Zweites Kapitel
Die Verbreitung
Ein kleiner Mann saß in einer kleinen Stube, die von einem kleinen Laden durch eine kleine spanische Wand abgeteilt war.
Die kleine spanische Wand war über und über mit kleinen Ausschnitten aus Zeitungen beklebt. In Gesellschaft des kleinen Mannes befand sich eine Menge kleiner Kinder. Unendlich viele waren es. Wenigstens wirkte auf diesem engen Schauplatz, was ihre Zahl betrifft, ihre Schar geradezu überwältigend. Von dieser kleinen Sippschaft waren zwei vermutlich mittels irgendeiner starken Maschinerie in ein Bett in einem Winkel gebracht worden, wo sie ruhig den Schlummer der Unschuld hätten schlafen können, wenn sie nicht von der Neigung besessen gewesen wären, wach zu bleiben und aus einem Bett heraus ins andere Bett wieder hineinzukrabbeln. Der unmittelbare Anlaß zu diesen Überfällen auf die wachende Welt war eine Mauer aus Austernschalen, die zwei andere Jünglinge zarten Alters in einer Ecke errichteten. Gegen diese Befestigung machten die beiden im Bett grimmige Ausfälle (gleich den verwünschten Pikten und Skoten, die die ersten Geschichtsstudien der meisten jungen Engländer verdüstern). Dann zogen sie sich wieder auf eigenes Gebiet zurück.
Außer dem Lärm, der diesen Angriffen und der haßerfüllten Verteidigung der Bedrohten folgte – denn diese setzten ihren Feinden heiß nach und führten Stöße gegen die Bettücher, unter die sich die Marodeure flüchteten –, spendete noch ein anderer kleiner Junge in einem andern kleinen Bett sein Scherflein Spektakel zu dem allgemeinen Familienvorrat, indem er seine Stiefel und andere an und für sich harmlose kleine Gegenstände, wenn sie nur derb und hart waren und sich zu Wurfgeschossen eigneten, nach den Störern seiner Ruhe schleuderte, die natürlich ihrerseits nicht faul waren, solche Liebenswürdigkeiten prompt zu erwidern.
Außerdem wankte noch ein anderer kleiner Junge, der Größte hier, aber immer noch klein, hin und her, ganz auf eine Seite gebeugt und beträchtlich eingeknickt in den Knien vom Gewicht eines großen Säuglings, den er gemäß des in sanguinischen Familien oft üblichen Vorurteils in Schlaf wiegen sollte. Aber ach, in welch unerschöpfliche Regionen der Wachsamkeit und des Beobachtungstriebes machten sich die Augen des Wickelkindes über seine nichts Arges ahnende Schulter jetzt erst recht zu starren bereit.
Es war ein wahrer Moloch von einem Wickelkind, auf dessen unersättlichem Altar das ganze Dasein dieses jungen Bruders als tägliches Opfer dargebracht wurde. Sein Hauptcharakterzug bestand darin, daß es niemals fünf Minuten lang ruhig war und niemals schlafen ging, wenn es sollte. »Tetterbys Baby« war in der Nachbarschaft so wohl bekannt wie der Postbote oder der Bierjunge. Von Montag morgen bis Samstag abend streifte es in den Armen des kleinen John Tetterby von Türschwelle zu Türschwelle und schloß als schwerfälliger Nachzügler den Zug der Straßenjugend – wenn diese einem Taschenspieler oder Affen nachlief – und kam, immer auf einer Seite überhängend, immer ein klein wenig zu spät, um noch etwas zu sehen. – Wenn sich die Jugend zum Spiele sammelte, wurde der kleine Moloch widerspenstig und wollte fort. Wenn Johnny ausgehen wollte, schlief der Moloch und – mußte bewacht werden. Wollte Johnny zu Hause bleiben, wachte der Moloch auf und mußte ausgeführt werden. Und doch war Johnny davon durchdrungen, daß der Moloch ein tadelloses Wickelkind sei und im Königreich England nicht seinesgleichen habe, und war ganz zufrieden, hinter den Röcken hervor oder über den großen flappigen Hut der Kleinen hinweg mangelhafte Ansichten von der Welt zu erhaschen und mit seinem Quälgeist herumzuwanken wie ein winziger Dienstmann mit einem ungeheuren Paket, das keine Adresse hat und niemals abgegeben werden kann.
Der kleine Mann, der in der kleinen Stube saß und vergebliche Versuche machte, mitten in diesem Lärm seine Zeitung in Gemütsruhe zu lesen, war der Familienvater und Chef der Firma über dem kleinen Laden draußen, auf dem mit großen Buchstaben geschrieben stand:
A. Tetterby and Comp., Zeitungsagenten.
Genau genommen war er die einzige Person, der diese Bezeichnung galt, denn »Comp.« war lediglich ein poetischer Begriff, der jeglicher wirklichen Grundlage entbehrte und sich auf keine greifbare Person bezog.
Tetterbys Laden war der Eckladen im Jerusalemstift. Im Fenster lag ein reicher Schatz an Literatur, der sich aus alten illustrierten Zeitungen und Lebensbeschreibungen von See- und Straßenräubern zusammensetzte. Spazierstöcke und Murmeln waren gleichfalls im Warenlager enthalten. Einstmals hatte sich das Geschäft sogar auch auf die Zuckerbäckerei kleinen Maßstabes erstreckt. Offenbar aber schien für diese Luxusartikel kein Bedarf in der Gegend des Jerusalemstifts gewesen zu sein, denn nichts zu diesem Handelszweig Gehöriges stand mehr im Fenster außer einer kleinen Gaslaterne voll Zuckerzelten, die so lange im Sommer geschmolzen und im Winter gefroren waren, bis jede Hoffnung verschwunden war, sie jemals herauskratzen und essen zu können, ohne die Laterne mitzuverzehren.
Tetterby hatte sich in verschiedenen Dingen versucht. Er hatte einmal einen kleinen schwächlichen Abstecher gemacht ins Spielwarengeschäft, denn in einer andern Laterne lag ein Haufen winziger Wachspuppen, die alle hoffnungslos mit dem Kopf nach unten zusammenstaken und sich mit den Füßen in die Gesichter traten, während sich auf dem Grunde ein Bodensatz von gebrochenen Armen und Beinen niedergeschlagen hatte.
Er mußte auch einmal einen Anlauf in der Putzmacherrichtung gemacht haben, wie ein paar dürre Drahtgestelle für Hüte in einer Ecke des Fensters verrieten. Er hatte gewähnt, es lasse sich aus dem Tabakhandel ein Lebensunterhalt herausschlagen, und hatte ein Bild aufgehängt, auf dem aus jedem der drei Weltteile des britischen Reichs ein Eingeborener, das duftende Kraut genießend, abgebildet war; darunter besagte eine poetische Legende, daß der erste schnupfe, der zweite kaue, der dritte rauche. Es schien sich aber nichts daraus entwickelt zu haben – außer Fliegen. Es war auch einmal eine Zeit gewesen, wo er seine letzte Hoffnung auf falschen Schmuck gesetzt, denn hinter einem Glasviereck lagen eine Karte mit blechernen Siegelringen und eine andere mit Bleistifthülsen und ein geheimnisvolles schwarzes Amulett von rätselhafter Bestimmung, auf dem der Preis, neun Pence, stand.
Bis auf die Stunde hatte das Jerusalemstift von all dem nichts gekauft.
Kurz, Tetterby hatte so fleißig versucht, seinen Lebensunterhalt auf diese oder jene Weise aus dem Jerusalemstift herauszuschlagen, und hatte doch bei alldem so wenig Erfolg gehabt, daß sich in der Firma der Kompagnon offenbar am besten stand. Der Kompagnon als körperlose Erfindung hatte nicht unter gemeinem Hunger und Durst zu leiden, hatte weder Armensteuer noch andere Abgaben zu bezahlen und für keine Familie zu sorgen.
Tetterby indessen bekam in seiner kleinen Stube das Vorhandensein einer kinderreichen Familie in so lärmender Weise zu verspüren, daß es ihm unmöglich war, nicht darauf zu achten oder in Ruhe die Zeitung zu lesen. Er legte daher sein Blatt nieder, kreiste in seiner Verwirrung ein paarmal im Zimmer umher wie eine unschlüssige Brieftaube; machte einen fruchtlosen Vorstoß gegen ein paar fliegende kleine Gestalten in Nachthemden, die an ihm vorbeifegten, und stieß dann plötzlich geiergleich auf das einzige friedfertige Mitglied der Familie, den Molochhüter, los und gab ihm ein paar hinter die Ohren.
»Du böser Bube«, rief Mr. Tetterby, »hast du denn gar kein Erbarmen mit deinem armen Vater, der sich an diesem harten Wintertag seit fünf Uhr morgens geplackt und gesorgt hat, mußt du ihm seine Ruhe stören und die Neuesten Nachrichten verbittern mit deiner teuflischen Bosheit; ist es nicht genug, Sir, daß dein Bruder Dolphus in Nebel und Kälte sich abplackt und abschuftet, während du hier im Luxus schwimmst und ein – Wickelkind hast, kurz alles, wonach dein Herz begehrt«, sagte Mr. Tetterby, all dies wie die Wonnen des Paradieses zusammenzählend. »Mußt du trotzdem eine Wildnis aus deinem Elternhause und Tollhäusler aus Vater und Mutter machen? Mußt du das, Johnny? He?« Bei jeder Frage tat Mr. Tetterby so, als wolle er ihm wieder eins hinter die Ohren geben, aber er besann sich eines Bessern und hielt seine Hand zurück.
»O Vater«, wimmerte Johnny, »ich habe doch gar nichts getan, ganz gewiß nicht, und hab mir soviel Mühe gegeben mit Sally und sie in den Schlaf gewiegt, o Vater.«
»Ich wollte, mein kleines Frauchen käme nach Hause«, sagte Mr. Tetterby gerührt und ging in sich, »ich wünschte bloß, mein kleines Frauchen käme nach Hause, ich bin nicht imstande, mit dem Volk fertig zu werden. Es macht mir die Sinne wirbeln und wächst mir über den Kopf. O Johnny! Ist es nicht genug, daß deine liebe Mutter dir diese süße Schwester geschenkt hat?« Und er deutete auf den Moloch. »Ist es nicht genug, daß ihr zuerst sieben Jungen wart und keine Spur von einem Mädel dabei, und daß die Mutter all das durchgemacht, was sie, ach Gott ja, durchgemacht hat, bloß zu dem Zweck, damit ihr alle eine kleine Schwester haben möget? Und mußt du dich trotzdem jetzt so benehmen, daß mir’s im Kopf wie ein Mühlrad herumgeht?«
Mr. Tetterby wurde immer gerührter, je mehr sich seine und Johnnys gekränkten Gefühle Luft machten, und umarmte schließlich den Molochhüter, um sich gleich darauf auf die Jagd nach einem der wirklichen Missetäter zu begeben. Nach verhältnismäßig gutem Start und einer kurzen, aber heißen Jagd über beschwerliches Gelände unter und über Bettstellen hinweg und durch das Netzwerk der Stühle hindurch, erwischte er schließlich ein Kind, das er gebührend bestrafte und ins Bett schleppte. Dieses Beispiel übte eine gewaltige und, wie es schien, mesmerische Wirkung auf den Stiefelhelden aus, der augenblicklich in tiefen Schlaf verfiel, obwohl er einen Augenblick vorher vollkommen munter und im tollsten Übermut gewesen. Auch an den beiden Architekten ließ sich die Wirkung verspüren, denn sie verfügten sich in dem anstoßenden Kämmerchen ganz still und geschwind zu Bett. Der Kamerad des Erwischten versank ebenfalls geräuschlos in seinem Nest, und so befand sich Mr. Tetterby, als er innehielt, um Atem zu schöpfen, ganz unerwartet plötzlich auf einem Gefilde vollkommenen Friedens.
»Mein kleines Frauchen selbst«, sagte Mr. Tetterby und wischte sich das erhitzte Gesicht, »hätte es nicht besser machen können. Ich wünschte bloß, mein kleines Frauchen hätte es zu besorgen gehabt, wahrhaftig!«
Mr. Tetterby suchte auf der spanischen Wand nach einer Sentenz, die sich eignen würde, den Kindern bei dieser Gelegenheit eingeprägt zu werden, und las folgendes laut ab:
»Es ist eine unanfechtbare Tatsache, daß alle merkwürdigen Männer merkwürdige Mütter gehabt haben und sie im spätern Leben wie ihre besten Freunde geachtet haben. Denkt an eure eigene merkwürdige Mutter, meine Jungen«, fügte Mr. Tetterby hinzu, »und erkennet ihren Wert, solange sie noch unter euch weilt.«
Er setzte sich in seinen Stuhl am Kamin, schlug die Beine übereinander und widmete sich wieder seiner Zeitung.
»Es soll mir nur einer, ganz gleich, wer’s sein mag, noch einmal aus dem Bette herauskommen«, gab Mr. Tetterby wie eine allgemeine Proklamation in mildem Tone bekannt, »und grenzenloses Erstaunen, was dann geschieht, soll das Los dieses geachteten Zeitgenossen sein!« Ein Ausdruck, den Mr. Tetterby wieder von der spanischen Wand ablas. »Johnny, mein Sohn, nimm deine einzige Schwester Sally in acht, denn sie ist das schönste Juwel, das jemals auf deiner jugendlichen Stirn geglänzt hat.« Johnny setzte sich demütig auf einen kleinen Stuhl und verschwand fast unter der Last des Molochs.
