Zehntes Kapitel

Entdeckung und Verfolgung.

Die Speisen standen auf dem Tisch, die Stühle waren zurechtgerückt, Flaschen, Krüge und Gläser aus dem Wandschrank hervorgeholt, und alles kündigte das Herannahen es vergnüglichsten Zeitabschnittes in dem Vierundzwanzig-Stunden-Bogen des Tages an.

„Wo ist Rachel?“ fragte Mr. Wardle.

„Ja, und Mr. Jingle?“ fügte Mr. Pickwick hinzu.

„Merkwürdig, daß ich ihn nicht schon früher vermißte. Mir fällt jetzt auf, daß ich seine Stimme wenigstens schon zwei Stunden nicht mehr gehört habe. Liebe Emilie, klingle noch einmal!“

Die Klingel wurde gezogen, und der dicke Junge trat ins Zimmer.

„Wo ist Miß Rachel?“

Achselzucken.

„Und Mr. Jingle?“

Abermals Achselzucken.

Alle blickten sich überrascht an. Es war spät, bereits elf Uhr vorbei. Mr. Tupman lachte sich ins Fäustchen. Sie spazierten natürlich irgendwo herum, um den Verdacht auf eine falsche Fährte zu lenken, und sprachen dabei von ihm. Haha! Ein famoser Einfall. Schrecklich komisch!

„Macht weiter nichts“, meinte Mr. Wardle nach einer kurzen Pause. „Ich wette, sie müssen jeden Augenblick kommen. Mit dem Nachtessen warte ich prinzipiell auf niemand.“

„Eine treffliche Hausregel, das“, bemerkte Mr. Pickwick. „Wirklich ausgezeichnet.“

Ein ungeheures Stück kalter Rinderbraten kam auf den Tisch, und Mr. Pickwick wurde mit einer kräftigen Portion davon versehen. Er brachte eben die Gabel an die Lippen und war im Begriffe, den Brocken seinen Zähnen zu überliefern, als sich plötzlich von der Küche her der summende Ton zahlreicher Stimmen vernehmen ließ. Er hielt inne und legte die Gabel nieder. Mr. Wardle horchte ebenfalls auf und ließ unwillkürlich das Tranchiermesser in der Rindskeule stecken.

Schwere Fußtritte ließen sich im Hausflur vernehmen. Die Tür ging plötzlich auf, und herein trat der Mann, der Mr. Pickwick gleich bei seiner ersten Ankunft die Stiefel gereinigt hatte, hinter ihm der fette Junge und das ganze Hausgesinde.

„Was, zum Teufel, soll das heißen?“ rief der Hausherr.

„Der Küchenschornstein hat Feuer gefangen, nicht wahr, Emma?“ forschte die alte Dame.

„Aber nein, Großmama, gewiß nicht!“ riefen die beiden jungen Damen.

„Was ist denn also los?“ schrie der Hausherr.

Der Mann schnappte nach Luft und keuchte mit schwacher Stimme:

„Sie sind fort, reineweg getürmt, Sir!“

Mr. Tupman ließ Messer und Gabel fallen und erblaßte.

„Wer ist fort?“ schrie Mr. Wardle heftig.

„Mr. Jingle und Miß Rachel! – In einer Postkutsche, vom ,Blauen Löwen‘ in Muggleton aus. Ich war dort, hab sie aber nicht aufhalten können, und da bin ich schnell hergelaufen, um’s zu melden.“

„Und das auf meine Kosten!“ rief Mr. Tupman, aufspringend und ganz außer sich. „Er hat mir zehn Pfund herausgelockt! Haltet ihn auf! Er hat mich betrogen! Ich lasse mir das nicht gefallen! Ich will Gerechtigkeit haben! Pickwick! Ich ertrage das nicht!“

Mit diesen und ähnlichen unzusammenhängenden Ausrufen raste der unglückliche Gentleman wie toll im Zimmer umher.

