuchtes Segel aufholen und triumphierend die Angelegenheit in Ordnung bringen.

Unter dem Einfluß dieser wohlgemeinten Selbsttäuschung ging Kapitän Cuttle, während ihm bei Walters Erzählung eine Träne auf den Hemdkragen niederträufelte, in seinem Innern sogar mit dem Gedanken um, ob es sich nicht ebensogut mit Höflichkeit als mit der Politik vertrage, Mr. Dombey auf einen beliebigen Tag zu einer Hammelkeule nach Brig-Place einzuladen und die Frage über die Aussichten seines jungen Freundes bei einem geselligen Glase zu besprechen. Aber das unsichere Temperament der Mrs. Mac Stinger und die Möglichkeit, sie könnte sich während einer solchen Unterhaltung auf dem Flur aufpflanzen und daselbst allerlei derbe Worte ausstoßen, legten dem gastfreundlichen Gedanken des Kapitäns einen kräftigen Zügel an, so daß er für seinen Entschluß nicht den gehörigen Mut aufbringen konnte.

Als Walter gedankenvoll über seinem unberührten Mittagessen saß und mit seiner Einbildungskraft bei den Vorgängen des Abends weilte, wurde dem Kapitän wenigstens eine Tatsache klar – daß nämlich der Neffe seines Freundes, wie sehr auch die Bescheidenheit desselben sich dagegen verwahren mochte, doch sozusagen als ein Mitglied von Mr. Dombeys Familie betrachtet werden konnte. Er war selbst in Beziehung gekommen zu dem Ereignis, das er so ergreifend zu schildern vermochte; sein Name war dabei berührt und empfohlen sternchenland.com worden, sein Glück mußte also für seinen Prinzipal ein besonderes Interesse haben. Wie sehr übrigens der Kapitän auch einige von seinen eigenen Schlußfolgerungen bezweifeln mochte, kam ihm doch darüber nicht der mindeste Zweifel, daß sie vollkommen gut für den inneren Frieden des Instrumentenmachers seien. Er benützte daher einen günstigen Augenblick, um seinem alten Freund die Reise nach Westindien als ein Zeichen außerordentlicher Bevorzugung darzustellen, indem er erklärte, er für seinen Teil gäbe, wenn er’s hätte, für das, was Walter im Laufe der Zeit gewinnen müsse, gern hunderttausend Pfund, und solch ein Kapital müsse natürlich schöne Renten abwerfen.

Solomon Gills war im Anfang völlig betäubt von dieser Kunde, die gleich einem Donnerschlag, der den heimischen Herd aufwühlte, in das kleine Hinterstübchen niederfiel. Aber der Kapitän wußte so schöne goldene Berge vor seinen düsteren Blicken zu entfalten, deutete so geheimnisvoll auf Whittingtonsche Folgen hin, legte so großen Nachdruck auf das, was Walter eben erzählt hatte, und berief sich so zuversichtlich darauf, als auf eine Bekräftigung seiner Prophezeiungen und einen großen Vorschub für die Verwirklichung der romantischen Legende von der lieblichen Peg, daß der alte Mann völlig verwirrt wurde. Walter erkünstelte für seinen Teil eine Fülle von Hoffnung und Freude, indem er im Ton der größten Zuversichtlichkeit seine Überzeugung aussprach, daß er bald wieder nach Haus zurückkehren werde; auch unterstützte er den Kapitän mit einem so ausdrucksvollen Nicken des Kopfes und Händereiben, daß Solomon, der anfangs ihn und dann seinen alten Freund ansah, wirklich zu glauben begann, auch er sollte vor Freude ganz außer sich sein.

»Aber Ihr begreift wohl, ich habe mich verspätet«, bemerkte er entschuldigend, indem er mit zitternder Hand über die lange Reihe blanker Knöpfe seines Rocks hinunter und dann wieder herauf fuhr, als wären es die Perlen eines Rosenkranzes, deren Paternoster er zweimal herbeten wollte, »und ich möchte weit lieber, daß mein lieber Junge hier bliebe. Ich will zwar glauben, daß dies Vorurteil ein altmodisches ist. Er hat immer so viel auf die See gehalten und ist« – er sah dabei mit einer Schmerzensmiene nach Walter hin – »er ist froh, daß er fortkommt.«

»Onkel Sol«, rief Walter hastig, »wenn du so sagst, so werde ich nicht gehen. Nein, Kapitän Cuttle, in diesem Fall gehe ich nicht. Wenn mein Onkel glaubt, ich könne froh sein, ihn zu verlassen, und handelte sich’s auch darum, Gouverneur aller Inseln Westindiens zu werden, so genügt das vollständig. Ich bleibe.

»Wal’r, mein Junge«, sagte der Kapitän. »Gemach! Sol Gills, macht eine Observation auf Euren Neffen.«

Mit den Augen der majestätischen Gebärde von Cuttles Haken folgend, blickte der alte Mann auf Walter.

»Hier ist ein gewisses Fahrzeug«, fuhr der Kapitän in großartigem Gefühl der Allegorie, in der er sich aufschwang, fort: »es soll ausziehen auf eine gewisse Reise. Welcher Name ist unauslöschlich sternchenland.com auf dieses Fahrzeug geschrieben? Ist es der Gay – oder«, fügte er hinzu, indem er seine Stimme erhob, als wollte er auf diesen Punkt hauptsächlich aufmerksam machen, »ist es der Gills?«

»Ned«, entgegnete der alte Mann, indem er Walter an seine Seite zog und dessen Arm zärtlich in den seinen nahm, »ich weiß, ich weiß. Es ist mir natürlich nicht unbekannt, daß Wally stets mehr Rücksicht auf mich als auf sich selbst nimmt. Ich vergesse es nie, und wenn ich sage, er freue sich auf das Fortkommen, so drücke ich damit bloß meine Hoffnung aus, daß es so sein möge. Ist’s nicht so? Ihr müßt wissen, Ned, und auch du mußt es wissen, mein lieber Wally, daß mir diese Kunde neu und unerwartet kommt; ich fürchte, der Umstand, daß ich so weit hinter der Zeit zurück und daß ich arm bin, ist daran schuld. Ihr sagt mir, er könne wirklich sein Glück finden?« fuhr der alte Mann fort, indem er ängstlich von dem einen auf den andern blickte. »Ist’s auch wirklich wahr und wahrhaftig? Ich kann mich fast in alles finden, was Wally vorwärts bringt, aber dies könnte ich nicht ertragen, daß Wally um meinetwillen Nachteil hätte oder mir irgend etwas vorenthielte. Ihr, Ned Cuttle« – sagte der Greis, den Kapitän anfassend, daß dieser Diplomat in die augenfälligste Verwirrung geriet – »geht Ihr auch ehrlich um mit Eurem alten Freunde? Sprecht Euch aus, Ned Cuttle, steckt nichts dahinter? Muß er gehen? Wie und warum erfahrt Ihr es zuerst?«

Da sich’s nunmehr um einen Wettstreit der Liebe und Selbstverleugnung handelte, so ergriff jetzt Walter zu des Kapitäns unendlicher Erleichterung mit bestem Erfolg das Wort, und der alte Sol Gills gewöhnte sich allmählich an den Gedanken, indem man ihn lang und breit besprach; oder vielmehr der Greis wurde darüber so verwirrt, daß sich nichts, nicht einmal der Schmerz der Trennung, seiner Seele mit Bestimmtheit vergegenwärtigte.

Er hatte nicht viel Zeit, die Sache zu erwägen, denn schon am andern Tage erhielt Walter von Mr. Carker, dem Geschäftsführer, die nötigen Briefschaften für seine Fahrt und Ausstattung, zugleich mit der Nachricht, daß der »Sohn und Erbe« in vierzehn oder spätestens sechzehn Tagen absegeln werde. In der Hast der Vorbereitungen, welche Walter absichtlich möglichst steigerte, verlor der alte Mann das bißchen Fassung, das er sonst hatte, vollends, und so kam die Zeit der Abreise schnell heran.

Der Kapitän, der nicht ermangelte, durch tägliche Erkundigungen bei Walter sich von allen Vorgängen zu unterrichten, fand, daß die Zeit bis zur Abfahrt noch immer nicht reiche, obschon sich nie eine Gelegenheit bot oder darzubieten schien, um ihm über die Sachlage eine klarere Einsicht zu geben. Dieser Umstand quälte ihn sehr, und nachdem er über die unglücklichen Verwicklungen reiflich nachgedacht hatte, tauchte ihm plötzlich eine glorreiche Idee auf. Wenn er nun einen Besuch bei Mr. Carker machte und aus diesem herauszulocken suchte, was eigentlich vorlag? Dieser Einfall erschien Kapitän Cuttle ganz herrlich. Er war ihm aufgestiegen in einem Augenblick der Begeisterung, als er eben in Brig-Place nach dem Frühstück seine sternchenland.com Morgenpfeife rauchte, und man muß sagen, daß die Idee dem Tabak Ehre machte. Hierdurch konnte er sein ehrliches Gewissen beruhigen, denn das, was ihm Walter vertraut und Sol Gills ihm gesagt hatte, wirkte doch etwas unheimlich auf ihn, und wenn er so handelte, beging er nur einen tief angelegten, verschmitzten Akt der Freundschaft. Er wollte Mr. Carker sorgfältig ausholen und viel oder wenig sagen, je nach dem Charakter des Gentleman und je nach den Umständen, ob diese nun gut oder nicht gut verliefen. Demgemäß legte Kapitän Cuttle, ohne von Walter etwas zu befürchten zu haben, da dieser, wie er wußte, zu Hause mit dem Packen beschäftigt war, seine Gamaschen und den Trauerhalstuchring wieder an, um den zweiten Versuch anzutreten. Diesmal kaufte er unterwegs keinen begütigenden Blumenstrauß, steckte aber eine kleine Sonnenblume in sein Knopfloch, um sich selbst einen lieblichen ländlichen Anflug zu geben, und so ging er denn, den Knotenstock in der Hand und den Glanzhut auf dem Kopf, schnurstracks auf das Geschäftslokal von Dombey und Sohn zu. Nachdem er zur Sammlung seiner Gedanken in einer nahe gelegenen Schenke ein Glas warmen Rums und Wassers genommen hatte, stürzte er, damit die guten Wirkungen nicht verdunsten möchten, auf den Hof los und zeigte sich plötzlich vor Mr. Perchs nichtsahnenden Augen.

»Kam’rad«, begann der Kapitän im Tone der Überredung, »nicht wahr, einer von Euren Herren heißt Carker?«

Mr. Perch räumte dies ein, machte ihm aber zugleich die pflichtliche Mitteilung, daß die Herren insgesamt beschäftigt seien und sich nicht wollten stören lassen.

»Na, so hört, Kam’rad«, sagte ihm der Kapitän ins Ohr: »mein Name ist Kap’tn Cuttle.«

Der Kapitän wollte Perch mit seinem Haken sanft zu sich heranziehen – ein Versuch, welchen Mr. Perch zu vereiteln wußte, nicht so absichtlich, sondern vielmehr bei dem plötzlichen Gedanken erschreckend, daß eine solche Waffe, plötzlich der Mrs. Perch vorgeführt, den Hoffnungen dieser Dame bei ihren dermaligen Umständen verderblich werden könnte.

»Wenn Ihr könntet und die Güte haben wolltet, nur zu melden, daß Kap’tn Cuttle hier ist«, sagte der Kapitän, »so will ich warten.«

Mit diesen Worten nahm der Kapitän auf Mr. Perchs Sitzbrett Platz, holte sein Schnupftuch aus der Krone des Glanzhutes, den er ohne Beschädigung der Form, weil ihn nichts Menschliches zu zerdrücken vermochte, zwischen seine Knie geklemmt hatte, rieb sich den ganzen Kopf und schien dann völlig erfrischt zu sein. Dann ordnete er sich das Haar mit seinem Haken, ließ seine Blicke durch das Bureau laufen und betrachtete sich die Handlungsdiener mit ruhigem Respekt. Der Gleichmut des Kapitäns war so unzerstörbar, er selbst aber durch und durch ein so geheimnisvolles Wesen, daß der beauftragte Perch eingeschüchtert wurde.

»Wie ist der Name, den Ihr mir genannt habt?« fragte Mr. Perch, indem er sich zu ihm nach dem Sitz niederbeugte.

»Kap’tn«, versetzte der andere in tiefem, heiserem Flüsterton.

»Ja«, versetzte Mr. Perch, mit seinem Kopfe nickend.

»Cuttle.«

»O«, entgegnete Mr. Perch in dem gleichen Tone, denn er hatte die eindrucksvolle Diplomatik de« Kapitäns notwendig begreifen müssen. »Ich will sehen, ob er jetzt freie Zeit hat. Ob’s so gut ist, weiß ich nicht; aber vielleicht könnte er doch eine Minute erübrigen.«

»Ja, ja, mein Junge – ich will ihn nicht länger als eine Minute in Anspruch nehmen«, erwiderte der Kapitän mit einem Kopfnicken, in welchem er die ganze Wichtigkeit, die er in sich fühlte, ausdrückte. Perch kehrte bald zurück und meldete:

»Will Kapitän Cuttle mit mir kommen?«

Mr. Carter, der Geschäftsführer, stand vor dem leeren Kamin, der mit einem großen Pappendeckel eingefaßt war, und blickte den hereinkommenden Kapitän nicht sehr ermutigend an.

»Mr. Carter?« fragte Kapitän Cuttle.

»Jawohl«, sagte Mr. Carter, alle seine Zähne zeigend.

Die Antwort, die von einem Lächeln begleitet war, gefiel dem Kapitän, denn daraus ließ sich etwas hoffen.

»Ihr seht«, begann der Kapitän, die Augen langsam durch das kleine Gemach gleiten lassend und so viel davon in sich ziehend, als sein Hemdkragen gestattete, »ich bin selbst ein seefahrender Mann, Mr. Carker, und Wal’r, der hier mit Buchführung beschäftigt war, könnte ich fast meinen Sohn nennen.«

»Walter Gay?« fragte Mr. Carter, aufs neue alle seine Zähne zeigend.

»Ja, Wal’r Gay – ganz richtig«, versetzte der Kapitän in einer Weise, als freue er sich höchlich über Mr. Carters rasche Auffassungsgabe. »Ich bin ein vertrauter Freund von ihm und seinem Onkel. Vielleicht« – fuhr der Kapitän fort – »habt Ihr Euer« Prinzipal schon meinen Namen nennen hören – Kapitän Cuttle?«

»Nein«, entgegnete Mr. Carter mit einer noch grinsenderen Demonstration als zuvor.

»Nun, ich erfreue mich des Vergnügens, von ihm gekannt zu sein«, versetzte der Kapitän. »Ich machte ihm an der Sussexküste drunten mit einem jungen Freunde meine Aufwartung, als – kurz, als sich’s um eine kleine Vermittlung handelte.« Der Kapitän nickte mit einer Miene, die sich ebenso behaglich, als gelassen und nachdrucksvoll ausnahm. »Vermutlich werdet Ihr Euch erinnern.«

»Ich glaube, ich hatte die Ehre, das Geschäft zu erledigen«, sagte Mr. Carker.

»Jawohl«, entgegnete der Kapitän, »wieder vollkommen richtig! Ihr wart es. Nun habe ich mir die Freiheit genommen, hier vorzusprechen« –

»Wollt Ihr nicht Platz nehmen?« fragte Mr. Carker lächelnd.

»Danke schön«, erwiderte der Kapitän, sich den Wink zunutze machend. »Man kommt vielleicht in der Unterhaltung nur um so sternchenland.com besser fort, wenn man sitzt. Wollt Ihr nicht auch einen Stuhl nehmen?«

»Nein, ich danke«, sagte der Geschäftsführer, vielleicht infolge der Wintergewohnheit stets den Rücken dem Kamin zukehrend und auf den Kapitän niederschauend, als hätte er in jedem Zahn ein Auge. »Ihr wolltet sagen, Ihr habet Euch die Freiheit genommen – obschon hier von einer besonderen Freiheit gerade nicht die Rede ist« –

»Danke herzlich, mein Junge«, versetzte der Kapitän – »um meines Freunde« willen, Walter, hierher zu kommen. Sein Onkel Sol Gills ist ein Mann von Wissenschaft, und in dieser Beziehung kann man von ihm sagen, daß er ein Ausbund von Tüchtigkeit sei; aber er ist nicht das, was ich überhaupt einen tüchtigen Seemann nennen möchte – kein Mann von Praxis. Wal’r ist ein so schmuckes Bürschlein, wie nur je eins in der Welt war; aber in einer Beziehung trägt er den Kopf viel zu niedrig – ich meine, er ist zu bescheiden. Was ich nun Euch mitzuteilen wünsche«, fuhr der Kapitän mit gedämpfter Stimme und in einer Art vertraulichen Grunzens fort – »natürlich ganz zwischen Euch und mir in freundlicher Weise, bis Euer Prinzipal ein bißchen herumgekriegt ist und ich bei ihm neben Bord kommen kann – besteht darin: ist hier alles recht und komfortabel und segelt Wal’r aus mit vollkommen günstigem Wind?«

»Da möchte ich Eure Meinung hören, Kapitän Cuttle«, sagte Carker, seine Rockschöße unter die Arme nehmend und in dieser Stellung verbleibend. »Ihr seid ein praktischer Mann – was haltet Ihr davon?«

Der verschmitzte bedeutsame Blick im Auge des Kapitäns, als er es zu Erwiderung blinzelte, wäre höchstens durch die früher erwähnten unaussprechlichen chinesischen Worte zu schildern.

