Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Mrs. Affery macht ein bedingtes Versprechen bezüglich ihrer Träume.

Clennam, der jetzt allein war, während die ausdrucksvollen Blicke und Gebärden Mr. Baptists, ehemals Giovanni Baptista Cavaletto, ihm lebhaft vor der Seele standen, begann einen langweiligen Tag. Vergebens suchte er seine Aufmerksamkeit zu fesseln, indem er sie auf ein Geschäft oder einen Gedankengang richtete; sie lag beständig vor dem unheimlichen Hauptgedanken vor Anker und wollte bei keiner andern Idee festhalten. Wie wenn ein Verbrecher in einem stillstehenden Boote auf einem tiefen klaren Flusse an Ketten gebunden gewesen wäre, verurteilt, wie zahllose Meilen Wassers auch an ihm vorüberflossen, immer den Leichnam des Mitmenschen, den er ertränkt, am Grunde liegen zu sehen, unbeweglich und unveränderlich, nur daß die Wirbel ihn bald breit, bald lang machten, seine Umrisse bald auseinander-, bald zusammenzogen, so sah Arthur, unter dem wechselnden Flusse durchsichtiger Gedanken und Phantasiebilder, die verschwanden und durch andere ebenso rasch wieder ersetzt wurden, unveränderlich und düster, und unverrückbar von seinem Platze, den einen Gegenstand, von dem er sich mit aller Macht loszureißen suchte, und dem er nicht entfliehen konnte.

Die Überzeugung, die er jetzt besaß, daß Blandois, wie auch sein wahrer Name lauten mochte, einer der schlimmsten Charaktere sei, vermehrte die Last seiner Sorgen wesentlich. Wenn auch morgen schon das Verschwinden sich erklärte, so blieb doch die Tatsache, daß seine Mutter mit einem solchen Mann in Verbindung gestanden, unverändert stehen. Daß die Verbindung von geheimnisvoller Art, und daß sie unterwürfig gegen ihn gewesen und sich vor ihm gefürchtet, hoffte er, werde niemand bekannt sein außer ihm; da er es jedoch wußte, wie konnte er es von seinen alten unbestimmten Befürchtungen trennen und wie glauben, daß in solchen Beziehungen nichts Schlimmes sei?

Ihre Entschlossenheit, nicht mit ihm auf diese Frage einzugehen, und seine Kenntnis ihres unbeugsamen Charakters erhöhte das Gefühl seiner Hilflosigkeit. Es wirkte wie der Druck eines Traumes, denken zu müssen, daß Schande und Bloßstellung ihr und seines Vaters Gedächtnis drohe, und wie durch eine eherne Mauer von der Möglichkeit abgehalten zu sein, ihnen zu Hilfe zu kommen. Der Vorsatz, den er in seine Heimat zurückgebracht und an dem er beständig seit jener Zeit festgehalten hatte, wurde, immer wenn er fürchtete, daß es am meisten dränge, von seiner Mutter mit größter Entschiedenheit vereitelt. Sein Rat, seine Energie, seine Tätigkeit, sein Geld, sein Kredit, all seine Mittel wurden nutzlos gemacht. Wenn sie den alten Einfluß aus den Zeiten der Fabel gehabt und die, die sie angesehen, in Stein verwandelt hätte, sie könnte sie nicht machtloser gemacht haben (so erschien es ihm in seinem Herzenselend) als jetzt, wo sie ihr starres Antlitz in ihrem düstern Zimmer ihm zuwandte.

Aber das Licht, das ihm durch die Entdeckung des heutigen Tages aufgegangen war und das auf diese Betrachtungen fiel, brachte ihn zu dem Entschluß, ein entschiedeneres Verfahren einzuschlagen. Auf die Rechtlichkeit seines Vorsatzes bauend und durch ein Gefühl ringsumher schwer drohender Gefahr gedrängt, beschloß er, wenn seine Mutter fortfahre, unnahbar für ihn zu bleiben, sich in seiner Verzweiflung an Affery zu wenden. Wenn sie dazu gebracht werden könnte, offenherzig zu sein und, was an ihr war, zu tun, um den Zauberbann des Geheimnisses, der auf dem Hause lag, zu brechen, so mußte er auch die Lähmung loswerden, die ihm mit jeder Stunde, die über sein Haupt hinging, fühlbarer wurde. Das war das Resultat der Herzensbeklemmung, die ihn den ganzen Tag niedergedrückt hatte, und dies der Entschluß, den er zur Ausführung bringen wollte, sobald der Tag zu Ende ging.

Seine erste Enttäuschung, als er an das Haus kam, war, die Tür offen und Mr. Flintwinch auf der Treppe eine Pfeife rauchend zu finden. Wenn die Umstände sich nur gewöhnlich günstig gestaltet hätten, würde Mrs. Affery die Tür auf sein Pochen geöffnet haben. Da die Umstände jedoch ungewöhnlich ungünstig waren, so stand die Tür offen, und Mr. Flintwinch rauchte seine Pfeife auf der Treppe.

»Guten Abend«, sagte Arthur.

»Guten Abend«, sagte Mr. Flintwinch.

Der Rauch kam in gewundenen Wölkchen aus Mr. Flintwinchs Munde, als wenn er sich durch seinen ganzen verdrehten Körper gewunden und in seinen krummen Hals zurückkäme, ehe er herausträte, um sich mit dem Rauch der gewundenen Kamine und dem Nebel des gewundenen Flusses zu vermischen.

»Wissen Sie irgend etwas Neues?« sagte Arthur.

»Wir wissen nichts Neues«, sagte Jeremiah.

»Ich meine von dem fremden Mann«, erklärte Arthur.

»Ich meine von dem fremden Mann«, sagte Jeremiah.

Er sah so griesgrämig aus, wie er so quer dastand, mit dem Knoten seiner Halsbinde unter dem Ohr, daß Clennam der Gedanke in den Sinn kam, und dies nicht zum erstenmal, ob Flintwinch nicht in seinem eignen Interesse Blandois auf die Seite geschafft hatte? Galt es sein Geheimnis und seine Sicherheit? Er war klein und gebeugt und vielleicht nicht sehr stark; aber er war zähe wie ein alter Eibenbaum und listig wie eine alte Dohle. Wenn solch ein Mann hinter einen weit jüngeren und weit kräftigeren Mann kommt und den festen Willen hat, ihm den Garaus zu machen und sich nicht erweichen zu lassen, so ließ sich das an diesem einsamen Ort zu so später Stunde gar leicht machen.

Während in dem krankhaften Zustande seiner Phantasie diese Gedanken sich über den Grundgedanken lagerten, der Clennams Geist unablässig beschäftigte, stand Mr. Flintwinch mit einem bösartigen Ausdruck seines Gesichtes da und betrachtete das gegenüberliegende Haus über den Einfahrtweg mit gekrümmtem Nacken und einem Auge; und er machte mehr den Eindruck, als wolle er die Mundspitze seiner Pfeife zerbeißen, als sich an ihr erfreuen. Und doch genoß er sie in seiner Weise.

»Sie werden das nächste Mal, wenn Sie wiederkommen, wie mich dünkt, Mr. Arthur, mein Bild malen können«, sagte Mr. Flintwinch trocken, als er sich bückte, um die Asche auszuklopfen.

Etwas verlegen, als er inneward, was er getan, bat Arthur um Verzeihung, wenn er ihn unhöflich lange angesehen hatte. »Aber meine Gedanken drehen sich so viel um diesen Gegenstand«, sagte er, »daß ich mich ganz vergesse.«

»Hah! Ich sehe nicht ein«, versetzte Flintwinch gemächlich, »warum das Sie kümmern sollte, Arthur.«

»Nicht?«

»Nein«, sagte Flintwinch kurz und entschieden; ganz als wenn er von der Hunderasse wäre und nach Arthurs Hand schnappte.

»Es ist gleichgültig für mich, wenn ich solche Plakate angeschlagen sehe? Es ist gleichgültig für mich, wenn ich meiner Mutter Haus und Wohnung in solcher Verbindung in der Leute Mund sehe?«

»Ich sehe keinen Grund ein«, versetzte Mr. Flintwinch, indem er sich die hornige Wange strich, »warum das für Sie so wichtig sein soll. Aber ich sage Ihnen, was ich sehe, Arthur«, fuhr er fort, indem er nach den Fenstern hinaufblickte, »ich sehe das Kamin- und Kerzenlicht im Zimmer Ihrer Mutter.«

»Und was hat das damit zu schaffen?«

»Nun, Sir, ich ersehe daraus«, sagte Flintwinch, sich an ihm hinaufschraubend, »daß, wenn es rätlich ist (wie das Sprichwort sagt), einen schlafenden Hund liegen zu lassen, es vielleicht ebenso rätlich ist, einen vermißten Hund liegen zu lassen. Kümmern Sie sich nicht darum. Sie stehen beide gewöhnlich bald genug wieder auf.«

Mr. Flintwinch drehte sich kurz um, nachdem er diese Bemerkung gemacht hatte, und ging in die dunkle Halle. Clennam stand da und folgte ihm mit den Blicken, während er in dem kleinen Zimmer an der Seite in die Phosphorbüchse tauchte, um ein Licht anzuzünden, und nach drei- bis viermaligem Versuch endlich Licht gemacht hatte, worauf er die trübe Lampe an der Wand anzündete. Während der ganzen Zeit beschäftigte sich Mr. Clennam mit der vermutlichen Art und Weise – mehr, als wenn sie ihm von einer unsichtbaren Hand gezeigt würden, denn als daß er sie selbst beschwöre – mit der vermutlichen Art und Weise, sagen wir, von Mr. Flintwinchs Mitteln und Wegen, jene dunklere Tat zu tun und die Spuren derselben in einem der dunklen Schattengänge ringsumher zu entfernen.

»Nun, mein Herr«, sagte der mürrische Jeremiah, »ist es Ihnen angenehm, mit mir heraufzukommen?«

»Meine Mutter ist hoffentlich allein?«

»Nein«, sagte Mr. Flintwinch, »Mr. Casby und seine Tochter sind bei ihr. Sie kamen, während ich rauchte; ich blieb deshalb zurück, um meine Pfeife auszurauchen.«

Das war die zweite Enttäuschung. Arthur machte keine Bemerkung darüber und ging nach dem Zimmer seiner Mutter, wo Mr. Casby und Flora Tee mit Sardellenbrot und gerösteten Schnitten mit Butter nahmen. Die Überreste dieser Delikatessen waren noch nicht entfernt, weder von dem Tisch, noch von dem erhitzten Gesicht Afferys, die mit der Röstgabel in der Hand wie eine Art allegorischer Figur aussah, nur daß sie in Beziehung auf die sinnbildliche Bedeutung ihrer Erscheinung weit im Vorteil gegenüber dem gewöhnlichen Schlag der Allegorien war.

Flora hatte ihren Hut und Schal auf eine Art über das Bett ausgebreitet, daß man deutlich erkennen konnte, sie beabsichtige einige Zeit zu bleiben. Auch Mr. Casby strahlte neben dem Kaminrücken, indem die wohlwollenden Erhöhungen auf seiner Stirn glänzten, als wenn die warme Butter der gerösteten Schnitten durch den patriarchalischen Schädel schwitzte, und sein Gesicht so rot war, als wenn der Färbestoff des Sardellenteiges über diese patriarchalische Physiognomie sich ausbreitete. Da er dies bei dem Austausch der gewöhnlichen Begrüßungen bemerkte, beschloß Clennam ohne Aufschub mit seiner Mutter zu sprechen.

Es war eine alte Gewohnheit, da sie niemals ihr Zimmer verließ, wenn ihr jemand etwas im geheimen sagen wollte, sie an ihren Schreibtisch zu rollen; dort saß sie gewöhnlich, den Rücken ihres Stuhls dem übrigen Zimmer zukehrend, während die Person, die mit ihr sprach, in einer Ecke auf einem Stuhl saß, der immer zu diesem Zwecke bereit stand. Ausgenommen, daß es lange her war, seit Mutter und Sohn ohne Einmischung einer dritten Person miteinander gesprochen, war es eine alte Gewohnheit, die jeder Besuch von Mrs. Clennam kannte, daß sie mit einem Wort der Entschuldigung wegen der Unterbrechung befragt wurde, ob man mit ihr in einer Geschäftsangelegenheit sprechen könne, und wenn sie bejahend antwortete, daß man sie in der bezeichneten Richtung fortrollte.

Als deshalb Arthur eine solche Entschuldigung machte und diesen Wunsch aussprach, dann sie an ihren Schreibtisch rollte und sich auf den Stuhl setzte, begann Mrs. Finching noch lauter und schneller zu sprechen, um anzudeuten, daß sie nichts hören könne, und Mr. Casby strich seine langen weißen Haare mit schläfriger Ruhe.

»Mutter, ich habe heute etwas gehört, wovon ich überzeugt bin, daß Sie es nicht wissen, und das Sie, nach meiner Ansicht, wissen müssen: es betrifft das frühere Leben des Mannes, den ich hier traf.«

»Ich weiß nichts von dem früheren Leben des Mannes, den du hier trafst, Arthur.«

Sie sprach laut. Er hatte seine Stimme gedämpft; aber sie wies dieses Entgegenkommen des Vertrauens ab, wie sie jedes andere Entgegenkommen abwies, und sprach in ihrer gewöhnlichen Weise und in ihrem gewöhnlichen strengen Tone.

»Ich habe dies nicht auf Umwegen erfahren; sondern es ist mir ganz direkt zugekommen.«

Sie fragte ihn, genau wie zuvor, ob er ausdrücklich deshalb gekommen sei, um ihr zu sagen, was es sei.

»Ich halte es für gut, daß Sie es wissen.«

»Und was ist es?«

»Er saß in einem französischen Gefängnis.«

Sie antwortete mit der größten Ruhe: »Ich halte das für sehr möglich.«

»Aber in einem Gefängnis für Verbrecher, Mutter. Er war eines Mordes beschuldigt.«

Sie fuhr bei diesem Worte zusammen, und ihre Blicke drückten ihren unwillkürlichen Schauer aus. Aber sie sprach dennoch laut, als sie fragte:

»Wer sagte dir das?«

»Ein Mann, der mit ihm gefangen saß.«

»Die Vergangenheit jenes Mannes war dir, glaube ich, nicht bekannt, ehe er dies sagte?«

»Nein.«

»Aber der Mann selbst?«

»Ja.«

»Das ist auch mein und Mr. Flintwinchs Fall mit jenem andern Mann. Die Ähnlichkeit ist indes, darf ich wohl sagen, nicht so groß, da der Mensch, der dir diese Mitteilung gemacht, dir wohl nicht durch einen Brief eines Korrespondenten zugeführt wurde, bei dem er Geld deponiert hatte? Wie steht es mit diesem Punkte der Parallele?«

Arthur hatte keine andere Wahl, als zu erklären, daß sein Gewährsmann ihm nicht durch Vermittlung solcher Beglaubigungsschreiben, wie überhaupt durch gar keine Beglaubigungsschreiben, bekannt geworden. Mrs. Clennams aufmerksames Gesicht bekam immer mehr den Ausdruck strengen Triumphs, und sie versetzte mit Emphase: »Nimm dich in acht mit deinem Urteil über andere. Ich sage dir, Arthur, nimm dich in acht mit deinem Urteil: es könnte dir gefährlich werden!«

Ihre Emphase lag ebensosehr in dem Ausdruck ihrer Augen als in dem Nachdruck, den sie auf ihre Worte legte. Sie sah ihn unverwandt an, und wenn er bei seinem Eintritt ins Haus die geringste Hoffnung im stillen hegte, Eindruck auf sie zu machen, so verscheuchte ihr Blick diese Hoffnung wieder aus seinem Herzen.