„Gott steh uns bei!“ rief Mr. Pickwick, das außerordentliche Gebaren seines Freundes mit entsetzten Blicken betrachtend. „Er ist. übergeschnappt! Was fangen wir nur an?“

„Anfangen?“ wiederholte, geistesabwesend, der Hausherr, der bloß Pickwicks letztes Wort gehört hatte. „Spannt das Pferd ins Gig! Ich will im ,Löwen‘ eine Postchaise nehmen und ihnen augenblicklich nachsetzen. Wo“, rief er, als der Mann sich entfernte, um den Befehl zu vollziehen, „wo ist der Halunke, der Joe?“

„Hier! Gar nicht Halunke“, versetzte eine Stimme. Es war die des fetten Jungen.

„Lassen Sie mich, Pickwick!“ schrie Wardle, riß sich los und stürzte sich auf den unglücklichen Jüngling. „Er hat sich von diesem Schurken, dem Jingle, bestechen lassen und mir einen Floh ins Ohr gesetzt, mit einer Geschichte von meiner Schwester und Ihrem Freunde Tupman.“ – Mr. Tupman sank in seinen Stuhl zurück. – „Lassen Sie mich, ich muß ihm zu Leibe.“

„Halten Sie ihn fest!“ kreischten die Damen, aus deren Geschrei man das Heulen des fetten Jungen deutlich heraushören konnte.

„Weg da!“ rief der alte Herr. „Zurück, Mr. Winkle! Lassen Sie mich los, Mr. Pickwick!“

Es war ein erhebender Anblick, mitten in diesem Tumult und der grenzenlosen Verwirrung den friedlichen und philosophischen Ausdruck in Mr. Pickwicks Antlitz zu betrachten, wie er, allerdings ein wenig gerötet von der Kraftanstrengung, die weite Taille seines korpulenten Wirtes mit starken Armen umschlingend, dastand und ihn von Tätlichkeiten zurückhielt, während der fette Junge von der Damenschar zur Tür hinausgeschoben und –gezerrt wurde. Mr. Pickwick hatte indes kaum losgelassen, als der Bediente mit der Meldung hereintrat, daß das Gig bereitstehe.

„Lassen Sie ihn nicht allein fort!“ jammerten die Damen. „Er wird jemand töten!“

„Ich werde ihn begleiten!“ beruhigte Mr. Pickwick sie sogleich.

„Sie sind ein wackerer Freund, Pickwick“, sagte Mr. Wardle, die Hand des Gelehrten ergreifend. „Emma, leg Mr. Pickwick einen Schal um; rasch! Seht nach eurer Großmutter, Mädchen; sie ist ohnmächtig geworden. Also, kommen Sie schon! – Sind Sie fertig?“

Da Mr. Pickwick inzwischen Mund und Kinn hastig in ein großes Tuch gehüllt, den Hut auf den Kopf gestülpt und den Reisemantel über den Arm genommen hatte, antwortete er mit Ja.

Sie sprangen in das Gig.

„Laß dem Gaul die Zügel, Tom!“ rief Mr. Wardle. Und fort ging’s, über die schmalen Feldwege weg, holterdiepolter über die Wagengeleise und an den Hecken vorbei, daß alle Augenblicke zu befürchten stand, das leichte Fuhrwerk könne in Stücke gehen.

„Wieviel haben sie Vorsprung?“ keuchte Mr. Wardle, als das Gig vor dem „Blauen Löwen“ anlangte, um den sich, so spät es war, bereits ein kleines Häuflein Neugieriger versammelt hatte.

„Nicht über dreiviertel Stunden“, lautete die vielstimmige Antwort.

„Schnell einen Vierspänner! Heraus damit! Das Gig könnt ihr ja nachher ausspannen.“

„Los, Jungens!“ schrie der „Blaue Löwe“, „eine Chaise und vier Pferde! Flott, flott! Mehr Leben in die Bude!“

Die Knechte und Stallburschen eilten hinweg; Laternen bewegten sich hin und her, Pferdehufe klapperten auf dem holperigen Hofpflaster, die Chaise rumpelte aus dem Kutschenschuppen heraus, und alles war voll Leben und Bewegung.