»Na, was sagt Ihr?« fuhr der Kapitän höchlich ermutigt fort, »habe ich recht oder unrecht?«

Durch Mr. Carkers lächelnde Leutseligkeit ermutigt und angespornt, hatte der Kapitän so viel mit seinem Auge ausgedrückt, daß er zu einer derartigen Frage vollkommen befugt zu sein glaubte, als hätte er seine Meinung in schönsten Worten angebracht.

»Ihr habt recht«, sagte Mr. Carker: »ich zweifle nicht daran.«

»Also eine Fahrt mit günstigem Wetter?« rief Kapitän Cuttle.

Mr. Carker lächelte zustimmend.

»Den Wind voll im Stern und in gehöriger Menge!« fuhr Kapitän Cuttle fort.

Mr. Carker lächelte abermals beipflichtend.

»Schön, schön!« sagte der Kapitän Cuttle in froher Beruhigung. »Ich wußte ja, wie es stand, und sagte es auch Walter. Danke, danke.«

»Gay hat glänzende Aussichten«, bemerkte Mr. Carker, seinen Mund noch weiter auseinanderziehend: »die ganze Welt liegt vor ihm.«

»Die ganze Welt, und da bleibt das Weib nicht aus, wie es im Sprichwort heißt«, entgegnete der entzückte Kapitän.

Bei dem Worte »Weib«, welches ganz unabsichtlich ausgesprochen worden, hielt der Kapitän inne und blinzelte wieder mit dem Auge; dann setzte er den Glanzhut auf seinen Knotenstock, ließ ihn wirbelnd herumtanzen und schaute seitwärts nach seinem stets lächelnden Freund.

»Ich wette eine Maß alten Jamaika«, sagte der Kapitän, ihn aufmerksam beobachtend, »daß ich weiß, über was Ihr lächelt.«

Mr. Carker griff dieses Schlagwort auf und lächelte um so mehr.

»Es geht nicht weiter?« bemerkte der Kapitän, mit dem Knotenstock gegen die Tür hinstoßend, um sich zu überzeugen, daß sie geschlossen sei.

»Nicht um einen Zoll«, sagte Mr. Carker.

»Ihr denkt vielleicht an ein großes F?« meinte der Kapitän.

Mr. Carker stellte es nicht in Abrede.

»Vielleicht auch an ein L oder an ein O,«

Mr. Carker lächelte noch immer.

»Habe ich wieder recht?« fragte der Kapitän flüsternd, und der Scharlachring um seine Stirne vertiefte sich im Triumph der Freude.

Da Mr. Carker zur Erwiderung noch immer lächelte und jetzt zustimmend mit dem Kopf nickte, erhob sich Kapitän Cuttle, drückte ihm die Hand und gab ihm die warme Zusicherung, sie seien beide auf demselben Wege, und was ihn (Cuttle) betreffe, so habe er stets auf diesen Kurs angelegt. »Zum erstenmal hat er sie in einer sehr ungewöhnlichen Weise kennengelernt«, sagte er mit der ganzen Geheimnisfülle und Wichtigkeit, welche der Gegenstand erforderte. – »Ihr erinnert Euch, wie er sie, noch als kleines Kind, auf der Straße fand! sie ist seitdem immer sein Augapfel gewesen, und auch sie hatte ihn so gern, wie es bei zwei so jungen Leutchen nur möglich ist. Wir haben immer gesagt, Sol Gills und ich, sie seien für einander gemacht.«

Eine Katze, ein Affe, eine Hyäne oder ein Totenkopf hätten auf einmal dem Kapitän nicht mehr Zähne zeigen können, als Mr. Carker bei dieser Höhe der Unterhaltung blicken ließ.

»Ihr seht, alles findet sich zusammen«, bemerkte der überglückliche Kapitän. »Wind und Wasser schlagen in dieselbe Richtung. Wenn ich nur denke, daß er letzthin auch mit anwesend war.«

»Sehr günstig für seine Hoffnungen«, sagte Mr. Carker.

»Daß er an selbigem Tage auch ins Kielwasser getaut wurde«, fuhr der Kapitän fort. »Was kann ich jetzt triftig kappen?«

»Nichts«, versetzte Mr. Carker.

»Ihr habt abermals recht«, erwiderte der Kapitän mit einem weiteren Händedruck. »Nichts. Also nur fest ausgehalten. Ein Sohn ist dahin, das liebe kleine Geschöpf: ist’s nicht so?«

»Ja, ein Sohn ist dahin«, stimmte Mr. Carker mit ein.

»So laßt nur den Ruf erschallen, und Ihr habt einen andern zur Hand«, bemerkte der Kapitän; »den Neffen eines wissenschaftlichen Onkels! den Neffen von Sol Gills, Wal’r, den Wal’r, der bereit in Eurem Geschäft ist, und« – fügte der Kapitän hinzu, indem er sternchenland.com sich allmählich zu der Phrase aufschwang, die er als Schlußstein vorbereitet hatte – »der von Sol Gills aus täglich in den Schoß Eures Geschäftslebens kommt.«

Die Selbstgefälligkeit, mit welcher der Kapitän seine ebengenannten Sentenzen schloß und dabei Mr. Carter stets mit seinem Ellenbogen anstieß, konnte nur durch die Miene des Entzückens übertroffen werden, mit welcher er nach der glanzvollen Entfaltung seiner Beredsamkeit und seines Scharfsinns zurücktrat und den Geschäftsführer ins Auge faßte. Seine große blaue Weste klopfte unter den Geburtswehen eines solchen Meisterstücks, und aus derselben Ursache befand sich seine Nase im Zustande einer ungestümen Kongestion.

»Habe ich recht?« fragte der Kapitän.

»Kapitän Cuttle«, versetzte Mr. Carker, der sich in seltsamer Weise für einen Moment bis zu seinen Knien niederbeugte, als falle er zusammen, um sein ganzes Ich mit einem Male zu umarmen – »Eure Ansicht inbetreff Walter Gays ist durchaus und aufs Haar hin richtig. Ich nehme an, daß wir vollkommen im Vertrauen miteinander sprechen.«

»Auf Ehre«, erwiderte der Kapitän. »Nicht ein Wort.«

»Gegen ihn oder irgend jemand?« fügte der Geschäftsführer hinzu.

Kapitän Cuttle runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Es geschieht bloß zu Eurer eigenen Beruhigung und damit Ihr Euch danach richten möget – natürlich könnt Ihr Euch danach richten«, wiederholte Mr. Carker, »und demgemäß Eure künftigen Schritte ordnen.«

»Ich bin Euch in der Tat sehr zu Dank verpflichtet«, sagte der Kapitän, der ganz Ohr war.

»Ich nehme keinen Anstand zu sagen, daß die Sache sich wirklich so verhält. Die Wahrscheinlichkeiten sind von Euch aufs genaueste erfaßt worden.«

»Und was Euern Prinzipal betrifft«, sagte der Kapitän, »ei, da liegt’s wohl in der Natur der Sache, daß es zwischen uns zu einer Verständigung komme. Doch dafür ist noch immer Zeit.«

Mr. Carker wiederholte mit einem Munde, der von Ohr zu Ohr ging: »noch immer Zeit« – nicht gerade in artikulierten Worten, denn er beugte nur leutselig den Kopf und bildete den Satz mit der Zunge und den Lippen.

»Und da ich jetzt weiß – ich Habs auch immer gesagt – daß Wal’r auf dem Punkt ist, sein Glück zu machen –« sagte der Kapitän.

»Sein Glück zu machen«, wiederholte Mr, Carker in derselben stummen Weise.

»Und daß Walter diese Reise sozusagen in seinem Amte und als ein Teil seiner allgemeinen Aussichten hier antritt«, sagte der Kapitän.

»Seiner allgemeinen Aussichten hier«, pflichtete Mr. Carker ebenso lautlos wieder bei.

»Je nun, da ich dies weiß«, fuhr der Kapitän fort, »hat’s keine Eile, und ich kann mich zufrieden geben.«

Mr. Carker fuhr fort, in derselben lautlosen Weise seinen geschmeidigen Beifall zu erkennen zu geben, und Kapitän Cuttle gewann die feste Überzeugung, der Geschäftsführer sei einer der angenehmsten Menschen, mit denen er je zusammengetroffen sei, denn selbst Mr. Dombey könne von einem solchen Musterbild noch lernen. Der Kapitän streckte daher mit großer Herzlichkeit abermals seine ungeheure Hand aus, die an Farbe einem alten Block nicht unähnlich war, und ließ auf dem weicheren Fleische seines neuen Freundes einen Abdruck von all den Spalten und Ritzen zurück, mit welchen besagtes Tastorgan des alten Seemanns freigebig tätowiert war.

»Lebt wohl«, sagte der Kapitän. »Ich bin kein Mann von vielen Worten, weiß es aber sehr zu schätzen, daß Ihr Euch so freundschaftlich und offen gegen mich benommen habt. Ihr werdet mir’s zuguthalten, wenn ich überhaupt lästig gefallen bin?« fügte er bei.

»Durchaus nicht lästig«, entgegnete der andere.

»Danke schön. Meine Berth ist zwar nicht sehr geräumig«, sagte der Kapitän, indem er sich noch einmal umwandte, »aber doch leidlich geborgen, und wenn Ihr einmal in die Nähe von Brig-Place kommt, Nummer neun – wollt Ihr’s Euch nicht aufzeichnen? – so werde ich mir’s zu hoher Ehre anrechnen, wenn Ihr mich besuchen wollt. Ich wohne eine Treppe hoch, und Ihr müßt Euch nicht an das kehren, was etwa die Person an der Tür sagen mag.«

Mit dieser gastfreundlichen Einladung verabschiedete sich der Kapitän, verließ das Zimmer und drückte die Tür hinter sich zu, während Mr. Carker, noch immer an den Kaminsims gelehnt, zurückblieb. In der schlauen Miene und in dem lauernden Benehmen des letzteren, in seinem falschen Mund, der sich, ohne zu lachen, ausdehnte, in seiner schneeweißen Halsbinde und in seinem Backenbart, sogar in der Art, wie er mit der weichen Hand über seine weiße Leinwand und über sein glattes Gesicht fuhr, lag etwas verzweifelt Katzenartiges.

Der arglose Kapitän zog mit einem Triumphgefühl ab, das seinem weiten blauen Anzug einen ganz neuen Schnitt verlieh. »Ich muß dich loben, Ned!« sagte er zu sich selbst. »Du hast heute für die jungen Leute ein Geschäftchen geordnet, und dies macht dir Ehre, mein guter Bursche!«

In dem Entzücken seines Herzens und im Hinblick auf die gegenwärtige und zukünftige Beziehung zum Haus konnte sich der Kapitän, als er das äußere Bureau erreichte, nicht enthalten, Mr. Perch ein wenig zu necken und ihn zu fragen, ob er wohl noch immer glaube, daß keiner von seinen Herren etwas übrige Zeit finden könne. Da er übrigens einem Mann, der nur seine Pflicht erfüllt hatte, nicht wehe tun wollte, so flüsterte er ihm zu, wenn er Lust zu einem Gläschen Grog habe und ihm folgen wolle, so werde er sich glücklich schätzen, ihn damit zu traktieren.

Ehe der Kapitän das Bureau verließ, sah er sich, zum großen Erstaunen der Handlungsdiener, von einem Zentralteile des Gelasses um und musterte den Platz, der so wesentlich mit zu dem Projekte, das er für seinen jungen Freund ausgesponnen hatte, gehörte. Das Kassenzimmer erregte seine besondere Bewunderung; um übrigens nicht aufzufallen, begnügte er sich in dieser Beziehung nur mit einem beifälligen Blicke und ging sodann auf den Hof hinaus, nachdem er zuvor mit einer höflichen Gönnermiene sämtlichen Handlungsdienern seine Verbeugung gemacht hatte. Mr. Perch schloß sich ihm sogleich an, und er führte sofort diesen Gentleman nach der bewußten Schenke, wo er sein Versprechen erfüllte. Freilich mußte die Sache in größter Hast abgetan werden, da Perchs Zeit kostbar war.

»Ich will einen Toast ausbringen«, sagte der Kapitän. »Wal’r!«

»Wer?« fragte Mr. Perch.

»Wal’r!« wiederholte der Kapitän mit einer Donnerstimme.

Mr. Perch, der sich von seiner Jugend her zu erinnern schien, daß es einmal einen Poeten dieses Namens gegeben habe, erhob keine Einwendung, war aber doch sehr erstaunt, daß der Kapitän in die City kam, um die Gesundheit eines Dichters auszubringen. In der Tat, wenn er den Vorschlag gemacht hätte, die Statue irgendeines Musensohns – die Shakespeares zum Beispiel – an einer öffentlichen Straße aufzustellen, so hätte er kaum gegen Mr. Perchs Erfahrung mehr verstoßen können. Indes war der alte Gentleman ein so geheimnisvoller und unbegreiflicher Charakter, daß Mr. Perch den Entschluß faßte, seiner gegen Mrs. Perch in keiner Weise Erwähnung zu tun, damit nicht mißliebige Folgen daraus hervorgehen möchten.

Und richtig blieb der Kapitän in seinem lebhaften Gefühl, für die jungen Leute ein kleines Geschäft abgemacht zu haben, den ganzen Tag selbst gegen seine vertrautesten Freunde geheimnisvoll und unbegreiflich; hätte übrigens Walter nicht seinem Blinzeln, Grinsen und anderen pantomimischen Selbsterleichterungen im Interesse der unschuldigen Täuschung gegen Sol Gills nachgegeben, so würde er sich zuverlässig noch vor Abend verraten haben. Wie jedoch die Sachen standen, blieb er im Besitze seines Geheimnisses und verließ erst spät das Haus des Instrumentenmachers. Bei dieser Gelegenheit saß der Glanzhut so weit auf der einen Seite, und der Kapitän hatte einen so leuchtenden Ausdruck in seinem Auge, daß Mrs. Mac Stinger, eine wahrhaft römische Matrone, die recht gut in Doktor Blimbers Etablissement gepaßt hätte, beim ersten Anblick ihres Hausherrn sich hinter der offenen Straßentür verschanzte und zum Trost ihrer lieben Kindlein nicht wieder hervorkommen wollte, bis sie die Überzeugung gewonnen hatte, der alte Gentleman sei nun wohlbehalten in seinem eigenen Zimmer einquartiert. sternchenland.com

Achtzehntes Kapitel.


Achtzehntes Kapitel.

Vater und Tochter.

In Mr. Dombeys Haus herrscht ein gedrücktes Schweigen. Diener gleiten die Treppen hinauf und herab, aber mit lautlosen Tritten. Sie flüstern stets miteinander, sitzen lang bei Tische, genießen viel Fleisch und Getränk und tun sich in grimmiger, unheiliger Weise gütlich. Mrs. Wickham erzählt mit tränenden Augen viele traurige Anekdoten und teilt mit, sie habe bei Mrs. Pipchin stets gesagt, daß es so kommen werde. Sie trinkt dabei ungewöhnlich viel Tafelbier und ist sehr betrübt, aber dennoch gesellig. Der Gemütszustand der Köchin verhält sich ungefähr ebenso. Sie verspricht ein Brätlein zum Nachtessen und kämpft in gleicher Weise gegen ihre Gefühle und gegen die Zwiebel. Towlinson fängt an, zu glauben, es liege ein Fatum darin, und wünscht zu wissen, ob ihm jemand sagen kann, daß aus dem Wohnen in einem Eckhause je etwas Gutes erwachsen sei. Die Sache kommt allen vor, als habe sie sich schon vor langer Zeit zugetragen, und doch liegt das Kind noch auf seinem Bettchen – ruhig und schön.

Nach Einbruch der Dunkelheit kommen einige Besuche – lautlose Gäste mit Filzschuhen, die früher schon dagewesen waren, und mit ihnen trifft jenes Ruhebett ein, das an kindlichen Schläfern so befremdlich ist. Die ganze Zeit über hat sich der unglückliche Vater nicht einmal vor seiner Dienerschaft blicken lassen; er sitzt in einer Ecke seines dunkeln Gemachs, ohne sich anders zu rühren, als daß er hin und wieder aufsteht, um im Zimmer hin und her zu gehen. Am andern Morgen flüstert sich das Gesinde zu, man habe ihn mitten in der Nacht hinaufgehen hören, und er sei droben geblieben in dem Stübchen, bis die Sonne sich zeigte.