»Mutter, kann ich Ihnen in nichts behilflich sein?«

»Nein.«

»Wollen Sie mir kein Vertrauen schenken, mir keinen Auftrag und keine Erklärung geben? Wollen Sie keinen Rat von mir annehmen? Wollen Sie mich Ihnen nicht näher kommen lassen?«

»Wie kannst du mich so fragen? Bist du es denn nicht gewesen, der sich von meinen Sachen losgesagt? Es war nicht mein Werk, sondern das deine. Wie kannst du beständig eine solche Frage an mich richten? Du weißt, daß du mich den Händen Mr. Flintwinchs überließest, und daß er nun deine Stelle einnimmt.«

Mit einem Blicke auf Jeremiah sah Clennam sogar an den Gamaschen desselben, daß seine ganze Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war, obwohl er, sein Kinn reibend, an der Wand lehnte und tat, als ob er auf Flora horchte, die in höchst zerstreuender Weise sich in einem Chaos von Gegenständen bewegte, in dem Makrelen und Mr. Finchings Tante in einer Schaukel mit Maikäfern und dem Weinhandel verstrickt wurden.

»Ein Gefangener in einem französischen Gefängnis, der des Mordes angeklagt war«, wiederholte Mrs. Clennam, ruhig überlegend, was ihr Sohn gesagt. »Das ist alles, was du von seinem Mitgefangenen über ihn erfahren hast?«

»Genau genommen alles.«

»Und war der Mitgefangene auch sein Mitschuldiger, ebenfalls ein Mörder? Aber er wird freilich besser von sich als von seinem Freunde sprechen; ich brauche gar nicht zu fragen. Casby, Arthur sagt mir –«

»Halten Sie ein, Mutter. Halten Sie ein, halten Sie ein!« Er unterbrach sie rasch, denn es war ihm nicht in den Sinn gekommen, daß sie laut preisgeben würde, was er ihr gesagt hatte.

»Was soll’s?« fragte sie mißvergnügt. »Was gibt’s?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Casby – und auch Sie, Mrs. Finching – gestatten Sie nur noch einen Augenblick mit meiner Mutter –«

Er hatte seine Hand auf ihren Stuhl gelegt, sie hätte ihn sonst mit einem Druck des Fußes auf den Boden herumgedreht. Sie saßen sich auf diese Weise noch immer gegenüber. Sie sah ihn an, während er an die Möglichkeit eines Resultats dachte, das er nicht beabsichtigt und nicht voraussehen konnte, und das er von dem Offenkundigwerden von Cavalettos Enthüllung fürchten mußte; er kam deshalb rasch zu dem Entschluß, daß es besser wäre, wenn man gar nicht davon spräche; obwohl ihn bei seiner Mitteilung vielleicht kein entschiedenerer Grund leitete, als daß er es für gewiß betrachtete, seine Mutter werde es für sich und ihren Kompagnon behalten.

»Was gibt es?« sagte sie wiederum ungeduldig. »Was soll’s?«

»Ich meinte nicht, daß Sie wiederholen sollten, was ich Ihnen mitteilte. Ich hielte es für besser, wenn Sie’s nicht preisgeben.«

»Machst du mir das zur Bedingung?«

»Nun ja!«

»So bedenke wohl, du bist es, der daraus ein Geheimnis macht«, sagte sie, ihre Hand aufhebend, »nicht ich. Du bist es, Arthur, der Zweifel und Verdacht und Bitten um Aufklärungen hierherbringt, und du bist es, Arthur, der Geheimnisse hier hereinschleppt. Was gilt es mir, wo der Mann war oder was er war? Was kann es mir bedeuten? Die ganze Welt darf es wissen, wenn sie es wissen will, es gilt mir gleich. Nun, laß mich gehen.«

Er gab ihrem gebietenden und stolzen Blick nach und rollte ihren Stuhl wieder zurück an den Ort, wo er vorher gestanden hatte. Während er dies tat, bemerkte er einen übermütigen Ausdruck auf Mr. Flintwinchs Gesicht, der gewiß nicht durch Flora hervorgerufen war. Die Art und Weise, wie sie sein Wissen und seinen Angriff und seine Pläne gegen ihn drehte, überzeugte ihn sogar noch weit mehr als die Entschiedenheit und Festigkeit seiner Mutter von der Vergeblichkeit aller seiner Bemühungen. Es blieb ihm nichts übrig, als sich an seine alte Freundin Affery zu wenden.

Aber selbst nur dies höchst zweifelhafte und näherbringende Ziel zu erreichen, sich an Affery wenden zu können, schien eine der wenigst versprechenden menschlichen Unternehmungen. Sie war so vollständig in der Sklaverei der beiden Gescheiten, wurde so systematisch von dem einen oder andern beaufsichtigt und fürchtete sich außerdem so sehr, im Hause umherzugehen, daß jede Gelegenheit, mit ihr allein sprechen zu können, im voraus unmöglich zu sein schien. Überdies hatte Mrs. Affery durch gewisse Mittel (es war nicht schwer zu ahnen, daß es die strengen Argumente ihres Eheherrn waren) eine so lebendige Überzeugung von der Gefährlichkeit, irgend etwas unter irgendwelchen Umständen zu sagen, gewonnen, daß sie die ganze Zeit in einem Winkel stehengeblieben war, indem sie sich mit ihrem symbolischen Instrument vor jedem Nahenden schützte; so daß, als Flora oder der flaschengrüne Patriarch selbst einige Worte an sie richteten, sie wie eine Stumme jedes Gespräch mit ihrer Röstgabel von sich abwies.

Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, Affery zu vermögen, daß sie ihn ansehe, während sie den Tisch abräumte und das Teeservice reinigte, dachte Arthur an ein Auskunftsmittel, zu dem ihm Flora behilflich sein sollte. Er flüsterte ihr deshalb zu: »Könnten Sie nicht sagen, Sie möchten gern einen Gang durch das Haus machen?«

Die arme Flora, die immer in der schwankenden Erwartung der Zeit war, wo Clennam seine Jugend wieder aufleben lassen und sterblich in sie verliebt sein würde, vernahm das Geflüster mit dem höchsten Entzücken; denn es wurde nicht nur durch seinen geheimnisvollen Charakter ihr wertvoll, sondern bahnte ihr auch den Weg zu einem zärtlichen Rendezvous, bei dem er ihr den Zustand seiner Neigungen erklären würde. Sie begann deshalb alsbald den Wink auszuführen.

»Ach mein Gott, das gute alte Zimmer«, sagte Flora und sah sich dabei um, »es sieht gerade noch immer so aus Mrs. Clennam das rührt mich wahrhaftig nur ist es etwas rauchiger was sich mit der Zeit erwarten ließ und was wir alle erwarten müssen und worein wir uns fügen müssen ob wir Lust haben oder nicht wie ich überzeugt bin daß es auch mit mir der Fall sein wird nur daß ich nicht gerade rauchiger geworden aber schrecklich viel dicker was dasselbe oder gar noch schlimmer wenn ich an die Tage denke wo Papa mich hierherbrachte das kleinste Mädchen eine reine Frostbeulenmasse und man mich auf einem Stuhle festsetzte die Füße auf den Rädern wo ich Arthur – bitte entschuldigen Sie – Mr. Clennam den kleinsten Knaben in der furchtbarsten Halskrause und Jacke ansah ehe Mr. Finching erschien ein nebliger Schatten am Horizont und aufmerksam gegen mich war wie das wohlbekannte Gespenst eines gewissen Ortes in Deutschland der mit B anfängt eine moralische Lehre die uns sagt daß alle Wege im Leben den Wegen im Norden von England ähnlich sind wo sie die Kohlen gewinnen und das Eisen und die Dinge die mit Asche bedeckt sind.«

Nachdem sie den Tribut eines Seufzers der Unbeständigkeit der menschlichen Dinge bezahlt, fuhr Flora rasch in ihrem Vorhaben fort.

»Nicht daß jemals sein schlimmster Feind hätte sagen können es sei ein freundliches Haus denn das war es nie aber es machte immer einen großen Eindruck ein verliebtes Gedächtnis erinnert sich einer Gelegenheit in der Jugend ehe das Urteil reif war wo Arthur –- eingewurzelte Gewohnheit – Mr. Clennam mich in eine unbenutzte Küche hinabnahm die in außerordentlich verschimmeltem Zustande war und mir den Vorschlag machte mich dort mein ganzes Leben lang zu verbergen und mich mit dem zu nähren was er von seinen Mahlzeiten beiseite schaffen könnte außer wenn er während der Feiertage nicht zu Hause oder in Ungnade und auf trocken Brot gesetzt war, was in jener friedlichen Zeit gar häufig vorkam – wäre es unpassend oder zuviel verlangt wenn ich bäte man möge mir erlauben diese Szene wieder in meinem Gedächtnis aufzufrischen und einen Gang durch das Haus zu machen?«

Mrs. Clennam, die Mrs. Finching gezwungen für die Güte dankte, daß sie überhaupt hier sei, obwohl ihr Besuch (vor Arthurs unerwartetem Erscheinen) eine Art reiner Gutmütigkeit und nicht des Egoismus war, sagte ihr, daß ihr das ganze Haus offen stehe. Flora stand auf und sah Arthur mit einem Blicke an, der ihn aufforderte, daß er sie begleite. »Gewiß«, sagte er laut, »und Affery wird uns hoffentlich leuchten.«

Affery entschuldigte sich mit den Worten: »Verlangen Sie nichts von mir, Arthur!« als Mr. Flintwinch sie zum Schweigen brachte, indem er sagte: »Warum nicht? Affery, was ist mit dir, Weib? Warum nicht, Dirne?« Auf solche Weise zur Rede gestellt, kam sie aus ihrem Winkel hervor, lieferte die Röstgabel der einen Hand ihres Gatten aus und nahm den Leuchter, den er ihr bot, von der andern in Empfang.

»Geh voran, du Närrin!« sagte Jeremiah. »Wollen Sie hinauf- oder hinuntergehen, Mrs. Finching?«

Flora antwortete: »Hinunter!«

»Dann gehe die Treppe hinunter voran, Affery«, sagte Jeremiah. »Und mache deine Sache gut, sonst komme ich die Treppe hinunter und falle über dich her!«

Affery ging der Expedition voran, Jeremiah schloß sie. Er hatte nicht die Absicht, sie zu verlassen. Clennam sah zurück, und da er bemerkte, daß er drei Stufen hinterdrein in der kältesten und methodischsten Weise folgte, rief er mit leiser Stimme: »Kann man ihn denn nicht loswerden?« Flora beruhigte ihn, indem sie rasch antwortete: »Nun obgleich nicht ganz passend Arthur und etwas woran ich vor einem jüngern Mann oder einem Fremden nicht denken möchte kümmere ich mich doch nicht um ihn besonders wenn Sie es so wünschen und vorausgesetzt Sie haben die Güte mich nicht zu fest anzufassen.«

Da er nicht das Herz hatte, zu erklären, daß das gar nicht sei, was er meinte, bog Arthur seinen unterstützenden Arm um Floras Hüfte.

»O du meine Güte«, sagte sie, »Sie sind wirklich sehr gehorsam, und es ist gewiß außerordentlich ehrenhaft und artig von Ihnen aber wenn Sie mich etwas fester anfassen wollten würde ich es doch nicht für zudringlich halten.«

In dieser albernen Stellung, die in unendlichem Widerspruch mit der Beklommenheit seines Herzens stand, stieg Clennam in den untern Stock des Hauses hinab, und er fand, je dunkler es wurde, desto schwerer wurde Flora und umgekehrt. Als sie von der düstern Küchenregion zurückkehrten, die so traurig wie möglich war, ging Mrs. Affery mit dem Licht in seines Vaters einstiges Zimmer und dann in das alte Speisezimmer, immer voran wie ein Phantom, das man nicht einholen kann; auch wandte sie sich weder um, noch antwortete sie, wenn er flüsterte: »Affery, ich möchte mit Ihnen sprechen!«

In dem Speisezimmer überkam Flora der sentimentale Wunsch, in das Drachenkabinett hineinzusehen, das Arthur so oft in den Tagen seiner Kindheit verschlungen – wahrscheinlich wohl auch, weil es als ein sehr dunkles Kabinett die vortreffliche Gelegenheit bot, sehr schwer zu sein. Arthur, der beinahe verzweifelte, öffnete es, als man ein Klopfen an der äußeren Tür hörte.

Mrs. Affery zog mit einem unterdrückten Schrei ihre Schürze über den Kopf.

»Wie? Du brauchst wohl wieder eine Dosis?« sagte Mr. Flintwinch. »Du sollst sie haben, Frau. Du sollst eine tüchtige Dosis haben! Oh! Ich will dich striegeln und prügeln!«

»Geht inzwischen jemand nach der Tür?« sagte Arthur.

»Ich gehe inzwischen nach der Tür, Sir«, versetzte der alte Mann, so wild, daß es klar wurde, er fühle, in solcher Verlegenheit müsse er selbst gehen, obgleich er vorgezogen hätte, nicht zu gehen. »Bleibe indessen ruhig stehen! Affery, wenn du dich um einen Zoll breit bewegst oder ein Wort in deiner Dummheit sprichst, so werde ich die Dosis verdreifachen.«

Sobald er gegangen war, ließ Arthur Mrs. Finching los; es war dies mit einiger Schwierigkeit verbunden, weil diese Dame seine Absicht mißverstand und ihre Arrangements so traf, daß sie ihn fesselten, statt ihm freie Hand zu lassen.

»Affery, sprechen Sie jetzt mit mir!«

»Berühren Sie mich nicht, Arthur!« rief sie, ihm ausweichend. »Kommen Sie mir nicht nahe. Er wird Sie sehen. Jeremiah wird es sehen. Tun Sie es nicht.«

»Er kann mich nicht sehen«, versetzte Arthur, indem er die Tat mit dem Worte verband, »wenn ich das Licht ausblase.«

»Er wird Sie hören«, rief Affery.