„Nun, wird’s noch diese Nacht?“ rief Wardle ungeduldig.

„Kommt eben in den Hof, Sir“, versetzte ein Stallknecht. Und der Wagen kam, die Pferde wurden eingespannt, der Kutscher sprang herzu, die Reisenden stiegen ein.

„Wohlverstanden, die Siebenmeilenstation muß in weniger als einer halben Stunde gemacht sein“, rief Mr. Wardle. „Fort!“

Die Jungen brachten die Peitsche, die Kellner schrien, die Stallknechte fluchten, und fort sauste der Wagen in rasender Eile.

Hübsche Situation, dachte Mr. Pickwick, als er einen Augenblick Zeit zum Überlegen hatte. Hübsche Situation für den Präsidenten des Pickwick-Klubs. Dumpfige Chaise – fremde Pferde – fünfzehn Meilen in der Stunde – und Mitternacht!

Die ersten drei oder vier Meilen fiel kein Wort zwischen den beiden Herren, da jeder zuviel mit seinen eignen Gedanken beschäftigt war. Dann aber, als die warm gewordnen Pferde gleichmäßiger gingen, wurde auch Pickwick durch die Raschheit der Bewegung fröhlicher gestimmt und vermochte nicht länger, wortlos dazusitzen.

„Ich glaube, wir werden sie sicher einholen“, begann er.

„Ich hoffe“, versetzte sein Gefährte.

„Eine schöne Nacht“, sagte Mr. Pickwick, nach dem klaren Vollmond aufblickend.

„Um so schlimmer“, entgegnete Wardle, „denn sie haben für ihren Vorsprung den Vorteil der Helligkeit gehabt, der uns abgehen wird, da der Mond höchstens noch eine Stunde im Himmel bleibt.“

„In der Dunkelheit wird’s wohl mit der Geschwindigkeit hapern, oder?“

„Jedenfalls“, versetzte Mr. Wardle trocken.

Mr. Pickwicks Begeisterung begann sich ein wenig abzukühlen, als er über die Unbequemlichkeiten und Gefahren der Reise nachdachte, auf die er sich so unüberlegt eingelassen hatte. Ein lautes Rufen des Stallburschen auf dem Leitgaul riß ihn aus seinen Betrachtungen.

„Ö – ö – ö – ö!“

„Ö – ö – ö – ö!“ wiederholte der zweite Stallbursche.

„Ö – ö – ö – ö!“ stimmte der alte Wardle laut mit ein und beugte sich mit dem halben Körper zum Kutschenfenster hinaus.

„Ö – ö – ö – ö!“ schrie Mr. Pickwick am kräftigsten von allen, obgleich er durchaus nicht wußte, warum.

Und während dieses vierfachen „Ö“ machte der Wagen alt.

„Was gibt’s?“ fragte Mr. Pickwick.

„Wir sind an einem Schlagbaum und werden hier etwas von den Flüchtigen hören“, erklärte der alte Wardle.

Nach Verlauf von fünf Minuten, die unter Klopfen und Schreien vergingen, trat endlich ein Greis, nur mit Hemd und Unterhosen bekleidet, aus dem Schlagbaumhäuschen und schob die Barre zurück.

„Wie lange ist’s, seit eine Postkutsche hier durchkam?“ fragte Mr. Wardle.

„Wie lange?“

„Jaja, wie lange.“

„Kann’s nicht genau sagen. Gar lang wird’s nicht sein, aber auch nicht gar kurz. – Na, so zwischendrin, denke ich.“

„Aber eine Chaise ist doch vorbeigekommen?“

„O ja, ’ne Chaise ist vorbeigekommen.“

„Aber wie lange ist’s her, guter Freund?“ mischte sich Mr. Pickwick ein. „Vor einer Stunde vielleicht?“

„So was mag’s gewesen sein.“

„Oder zwei Stunden?“ fragte der Postillion auf dem Handpferd.

„Können auch zwei Stunden sein“, entgegnete der Greis gedankenvoll.