In dem Geschäftslokal der City sind die unteren Fenster durch Läden verdunkelt, und während die angezündeten Lampen auf den Pulten halb in dem vorrückenden Tag erblinden, wird der Tag halb durch die Lampen ausgelöscht. Es herrscht ein ungewöhnliches Düster, und von Geschäft ist nicht sonderlich die Rede. Die Handlungsdiener haben keine Lust, zu arbeiten, und machen unter sich aus, daß sie nachmittags Hammelrippchen essen und es mit einer Flußpartie versuchen wollen. Der Ausläufer Perch will fast gar nicht mehr zurückkommen; er weilt in der Schenkstube des Wirtshauses, wohin er von Freunden eingeladen ist, und ergießt sich in Reden über die Unsicherheit menschlicher Angelegenheiten. Abends kommt er von Balls Pond früher als gewöhnlich nach Hause und traktiert Mrs. Perch mit einem Kalbskotelett und schottischem Ale. Mr. Carker, der Geschäftsführer, traktiert niemanden und wird nie traktiert; er sitzt allein in seinem Gemach und zeigt den ganzen Tag seine Zähne. Fast gewinnt es den Anschein, als sei sein Pfad gesäubert, irgendein Hindernis weggeräumt worden, und die Aussicht liege jetzt frei vor ihm.

Jetzt schauen die rosigen Kinder, welche Mr. Dombeys Hause gegenüber wohnen, aus den Fenstern der Kinderstube auf die Straße herunter, denn vor der Tür stehen vier Rappen mit Federn auf den Köpfen. Federbüsche zittern auf dem Wagen, den sie ziehen, und diese sowohl, als ein Häuflein von Männern mit Schärpen und Stäben locken einen Volkshaufen herbei. Der Gaukler, der auf der Degenspitze einen Teller tanzen lassen wollte, wirft seinen Mantel wieder über den schönen Anzug, der seine Kunst bezeichnet, und sein müdes Weib, das von dem schweren Bübchen auf ihrem Arme krumm geworden ist, folgt ihm nach, um den Zug herauskommen zu sehen. Sie drückt den Kleinen inniger an ihre schmutzige Brust, während die leichte Last fortgeführt wird, und das jüngste von den rosigen Kindern an dem hohen Fenster gegenüber bedarf keiner zügelnden Hand für seine Unbändigkeit, während es mit seinem Grübchenfinger niederdeutet und mit der Frage zu dem Gesicht seiner Wärterin aufblickt: »Was ist das?«

Durch den Haufen der in Trauer gekleideten Diener und der weinenden Weiber in der Halle tritt jetzt Mr. Dombey heraus und auf den andern Wagen zu, der ihn erwartet. Die Zuschauer glauben, er sei nicht niedergedrückt von Kummer und Schmerz, da er so aufrecht und steif einhergeht, wie nur je. Er verbirgt sein Gesicht hinter keinem Taschentuch, sondern schaut vor sich hin; seine Züge aber sind etwas eingesunken und starr – er sieht blaß aus, im übrigen aber ganz so wie sonst. Er nimmt Platz in dem Wagen, und drei andere Gentlemen folgen ihm. Dann bewegt sich der großartige Leichenzug langsam die Straße hinunter. Man sieht die Federbüsche noch in der Ferne nicken, während der Gaukler bereits seine Teller auf einem Stock tanzen läßt, und derselbe Volkshaufe steht bewundernd um ihn her. Aber das Weib des Gauklers ist nicht so hurtig wie sonst mit der Geldbüchse, denn die Beerdigung eines Kindes hat den Gedanken in ihr rege gemacht, der Säugling unter ihrem schäbigen Halstuch wachse vielleicht nicht zu einem Mann heran, um dann in einem himmelblauen Barett auf dem Kopf und in lackfarbigen Trikots auf der Gasse Purzelbäume zu machen.

Die Federn nicken düster die Straße entlang und kommen endlich in den Bereich der Kirchturmglocke. In derselben Kirche hatte der Knabe das erhalten, was bald allein von ihm auf Erden zurückgeblieben sein wird – einen Namen. Dort legen sie in der Nähe der verweslichen Substanz seiner Mutter den toten Leib nieder. Ihm ist wohl. Die Asche von Mutter und Sohn liegt da, wo Florence in ihren, ach, so einsamen Spaziergängen jeden Tag einen Besuch machen kann.

Die Gebete sind vorüber, und der Geistliche hat sich entfernt. Mr. Dombey sieht sich um und fragt mit gedämpfter Stimme: ob die Person da sei, an welche der Auftrag ergangen, sich zur Entgegennahme der Weisungen für Besorgung des Grabsteins einzufinden.

Ein Mann tritt vor und sagt: »Ja.«

Mr. Dombey deutet an, wo er das Monument haben will, und sternchenland.com bezeichnet an der Mauer neben dem Denkstein der Mutter die Gestalt und den Umfang. Dann holt er einen Bleistift heraus, schreibt die Inschrift auf einen Streifen Papier, gibt sie dem Arbeiter und fügt die Bemerkung bei:

»Ich wünsche, daß es schleunigst besorgt werde.«

»Ich werde mich bestens beeilen, Sir.«

»Ihr seht, es ist nichts anzubringen als der Name und das Alter.«

Der Mann verbeugt sich und wirft einen Blick auf das Papier, scheint aber jetzt Anstand zu nehmen. Mr. Dombey, der sein Zaudern nicht bemerkt, wendet sich ab und geht auf das Kirchhofportal zu.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagt der Mann, der ihm folgt und die Hand sanft auf den Ärmel seiner Trauerkleider legt; »aber da Ihr alsbaldige Besorgung wünscht und der Gegenstand unmittelbar in Angriff genommen werden soll –«

»Nun?«

»Vielleicht habt Ihr die Güte, es noch einmal zu übersehen? Ich glaube, es waltet hier ein Irrtum ob.«

»Wo?«

Der Steinmetz gibt ihm das Papier zurück und deutet mit einem Taschenlineal auf die Worte: »Geliebtes und einziges Kind«.

»Es muß wohl ›Sohn‹ heißen, glaube ich, Sir?«

»Ihr habt recht. Natürlich. Korrigiert es.«

Mit hastigeren Schritten setzte der Vater seinen Weg nach der Kutsche fort. Wie die anderen drei, welche ihm auf dem Fuße folgen, ihre Sitze einnehmen, ist sein Gesicht zum ersten Male verhüllt; er hat es in den Mantel verborgen. Auch werden sie desselben am nämlichen Tage nicht wieder ansichtig. Er steigt zuerst aus und begibt sich unverweilt nach seinem Zimmer. Die andern Leidtragenden, welche nur aus Mr. Chick und zwei von den Ärzten bestehen, verfügen sich in den Salon, wo sie von Mrs. Chick und Miß Tox empfangen werden. Wie das Gesicht in dem verschlossenen Gemache unten aussah, welche Gedanken dort weilen, wie es in dem Herzen aussah, und welcher Kampf, welche Leiden daselbst stattfanden – man weiß es nicht.

Aber so viel weiß man unten in der Küche, daß es im Haus »wie an einem Sonntag« ist. Man kann sich kaum überzeugen, daß in dem Benehmen der Leute auf der Straße, die ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nachgehen und ihren Alltagsanzug tragen, nicht etwas Unanständiges, wo nicht gar etwas Gottloses liege. Es ist etwas so Neues, daß die Blenden niedergelassen und die Läden offen sind; man tut sich unheimlich gütlich über den Weinflaschen, die herbeigebracht werden, wie an einem Festtag. Die Hausgenossenschaft ist sehr zum Moralisieren geneigt. Mr. Towlinson bringt mit einem Seufzer den Trinkspruch aus: »es möchte besser werden mit ihnen allen«; und die Köchin erwiderte darauf gleichfalls mit einem Seufzer: »Gott wisse es, daß man’s brauchen könne.« Abends greifen Mrs. Chick und Miß Tox wieder zu ihrem Strickzeug, während Mr. Towlinson, von der Hausmagd begleitet, die ihren Trauerhut sternchenland.com noch nicht probiert hat, auf einem Spaziergang ein wenig Luft schöpfen will. Sie benehmen sich an der düstern Straßenecke sehr zärtlich gegeneinander, und Towlinson ergeht sich in Gesichten, wie er ein anderes und makelloses Dasein als frommer Gemüsehändler auf dem Oxfordmarkt führen wolle.

In Mr. Dombeys Hause schläft man in dieser Nacht weit tiefer, als seit lange. Die Morgensonne erweckt den alten Haushalt, der mit einem Male wieder in die alte Weise einbiegt. Die rosigen Nachbarskinder tummeln mit Reifen umher, und nach der Kirche hin zieht eine prunkvolle Hochzeit. Das Weib des Gauklers ist in einem andern Viertel der Stadt mit der Geldbüchse sehr rührig, und der Steinmetz meißelt singend und pfeifend die Buchstaben PAUL in die vor ihm liegende Marmorplatte ein.

Und ist es möglich, daß in einer so vollen, so rührigen Welt der Verlust eines einzigen so schwachen Lebens in irgendeinem Herzen eine Leere zurücklassen konnte, weit und tief genug, daß nichts als die Weite und Tiefe einer endlosen Ewigkeit es ausfüllen kann! Florence in ihrem unschuldigen Schmerz hätte vielleicht geantwortet: »O mein Bruder, o mein heißgeliebter, mein liebevoller Bruder! Einziger Freund und Gefährte meiner verachteten Kindheit! Könnte nur irgendeine kleinere Idee das Licht ausgießen, das schon über deinem frühen Grabe dämmert, oder den Schmerz mildern, der unter diesem Tränenregen ins Leben tritt!«

»Mein liebes Kind«, sagte Mrs. Chick, die es für ihre Pflicht hielt, die sich darbietende Gelegenheit zu benützen, »wenn du so alt bist, wie ich, –«

»Das heißt, in der eigentlichen Blüte des Lebens stehend«, bemerkte Miß Tox.

»So wirst du erfahren haben«, fuhr Mrs. Chick fort, indem sie in Anerkennung der freundlichen Bemerkung Miß Tox die Hand drückte, »daß der Gram zu nichts führt, und daß es unsere Pflicht ist, sich voll Ergebung in alles zu finden.«

»Ich will es versuchen, liebe Tante. Ich will es versuchen«, antwortete Florence schluchzend.

»Freut mich, dies zu hören«, sagte Mrs. Chick; »denn, meine Liebe, unsere gute Miß Tox, über deren gesundes Gefühl und über deren treffliches Urteil unmöglich eine geteilte Ansicht bestehen kann –«

»Meine teure Luisa, Ihr werdet mich nächstens stolz machen«, flocht Miß Tox ein.

»– wird dir gleichfalls sagen und aus ihrer Erfahrung bestätigen«, fuhr Mrs. Chick fort, »daß wir dazu berufen sind, bei allen Gelegenheiten eine Anstrengung zu machen. Dies liegt uns ob. Wenn irgendein – meine Liebe«, sich an Miß Tox wendend, »ich brauche ein Wort – Miß –, Miß –«

»Mißverhalten!« ergänzte Miß Tox.

»Nein, nein, nein«, sagte Mr«. Chick. »Wie könnt Ihr auch! Du, mein Himmel, es liegt mir auf der Zungenspitze. Miß –« sternchenland.com »Mißverstand?« deutete Miß Tox schüchtern an.

»Ach, gütiger Gott, Lukretia!« erwiderte Mrs. Chick, »wie ganz ungeheuer! Misanthrop heißt das Wort, das ich brauche. Die Idee! Mißverstand! Ich sage, wenn ein Misanthrop in meiner Gegenwart die Frage stellen wollte: ›Warum sind wir geboren?‹ so würde ich antworten: ›Um Anstrengungen zu machen‹.«

»In der Tat sehr gut«, sagte Miß Tox, durch die Originalität dieser Ansicht höchlich erbaut. »Sehr gut!«

»Leider«, fuhr Mrs. Chick fort, »schwebt unseren Blicken stets ein warnendes Beispiel vor. Wir haben nur zu viel Grund zur Annahme, mein liebes Kind, daß dieser Familie, wenn zu rechter Zeit eine Anstrengung gemacht worden, eine Kette der betrübendsten und bedauerlichsten Umstände erspart geblieben wäre. Nichts wird mich je von dem Gegenteil überzeugen«, bemerkte die gute Matrone mit entschlossener Miene, »daß nicht das liebe arme Herzenskind wenigstens eine kräftigere Konstitution gehabt hätte, wenn die gute selige Fanny diese Anstrengung gemacht hätte.«

Mrs. Chick gab sich einen Moment ganz ihren Gefühlen hin, unterbrach sich aber plötzlich, um eine praktische Illustration ihrer Doktrin zu geben, mitten in einem tiefen Seufzer und fuhr fort:

»Deshalb zeige uns, Florence, daß du einige geistige Kraft besitzest und nicht selbstsüchtig den Kummer noch schwerer machst, unter welchem dein armer Papa fast erliegt.«

»Teure Tante«, sagte Florence, indem sie hastig vor ihr niederkniete, um desto besser und angelegentlicher aufblicken zu können. »Erzählt mir mehr von Papa. Ich bitte, sprecht mit mir von ihm! Ist er ganz trostlos?«

Miß Tox besaß ein sehr zartes Gemüt, und es lag in diesem Ausruf etwas, was sie sehr ergriff. Sah sie vielleicht an dem vernachlässigten Kinde eine Folge des innigen Leides, das der tote Bruder so oft ausgedrückt hatte, – erkannte sie darin eine Liebe, welche sich an das Herz anzuschmiegen suchte, das ihn geliebt hatte, und das es nicht zu ertragen vermochte, von der wehmütigen Gemeinschaft der Liebe und des Schmerzes ausgeschlossen zu sein, – oder bemerkte sie nur die anspruchslose Innigkeit eines Geistes, der, obgleich vernachlässigt und zurückgewiesen, erfüllt war mit lange unerwiderter Zärtlichkeit, in der einsamen Öde ihrer Verwaisung aufrufend zu dem Vater, um bei ihm auch nur durch eine kleine Annäherung Trost zu suchen und ihm Trost zu geben, – was auch Miß Tox dabei denken mochte, genug, sie fühlte sich ergriffen. Für den Augenblick vergaß sie ganz die Majestät von Mrs. Chick, streichelte hastig Florences Wangen, wandte sich zur Seite und ließ ihren Tränen freien Lauf, ohne damit erst auf den Vorgang der weisen Matrone zu warten.

Mrs. Chick selbst verlor für einen Moment die Geistesgegenwart, auf die sie sich so viel zu gut tat, und blickte stumm auf das Gesicht nieder, das so lang, so stetig und so geduldig dem kleinen Wesen zugekehrt gewesen. Sobald sie jedoch ihre Stimme, was bei sternchenland.com ihr gleichbedeutend und überhaupt identisch mit Geistesgegenwart war, wiedergewonnen hatte, versetzte, sie mit Würde:

»Florence, mein liebes Kind, dein armer Papa ist zuweilen sonderbar, und wenn du mich über ihn fragst, so gilt deine Frage einem Gegenstand, den zu begreifen in der Tat ich mir nicht anmaßen will. Ich glaube, ich habe auf deinen Papa so viel Einfluß, wie nur irgend jemand, und dennoch kann ich weiter nichts sagen, als daß er sich nur sehr kurz gegen mich ausgesprochen hat. Ich bekam ihn kaum ein- oder zweimal für eine Minute zu Gesicht, und kann auch da nicht einmal sagen, daß ich ihn gesehen habe, weil sein Zimmer verdunkelt war. Ich habe deinem Papa bemerkt: ›Paul‹ – dies ist genau der Ausdruck, den ich gebrauchte – ›Paul, warum nimmst du nicht etwas Stimulierendes?‹ und dein Papa antwortete mir stets: ›Luisa, hab die Güte, mich zu verlassen. Ich brauche nichts und fühle mich besser, wenn ich allein bin.‹ Wenn ich morgen von einem Friedensrichter darauf beeidigt werden sollte, Lukretia«, fügte Mrs. Chick bei, »so zweifle ich nicht, daß ich auf die Identität dieser Worte schwören könnte.«

Miß Tox drückte ihre Bewunderung durch die Bemerkung aus: »Meine Luisa ist stets methodisch.«

»Kurz, Florence«, fuhr Mrs. Chick fort, »bis heute ist buchstäblich nichts zwischen deinem armen Papa und mir vorgegangen. Erst als ich deinem Papa mitteilte, Sir Barnet und Lady Skettles haben ungemein wohlwollende Briefe geschickt – ach, unser süßer Knabe! Lady Skettles liebte ihn wie ein – – wo ist mein Taschentuch?«

Miß Tox brachte das Gewünschte herbei.