»Er kann mich nicht hören«, versetzte Arthur, indem er wieder die Tat dem Wort folgen ließ, »wenn ich Sie in dieses dunkle Kabinett ziehe und hier spreche. Warum verbergen Sie Ihr Gesicht?«

»Weil ich etwas zu sehen fürchte.«

»Sie können nicht fürchten, in dieser Dunkelheit etwas zu sehen, Affery.«

»Doch, ich fürchte mich. Noch mehr, als wenn es hell wäre.«

»Warum fürchten Sie sich?«

»Weil das Haus voll von Geheimnissen steckt; weil es voll Geflüster und Gewisper ist; weil es voll Geräusch ist. Es wird mich noch umbringen, wenn Jeremiah mich nicht vorher erdrosselt; was er sicherlich tut.«

»Ich habe hier nie ein Geräusch gehört, das der Beachtung wert gewesen.«

»Ach ja! Aber Sie würden solches hören, wenn Sie noch in dem Hause wohnten und darin herumgehen müßten wie ich«, sagte Affery; »und Sie würden fühlen, daß es wohl der Beachtung wert ist, und Sie würden zu bersten glauben, wenn Sie nicht davon sprechen dürften. Da ist Jeremiah! Sie werden noch schuld sein, daß man mich umbringt.«

»Meine gute Affery, ich erkläre Ihnen feierlich, daß ich das Licht der offenen Tür auf den Fliesen des Ganges sehen kann, und das würden Sie auch können, wenn Sie die Schürze von Ihrem Gesicht und Ihren Augen wegnehmen wollten.«

»Ich möchte das nicht tun«, sagte Affery, »ich möchte es um keinen Preis tun, Arthur. Ich habe immer etwas vor den Augen, wenn es Jeremiah nicht sieht, und sogar bisweilen, wenn er es sieht.«

»Er kann die Tür nicht schließen, ohne daß ich es sehe«, sagte Arthur, »Sie sind so sicher bei mir, als wenn er fünfzig Meilen von mir entfernt wäre.«

(»Ich wünschte, er wäre es!« rief Affery.)

»Affery, ich möchte wissen, was hier für ein Unrecht begangen worden; ich möchte einiges Licht auf die Geheimnisse dieses Hauses geworfen wissen.«

»Ich sage Ihnen, Arthur«, unterbrach sie ihn, »das Geheimnis besteht in dem Geräusch, dem Gerassel und dem Schleichen, dem Zittern und den Tritten über uns und unter uns.«

»Aber das sind doch nicht alle Geheimnisse?«

»Ich weiß nicht«, sagte Affery. »Fragen Sie mich nicht mehr, Ihre ehemalige Geliebte ist in der Nähe, und sie ist eine Schwätzerin.«

Seine Geliebte war allerdings so nahe bei der Hand, daß sie in diesem Augenblick in einem wirklichen Winkel von fünfundvierzig Graden sich schwankend zu ihm herabneigte und ihnen ins Wort fiel, um Mrs. Affery mit mehr Ernst als direkter Beteuerung zu versichern, was sie auch hören möge, nichts werde über ihre Lippen kommen, sondern sie werde es für sich behalten, wenn auch nur um Arthurs willen – sie wisse wohl, diese Vertraulichkeit klinge aufdringlich, besser Doyce und Clennam.

»Ich wende mich bittend an Sie, Affery, an Sie, eine der wenigen angenehmen Erinnerungen aus früheren Zeiten, die ich habe, – um meiner Mutter, um Ihres Mannes, um meiner, um unserer aller willen wende ich mich an Sie. Ich bin überzeugt, Sie können mir etwas sagen, was sich auf das Hierherkommen dieses Mannes bezieht, wenn Sie nur wollen.«

»Nun, so will ich Ihnen sagen, Arthur«, versetzte Affery, – »Jeremiah kommt.«

»Nein, wahrhaftig nicht. Die Tür ist offen, und er steht draußen und spricht.«

»So will ich Ihnen sagen«, sagte Affery, nachdem sie gelauscht hatte, »daß das erstemal, als er kam, er selbst das Geräusch hörte. ›Was ist das?‹ sagte er zu mir. ›Ich weiß nicht, was es ist‹, sagte ich zu ihm, indem ich ihn festhalte, ›aber ich habe es schon oft gehört.‹ Während ich dies sage, steht er an allen Gliedern zitternd da und starrt mich an.«

»War er oft hier?«

»Nur jenes Mal, und als er zum letzten Male hier war.«

»Was sahen Sie von ihm an jenem letzten Abend, nachdem ich fortgegangen war?«

»Die beiden Gescheiten waren ganz allein mit ihm. Jeremiah kam hüpfend neben mir her, nachdem ich Sie hinausgelassen (er kommt immer hüpfend neben mir her, wenn er mir wehe tun will), und sagte zu mir: ›Nun, Affery, ich komme hinter dir drein, Weib, um dir Füße zu machen.‹ Damit nahm er mich hinten am Halse und drückte mich, bis ich den Mund aufsperrte, und trieb mich vor sich zu Bett, indem er mich den ganzen Weg zwickte. Das nennt er mir Füße machen. Oh, er ist ein bösartiger Mann.«

»Und hörten und sahen Sie sonst nichts, Affery?«

»Sagte ich Ihnen nicht, ich wurde zu Bett geschickt, Arthur? Hier ist er!«

»Ich versichere Sie, er ist noch immer an der Tür. Dieses Geflüster und Gewisper, Affery, von dem Sie gesprochen haben, was ist das?«

»Wie kann ich wissen! Fragen Sie mich nicht weiter, Arthur. Gehen Sie jetzt.«

»Ich versichere Sie, er ist noch immer an der Tür. Das Geflüster und Gewisper, von dem Sie gesprochen, Affery. Was ist damit?«

»Wie sollt‘ ich es wissen! Fragen Sie mich nicht danach, Arthur. Gehen Sie!«

»Aber meine liebe Affery, wenn ich nicht einen Einblick in diese verborgenen Dinge, trotz Ihres Mannes und trotz meiner Mutter, bekommen kann, so wird das größte Verderben daraus entstehen.«

»Fragen Sie mich nichts«, wiederholte Affery. »Ich war die ganze Zeit in einem Traum. Gehen Sie, gehen Sie!«

»Sie sagten das früher schon«, versetzte Arthur. »Sie gebrauchten denselben Ausdruck in jener Nacht an der Tür, als ich Sie fragte, was hier vorgehe. Was meinen Sie mit dem Ausdruck ›in einem Traum sein‹?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen. Gehen Sie! Ich würde es Ihnen nicht sagen, wenn Sie allein wären; noch weniger, da Ihre ehemalige Geliebte zugegen ist.«

Es war gleich vergeblich, daß Arthur bat und Flora ihre Verschwiegenheit beteuerte. Affery, die die ganze Zeit zitterte und sich loszumachen suchte, hatte ein taubes Ohr für alle Beschwörungen und dachte nur, wie sie aus dem Kabinett hinauskommen, könnte.

»Ich würde lieber Jeremiah rufen, als noch ein Wort sagen! Ich werde ihn rufen, wenn Sie nicht aufhören, mit mir zu sprechen. Vernehmen Sie das allerletzte Wort, das ich sage, ehe ich ihn rufe. Wenn Sie jemals der beiden Gescheiten Meister werden (Sie sollten es tun, wie ich Ihnen am ersten Tage Ihrer Ankunft sagte, denn Sie haben hier nicht so lange Jahre zugebracht, daß Sie sich Ihr Leben lang zu fürchten brauchen wie ich), so werden Sie ihrer vor meinen Augen Meister; und dann sagen Sie zu mir: ›Affery, erzählen Sie Ihre Träume.‹ Vielleicht erzähle ich sie Ihnen dann.«

Das Schließen der Tür schnitt Arthurs Antwort ab. Sie stellten sich wieder an den Ort, wo Jeremiah sie verlassen; und Clennam, der vortrat, als der alte Mann zurückkam, sagte ihm, daß er durch Zufall das Licht ausgelöscht habe. Mr. Flintwinch sah darauf hin, während er es an der Lampe in der Halle wieder anzündete, und beobachtete ein tiefes Schweigen bezüglich der Person, mit der er gesprochen hatte. Vielleicht forderte seine Reizbarkeit Ersatz für die Langeweile, die ihm der Besuch verursacht; wie dem nun auch war, er wurde so ärgerlich, als er seine Frau mit der Schürze über dem Kopf sah, daß er über sie herfiel, und indem er ihre verhüllte Nase zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, in dem Druck, mit dem er jene umdrehte, seine ganze Schraubkraft zu erschöpfen schien.

Flora entband Arthur der Besichtigung des Hauses nicht früher, als bis sie auch in seinem ehemaligen Schlafzimmer gewesen war, das sich in dem Giebelstock befand. Seine Gedanken waren mit andern Dingen beschäftigt als mit dieser Besichtigungstour; aber später, wenn er sich bisweilen wieder daran erinnerte, fiel ihm besonders die dumpfe Luftlosigkeit des Hauses auf; ferner, daß man die Spur ihrer Tritte in dem Staub der obern Boden sah; und daß endlich eine Zimmertür Widerstand leistete, was Affery veranlaßte, laut zu schreien, es habe sich jemand drin verborgen, auf welchem Glauben sie beharrte, obgleich man jemand suchte und niemand fand. Als sie endlich nach seiner Mutter Zimmer zurückkehrten, fanden sie sie, das Gesicht mit ihrer eingehüllten Hand beschattend, während sie leise mit dem Patriarchen sprach, der vor dem Kamin stand. Seine blauen Augen, sein glatter Kopf und seine seidenen Haare, die sich ihnen zuwandten, als sie eintraten, verliehen einen unschätzbaren Wert und eine unerschöpfliche Liebe der Bemerkung, die er machte:

»So, Sie haben das Haus sich angesehen, – das Haus – das Haus sich angesehen!«

Es war an und für sich nicht gerade ein Juwel von Wohlwollen und Weisheit, aber er machte seine Worte doch zu einem Muster von beidem, daß man gerne eine Kopie davon gehabt hätte.

Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Der Abend eines langen Tages

Der berühmte Mann und anerkannte Schmuck der Nation, Mr. Merdle, schritt auf seiner glänzenden Bahn voran. Es begann weit und breit anerkannt zu werden, daß ein Mann, der der Gesellschaft den bewundernswerten Dienst geleistet, so viel Geld aus ihr herauszuschlagen, nicht ein Mitglied vom Unterhause bleiben dürfe. Man sprach mit Zuversicht von einer Baronie; häufig war auch von der Pairswürde die Rede. Das Gerücht ging, Mr. Merdle habe sein goldenes Gesicht von einer Baronie mit Verachtung abgewandt; er habe Lord Decimus offen zu verstehen gegeben, daß eine Baronie nicht genug für ihn sei; er habe gesagt: »Nein, eine Pairswürde oder einfach Merdle.« Man erzählte sich, dies habe Lord Decimus‘ adliges Kinn so tief in eine Pfütze von Zweifeln gestürzt, wie eine so hohe Person sinken konnte. Denn die Barnacles, als eine abgesonderte Gruppe in der Schöpfung, waren der Ansicht, daß solche Auszeichnungen nur für sie seien und daß, wenn ein Soldat, Seemann oder Advokat geadelt würde, sie ihn gleichsam durch einen Akt besonderer Herablassung an der Familientür empfingen und diese dann alsbald wieder schlössen. Nicht allein (sagte das Gerücht) hatte der verlegene Decimus seine eignen Erben dabei vor Augen, sondern er wußte auch von mehreren Barnacles, die auf der Liste standen und mit den Ansprüchen des vornehmsten Geistes in Kollision kamen. Mit Recht oder Unrecht, das Gerücht war sehr geschäftig, und Lord Decimus, der die Schwierigkeit in ernstliche Erwägung zog, oder von dem man vermutete, daß er es tat, lieh ihm einigen Vorschub, indem er bei verschiedenen öffentlichen Gelegenheiten seinen Elefantentrott durch eine Dschungel von hochgewachsenen Redensarten anschlug, indem er auf seinem Rüssel Mr. Merdle als Riesenunternehmungsgeist, Reichtum von England, Elastizität, Kredit, Kapital, Wohlfahrt und alle Arten von Segen hin und her bewegte.

So ruhig mähte die alte Sense fort, daß volle drei Monate unbemerkt vergangen waren, seit die beiden englischen Brüder in ein Grab auf dem Fremdenkirchhof von Rom gelegt worden waren. Mr. und Mrs. Sparkler hatten sich nun in ihrem eignen Hause eingerichtet; ein kleines Herrschaftshaus, etwa von der Tite Barnacle-Klasse, ein wahrer Triumph der Unbequemlichkeit mit dem beständigen Geruch der Suppe vom vorgestrigen Tage und von Wagenpferden, aber außerordentlich teuer, weil es genau im Mittelpunkt des bewohnbaren Globus lag. In dieser beneidenswerten Wohnung (und sie wurden wirklich darum von vielen beneidet) hatte Mrs. Sparkler die Absicht, sogleich sich ans Werk der Vernichtung des Busens zu machen, als der Ausbruch der Feindseligkeiten durch die Ankunft des Kuriers mit der Todesnachricht unterbrochen wurde. Mrs. Sparkler, die nicht gefühllos war, hatte die Kunde mit einem heftigen Ausbruch von Schmerz vernommen, der zwölf Stunden lang dauerte. Nach diesen hatte sie sich aufgerafft, um an ihre Trauerkleidung zu denken und alle Vorbereitungen zu treffen, die sie so vorteilhaft machen könnten wie Mrs. Merdle. Ein düsterer Schatten fiel auf mehr als eine hohe Familie (so berichteten die höflichsten Anzeigen), und der Kurier kehrte wieder zurück.

Mr. und Mrs. Sparkler hatten allein gespeist, und der düstere Schatten ruhte auf ihnen; nun lag Mrs. Sparkler auf einem Salonsofa. Es war ein heißer Sommersonntagsabend. Die Wohnung in der Mitte des bewohnbaren Globus, die zu allen Zeiten verstopft und verschlossen war, als wenn sie an einer unheilbaren Erkältung des Kopfes litt, war an jenem Abend besonders dumpf. Die Kirchenglocken hatten ihr abscheulichstes Gewimmer angestimmt, das in den Straßen ein unmelodisches Echo fand, und die erleuchteten Fenster der Kirchen hatten in dem grauen Nebel ihre gelbe Farbe verloren und waren in dunkles Schwarz übergegangen. Mrs. Sparkler, die auf ihrem Sofa lag und lange durch ein offenes Fenster auf der entgegengesetzten Seite über Nelken- und andere Blumenkistchen hinweg nach der entgegengesetzten Seite einer engen Straße gesehen hatte, war dieses Anblicks müde. Mrs. Sparkler sah dann zu einem andern Fenster hinaus, wo ihr Gatte auf dem Balkon stand, und ward bald auch dieses Anblicks müde. Mrs. Sparkler sah sich selbst in ihrer Trauerkleidung an und ward sogar dieses Anblicks müde; obgleich natürlich nicht so müde wie die beiden andern Male.

»Es ist, als wenn man in einem Brunnen läge«, sagte Mrs. Sparkler, indem sie verdrießlich ihre Stellung änderte. »Mein Gott, Edmund, wenn du etwas zu sagen hast, warum sagst du es nicht?«

Mr. Sparkler hätte aufrichtig antworten können: »Meine Liebe, ich habe nichts zu sagen.« Da ihm jedoch diese passende Antwort nicht einfiel, so begnügte er sich, den Balkon zu verlassen und sich neben das Sofa zu stellen, auf dem seine Frau lag.