»Ach, was für ein Geschenk dieses Kind für dich bedeutet, Johnny«, sagte sein Vater, »und wie dankbar du dafür sein solltest! Es ist nicht allgemein bekannt, Johnny« – er las jetzt wieder von seiner spanischen Wand ab –, »aber es ist eine durch genaue Berechnungen offenbar gewordene Tatsache, daß folgender ungeheurer Prozentsatz von Kindern nie das zweite Lebensjahr erreicht, nämlich – – –«
»O Vater, halt‘ ein, ich bitte dich«, rief Johnny, »ich kann’s nicht ertragen, wenn ich an Sally denke.«
Mr. Tetterby ließ ab, und Johnny, von der tiefen Verantwortung, die er trug, ergriffen, wischte sich die Augen und lullte seine Schwester ein.
»Dein Bruder Dolphus«, sagte sein Vater und schürte das Feuer, »bleibt heut‘ lange, Johnny, und wird nach Hause kommen wie ein Eisklumpen. Wo bleibt nur deine treffliche Mutter?«
»Da kommt die Mutter, und Dolphus auch, Vater!« rief Johnny »Ich glaube wenigstens.«
»Du hast recht«, entgegnete der Vater und lauschte. »Ja, ja, das ist der Tritt meines kleinen Frauchens.«
Der Ideengang, mittels dessen Mr. Tetterby zu dem Schlusse gekommen war, sein Ehegespons sei ein kleines Frauchen, war ein tiefes Geheimnis. Aus der Frau hätte man mit Leichtigkeit zwei Ausgaben ihres Mannes anfertigen können. Schon als Individuum für sich fiel sie auf, so stark und stattlich war sie, aber mit ihrem Manne verglichen, wuchsen ihre Dimensionen geradezu ins Gigantische. Dasselbe war der Fall gegenüber ihren sieben Söhnen, die im Vergleich mit ihr die reinsten Elzevierausgaben waren. Bei Sally indessen hatte sich Mrs. Tetterby endlich Geltung verschafft. Das wußte niemand besser als Johnny, das Opfer, der den schweren Abgott zu jeder Stunde des Tages maß und wog.
Mrs. Tetterby, die Einkäufe gemacht hatte und einen Korb trug, schob Hut und Tuch zurück, setzte sich erschöpft nieder und befahl Johnny, auf der Stelle seine süße Last zu ihr zu tragen. Sie wolle ihr einen Kuß geben. Als Johnny diesem Befehl Folge geleistet hatte und wieder zu seinem Stuhl zurückgekehrt und wieder in Demut versunken war, da erbat sich Mr. Adolphus Tetterby jun., der inzwischen seine obere Hälfte aus einem endlosen regenbogenfarbigen Schal herausgewickelt hatte, dieselbe Gunst. Johnny gehorchte abermals und war wieder zu seinem Stuhl zurückgekehrt, als Mr. Tetterby sen., von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, als Vater denselben Anspruch erhob. Die Befriedigung dieses dritten Verlangens erschöpfte das Opfer derart, daß es kaum Atem genug fand, um wieder zu seinem Stuhl zurückzukehren und seine Verwandten anzukeuchen.
»Mach, was du willst, Johnny«, sagte Mrs. Tetterby mit Kopfschütteln, »aber nimm sie in acht oder komm deiner Mutter nie wieder unter die Augen.«
»Deinem Bruder auch nicht«, sagte Adolphus, »und auch deinem Vater nicht, Johnny«, ergänzte Mr. Tetterby.
Johnny tief erschüttert durch diese bedingungsweise angedrohte Lossagung, blickte tief in Molochs Augen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei, klopfte dem Kind auf den Rücken und ließ es auf seinem Bein reiten.
»Bist du naß, Dolphus, mein Junge?« fragte der Vater. »Komm, setz dich in meinen Stuhl und trockne dich.«
»O danke, Vater«, sagte Adolphus und wischte sich das Gesicht mit dem abgetragenen Ärmel, »ich bin nicht sehr naß, scheint mir. Glänzt mein Gesicht sehr, Vater?«
»Ja, es sieht ein bißchen wächsern aus, mein Junge«, bestätigte Mr. Tetterby.
»Das macht das Wetter«, sagte Adolphus und wischte sich die Backen ab. »Wenn’s so recht regnet und graupelt und bläst und schneit und nebelt, dann wird mein Gesicht manchmal ganz feuerrot und glänzt dann – – –«
Master Adolphus gehörte auch zur Zeitungsbranche und war von einer blühenderen Firma als der seines Vaters & Comp. angestellt, Zeitungen auf einer Eisenbahnstation zu verkaufen, wo seine dickbäckige kleine Gestalt, die einem Amor in schäbiger Ausführung nicht unähnlich sah, und seine hohe, schrille Stimme (er war noch nicht viel mehr als zehn Jahre alt) ebensowohl bekannt waren wie das heisere Keuchen der ein- und auslaufenden Lokomotiven. Sein jugendlicher Frohsinn bei diesem frühzeitigen Eintritt ins Geschäftsleben hätte kein rechtes Ventil gehabt, wenn Adolphus nicht eine glückliche Entdeckung gemacht hätte, mit der er sich Unterhaltung verschaffte und den langen Tag in verschiedene Grade des Interesses einteilen konnte, ohne dabei das Geschäft zu vernachlässigen. Diese geistvolle Erfindung, gleich allen großen Entdeckungen durch Einfachheit auffallend, bestand in der Abänderung des ersten Vokals in dem Worte »Blatt«, an dessen Stelle, je nach den verschiedenen Tagesabschnitten, all die andern Vokale in alphabetischer Reihenfolge gesetzt wurden. So lief er vor Tagesanbruch in der Winterszeit in seinem kleinen Käppchen und Mäntelchen aus Ölzeug und seinem ungeheuren Umschlagtuch hin und her und durchgellte die dicke Luft mit dem Rufe: »Mor-gen-blatt«. Wenn noch ungefähr eine Stunde bis Mittag fehlte, wurde daraus: »Mor-gen-blätt« und daraus wurde ungefähr um zwei Uhr: »Mor-gen-blitt!« und dies verwandelte sich nach wieder ein paar Stunden in »Mor-gen-blott!« Und so stieg es abwärts mitsamt der Sonne bis hinunter zu »Abendblutt«.
Darin bestand der Lebenstrost und das Hauptvergnügen für den jungen Gentleman.
Mrs. Tetterby, seine hochwohlgeborene Mutter, die mit nach rückwärts gesunkenem Hut und Tuch dagesessen und nachdenklich ihren Trauring um den Finger gedreht hatte, erhob sich jetzt, legte ihre Überkleider ab und begann den Tisch für das Abendbrot zu decken.
»O mein, o mein, o mein«, sagte Mrs. Tetterby »wie’s in der Welt zugeht!«
»Wie geht’s denn in der Welt zu, mein Kind?« fragte Mr. Tetterby.
»Ach nichts«, sagte Mrs. Tetterby.
Mr. Tetterby zog die Brauen in die Höhe, blätterte seine Zeitung um und ließ seine Augen auf ihr umherschweifen, nach oben und unten und nach der Seite, aber seine Aufmerksamkeit weilte woanders, und er konnte nicht lesen.
Mrs. Tetterby deckte unterdessen den Tisch, aber mehr, um ihn zu bestrafen, als um das Familienessen fertig zu machen, denn sie schlug ihn unnötig hart mit Messer und Gabel, prügelte ihn mit den Tellern, stieß ihn mit dem Salzfaß und traf ihn schwer mit dem Brot.
»O mein, o mein, o mein«, sagte Mrs. Tetterby wieder, »wie es doch in der Welt zugeht.«
»Mein Schatz«, entgegnete ihr Mann und blickte wieder auf, »du sagtest das schon vorhin. Wie geht es denn in der Welt zu?«
»Ach nichts«, sagte Mrs. Tetterby.
»Sophie«, hielt ihr ihr Mann vor, »auch das sagtest du schon vorhin.«
»Nun, ich will es noch einmal sagen, wenn es dir gefällt«, entgegnete Mrs. Tetterby. »Ach nichts! – und noch einmal, wenn’s dir gefällt: Ach nichts! – und noch einmal, wenn dir’s gefällt: Ach nichts! – So!!«
Mr. Tetterby sah sein Ehegespons an und sagte mit mildem Erstaunen:
»Mein kleines Frauchen, was hat dich so außer Rand und Band gebracht?«
»Das kann ich doch nicht wissen«, versetzte sie, »frag mich nicht. Wer sagt denn, daß ich außer Rand und Band bin. Ich doch nicht!«
Mr. Tetterby gab die Lektüre seiner Zeitung auf wie ein unersprießliches Geschäft, schritt langsam durch die Stube, die Hände auf dem Rücken, die Schultern in die Höhe gezogen, wobei sein Gang vollständig mit der Dulderart seines Wesens harmonierte. Dann richtete er das Wort an seine beiden ältesten Sprößlinge:
»Dein Abendessen wird in einer Minute fertig sein, Dolphus«, sagte er. »Deine Mutter ist in der Nässe draußen gewesen und hat es in der Garküche gekauft. Das war sehr schön von deiner Mutter. Du wirst auch bald was zum Abendessen bekommen, Johnny. Deine Mutter findet Wohlgefallen an dir, junger Mann, weil du so schön auf deine kostbare Schwester achtgibst.«
Mrs. Tetterby sagte nichts, aber ihr Zorn gegen den Tisch ließ sichtlich nach. Als sie mit ihren Zubereitungen fertig war, nahm sie aus ihrem geräumigen Korb ein tüchtiges Stück heißen Erbsenpuddings, das in Papier gewickelt war, und eine mit einem Deckel zugedeckte Schüssel, die einen so angenehmen Duft ausströmte, daß die drei Paar Augen in den zwei Betten sich weit aufrissen und das festliche Mahl anstarrten.
Mr. Tetterby beachtete diese Art stillschweigender Einladung, Platz zu nehmen, nicht weiter, sondern blieb stehen und wiederholte langsam: »Ja, ja, dein Abendbrot wird im Augenblick fertig sein, Dolphus. Deine Mutter ist in der Nässe draußen gewesen bei der Garküche und hat es geholt. Das war sehr schön von deiner Mutter –«, bis Mrs. Tetterby, die hinter seinem Rücken verschiedene Zeichen der Zerknirschung an den Tag gelegt hatte, ihm plötzlich um den Hals fiel und weinte.
»O Dolphus«, rief Mrs. Tetterby, »wie hab‘ ich nur so sein können!«
Diese Aussöhnung rührte Adolphus jun. und Johnny dermaßen, daß beide wie auf Verabredung einen kläglichen Schrei ausstießen, der auf der Stelle bewirkte, daß die runden Augen in den Betten sich schlossen und die beiden noch übrigen kleinen Tetterbys, die eben aus dem anstoßenden Kämmerchen hervorgeschlichen kamen, um zu sehen, was es zu essen gäbe, schleunigst den Rückzug antraten.
»Ich kann dir versichern, Dolphus«, schluchzte Mrs. Tetterby, »als ich heimkam, dachte ich ebensowenig daran wie ein ungeborenes Kind – – –«
Mr. Tetterby schien dieses Gleichnis sichtlich zu mißfallen, und er bemerkte: »Sage vielleicht lieber, wie unser Kleinstes, mein Schatz.«
»– – – – ich dachte ebensowenig daran wie unser Kleinstes!« verbesserte Mrs. Tetterby. »Johnny, sieh mich nicht an! Sieh auf Sally, sonst fällt sie dir aus dem Schoß und schlägt sich tot, und dann müßtest du an den Qualen eines gebrochenen Herzens sterben, und das geschähe dir recht. – Ebensowenig wie dieses Herzblatt dort dachte ich beim Nachhausegehen daran, mißgestimmt zu sein, aber ich wußte nicht, Dolphus – – – –« Mrs. Tetterby hielt inne und drehte wieder ihren Trauring um den Finger.
»Ich verstehe«, sagte Mr. Tetterby, »ich verstehe. Meinem Frauchen ist etwas in die Quere gekommen. Harte Zeiten und hartes Wetter und harte Arbeit machen manchmal das Leben schwer. Ich verstehe. Kein Wunder! Dolphus, mein Junge«, fuhr Mr. Tetterby fort und forschte mit der Gabel in der Schüssel, »da hat deine Mutter in der Garküche außer dem Erbsenpudding ein ganzes prächtiges Schinkenbein gekauft, mit schöner brauner Kruste drauf und Sauce und Senf dazu in unerschöpflicher Menge. Gib deinen Teller her, Junge, und iß, solange es noch warm ist.«
Adolphus jun. ließ sich das nicht zweimal sagen, nahm seinen Teil mit vor Eßlust wässerigen Augen in Empfang, zog sich nach einem abseits stehenden Stuhl zurück und fiel über sein Abendbrot her. Johnny wurde auch nicht vergessen, bekam aber seine Ration auf Brot, damit nichts auf das Wickelkind tropfe. Aus dem gleichen Grunde wurde von ihm verlangt, daß er seinen Pudding nach dem Abbeißen immer in die Tasche stecken solle.