„Fort, Jungens!“ rief Mr. Wardle ärgerlich. „Haltet euch nicht mit dem alten Dummkopf auf.“

„Dummkopf?“ brummte der Greis mit einem Grinsen, schob den Balken halb vor und trat in die Mitte des Weges, um dem Wagen nachzusehen, der in der Ferne immer kleiner und kleiner wurde. „Lange noch kein solcher, wie der da drinnen. Verliert er da seine zehn Minuten und geht so gescheit fort, wie er gekommen ist. Wenn jeder Schlagbaumwärter seine Guinee nur halb so gut verdient, wie ich, wirst du die Chaise vor Michaeli nicht einholen, alter Schmerbauch.“

Mit einem weiteren Grinsen schloß der Greis den Schlagbaum vollends, trat in sein Haus und schob den Riegel hinter sich zu.

Inzwischen raste der Wagen mit gleichbleibender Geschwindigkeit weiter, bis er am Ende des Stationsbereichs anlangte. Der Mond ging, wie Mr. Wardle richtig vorhergesagt, bald unter, und große Ballen schwarzer Wolken, die schon seit einiger Zeit den Himmel umdüstert hatten, sammelten sich schnell zu einer einzigen dunkeln Masse. Große Regentropfen, die hin und wieder an die Wagenfenster schlugen, schienen den Reisenden eine stürmische Nacht zu verkünden. Der Wind blies ihnen entgegen, fegte in furchtbaren Stößen die schmale Straße daher und heulte greulich in den Chausseebäumen. Mr. Pickwick wickelte sich tiefer in seinen Mantel, drückte sich behaglich in eine Ecke des Wagens und sank in ein gesundes Schläfchen, aus dem er erst wieder erwachte, als der Wagen haltmachte und die Stallknechtsklingel nebst dem Melderuf: „Rasch! Pferde vor!“ erscholl.

Wieder gab es eine Verzögerung. Die Postjungen lagen in einem so geheimnisvoll tiefen Schlaf, daß man bei jedem fünf Minuten brauchte, um ihn zu wecken. Der Pferdeknecht hatte den Stallschlüssel verlegt, und als er endlich gefunden war, verwechselten die Postillione die Geschirre, so daß das Geschäft des Vorspannens wieder aufs neue begonnen werden mußte. Wäre Mr. Pickwick allein gewesen, so würden diese vielen Hindernisse der Fortsetzung der Fahrt für diese Nacht ein Ende gesetzt haben, aber der alte Mr. Wardle war nicht so leicht zu entmutigen. Er legte überall so rührig mit Hand an, knuffte hin und wieder einen der Burschen, zog da eine Schnalle an und legte dort eine Kette ein, so daß der Wagen in weit kürzerer Zeit, als sich unter so vielen Schwierigkeiten hätte erwarten lassen, zur Abfahrt bereitstand.

Dann ging die Reise – allerdings unter nicht besonders günstigen Auspizien – wieder weiter. Die nächste Station war fünfzehn Meilen entfernt, die Nacht finster, der Sturm heftig, und der Regen schüttete in Strömen. Es war unmöglich, unter solchen Verhältnissen rasch vorwärts zu kommen. – Ein Uhr hatte es bereits geschlagen, und man brauchte fast zwei Stunden, um die Haltestelle zu erreichen. Hier ließ jedoch ein Lichtblick alle Hoffnungen wieder aufleben.

„Wann ist diese Chaise angekommen?“ rief der alte Wardle, sprang aus dem Wagen und deutete auf ein Fuhrwerk, das, kotbespritzt, im Hofe stand.

„Vor nicht ganz einer Viertelstunde, Sir“, antwortete der Stallknecht, an den die Frage gerichtet war.

„Ein Herr und eine Dame?“ fragte Wardle mit fast atemloser Hast.

„Ja, Sir.“

„Der Herr groß – dünn – lange Beine?“

„Ja, Sir.“

„Dame ältlich – schmales Gesicht – etwas mager – wie?“

„Ja, Sir.“

„Beim Himmel, sie sind’s, Pickwick!“ rief der alte Herr.

„Sie wären schon früher angekommen, wenn ihnen nicht ein Zugstrang gerissen wäre“, erklärte der Stallknecht.