»Ungemein freundliche Briefe mit dem Vorschlag, du sollest sie besuchen um der Luftveränderung willen. Als ich deinem Papa sagte: ich meine, Miß Tox und ich könnten nun nach Hause gehen – worin er vollkommen mit mir einverstanden war –, fragte ich, ob er etwas gegen eine Annahme dieser Einladung von deiner Seite einzuwenden habe. Er sagte: ›Nein, Luisa, durchaus nichts‹.«

Florence schlug die tränenvollen Augen auf.

»Wenn du es aber gleichwohl vorziehen würdest, hier zu bleiben – wenn du weder vorderhand diesen Besuch machen, noch zu mir in mein Haus kommen willst – –«

»O, ich will lieber hier bleiben, Tante«, lautete die tonlose Antwort.

»Nun, das kannst du auch, mein Kind«, sagte Mrs. Chick. »Ich muß zwar gestehen, daß mir die Wahl befremdlich vorkommt: aber du bist immer sonderbar gewesen. Man sollte glauben, jede andere Person deines Alters würde nach dem, was vorgegangen ist – meine liebe Miß Tox, ich habe schon wieder mein Taschentuch verloren, – froh sein, wenn sie von hier fortkommen könnte.«

»Es fiele mir schwer, wenn ich denken sollte, daß ich das Haus meiden müsse«, versetzte Florence. »Die Vorstellung käme mir bitter vor, daß die – seine – die Stube oben ganz leer und traurig sei, sternchenland.com Tante. Und so will ich lieber vorderhand hier bleiben. O mein Bruder! o mein Bruder!«

Diese natürliche Erregung ließ sich nicht unterdrücken und brach sich sogar durch die Finger der Hände, mit denen sie ihr Antlitz bedeckte, Bahn. Die übervolle Brust muß sich bisweilen in solcher Weise Luft machen, wenn das arme, verwundete, einsame Herz im Innern nicht flattern soll, wie ein Vogel mit durchschossenem Flügel, der bald in den Staub niedersinkt.

»Schon gut, mein Kind«, sagte Mrs. Chick nach einer Pause. »Ich möchte dir um alles in der Welt nichts Unliebes sagen und bin auch überzeugt, daß du dies selbst weißt. So bleib denn hier und tu, was dir gefällt. Sicherlich wird dich niemand belästigen oder überhaupt nur den Wunsch dazu hegen, Florence.«

Florence nickte in wehmütiger Zustimmung mit dem Kopf.

»Ich habe dem Papa geraten, er solle in einer Luftveränderung Zerstreuung und neue Kraft suchen«, bemerkte Mrs. Chick, »worauf er mir erwiderte, er habe sich bereits vorgenommen, eine Zeitlang aufs Land zu gehen. Ich hoffe, er wird seinen Entschluß bald ausführen, denn er kann nicht zu sehr damit eilen. Ich denke übrigens, er hat infolge des Leidens, das uns alle so sehr heimsuchte, manches in seinen Privatpapieren und dergleichen zu ordnen – ich kann mir nicht denken, was aus meinem Taschentuch geworden ist, meine liebe Lukretia, leiht mir das Eure – und dies wird ihn für einen oder zwei Abende auf seinem Zimmer festhalten. Wenn es je einen Dombey gab, mein Kind, so ist dein Papa einer«, fügte Mrs. Chick bei, indem sie mit großer Sorgfalt ihre beiden Augen mit den entgegengesetzten Enden von Miß Toxs Taschentuch trocknete. »Er wird eine Anstrengung machen, und wir brauchen also für ihn nichts zu fürchten.«

»Kann ich nichts für ihn tun, Tante?« fragte Florence zitternd.

»Himmel, mein liebes Kind«, fiel ihr Mrs. Chick hastig ins Wort, »was sprichst du? Wenn dein Papa zu mir sagte – ich habe genau seine Worte angeführt: ›Luisa, ich brauche nichts, ich bin am liebsten allein‹ – was glaubst du wohl, daß er zu dir sagen werde? Du mußt dich vor ihm gar nicht blicken lassen, Kind. Laß dir ja nichts derart einfallen.«

»Tante«, sagte Florence, »ich will gehen und mich zu Bett legen.«

Mrs. Chick lobte diesen Entschluß und entließ sie mit einem Kuß; aber Miß Tox folgte dem Mädchen unter dem Vorwand, das verlegte Taschentuch zu suchen, die Treppe hinauf und bemühte sich in einigen verstohlenen Minuten, sie zu ermutigen, ohne auf die finstere Miene von Susanna Nipper zu achten. Miß Nipper hielt nämlich in ihrem glühenden Eifer Miß Tox für ein Krokodil; aber gleichwohl schien die Teilnahme der letzteren echt zu sein, da sie wenigstens den Vorteil der Uneigennützigkeit für sich hatte, sintemal damit wenig Gunst zu gewinnen war.

Und war niemand da, der ihr näher stand oder lieber war, als Susanna, um das ringende Herz in seinem Weh aufzurichten? sternchenland.com Konnte sie sich nicht an einen andern Hals anklammern, keinem andern Gesicht zuwenden, bei niemanden sonst Trost suchen in ihrem herben Schmerz? Stand Florence so ganz allein, daß in der frostigen Welt ihr sonst nichts übrig blieb? Nichts. Jetzt der Mutter und des Bruders beraubt – denn in dem Verlust des kleinen Paul trat ihr wieder jener erste und größte schwer vors Herz – hatte sie nur noch diese einzige Helferin; und wer kann sagen, wie sehr sie jetzt der Hilfe bedurfte!

Nachdem das Hauswesen wieder seinen gewohnten Gang eingeschlagen und mit Ausnahme des Gesindes alles sich entfernt hatte, konnte Florence, da sich ihr Vater in seinen eigenen Gemächern einschloß, nichts tun, als weinen und umherwandern. Im plötzlichen Schmerzgefühl bitterer Erinnerung pflegte sie dann hin und wieder in ihr Zimmer hinaufzueilen, wo sie die Hände rang, ihr Gesicht auf das Bett legte und keines Trostes sich erfreuen durfte in ihrem herben, herben Schmerz. Dies geschah gemeiniglich dann, wenn irgendein Ort oder ein Gegenstand besonders zärtliche Erinnerungen an den Verstorbenen geweckt hatte; und das Haus wurde ihr dadurch anfangs zu einem wahren Folterplatz.

Es liegt jedoch nicht in der Natur einer reinen Liebe, lange so ungestüm und verzehrend zu lodern. Die Flamme, die in ihrer gröberen Zusammensetzung den Charakter der Erde trägt, kann wohl die Brust verzehren, in der sie sich birgt: aber das heilige Feuer vom Himmel zuckt so mild im Herzen, wie es einst auf den Häuptern der versammelten Zwölf ruhte, die von den Umstehenden mit der hehren Leuchte geziert gesehen wurden, ohne daß sie Schaden davon nahmen. Das heraufbeschworene Bild gewann bald wieder das ruhige Antlitz, die sanfte Stimme, den liebenden Blick und den ruhigen Frieden der Zuversicht; Florence weinte zwar noch, aber ihre Tränen wirkten beschwichtigend, und sie fühlte sich glücklicher in der Erinnerung.

Es dauerte nicht sehr lange, bis das goldene Wasser, welches an dem alten Platz und in der alten heiteren Weise tanzte, in seinem Fortebben ihre Augen fesselte. Das Gemach wurde ihr wieder traulicher; denn wie oft hatte sie allein dagesessen und geduldig und milde an der Seite des kleinen Bettchens gewacht. Kam ihr dann der bittere Gedanke, daß es jetzt leer sei, so kniete sie wie sonst neben dem Lager nieder und betete aus voller Seele zu Gott, er möchte nur einem einzigen Engel gestatten, sie zu lieben und ihrer eingedenk zu sein.

Bald erscholl in Mitte des weiten, traurigen, unheimlichen Hauses ihre gedämpfte Stimme wieder, und im Zwielicht sang sie, langsam und oft sich unterbrechend, die alte Weise, auf die er so oft gelauscht hatte, während sein müdes Köpfchen auf ihrem Arm ruhte. Und wenn es dann ganz dunkel war, erzitterten melodische Akkorde im Zimmer – so weich gespielt und gesungen, daß sie sich mehr wie die traurige Erinnerung dessen ausnahmen, was sie am letzten Abend auf sein Geheiß getan hatte, als wie eine wiederholte Wirklichkeit. Die Wiederholung aber geschah oft, sehr oft in der schattigen Einsamkeit, sternchenland.com und die Tasten zitterten noch nach, wenn auch die süße Stimme in Tränen erstickt war.

So gewann sie auch den Mut, auf die Arbeit zu blicken, mit welcher ihre Finger neben ihm am Seeufer beschäftigt gewesen, und es dauerte nicht lange, bis sie dieselbe wieder aufnahm – mit einer Art Liebe dazu, als liege auch Gefühl in dem leblosen Material, wie wenn es den hingeschiedenen Bruder gleichfalls gekannt hätte. Sie setzte sich dabei in der Nähe des Bildes ihrer Mutter an ein Fenster, und so entschwanden ihr in dem ungebrauchten, so lange verödeten Gemach die gedankenvollen Stunden.

Warum wandten sich die dunklen Augen so oft von dieser Arbeit ab, nach der Seite hin, wo die rosigen Kinder wohnten? Sie konnten sie nicht unmittelbar an ihren Verlust erinnern, denn es waren lauter Mädchen – vier kleine Schwestern; aber sie waren mutterlos, wie sie selbst – und hatten einen Vater.

Man konnte leicht merken, wann dieser ausgegangen war und zu Haus erwartet wurde; denn das ältere Kind sah stets von den Fenstern des Salons oder von dem Balkon nach ihm aus; und wenn er erschien, strahlten ihre sehnsuchtsvollen Augen vor Freude, während die andern, die gleichfalls an den hohen Fenstern auf der Lauer lagen, in ihre Hände klatschten, auf den Sims trommelten und ihm zuriefen. Das älteste Mädchen kam dann in die Halle herunter, streckte ihm die Händchen entgegen und führte ihn die Treppe hinauf. Florence sah sie später an seiner Seite sitzen, auf seinem Knie sich tummeln oder in liebevoller Umarmung seines Halses mit ihm plaudern. Zwar waren sie immer heiter zusammen, aber doch kam es ihr oft vor, als betrachte er ihr Gesicht, wie wenn er sich ihrer hingeschiedenen Mutter erinnere. Wenn Florence Zeuge von solchen Szenen war, verbarg sie sich bisweilen unter hervorquellenden Tränen hinter dem Vorhang oder eilte vom Fenster weg, konnte aber nicht umhin, wieder zurückzukehren, und ihre Arbeit entsank dann unbeachtet ihren Händen.

Dieses Haus hatte vor Jahren leer gestanden und war lange unbewohnt geblieben. Endlich wurde es während Florences Abwesenheit von dieser Familie bezogen, ausgebessert und neu angestrichen. Man sah in den Fenstern Vögel und Blumen, so daß es ganz anders aussah, wie vor alters. Aber Florence dachte nie an das Haus – die Kinder und ihr Vater waren ihr alles in allem.

Nach dem Mittagsmahl konnte sie durch die offenen Fenster sehen, wie die kleinen Mädchen mit ihrer Gouvernante oder Wärterin hinuntergingen und sich um den Tisch sammelten. Bei schönem Sommerwetter drang der Ton ihrer kindlichen Stimmen und ihr klares Lachen über die Straße hinüber bis in die schwüle Luft des Zimmers, in welchem sie saß. Dann kletterten sie wieder dem Vater nach, zerrten ihn auf dem Sofa herum oder setzten sich auf seine Knie – ein wahrer Blumenstrauß von kleinen Gesichtern, während er ihnen ein Märchen zu erzählen schien; oder sie eilten auch auf den Balkon hinauf, und dann pflegte sich Florence hastig sternchenland.com zu verbergen, damit ihre Freude nicht gestört werde, wenn die Kleinen sie so einsam und in ihrem schwarzen Kleide dasitzen sahen. Hatten sich die jüngeren entfernt, so blieb das ältere Töchterchen bei dem Vater, um ihm den Tee zu machen – die glückliche kleine Haushälterin! – Dann plauderte sie mit ihm zuweilen unter dem Fenster, zuweilen im Zimmer, bis die Lichter kamen. Er machte sie zu seiner Gefährtin, obschon sie einige Jahre jünger war als Florence, und sie konnte mit ihrem kleinen Buch oder ihrem Strickkörbchen so gesetzt sein wie eine Frau. Wenn die Lichter brannten, scheute sich Florence nicht mehr, aus ihrem dunkeln Zimmer hinüberzuschauen; sobald aber die Zeit kam, in welcher das Kind vor dem Schlafengehen: »Gute Nacht, Papa!« sagte, konnte Florence nicht mehr hinsehen; sie schluchzte und zitterte, wenn die Kleine ihr Antlitz zu ihm erhob. Dennoch kehrte sie, ehe sie selbst schlafen ging, von der einfachen Arie, die Paul so oft in Schlummer gelullt, und von den bebenden Tönen ihres Pianos wieder und wieder zu diesem Hause zurück. Was sie aber davon dachte, was sie daselbst beobachtete – dies war ein Geheimnis, das sie tief in ihrer jugendlichen Brust bewahrte.

Und barg nicht die Brust Florences, dieses edlen Mädchens, das so würdig der Liebe war, die er zu ihr gehegt und mit seinen letzten sterbenden Lauten ihr ins Ohr geflüstert hatte – deren schuldloses Herz sich spiegelte in der Schönheit ihres Antlitzes und in jedem Akzent ihrer sanften Stimme atmete – barg diese Brust nicht noch ein anderes Geheimnis? Ja. Noch eines.

Wenn niemand im Hause mehr auf und das Licht überall gelöscht war, pflegte sie leise ihr Zimmer zu verlassen, mit lautlosen Tritten die Treppen hinunterzugehen und sich der Tür ihres Vaters zu nähern. Kaum atmend lehnte sie ihr Gesicht daran und küßte sie in der Sehnsucht ihrer Liebe. Sie kauerte sich jede Nacht auf dem kalten Steinpflaster vor derselben nieder, um nur seine Atemzüge zu hören, und in ihrem alles verzehrenden Wunsche, ihm nur einige Liebe erzeigen, ihn trösten und durch ihre Innigkeit einiges Gefühl für sie wecken zu können, wäre sie gerne in demütiger Bitte vor ihm auf die Knie niedergesunken; aber sie konnte sich nicht so weit ermutigen.

Niemand wußte davon und niemand wäre je auf diesen Gedanken gekommen. Die Tür war stets zu, und er hatte sie von innen abgeschlossen. Ein- oder zweimal ging er aus, und unter dem Gesinde sagte man sich, er werde bald seine Reise aufs Land antreten; aber er bewohnte einsam seine Zimmer, sah sie nie und fragte auch nicht nach ihr. Vielleicht wußte er nicht einmal, daß sie im Hause war.

Eines Tages, ungefähr eine Woche nach der Beerdigung, saß Florence eben bei ihrer Arbeit, als Susanna mit einem halb lachenden, halb weinerlichen Gesicht eintrat, um einen Besuch anzumelden.

»Ein Besuch? Und er sollte mir gelten?« sagte Florence, erstaunt aufblickend.

»Ja; und ist es nicht ein eigentliches Wunder, Miß Floy?« versetzte sternchenland.com Susanna. »Wollte Gott, Ihr hättet viele Besuche; denn es würde Euch weit besser dabei, und das ist meine Ansicht, daß wir beide recht wohl daran tun würden, wenn Ihr und ich auch nur zu den alten Skettlesen gingen, Miß. Ich bin zwar keine Freundin davon, unter einem großen Haufen zu leben, Miß Floy; aber dennoch bin ich keine Auster.«

Um Miß Nipper Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müssen wir sagen, daß sie mehr im Interesse ihrer kleinen Gebieterin als für sich selbst sprach, und aus ihrem Gesicht war dies deutlich zu entnehmen.

»Aber der Besuch, Susanna?« bemerkte jetzt Florence.

Mit einem hysterischen Losbrechen, das ebensoviel von einem Gelächter als vom Schluchzen, und soviel vom Schluchzen als von einem Gelächter hatte, antwortete Susanna:

»Mr. Toots!«

Das Lächeln, das für einen Augenblick auf Florences Antlitz aufgetaucht war, entschwand wieder, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Jedenfalls aber war ein Lächeln dagewesen, und dies gereichte Miß Nipper zu großer Befriedigung.

»Ganz meine eigenen Gefühle«, sagte Susanna, die Schürze vor ihre Augen bringend und den Kopf schüttelnd. »Sobald ich diesen Unschuldigen in der Halle sah, brach ich anfangs in ein Lachen aus, und dann ist mir’s in der Kehle stecken geblieben.«

Susanna Nipper wiederholte unwillkürlich und unverweilt denselben Prozeß. Inzwischen war Mr. Toots ohne eine Ahnung von dem Eindruck, den er hervorgebracht hatte, die Treppe heraufgekommen, hatte sich mit den Fingerknöcheln an der Tür selbst angekündigt und trat nun sehr rasch ein.