Es hätte mehr Fleisch an dem Schinkenbein sein können, denn der Vorschneider in der Garküche hatte schon viel daran herumgeschnitten für frühere Kunden, aber es mangelte nicht an Würze, und das ist ein Zubehör, das halb und halb die Vorstellung von Schweinefleisch wachruft und angenehm den Geschmackssinn täuscht. Auch der Erbsenpudding und die Sauce und der Senf hatten, wenn sie auch nicht gerade Schweinefleisch waren, doch in seiner Nähe gestanden – wie die Rose des Orients neben der Nachtigall –, so daß im Ganzen Duft und Geschmack eines gebratenen Schweins mittlerer Größe vorhanden war. Die jungen Tetterbys im Bett konnten nicht widerstehen, und obgleich sie sich gestellt hatten, als schlummerten sie friedlich, kamen sie, wenn die Eltern es nicht sahen, hervorgekrochen und baten stumm die Brüder um einen gastronomischen Beweis brüderlicher Liebe. Diese waren nicht hartherzig und gaben ihnen einige Bissen, und die Folge davon war, daß die Kleinen in Nachtjäckchen während des ganzen Essens lebhaft umherschwärmten, aus dem Bett zu den Stühlen und zurück. Das regte Mr. Tetterby außerordentlich auf und versetzte ihn einige Male in die Zwangslage, einen Ausfall zu machen, vor dem sich dann diese Guerillatruppen nach allen Richtungen in großer Verwirrung flüchteten.
Mrs. Tetterby fand keinen Genuß an ihrem Abendessen. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben. Einmal lachte sie ohne Grund, ein anderes Mal weinte sie ohne Grund, und schließlich lachte und weinte sie in einer so unbegründeten Art und Weise, daß ihr Mann ganz bestürzt war.
»Mein kleines Frauchen«, sagte Mr. Tetterby, »wenn’s in der Welt so zugeht, so geht es nicht mit rechten Dingen zu.«
»Gib mir einen Tropfen Wasser«, sagte Mrs. Tetterby mit den Tränen kämpfend. »Sprich nicht mit mir, und nimm überhaupt keine Notiz von mir, bitte!«
Nachdem Mr. Tetterby ihr das Wasser gereicht hatte, wandte er sich plötzlich gegen den unglücklichen Johnny, der voll Teilnahme zusah, und fragte, warum er in Völlerei und Faulheit schwelge, anstatt mit dem Wickelkind vorzutreten, damit der Anblick des kleinen Püppchens seine Mutter wieder zu sich bringen könne. Johnny kam sofort herbei, niedergedrückt durch die Last; Mrs. Tetterby aber streckte abwehrend die Hand aus, zum Zeichen, daß sie noch nicht imstande sei, eine so harte Prüfung ihrer Gefühle auszuhalten, und so wurde ihm denn verboten, auch nur einen Zoll näher zu treten, unter Androhung ewigen Hasses von Seiten aller seiner teuersten Verwandten. Demgemäß zog sich Johnny wieder auf seinen Stuhl zurück und versank wie zuvor.
Nach einer Pause sagte Mrs. Tetterby, es sei ihr jetzt wohler, und fing an zu lachen.
»Mein kleines Frauchen«, forschte ihr Mann mißtrauisch, »bist du auch fest überzeugt, daß dir wohler ist, oder soll’s vielleicht in einer andern Richtung ausbrechen, Sophie?«
»Nein, Dolphus, nein«, antwortete seine Gattin, »ich bin wieder ganz bei mir.«
Mit diesen Worten brachte sie ihr Haar in Ordnung, drückte ihre Handflächen auf die Augen und lachte abermals.
»Was für eine gottlose Törin ich war, auch nur einen Augenblick solche Gedanken zu haben«, sagte Mrs. Tetterby. »Rücke näher, Dolphus, ich will mein Herz ausschütten und dir erzählen, was mich drückt.«
Mr. Tetterby rückte seinen Stuhl näher heran. Mrs. Tetterby lachte wieder und wischte sich die Augen.
»Du weißt, mein lieber Dolphus«, sagte Mrs. Tetterby »als ich noch ledig war, hätte ich mich nach verschiedenen Seiten hin vergeben können. Es gab eine Zeit, da liefen mir vier auf einmal nach, und zwei davon waren Marssöhne.«
»Mein Herzblatt, wir alle sind Söhne von Ma’s«, sagte Mr. Tetterby, »zusammen mit Pa’s«, und schwelgte in dem Wortspiel.
»So meine ich’s nicht«, erwiderte seine Frau, »ich meine Soldaten – Unteroffiziere.«
»Oh!« sagte Mr. Tetterby.
»Nun, Dolphus, ich denke jetzt nicht mehr daran, und es tut mir auch nicht leid, ich weiß, ich habe einen so herzensguten Mann und würde ganz gewiß ebensoviel tun, um ihm meine Liebe zu beweisen, wie –«
»– wie irgendein kleines Frauchen auf der Welt. Sehr gut, sehr gut!«
Wäre Mr. Tetterby zehn Fuß hoch gewesen, hätte er keine zartere Rücksicht auf Mrs. Tetterbys feenhafte Gestalt an den Tag legen können, und wäre Mrs. Tetterby zwei Fuß hoch gewesen, sie hätte nicht überzeugter sein können, daß diese Bezeichnung ihr zukäme.
»Aber siehst du, Dolphus«, sagte Mrs. Tetterby »jetzt ist Weihnachten, und da machen alle Leute, die es können, Feiertag, und alle Leute, die Geld haben, geben da gern ein bißchen Geld aus, und da bin ich, ich weiß nicht wie, ein bißchen ärgerlich geworden, als ich eben auf der Straße war. Da sind so viele Sachen zum Verkauf ausgestellt, so köstliche Sachen zum Essen, so schöne Sachen zum Ansehen und so entzückende Sachen zum Tragen – und ich mußte soviel hin und her rechnen, ehe ich es wagen durfte, auch nur einen Sixpence für das Notwendigste auszugeben, und der Korb war so groß, es wäre soviel hineingegangen, und mein Geldvorrat war so klein und hätte nur zu einem bißchen gereicht – du hassest mich, nicht wahr, Dolphus?«
»Keineswegs«, sagte Mr. Tetterby »bis jetzt nicht.«
»Gut! Ich will dir die ganze Wahrheit erzählen, dann wirst du mich vielleicht hassen. Als ich in der Kälte herumlief und noch eine Menge anderer rechnender Gesichter mit großen Körben herumlaufen sah, da kam mir so der Gedanke, ich hätte doch besser getan und wäre vielleicht glücklicher, wenn – wenn, wenn – – –« Der Trauring drehte sich wieder um den Finger, und Mrs. Tetterby schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
»Ich verstehe«, sagte ihr Gatte ruhig, »wenn du gar nicht geheiratet hättest oder einen andern geheiratet hättest.«
»Ja«, schluchzte Mrs. Tetterby, »das habe ich gedacht. Hassest du mich jetzt, Dolphus?«
»Nein«, sagte Mr. Tetterby, »ich finde bis jetzt noch nichts.«
Mrs. Tetterby gab ihm einen dankbaren Kuß und fuhr fort:
»Dann fange ich an zu hoffen, du wirst mich überhaupt nicht hassen, obwohl ich fürchte, ich habe dir noch nicht das Schlimmste erzählt. Ich kann mir gar nicht erklären, wie es über mich gekommen ist. Ich weiß nicht, ob ich krank war oder verrückt oder was sonst. Aber ich war mir plötzlich nicht mehr klar darüber, was uns eigentlich aneinanderknüpft und was mich mit meinem Geschick je versöhnen könnte. All die Vergnügungen und Freuden, die wir jemals gehabt, sie schienen so armselig und unbedeutend. Ich haßte sie. Ich hätte sie mit Füßen treten können, und ich konnte an nichts weiter denken, als daß wir arm sind und wieviel Mäuler zu Hause sind.«
»Nun, nun, meine Liebe«, sagte Mr. Tetterby und schüttelte ihr ermutigend die Hand, »das ist doch die Wahrheit. Wir sind arm, und es sind eine Menge Mäuler im Hause.«
»Ach, aber, Dolph, Dolph«, rief seine Gattin und legte ihm die Hände um den Hals, »mein gutes, liebes, geduldiges Männchen, als ich eine kleine Weile erst zu Hause war, wie wurde es da anders! O mein lieber Dolph, wie anders wurde es! Mir war, als flösse alles in mir über vor einem Schwall von Erinnerungen, der mein hartes Herz erweichte und zu zersprengen drohte. All unser Ringen um einen Lebensunterhalt, alle unsere Sorgen und Entbehrungen seit unserer Hochzeit, alle die Zeiten, wo wir krank lagen, all die Stunden, die wir durchwacht, beieinander oder bei den Kindern, schienen zu mir zu reden und zu sagen, daß sie uns zu einer Person gemacht, und ich hätte nie mehr etwas anderes sein mögen, sein können oder wollen als die Gattin und die Mutter, die ich bin. Dann wurden die kleinen billigen Vergnügungen, die ich eben noch so grausam hatte mit Füßen treten wollen, so kostbar, o so wertvoll und teuer, daß ich gar nicht mehr daran denken durfte, wie sehr ich sie verkannt hatte, und es immer und immer wiederholen mußte und es jetzt noch hundertmal sagen möchte, wie konnte ich mich nur so aufführen, Dolphus, wie konnte ich das Herz haben, so etwas zu tun.«
Die gute Frau war ganz außer sich vor Aufregung, Zärtlichkeit und Reue und weinte von ganzem Herzen, als sie plötzlich mit einem Schrei auffuhr und sich hinter ihrem Mann versteckte. Ihr Schrei war so angstvoll, daß die Kinder aus dem Schlaf auffuhren, schleunigst aus den Betten sprangen und sich um sie scharten. Ihr Blick war entsetzt und ihre Stimme außer sich vor Angst, als sie auf einen bleichen Mann in schwarzem Mantel deutete, der in das Zimmer hereingekommen war.
»Sieh den Mann dort an, sieh dort, was will er?«
»Meine Liebe«, entgegnete ihr Gatte, »ich will ihn fragen, wenn du mich nur losläßt. Was gibt es denn? Wie du zitterst.«
»Ich habe ihn auf der Straße gesehen, als ich eben draußen war. Er sah mich an und stand ganz dicht bei mir. Ich fürchte mich so vor ihm.«
»Fürchtest dich vor ihm, warum denn?«
»Ich weiß nicht, warum – ich – bleib hier!« Sie hielt ihren Mann zurück, als er auf den Fremden zugehen wollte.
Sie preßte die eine Hand auf die Stirn und die andere auf die Brust. Ein sonderbares Zittern lief über ihren Körper, und eine Unruhe, wie wenn sie etwas verloren hätte, lag in ihren Augen.
»Bist du krank, mein Schatz?«
»Was ist das, was da wieder von mir weicht«, sagte sie leise vor sich hin, »was ist das nur, das da von mir weicht?« Dann antwortete sie kurz: »Krank? Nein, ich bin ganz wohl«, und starrte mit leerem Blick auf den Boden.
Ihr Mann, der ebenfalls nicht ganz frei von Furcht geblieben war und den die Sonderbarkeit ihres Wesens noch mehr beunruhigte, wandte sich jetzt an den bleichen Besuch im schwarzen Mantel, der mit zu Boden gesenkten Augen an der Tür stehengeblieben war.
»Was wünschen Sie eigentlich von uns, Sir?« fragte er.
»Ich fürchte, mein unbemerktes Hereintreten hat Sie erschreckt«, antwortete der Besuch, »aber Sie sprachen miteinander und hörten mein Kommen nicht.«
»Mein kleines Frauchen sagt, Sie haben es vielleicht selbst gehört«, entgegnete Mr. Tetterby, »es sei nicht das erste Mal heute abend, daß Sie sie erschreckt haben.«
»Das tut mir leid. Ich entsinne mich, Sie auf der Straße bemerkt zu haben; ich hatte nicht die Absicht, Sie zu erschrecken.« Er erhob bei diesen Worten seine Blicke und sie die ihren. Seltsam war die Scheu, die sie vor ihm hatte, seltsam das Grausen, als er das bemerkte.
Dennoch sahen sie einander scharf und forschend an.
»Mein Name ist Redlaw. Ich komme aus dem alten Kolleg dicht nebenan; ein junger Mann, der dort studiert, wohnt in Ihrem Hause, nicht wahr?«
»Mr. Denham?« fragte Tetterby.
»Ja.«
Es war eine ganz natürliche Bewegung und eine so flüchtige, daß sie kaum auffallen konnte, aber ehe der kleine Mann wieder antworten konnte, strich er sich mit der Hand über die Stirn und sah sich rasch im Zimmer um, als fühle er irgendeine Veränderung in der Atmosphäre vor sich gehen. Der Chemiker richtete gleich darauf den scheuen Blick, mit dem er die Frau vorhin angesehen, auch auf ihn, trat zurück und wurde noch fahler.
»Das Zimmer des Herrn«, sagte Tetterby, »ist oben, Sir. Seine Wohnung hat noch einen besonderen Eingang. Aber da Sie schon einmal hier sind, brauchen Sie nicht erst wieder in die Kälte hinauszugehen, wenn Sie hier die paar Stufen hinaufsteigen wollen«, und er zeigte auf eine Treppe, die unmittelbar in das obere Zimmer hinaufführte.