„Sie sind’s“, rief Mr. Wardle. „Beim Zeus, sie sind’s! Geschwind. – Ein Vierspänner! Wir holen sie ein, noch ehe sie die nächste Station erreichen. Jedem eine Guinee, Jungens. – Rührt euch! – Flott, flott! – So; brave Burschen.“

Geschäftig rannte der alte Herr im Hof hin und her und befand sich dabei in einer Aufregung, die sich sogar Mr. Pickwick mitteilte. Eigenhändig half der Gelehrte beim Anschirren mit und machte sich auf eine ganz wundersame Weise mit den Rossen und den Rädern zu schaffen, fest überzeugt, durch seine Mitwirkung die Vorbereitungen zum schleunigen Aufbruch wesentlich zu fördern.

„Hinein! Hinein!“ rief Mr. Wardle, stieg in den Wagen, zog den Tritt nach und schloß den Schlag. „Kommen Sie, beeilen Sie sich.“

Und noch ehe Mr. Pickwick wußte, was geschah, fühlte er sich durch ein Zerren des alten Herrn und durch einen Schub des Stallknechts zu der andern Tür hinein in den Wagen befördert. Und schon ging es wieder weiter.

„Na, das ist wenigstens ’n Tempo“, rief der alte Herr frohlockend.

„Ich bin in meinem Leben noch nie so gerüttelt worden“, entgegnete Mr. Pickwick.

„Macht nichts, wird bald vorüber sein. Nur nicht die Ruhe verlieren.“

Mr. Pickwick verstaute sich, so gut er konnte, in seiner Ecke, und der Wagen rollte, schneller als je, dahin.

Sie hatten in dieser Weise ungefähr drei Meilen zurückgelegt, als Mr. Wardle, der auf ein paar Minuten durch den Schlag hinausgesehen, plötzlich seinen mit Kot bespritzten Kopf zurückzog und in atemloser Erregung ausrief:

„Dort sind sie!“

Mr. Pickwick steckte gleichfalls den Kopf durch das Fenster. Ja, es war ein Wagen mit vier Pferden, die in kurzer Entfernung vor ihnen dahingaloppierten.

„Vorwärts! Vorwärts!“ schrie der alte Herr. „Zwei Guineen für jeden, Jungens! Holt sie ein! – Drauf, drauf!“

Die Pferde des vorderen Wagens rasten im Galopp dahin, und die Mr. Wardles jagten wütend hinterdrein.

„Ich sehe seinen Kopf“, rief der cholerische alte Herr. „Ich will verdammt sein, wenn ich nicht seinen Kopf sehe.“

„Ich gleichfalls. Er ist’s!“ Mr. Pickwick hatte sich nicht geirrt. Mr. Jingles Gesicht, über und über mit Straßenkot bespritzt, war deutlich an dem Wagenfenster zu erkennen, und die ungestümen Bewegungen seines Armes gegen die Postillione verrieten, daß er sie antrieb, ihr Äußerstes zu tun.

Die Spannung stieg aufs höchste. Felder, Bäume und Hecken schienen mit der Schnelligkeit des Windes vorüberzufliegen. Man konnte deutlich Jingles Stimme die Postillione antreiben hören. Der alte Wardle schäumte vor Wut. Er warf dem Entführer die „Schurken“ und „Spitzbuben“ zu Dutzenden nach und schüttelte grimmig die Faust, aber Mr. Jingle antwortete nur mit einem verächtlichen Lächeln und erwiderte die Drohungen des alten Herrn durch lautes Frohlocken, als seine Pferde unter Peitsche und Sporen plötzlich wieder rascher anzogen und die Verfolger ein Stück hinter sich ließen.

Mr. Pickwick hatte eben seinen Kopf zurückgezogen und Mr. Wardle, vom Schreien erschöpft, ein Gleiches getan, als sie durch einen furchtbaren Stoß des Wagens nach vorn geschleudert wurden. Ein dumpfer Krach – ein lautes Prasseln – ein Rad flog ab, und der Wagen schlug um.