»Wie befindet Ihr Euch, Miß Dombey?« begann Mr. Toots. »Ich bin sehr wohl, danke Euch – aber wie geht es Euch?«

Es gab wenige bessere Burschen in der Welt, als Mr. Toots, obschon sich hin und wieder ein gescheidterer finden mochte, und er hatte diesen langen Ausbruch von Beredsamkeit in der Absicht erfunden, sowohl seine eigenen als die Gefühle von Florence zu erleichtern. Da er jedoch die Entdeckung machen mußte, er habe sein ganzes Eigentum sozusagen in unvorsichtiger Weise aufgebraucht, indem er das Ganze verausgabte, noch ehe er einen Stuhl genommen, oder bevor Florence ein Wort gesprochen hatte – ja, sogar ehe er noch recht zur Türe hereingekommen war – dünkte es ihm rätlich, wieder von vorn anzufangen.

»Wie befindet Ihr Euch, Miß Dombey?« sagte Mr. Toots. »Ich, bin sehr wohl, danke Euch; wie geht es Euch?«

Florence reichte ihm die Hand und erwiderte darauf, daß sie sich sehr wohl befinde.

»Ich mich auch«, sagte Mr. Toots, indem er einen Stuhl nahm. »In der Tat sehr wohl. Kann mich nicht erinnern«, fügte er nach einem kurzen Besinnen bei, »daß ich mich je besser befunden hätte: danke Euch.«

»Es ist sehr freundlich von Euch, daß Ihr kommt, mich zu besuchen«, sagte Florence, ihre Arbeit aufnehmend. »Ich freue mich, Euch zu sehen.«

Mr. Toots antwortete mit einem Kichern, und als ihm dabei der Gedanke kam, diese Äußerung möchte zu lebhaft gewesen sein, verbesserte er sie mit einem Seufzer. Da ihm jedoch dieser zu melancholisch deuchte, so korrigierte er ihn wieder mit einem Kichern; und keineswegs zufrieden sowohl über die eine als die andere Art der Antwort, atmete er schwer auf.

»Mein lieber Bruder hat Euch sehr gern gehabt«, sagte Florence, einem natürlichen Gefühl folgend, um seine Unbehaglichkeit einigermaßen zu bannen. »Er erzählte mir oft von Euch.«

»O, hievon ist gar nicht die Rede«, bemerkte Mr. Toots hastig. – »warm – nicht wahr?«

»Es ist schön Wetter«, versetzte Florence.

»Namentlich mir sagt es sehr zu«, meinte Mr. Toots. »Ich glaube, es ist mir in meinem Leben nie so wohl gewesen, wie gegenwärtig; danke Euch schönstens.«

Nach Berührung dieser denkwürdigen und unerwarteten Tatsache versank Mr. Toots in einen tiefen Abgrund des Schweigens.

»Ich glaube, Ihr seid nicht mehr bei Doktor Blimber?« fragte Florence in der Absicht, ihm durchzuhelfen.

»Will’s meinen«, entgegnete Mr. Toots und purzelte wieder in die vorige Tiefe. Auf dem Boden derselben blieb er auch, augenscheinlich ganz ertränkt, wenigstens zehn Minuten lang. Nach Ablauf dieser Periode wurde er plötzlich wieder flott und sagte:

»Na, guten Morgen, Miß Dombey.«

»Wollt Ihr schon wieder gehen?« fragte Florence, von ihrem Sitz aufstehend.

»Ich weiß wahrhaftig nicht. Nein, nicht eben jetzt«, entgegnete Mr. Toots, indem er höchst unerwartet wieder Platz nahm. »Es handelt sich davon – ich meine, Miß Dombey –«

»Sprecht Euch unverhohlen gegen mich aus«, entgegnete Florence mit ruhigem Lächeln. »Es wäre mir sehr lieb, wenn Ihr von meinem Bruder mit mir reden wolltet.«

»Wirklich?« erwiderte Mr. Toots, und jede Linie seines sonst ausdruckslosen Gesichts zuckte in lebhafter Teilnahme. »Der arme Dombey! Ich hätte in der Tat nicht gedacht, daß Burgeß & Komp. – fashionable Schneider, aber sehr teuer, von denen wir oft zu sprechen pflegten – mir für einen solchen Anlaß dieses Kleid machen würden.« Mr. Toots trug einen Traueranzug. »Der arme Dombey! Jawohl, Miß Dombey!« heulte Toots.

»Ja!« versetzte Florence.

»Es gibt einen Freund, für den er sich in letzter Zeit sehr interessierte, und ich meinte, Ihr möchtet ihn als eine Art Andenken vielleicht gern besitzen. Ihr erinnert Euch, daß er noch von Diogenes sprach.«

»O ja! o ja!« rief Florence.

»Der arme Dombey – jawohl«, sagte Mr. Toots.

Als Mr. Toots Florence in Tränen schwimmen sah, hatte er große Not, über diesen Punkt wegzukommen, und wäre ums Haar wieder in den Abgrund hinuntergepurzelt; aber ein Kichern rettete ihn noch am Rande.

»So hört, Miß Dombey«, fuhr er fort. »Ich hätte ihn für zehn Schillinge stehlen lassen können, wenn man ihn nicht hergegeben hätte. Und so würde ich’s auch gehalten haben; aber ich glaube, man ist froh gewesen, ihn loszuwerden. Wenn Ihr ihn haben wollt, er ist an der Tür. Ich brachte ihn absichtlich für Euch mit. Freilich, Ihr wißt, er ist kein Damenhund«, fügte Mr. Toots bei; »aber ich denke, Ihr werdet Euch hieran nicht kehren.«

Wie man sich alsbald durch den Augenschein überzeugen konnte, wenn man in die Straße hinuntersah, glotzte Diogenes in demselben Augenblick durch das Fenster einer Kutsche heraus, in die man ihn zum Zweck der Beförderung nach London unter dem falschen Vorwand, es seien Ratten unter dem Stroh, verlockt hatte. Wenn man die Wahrheit sagen will, so sah er einem Damenhund so wenig ähnlich, als dies überhaupt bei einem Hund möglich war. Auch erwies er sich sehr ungehalten über seine Haft und nahm sich dabei gar nicht lieblich aus, denn er kläffte durch die eine Seite seines Rachens heraus, überschlug sich bei jeder von seinen vergeblichen Anstrengungen, um in das Stroh niederzupurzeln, und sprang dann wieder keuchend empor, wobei er die Zunge herausstreckte, als sei er expreß in eine Klinik gekommen, um daselbst seine Gesundheit untersuchen zu lassen.

Diogenes war ein so lächerlicher Hund, wie man nur immer einen an einem Sommertag treffen kann – ein belferndes, bösartiges, plumpes, stierköpfiges Tier, das sich unaufhörlich mit der irrtümlichen Idee trug, es befinde sich ein Feind in der Nachbarschaft, den anzubellen verdienstlich sei. Aber trotz dieser üblen Eigenschaften und des Umstandes, daß seine Augen ganz von Haaren beschattet waren, und er nicht nur eine ganz ungewöhnliche Nase, sondern auch einen sehr widerspenstigen Schwanz und eine unangenehme Stimme hatte, wurde er infolge jener letzten Mahnung dessen, der gebeten hatte, man möchte Sorge für ihn tragen, unserm Mädchen doch teurer, als das wertvollste und schönste Tier seiner Art. Ja, derselbe häßliche Diogenes war ihr so willkommen, daß sie Mr. Toots‘ beringte Hand ergriff und sie in ihrer Dankbarkeit küßte.

Endlich wurde Diogenes losgelassen. Es kostete anfangs keine geringe Mühe, ihn aus der Kutsche herauszubringen; aber jetzt kam er polternd die Treppe herauf, schoß, eine lange eiserne Kette nachschleppend, die ihm vom Halse herunterhing, unter das Möbelwerk des Zimmers, wobei er sich mit seinem Anhängsel an den Tisch- und Stuhlfüßen verfing, und zerrte so sehr daran, bis seine Augen infolge ihres Hervorquellens aus dem Kopfe natürlich sichtbar wurden. Mr. Toots, der Vertraulichkeit gegen ihn äußerte, wurde von ihm angeknurrt, und dann ging’s wild auf Towlinson los, von dem er sternchenland.com moralisch überzeugt war, dies sei der Feind, den er sein ganzes Leben um die Ecke herum angebellt und gleichwohl noch nie zuvor gesehen hatte. Aber dennoch hatte Florence eine so große Freude an ihm, als wäre er ein wahres Wunder von einem herzigen Hund gewesen.

Mr. Toots fühlte sich überglücklich bei dem Eindruck, den sein Geschenk gemacht hatte, und war ganz entzückt, als er sah, daß Florence sich zu Diogenes niederbeugte und mit ihrer zarten, kleinen Hand seinen rauhen Rücken streichelte – eine Liebkosung, die sich Diogenes vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an in Gnaden gefallen ließ. In seiner Verzückung fand es der junge Gentleman schwer, zu einer Verabschiedung zu kommen, und würde ohne Zweifel noch viel länger unschlüssig dageblieben sein, wenn er nicht von Diogenes selbst unterstützt worden wäre, der sich’s plötzlich in den Kopf setzte, Mr. Toots anzubellen und ihn mit offenem Rachen zu umwandeln. Da er nicht sah, wie zuletzt diese Demonstrationen enden mochten, und den Pantalons, die er der Kunst von Burgeß & Komp. verdankte, große Gefahr zu drohen schien, so huschte er zuletzt unter Kichern zur Tür hinaus, durch welche er allerdings noch zwei- oder dreimal ohne irgendeinen besonderen Zweck wieder hereinsah. Weil aber bei jeder solchen Gelegenheit Diogenes ihn mit einem neuen Sturm begrüßte, so gewann er es endlich über sich, völlig abzuziehen.

»So komm denn, Di! Lieber Di! schließe Freundschaft mit deiner neuen Gebieterin. Laß uns einander lieben, Di!« sagte Florence, indem sie seinen zottigen Kopf streichelte.

Und der rauhe, bissige Di, als fühlte er durch seine haarige Haut die Träne, die darauf niederträufelte, und als schmölze sein Hundeherz darüber, legte seine Nase an ihr Gesicht und schwur ihr Treue.

Diogenes, der Mensch, redete nicht deutlicher zu Alexander dem Großen, als Diogenes, der Hund, zu Florence sprach. Er nahm das Erbieten seiner kleinen Herrin mit Freuden auf und widmete sich ihrem Dienste. Sofort wurde in einer Ecke für ihn eine Bank besorgt, und nachdem er sich gehörig an Speis und Trank erlabt hatte, begab er sich nach dem Fenster, wo Florence saß; er schaute zu ihr auf, erhob sich auf seine Hinterbeine, legte seine täppischen Vorderpfoten auf ihre Schulter, leckte ihr Gesicht und Hände, schmiegte seinen dicken Kopf an ihr Herz und wedelte mit dem Schwanze, bis er müde war. Endlich kauerte er sich zu ihren Füßen nieder und fing an zu schlafen.

Zwar war Miß Nipper in Beziehung auf Hunde sehr furchtsam, sintemal sie es für nötig hielt, nur mit sorgfältig aufgehobenen Rockschößen, als sollte sie vermittels einiger Trittsteine über einen Bach setzen, ins Zimmer zu kommen; auch stieß sie manchen kleinen Schrei aus und sprang auf Stühle, so oft Diogenes sich streckte; aber gleichwohl war sie in ihrer eigenen Weise von Mr. Toots‘ wohlwollender Gesinnung gerührt und konnte von der Anhänglichkeit und Gesellschaft dieses rauhen Freundes des kleinen Paul unmöglich Zeuge sein, sternchenland.com sternchenland.com ohne dadurch auf geistige Betrachtungen geführt zu werden, die ihr das Wasser in die Augen brachten. Wenn sie ihrem Gedankengange folgte, sah sie sich genötigt, Mr. Dombey mit dem Hund in Verbindung zu bringen; denn nachdem sie den ganzen Abend Diogenes und seine Gebieterin beobachtet, auch mit herzlich gutem Willen ihr Äußerstes getan hatte, in dem Vorzimmer für den Hund ein ordentliches Bett zu bereiten, sagte sie noch hastig, ehe sie sich für die Nacht verabschiedete, zu Florence:

»Morgen früh reist Euer Pa ab, Miß Floy.«

»Morgen früh, Susanna?«

»Ja, Miß; so lautet der Befehl, den er gegeben hat. Mit dem frühesten.«

»Wißt Ihr, wohin Papa geht, Susanna?« fragte Florence, ohne zu ihr aufzublicken.

»Nicht mit Bestimmtheit, Miß. Zuerst will er mit jenem merkwürdigen Major zusammentreffen, und ich muß sagen, wenn ich mit was immer für einem Major bekannt wäre – was der Himmel verhüten möge – so dürfte es wenigstens kein blauer sein.«

»Bst, Susanna!« verwies ihr Florence mit Sanftmut.

»Nun ja, Miß Floy«, entgegnete Miß Nipper voll glühender Entrüstung und sogar weniger als gewöhnlich ihrer Komma-Pausen eingedenk. »Was kann ich dafür? Blau ist er, und solange ich – wenn auch nur eine geringe Christin bin, müßte ich entweder Freunde von natürlicher Farbe haben, oder gar keine.«

Aus dem, was sie noch hinzufügte und vom Hörensagen in der Gesindestube aufgegriffen hatte, schien hervorzugehen, daß es ein Werk von Mrs. Chick gewesen war, den Major als Mr. Dombeys Gesellschafter vorzuschlagen – ein Antrag, auf den Mr. Dombey nach einigem Zögern so weit einging, daß er an den besagten Gentleman eine Einladung erließ.

»Von ihm als von einem Wechsel zu sprechen – jawohl!« bemerkte Miß Nipper vor sich hin mit grenzenloser Verachtung, »Wenn dieser ein Wechsel ist, so will ich’s mit dem Bestand halten.«

»Gute Nacht, Susanna«, sagte Florence.

»Gute Nacht, meine liebe, teure Miß Floy.«

Der mitleidige Ton ihrer Stimme ergriff lebhaft die so oft rauh berührte Saite, obschon sie nie erklang, wenn Miß Nipper oder sonst jemand zugegen war. Florence blieb allein, stützte den Kopf auf die eine Hand, drückte die andere an ihr pochendes Herz und hielt ungehinderte Zwiegespräche mit ihrem Gram.

Es war eine unfreundliche Nacht, und der melancholische Regen fiel mit schwerfälligem, plätscherndem Ton nieder. Der Wind umwehte mit gedehntem Stöhnen das Haus, als sei er selbst schmerzlich berührt, und ein schrilles Getöse zitterte durch die Bäume. Unter Florences Tränen wurde es immer später und später, bis die traurige Stunde der Mitternacht von den Kirchtürmen herunter ihren Ruf vernehmen ließ.

Den Jahren nach – sie zählte noch nicht vierzehn – war sternchenland.com Florence wenig mehr als ein Kind, und die düstere Einsamkeit einer solchen Stunde in dem großen Haus, wo der Tod kürzlich erst so furchtbar gewaltet, hätte wohl eine ältere Phantasie mit Schreckbildern zu erfüllen vermocht. Aber die unschuldige Einbildungskraft des Mädchens war zu voll von einem einzigen Thema, um andern Zutritt zu gestatten. Nur Liebe beschäftigte ihre Gedanken – eine unstete, ja sogar eine verstoßene Liebe, die stets zu ihrem Vater zurückkehrte. In dem fallenden Regen, in dem Stöhnen des Windes, in dem Schaudern der Bäume oder in dem Schlag der feierlichen Glocke lag nichts, was diesen einen Gedanken erschütterte oder seine Überwucht minderte. Zwar konnte sie sich nie der Erinnerung an den teuern toten Knaben entschlagen; aber ach, so verwaist, so ausgeschlossen zu sein – nie ihrem Vater ins Gesicht geschaut oder ihn berührt zu haben seit dieser Stunde!

Von dem Tage der Beerdigung an war das arme Kind nie zu Bett gegangen, ohne ihre nächtliche Pilgerfahrt nach seiner Tür zu machen. Es wäre wohl ein befremdlich wehmütiger Anblick gewesen, wenn man sie jetzt gesehen hätte, wie sie sich die Treppe hinunterschlich durch das dichte Dunkel, mit klopfendem Herzen, tränentrüben Augen und aufgelösten Haaren vor seinem Zimmer haltmachte und die feuchte Wange außen an die Tür legte. Doch die Nacht warf ihren Mantel darüber, und niemand sah sie.

Als Florence in jener Nacht die Tür berührte, fand sie, daß sie offen stand und innen Licht war – das erstemal offen, aber nur um die Breite eines Haars. Anfänglich wollte sich das schüchterne Kind schleunigst zurückziehen und folgte auch diesem Impulse, aber unschlüssig blieb sie dann auf der Treppe stehen und stellte Erwägungen an, ob sie nicht wieder umkehren und eintreten sollte.