»Ja, ich will hinauf zu ihm«, sagte der Chemiker, »können Sie mir eine Kerze leihen?« Die unruhige Spannung in seinen Augen und das unerklärliche Mißtrauen, das diesen Blick verdüsterte, schienen Mr. Tetterby zu beunruhigen. Er schwieg, sah ihn starr an und blieb wie gebannt ein oder zwei Minuten lang unbeweglich stehen.
Endlich sagte er: »Ich will Ihnen leuchten, Sir, wenn Sie mir folgen wollen.«
»Nein«, antwortete der Chemiker, »ich wünsche nicht, daß man mich begleitet oder bei ihm anmeldet; er erwartet mich nicht. Ich will lieber allein gehen. Bitte, geben Sie mir ein Licht, wenn Sie es entbehren können, und ich werde mich schon zurechtfinden.«
Er stieß diese Worte hastig hervor, nahm dem Zeitungsagenten die Kerze aus der Hand und berührte dabei unabsichtlich dessen Brust. Schnell zog er sie wieder zurück, als habe er den Mann verwundet (denn er wußte nicht, in welchem Teil seines Körpers die neue Kraft lag oder wie sie sich übertrug). Dann wandte er sich ab und stieg die Treppe empor.
Aber als er die oberste Stufe erreicht hatte, blieb er stehen und sah hinab. Die Frau stand noch auf derselben Stelle und drehte sinnend den Trauring um ihren Finger. Der Mann hatte das Haupt auf die Brust sinken lassen und brütete mürrisch vor sich hin. Die Kinder klammerten sich immer noch an die Mutter, blickten furchtsam zu dem Gast empor und drängten sich dichter aneinander, als sie ihn herabschauen sahen.
»Weg da«, sagte der Vater grob, »jetzt hab‘ ich’s satt. Macht, daß ihr ins Bett kommt.« –
»Die Stube ist eng genug ohne euch«, setzte die Mutter hinzu. »Schert euch ins Bett.«
Verschüchtert und betrübt schlich die kleine Brut davon; Johnny und das Wickelkind machten den Schluß. Die Mutter sah sich verächtlich in der ärmlichen Stube um, schob die Überreste des Abendessens verdrossen beiseite und setzte sich hin, in mürrisches Nachsinnen verloren. Der Vater setzte sich wieder zum Kamin, schürte ungeduldig das kleine Feuer zusammen und beugte sich darüber, als wolle er es ganz für sich allein in Anspruch nehmen. Sie wechselten kein Wort.
Der Chemiker, blasser als zuvor, stahl sich wie ein Dieb hinauf, blickte auf die Veränderung, die unten vor sich gegangen, und wußte in seinem Grausen nicht, sollte er weitergehen oder umkehren.
»Was hab‘ ich getan«, sagte er verwirrt, »was wollte ich denn nur?«
»Der Wohltäter der Menschheit sein«, glaubte er eine Stimme antworten zu hören. Er blickte sich um, aber es war niemand da, und eine Wendung der Treppe verbarg jetzt die kleine Stube vor seinen Blicken. So schritt er weiter und sah nur mehr auf seinen Weg.
»Erst gestern nacht habe ich den Pakt geschlossen, und schon sind alle Dinge mir fremd geworden. Ich bin mir selber fremd. Ich bin hier wie im Traum. Was für ein Interesse habe ich für diesen Ort oder irgendeinen andern? Mein Geist ist wie mit Blindheit geschlagen.«
Er stand vor einer Tür, klopfte an und trat ein, als drinnen jemand »herein« sagte.
»Ist’s meine liebenswürdige Wärterin?« fragte die Stimme. »Aber warum frage ich denn, es kann ja doch niemand anderer sein.«
Die Stimme klang in fröhlichem, wenn auch müdem Ton und lenkte des Chemikers Aufmerksamkeit auf einen jungen Mann, der auf einem an den Kamin gerückten Sofa lag und der Tür den Rücken kehrte. In einem so winzigen Kamin, mager und eingefallen wie die Wangen eines Kranken, daß er kaum das Zimmer erwärmen konnte, brannte das Feuer, nach dem sein Gesicht hingewandt war. Die Flammen waren dem zugigen Boden so nahe, daß sie flackernd und prasselnd brannten und die glühende Asche rasch durch den Rost fiel.
»Sie knistert beim Herunterfallen«, sagte der Student lächelnd, »das bedeutet, wie man sagt, nicht Särge, sondern viel Geld. Ich werde also, wenn Gott will, doch noch gesund und reich werden und am Ende noch eine kleine Milly lieben können, die mich dann immer an das gütigste und zarteste Herz in dieser Welt erinnern soll.«
Er streckte die Hand aus und erwartete, seine Pflegerin werde sie ergreifen. Da er aber noch sehr schwach war, blieb er dabei still liegen, ließ das Gesicht auf der andern Hand ruhen und drehte sich nicht um.
Der Chemiker sah sich im Zimmer um, blickte auf die Bücher und Papiere des Studenten, die auf einem Tisch in einer Ecke aufeinandergetürmt lagen und mit der erloschenen, jetzt beiseite gestellten Arbeitslampe von den Stunden eines fleißigen Studiums, das dieser Krankheit vorangegangen und sie vielleicht verursacht hatte, erzählten. Er blickte auf den Straßenanzug, der müßig an der Wand hing und die erste Stelle einnahm unter den Dingen, die von ehemaliger Gesundheit und Freiheit sprachen, sah auf die Andenken an andere und weniger einsame Szenen, auf die kleinen Miniaturporträts auf dem Kaminsims und die Abbildung des Elternhauses, auf das Zeichen eines ehrgeizigen Ziels oder vielleicht der persönlichen Zuneigung, nämlich – Redlaws eingerahmtes Bild. Es hatte eine Zeit gegeben – gestern noch –, wo nicht ein einziger dieser Gegenstände – wäre das Interesse an dem Studenten vor ihm auch noch so gering gewesen – ohne Eindruck auf den Chemiker geblieben wäre. Jetzt waren es gleichgültige Gegenstände, und wenn noch eine schwache Erinnerung in ihm auflebte, so verwirrte es ihn nur, und mit trübem Staunen blickte er umher. Der Student zog die magere Hand wieder zurück, als niemand sie berührte, richtete sich auf seinem Sofa auf und wandte den Kopf. »Mr. Redlaw!« rief er aus und fuhr empor.
Redlaw streckte den Arm aus. »Kommen Sie mir nicht näher, ich will mich hier niedersetzen. Bleiben Sie, wo Sie sind!«
Er setzte sich auf einen Stuhl in der Nähe der Türe, warf einen Blick auf den jungen Mann, der sich mit der Hand auf dem Sofa aufrecht hielt, dann senkte er seine Augen und fuhr fort:
»Ich habe durch einen Zufall gehört, durch welchen, ist gleichgültig, daß ein Student aus meiner Klasse krank und hilflos sei. Ich konnte weiter nichts erfahren, als daß er in dieser Straße wohne. Ich fing in dem ersten Hause der Straße an zu fragen und habe Sie auf diese Art ausfindig gemacht.«
»Ich bin krank gewesen, Sir«, erwiderte der Student. Er sagte es in bescheidener Zurückhaltung, aber mit einer Art gewaltsam unterdrückten Grauens. »Aber jetzt geht es mir schon viel besser. Ein Fieberanfall, Nervenfieber glaube ich, hat mich sehr geschwächt, aber mir ist schon weit wohler. – Ich kann nicht sagen, daß ich ohne Hilfe gewesen bin in meiner Krankheit, sonst vergäße ich die freundliche Hand, die mich niemals verlassen hat.«
»Sie sprechen von der Frau des Kastellans«, sagte Redlaw.
»Ja.« Der Student neigte den Kopf wie in stiller Andacht.
Der Chemiker war in kalte monotone Teilnahmslosigkeit verfallen und schien eher ein Marmorbild auf dem Grabe des Mannes, der gestern bei der ersten Erwähnung von der unglücklichen Lage des Studenten aufgesprungen war, zu sein, als dieser lebende Mensch selbst. Er sah wieder den Studenten an, der sich mit der Hand auf das Sofa stützte, sah auf den Fußboden und in die Luft, als suche er nach einem Licht für seinen erblindeten Geist.
»Ich erinnerte mich an Ihren Namen«, sagte er, »als ich ihn vorhin in der Stube nennen hörte, und entsinne mich jetzt auch Ihres Gesichtes. Wir sind nur wenig in persönliche Beziehungen miteinander gekommen.«
»Sehr wenig.«
»Ich glaube, Sie haben sich von mir zurückgezogen und sich mehr als die andern von mir ferngehalten.«
Der Student verbeugte sich beistimmend.
»Und warum?« fragte der Chemiker, ohne im mindesten Interesse zu zeigen, bloß wie aus einer wunderlichen zufälligen Neugierde heraus. »Warum? Wie kommt es, daß Sie mir absichtlich verhehlt haben, daß Sie hiergeblieben sind in dieser Jahreszeit, wo alle andern verreisen, und daß Sie krank geworden sind? Ich möchte wissen, warum?«
Der junge Mann hatte ihm mit wachsender Erregung zugehört. Er hob die niedergeschlagenen Augen, schlug die Hände zusammen und rief mit bebenden Lippen:
»Mr. Redlaw, Sie haben mich durchschaut, Sie kennen mein Geheimnis.«
»Ihr Geheimnis?« fragte der Chemiker kalt. »Ich soll es kennen?«
»Ja. Ihr Wesen, das jetzt so verschieden ist von der Teilnahme und dem Mitleid, die Sie so vielen Herzen teuer machen, Ihre veränderte Stimme, das Gezwungene in Ihren Worten und Blicken sagen mir, daß Sie mich kennen«, erwiderte der Student. »Daß Sie es selbst jetzt noch verbergen möchten, ist für mich nur ein Beweis mehr für Ihre angeborene Herzensgüte und die Kluft, die uns trennt.«
Ein leeres und verächtliches Lächeln war die einzige Antwort, die er erhielt.
»Aber Mr. Redlaw«, sagte der Student, »bedenken Sie als gerechtfühlender und edler Mensch, wie wenig Schuld ich habe an dem Unrecht, das Ihnen zugefügt worden ist, – an dem Kummer, den Sie ertragen haben. Es müßte denn mein Name und meine Abkunft –«
»Kummer?« unterbrach ihn Redlaw auflachend. »Unrecht? Was geht das mich an?«
»Um Himmels willen«, flehte der Student, »lassen Sie sich von den paar Worten, die Sie mit mir wechselten, nicht noch mehr verändern, Sir. Streichen Sie mich wieder aus Ihrem Gedächtnis. – Lassen Sie mich meinen alten entfernten Platz unter denen, die Sie unterrichten, wieder einnehmen. Kennen Sie mich wieder nur unter dem Namen, den ich annahm, und nicht als – – – Langford –«
»Langford!« rief der andere aus. Er fuhr mit beiden Händen nach der Stirn und wandte dem Jüngling einen Augenblick lang sein früheres geistvolles und nachdenkliches Gesicht zu. Aber das Licht verschwand wieder wie ein flüchtiger Sonnenstrahl, und das Gesicht umwölkte sich wie vordem.
»Der Name, den meine Mutter führt, Sir«, sagte der Jüngling verlegen, »der Name, den sie wählte, als sie vielleicht einen geehrteren hätte bekommen können, Mr. Redlaw«, fuhr er zögernd fort. »Ich glaube, ich kenne diese Geschichte. Wo mein Wissen nicht ausreicht, ergänzen Vermutungen die Lücke, bis das Ganze der Wahrheit ziemlich nahe kommt. Ich bin das Kind einer Ehe, die sich als nicht glücklich erwies. Von Kindheit an hörte ich von Ihnen mit hoher Achtung, fast mit Ehrfurcht sprechen, von solcher Hingebung, Standhaftigkeit und Herzensgüte; von solchem Ankämpfen gegen Hindernisse, die einen Menschen niederschmettern können, habe ich vernommen, daß meine Phantasie, seit ich meinen ersten Unterricht an der Hand meiner Mutter genossen, Ihren Namen mit Lichtglanz umwoben hat. Und endlich, konnte ich – ein armer Student – von einem andern besser lernen als von Ihnen?«
Unbewegt und unverändert und ihn nur mit einem inhaltsleeren Blick anstarrend, antwortete Redlaw weder mit Worten noch durch Gebärden.
»Ich kann nicht in Worte fassen«, fuhr der andere fort, »wie sehr ich gerührt war, die schönen Spuren der Vergangenheit in der Dankbarkeit und dem Vertrauen wieder aufleuchten zu sehen, die sich bei uns Studenten an Mr. Redlaws Namen knüpfen. Wir sind an Alter und Stellung so verschieden voneinander, Sir, und ich bin so gewohnt, Sie nur aus der Ferne zu sehen, daß ich mich über meine eigene Kühnheit wundere, wenn ich dieses Thema auch nur leise berühre. Aber einem Mann, der, ich darf es wohl aussprechen, einst für meine Mutter eine nicht gewöhnliche Teilnahme fühlte, ist es vielleicht nicht ganz gleichgültig, jetzt, wo alles vorüber ist, zu erfahren, mit wie unbeschreiblicher Liebe ich Sie aus der Ferne betrachtet habe, mit welchem Schmerze ich mich von Ihnen ferne hielt – während ein Wort von Ihnen mich reich gemacht hätte – und wie sehr ich dennoch fühle, daß ich recht tat, auf dieser Bahn zu bleiben, zufrieden damit, Sie zu kennen und selbst unbekannt zu sein. Mr. Redlaw«, sagte der Student schüchtern, »was ich sagen wollte, habe ich nicht glücklich ausgedrückt. Aber wenn etwas Unwürdiges in der Täuschung liegt, die ich mir habe zuschulden kommen lassen, so verzeihen Sie mir, und in allem übrigen – – bitte vergessen Sie mich.«
Das starre Stirnrunzeln blieb auf Redlaws Gesicht und wich keinem andern Ausdruck, bis der Student bei den letzten Worten auf ihn zuschritt, als wolle er seine Hand berühren. Da zog er sich zurück und schrie ihn an:
»Kommen Sie mir nicht näher!« Der junge Mann blieb stehen, entsetzt über die Plötzlichkeit und Schroffheit dieser Zurückweisung, und strich sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn.