»Du meine Güte, Edmund!« sagte Mrs. Sparkler noch verdrießlicher, »du wirst die Nelken noch in deine Nase stecken! Laß das, bitte!«

Mr. Sparkler, der geistesabwesend war – vielleicht wörtlicher geistesabwesend, als man gewöhnlich diese Phrase versteht –, hatte so dicht an einem Schößling in seiner Hand gerochen, daß er das fragliche Vergehen beinahe begangen hätte. Er sagte lächelnd: »Ich bitte um Vergebung, meine Liebe«, und warf ihn zum Fenster hinaus. »Du machst mir Kopfweh, wenn du in dieser Stellung bleibst, Edmund«, sagte Mrs. Sparkler, indem sie nach einer weitern Minute die Blicke zu ihm erhob. »Du siehst in diesem Lichte so ungeheuer groß aus. Setze dich.«

»Gern, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler. Und stellte einen Stuhl an den Ort, wo er gestanden hatte.

»Wenn ich nicht wüßte, daß der längste Tag vorüber ist«, sagte Fanny, furchtbar gähnend, »so wäre ich fest überzeugt gewesen, dies sei der längste Tag. Ich habe nie einen solchen Tag erlebt.«

»Ist das dein Fächer, meine Liebe?« fragte Mr. Sparkler, indem er einen solchen aufhob und ihn ihr gab.

»Edmund«, versetzte seine Frau noch müder, »frage nicht dergleichen, ich bitte dich. Wem kann er denn gehören als mir?«

»Ja, ich dachte mir, daß er dir gehören werde«, sagte Mr. Sparkler.

»Dann solltest du nicht fragen«, versetzte Fanny. Nach einer kurzen Weile drehte sie sich auf ihrem Sofa um und rief: »Mein Gott, mein Gott, es war noch kein Tag so lang wie dieser!« Nach einer zweiten Pause erhob sie sich langsam, ging auf und nieder und kam wieder zurück.

»Meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler, den ein origineller Gedanke durchblitzte, »ich denke, du wirst einen Nervenanfall haben –«

»Oh! Nervenanfall!« wiederholte Mrs. Sparkler. »Sage das nicht!«

»Mein anbetungswürdiges Kind!« bat Mr. Sparkler, »versuche deinen aromatischen Essig. Ich habe meine Mutter oft Gebrauch davon machen sehen, und es schien sie zu erfrischen. Und sie ist, wie du wohl bemerkt haben wirst, eine außerordentliche feine Frau, die keinen –«

»Gütiger Gott!« rief Fanny, wieder auffahrend, »es ist, um alle Geduld zu verlieren! Das ist gewiß der langweiligste Tag, der je über der Welt anbrach!«

Mr. Sparkler sah ihr demütig nach, während sie im Zimmer auf und ab ging, und schien etwas erschrocken. Nachdem sie mehrere Kleinigkeiten umhergeworfen und aus allen drei Fenstern in die dunkler werdende Straße hinabgesehen hatte, kehrte sie zu ihrem Sofa zurück und warf sich in die Kissen.

»Nun, Edmund, komm hierher! Komm etwas näher, weil ich dich mit meinem Fächer zu berühren imstande sein möchte, um dir genau einzuschärfen, was ich dir nun zu sagen im Begriff bin. So wird’s recht sein. Schon nahe genug. Oh, du siehst so groß aus!«

Mr. Sparkler entschuldigte sich wegen dieses Umstandes, versicherte, daß er nichts dafür könne, und sagte »unsre Jungen«, ohne besonders zu sagen, welche Jungen, hätten ihn gewöhnlich Quinbus Flestrin Junior oder den »Young Man Mountain« genannt. »Das hättest du mir früher sagen sollen«, klagte Fanny. »Meine Liebe«, versetzte Mr. Sparkler, fast angenehm berührt, »ich wußte nicht, daß dich das interessieren würde, sonst würde ich dir gewiß davon gesprochen haben.«

»Nein! Um aller Güte willen, sprich nicht«, sagte Fanny, »ich möchte selbst sprechen. Edmund, wir dürfen nicht mehr allein sein. Ich muß Vorkehrungen treffen, die es unmöglich machen, daß ich immer wieder in diesen Zustand schrecklicher Gedrücktheit verfalle, in dem ich mich heute abend befinde.«

»Meine Liebe«, antwortete Mr. Sparkler, »da du als eine außerordentlich feine Frau bekannt bist, die keinen –«

»O, Grundgütiger!« rief Fanny.

Mr. Sparkler wurde durch die Heftigkeit dieses Ausrufs, der von einem Auffahren vom Sofa und einem Niedersinken begleitet war, so außer Fassung gebracht, daß es ein bis zwei Minuten dauerte, ehe er sich imstande fühlte, zur Erklärung zu sagen:

»Ich wollte sagen, meine Liebe, jedermann wisse, du seiest darauf angewiesen, in Gesellschaft zu glänzen.«

»Darauf angewiesen, in. Gesellschaft zu glänzen«, versetzte Fanny mit großer Gereiztheit! »ja, wahrhaftig. Ich erhole mich durch die Besuche kaum von dem Schlag des Todes meines armen teuren Vaters und meines armen Onkels – obgleich ich nicht verhehle, daß das letztere eine große Wohltat war, denn wenn man nicht in Gesellschaft gebracht werden kann, so tut man besser zu sterben –«

»Du meinst damit hoffentlich nicht mich?« unterbrach sie Mr. Sparkler demütig.

»Edmund, Edmund, du könntest einen Heiligen aus der Fassung bringen. Spreche ich nicht ausdrücklich von meinem armen Onkel?«

»Du sahst mich so bedeutsam an, mein liebes Kind«, sagte Mr. Sparkler, »daß mir etwas unbehaglich wurde. Ich danke dir, meine Liebe.«

»Nun hast du mich aus dem Konzept gebracht«, bemerkte Fanny mit einem resignierten Schlag ihres Fächers, »und ich ginge besser zu Bett.« .

»Tue das nicht, meine Liebe«, drängte Mr. Sparkler. »Bleibe noch etwas.«

Fanny wartete noch etwas lange; sie lehnte sich zurück, schloß die Augen und zog die Augenbrauen mit einem hoffnungslosen Ausdruck hinauf, als wenn sie alle irdischen Dinge völlig aufgegeben hätte. Endlich öffnete sie ohne die geringste Warnung die Augen wieder und begann in ihrer kurzen, scharfen Weise:

»Was geschieht, frage ich? Was geschieht? In der Lebensperiode, wo ich am meisten in der Gesellschaft glänzen sollte und aus sehr wichtigen Gründen am meisten in der Gesellschaft zu glänzen wünschte – sehe ich mich in einer Lage, die bis zu einem gewissen Grade mich unfähig macht, in Gesellschaft zu erscheinen. Es ist wahrhaftig schrecklich!«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler, »ich glaube nicht, daß du deshalb zu Hause zu bleiben brauchst.« »Edmund, du lächerlicher Mensch«, versetzte Fanny mit großer Entrüstung; »glaubst du, daß eine Frau in der Blüte der Jugend, und nicht ganz aller persönlichen Reize bar, sich zu solcher Zeit mit ihrer Gestalt dem Vergleich mit einer Frau aussetzen darf, die in jeder andern Beziehung unter ihr steht? Wenn du das glaubst, so bist du ein grenzenloser Narr.«

Mr. Sparkler machte den bescheidenen Einwurf, er habe gemeint, »daß es sich überwinden ließe.«

»Überwinden!« sagte Fanny in grenzenlosem Zorn.

»Eine Zeitlang!« meinte Mr. Sparkler bescheiden.

Diesen letzten schwachen Einwurf keiner Beachtung würdigend, erklärte Mrs. Sparkler mit bitterem Ausdruck, daß es wirklich zu traurig sei und hinreichend, einen zu dem Wunsche zu bringen, man wäre tot.

»Freilich«, sagte sie, als sie sich einigermaßen des Gefühls entschlagen, daß sie grausam behandelt werde, »so empörend es ist, und so grausam es scheint, man muß sich eben darein finden.«

»Namentlich, wenn man es erwarten mußte«, sagte Mr. Sparkler.

»Edmund«, versetzte seine Frau, »wenn du nichts Passenderes zu tun weißt, als die Frau zu beleidigen zu suchen, die dich mit ihrer Hand beehrte, wenn sie sich unglücklich fühlt, so glaube ich, es wäre besser, du gingest zu Bett.«

Mr. Sparkler war sehr unglücklich über diese Beschuldigung und suchte sich aufs zärtlichste und ernstlichste zu entschuldigen. Seine Entschuldigung wurde angenommen; aber Mrs. Sparkler bat ihn, auf die andere Seite des Sofas zu gehen, hinter dem Fenstervorhang zu sitzen und leiser zu sprechen.

»Nun, Edmund«, sagte sie, indem sie ihren Fächer ausstreckte und ihn damit auf Armslänge berührte, »was ich dir sagen wollte, als du wie gewöhnlich zu schwatzen begannst, ist, daß ich nicht länger allein zu sein im Sinne habe und daß, wenn die Umstände mir verbieten, nach Belieben auszugehen, ich es arrangieren muß, beständig die einen oder die andern bei mir zu haben; denn ich kann und will keinen solchen Tag mehr erleben wie den heutigen.«

Mr. Sparklers Ansicht in Beziehung auf diesen Plan war in Kürze die, daß kein Unsinn darin sei. Er fügte hinzu: »Und außerdem, wie du weißt, wirst du bald deine Schwester hier haben –«

»Die liebe Amy, ja!« rief Mrs. Sparkler mit einem liebevollen Seufzer. »Ein allerliebstes kleines Ding. Aber Amy würde allein doch nicht genügen.«

Mr. Sparkler war im Begriff, mit einem fragenden »Nein?« zu antworten. Aber er sah, welche Gefahr für ihn darin lag, und sagte bestätigend: »Nein. Allerdings nicht: sie würde allein nicht genügen.«

»Nein, Edmund. Denn nicht nur sind die Vorzüge dieses kostbaren Kindes von jener stillen Art, daß sie eines Kontrastes bedürfen – Leben und Bewegung um sich her brauchen, um sie ins richtige Licht zu stellen und sie allgemein beliebt zu machen; sondern sie muß in mehr als einer Beziehung aufgeweckt werden.« »Das ist es«, sagte Mr. Sparkler, »aufgeweckt.«

»Bitte, laß das, Edmund! Deine Gewohnheit zu unterbrechen, ohne daß du das geringste von der Welt zu sagen hast, bringt einen in Verwirrung. Das mußt du dir abgewöhnen. Ich sprach von Amy; meine arme Kleine war außerordentlich anhänglich an den armen Papa und hat gewiß seinen Tod schmerzlich beweint und sich sehr gehärmt. Ich habe es ja auch getan. Ich habe den Verlust tief empfunden. Aber Amy wird ihn noch schmerzlicher empfunden haben, da sie die ganze Zeit an Ort und Stelle war und den armen, lieben Papa bis zum letzten Augenblick gepflegt hat; was mir leider nicht vergönnt war.«

Hier hielt Fanny inne, um zu weinen, und sagte dann: »Der liebe, liebe, gute Papa! Was für ein echter Gentleman er war! Was für ein Kontrast mit dem armen Onkel!«

»Die Nachwirkungen dieser Prüfungszeit«, fuhr sie fort, »wird man bei meiner guten kleinen Maus durch Aufheiterung zu verwischen suchen müssen. Ebenso die Nachwirkungen der langen Pflege bei Edwards Krankheit: einer Pflege, die noch nicht vorüber ist und die noch einige Zeit dauern kann, die außerdem uns alle so lange nicht zur Ruhe kommen läßt, bis die Angelegenheiten des armen guten Papa ins reine gebracht werden können. Glücklicherweise sind die Papiere bei seinen Agenten hier alle gesiegelt und verschlossen, wié er sie zurückließ, als er gewissermaßen ahnungsvoll nach England kam; seine Sachen sind in dem geordneten Zustande, daß es mit ihnen Zeit hat, bis mein Bruder Edward sich in Sizilien wieder so weit erholt hat, um herüberzukommen und anzuordnen, was zu tun ist, auszuführen oder was sonst geschehen soll.«

»Er konnte keine bessere Pflegerin bei sich haben«, war Mr. Sparkler so kühn auszusprechen.

»Es ist ein Wunder, daß ich dir recht geben kann«, versetzte seine Frau, indem sie langsam ihre Augenlider etwas nach ihm hinrichtete (sie predigte sonst, als wenn es den Möbeln des Wohnzimmers gälte), »und deinen Worten beipflichten kann. Er konnte keine bessere Pflegerin bei sich haben. Es gibt Zeiten, wo mein liebes Kind für einen lebhaften Geist etwas Ermüdendes hat; aber als Pflegerin ist sie die Vollkommenheit selbst. Die beste Amy, die es gibt!«

Mr. Sparkler, dem nach seinem letzten Erfolg der Mut rasch gestiegen war, bemerkte, Edward schlage sich wahrlich lange herum.

»Wenn ›sich herumschlagen‹ der technische Ausdruck für Unwohlsein ist«, versetzte Mrs. Sparkler, »so ist das allerdings der Fall. Wenn aber nicht, so bin ich außerstande, eine Meinung über die barbarische Sprache abzugeben, die du an Edwards Schwester richtest. Daß er sich das Malariafieber irgendwo geholt – entweder, als er Tag und Nacht nach Rom reiste, wo er doch zu spät angekommen, um den armen lieben Papa noch vor dem Sterben zu sehen, oder bei einer andern unglücklichen Gelegenheit – ist unzweifelhaft, wenn es das ist, was du meinst. Ebenso, daß sein außerordentlich leichtfertiges, Leben die Krankheit sehr gefährlich für ihn gemacht hat.« Mr. Sparkler hielt es für einen ähnlichen Fall, wie den mit einzelnen von unsern jungen Leuten in Westindien, wenn sie das gelbe Fieber bekommen. Mrs. Sparkler schloß ihre Augen wieder und wies jede Bekanntschaft mit unseren jungen Leuten in Westindien oder dem gelben Fieber von sich ab.

»Amy«, fuhr sie fort, als sie ihre Augen wieder öffnete, »wird es nötig haben, daß man sie von den Nachwirkungen mancher ermüdenden und bangen Woche durch Erheiterung befreit. Endlich wird sie nötig haben, daß man ihr die Richtung aufs Niedrige benimmt, die, wie ich wohl weiß, in der Tiefe ihres Herzens ruht. Frage mich nicht, Edmund, was es ist, weil ich dir eine Antwort versagen müßte.«

»Ich will es auch gar nicht wissen, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.

»Ich werde somit manches an meinem lieben Kind gutzumachen haben«, fuhr Mrs. Sparkler fort, »und kann sie nicht bald genug bei mir haben. Die liebenswürdigen und lieben kleinen Füßchen! Was das Ordnen der Angelegenheiten des armen Papa betrifft, so ist mein Interesse dabei durchaus nicht selbstsüchtiger Natur. Papa zeigte sich außerordentlich freigebig gegen mich, als ich heiratete, und ich habe wenig oder nichts zu erwarten. Vorausgesetzt, daß er kein rechtsgültiges Testament gemacht, das Mrs. General ein Legat aussetzt, bin ich zufrieden. Der liebe Papa, der liebe Papa!« Sie weinte wieder, aber Mrs. General war das beste stärkende Mittel. Der Name schon veranlaßte sie, ihre Augen zu trocknen und zu sagen:

«Es ist ein sehr ermutigender Umstand bei Edwards Krankheit, ich erkenne es mit Dank an, und es gibt mir die größte Zuversicht, daß sein Kopf nicht gelitten oder sein Geist schwächer geworden ist – wenigstens nicht bis zu des lieben Papas Tod –, daß er Mrs. General augenblicklich ausbezahlte und sie aus dem Hause wegschickte. Ich muß ihm dafür meinen Beifall zollen. Ich könnte ihm viel vergeben, weil er so rasch und so genau tat, was ich selbst getan haben würde!«

Mrs. Sparkler glühte ganz vor Dankbarkeit, als man zweimal an die Tür pochen hörte. Ein höchst wunderliches Pochen. Leise, als wenn man ein Geräusch zu machen oder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermeiden wollte. Lange, als wenn die Person, die klopfte, mit andern Dingen beschäftigt wäre und aufzuhören vergäße.