Aus dem Umstand, daß ihr auch nur durch einen so schmalen Spalt Licht entgegenkam, glaubte sie Hoffnung schöpfen zu dürfen; es stahl sich über der dunkeln Schwelle weg und lief wie ein Faden auf dem Marmorboden fort. Kaum wissend, was sie tat, aber angetrieben von der Liebe ihres Innern und von dem Rückblick auf den gemeinsamen, wenn schon nicht gemeinschaftlich gefühlten Verlust, kehrte sie zurück, erhob zitternd ihre Hände und glitt hinein.

Ihr Vater saß im mittleren Zimmer allein an dem alten Tisch. Er hatte einige Papiere in Ordnung gebracht und andere, die jetzt in Fetzen um ihn her lagen, zerrissen. Der Regen schlug schwer an die Scheiben des äußeren Fensters, wo er so oft dem armen Paul, als dieser noch ein kleines Kind war, zugeschaut hatte, und draußen ließ sich das dumpfe Klagen des Windes vernehmen.

Aber er hatte kein Ohr dafür, denn er saß so sehr in seinen Gedanken vertieft, mit auf den Tisch gerichteten Augen da, daß wohl ein schwererer Tritt als der leichte Fuß seines Kindes nötig gewesen wäre, ihn aufzuwecken. Sein Gesicht war ihr zugekehrt, und bei der düstern Lampe sah er in der späten Stunde der Nacht wie auch in seiner einsamen Umgebung so abgehärmt und niedergeschlagen aus, daß Florence aufs tiefste ergriffen wurde.

»Papa! Papa!« rief sie. »O sprecht mit mir, teurer Papa!«

Er stutzte bei dem Ton ihrer Stimme und sprang von seinem Sitz auf. Sie stand dicht vor ihm mit ausgebreiteten Armen; er aber wich zurück.

»Was gibt’s?« fragte er finster. »Warum kommst du hierher? Was hat dich erschreckt?«

Wenn sie etwas erschreckt hatte, war es das Gesicht, das er jetzt ihr zuwandte. Die glühende Liebe in der Brust seiner jungen Tochter erstarrte davor zu Eis, und sie stand vor ihm und sah ihn an, als sei sie in Stein verwandelt.

Kein Zug von Zärtlichkeit oder Mitleid, kein Strahl von Teilnahme, väterlicher Anerkennung oder Milde lag darin. Allerdings hatte sich das Gesicht verändert, aber nicht auf eine den eben gedachten Eigenschaften entsprechende Weise. Die alte Gleichgültigkeit und der kalte Zwang hatten etwas anderem Platz gemacht; was aber dies war, hierüber wagte sie nicht einmal zu denken, obschon sie die ganze Macht davon fühlte und es kannte, ohne ihm einen Namen geben zu können; es schien auf sie niederzuschauen und einen Schatten über ihrem Haupte wegzuwerfen.

Sah er vor sich die glückliche Nebenbuhlerin seines Sohnes, lebend und in frischer Gesundheit? Sah er in ihr seine eigene Nebenbuhlerin in der Liebe desselben Sohnes? Vergiftete vielleicht eine wilde Eifersucht und zurechtgewiesener Stolz die süßen Erinnerungen, die das Mädchen ihm lieb und teuer hätten machen sollen? War’s möglich, daß ihn der Anblick ihrer Schönheit und ihrer Hoffnungsfülle erbitterte, während er an den hingeschiedenen Knaben dachte?

Florence hegte keine solche Gedanken; aber die Liebe fühlt gar bald, wenn sie verachtet wird und nichts zu hoffen hat. Die Hoffnung erstarb in der ihren, als sie so dastand und zu dem Gesicht ihres Vaters aufblickte.

»Ich frage dich, Florence, ob dich etwas erschreckt hat? Ist etwas vorgefallen, was dich hierher führte?«

»Ich bin gekommen, Papa –«

»Gegen meine Wünsche. Warum?«

Sie sah – sie wußte warum; es stand deutlich auf seinem Gesicht geschrieben. Mit langem, gedämpftem Stöhnen ließ sie ihr Köpfchen auf ihre Hände sinken.

Möge das Zimmer sich noch viele künftige Jahre dessen erinnern. Der Wehlaut war in der Luft bereits verhallt, ehe noch der Vater das Schweigen brach. Er glaubte vielleicht, er werde sich desselben schnell entschlagen können; aber es hatte einen Haftpunkt gefunden in seinem Gehirn. Möge er sich dessen in diesem Zimmer erinnern noch viele kommende Jahre!

Er nahm sie beim Arm. Seine Hand war kalt, schlaff und schloß sich kaum über der ihren.

»Ich kann mir denken, daß du müde bist und der Ruhe bedarfst«, sternchenland.com sagte er, indem er das Licht aufnahm und sie nach der Tür führte. »Wir alle brauchen Ruhe. Geh, Florence, du hast geträumt.«

Gott helfe ihr – der Traum, den sie gehabt hatte, war jetzt vorüber, und sie fühlte, daß er nicht mehr wiederkommen konnte.

»Ich will hier bleiben und dir die Treppe hinaufleuchten. Dort oben ist das ganze Haus dein«, sagte der Vater langsam. »Du bist jetzt seine Gebieterin. Gute Nacht.«

Schluchzend und noch immer das Antlitz mit ihren Händen bedeckend, antwortete sie: »Gute Nacht, teurer Papa!« und stieg dann schweigend hinan. Einmal noch schaute sie zurück, als wäre sie gern zurückgekommen, wenn sie sich nicht gefürchtet hätte. Es war ein augenblicklicher Gedanke, zu hoffnungslos, um Ermutigung zu finden; und ihr Vater stand mit dem Licht da, hart, stumm und regungslos – bis sich das flatternde Gewand seines schönen Kindes in der Dunkelheit verloren hatte.

Möge er sich des erinnern in jenem Zimmer noch viele kommende Jahre. Der Regen, der aufs Dach niederfällt, der Wind, der draußen trauert – ihr wehmütiger Ton schien anzuzeigen, als hätten sie eine Ahnung von dem, was hier vorging. Möge ihn jenes Zimmer daran mahnen noch viele künftige Jahre!

Als er sie das letztemal von demselben Platz aus die Treppe hinansteigen sah, hatte sie ihren Bruder in ihren Armen. Dieser Umstand war nicht geeignet, jetzt sein Herz für sie zu erweichen, sondern stählte es vielmehr. Er ging in sein Zimmer zurück, schloß die Tür ab, setzte sich in seinen Stuhl und weinte um den verlorenen Knaben.

Diogenes war hell wach und auf seinem Posten; er erwartete seine junge Gebieterin.

»O Di! o lieber Di! Liebe mich um seinetwillen!«

Diogenes liebte sie bereits um ihrer selbst willen und nahm es nicht sehr genau damit, wie er dies an den Tag legte. Er machte sich daher ungeheuer lächerlich, indem er in dem Vorzimmer allerlei ungeschlachte Sprünge tat; und als endlich Florence eingeschlafen war, um von den rosigen Kindern auf der andern Seite der Straße zu träumen, schloß er damit, daß er die Tür ihres Zimmers aufkratzte. Er rollte sein Bett in einen Ballen zusammen, legte sich an der vollen Länge seines Stricks auf die Dielen nieder, hielt den Kopf ihr zugekehrt und schaute, auf dem Rücken liegend, durch die Zotteln seiner Augen nach ihr hin, bis er endlich selbst nach langem Blinzeln und Nicken einschlief und mit dumpfem Knurren von seinem Feind träumte.

Neunzehntes Kapitel.


Neunzehntes Kapitel.

Walters Abreise.

Der hölzerne Midshipman an der Tür des Instrumentenmachers war ein sehr hartherziger kleiner Midshipman; denn er blieb über die Maßen gleichgültig gegen Walters Aufbruch und war selbst am Abend sternchenland.com des allerletzten Tages, den unser junger Freund im Hinterstübchen verlebte, nicht aus seiner Fassung zu bringen. Mit seinem Quadranten vor dem schwarzen, knopfartigen Auge und mit einer Figur in der Haltung einer ungeheuern Heiterkeit entfaltete der Midshipman seine Nanking-Beinkleider im vorteilhaftesten Lichte und hatte, ganz und gar von seinen wissenschaftlichen Bestrebungen in Anspruch genommen, durchaus keinen Sinn für weltliche Angelegenheiten, Insoweit war er ein Geschöpf der Umstände, daß ein trockener Tag ihn mit Staub bedeckte, ein nebeliger aber ihn mit kleinen Rußkörnchen pfefferte, während ein nasser Tag seine schmutzige Uniform für den Augenblick wusch und ein heißer Wind auf seinem Ölfarbenanstrich Blasen zog; im übrigen aber war er ein hartschlägiger, eingebildeter Midshipman, der nur seine Entdeckungen im Auge hatte und sich so wenig um das, was auf Erden um ihn vorging, kümmerte, als Archimedes bei der Einnahme von Syrakus.

Ein solcher Midshipman schien er wenigstens bei der damaligen Lage der häuslichen Angelegenheiten zu sein. Walter pflegte oftmals, wenn er ein- und ausging, heiter nach ihm aufzublicken; und wenn der Neffe nicht da war, so kam der arme, alte Sol heraus, lehnte sich an den Türpfosten und ließ seine müde Perücke so nahe als nur möglich bei den Schuhschnallen dieses schützenden Genius seines Gewerbes und seines Ladens ausruhen. Aber kein wilder Götze mit einem Mund von einem Ohr zum andern, kein mörderisches Gesicht unter einer Krone von Papageienfedern konnte je so gleichgültig sein gegen die Bitten wilder Heiden, wie der Midshipman gegen solche Merkzeichen von Anhänglichkeit.

Es war Walter schwer ums Herz, als er sich von seinem alten Schlafgemach aus unter den benachbarten Böschungen und Firsten umsah; denn er konnte sich des Gedankens nicht entschlagen, daß die Nacht, die bereits zu dunkeln begann, seine Bekanntschaft mit ihnen vielleicht für immer schließen dürfte. Der kleine Vorrat von Büchern und Bildern war bereits entfernt; das Gemach sah deshalb so kalt und vorwurfsvoll auf den Deserteur nieder, als ahne es bereits die bevorstehende Entfremdung. »Nur noch einige Stunden«, dachte Walter, »und die Träume, die ich in meiner Knabenzeit hier hatte, werden ebensowenig mir gehören, wie dieses alte Zimmer. Möglich, daß sie wieder in meinem Schlaf zurückkehren, und vielleicht fügt sich’s auch, daß ich als Wachender abermals diesen Platz betrete. Nun, der Traum wenigstens wird keinem andern Herrn dienen, aber das Zimmer beherbergt möglicherweise Dutzende, von denen jeder Veränderungen darin vornimmt, es vernachlässigt oder mißbraucht.«

Aber sein Onkel durfte nicht verlassen in dem kleinen Hinterstübchen bleiben, wo er eben damals allein saß; denn trotz seines rauhen Wesens rücksichtsvoll, war Kapitän Cuttle gegen seine Neigung weggeblieben, damit Onkel und Neffe sich ungestört noch sprechen könnten. Walter, der eben von dem Geschäft des letzten Tages zurückgekehrt war, stieg deshalb schleunig wieder hinunter, um ihm Gesellschaft zu leisten.

»Onkel«, sagte er heiter, indem er die Hand auf die Schulter des alten Mannes legte, »was soll ich Euch von Barbados senden?«

»Hoffnung, mein lieber Wally – die Hoffnung, daß wir uns wiedersehen auf dieser Seite des Grabes. Von ihr schicke mir, soviel du kannst.«

»Soll geschehen, Onkel. Ich habe genug davon, und sogar noch übrig; ich will deshalb nicht damit kargen! Auch rührige Schildkröten, Limonen für Kapitän Cuttles Punsch, Eingemachtes für Euch an Sonntagen, und was dergleichen mehr ist. Ihr sollt ganze Schiffslasten davon erhalten, Onkel, wenn ich reich genug bin.«

Der alte Sol wischte seine Brille und lächelte matt vor sich hin.

»So ist’s recht, Onkel!« rief Walter in fröhlichem Tone, indem er ihn ein halbdutzendmal weiter auf die Schulter klopfte. »Ihr macht mir frohen Mut, und ich will ein gleiches an Euch tun! Morgen wollen wir so fröhlich ausfliegen, wie die Lerchen, Onkel, und ebenso hoch. Ich denke, sie singen lustig, obschon wir sie noch nicht sehen.«

»Wally, mein lieber Knabe«, entgegnete der Greis, »ich will mein Bestes tun – ich will mein Bestes tun.«

»Und Euer Bestes, Onkel«, sagte Walter mit frohem Lachen, »ist das Beste, was es meines Wissens geben kann. Ihr vergeßt doch nicht, was Ihr mir zu senden habt, Onkel?«

»Nein, Wally, nein«, erwiderte der alte Mann. »Alles, was ich über Miß Dombey höre – über das arme Lamm, das jetzt so verlassen ist – will ich dir schreiben. Freilich fürchte ich, es wird nicht viel sein, Wally.«

»Ich will Euch was sagen, Onkel«, versetzte Walter nach einem kurzen Stocken, »ich bin eben erst oben gewesen.«

»So? – ei, ei!« murmelte der alte Mann, seine Augenbrauen und mit ihnen die Brille erhebend.

»Nicht, um sie zu sprechen«, sagte Walter, »obgleich mir dies wahrscheinlich wohl möglich gewesen wäre, wenn ich darum nachgesucht hätte, denn Mr. Dombey befindet sich nicht in der Stadt. Ich wollte mich bloß von Susanna verabschieden. Ihr wißt, etwas der Art konnte ich unter den obwaltenden Umständen wohl wagen – die Art, wie ich Miß Dombey zum letzten Male sah, gibt mir einige Berechtigung dazu.«

»Ja, mein Junge, ja«, entgegnete sein Onkel, sich aus seiner augenblicklichen Zerstreutheit aufraffend.

»Ich sprach sie also«, fuhr Walter fort – »Susanna nämlich, und sagte ihr, daß ich morgen meine Reise antreten werde. Auch sagte ich ihr, Onkel, seit dem Abend ihres Hierseins habt Ihr Euch stets für Miß Dombey sehr interessiert, innigen Anteil an ihrem Glück, an ihrem Wohlbefinden genommen, und Ihr würdet es Euch stets zum Stolz und zur Freude rechnen, wenn sich für Euch nur die mindeste Gelegenheit biete, ihr Dienste zu leisten. Wie die Sachen stehen, glaubte ich wohl, soviel sagen zu dürfen. Seid Ihr nicht auch dieser Meinung?«

»Ja, mein Junge, ja«, erwiderte der Onkel in demselben Tone, wie früher.

»Und ich fügte hinzu«, sagte Walter, »wenn sie – Susanna nämlich – entweder in eigener Person, oder durch Mrs. Richards, oder durch irgend jemand, der vielleicht dieses Wegs käme, Euch zu wissen tun könne, daß Miß Dombey wohl und glücklich sei, so würde es Euch sehr freuen, und Ihr würdet es auch mir schreiben, und auch ich würde mich glücklich darüber fühlen. So steht’s also! Auf mein Wort, Onkel«, fuhr Walter fort, »der Gedanke, wie ich dies ausführen wolle, ließ mich die letzte Nacht kaum schlafen, und selbst nachdem ich mich auf den Weg gemacht hatte, konnte ich nicht mit mir einig werden, ob ich’s tun sollte oder nicht. Und doch war mein Herz so ganz von diesem Drange erfüllt, daß ich mich später recht unglücklich gefühlt hätte, wenn es mir nicht möglich geworden wäre, ihm Erleichterung zu verschaffen.«

Der ehrliche Ton und das treuherzige Wesen bekräftigten, was er sagte, so daß man an der Aufrichtigkeit seiner Worte nicht zweifeln konnte.

»Wenn Ihr sie also je seht, Onkel«, sagte Walter, »ich meine jetzt Miß Dombey – und wer weiß, vielleicht geschieht es! – so sagt ihr, wie tief ich für sie gefühlt habe und wie sehr sie stets der Gegenstand meiner Gedanken gewesen, solange ich mich in Eurem Hause befand; ja, sagt ihr, wie ich noch in der letzten Nacht vor meiner Abreise mit Tränen in den Augen von ihr gesprochen, und wie ich nie ihr edles Wesen, ihr schönes Antlitz, oder das Beste von allem, ihren lieblichen, wohlwollenden Charakter, vergessen könne. Und da ich sie nicht von den Füßen einer Jungfrau oder einer jungen Dame, sondern von denen eines kleinen, unschuldigen, jungen Kindes genommen habe«, fügte Walter bei, »so könnt Ihr auch, wenn Ihr meint, daß es angehe, gegen sie bemerken, ich habe jene Schuhe – sie wird sich noch erinnern, wie oft sie dieselben an jenem Abend verlor – aufbewahrt und als Andenken mitgenommen.«

Sie traten eben mit einem von Walters Koffern die Wanderung an. Ein Lastträger führte das Gepäck auf einem Schubkarren fort, damit es in den Docks an Bord des Sohnes und Erben geschafft werden konnte. Dies geschah unter den Augen des gefühllosen Midshipmans, noch ehe der Eigentümer die vorigen Worte zu Ende gebracht hatte. Freilich mußte man dem ehrenwerten Midshipman seine Unempfindlichkeit gegen den Schatz, der eben fortgerollt wurde, zugute halten; denn in demselben Moment und genau im Gesichtskreis seiner Beobachtung zeigte sich seinen erstaunten, weit offenen Blicken Florence und Susanna Nipper. Florence schaute halb schüchtern zu seinem Gesicht auf, und wurde deshalb mit dem ganzen hölzernen Glotzen seines hölzernen Auges beehrt.