»Was vorbei ist, ist vorbei«, sagte der Chemiker. »Die Vergangenheit stirbt wie das unvernünftige Tier. Wer redet mir von ihren Spuren in meinem Leben. Der faselt oder lügt. Was gehen mich Ihre kranken Träume an. Wenn Sie Geld brauchen, hier ist welches. Ich kam her, um es Ihnen anzubieten, und das war der eigentliche Zweck meines Kommens. Weiter kann ich hier nichts gewollt haben«, murmelte er vor sich hin und legte die Hände wieder an die Stirn. »Weiter kann ich hier nichts gewollt haben, oder –?«
Er hatte seine Börse auf den Tisch geworfen und verfiel wieder in Nachsinnen. Der Student hob sie auf und hielt sie ihm hin.
»Nehmen Sie sie wieder zurück, Sir«, sagte er stolz, doch nicht erzürnt; »ich wünschte, Sie könnten mit ihr zugleich die Erinnerung an Ihre Worte und an Ihr Anerbieten zurücknehmen.«
»Wünschen Sie das?« fragte jener mit einem sonderbaren Flackern in seinen Augen. »Wünschen Sie das?«
»Ja, ich wünsche es.«
Der Chemiker trat jetzt zum erstenmal dicht an ihn heran, nahm die Börse, ergriff den Arm des Studenten und sah ihm ins Gesicht. »Krankheit bringt Schmerz und Sorge, nicht wahr?« sagte er mit einem Lachen.
»Ja«, gab Langford verwundert zur Antwort.
»Ihre Ruhelosigkeit, Ihre Angst, Ihre Ungewißheit und das ganze Gefolge von Leiden an Körper und Geist«, sagte der Chemiker mit einem wilden sonderbaren Frohlocken, »ist es nicht am besten, man vergißt es?«
Der Student antwortete nicht, sondern fuhr sich wieder mit der Hand zerstreut über die Stirn. Redlaw hielt ihn immer noch am Arm gefaßt, als man draußen Millys Stimme vernahm.
»Ich kann jetzt schon sehen, ich danke, Dolph! – – Weine nicht, Kind. Vater und Mutter werden morgen schon wieder gut sein, und dann ist es auch wieder hübsch zu Haus. So, so, ein Herr ist bei ihm?«
Redlaw ließ den Studenten los und horchte.
»Ich habe vom ersten Augenblick an gefürchtet«, murmelte er vor sich hin, »ihr zu begegnen. Es liegt eine Art unendlicher Güte in ihr, die ich zu verderben fürchte. Ich könnte zum Mörder an dem werden, was das Schönste und Beste in ihrem Herzen ist.«
Sie klopfte an die Türe.
»Soll ich es wie eine nichtige Ahnung mißachten oder sie dennoch meiden«, murmelte er und sah unschlüssig umher.
Wieder klopfte sie an die Tür.
»Von all denen, die hierher kommen«, sagte er heiser und erregt zu dem Studenten, »möchte ich diese Frau am wenigsten hier sehen. Verbergen Sie mich!«
Der Student öffnete eine Brettertür in der Wand, die in ein kleines Dachstübchen führte. Redlaw trat rasch hinein und schloß hinter sich ab. Der Student nahm seinen Platz auf dem Sofa wieder ein und rief: »Herein!«
»Lieber Mister Edmund«, sagte Milly und sah sich um. »Man sagte mir, es wäre ein Herr hier.«
»Es ist niemand hier als ich.«
»Es ist aber jemand hiergewesen?«
»Ja, es war jemand hier.«
Sie stellte ihr Körbchen auf den Tisch und trat an die Rückseite des Sofas, als wollte sie wie gewöhnlich die ausgestreckte Hand ergreifen; aber diese war nicht da. Ein wenig überrascht beugte sie sich über den Patienten und berührte leise seine Stirn.
»Sind Sie ganz wohl heute abend? Ihre Stirn ist heißer als nachmittags.«
»Ach was«, sagte der Student ärgerlich, »mir fehlt nichts.«
Mehr Erstaunen als Vorwurf malte sich auf Millys Gesicht, als sie nach der andern Seite des Tisches ging und aus ihrem Korbe ein kleines Päckchen Handarbeit herausholte. Aber bald legte sie es wieder hin, ging geräuschlos im Zimmer umher, setzte jeden Gegenstand an seine Stelle und machte Ordnung. Die Kissen des Sofas berührte sie mit so leichter Hand, daß er es kaum zu merken schien, während er dalag und ins Feuer sah. Als sie damit fertig war und den Herd rein gekehrt hatte, setzte sie sich wieder hin in ihrem bescheidenen Hütchen und arbeitete in geräuschloser Geschäftigkeit.
»Es ist der neue Musselinvorhang für das Fenster, Mister Edmund«, sagte sie, ohne vom Nähen aufzusehen. »Er wird ganz hübsch aussehen, wenn er auch so gut wie nichts kostet, und wird auch Ihre Augen vor dem Licht schützen. William sagt, das Zimmer dürfe jetzt, wo Sie sich so gut erholt, nicht so hell sein, sonst könnte das blendende Licht Sie schwindlig machen.«
Er sagte nichts, aber in der Art, wie er seine Stellung änderte, lag etwas so Ärgerliches und Ungeduldiges, daß ihre flinken Finger innehielten und sie ihn besorgt ansah.
»Die Kissen sind nicht bequem«, sagte sie, die Arbeit hinlegend und sich erhebend, »ich will sie gleich einmal zurechtschütteln.«
»Die Kissen sind sehr gut«, antwortete er. »Lassen Sie, bitte, die Hand davon. Sie machen gleich von allem soviel Wesens.« Er erhob den Kopf, als er das sagte, und warf ihr einen so undankbaren Blick zu, daß sie schüchtern vor ihm stehenblieb, als er sich wieder zurückgeworfen hatte. Dann nahm sie abermals Platz und nähte geschäftig weiter ohne einen Blick des Vorwurfs.
»Ich habe mir oft gedacht, Mr. Edmund, Sie hätten doch oftmals in letzter Zeit, wenn ich neben Ihnen saß, einsehen müssen, daß Unglück ein guter Lehrmeister ist. Die Gesundheit wird Ihnen nach dieser Krankheit kostbarer sein als je zuvor. Und nach Jahren noch, wenn Weihnachten herankommt und Sie sich der Tage, wo Sie hier krank gelegen haben, erinnern – ganz heimlich und innerlich, damit Sie Ihre Lieben nicht betrüben –, dann wird Ihnen der heimische Herd doppelt teuer sein. Ist das nicht ein hübscher Gedanke?«
Sie war zu eifrig bei der Arbeit, die Worte kamen ihr zu innig aus dem Herzen, und sie war überhaupt zu ruhig und stillvergnügt, um achtzugeben, ob er ihr wohl antworten werde. So prallte der Pfeil seines undankbaren Blickes an ihr ab und verletzte sie nicht.
»Ach ja«, sagte Milly und neigte ihr liebliches Gesicht nachdenklich auf die Seite, während sie mit gesenkten Augen den flinken Fingern folgte. »Selbst auf mich – wo ich doch so sehr verschieden von Ihnen bin, Mr. Edmund, und keine Schulbildung habe und nicht weiß, wie man richtig denkt – hat das Erlebnis dieser Vorgänge einen tiefen Eindruck gemacht, seit Sie hier krank gelegen haben. Als ich Sie über die Güte und Aufmerksamkeit der armen Leute unten so gerührt sah, da merkte ich, wie auch Sie fühlten, daß es ein gewisses Entgelt sei für den Verlust der Gesundheit, und ich las in Ihrem Gesichte so deutlich wie in einem Buch, daß wir erst durch ein wenig Kummer und Sorge all das Gute erkennen lernen können, das uns umgibt.«
Sein Aufstehen unterbrach sie, sonst hätte sie noch weitergesprochen.
»Wir brauchen nicht soviel Aufhebens davon zu machen, Mrs. William«, versetzte er geringschätzig, »die Leute da unten werden schon bezahlt werden für die kleinen Extradienste, die sie mir geleistet haben mögen, und erwarten es wohl auch nicht anders. Auch Ihnen bin ich sehr verbunden.«
Sie hörte auf zu nähen und sah ihn an.
»Ich empfinde meine Schuld gegen Sie viel weniger, wenn Sie die Sache übertreiben. Ich bin mir ja bewußt, daß Sie sich sehr um mich bekümmert haben, und ich sage Ihnen, daß ich Ihnen sehr dafür verbunden bin. Was wollen Sie mehr?«
Die Arbeit fiel ihr in den Schoß, und sie sah ihn unverwandt an, wie er ungeduldig hin und her schritt und dann und wann stehenblieb.
»Ich sage nochmals, ich bin Ihnen sehr verpflichtet. Warum wollen Sie das Bewußtsein des Dankes, den ich Ihnen schulde, in mir abschwächen, indem Sie maßlose Ansprüche auf mich erheben? Sorge, Kummer, Leid, Unglück! Man könnte ja rein glauben, ich hätte einen hundertfachen Todeskampf durchgemacht.«
»Glauben Sie vielleicht, Mr. Edmund«, fragte sie, stand auf und trat näher an ihn heran, »daß ich von den armen Leuten hier im Hause sprach, um auf mich selbst anzuspielen? – Auf mich?« Und sie legte die Hand auf ihren Busen mit einem schlichten unschuldsvollen Lächeln des Erstaunens.
»Ach, ich habe darüber gar nicht nachgedacht, gute Frau!« entgegnete er. »Ich habe ein vorübergehendes Unwohlsein gehabt, aus dem Ihre übertriebene Angst, verstehen Sie wohl – übertriebene Angst –, mehr Wesens gemacht hat, als daran war. Jetzt ist es vorbei. Wir können doch nicht ewig darauf herumreiten.«
Gleichgültig nahm er ein Buch zur Hand und setzte sich an den Tisch. Sie sah ihm eine Weile zu, bis ihr Lächeln ganz verschwunden war, dann kehrte sie zu ihrem Korb zurück und fragte sanft:
»Mr. Edmund, möchten Sie lieber allein sein?«
»Ich sehe keinen Grund, weshalb ich Sie hier zurückhalten sollte«, erwiderte er.
»Außer –«, sagte Milly zaudernd, und zeigte auf ihre Handarbeit.
»Ach, der Vorhang«, antwortete er hochmütig lächelnd, »deswegen brauchen Sie nicht zu bleiben.«
Sie packte ihre Arbeit wieder zusammen und legte sie in das Körbchen, dann trat sie vor ihn hin und sagte mit so geduldiger Miene, daß er nicht umhinkonnte, aufzublicken:
»Sollten Sie mich wieder brauchen, so komme ich gern zurück. Als Sie meiner bedurften, war ich wirklich glücklich, kommen zu können, von einem Verdienst kann dabei keine Rede sein. Ich glaube, Sie fürchten jetzt, wo Sie sich erholt haben, ich könnte Ihnen zur Last fallen. Aber das wäre nicht geschehen. Ich wäre nicht länger gekommen, als bei Ihrer Schwäche nötig gewesen. Sie schulden mir keinen Dank. Recht und billig aber wäre es, daß Sie mich behandeln wie eine Dame. – Ja, als wäre ich sogar die Dame, die Sie lieben! Und wenn Sie glauben, ich überschätze in eigennütziger Selbstüberhebung die geringe Mühe, die ich mir gegeben habe, Ihr Krankenzimmer behaglich zu gestalten, so tun Sie sich selbst mehr Unrecht an, als Sie mir antun können. Deswegen bin ich betrübt. Darüber bin ich sehr betrübt.«
Wäre sie leidenschaftlich gewesen statt gelassen, entrüstet statt ruhig, so böse in ihrem Blick, wie sie sanft war, laut im Ton statt leise und klar, so hätte ihr Abschied vielleicht gar keinen Eindruck hinterlassen im Vergleich zu dem, der sich jetzt des einsamen Studenten bemächtigte, als sie fort war.
Er starrte traurig den Platz an, wo sie gestanden, da trat Redlaw aus seinem Versteck hervor und ging zur Türe.