»Hallo!« sagte. Mr. Sparkler. »Wer ist das?«

»Doch nicht Amy und Edward, ohne es uns zuvor wissen zu lassen und ohne einen Wagen?« sagte Mrs. Sparkler. »Sieh hinaus!«

Das Zimmer war dunkel, aber die Straße war wegen der Lampen heller. Mr. Sparklers Kopf sah, während er über den Balkon herabschaute, so groß und schwer aus, daß er das Übergewicht zu bekommen und den Unbekannten unten plattzuschlagen drohte.

»Es ist ein Mann«, sagte Mr. Sparkler. »Ich kann nicht sehen, wer – halt, indessen!«

Bei diesem zweiten Gedanken ging er wieder auf den Balkon und sah zum zweiten Male hinab. Er kam zurück, als die Tür unten geöffnet wurde, und meldete, daß, er »seines Erziehers Hut« erkannt zu haben glaube. Er hatte sich nicht getäuscht, denn sein Erzieher trat unmittelbar darauf mit seinem Hut in der Hand in das Zimmer.

»Lichter!« sagte Mr. Sparkler mit einem Wort der Entschuldigung wegen der Dunkelheit.

»Es ist hell genug für mich«, sagte Mr. Merdle.

Als die Lichter hereingebracht waren, sah man Mr. Merdle hinter der Tür stehen und sich auf die Lippen beißen, »Ich dachte, ich wollte euch besuchen«, sagte er. »Ich bin jetzt gerade sehr beschäftigt; und da ich zufällig einen Gang durch die Stadt machte, dachte ich, ich wollte euch besuchen.«

Da er wie zu einem Diner gekleidet war, fragte Fanny, wo er diniert habe?

»Nun«, sagte Mr. Merdle, »ich habe eigentlich nirgends diniert.«

»Sie haben doch gespeist?« sagte Fanny.

»Ja – nein, ich habe eigentlich nicht gespeist«, sagte Mr. Merdle.

Er fuhr mit der Hand über die Stirn und besann sich, als wenn er die Sache nicht ganz gewiß wüßte. Man bot ihm etwas zu essen an. »Nein, ich danke«, sagte Mr. Merdle. »Ich habe keinen Appetit. Ich wollte mit Mrs. Merdle auswärts speisen. Da ich aber die Lust verlor, ließ ich Mrs. Merdle, gerade als wir in den Wagen stiegen, allein gehen und dachte, ich wolle statt dessen einen Gang durch die Stadt machen.«

Ob er Tee oder Kaffee wolle? »Nein, ich danke«, sagte Mr. Merdle. »Ich war einen Augenblick im Klub und trank eine Flasche Wein.«

Nun nahm Mr. Merdle den Stuhl, den Edmund Sparkler ihm angeboten und den er bisher langsam vor sich hergeschoben hatte, wie ein unbehilflicher Mensch, der zum ersten Male ein Paar Schlittschuhe anhat und sich nicht entschließen kann, damit auszuschreiten. Dann stellte er seinen Hut auf einen anderen Stuhl neben sich, sah in denselben hinein, als wenn er zwanzig Fuß tief wäre, und sagte wieder: »Ihr seht, ich wollte euch einen Besuch machen.«

»Sehr schmeichelhaft für uns«, sagte Fanny, »denn Sie sind kein Mann, der Besuche macht.«

»N – ein«, versetzte Mr. Merdle, der sich inzwischen an den Rockärmeln in Haft genommen. »Nein, ich bin kein Mann, der Besuche macht.«

»Dafür haben Sie zu viel zu tun«, sagte Fanny. »Da Sie so viel zu tun haben, Mr. Merdle, ist der Mangel an Appetit bei Ihnen sehr bedenklich, und Sie müssen etwas dafür tun. Sie dürfen nicht krank sein.«

»Oh, ich bin ganz wohl«, versetzte Mr. Merdle, nachdem er die Sache überlegt hatte. »Ich bin so wohl wie immer. Ich bin wohl genug. Ich bin so wohl, wie ich zu sein brauche.«

Der vornehmste Geist des Zeitalters, treu seinem Charakter, immer so wenig wie möglich für sich zu sagen zu haben, und dies nur mit großer Mühe zu sagen, ward wieder stumm. Mrs. Sparkler hätte gern gewußt, wie lange der vornehmste Geist zu bleiben beabsichtige.

»Ich sprach vom armen Papa, als Sie eintraten, Sir.«

»Ah! Ein hübsches Zusammentreffen«, sagte Mr. Merdle.

Fanny sah das nicht ein, aber hielt es für ihre Aufgabe, weiterzusprechen. »Ich sagte«, fuhr sie fort, »meines Bruders Krankheit habe einen Aufschub der Prüfung und Ordnung des Vermögens meines Papa veranlaßt.«

»Ja, ja«, sagte Mr. Merdle. »Sie veranlaßte einen Aufschub.«

»Nicht, daß dieser gerade von Bedeutung wäre«, sagte Fanny.

»Nein«, stimmte Mr. Merdle bei, nachdem er den ganzen Kreis, rings im Zimmer umher, soweit sein Gesichtskreis reichte, gemustert hatte, »nicht daß es von Bedeutung wäre.«

»Das einzige, woran mir, liegt«, sagte Fanny, »ist, daß Mrs. General nichts bekommt.«

» Siewird nichts bekommen«, sagte Mr. Merdle.

Fanny war entzückt, ihn diese Ansicht aussprechen zu hören. Nachdem Mr. Merdle noch einen Blick in die Tiefen seines Hutes geworfen, als wenn er darin etwas zu sehen glaubte, fuhr er sich in die Haare und hing langsam seiner letzten Bemerkung die bestätigenden Worten an: »Oh, sicher nicht. Nein. Sie nicht. Nicht wahrscheinlich.«

Da dieser Gesprächsgegenstand erschöpft zu sein schien und auch Mr. Merdle, so fragte Fanny, ob er Mrs. Merdle und den Wagen unterwegs abholen würde?

»Nein«, antwortete er; »ich werde den kürzesten Weg machen, und Mrs. Merdle« – dabei blickte er über das Innere seiner beiden Hände hin, als wenn er sich sein Schicksal prophezeite– »für sich selbst sorgen lassen. Ich bin überzeugt, es wird ihr gelingen.«

»Wahrscheinlich«, sagte Fanny.

Es entstand eine lange Pause, wahrend der Mrs. Sparkler, sich wieder in ihr Sofa zurücklegend, die Augen schloß und ihre Augenbrauen in die Höhe zog, um sich wie zuvor ganz von weltlichen Dingen abzuwenden.

»Aber«, sagte Mr. Merdle, »ich halte euch und mich auf, Ich dachte, ich wollte euch einen Besuch machen.«

»Gewiß, wir fühlen uns sehr geschmeichelt«, sagte Fanny.

»So will ich denn gehen«, fügte Mr. Merdle hinzu und stand auf. »Könnten Sie mir ein Federmesser leihen?« .

Es sei doch seltsam, bemerkte Fanny lächelnd, daß sie, die es selten über sich vermöchte, auch nur einen Brief zu schreiben, einem Mann von so großen Geschäften etwas leihen sollte. »Nicht wahr?« stimmte Mr. Merdle bei; »aber ich brauche ein solches; und ich weiß, ihr habt zur Hochzeit mehrere kleine Keepsakes bekommen, mit Scheren und Zänglein und dergleichen. Ihr sollt es morgen wiederhaben.«

»Edmund«, sagte Mrs. Sparkler, »öffne mal (aber sehr vorsichtig, ich bitte dich dringend, denn du bist so ungeschickt), öffne das Perlmutterkästchen auf meinem kleinen Tischchen dort, und gib Mr. Merdle das Perlmutterfedermesser.«

»Ich danke«, sagte Mr. Merdle, »aber wenn Sie eines mit einem dunklern Griff hätten, so würde ich das vorziehen.«

»Schildpatt?«

»Ich denke«, sagte Mr. Merdle, »ja. Ich glaube, ich würde Schildpatt vorziehen.«

Edmund erhielt demzufolge Befehl, das Schildpattkästchen aufzumachen und Mr. Merdle das Schildpattfedermesser zu geben. Während er dies tat, sagte seine Frau gnädig zu dem großen Geist:

»Ich werde Ihnen verzeihen, wenn Sie einen Tintenfleck darauf machen.«

»Ich denke nicht, einen Tintenfleck darauf zu machen«, sagte Mr. Merdle.

Der berühmte Besuch streckte jetzt seinen Ärmelaufschlag vor und begrub für einen Augenblick Mrs. Sparklers Hand, Armgelenke, Bracelet und alles darin. Wo sich seine eigene Hand hinverlor, war nicht deutlich, aber Mrs. Sparkler konnte sie so wenig fühlen, als wenn er ein hochverdienter Chelseaveteran oder Greenwichpensionär gewesen wäre.

Vollständig überzeugt, als dieser das Zimmer verließ, daß es der längste Tag sei, der jemals zu Ende gegangen, und daß nie eine Frau existiert, die, nicht ganz aller persönlichen Reize bar, so von einfältigen und langweiligen Leuten gequält würde, trat Fanny auf den Balkon hinaus, um etwas frische Luft zu schöpfen. Tränen des Verdrusses füllten ihre Augen, und sie machten den Eindruck durch sie, als ob der bejahrte Mr. Merdle, wie er die Straße hinabging, spränge und walzte und sich im Kreise herumdrehte, als wäre er von verschiedenen Teufeln besessen.

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Rats erholen.

Als die Briten am Ufer der gelben Tiber erfuhren, daß ihr intelligenter Landsmann Mr. Sparkler einer der Lords des Circumlocution Office geworden, nahmen sie es als eine Nachricht auf, die sie nicht näher anging als jede andere Neuigkeit – jedes andre Ereignis oder Verbrechen – in den englischen Zeitungen. Die einen lachten, die andern sagten, als Entschuldigung, die Stelle sei eine Sinekure, und jeder Dummkopf, der seinen Namen richtig schreiben könne, sei gut genug für dieselbe: noch andre endlich, und dies waren die feierlichsten politischen Orakel, sagten, Decimus handle klug, sich zu verstärken, und der einzige konstitutionelle Zweck aller Stellen, die Decimus zu vergeben habe, sei, daß Decimus sich verstärke. Einige gallige Briten waren allerdings vorhanden, die diesen Glaubensartikel nicht unterschreiben wollten: aber ihre Einwürfe waren rein theoretischer Art. In praktischer Hinsicht ließen sie die Sache gleichgültig liegen, als wenn es die Sache andrer irgendwo oder nirgendwo befindlichen Briten wäre. In gleicher Weise behaupteten viele Briten in der Heimat, wenigstens vierundzwanzig Stunden lang nachher, daß diese unsichtbaren und namenlosen Briten »die Sache in die Hand nehmen sollten« und daß, wenn sie sich’s ruhig gefallen ließen, sie es auch nicht besser verdienten. Aber welcher Klasse diese trägen und gleichgültigen Briten angehörten, und wo diese unglücklichen Geschöpfe steckten, und weshalb sie sich verbargen, und woher es beständig kam, daß sie ihr Interesse vernachlässigten, während so viele andere Briten sich gar nicht erklären konnten, warum sie sich nicht um ihre Interessen kümmerten, war weder den Leuten an dem Ufer der gelben Tiber noch den Leuten am Ufer der schwarzen Themse klar.

Mrs. Merdle verbreitete die Nachricht, wie sie auch die Gratulationen empfing, mit der sorglosesten Grazie, die die Sache sehr zu ihrem Vorteil hob, wie die Fassung den Juwel. Ja, sagte sie, Edmund hat die Stelle angenommen. Mr. Merdle wünschte, daß er sie annehme, und er hat sie angenommen. Sie hoffe, die Stellung werde Edmund gefallen, aber gewiß wisse sie es nicht. Sie würde ihn einen großen Teil des Jahres in der Stadt festhalten, und er ziehe das Land vor. Es sei jedoch keine unangenehme Stellung – und es sei doch eine Stellung. Es sei nicht zu leugnen, daß es ein Kompliment für Mr. Merdle und keineswegs schlecht sei, wenn Edmund Geschmack daran finde. Es sei ganz gut, daß er etwas zu tun habe, und sei auch ganz gut, daß er etwas dafür bekäme. Ob es besser für Edmund, als wenn er in der Armee diente, das müsse man erst abwarten.

So sprach der Busen, geübt in der Kunst, scheinbar nur wenig Wert auf etwas zu legen und es dadurch gerade im Wert zu steigern. Indessen machte Henry Gowan, den Decimus abgeworfen, die Rundreise bei allen seinen bekannten, von der Porta del Popolo bis nach Albano, und beteuerte fast (wenn auch nicht ganz) mit Tränen in den Augen, daß Sparkler der gutmütigste, einfachste, kurz, der liebenswürdigste Esel sei, der jemals auf der Staatswiese gegrast: und daß nur eines ihm (Gowan) Freude bereitet, falls jener (der geliebte Esel) diesen Posten nicht bekommen, und das wäre gewesen, wenn er (Gowan) den Posten erhalten hätte. Er sagte, er passe ganz vortrefflich für Sparkler. Es sei nichts dabei zu tun und das würde er allerliebst machen, und dabei sei eine hübsche Besoldung einzustreichen und diese würde er allerliebst einstreichen; es sei eine angenehme, ganz passende, vortreffliche Stellung, und er vergab dem Verleiher derselben beinahe, daß er ihn übergangen, in der Freude darüber, daß der liebe Esel, für den er eine so große Vorliebe hatte, einen so guten Stall bekommen habe. Damit ließ sein Wohlwollen sich noch nicht genügen. Er nahm sich die Mühe, bei allen geselligen Gelegenheiten Mr. Sparkler hervorzuholen und ihn in der Gesellschaft zu zeigen; und obgleich diese rücksichtsvolle Handlung stets damit endigte, daß dieser junge Mann sich in einem traurigen und hilflosen geistigen Lichte zeigte, so ließ sich doch nicht an der freundlichen Absicht zweifeln.