Noch mehr als dies – sie gingen in den Laden hinein und kamen durch die Tür des Wohnstübchens, noch ehe sie von jemand als von dem Midshipman bemerkt worden waren. Auch würde Walter, der den Rücken der Tür zugekehrt hielt, auch jetzt noch nichts von ihrem sternchenland.com sternchenland.com Erscheinen erfahren haben, wenn er nicht gesehen hätte, daß sein Onkel plötzlich von seinem Stuhl aufsprang und beinahe über einen andern gestrauchelt wäre.

»Was habt Ihr, Onkel?« rief Walter. »Was gibt’s?«

Der alte Solomon versetzte:

»Miß Dombey.«

»Wär’s möglich!« rief Walter, sich rasch umschauend, und die Reihe des Erstaunens kam jetzt an ihn. »Hier!«

Nun ja, es war so möglich und so wirklich, daß, während die Worte noch auf seinen Lippen schwebten, Florence an ihm vorbeieilte, in jede Hand einen von Onkel Sols schnupftabakfarbigen Rockärmeln nahm, ihn auf die Wange küßte und dann sich umwandte, um mit einer einfachen Offenheit, wie sie auf der ganzen Welt an niemandem als an ihr zu finden war, Walter die Hand zu reichen.

»Ihr wollt fort, Walter?« sagte Florence.

»Ja, Miß Dombey«, versetzte er, aber nicht so hoffnungsvoll, als er sich anzustellen bemühte. »Es steht mir eine Reise bevor.«

»Und Euer Onkel«, sagte Florence, auf Sol zurückschauend. »Ich bin überzeugt, es muß ihm leid tun, daß Ihr geht. Ja, ich seh‘ es! Lieber Walter, auch ich bedaure es sehr.«

»Der Himmel weiß«, rief Miß Nipper, »es gibt viele, die wir dafür entbehren könnten, wenn Zahlen dabei in Frage kämen, Mrs. Pipchin als Aufseherin wäre noch wohlfeil, wenn man sie in Gold aufwöge, und sofern Kenntnis der schwarzen Sklaverei erforderlich wäre, würde niemand besser für diesen Posten passen, als jene Blimbers.«

Mit diesen Worten band Miß Nipper ihr Hutband auf, guckte ein Weilchen mit großen Augen in einen kleinen schwarzen Teetopf, der zum Zwecke des gewöhnlichen häuslichen Dienstes auf dem Tisch stand, schüttelte den Kopf zugleich mit einer zinnernen Büchse und begann unaufgefordert den Tee zu bereiten.

Mittlerweile hatte sich Florence wieder an den Instrumentenmacher gewandt, der vor Bewunderung und Überraschung kaum zu sich kommen konnte. »So gewachsen!« sagte der alte Sol. »So schön geworden! Und doch nicht verändert! Just noch dieselbe!«

»Wirklich?« versetzte Florence.

»J – ja«, entgegnete der alte Sol, langsam seine Hände reibend und den Gegenstand halblaut in Erwägung ziehend, da etwas Sinniges in den klaren Augen, die ihn ansahen, seine Aufmerksamkeit fesselte. »Ja, dieser Ausdruck war auch in dem jüngeren Gesicht!«

»Ihr erinnert Euch meiner noch!« sagte Florence mit einem Lächeln, Ihr wißt noch, was ich damals für ein kleines Geschöpf war!«

»Meine teure junge Lady«, erwiderte der Instrumentenmacher, »wie hätte ich Euch vergessen können, da ich seitdem so oft an Euch dachte und von Euch hörte! Ja, sogar in demselben Augenblick, als sternchenland.com Ihr hereinkamt, sprach Walter mit mir von Euch und gab mir Aufträge an Euch und –«

»Tat er das?« sagte Florence. »Ich danke Euch, Walter – o, ich danke Euch, Walter! Ich fürchtete, Ihr könntet abreisen und dabei kaum an mich denken.«

Abermals reichte sie herzlich und aufrichtig ihre kleine Hand Walter hin, der sie einige Momente festhielt und sie fast nicht wieder loslassen wollte.

Und doch hielt er sie nicht so fest, wie er es vielleicht vordem getan haben würde. Jene alten Träume seiner Knabenzeit, die sogar später noch hin und wieder an ihm vorbeiglitten, traten nicht aufs neue ins Leben, um ihn mit ihren unbestimmten Formen zu verwirren. Die Reinheit und Unschuld ihres herzlichen Wesens, ihre Zutraulichkeit und die unverhüllte Achtung für ihn, die sich so tief in ihrem treuen Auge aussprach und über ihr schönes Gesicht durch das beschattende Lächeln glimmte – denn leider sprach sich zu viel Wehmut in diesem Lächeln aus, als daß es hätte leuchten können –, alles dies hatte nichts Romantisches an sich. Seine Gedanken wurden dadurch zurückgeführt an das frühe Sterbebett, an dem sie geweint, an die Liebe, die das Kind zu ihr gehegt hatte; und auf den Schwingen solcher Erinnerungen schien sie sich weit über seine eiteln Träumereien in eine klarere und heiterere Luft zu erheben.

»Ich – ich fürchte, ich muß Euch Walters Onkel nennen, Sir«, sagte Florence zu dem alten Mann – »wenn Ihr es mir gestatten wollt.«

»Meine teure junge Dame«, rief der alte Sol, »du mein Himmel, wie kommt Ihr zu einer solchen Frage?«

»Wir haben Euch stets unter diesem Namen gekannt und von Euch gesprochen«, entgegnete Florence, indem sie sich mit einem leichten Seufzer in dem Zimmer umsah. »Das alte nette Stübchen! Ganz so, wie früher! Wie gut erinnere ich mich seiner!«

Der alte Sol schaute zuerst nach ihr, dann nach seinem Neffen hin, rieb sich die Hände, putzte seine Brille und sagte halblaut vor sich hin:

»O Zeit, Zeit, Zeit!«

Es fand ein kurzes Stillschweigen statt, und Susanna Nipper holte inzwischen ganz geschickt zwei Extra-Tassen aus dem Seitenschrank heraus, worauf sie mit gedankenvoller Miene dem Ziehen des Tees zusah.

»Es liegt mir etwas auf dem Herzen, was ich Walters Onkel mitteilen muß«, sagte Florence, indem sie schüchtern ihre Hand auf die des alten Mannes, die auf dem Tisch ruhte, legte, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. »Er bleibt allein zurück, und wenn er mir erlauben will – nicht gerade Walters Platz einzunehmen, denn dies wäre unmöglich, aber doch sein treuer Freund zu sein und ihm während Walters Abwesenheit Beihilfe zu leisten, so werde ich’s ihm in der Tat sehr Dank wissen. Erlaubt Ihr mir dies? Darf ich, Walters Onkel?«

Ohne eine Silbe der Erwiderung erhob der Instrumentenmacher ihre Hand zu seinen Lippen; Susanna aber lehnte mit gekreuzten Armen in dem Präsidentenstuhl, den sie sich selbst zugeeignet hatte, zurück bis auf das eine Ende ihres Hutbandes und schaute mit einem kurzen Seufzer nach dem hohen Fenster hinauf.

»Ihr müßt mir gestatten, daß ich Euch besuchen darf, wenn ich kann«, fuhr Florence fort, »und Ihr erzählt mir alles von Euren Angelegenheiten und von Walter. Auch vor Susanna braucht Ihr kein Geheimnis zu haben, wenn sie an meiner Statt kommt. Schenkt uns Euer Vertrauen und baut auf uns. Nicht wahr, Walters Onkel, Ihr erlaubt uns, daß wir Euch trösten dürfen?«

Das süße Gesicht, das zu dem seinigen aufsah, die sanft bittenden Augen, die weiche Stimme und die leichte Berührung seines Armes, noch ansprechender gemacht durch die Achtung und Ehrerbietung eines Kindes vor seinem Alter, wodurch das Ganze den Ausdruck anmutigen Zweifelns und bescheidenen Zauderns erhielt – alles dies in Vereinigung mit der natürlichen Innigkeit des Mädchens überwältigte den armen, alten Instrumentenmacher dermaßen, daß er nur antworten konnte:

»Wally, sprich ein Wort für mich, mein Lieber. O, wie dankbar bin ich!«

»Nein, Walter«, entgegnete Florence mit ihrem ruhigen Lächeln, »ich muß mir’s verbitten, daß Ihr für ihn einsteht. Ich begreife ihn vollkommen, und wir müssen lernen, miteinander zu reden, ohne daß wir Euch dabei haben, lieber Walter.«

Der schmerzliche Ton, in dem sie die letzteren Worte sprach, ergriff Walter mehr als alles übrige.

»Miß Florence«, versetzte er, indem er sich alle Mühe gab, das heitere Wesen beizubehalten, das er bisher seinem Onkel gegenüber zur Schau gestellt hatte, »ich kann in der Tat ebensowenig sagen, wie mein Onkel, um Euch für so viele Güte den gebührenden Dank abzustatten. Ja, wenn ich eine ganze Stunde fortsprechen müßte, so vermöchte ich wahrhaftig nicht weiter auszudrücken, als daß es Euch so ganz gleich sieht!«

Susanna Nipper machte nun mit einem neuen Teil ihres Hutbandes den Anfang und nickte beifällig über die ausgesprochene Rede nach dem Hochfenster hinauf.

»Aber, Walter«, sagte Florence, »ich muß Euch noch etwas sagen, ehe Ihr abreist. Seid so gut, mich künftighin Florence zu nennen, und nicht mit mir zu sprechen, als wäre ich eine Fremde.«

»Eine Fremde?« entgegnete Walter. »Nein. Euch dafür anzunehmen, wäre mir unmöglich. Wenigstens widerstritte es allen meinen Gefühlen.«

»Damit bin ich noch nicht zufrieden, und es ist nicht das, was ich meine. Ach, Walter«, fügte Florence, in Tränen ausbrechend, bei, »er liebte Euch so sehr und legte noch vor seinem Sterben Zeugnis davon ab, als er sagte: ›Vergeßt Walter nicht!‹ Wenn Ihr mir also statt dessen, der hingegangen ist, ein Bruder sein wollt, sternchenland.com Walter – denn ich habe jetzt keinen mehr auf Erden –, so will ich mein ganzes Leben über Eure Schwester sein und stets mit schwesterlicher Liebe an Euch denken, wo immer wir auch sein mögen! Dies habe ich Euch sagen wollen, lieber Walter, obschon ich es nicht vorzubringen weiß, wie ich gern möchte, weil mir das Herz zu voll ist.«

Und in der Überfülle und in der holden Einfachheit dieses Herzens bot sie ihm ihre beiden Hände hin. Walter ergriff sie, beugte sich darauf nieder und berührte das tränenvolle Antlitz, das weder zurückwich, noch sich abwandte, ja nicht einmal darob errötete, sondern voll Vertrauen und Zuversicht zu ihm aufschaute. In diesem einzigen Augenblick entwich jeder Schatten von Zweifel aus Walters Seele. Es kam ihm vor, er antworte auf ihre unschuldige Bitte neben dem Lager des toten Kindes, und in dem Hinblick auf jene ernste Szene gelobte er sich, auch in seiner Verbannung sogar ihr Bild mit brüderlicher Liebe zu hegen und zu pflegen, ihr edles Vertrauen unverletzt zu erhalten und sich selbst vor der Herabwürdigung zu bewahren, daß er je einem Gedanken Raum geben könnte, der nicht ihrer eigenen Brust entquollen.

Susanna Nipper, die inzwischen ihre beiden Hutbänder schwer zerarbeitet und während dieser Verhandlung einen großen Teil von Privaterregung nach dem Hochfenster entsandt hatte, brachte nun die Unterhandlung auf einen andern Gegenstand, indem sie fragte, wem Milch und wem Zucker beliebe. Nachdem sie über diesen Punkt belehrt worden, schenkte sie den Tee ein. Alle vier sammelten sich gesellig, um den kleinen Tisch und genossen die kleine Labung unter der tätigen Leitung vorgedachter jungen Dame. Die Gegenwart Florences aber in dem Hinterstübchen übte sogar einen erheiternden Eindruck auf die Tartaren-Fregatte an der Wand.

Eine halbe Stunde früher wäre Walter ums Leben nicht imstande gewesen, sie bei ihrem Vornamen anzureden; jetzt aber konnte er es tun, da sie ihn selbst darum gebeten hatte. Er konnte an ihre Gegenwart denken, ohne daß ihn ängstliche Ahnungen beschlichen, es wäre vielleicht besser gewesen, wenn sie nicht gekommen wäre. Mit aller Ruhe durfte er jetzt dem Gedanken nachhängen, wie schön, wie hoffnungsvoll sie sei, und welch eine glückliche Heimat seinerzeit einem sterblichen Mann in ihrem Herzen vorbehalten war. Er konnte mit Stolz Betrachtungen anstellen über seinen eigenen Platz in ihrem Herzen; und wenn er sich auch nicht gerade sagen durfte, daß er diese Auszeichnung verdiene, weil sie so hoch über ihm stand, so kam er doch zu dem mannhaften Entschluß, derselben keine Unehre zu machen.

Irgendein zauberhafter Einfluß mußte wohl die Hände von Susanna Nipper umschwebt haben, als sie den Tee machte; denn er sprach sich aus in der ruhigen Haltung, die während obiger Verhandlungen in dem Hinterstübchen herrschte. Eine feindselige Gegenwirkung beherrschte aber sicherlich die Zeiger von Onkel Sols Chronometer und bewegte sie schneller, als die Tartaren-Fregatte je vor dem Wind lief. Dem mochte übrigens sein, wie ihm wolle, sternchenland.com nicht fern in einer ruhigen Ecke wartete eine Kutsche auf die beiden Gäste, und als man zufällig den Chronometer zu Rate zog, gab er eine so entschiedene Meinung ab, daß man nach einer so unanfechtbaren Autorität unmöglich die Tatsache bezweifeln konnte, sie warte schon sehr lange. Hätte Onkel Sol nach seinem eigenen Stundenglas gehängt werden sollen, so würde er sicherlich nicht zugegeben haben, daß der Chronometer auch nur um den kleinsten Bruchteil einer Sekunde zu schnell gehe.

Zum Abschied wiederholte Florence dem alten Mann alles, was sie bereits gesagt hatte, und verpflichtete ihn hoch und teuer auf Haltung seines Vertrags. Onkel Sol begleitete sie liebevoll bis zu den Beinen des hölzernen Midshipman und überantwortete sie dort an Walter, der sie und Susanna Nipper nach der Kutsche führte.

»Walter«, sagte Florence unterwegs, »ich scheute mich, Euch vor Eurem Onkel zu fragen. Glaubt Ihr, daß Ihr sehr lange abwesend sein werdet?«

»Ich weiß es in der Tat nicht«, entgegnete Walter, »obschon ich es fürchte. Wenn ich nicht irre, so hat Mr. Dombey darauf hingedeutet, als er mich für diesen Posten bestimmte.«

»Trifft Euch dadurch eine Vergünstigung, Walter?« fragte Florence nach kurzem Stocken, indem sie zugleich ängstlich zu seinem Gesicht aufsah.

»Durch die Stelle?« erwiderte Walter.

»Ja.«

Walter würde gerne eine Welt darum gegeben haben, wenn er hätte ja antworten können; aber sein Gesicht antwortete, ehe dies seinen Lippen möglich wurde, und Florence war zu achtsam, um diese Antwort nicht zu verstehen.

»Ich fürchte, Ihr seid kaum ein Liebling meines Papas gewesen?« fragte sie schüchtern.

»Ich wüßte auch keinen Grund, warum ich es hätte sein sollen«, versetzte Walter lächelnd.