»Wenn Krankheit wieder die Hand auf Sie legen soll«, sagte er und sah ihn erbittert an, »möge es bald geschehen. Mögen Sie hier sterben und verfaulen.«
»Was haben Sie getan«, entgegnete der andere und faßte ihn am Mantel, »welche Verwandlung haben Sie in mir bewirkt. Welchen Fluch haben Sie über mich verhängt! Geben Sie mich mir selbst zurück!«
»Geben Sie mich mir zurück!« schrie Redlaw wie ein Wahnsinniger. »Ich bin wie eine Seuche, ich bin voll Gift in meinem eigenen Innern und voll Gift für die ganze Menschheit. Wo ich früher Teilnahme, Mitleid und Sympathie gehegt habe, da wandle ich mich zu Stein. Selbstsucht und Undankbarkeit keimen auf, wo ich meinen Fuß hinsetze. Nur insofern bin ich vielleicht weniger tiefstehend als die Elenden, die ich schaffe, als ich sie in dem Augenblick hassen kann, wo die Umwandlung in ihnen vorgeht.«
Der junge Mann hielt ihn immer noch am Mantel. Der Chemiker schüttelte ihn von sich ab und schlug nach ihm; dann eilte er wie von Sinnen in die Nachtluft hinaus, wo der Wind heulte, der Schnee herabfiel und durch die einherjagenden Wolkenmassen düster der Mond schien, und wo in dem Heulen des Windes, in dem fallenden Schnee, in den wandernden Wolken und dem trüben Schimmer des Mondes die Worte des Gespenstes sich offenbarten:
»Die Gabe, die ich dir verliehen, sollst du um dich her verbreiten, wo du gehst und stehst.«
Wohin er seine Schritte lenkte, wußte er nicht und kümmerte sich nicht darum, wenn er nur die Menschen vermied. Die Verwandlung, die er in sich verspürte, machte aus den lauten Straßen eine Wüste und ihn selbst zu einer Wüste und die Menge um ihn her mit ihren verschlungenen Lebenspfaden zu einer ungeheuern Wüstenei aus Sand, den der Wind zu zwecklosen Haufen zusammenwarf. Die letzten Spuren in seiner Brust, die, wie der Geist ihm gesagt hatte, bald aussterben würden, waren bis jetzt noch nicht so weit verblichen, daß er nicht zur Genüge begriffen, was er war und aus andern machte, und daß er nicht den Wunsch gefühlt hätte, allein zu bleiben.
Da fiel ihm plötzlich der Junge ein, der in sein Zimmer gestürzt war, und dann ging ihm im Kopf herum, daß von allen, mit denen er seit des Geistes Verschwinden verkehrt, der Knabe der einzige gewesen war, an dem kein Zeichen der Verwandlung aufgetreten. So widerlich ihm das wilde Geschöpf auch war, so beschloß er doch, zu ihm zu gehen und nachzusehen, ob es sich wirklich so verhalte. Er verband damit noch eine andere Absicht, die ihm gleichzeitig einfiel.
Nur mit Mühe stellte er fest, wo er sich befand, und lenkte seine Schritte nach dem alten Stift zurück, und zwar nach jenem Teil, wo die Hauptpforte lag und wo allein das Pflaster von den Tritten der Studenten abgenutzt war. Das Haus des Kastellans stand dicht hinter dem eisernen Tor und bildete einen Teil des Hauptviereckes. Vor der Pforte lief ein alter Bogengang hin, und aus seinem Schatten konnte er zu den Fenstern des Wohnzimmers hineinblicken und sehen, wer darin war. Das Gittertor war geschlossen, aber mit dem Riegel vertraut, steckte er die Hand zwischen die Stäbe, zog ihn zurück und trat leise ein. Dann schloß er das Tor wieder und schlich sich ans Fenster, die dünne Kruste Eis unter seinen Füßen zertretend. Das Kaminfeuer leuchtete hell durch das Fenster und warf einen glänzenden Schein auf den Schnee. Instinktiv wich er der hellen Stelle aus, ging um sie herum und sah hinein. Anfangs glaubte er, die Stube sei leer und die Glut röte nur mit ihrem Schimmer die alten Balken an der Decke und die dunkelbraunen Wände. Als er aber genauer hinblickte, sah er den Knaben auf dem Fußboden kauern. Rasch trat er zur Tür, öffnete sie und ging hinein.
Das Geschöpf lag so nahe bei der Glut, daß, als der Chemiker sich bückte, es aufzurütteln, die Glut ihm fast das Gesicht versengte. Kaum fühlte der Junge die Berührung, als er, kaum halb wach, seine Lumpen zusammenraffte und halb kollernd, halb laufend in eine entlegene Ecke des Zimmers floh, wo er auf dem Boden hocken blieb und mit den Füßen stieß, um sich zu verteidigen.
»Steh auf«, sagte der Chemiker. »Kennst du mich noch?«
»Lassen Sie mich in Frieden«, erwiderte der Junge. »Das ist das Haus der Frau und nicht Ihres.«
Der feste Blick des Chemikers schüchterte ihn ein wenig ein, so daß er sich auf die Füße stellen und ansehen ließ.
»Wer hat dich gewaschen und verbunden?« fragte der Chemiker und deutete auf die wunden Füße des Jungen.
»Die Frau.«
»Und ist sie’s auch gewesen, die dir das Gesicht reiner gemacht hat?«
»Ja, die Frau.«
Redlaw stellte diese Fragen, um die Augen des Jungen auf sich zu lenken, und faßte ihn jetzt in derselben Absicht am Kinn und strich das wirre Haar zurück, so sehr er sich auch davor ekelte, ihn zu berühren. Der Junge sah ihm scharf und unausgesetzt in die Augen, falls im nächsten Augenblick etwas geschähe, das ihn zur Verteidigung zwänge. So konnte denn Redlaw genau erkennen, daß die Verwandlung nicht stattfand.
»Wo sind die andern?« fragte er.
»Die Frau ist aus.«
»Das weiß ich. Wo sind der Alte mit dem weißen Haar und sein Sohn?«
»Der Mann der Frau, was?«
»Ja, wo sind die beiden?«
»Fort! Es war was los. Sie wurden eilig geholt und sagten mir, ich solle hierbleiben.«
»Komm mit mir«, sagte der Chemiker, »und ich will dir Geld geben.«
»Wohin, und wieviel wollen Sie mir geben?«
»Ich will dir mehr Schillinge geben, als du jemals gesehen hast, und dich bald wieder zurückbringen. Kannst du mich an den Ort führen, woher du gekommen bist?«
»Lassen Sie mich«, erwiderte der Knabe und riß sich rasch los. »Dahin führe ich Sie nicht. Lassen Sie mich in Frieden, oder ich werfe Feuer auf Sie.«
Er kniete vor dem Kamin nieder und war bereit, mit seiner kleinen, wilden Hand die brennenden Kohlen herauszureißen.
Was der Chemiker empfunden, als er den Zauber hatte auf die wirken sehen, mit denen er in Berührung trat, kam dem dumpfen Grauen, mit dem er dieses Ungeheuer von einem Kind dem Einflusse Trotz bieten sah, nicht entfernt gleich. Sein Blut erstarrte beim Anblick dieses der Rührung und Empfindung unzugänglichen Wesens, dieses Scheinbildes von einem Kind, das ihm ein scharfes, boshaftes Gesicht zukehrte und sich, auf alles gefaßt, festhielt.
»Hör zu, Junge«, sagte er, »führ mich hin, wohin du willst, nur mußt du mich zu Leuten führen, die sehr arm oder sehr schlecht sind. Ich will ihnen helfen und nichts Böses zufügen. Ich will dir Geld dafür geben und bringe dich wieder hierher. Steh auf, mach rasch.«
Er tat ein paar hastige Schritte der Türe zu, da er die Rückkehr Millys befürchtete.
»Wollen Sie mich allein gehen lassen und mich nicht festhalten und mich auch nicht anrühren?« fragte der Junge und zog langsam die Hand vom Feuer zurück und stand auf.
»Ja!«
»Und mich vor Ihnen gehen lassen oder hinter Ihnen, oder wo ich will?«
»Ja!«
»So geben Sie mir erst Geld, dann gehe ich mit.«
Der Chemiker legte ihm ein paar Schillinge, einen nach dem andern, in die ausgestreckte Hand. Sie zu zählen ging über das Können des Jungen hinaus. Aber er sagte jedesmal »eins« und blickte dabei erst die Münze und dann den Geber habgierig an. Er konnte die Geldstücke außer in seiner Hand bloß im Munde aufbewahren, und dorthin steckte er sie.
Redlaw schrieb dann mit Bleistift auf ein aus seiner Brieftasche gerissenes Blatt, daß das Kind bei ihm sei, legte den Zettel auf den Tisch und winkte dem Jungen, ihm zu folgen. Seine Lumpen zusammenraffend wie gewöhnlich, gehorchte dieser und ging mit bloßem Kopf und nackten Füßen hinaus in die Winternacht.
Der Chemiker zog es vor, nicht durch das Gittertor zu gehen, wo er leicht der Frau begegnen konnte, die er so angelegentlich zu vermeiden trachtete, und führte daher den Knaben durch die dunklen Korridore in den Teil des Gebäudes, wo er selbst wohnte, zu einem kleinen Pförtchen, dessen Schlüssel er bei sich führte. Als sie auf die Straße traten, blieb er stehen und fragte seinen Führer, der sofort zurückwich, ob er wisse, wo sie wären.
Der kleine Wilde sah sich um, nickte endlich mit dem Kopf nach der Richtung, in der er gehen wollte.
Da Redlaw ohne Besinnen den Weg einschlug, ließ der Argwohn des Jungen ein wenig nach, er nahm das Geld aus dem Mund, polierte es verstohlen an seinen Lumpen und steckte es dann wieder zurück.
Dreimal auf ihrem Wege gingen sie Seite an Seite, dreimal blieben sie nebeneinander stehen, dreimal blickte der Chemiker dem Knaben ins Gesicht und schauderte, als es ihm immer den gleichen Gedanken aufzwang.
Das erste Mal war, als sie über einen alten Kirchhof gingen und Redlaw bei den Gräbern stehenblieb, vergeblich bemüht, einen zarten, tröstlichen Gedanken in sich hervorzurufen.
Das zweite Mal war es, als ihn das Hervortreten des Mondes aus den Wolken bewog, zum Himmel emporzublicken, wo er das Gestirn der Nacht in seinem Glanze sah, umgeben von Millionen von Sternen, von denen er noch die Namen wußte, die ihnen die menschliche Wissenschaft beigelegt, bei deren Anblick er aber nicht mehr das gefühlt, was er früher gefühlt, wenn er hinaufgesehen hatte in den funkelnden Nachthimmel.
Das dritte Mal, als er stehenblieb, um einer schwermütigen Weise zu lauschen, aber nur eine Reihe von Tönen aufnehmen konnte, die ihn an den nüchternen Mechanismus der Instrumente erinnerten, ohne an die geheimnisvollen Saiten in seinem Herzen zu rühren, ohne ihn an Vergangenheit oder Zukunft zu mahnen, und die so wenig Eindruck auf ihn machten wie der Ton rinnenden Wassers oder rauschenden Windes. Und alle drei Mal sah er mit Entsetzen, daß trotz des ungeheuren geistigen Abstandes zwischen ihnen und trotzdem sie nicht die mindeste Ähnlichkeit in körperlicher Beziehung miteinander gemein hatten, der Ausdruck in den Zügen des Jungen derselbe war wie der auf seinem eigenen Gesicht.
Sie wanderten eine Weile weiter, bald über so belebte Plätze, daß er sich öfter umsah, ob er nicht seinen Führer verloren, ihn dann aber immer wieder im Dunkel des Schattens an der andern Seite hintraben sah, bald wieder durch so stille Straßen, daß er die kurzen raschen Tritte der nackten Füße hinter sich hätte zählen können, bis sie an eine Reihe zerfallener Häuser kamen und der Knabe ihn am Ärmel faßte und stehenblieb.
»Dort hinein!« sagte das Geschöpf und deutete auf ein Haus, in dem einzelne Fenster erleuchtet waren und eine trübe Laterne mit der Aufschrift »Logis für Reisende« über dem Torweg schimmerte.
Redlaw blickte um sich, sah auf die halbverfallenen Häuser, auf die wüste Umgebung von Schutthaufen und übelriechenden Gossen, auf den langen Viadukt und auf das Kind, das frierend neben ihm auf einem Beine stand und den andern Fuß daran rieb, um sich zu erwärmen, immer mit demselben gewissen Ausdruck im Gesicht die Umgebung ringsumher anstarrend, daß Redlaw sich abwandte. Er sah das jämmerliche Stück Boden, auf dem die Häuser standen oder vielmehr nicht ganz einstürzen konnten, auf die Reihe von Bogen, die zu dem Viadukt gehörten, die immer kleiner wurden in der Ferne, bis der vorletzte fast noch eine Hundehütte und der letzte ein Steinhaufen war.
»Hier hinein!« sagte der Junge und deutete wieder auf das Haus. »Ich warte!«
»Wird man mich hineinlassen?« fragte Redlaw.
»Sagen Sie, Sie wären ein Doktor«, nickte der Junge. »Es ist genug Krankheit drin.«
Redlaw ging auf die Haustür zu und sah, als er sich umblickte, daß der Junge unter den letzten kleinen Schmutzbogen kroch, wie eine Ratte. Er fühlte kein Mitleid mit diesem Geschöpf, aber er fürchtete sich vor ihm, und als es aus seiner Höhle nach ihm hinblickte, da eilte er ins Haus, als wolle er fliehen.
»Kummer, Unglück und Sorgen«, sagte der Chemiker und machte eine schmerzhafte Anstrengung, irgendeine deutlichere Erinnerung in sich wachzurufen, »spuken an diesem Ort. Wer hierher Vergessen bringt, kann kein Leid stiften.«
Mit diesen Worten stieß er die Türe auf und trat ein.