Nur der Gegenstand von Mr. Sparklers Herzensneigung erlaubte sich daran zu zweifeln. Miß Fanny war nun in der schwierigen Lage, allgemein als dieser Gegenstand bekannt zu sein und Mr. Sparkler nicht verabschiedet zu haben, obgleich sie ihn sehr launisch behandelte. Daher war sie genug mit diesem Gentleman verknüpft, um sich kompromitiert zu fühlen, wenn er sich mehr als gewöhnlich lächerlich zeigte, und daher kam sie, da es ihr keineswegs an raschen Einfällen fehlte, ihm gegen Gowan zu Hilfe und leistete ihm sehr gute Dienste. Aber während sie dies tat, schämte sie sich seiner, unentschlossen, ob sie ihn gehen lassen oder ihn noch entschiedener aufreizen sollte, durch die Befürchtung in Verwirrung gesetzt, daß sie sich jeden Tag mehr in das Netz ihrer Ungewißheiten verstrickte, und gequält von dem Argwohn, daß Mrs. Merdle über ihre Verlegenheit triumphiere. Bei so stürmisch bewegtem Gemüt war es nicht zu verwundern, daß Miß Fanny eines Abends von einem Konzert und Ball bei Mrs. Merdle in großer Aufregung nach Hause kam, und als die Schwester sie liebreich trösten suchte, diese von dem Toilettentisch wegstieß, an dem sie saß, und zornig weinend mit gehobenem Busen erklärte, daß sie alle Menschen verabscheue und wünschte, sie wäre tot.

»Liebe Fanny, was gibt es? Sage es mir.«

»Was es gibt, du kleiner Maulwurf«, sagte Fanny. »Wenn du nicht die Blindeste der Blinden wärest, so brauchtest du mich nicht zu fragen. Der Gedanke, zu behaupten zu wagen, daß man Augen im Kopfe habe, und mich doch zu fragen, was es gebe?«

»Handelt es sich um Mr. Sparkler, meine Liebe?«

»Mi–ster Spark–ler!« wiederholte Fanny mit unendlicher Verachtung, als wenn er das letzte im Sonnensystem wäre, was möglicherweise ihrem Geiste nahe sein konnte. »Nein, Miß Fledermaus, das ist’s nicht.«

Alsbald jedoch wieder bereuend, daß sie ihrer Schwester solche Namen gegeben, erklärte sie unter Seufzern, sie wisse, sie mache sich verhaßt, aber die Leute drängten sie dazu.

»Ich glaube, du bist heute abend nicht ganz wohl, liebe Fanny.«

»Welch ein Unsinn!« versetzte das junge Mädchen ärgerlich werdend, »ich bin so wohl wie du. Vielleicht könnte ich sagen besser, ohne damit zu prahlen.«

Die arme Klein-Dorrit, die nicht wußte, wie sie ein beruhigendes Wort anbringen sollte, ohne befürchten zu müssen, zurückgewiesen zu werden, hielt es für das beste, ruhig zu bleiben. Anfangs nahm Fanny auch dies übel auf, indem sie ihrem Spiegel versicherte, daß von allen Prüfungen, die ein Mädchen ertragen müßte, eine Schwester, die nicht begreifen wolle, die größte Prüfung sei. Sie wisse, daß sie zu Zeiten in schrecklicher Stimmung sei; sie wisse, sie mache sich verhaßt, nichts wäre so gut für sie, als wenn man es ihr offen sagte; da sie jedoch eine Schwester habe, die nichts begreifen wolle, so sage man es ihr nie, und daher komme es, daß sie geradezu gereizt und gestachelt sei, sich unangenehm zu machen. Außerdem (sagte sie zornig zu ihrem Spiegel) wolle sie nicht, daß man ihr verzeihe. Es sei doch nicht richtig, wenn sie sich immer durch die Nachsicht einer jüngern Schwester demütigen lassen müsse. Das sei die Kunst, – daß man sie immer in die Lage bringe, wo ihr vergeben werden müsse, ob sie’s nun wolle, oder nicht. Zuletzt brach sie in heftiges Weinen aus, und als ihre Schwester kam und sich dicht neben sie setzte, um sie zu trösten, sagte sie: »Amy, du bist ein Engel!«

»Aber ich will dir etwas sagen, liebe Kleine«, sagte Fanny, als die Sanftmut ihrer Schwester sie etwas beruhigt hatte, »es ist jetzt an einem Punkt angekommen, daß es nicht mehr so fortgehen kann und soll, wie es im Augenblick geht, und daß auf die eine oder andere Art ein Ende gemacht werden muß.«

Da die Erklärung unbestimmt, obgleich sehr peremtorisch war, gab Klein-Dorrit zur Antwort: »Laß uns näher von der Sache sprechen.«

»Ganz recht, meine Liebe«, stimmte Fanny zu, während sie ihre Augen trocknete. »Laß uns von der Sache sprechen. Ich bin jetzt wieder vernünftig, und du sollst mir deinen Rat geben. Willst du mir deinen Rat geben, mein süßes Kind?«

Selbst Amy lächelte über diese Idee, sagte jedoch: »Ich will es, Fanny, so gut ich kann.«

»Dank dir, liebste Amy«, versetzte Fanny, indem sie sie küßte. »Du bist mein Anker.«

Nachdem sie ihren Anker mit großer Liebe geküßt, nahm Fanny einen Flacon mit feinem Parfüm vom Tisch und rief ihrem Mädchen, daß sie ihr ein feines Taschentuch bringe. Dann entließ sie die Dienerin für diese Nacht und machte sich bereit, sich Rats zu holen, indem sie von Zeit zu Zeit sich die Augen und Stirn mit dem Tuche betupfte, um sich zu kühlen.

»Meine Liebe«, begann Fanny, »unsre Charaktere und Ansichten sind sehr verschiedener Art (küsse mich wieder, mein Liebling), um es sehr wahrscheinlich zu machen, daß dich das, was ich zu sagen im Begriff bin, überraschen werde. Was ich sagen will, meine Liebe, ist, daß wir, trotz unseres großen Vermögens, sozial nicht die richtige Stellung einnehmen. Du wirst nicht verstehen, was ich meine, Amy?«

»Ich glaube doch, daß ich dich verstehen werde, wenn du noch ein paar Worte mehr sagst«, versetzte Amy mild.

»Gut, mein Liebe, was ich meine, ist dies, daß wir im ganzen Neulinge im fashionablen Leben sind.«

»Ich bin überzeugt, Fanny«, warf Klein-Dorrit in ihrem Eifer zu bewundern ein, »niemand wird dies an dir entdecken.«

»Gut, mein liebes Kind, vielleicht nicht«, sagte Fanny, »obgleich es recht freundlich und liebevoll von dir ist, du kostbares Mädchen, das zu sagen.« Hier tupfte sie die Stirn ihrer Schwester und blies ein wenig darauf. »Aber du bist, wie jedermann weiß, das liebste kleine Ding, das jemals existiert! Um jedoch wieder auf das frühere zu kommen, mein Kind. Papa ist außerordentlich vornehm in seinem Wesen und sehr gut unterrichtet; aber er ist in einigen Kleinigkeiten etwas verschieden von andern Gentlemen in seinen Vermögensumständen: teils infolgedessen, was er durchgemacht, der arme liebe Mann; teils, glaube ich, weil es ihm oft einfällt, daß andere Leute daran denken, während er mit ihnen spricht. Der Dünkel, meine Liebe, ist ganz unpräsentabel. Obgleich ein lieber Mann, dem ich sehr zugetan bin, ist er doch sozial höchst anstößig. Edward ist furchtbar verschwenderisch und liederlich. Ich sage damit nicht, daß etwas Ungentiles dabei sei – weit entfernt –, aber ich meine, daß er nichts geschickt angreift und daß er, wenn ich mich so ausdrücken darf, für den Ruf der Liederlichkeit, in den er sich setzt, nicht genug bekommt.«

»Der arme Edward!« seufzte Klein-Dorrit, und die ganze Geschichte der Familie lag in diesem Seufzer.

»Ja. Und auch du Arme und ich Arme«, versetzte Fanny ziemlich scharf. »Sehr wahr. Ferner, meine Liebe, haben wir keine Mutter, nur eine Mrs. General. Und ich sage dir noch einmal, mein Liebling, diese Mrs. General, wenn ich ein gewöhnliches Sprichwort umkehren und auf sie anwenden darf, ist eine Katze in Handschuhen, die Mäuse fangen wird. Diese Frau, davon bin ich fest überzeugt, wird unsere Stiefmutter werden.«

»Ich kann mir kaum denken, Fanny«, – Fanny unterbrach sie.

»Widersprich mir nicht, Amy«, sagte sie, »weil ich es besser weiß.« Da sie fühlte, daß sie wieder etwas scharf gewesen, tupfte sie ihrer Schwester Stirn und blies darauf. »Um jedoch wieder auf die Sache zu kommen, meine Liebe. Es entsteht jetzt für mich die Frage (aber ich bin stolz und lebhaft, Amy, wie du wohl weißt, vielleicht zu sehr), ob ich mich entschließen und es auf mich nehmen soll, der Familie durchzuhelfen.«

»Wie?« fragte Amy ängstlich.

»Ich will mich nicht von Mrs. General bestiefmuttern lassen«, sagte Fanny, ohne die Frage zu beantworten, »und ich will mich, auch in keiner Weise von Mrs. Merdle patronisieren und quälen lassen.«

Klein-Dorrit legte ihre Hand auf die Hand, die das Parfümfläschchen hielt, und sah dabei noch ängstlicher aus. Fanny, die ihre eigene Stirn mit dem heftigen Tupfen, das sie nun begann, eigentlich mehr strafte, fuhr etwas heftig fort:

»Daß er auf die eine oder andere Art – das Wie ist gleichgültig –- eine sehr gute Stellung bekommen hat, kann niemand leugnen. Daß er eine gute Partie ist, kann ebenfalls niemand leugnen. Und was die Frage betrifft, ob er gescheit oder nicht gescheit, so zweifle ich sehr, ob ein gescheiter Mann für mich taugte. Ich kann mal nicht nachgeben. Ich wäre nicht imstande, mich ihm genügend unterzuordnen.«

»Ah, meine liebe Fanny!« rief Klein-Dorrit, die eine Art von Schrecken erfaßt hatte, als sie begriff, was ihre Schwester meinte. »Wenn du jemanden liebtest, würden alle diese Gefühle sich ändern. Wenn du jemanden liebtest, würdest du nicht mehr du selbst sein, sondern dich ganz in der Hingabe an ihn aufgeben und verlieren. Wenn du ihn liebtest, Fanny«, – Fanny hatte mit Tupfen aufgehört und sah sie fest an.

«Oh, wirklich!« rief Fanny. »Wirklich? Der Tausend, wieviel gewisse Leute über gewisse Dinge wissen. Man sagte, jedermann habe einen Lieblingsgegenstand, und ich scheine wirklich den deinen berührt zu haben, Amy. Ich habe nur gescherzt, du kleines Ding«, sagte sie und betupfte dabei die Stirn ihrer Schwester; »aber sei kein albernes Kätzchen, und sprich nicht leichtsinnig und beredt von entarteten Unmöglichkeiten. So! Nun will ich aber wieder auf meine Sache zurückkommen.«

»Liebe Fanny, laß mich dir zuerst sagen, daß es mir weit lieber wäre, wenn wir für ein dürftiges Auskommen arbeiteten, als daß ich dich reich und mit Mr. Sparkler verheiratet sehen sollte.«

»Ich soll dich sagen lassen, meine Liebe?« versetzte Fanny. »Nun, ganz natürlich werde ich dich alles sagen lassen. Du brauchst dir hoffentlich keinen Zwang anzutun. Wir sind beieinander, um uns offen auszusprechen. Und was das Heiraten mit Mr. Sparkler betrifft, so habe ich nicht die geringste Absicht, es heute nacht, meine Liebe, oder morgen früh zu tun.«

»Aber irgendeinmal?«

»Niemals, soviel ich für jetzt weiß«, antwortete Fanny gleichgültig. Dann plötzlich aus ihrer Gleichgültigkeit in glühende Unruhe übergehend, fügte sie hinzu: »Du sprichst von gescheiten Männern, du kleines Ding. Es ist ganz hübsch und leicht, von gescheiten Männern zu sprechen: aber wo sind sie? Ich sehe sie nirgend in meiner Nähe!«

»Meine liebe Fanny, in der kurzen Zeit« –

»Kurze Zeit oder lange Zeit«, unterbrach Fanny, »ich bin unsrer Stellung überdrüssig, unsre Stellung ist mir zuwider, und wenig wäre nötig, um mich zu bewegen, sie zu verändern. Andre Mädchen, die anders erzogen und in andern Verhältnissen sind, würden sich vielleicht über das wundern, was ich sage oder tue. Meinetwegen, ihr Leben und ihr Charakter weist ihnen die Richtschnur an; mir weist sie mein Leben und mein Charakter an.«

»Fanny, meine liebe Fanny, du weißt, daß du Eigenschaften besitzest, die dich zur Gattin eines Mr. Sparkler weit überlegenen Mannes befähigen.«

»Amy, meine liebe Amy«, versetzte Fanny, ihre Worte parodierend, »ich weiß, daß ich eine entschiedenere, bestimmtere Stellung in der Gesellschaft einnehmen möchte, durch die ich mich mit größerem Nachdruck gegen diese insolente Frau behaupten könnte,«

»Würdest du dann – vergib mir die Frage, Fanny – ihren Sohn heiraten?«

»Nun, vielleicht«, sagte Fanny mit triumphierendem Lächeln. »Es kann viel weniger versprechende Wege geben, zu seinem Ziele zu kommen als diese, meine Liebe. Diese insolente Person denkt jetzt vielleicht, daß es ein großer Erfolg ihrer Taktik wäre, wenn sie ihren Sohn an mich losschlüge und mich losschälte. Aber es fällt ihr vielleicht wenig ein, wie ich’s ihr vergelten würde, wenn ich ihren Sohn heiratete. Ich würde ihr in allem opponieren und ihr den Rang streitig machen. Ich würde mir dies als Lebensaufgabe stellen.«

Fanny setzte das Riechfläschchen nieder, als sie soweit gekommen war, und ging im Zimmer auf und ab: sie blieb jedoch immer stehen, sobald sie sprach.

»Eines, mein Kind, könnte ich sicher tun: ich könnte sie älter machen, und ich würde es auch tun!«

Sie ging wieder auf und nieder.