Nach einigen Augenblicken der Verwirrung und Bestürzung, in denen sich nichts als das Ausschlagen der Pferde und das Klirren der Glasscheiben vernehmen ließ, fühlte sich Mr. Pickwick gewaltsam aus dem zertrümmerten Wagen hervorgezogen, und als er endlich auf den Beinen stand und sich aus den Falten seines Mantels herauswickelte, die den Gebrauch seiner Brille wesentlich beeinträchtigten, gewahrte er den ganzen Umfang des Unheils, das ihnen zugestoßen war.

Der alte Mr. Wardle stand ohne Hut und mit zerrißnen Kleidern neben ihm, und die Trümmer des Wagens lagen zu ihren Füßen. Die Postillione, denen es gelungen war, die Stränge abzuschneiden, hielten, beschmutzt und von dem scharfen Ritte erschöpft, ihre Pferde am Zaum. Die andre Chaise hatte einen Vorsprung von ungefähr hundert Yards und machte halt, als man dort das Krachen vernahm. Die Stallburschen blickten aus ihren Sätteln mit grinsenden Gesichtern zurück, und Mr. Jingle, der das Unglück aus dem Kutschenfenster mit angesehen hatte, strahlte vor Zufriedenheit. Der Tag brach eben an, so daß sich die ganze Szene im Dämmerlichte des Morgens deutlich unterscheiden ließ.

„Hallo!“ rief der schamlose Jingle. „Jemand beschädigt? – Ältliche Herren – ziemliches Gewicht – faule Sache – wahrhaftig.“

„Sie sind ein Schurke!“ brüllte Wardle.

„Haha!“ lachte Mr. Jingle. Dann fügte er mit einem bedeutsamen Wink und einer Bewegung seines Daumens gegen das Innere seiner Kutsche hinzu: „Übrigens – sie ist ganz wohl – bittet, Sie möchten sich ihretwegen nicht bemühen – läßt den ,Tapps‘ grüßen. – Vielleicht hinten aufsitzen? – Vorwärts, Jungens!“

Die Postillione ritten wieder los, und die Chaise rasselte weiter, während Mr. Jingle höhnisch sein Schnupftuch zum Fenster hinausflattern ließ.

Nichts von dem ganzen Abenteuer – nicht einmal der Umsturz des Wagens – war imstande gewesen, Mr. Pickwicks Gemütsruhe zu erschüttern, aber die Bosheit dieses Menschen, der zuerst von seinem treuen Begleiter Geld borgte und dann seinen Namen schmählicherweise in „Tapps“ abkürzte, war mehr, als er ertragen konnte. Er holte tief Atem, wurde rot bis an seinen Brillensteg und sagte langsam und nachdrücklich:

„Wenn ich je wieder mit diesem Menschen zusammentreffe, so will ich …“

„Jaja“, unterbrach ihn Mr. Wardle, „das ist alles recht schön. Aber während wir hier stehen und schwatzen, verschafft er sich eine Heiratslizenz und läßt sich in London trauen.“

Mr. Pickwick hielt inne und verkniff sich seine Rachegedanken.

„Wie weit ist’s bis zur nächsten Station?“ fragte Mr. Wardle einen der Postillione.

„Sechs Meilen, was, Tom?“ „Eher mehr.“

„Etwas über sechs Meilen, Sir.“

„Da kann man weiter nichts tun, als zu Fuß gehen, Pickwick“, meinte Mr. Wardle.

„Freilich, ja“, gab dieser wahrhaft große Mann zu, und so sandten sie denn einen Stallburschen zu Pferd voraus, um einen neuen Wagen samt Bespannung zu bestellen, und ließen den andern bei den Trümmern zurück, während sie selbst sich mannhaft in Bewegung setzten, nachdem sie zuvor ihre Hälse mit Tüchern bewickelt und ihre Hutkrempen heruntergeschlagen hatten, um sich, so gut es ging, gegen den Regen zu schützen, der sich jetzt, nach kurzem Nachlassen, wieder in Strömen zu ergießen begann.