»Keinen Grund, Walter?«

»Es war wenigstens kein Grund vorhanden«, entgegnete Walter, der wohl begriff, was sie meinte. »Das Haus beschäftigt viele Leute, und zwischen Mr. Dombey und einem jungen Manne, wie ich bin, findet ein weiter Abstand statt. Erfülle ich meine Schuldigkeit, so tue ich nur, was mir obliegt, und bei allen übrigen ist dies der gleiche Fall.«

Hatte vielleicht Florence eine Ahnung, deren sie sich kaum recht bewußt gewesen – eine Ahnung, die unbestimmt und unbestimmbar ins Dasein trat seit jener Nacht, in der sie nach dem Zimmer ihres Vaters hinuntergegangen war – daß nämlich Walters zufälliges Interesse an ihr und der Umstand, daß er sie früh kennengelernt, ihm die folgenreiche Abneigung Mr. Dombeys zugezogen habe? Trug sich Walter mit einer solchen Idee, oder flog ihn der plötzliche Gedanke an, in diesem Augenblicke könnte etwas der Art ihren Geist beschäftigen? Keins von beiden deutete darauf hin, und eine kurze sternchenland.com Weile herrschte tiefes Schweigen. Susanna ging auf der andern Seite von Walter und faßte ihn sowohl als ihre Schutzbefohlene scharf ins Auge. Sicherlich wanderten Miß Nippers Gedanken in dieselbe Richtung, und zwar mit großer Zuversichtlichkeit.

»Ihr kommt vielleicht bald wieder zurück, Walter«, sagte Florence.

»Es kann sein, daß ich als alter Mann wiederkehre«, sagte Walter, »und daß ich Euch dann als alte Dame treffe. Wir wollen übrigens auf Besseres hoffen.«

»Papa wird«, sagte Florence nach einer kurzen Pause – »er wird sich von seinem Schmerz erholen und – und vielleicht mit der Zeit offener gegen mich sprechen. Geschieht dies, so will ich ihm sagen, wie lieb es mir wäre, wenn Ihr wieder zurückkämet; ich will ihn dann bitten, daß er Euch um meinetwillen von Eurem Posten abberufe.«

Als sie von ihrem Vater sprach, lag in den Worten eine rührende Modulation, die Walter nur zu wohl verstand. Sie waren in der Nähe der Kutsche angelangt, und er würde sie verlassen haben, ohne zu sprechen, denn er fühlte jetzt, was Scheiden war. Aber nachdem Florence schon Platz genommen, hielt sie noch immer seine Hand fest, und Walter bemerkte jetzt, daß sie ein kleines Paket in der ihrigen hatte.

»Walter«, sagte sie, mit seelenvollem Blicke zu ihm aufschauend, »gleich Euch will ich auf etwas Besseres hoffen. Ich will darum beten und den Glauben festhalten, daß es nicht ausbleiben werde. Diese kleine Gabe habe ich für Paul gemacht. Ich bitte Euch, nehmt es mit der Liebe auf, mit der es gegeben wird, und seht es nicht an, bis Ihr Eure Reise angetreten. Jetzt Gott befohlen, Walter! Vergeßt mich nicht, Ihr seid mir ein lieber Bruder.«

Walter war froh, daß Susanna Nipper dazwischenkam, da er sonst nicht den günstigsten Eindruck zurückgelassen haben dürfte. Er war froh, daß sie nicht wieder zur Kutsche heraussah, sondern statt dessen nur mit ihrer kleinen Hand ihm zuwinkte, solange der Wagen in seinem Gesichtskreise blieb.

Trotz ihrer Bitten konnte er nicht umhin, noch am selben Abend vor Schlafengehen das Paket zu öffnen. Es enthielt eine kleine Börse.

Hell erhob sich am andern Morgen die Sonne nach ihrer Wanderung durch fremde Länder, und mit ihr stand Walter auf, um den Kapitän einzulassen, der bereits an der Tür stand. Letzterer war nämlich weit früher, als nötig gewesen wäre, aus den Federn gekrochen, um unter Segel zu kommen, solang Mrs. Mac Stinger noch schlummerte. Der Kapitän tat äußerst aufgeräumt und brachte in einer der Taschen seines weiten blauen Rocks eine sehr hart geräucherte Zunge zum Frühstück mit.

»Und Wal’r«, sagte der Kapitän, als sie an dem Tische Platz nahmen, »wenn Euer Onkel der Mann ist, für den ich ihn halte, so wird er für den gegenwärtigen Anlaß jene letzte Madeira-Flasche heraufholen.«

»Nein, nein, Ned«, versetzte der alte Mann. »Nein. Sie wird erst angebrochen, wenn Walter wieder zurückkommt.«

»Wohl gesprochen!« rief der Kapitän. »Da höre man ihn.«

»Drunten liegt sie«, sagte Sol Gills, »in dem kleinen Keller, mit Staub und Spinnweben bedeckt. Vielleicht liegen Staub und Spinnweben über Euch und mir, Ned, ehe sie das Licht erblickt.«

»Höre man ihn!« entgegnete der Kapitän. »Eine gute Moral, Wal’r, mein Junge. Zieht den Feigenbaum in der Art, wie er wachsen soll, und wenn Ihr alt seid, könnt Ihr unter seinem Schatten sitzen. Nachzusehen – na«, fügte der Kapitän nach weiterem Besinnen bei, »ich weiß nicht ganz gewiß, wo dies zu finden ist; aber wenn Ihr’s gefunden habt, so biegt ein Ohr ein. Macht nur fort, Sol Gills!«

»Aber da oder irgendwo anders soll sie liegen bleiben. Und bis Wally zurückkommt, um sie in Anspruch zu nehmen«, erwiderte der alte Mann. »Dies ist alles, was ich sagen wollte.«

»Und ist obendrein gut gesagt«, versetzte der Kapitän. »Wenn wir drei die Flasche nicht gemeinschaftlich anbrechen, so gebe ich Euch beiden die Erlaubnis, meinen Anteil zu trinken.«

Ungeachtet der großen Heiterkeit des Kapitäns wußte er doch mit der hart geräucherten Zunge nicht gut zurechtzukommen, obschon er sich dabei alle Mühe gab und, wenn man ihm zuschaute, tat, als esse er mit gewaltigem Appetit. Zugleich hatte er große Angst, mit einem von beiden, entweder mit dem Onkel oder mit dem Neffen, allein zu bleiben; denn sichtlich bestand seine einzige Hoffnung, den Schein zu wahren, in dem Umstand, daß von dem Kleeblatt keins fortging. Diese Besorgnis bewog ihn zu so sinnreichen Ausweichungen, daß er, wenn Solomon sich entfernte, um seinen Rock anzuziehen, unter dem Vorwand nach der Tür lief, er habe eine außerordentliche Kutsche vorbeifahren sehen; und als sich Walter die Treppe hinaufbegab, um von den Hausleuten Abschied zu nehmen, eilte Ehren Cuttle auf die Straße hinaus, weil er meinte, er habe aus einem benachbarten Schornstein einen Brandgeruch wahrgenommen. Natürlich mußten dergleichen Kunstgriffe jedem uninspirierten Beobachter ganz unergründlich sein.

Als Walter von seiner Verabschiedung wieder herunterkam und durch den Laden nach dem kleinen Hinterstübchen gehen wollte, bemerkte er ein bekanntes verblichenes Gesicht, das durch die Tür hereinsah. Er eilte darauf zu.

»Mr. Carker!« rief Walter, John Carker dem Jüngeren die Hand drückend. »Bitte, kommt herein! Es ist sehr freundlich von Euch, daß Ihr so früh hierher kommt, um mir Lebewohl zu sagen. Ihr wußtet wohl, wie es mich freuen mußte, vor meinem Abgange Euch noch einmal die Hand reichen zu können, und daß mir diese Gelegenheit noch wird, macht mich überglücklich. Bitte, kommt herein.«

»Es ist nicht wahrscheinlich, daß wir uns je wiedersehen, Walter«, entgegnete der andere, ohne der Einladung Folge zu geben. »Auch ich freue mich über diese Gelegenheit, und am Vorabende der Trennung darf ich es wohl wagen, mit Euch zu sprechen und Euch die Hand zu reichen. Fürderhin brauche ich mich vor Euren zutraulichen Annäherungen nicht mehr zu hüten, Walter.«

Diese Worte begleitete er mit einem wehmütigen Lächeln, das zeigte, daß er auch hierin schon einen freundlichen Anhaltspunkt für seine Gedanken gefunden habe.

»Ach, Mr. Carker«, entgegnete Walter, »und warum seid Ihr denn so behutsam gewesen? Ich bin überzeugt, daß ich von Euch nur gute Eindrücke empfangen hätte.«

Mr. Carker schüttelte den Kopf.

»Wenn ich auf Erden noch etwas Gutes tun könnte«, sagte er, »so geschähe es sicherlich um Euretwillen herzlich gern, Walter. Der Umstand, daß ich Euch Tag für Tag sah, ist mir zugleich Wonne und Vorwurf gewesen, aber das erstere Gefühl hat das andere bei weitem überboten. Ich empfinde dies erst jetzt recht, nachdem ich weiß, was ich verliere.«

»Kommt herein, Mr. Carker, damit ich Euch mit meinem guten alten Onkel bekannt mache«, drängte Walter. »Ich habe oft mit ihm von Euch gesprochen, und er wird sich freuen, wenn er Euch alles erzählen kann, was er von mir hörte. Von unserem letzten Gespräch«, fügte Walter mit einiger Verlegenheit hinzu, als er das Zögern des andern bemerkte, »habe ich ihm nichts mitgeteilt, Mr. Carker. Ihr dürft mir glauben, nicht einmal gegen ihn wurde etwas davon geäußert.«

Der graue Junior drückte ihm die Hand, und Tränen stiegen ihm in die Augen.

»Wenn ich ihn kennenlerne, Walter«, entgegnete er, »so soll es um deswillen geschehen, damit ich Nachrichten von Euch höre. Verlaßt Euch darauf, daß ich von Eurer Nachsicht und Eurer Rücksichtnahme keinen Mißbrauch mache. Es wäre aber wirklich unrecht, wenn Ihr ihm nicht die volle Wahrheit mitteilt, ehe ich ein Wort des Vertrauens von ihm nachsuchte. Ich habe keinen Freund, keinen Bekannten, als Euch; und selbst wenn es um Euretwillen geschehen müßte, wäre wenig Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß ich einen gewänne.«

»Wollte Gott«, versetzte Walter, »Ihr hättet mir gestattet, in Wirklichkeit Euer Freund zu sein. Ihr wißt, Mr. Carker, daß ich es stets wünschte, aber nie nur halb so viel als jetzt, nun wir uns verabschieden sollen.«

»Es ist genug«, entgegnete der andere, »daß Ihr der Freund meines Herzens gewesen seid; denn wenn ich Euch am meisten mied, zog mich dieses am meisten zu Euch hin und war übervoll von Euch. Lebt wohl, Walter!«

»Lebt wohl, Mr. Carker! Gott sei mit Euch!« rief Walter in warmer Erregung.

»Wenn Ihr zurückkommt«, sagte der andere, während des Sprechens Walters Hand festhaltend, »und mich an meiner alten Ecke vermißt – wenn Ihr dann von irgend jemand hört, wo ich liege, so macht einen Besuch an meinem Grabe, denkt dabei, daß ich ebenso ehrlich und glücklich hätte sein können, wie Ihr, und laßt mich, wenn mein Stündlein kommt, mit der Hoffnung sterben, daß sternchenland.com ein Abbild meines früheren Ichs einstens für einen Moment an meine Ruhestätte treten werde, um sich meiner mit Mitleid und Nachsicht zu erinnern. Lebt wohl, Walter!«

Seine Gestalt schlich wie ein Schatten die Straße hinab, die klar und feierlich an diesem frühen Morgen von der Sonne beschienen war. Langsam entschwand sie dem Blick.

Endlich meldete der unbarmherzige Chronometer, daß Walter dem hölzernen Midshipman seinen Rücken kehren müsse. Er stieg daher mit seinem Onkel und dem Kapitän in eine Kutsche, um sich nach der Werft hinführen zu lassen, wo sie vermittels eines Dampfboots nach irgendeiner Flußbiegung aufzubrechen gedachten, deren Name, wie der Kapitän meinte, für die Ohren der Landbewohner ein hoffnungsloses Geheimnis sei. Nach der beabsichtigten Stelle war das Schiff mit der Flut der letzten Nacht gekommen, und wie sie den Platz erreichten, wurden sie von unterschiedlichen aufgeregten Bootsführern, darunter namentlich einem Zyklopen von des Kapitäns Bekanntschaft, geentert, der mit seinem einzigen Auge den alten Freund schon auf tausend Ellen hin erspäht und seitdem fortwährend ein unverständliches Gebrüll mit demselben gewechselt hatte. Nachdem sie die gesetzliche Prise dieser Person geworden, die schrecklich heiser war und sich vielleicht seit Monaten nicht rasiert hatte, wurde das gesamte Kleeblatt an Bord des Sohns und Erben gebracht. Der Sohn und Erbe aber befand sich in großer Verwirrung; denn die Segel lagen bunt durcheinander auf dem nassen Deck; man strauchelte über die losen Taue, und Matrosen in roten Hemden liefen barfuß ab und zu, um jeden Fuß Raum mit Fässern zu versperren. Und wo die Unordnung am größten war, stand ein schwarzer Koch in einer schwarzen Kombüse, vom Rauch fast geblendet und unter einem Haufen von Gemüsepflanzen, die ihm bis zu den Augen reichten.

Der Kapitän nahm sofort Walter in eine Ecke und zog daselbst mit großer Anstrengung, so daß sein Gesicht ganz rot darüber wurde, die große silberne Uhr heraus, die so fest in seiner Tasche stak, daß sie bei der gedachten Operation wie ein Faßspund klappte.

»Wal’r«, sagte der Kapitän, indem er ihm die Uhr hinbot und ihm zugleich herzlich die Hand drückte, »ein Andenken auf die Reise, mein Junge. Rückt sie jeden Morgen um eine halbe Stunde und jeden Abend um eine Viertelstunde zurück, so ist’s eine Uhr, daß Ihr Freude daran haben werdet.«

»Kapitän Cuttle, an etwas der Art dürft Ihr nicht denken«, rief Walter, indem er den alten Gentleman am Rocke festhielt, weil derselbe Reißaus nehmen wollte. »Ich bitte, nehmt sie zurück. Ich bin bereits mit einer Uhr versehen.«

»So nehmt« – entgegnete der Kapitän, plötzlich in seine Tasche greifend und die beiden Teelöffel nebst der Zuckerzange hervorlangend, mit denen er sich zur Begegnung eines solchen Einwurfes bewaffnet hatte – »so nehmt statt dessen diese Kleinigkeiten von Silber.«

»Nein, nein, auch dieses kann ich nicht«, erwiderte Walter, »obschon ich die gute Meinung mit tausendfältigem Dank anerkenne.

O, laßt das doch, Kapitän Cuttle!« denn der Kapitän war im Begriff, die Pretiosen über Bord zu werfen. »Euch werden sie von größerem Nutzen sein, als mir. Gebt mir Euern Stock; diesen hätte ich schon längst besitzen mögen. So! Lebt wohl, Kapitän Cuttle! Tragt Sorge für meinen Onkel! Onkel Sol, Gott behüte Euch!«

Sie waren in dem Getümmel über die Schiffsseite hinuntergekommen, noch ehe Walter einen weiteren Blick von ihnen auffangen konnte; und als er nach dem Stern hinaufeilte, um ihnen nachzusehen, bemerkte er, wie sein Onkel den Kopf ins Boot niederhängen ließ, während Kapitän Cuttle ihm mit der großen silbernen Uhr – sicherlich nicht ohne blaue Male – den Rücken zerklopfte und dabei hoffnungsvoll mit den Teelöffeln und der Zuckerzange gestikulierte. Als letzterer Walters ansichtig wurde, ließ er mit der größten Sorglosigkeit das wertvolle Eigentum auf den Boden des Nachens niederfallen, als ob es für ihn gar nicht vorhanden sei, zog den Glanzhut ab und rief ihm aus Leibeskräften zu. Der Glanzhut blitzte in der Sonne, und der Kapitän fuhr fort, ihn zu schwenken, bis er nicht mehr gesehen werden konnte. Dann erreichte das Getümmel an Bord, das rasch zugenommen hatte, seine Höhe. Zwei oder drei andere Boote fuhren mit lautem Hurra ab, die Segel blähten sich oben unter der günstigen Brise, das Wasser sprühte funkelnd von dem Schnabel weg, und der Sohn und Erbe trat so hoffnungsvoll und fröhlich seine Reise an, wie vor ihm so mancher andere Sohn und Erbe, der aber gleichwohl zugrunde gegangen war.

Tag um Tag hielten der alte Sol und Kapitän Cuttle in dem kleinen Hinterstübchen den Lauf des Schiffes, und berechneten nach der Karte, die sie auf dem runden Tische vor sich liegen hatten, seinen Kurs. Und nachts, wenn der alte Sol so einsam nach dem Dachstübchen, wo es bisweilen grobes Geschütz blies, hinaufstieg, schaute er nach den Sternen, lauschte auf das Wehen des Windes und hielt weit längere Wacht, als ihm an Bord eines Schiffes zuteil geworden wäre. Mittlerweile blieb die Flasche alten Madeiras, der seinerzeit auch Seefahrten gemacht und die Gefahren der Tiefe kennengelernt hatte, stumm und ungestört unter dem Staub und den Spinngeweben liegen.