»Ich würde von ihr als von einer alten Frau sprechen. Ich würde tun, als wüßt‘ ich – wenn ich’s auch nicht wüßte, aber ich wüßt‘ es von ihrem Sohne –, wie alt sie sei. Und sie sollte mich sagen hören, liebevoll, ganz wie es mir gebührt, und voll Hingebung, wie gut sie aussehe, wenn man ihr Alter in Anschlag bringe. Ich könnte sie älter aussehen machen, sofern ich weit jünger neben ihr wäre. Ich bin vielleicht nicht so hübsch wie sie, ich bin keine Autorität in dieser Beziehung, wie ich glaube: aber ich weiß, ich bin hübsch genug, um ihr ein Dorn im Auge zu sein. Und ich wäre es auch wirklich.«

»Aber, meine liebe Schwester, möchtest du dich auf solche Weise zu einem unglücklichen Leben verurteilen?«

»Das wäre ja kein unglückliches Leben für mich, Amy. Das wäre das Leben, wie ich’s brauche. Sei es nun, daß meine Disposition oder meine Umstände mich darauf hinweisen, das gilt gleich: ich brauche mal ein solches Leben mehr als ein anderes.«

Es klang eine gewisse Verzweiflung aus diesen Worten heraus, aber mit einem kurzen stolzen Lachen begann sie aufs neue im Zimmer auf und ab zu gehen, und nachdem sie vor einem großen Spiegel vorübergekommen, begann sie abermals stehenzubleiben. »Figur! Figur, Amy! Wohl, die Frau hat eine hübsche Figur. Ich will ihr geben, was ihr gebührt, und leugne es nicht. Aber ist sie darin allen andern so sehr überlegen, daß sie geradezu unnahbar wird? Auf mein Wort, ich bin davon nicht so sehr überzeugt. Gib einer viel jüngern Frau, wenn sie verheiratet ist, die Erlaubnis, sich so zu kleiden, wie sie, wir wollen sehen, wie es dann steht, meine Liebe!«

Es lag etwas in diesem Gedanken, das ihr angenehm war und schmeichelte, wodurch sie in bessere Stimmung kam und sich wieder setzte. Sie nahm ihrer Schwester Hände in die ihren, klatschte mit allen vier Händen über ihrem Kopfe, während sie Amy lachend ins Gesicht sah, und sagte:

»Und die Tänzerin, Amy, die sie ganz vergessen hat – die Tänzerin, die auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir hatte, und an die ich sie auch nie erinnere, o Liebe, nein! –, sollte durch ihr Leben tanzen und ihr im Wege herumtanzen nach einer Melodie, die ihre anmaßende Ruhe ein wenig aufrütteln würde. Ein ganz klein wenig, meine liebe Amy, nur ein ganz klein wenig!«

Da sie dem ernsten und bittenden Blicke Amys begegnete, brachte sie die vier Hände herunter und legte nur eine auf Amys Mund.

»Widersprich mir nicht, Kind«, sagte sie in ernsterem Ton, »weil es doch nichts nützt. Ich verstehe diese Sachen weit besser als du. Ich bin noch durchaus nicht entschlossen, aber es wird schon kommen. Wir haben nun die Sache ruhig miteinander besprochen und können zu Bett gehen. Du allerbestes und liebstes kleines Mäuschen, gute Nacht!« Mit diesen Worten lichtete Fanny ihren Anker und ließ – nachdem sie sich so viel Rats geholt – des Ratholens für diesmal genug sein.

Von dieser Zeit an beobachtete Amy die Behandlung, die Mr. Sparkler von seinem Unterdrücker zuteil wurde, mit neuen Gründen, allem, was zwischen ihnen vorging, Bedeutung beizulegen. Es gab Zeiten, wo Fanny durchaus nicht imstande zu sein schien, seine geistige Schwäche zu ertragen, und wo sie so ärgerlich und ungeduldig darüber wurde, daß sie gar nicht übel Lust hatte, ihm den Abschied zu geben. Zu andern Zeiten kam sie besser mit ihm zurecht, wo er sie amüsierte und das Bewußtsein der Überlegenheit diese andere Wagschale in der Schwebe zu erhalten schien.

Wenn Mr. Sparkler nicht der getreueste und gehorsamste Liebhaber gewesen wäre, so hätte die Härte, mit der er behandelt wurde, ihn wohl dazu bringen können, den Schauplatz seiner Leiden zu fliehen und mindestens die ganze Entfernung von Rom nach London zwischen sich und die Zauberin zu bringen. Aber er hatte keinen größeren Eigenwillen denn ein Boot, das von einem Dampfschiff ins Schlepptau genommen ist, und er folgte seiner grausamen Gebieterin, von gleich starker Macht in Bewegung gesetzt, durch dick und dünn. Mrs. Merdle sprach während dieser Zeit wenig mit Fanny, aber desto mehr von ihr. Sie war wie gezwungen, sie durch ihre Lorgnette anzusehen und in der allgemeinen Unterhaltung sich Lobeserhebungen über ihre Schönheit und die Unwiderstehlichkeit derselben abringen zu lassen. Der herausfordernde Charakter, den Fanny annahm, wenn sie diese Lobsprüche hörte (wie dies gewöhnlich geschah), zeugte nicht von Konzessionen, die sie dem unparteiischen Busen machte: aber die größte Rache, die der Busen nahm, war, recht vernehmlich zu sagen: »Eine verwöhnte Schönheit – aber bei diesem Gesicht und dieser Gestalt, kann man sich darüber wundern?«

Es mochte ungefähr einen Monat oder sechs Wochen nach dem Abend sein, an dem man sich Rats geholt, als Klein-Dorrit ein neues Einverständnis zwischen Mr. Sparkler und Fanny zu entdecken schien. Wie wenn ein Vertrag stipuliert worden, sprach Mr. Sparkler kaum je, ohne erst Fanny zuvor um Erlaubnis angesehen zu haben. Diese junge Dame war zu diskret, um ihn je wieder anzusehen: hatte Mr. Sparkler jedoch Erlaubnis zu sprechen, so schwieg sie: hatte er diese nicht, so sprach sie selbst. Außerdem ward es in die Augen springend, daß sooft Henry Gowan ihm den Freundschaftsdienst erweisen wollte, ihn bloßzustellen, er nicht bloßzustellen war. Und nicht allein das, sondern er pflegte auch stets ohne die mindeste nachweisbare Beziehung in der Welt etwas zu sagen, was einen solchen Stachel in sich hatte, daß Gowan augenblicklich sich zurückzog, als wenn er seine Hand in einen Bienenkorb gesteckt hätte.

Noch ein andrer Umstand bestärkte Klein-Dorrit nachdrücklich in ihren Besorgnissen, obgleich die Sache an und für sich unbedeutend war. Mr. Sparklers Benehmen gegen sie wurde anders. Es wurde brüderlich. Bisweilen, wenn sie in den äußersten Kreisen der Gesellschaft war – sei es nun im eigenen Hause, bei Mrs. Merdle oder sonstwo –, sah sie sich unversehens von Mr. Sparklers Arm umschlungen. Mr. Sparkler gab nie die geringste Erklärung über diese Aufmerksamkeit, sondern lächelte nur mit der Miene eines läppischen, zufriedenen, gutmütigen Menschen, der Eigentumsrechte geltend macht, was bei einem so schwerfälligen Menschen ominös ausdrucksvoll war.

Klein-Dorrit war eines Tages zu Hause und dachte mit schwerem Herzen an Fanny. Sie hatten ein Zimmer an dem einen Ende ihrer Reihe von Salons, das fast ganz aus einem über die Straße hervorragenden Erker bestand und das malerische Leben und Treiben des Korso hinauf und hinunter beherrschte. Um drei oder vier Uhr nachmittags, nach englischer Zeitrechnung, war die Aussicht von diesem Fenster sehr hübsch und eigentümlich: und Klein-Dorrit saß gewöhnlich in sinnendes Träumen versunken hier, wie sie in Venedig auf ihrem Balkon die Zeit zu verscheuchen gewöhnt gewesen war. Als sie eines Tages so dasaß, wurde sie sanft auf der Schulter berührt, und Fanny sagte: »Nun, meine liebe Amy«, und nahm neben ihr Platz. Ihr Sitz war ein Teil des Fensters; wenn eine Prozession oder eine derartige Feierlichkeit war, so pflegten sie bunte Teppiche aus diesem Fenster hinauszuhängen und knieten oder saßen auf einem Sitz und schauten über die glänzende Farbenpracht hinaus. An jenem Tage war jedoch keine Prozession, und Klein-Dorrit staunte einigermaßen darüber, daß Fanny zu dieser Stunde zu Hause war, während sie sonst gewöhnlich um diese Zeit ausritt.

»Nun, Amy«, sagte Fanny, »woran denkst du, kleines Geschöpf?«

»Ich dachte an dich, Fanny.«

»Wirklich? Welch ein Zusammentreffen. Hier ist noch jemand, muß ich dir sagen. Du hast doch nicht auch an diesen jemand gedacht; hm, Amy?«

Amy hatte wirklich auch an diesen Jemand gedacht: denn es war Mr. Sparkler. Sie sagte es jedoch nicht, als sie ihm die Hand gab. Mr. Sparkler kam herbei und setzte sich auf die andre Seite von ihr, und sie fühlte den brüderlichen Arm hinter sich herkommen, der offenbar auch Fanny einzuschließen im Begriff war.

»Nun, meine kleine Schwester«, sagte Fanny mit einem Seufzer, »ich denke, du weißt, was das bedeutet?«

»Sie ist so schön, wie sie feurig angebetet wird«, stammelte Mr. Sparkler, »und es ist kein Unsinn an ihr – es ist alles in Ordnung.«

»Du brauchst das nicht auseinanderzusetzen, Edmund«, sagte Fanny.

»Nein, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.

»Kurz, mein Kind«, fuhr Fanny fort, »um es gleich heraus zu sagen, wir sind verlobt. Wir müssen heute abend oder morgen mit Papa davon sprechen, wie sich die Gelegenheit bietet. Dann ist die Sache abgemacht, und wir brauchen wenig Worte mehr darüber zu verlieren.«

»Meine liebe Fanny«, sagte Mr. Sparkler mit ehererbietigem Wesen, »ich möchte Amy ein Wort sagen.«

»Nun! nun! sage es meinetwegen«, versetzte die junge Dame.

»Ich bin überzeugt, meine liebe Amy«, sagte Mr. Sparkler, »wenn je ein Mädchen existiert, außer unsrer hochbegabten und schönen Schwester, die keinen Unsinn an sich hat –«

»Wir wissen das alle wohl, Edmund«, warf Miß Fanny ein. »Sprich nicht davon. Bitte, sprich von etwas anderem als davon, daß wir keinen Unsinn an uns haben.«

»Ja, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler. »Und ich versichere Ihnen, Amy, daß nichts ein größeres Glück für mich, für mich sein kann – nächst dem Glück, durch die Wahl eines so herrlichen Mädchens geehrt zu sein, das nicht ein Atom von –«

»Bitte, Edmund, bitte«, unterbrach ihn Fanny, mit einem leichten Aufstampfen ihres hübschen Fußes auf den Boden. »Meine Liebe, du hast ganz recht«, sagte Mr. Sparkler, »und ich weiß, es ist meine Gewohnheit. Was ich Ihnen erklären wollte,, war, daß nichts ein größeres Glück für mich sein kann, mich sein kann – nächst dem Glück der Verbindung mit dem ausgezeichnetsten und herrlichsten Mädchen –, als das Glück zu haben, die aufrichtige Freundschaft Amys mir zu gewinnen und erhalten zu suchen. Ich bin vielleicht«, sagte Mr. Sparkler mit männlicher Offenheit, »über manche Dinge nicht immer ganz im reinen und aufgeklärt, und ich bin überzeugt, daß, wenn Sie die Gesellschaft um ihre Meinung befragen, diese ziemlich einstimmig sagen wird, ich sei es nicht, aber in Beziehung auf Amy bin ich im reinen!«

Mr. Sparkler küßte sie zum Zeugnis dessen.

»Ein Messer, eine Gabel und ein Zimmer wird immer Amy zu Gebote stehen«, fuhr Mr. Sparkler fort, der im Vergleich mit seinen Redeantezedenzien ganz weitschweifig wurde. »Mein Erzieher wird, das bin ich überzeugt, immer stolz sein, jemanden zu empfangen, den ich so hoch achte. Und rücksichtlich meiner Mutter«, sagte Mr. Sparkler, »welche eine merkwürdig schöne Frau ist –«

»Edmund, Edmund!« rief Fanny wie zuvor.

»Mit deiner Erlaubnis, meine Seele«, entschuldigte sich Mr. Sparkler. »Ich weiß, ich habe die Gewohnheit, und ich bin dir sehr dankbar, mein anbetungswürdiges Mädchen, daß du dir die Mühe nimmst, mich zurechtzuweisen; aber meine Mutter ist, nach der allgemeinen Stimme, eine merkwürdig schöne Frau und hat wirklich keinen Unsinn an sich.«

»Das mag sein oder nicht«, versetzte Fanny, »aber ich bitte, sprich nicht wieder davon.«

»Es soll nicht mehr geschehen, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.

»Dann hast du wirklich nichts mehr zu sagen, Edmund, nicht wahr«, fragte Fanny.

»So wenig, mein anbetungswürdiges Mädchen«, antwortete Mr. Sparkler, »daß ich mich entschuldige, so viel gesagt zu haben.«

Mr. Sparkler bemerkte durch eine Art Inspiration, daß die Frage die weitere enthielt, ob es nicht besser wäre, wenn er ginge? Er zog daher den brüderlichen Arm zurück und sagte hübsch, daß er mit ihrer Erlaubnis Abschied nehmen wolle. Er ging, nicht ohne Amys Glückwunsch zu empfangen, so gut sie dies in ihrer Aufregung und Betrübnis zu tun imstande war.

Als er fort war, sagte sie: »O Fanny, Fanny!« und drehte sich in dem hellen Fenster nach ihrer Schwester um und sank ihr an die Brust und weinte dort. Fanny lachte anfangs; aber bald lag ihr Gesicht an dem ihrer Schwester, und nun weinte auch sie – ein wenig. Es war das letztemal, daß Fanny zeigte, daß ein verborgenes, unterdrücktes oder überwundenes Gefühl in dieser Richtung in ihr lebte. Von dieser Stunde an lag der Weg, den sie gewählt, vor ihr, und sie ging ihn mit ihrem herrischen, eigenwilligen Schritt.

Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Keine gegründete Ursache und kein Hindernis, warum diese beiden Personen nicht getraut werden sollen.

Als Mr. Dorrit durch seine ältere Tochter angezeigt wurde, daß sie einen Heiratsantrag von Mr. Sparkler erhalten, mit dem sie sich verlobt habe, nahm er diese Mitteilung zu gleicher Zeit mit großer Würde und mit pomphafter Entfaltung seines väterlichen Stolzes auf: denn seine Würde vergrößerte sich durch die erweiterte Aussicht auf ein vorteilhaftes Terrain, von dem aus man leicht Bekanntschaften machen konnte, und sein väterlicher Stolz entwickelte sich durch Miß Fannys bereitwillige Sympathie mit seinem großen Lebenszweck. Er gab ihr zu verstehen, daß ihr edler Ehrgeiz harmonische Echos in seinem Herzen finde, und gab ihr seinen Segen, als einem Kinde voll Pflichtgefühl und guter Grundsätze, das sich der Vergrößerung des Familiennamens opfere.