Ein Weib saß auf den Stufen und schlief oder träumte und hatte den Kopf auf Hände und Knie gelegt. Da man nicht gut an ihr vorbei konnte, ohne sie zu treten, und da sie von seinem Kommen nicht die geringste Notiz nahm, blieb er stehen und berührte ihre Schulter. Sie blickte auf, und er sah in ein noch ganz jugendliches Gesicht, aus dem jedoch jede Blüte und Frische weggewischt war, als habe der grausame Winter, dem Lauf natürlichen Gesetzes zum Trotz, den Frühling erwürgt.
Ohne sich sonderlich um ihn zu kümmern, rückte das Weib näher an die Wand, um ihn vorbeizulassen.
»Was sind Sie?« fragte Redlaw, stehenbleibend, die Hand auf das zerbrochene Treppengeländer gestützt.
»Raten Sie mal«, antwortete sie und zeigte ihm wieder ihr Gesicht.
Er sah den verfallenen Gottestempel an, vor so kurzem erst erschaffen, so bald geschändet, und ein Etwas, das nicht Erbarmen war, denn die Quelle, aus der wahres Erbarmen über solches Elend entspringt, war in seiner Brust vertrocknet, ein Etwas, das aber dem Erbarmen näherstand als jedes andere Gefühl, das sich in letzter Zeit in der dunkelnden, aber noch nicht gänzlich finster gewordenen Nacht seines Geistes emporgerungen hatte, gab seinen Worten einen milden Klang.
»Ich komme her, um zu helfen«, sagte er. »Denken Sie nach über erlittenes Unrecht, über erlittenes Leid?«
Sie runzelte die Stirn, und dann lachte sie, und ihr Lachen tönte in einen zitternden Seufzer aus, dann ließ sie wieder den Kopf sinken und vergrub die Finger in ihrem Haar.
»Denken Sie an erlittenes Leid?« fragte er noch einmal.
»Ich denke über mein Leben nach«, sagte sie und warf einen kurzen Blick auf ihn.
Er fühlte, daß sie eine von vielen sei und daß er in ihr das Ebenbild von Tausenden von Unglücklichen sehe!
»Was sind Ihre Eltern?« fragte er.
»Ich hatte es sonst gut zu Haus, mein Vater war Gärtner, weit draußen in der Provinz.«
»Ist er tot?«
»Für mich ist er tot. All das ist tot für mich. Sie sind ein feiner Herr und wissen das nicht einmal.« Sie blickte wieder auf und lachte ihn an.
»Mädchen!« sagte Redlaw ernst. »Ehe all diese Dinge für dich tot waren, hast du da kein Unrecht erlitten? Hängt sich nicht, sosehr du dich auch dagegen sträuben magst, die Erinnerung an erlittenes Unrecht verzweifelt fest an dich, und wird dir diese Erinnerung nicht immer und immer wieder zur Qual?«
So wenig Weibliches lag in ihrem Äußern, daß Redlaw ganz bestürzt war, als sie plötzlich in Tränen ausbrach. Aber noch mehr weckte es sein Erstaunen und beunruhigte ihn außerordentlich, als er sah, daß in der kaum erwachten Erinnerung an erlittenes Unrecht die ersten Spuren ehemaligen Menschentums und starrgewordener Zartheit wieder wach wurden.
Er trat ein wenig zurück und bemerkte, daß sie Schrammen und Wunden trug an Armen, Gesicht und Busen.
»Welche rohe Hand hat Sie verletzt?«
»Meine eigene, ich hab’s selber getan«, antwortete sie rasch.
»Das ist nicht möglich!«
»Ich schwöre es! Er hat mich nicht angerührt. Ich hab’s selber getan in der Wut und hab‘ mich hier niedergeworfen. Er kam mir nicht zu nahe und hat niemals Hand an mich gelegt.«
Aus dem entschlossenen Ausdruck in den bleichen Zügen bei der offenkundigen Lüge erkannte er, daß noch viel verzerrtes Gute in dieser elenden Brust lebte, und bereute tief, daß er ihr nahegetreten war.
»Sorgen, Kummer und Leid«, sagte er halblaut vor sich hin und wandte scheu den Blick ab. »Alles, was sie noch verknüpft mit der Stufe, von der sie herabgesunken, trägt diese Wurzel. In Gottes Namen, lassen Sie mich vorbei!«
Voller Furcht, sie noch einmal anzusehen, voller Furcht, sie zu berühren, voller Furcht vor dem Gedanken, daß er vielleicht den letzten Faden schon zerrissen, der sie noch mit der Barmherzigkeit des Ewigen verbunden, raffte er seinen Mantel zusammen und schlich die Treppe hinauf.
Gegenüber dem Ausgang der Treppe stand eine Türe halb offen. In diesem Augenblick trat ein Mann mit einem Lichte in der Hand heraus. Als er den Chemiker erblickte, trat er überrascht zurück und nannte ihn unwillkürlich beim Namen.
Verwundert, hier gekannt zu sein, blieb Redlaw stehen und bemühte sich vergebens, sich auf das abgezehrte und bestürzte Gesicht zu besinnen. Er hatte nicht lange Zeit dazu, denn zu seiner noch größern Überraschung trat der alte Philipp aus dem Zimmer hervor und ergriff seine Hand.
»Mr. Redlaw«, sagte der Alte. »Das sieht Ihnen ähnlich! Das sieht Ihnen ähnlich, Sir! Sie haben davon gehört und sind uns nachgekommen, um zu helfen, soviel noch zu helfen ist. O zu spät, zu spät!«
Redlaw, verwirrt und ratlos, folgte ihnen in das Zimmer. Ein Mann lag dort auf einem Feldbett, und neben ihm stand William Swidger.
»Zu spät!« murmelte der alte Mann und sah den Chemiker traurig an, und die Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Ich sag’s auch immer, Vater!« warf sein Sohn mit leiser Stimme ein. »Ich sag’s auch immer. Das einzige, was wir tun können, ist, daß wir uns ganz still verhalten, solange er schläft. Du hast recht, Vater!«
Redlaw blieb neben dem Bette stehen und sah auf die Gestalt herab, die auf der Matratze lag. Es war ein Mann, der in der Vollkraft seines Lebens hätte stehen können, aber die Sonne wahrscheinlich nie mehr wiedersehen sollte. Die Laster eines vierzig- oder fünfzigjährigen Lebenslaufs hatten ihn so gezeichnet, daß im Vergleich mit ihm die schwere Hand der Zeit auf das Antlitz des Greises, der neben ihm stand, sogar schonend und verschönernd gewirkt hatte.
»Wer ist das?« fragte der Chemiker und sah sich um.
»Mein Sohn Georg, Mr. Redlaw«, antwortete der alte Mann und rang die Hände, »mein ältester Sohn Georg, auf den seine Mutter stolzer war als auf alle übrigen.« Redlaws Augen schweiften weg von dem weißen Haupt des Greises, das auf dem Bette ruhte, nach dem Manne hin, der ihn beim Eintreten erkannt hatte und der sich jetzt in der entlegensten Ecke des Zimmers zu schaffen machte. Er schien von seinem Alter zu sein, und obgleich er keinen so hoffnungslos heruntergekommenen Mann kannte, wie dieser zu sein schien, lag doch etwas in seiner Haltung, wie er jetzt zur Türe hinausging, das ihn veranlaßte, sich unruhig mit der Hand über die Stirn zu fahren.
»William«, fragte er leise, »wer ist das?«
»Ja, sehen Sie, Sir«, erwiderte William, »ich sag’s auch immer. Warum muß ein Mensch immer spielen und dergleichen und sich zollweise immer tiefer sinken lassen, bis es nicht mehr tiefer abwärts geht!«
»Hat er das getan?« fragte Redlaw und sah dem Manne nach mit dem gleichen unsichern Blick wie vorhin.
»Jawohl, Sir«, antwortete William Swidger. »Er versteht etwas von Medizin, wie es scheint. Er ist mit meinem armen Bruder dort«, Mr. William fuhr sich mit dem Rockärmel über die Augen, »zu Fuß nach London gekommen. Ja, ja, es treffen hier manchmal seltsame Gefährten zusammen, und er kam, um nach dem Kranken zu sehen. Und er hat uns auch zu ihm geholt. Ein trauriger Anblick, Sir. Aber so geht’s in der Welt! Es wird meinen Vater unter die Erde bringen.«
Redlaw sah auf und erinnerte sich, wo und in welcher Gesellschaft er sich befand, und wurde sich des Zaubers bewußt, den er mit sich trug – in seinem Erstaunen hatte er ihn einen Augenblick vergessen –; er trat schnell ein wenig beiseite und überlegte, ob er bleiben oder gehen sollte. Mit einer gewissen trotzigen Verstocktheit, die zu seiner Natur zu gehören schien, entschied er sich für das Bleiben.
»Erst gestern erkannte ich, daß die Erinnerungen dieses Alten nur ein Gewebe sind von Trübsal und Sorge, und heute schon soll ich mich scheuen, sie zu verwandeln – sind die Erinnerungen, die ich vertreiben kann, für diesen Sterbenden so kostbar, daß ich um ihn zu fürchten brauchte? Nein, ich will bleiben.«
Aber trotzdem blieb er nur mit Zittern und Bangen und hielt sich fern vom Bett, mit abgewandtem Gesicht und in den schwarzen Mantel gehüllt, und lauschte den Worten der andern, als fühle er sich selbst als Dämon an dieser Stätte.
»Vater!« murmelte der Kranke, einen Augenblick aus seiner Betäubung erwachend.
»Mein Junge, mein Sohn Georg!« sagte der alte Philipp.
»Du sprachst eben davon, ich wäre Mutters Liebling gewesen vor langer Zeit. Es ist etwas Schreckliches, an die alten Tage zurückzudenken.«
»Nein, nein, nein!« entgegnete der Alte. »Denke nur daran! Sage nicht, es sei etwas Schreckliches. Für mich ist es nichts Schreckliches.«
»Es schneidet dir doch ins Herz, Vater«, – – – denn die Tränen des Alten fielen auf ihn herab.
»Ja, ja!« sagte Philipp. »Das ist wahr, aber es tut mir wohl. Es ist ein schweres Leid, an jene Zeit zurückzudenken, aber es tut mir wohl, Georg. O denke auch daran, denke auch daran, und dein Herz wird weicher und weicher werden. Wo ist mein Sohn William? William, mein Junge, deine Mutter liebte ihn innig bis zum letzten Augenblick, und mit ihrem letzten Atemzuge flüsterte sie: ›Sag ihm, daß ich ihm vergeben habe, ich segne ihn und bete für ihn.‹ Es waren die letzten Worte, die sie zu mir sprach. Ich habe sie nie vergessen und bin siebenundachtzig.«
»Vater«, sagte der Mann auf dem Bett, »ich fühle, daß ich sterbe. Es ist schon so weit mit mir, daß ich kaum mehr sprechen kann, selbst nicht von dem, was mir am schwersten auf dem Herzen liegt. Gibt es wohl noch eine Hoffnung für mich über dieses Sterbebett hinaus?«
»Es gibt Hoffnung«, entgegnete der Alte, »für alle, die sanftmütig und reuevoll sind.« Er faltete seine Hände und blickte in die Höhe. »Für alle die ist Hoffnung. Erst gestern noch war ich dankbar dafür, daß ich mich darauf besinnen konnte, wie dieser mein unglücklicher Sohn einst ein unschuldiges Kind war. Aber welcher Trost ist es, daß Gott sich seiner nur so erinnern will.«
Redlaw verbarg sein Gesicht in den Händen und bebte zurück wie ein Mörder.
»Ach«, stöhnte der Mann im Bett, »ein ganzes Leben vergeudet.«
»Aber einstmals war auch er ein Kind«, fuhr der Alte fort, »und hat mit Kindern gespielt. Ehe er sich des Abends zu Bette legte und in den Schlummer der Unschuld sank, sprach er sein Gebet auf dem Schoße der Mutter. Ich habe ihm oft zugesehen, viele Male. Und sie zog sein Haupt an ihre Brust und küßte ihn. So schmerzlich es ihr und mir war, daran zu denken, als er dann so irreging und alle unsere Hoffnungen und Pläne begrub, war diese Erinnerung doch das einzige Band, das uns verknüpfte. O Vater im Himmel, der du soviel besser bist als ein Vater auf Erden, o Vater im Himmel, der du soviel betrübter bist über die Irrtümer deiner Kinder, nimm diesen Wanderer wieder auf! Nicht wie er jetzt ist, wie er damals war, laß ihn zu dir flehen!«
Als der Alte die zitternden Hände emporhob, legte der Sohn, für den er diese Bitte sprach, das müde Haupt an seine Brust und suchte Schutz und Trost, als war er wirklich noch das Kind von ehedem.
Wann hat je ein Mensch so gezittert, wie Redlaw in dem großen Schweigen zitterte, das dann folgte. Er wußte, es mußte über sie kommen – und schnell kommen.
»Meine Zeit ist kurz, mein Atem ist noch kürzer«, sagte der Kranke und richtete sich auf und tappte mit der Hand in der Luft herum. »Und mir fällt ein, ich habe noch etwas auf dem Herzen, von wegen des Mannes, der eben hier war. Vater und William – halt – steht dort nicht etwas Schwarzes?«
»Ja, gewiß«, sagte sein alter Vater.
»Es ist ein Mann?«
»Georg«, unterbrach sein Bruder und beugte sich liebevoll über ihn. »Es ist Mr. Redlaw.«
»Mir war, als hätte ich von ihm geträumt. Bitte ihn, er möchte herkommen.«
Bleicher als der Sterbende trat der Chemiker näher. Der Bewegung der abgezehrten Hand gehorchend, setzte er sich auf das Bett.
»Heute nacht hat es mir das Herz zerrissen«, der Sterbende legte die Hand auf die Brust mit einem Blick, in dem die ganze Qual einer stummen Bitte lag, »ich war so ergriffen von dem Anblick meines armen alten Vaters und von dem Gedanken an all den Gram, den ich verschuldet, daß – – – – –«
War es das nahende Ende oder das Aufdämmern einer andern Verwandlung, das ihn innehalten ließ?
»– daß, daß ich versuchen will, so viel gutzumachen, wie ich kann. Es war noch ein Mann hier. Haben Sie ihn nicht gesehen?«
Redlaw konnte nicht antworten, denn als er das verhängnisvolle wohlbekannte Zeichen, das irre Hinfahren der Hand über die Stirn erblickte, erstarb ihm das Wort auf den Lippen. Er machte nur eine Bewegung des Zustimmens.
»Er hat keinen Pfennig, ist hungrig und herabgekommen. Er ist ganz zusammengebrochen und weiß sich nicht mehr zu helfen. Kümmern Sie sich um ihn. Verlieren Sie keine Zeit. Ich weiß, er trägt sich mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen.«
Die Verwandlung ging bereits vor sich. Es stand auf seinem Angesicht geschrieben. Seine Züge veränderten sich, die Falten wurden tiefer, und der Ausdruck der Sorge wich.
»Erinnern Sie sich nicht? Kennen Sie ihn nicht mehr?« fuhr er fort. Er bedeckte das Gesicht einen Augenblick mit der Hand und strich sich wieder über die Stirn. Dann richtete er seine Augen mit einem gefühllosen, gemeinen und rohen Ausdruck auf Redlaw:
»Hol Sie der Teufel«, rief er wild umherblickend. »Was haben Sie aus mir gemacht. Lustig hab ich gelebt, und lustig will ich sterben. Hol Sie der Henker!« und er legte sich wieder aufs Bett zurück, hob die Arme und legte sie hinter Kopf und Ohren, von diesem Augenblick an entschlossen, in vollständiger Gleichgültigkeit vom Leben zu scheiden.
Wenn den Chemiker der Blitz getroffen, hätte er nicht jäher vom Bette zurückprallen können. Aber auch der Alte, der, während sein Sohn mit Redlaw sprach, zur Seite getreten war, mied mit Abscheu das Lager.
»Wo ist mein Sohn William?« fragte der Alte hastig. »William, komm fort von hier. Wir wollen nach Hause!«
»Nach Hause? Vater«, rief William aus, »willst du denn deinen eigenen Sohn verlassen?«
»Wer ist denn mein eigener Sohn?«
»Wer? Doch der dort!«
»Das ist nicht mein Sohn«, sagte Philipp und zitterte vor Erbitterung. »Ein Schuft wie dieser hat nichts mit mir gemein. Meine Kinder sehen sauber aus und bedienen mich und geben mir zu essen und zu trinken und sind mir nützlich. Ich habe wahrhaftig ein Recht darauf, ich bin siebenundachtzig.«
»Du bist alt genug und brauchst nicht noch älter zu werden«, brummte William, sah ihn scheel von der Seite an und steckte die Hände in die Taschen. »Ich möchte gern wissen, wozu du noch taugst? Ohne dich könnte es wirklich fideler sein.«
»Mein Sohn! Mr. Redlaw«, sagte der Alte, »mein Sohn! Das fehlte gerade noch! Der Junge spricht von meinem Sohn. Ich möchte gern wissen, was der mir jemals Angenehmes gebracht hätte.«
»Und ich möchte gern wissen, was ich jemals von dir Gutes gehabt habe«, knurrte William.
»Laß mich mal nachdenken!« sagte der Alte. »Wie viele Weihnachten über hab ich auf meinem warmen Plätzchen gesessen und mußte nicht in die kalte Nachtluft hinaus und hab mir’s wohl sein lassen, ohne daß ich durch einen so häßlichen widerlichen Anblick, wie der Kerl da einer ist, gestört worden bin. Sind’s zwanzig Weihnachten, William?«
»Mir scheint es schon eher wie vierzig«, brummte dieser. »Na, wenn ich meinen Vater ansehe, Sir, und daran denke«, und er wandte sich an Redlaw mit einer ungeduldigen Gereiztheit, die ganz neu an ihm war, »dann will ich mich hängen lassen, wenn ich etwas anderes in ihm sehen kann als einen Kalender von einer ganzen Reihe Jahren von Essen, Trinken und Faulenzen.«
»Ich – ich bin siebenundachtzig«, sagte der Alte, kindisch und schwach weiterfaselnd, »und niemals hat mich was sonderlich gestört. Ich will jetzt nicht davon reden, wegen des Menschen dort, den er meinen Sohn nennt. Er ist nicht mein Sohn. Ich hab eine Menge schöne Zeiten gehabt, ich erinnere mich noch –; nein, doch nicht, nein, ich hab es vergessen. Es war so etwas wie von Kricket und einem Freund von mir, aber ich kann mich seiner nicht mehr entsinnen. Ich möchte nur wissen, wie das war. Ich konnte ihn gut leiden. Was wohl aus ihm geworden ist. Ich glaube, er starb, aber ich weiß es nicht. Übrigens ist es mir ganz gleichgültig.«
Er kicherte schläfrig und schüttelte den Kopf und steckte die Hände in die Westentaschen. In einer fand er ein Stück Stechpalme, wahrscheinlich vom gestrigen Abend. Er nahm es heraus und sah es an.
»Beeren, aha. Schade, daß man sie nicht essen kann. Ich erinnere mich noch, daß ich spazierenging, als ich ein kleiner Kerl war, nicht größer als so – mit wem ging ich doch spazieren? –, ich kann mich absolut nicht mehr erinnern, wie das damals war. Ich weiß nicht mehr, mit wem und ob jemand bei mir war. Beeren, was! Es ist immer lustig, wenn’s Beeren gibt. Ich sollte eigentlich auch einen Teil davon bekommen, und man muß mich bedienen und mir alles warm und gemütlich machen, denn ich bin siebenundachtzig und ein armer, alter Mann. Ich bin siebenundachtzig, siebenundachtzig.«
Die faselnde jämmerliche Art, mit der er dies vorbrachte und dabei an den Blättern nagte und das Zerkaute wieder ausspuckte, die kalten gleichgültigen Blicke, die ihm sein jüngster Sohn zuwarf, die trotzige Verstocktheit, mit der sein ältester Sohn dalag, all das kam dem Chemiker nicht mehr zum Bewußtsein, er riß sich von der Stelle los, auf der er wie gebannt gestanden, und stürzte aus dem Hause hinaus.
Sein junger Führer kam aus seinem Versteck hervorgekrochen und stand bereit, ehe noch Redlaw den Boden erreichte.
»Zur Frau zurück?« fragte er.
»Ja, schnell heim«, antwortete Redlaw. »Bleib nirgends unterwegs stehen!«
Eine kleine Strecke weit lief der Junge vor ihm her, aber ihr Heimweg war mehr eine Flucht als ein Spaziergang, und nur mit großer Mühe konnte der Junge mit seinen bloßen Füßen mit dem Chemiker gleichen Schritt halten.
Scheu alle Vorübergehenden meidend, dicht in seinen Mantel gehüllt, als ob die leiseste Berührung desselben den andern eine tödliche Ansteckung bringe, machte Redlaw nicht eher halt, bis sie die Tür erreichten, durch die sie zuerst auf die Straße getreten waren. Er sperrte sie auf, trat mit dem Jungen hinein und eilte durch die dunkeln Gänge in sein Zimmer. Der Junge ließ ihn nicht aus den Augen, als die Tür abgesperrt wurde, und verkroch sich unter den Tisch.
»Sie, fassen Sie mich nicht an!« sagte er. »Sie wollen mir wohl mein Geld nehmen?«
Redlaw warf noch einige Geldstücke auf den Boden. Der Junge warf sich sogleich mit dem Körper über sie, wie um sie vor dem Blick des Mannes zu verbergen und damit er nicht am Ende Lust bekäme, sie wieder zurückzufordern. Erst als er den Chemiker wieder bei der Lampe sitzen sah, das Gesicht in den Händen vergraben, fing er an, das Geld verstohlen aufzulesen. Als er damit fertig war, schlich er sich ans Feuer, setzte sich in einen großen Stuhl, holte aus der Brust ein paar Speiseüberreste und fing an zu kauen und in die Glut zu starren, dann und wann seine Schillinge anschauend, die er fest in der geballten Hand hielt.
»Und dieses da«, sagte Redlaw mit wachsendem Widerwillen und Grausen, »ist der einzige Gefährte, der mir noch auf Erden bleibt.«
Wie lange es währte, ehe er aus der Betrachtung des Geschöpfes, das er so verabscheute, erwachte, ob es eine halbe Stunde oder die halbe Nacht währte, er wußte es nicht. Aber plötzlich horchte der Junge auf und unterbrach die Stille des Zimmers, indem er aufsprang und nach der Türe lief.
»Die Frau kommt!«
Der Chemiker riß ihn zurück, doch schon klopfte es an die Türe.
»Lassen Sie mich zu ihr«, rief der Junge.
»Jetzt nicht«, entgegnete der Chemiker. »Hiergeblieben! Niemand darf jetzt herein oder heraus. Wer ist da?«
»Ich bin’s, Sir«, rief Milly. »Bitte, machen Sie auf!«
»Nein, nein!«
»Mr. Redlaw, bitte, bitte, lassen Sie mich hinein!«
»Was gibt es?« fragte er und hielt den Knaben fest.
»Der Unglückliche, bei dem Sie eben waren, liegt im Sterben, und nichts, was ich mit ihm spreche, kann ihn aus seiner entsetzlichen Verblendung reißen. Williams Vater ist im Handumdrehen kindisch geworden, William selbst ist wie ausgewechselt. Der Schlag ist zu plötzlich gekommen. Ich verstehe ihn nicht mehr. Er gleicht sich selbst nicht mehr. Ach, Mr. Redlaw, bitte, raten Sie mir, helfen Sie mir.«
»Nein, nein, nein!« gab der Chemiker zur Antwort.
»Sir, lieber Mr. Redlaw, Georg hat in seinem Halbschlummer von dem andern Mann gesprochen, den Sie dort sahen. Er fürchtete, er werde sich umbringen.«
»Besser, er tut’s, als daß er in meine Nähe kommt.«
»Er sagte in seinen Phantasien, Sie kennen ihn. Er wäre vor langer Zeit Ihr Freund gewesen, er sei der unglückliche Vater eines Studenten hier – wie mir schwant, des jungen Herrn, der krank gewesen ist. Was soll ich tun? Wie soll man auf ihn aufpassen? Wie soll man ihn retten? O Mr. Redlaw, bitte, bitte, raten Sie mir, helfen Sie mir doch.«
Während der ganzen Zeit hielt der Chemiker den Knaben fest, der wie ein Wahnsinniger sich von ihm losreißen wollte, um Milly hereinzulassen.
»Ihr Gespenster, ihr, die ihr gotteslästerliche Gedanken bestraft«, meinte Redlaw voll Verzweiflung, »schauet auf mich herab! Möge aus der Finsternis meines Geistes der Funken der Reue, der dort noch glimmt, aufleuchten und euch mein Elend zeigen! In der Welt des Stoffes ist alles notwendig, wie ich immer lehrte. Kein Atom, keine Stufe an dem wunderbaren Bau kann verlorengehen, ohne daß es nicht eine unausfüllbare Lücke in das große Weltall risse. Jetzt erkenne ich, daß es ebenso ist mit Gut und Böse, mit Freud und Leid im Gedächtnis der Menschen. Erbarmt euch meiner! Erlösung!«
Keine Antwort als Millys »Helfen Sie mir, helfen Sie mir! Machen Sie auf«, und des Jungen stummes Ringen, um zu ihr zu gelangen.
»Schatten meines Ichs, Geist meiner trüben Stunden«, rief Redlaw außer sich, »komm zurück und suche mich heim Tag und Nacht, nur nimm diese Gabe von mir, oder wenn sie doch hinfort auf mir lasten soll, so nimm mir wenigstens die furchtbare Kraft, sie auch auf andere übertragen zu müssen. Mache ungeschehen, was ich getan habe! Lasse mich umnachtet sein, nur gib jenen den Tag zurück, über die ich den Fluch gebracht habe. So wahr ich diese Frau von Anfang an verschont habe, so wahr will ich dieses Zimmer nie wieder verlassen, und keine Hand soll mich pflegen; nur dieses Geschöpf, das gegen mich gefeit ist, soll bei mir sein – höre mich!«
Die einzige Antwort war noch immer das Ringen des Knaben, der zu Milly wollte, und ihr immer verzweifelter werdender Schrei: »Helfen Sie mir, lassen Sie mich hinein! Er war doch Ihr Freund. Wie soll man auf ihn achtgeben und ihn retten? Sie sind alle so verändert. Niemand kann mir helfen als Sie. Bitte, bitte, machen Sie auf!«