Zu Mr. Sparkler, als Fanny ihm die Erlaubnis zu erscheinen gab, sagte Mr. Dorrit, er wolle nicht verhehlen, daß die Verbindung, die Mr. Sparkler ihm vorzuschlagen so freundlich sei, ganz mit seinen Gefühlen harmoniere, da sie sowohl mit den Herzensneigungen seiner Tochter Fanny im Einklang stehe, als auch eine Familienverbindung der freundlichsten Art mit Mr. Merdle, dem ersten Geist des Zeitalters, anknüpfe. Auch Mrs. Merdles, als einer tonangebenden, durch Eleganz, Grazie und Schönheit gleich ausgezeichneten Dame, erwähnte er in sehr rühmenden Ausdrücken. Er halte es jedoch für seine Pflicht zu bemerken (er sei überzeugt, ein Mann von Mr. Sparklers feinem Geist würde seine Worte richtig beurteilen), daß er diesen Antrag nicht als eine abgemachte Sache betrachten könne, bis er erlaubt habe, sich mit Mr. Merdle in Korrespondenz zu setzen, und sich versichert hätte, die Sache stimme soweit mit den Plänen dieses großen Mannes überein, daß seine (Mr. Dorrits) Tochter, in dem, was er, ohne den Schein der Dienerei auf sich zu laden, das Auge der großen Welt nennen dürfe, eine Stellung erhalte, wie ihr Stand, ihre Mitgift und ihre Aussichten ihn für sie zu fordern berechtigten. Während er dies sage, was sein Charakter als Mann von einiger Stellung und sein Charakter als Vater in gleicher Weise von ihm forderten, wolle er nicht so diplomatisch sein, zu verbergen, daß der Vorschlag vorderhand in hoffnungsvoller Unentschiedenheit bleibe und bloß bedingt angenommen sei, und daß er Mr. Sparkler für das Kompliment, das er ihm und seiner Familie gemacht habe, danke. Er schloß mit einigen weiteren und noch allgemeineren Bemerkungen über den – ha – Charakter eines unabhängigen Mannes und den – hm – Charakter eines möglicherweise zu parteiischen und von Bewunderung erfüllten Vaters. Alles in allem nahm er Mr. Sparklers Antrag ungefähr gerade so entgegen, wie er drei bis vier halbe Kronen in vergangenen Zeiten von ihm angenommen hätte. Mr. Sparkler, der sich durch die auf sein harmloses Haupt gehäuften Worte ganz betäubt fühlte, gab eine kurze, aber passende Antwort, die nicht weniger noch mehr besagen wollte, als daß er schon lange bemerkt, Miß Fanny habe keinen Unsinn an sich, und nicht zweifle, daß es seinem Erzieher genehm sein werde. Als er so weit gekommen, schloß ihn der Gegenstand seiner Neigung wie eine Büchse mit einer Springfeder zu und schickte ihn fort.

Als Mr. Dorrit kurz darauf dem Busen seinen Besuch abstattete, wurde er mit großer Achtung empfangen. Mrs. Merdle hatte durch Edmund von der Sache gehört. Sie sei anfangs sehr erstaunt gewesen, da sie nicht gedacht hätte, daß Edmund heiraten würde. Die Gesellschaft habe gedacht, Edmund würde nicht heiraten, und doch habe sie natürlich als Frau gesehen (wir Frauen sehen instinktmäßig dergleichen Sachen, Mr. Dorrit!), daß Edmund außerordentlich von Miß Dorrit eingenommen sei, und sie habe offen ausgesprochen, Mr. Dorrit treffe eine große Verantwortung, daß er ein so reizendes Mädchen ins Ausland gebracht habe, das seinen Landsleuten die Köpfe verdrehe.

»Darf ich also zu schließen wagen, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »daß die Richtung, die die Neigung von Mr. Sparkler genommen, von – ha – Ihnen gebilligt wird?«

»Ich versichere Ihnen, Mr. Dorrit«, versetzte die Dame, »daß es mir persönlich angenehm ist.«

Das sei für Mr. Dorrit sehr erfreulich.

»Persönlich«, wiederholte Mrs. Merdle, »angenehm.«

Diese zufällige Wiederholung des Wortes »persönlich« veranlaßte Mr. Dorrit, die Hoffnung auszudrücken, daß Mr. Merdles Zustimmung nicht ausbleiben werde.

»Ich kann es nicht auf mich nehmen«, sagte Mrs. Merdle, »positiv für Mr. Merdle zu antworten; Männer, namentlich Männer, die die Gesellschaft Kapitalisten nennt, haben ihre eignen Ideen über diese Sachen. Aber ich sollte denken – doch ist es nur eine Meinung, Mr. Dorrit –, ich sollte denken, daß es Mr. Merdle im ganzen« – hier hielt sie eine Rundschau über sich, ehe sie behaglich hinzufügte – »sehr angenehm sein werde.«

Bei der Erwähnung von Männern, die die Gesellschaft Kapitalisten nennt, hatte Mr. Dorrit gehustet, als ob er einen inneren Protest nicht unterdrücken könnte. Mrs. Merdle hatte es bemerkt und fuhr fort, um diesen Wink aufzunehmen.

»Obwohl es freilich, Mr. Dorrit, kaum nötig ist, diese Bemerkung zu machen; ich wollte nur die größte Offenheit gegen einen Mann an den Tag legen, den ich so hoch schätze und mit dem ich in noch angenehmere Verbindung zu kommen das Vergnügen zu haben hoffe. Denn es läßt sich mit der größten Wahrscheinlichkeit voraussetzen, daß Sie diese Sachen von Mr. Merdles eigenem Gesichtspunkte aus betrachten, wenn die Umstände nicht etwa es für Mr. Merdle glücklicher- oder unglücklicherweise so gestalten, daß er ganz in Geschäften steckt und, wie groß diese auch sein mögen, sein Horizont dadurch sich etwas verengt hat. Ich bin ein wahres Kind in Beziehung auf Geschäfte«, sagte Mrs. Merdle, »aber ich fürchte, das könnte der Fall sein.«

Dieses gewandte Hin- und Herwägen von Mr. Dorrit und Mr. Merdle, daß jeder den andern in die Höhe schnellte und jeder den andern herabzog und keiner im Vorteil blieb, wirkte beruhigend auf Mr. Dorrits Husten. Er bemerkte mit der größten Höflichkeit, er müsse bitten, daß die vollendete und anmutige Mrs. Merdle (sie verbeugte sich bei diesem Kompliment) sich der Ansicht entschlage, als wenn solche Unternehmungen wie die von Mr. Merdle, die ganz anderer Art als die jämmerlichen Unternehmungen der übrigen Menschen, irgendeine geringere Wirkung hätten, als den Geist, in dem sie empfangen worden, zu erweitern und vergrößern. »Sie sind die Großherzigkeit selbst«, erwiderte Mrs. Merdle mit ihrem anmutigsten Lächeln, »wir wollen uns dieser Hoffnung hingeben. Aber ich gestehe, daß ich in meinen Ansichten von Geschäften beinahe abergläubisch bin.«

Mr. Dorrit warf hier ein anderes Kompliment ein, das besagen wollte, Geschäfte, gerade wie die Zeit, die dabei so kostbar, seien für Sklaven gemacht; daß sie deshalb nichts für Mrs. Merdle taugen, die alle Herzen nach ihrem Gefallen regiere. Mrs. Merdle lachte und brachte Mr. Dorrit die Idee von dem Erröten des Busens bei – einem ihrer besten Effekte.

»Ich sagte dies bloß«, erklärte sie dann, »weil Mr. Merdle immer das größte Interesse an Edmund nahm und stets den lebhaftesten Wunsch an den Tag legte, seiner Zukunft förderlich zu sein. Edmunds öffentliche Stellung, denke ich, kennen Sie. Seine Privatstellung ruht ganz in Mr. Merdles Händen. In meiner kindischen Unfähigkeit für alles, was Geschäft heißt, versichere ich Sie, daß ich nichts weiter weiß.«

Mr. Dorrit drückte aufs neue in seiner Weise die Überzeugung aus, daß Geschäftssachen außerhalb des Gesichtskreises von Zauberinnen, die alles zu Sklaven machen, liegen. Er erwähnte dann seine Absicht, als Gentleman und Vater an Mr. Merdle zu schreiben. Mrs. Merdle war von ganzem Herzen – oder mit all ihrer Kunst, was genau dasselbe war – einverstanden und schickte selbst mit umgehender Post einen vorbereitenden Brief an das achte Wunder der Welt.

In seiner brieflichen Mitteilung wie in seinen Gesprächen und Abhandlungen über die große Frage, um die es sich handelte, umgab Mr. Dorrit die Sache mit Floskeln aller Art, wie Schreibkünstler die Schreib- und Rechenbücher mit Arabesken verschönern, wodurch die Titel der Elementarregeln der Arithmetik in Schwäne, Adler, Greife und andere kalligraphische Unterhaltungen auseinanderlaufen und die Anfangsbuchstaben in Extasen von Feder und Tinte Leib und Seele verleugnen. Nichtsdestoweniger machte er den Gegenstand seines Briefes hinlänglich klar, um Mr. Merdle in den Stand zu setzen, sagen zu können, daß er die Sache aus dieser Quelle erfahren habe. Mr. Merdle antwortete Mr. Dorrit demgemäß; Mr. Dorrit antwortete Mr. Merdle; Mr. Merdle antwortete Mr. Dorrit, und bald verlautete, daß die korrespondierenden Mächte zu einem befriedigenden Einverständnis gediehen seien.

Nun erst und nicht früher trat Miß Fanny, vollständig für ihre neue Rolle kostümiert, auf die Szene. Nun und nicht früher saugte sie Mr. Sparkler ganz in ihrem Lichte auf und leuchtete für beide und noch zwanzig mehr. Nicht länger den Mangel eines bestimmten Platzes und Charakters vermissend, was ihr so vielen Kummer verursacht, begann dieses schöne Schiff in einer festen Richtung zu steuern und mit einem Tiefgang und einem Gleichgewicht, die ihre hohen Seglereigenschaften entfalteten.

»Nachdem die Präliminarien zur Zufriedenheit arrangiert sind, so denke ich, mein liebes Kind«, sagte Mr. Dorrit, »will ich – ha – formell Mrs. General …«

»Papa«, versetzte Fanny, indem sie ihm bei diesem Namen rasch ins Wort fiel, »ich sehe nicht ein, was Mrs. General damit zu tun haben sollte.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Dorrit, »es ist ein Akt der Höflichkeit gegen – hm – eine feingebildete und noble Dame –«

»Oh! ich habe Mrs. Generals feine Bildung und Noblesse satt, Papa«, sagte Fanny, »ich bin Mrs. Generals müde.«

»Müde«, wiederholte Mr. Dorrit mit vorwurfsvollem Erstaunen, »Mrs. Generals müde!«

»Ganz übersatt, Papa«, sagte Fanny, »ich weiß wirklich nicht, was sie mit meiner Heirat zu tun hat. Lasse sie sich mit ihren eigenen Heiratsprojekten beschäftigen – wenn sie welche hat.«

»Fanny«, versetzte Mr. Dorrit mit ernster und schwerfälliger Langsamkeit des Begreifens, die stark mit der Leichtfertigkeit seiner Tochter kontrastierte, »ich bitte, mir gefälligst erklären zu wollen – ha –, was du meinst.«

»Ich meine, Papa«, sagte Fanny, »daß, wenn Mrs. General zufällig selbst Heiratsprojekte haben sollte, diese meiner Ansicht nach ihre freie Zeit in Anspruch zu nehmen imstande sein werden. Wenn sie keine solchen hat, um so besser: aber ich wünsche doch nicht die Ehre zu haben, ihr besondere Mitteilung zu machen.«

»Erlaube mir zu fragen, Fanny«, sagte Mr. Dorrit, »weshalb nicht?«

»Weil sie selbst hinter meine Verlobung kommen kann, Papa«, versetzte Fanny. »Sie ist meiner Ansicht nach wachsam genug. Ich glaube das an ihr beobachtet zu haben. Kommt sie nicht selbst dahinter, so wird sie’s merken, wenn ich verheiratet bin. Und ich hoffe, Sie werden mich deshalb nicht der Liebe gegen Sie zu ermangeln glauben, wenn ich sage, es scheint mir immer noch Zeit genug für Mrs. General zu sein.«

»Fanny«, versetzte Mr. Dorrit, »ich bin erstaunt, ich bin höchst ungehalten über diese – hm – launenhafte und unbegreifliche Gehässigkeit, die du gegen – ha – Mrs. General an den Tag legst.«

Bei diesen Worten erhob er sich mit einem festen Blick voll strengen Vorwurfs von seinem Stuhl und blieb in seiner Würde vor seiner Tochter stehen. Seine Tochter drehte das Bracelet an ihrem Arm, sah ihn bald an, bald von ihm weg und sagte: »Nun gut. Ich bedaure wirklich, wenn es dir nicht gefällt: aber ich kann mal nicht anders. Ich bin kein Kind mehr und bin nicht Amy, ich muß sprechen.«

»Fanny«, sagte Mr. Dorrit halb atemlos nach majestätischem Schweigen, »wenn ich verlange, daß du hier bleibst, während ich Mrs. General, als einer ausgezeichneten Dame, die – hm – ein treues Mitglied unserer Familie ist, – die Veränderung mitteile, die unter uns beabsichtigt ist; wenn ich – ha – nicht allein dies fordere, sondern – hm – darauf bestehe –«

»O, Papa«, fiel Fanny mit bedeutungsvollem Nachdruck ein, »wenn du, wie es scheint, so großes Gewicht darauf legst, so ist es meine Pflicht, zu gehorchen. Ich hoffe jedoch, daß ich mir meine Gedanken darüber machen darf, denn ich muß mir unter so bewandten Umständen welche machen.« Fanny setzte sich darauf mit einer Ergebung, die, wenn man die Extreme betrachtete, wie Herausforderung aussah: und ihr Vater, der entweder sie keiner Antwort würdigte oder nicht wußte, was er antworten sollte, lief nach Mr. Tinkler.

»Mrs. General.«

Mr. Tinkler, der nicht gewöhnt war, so kurze Befehle zu erhalten, wenn es sich um die schöne Firnisserin handelte, blieb stehen. Mr. Dorrit aber, der das ganze Marschallgefängnis und alle Ehrengaben in diesem Stehenbleiben erblickte, fuhr augenblicklich auf ihn zu und rief: »Wie können Sie es wagen, Sir? Was wollen Sie damit?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Mr. Tinkler zu seiner Verteidigung, »ich wünschte zu wissen –«

»Sie wünschten nichts zu wissen, Herr«, rief Mr. Dorrit stark gerötet. »Sagen Sie mir das nicht. Ha! Das war nichts. Sie haben sich einen Spott erlaubt, Herr.«

»Ich versichere Sie, Sir –«, begann Mr. Tinkler.

»Versichern Sie mir nichts!« sagte Mr. Dorrit. »Ich will keine Versicherung von einem Bedienten. Sie haben sich einen Spott zuschulden kommen lassen. Sie können zum Teufel gehen –-hm – die ganze Dienerschaft kann zum Teufel gehen, auf was warten Sie noch?«

»Nur auf meinen Auftrag, Sir.«

»Das ist nicht wahr, Sie haben Ihren Auftrag. Ha – hm. Meine Empfehlung an Mrs. General, und ich lasse sie bitten, die Güte zu haben, herüberzukommen, wenn es ihr gefällig, nur auf einige Minuten. Das ist Ihr Auftrag.« Bei der Entledigung dieses Auftrags ließ Mr. Tinkler vielleicht verlauten, daß Mr. Dorrit höchst aufgebracht sei. Wie dem nun auch war, Mrs. Generals Kleider hörte man alsbald draußen mit ungewöhnlicher Eile rauschen – ja, man möchte beinahe sagen anprallen. An der Tür ließen sie sich jedoch wieder nieder und schwebten mit gewöhnlicher Kälte herein.

»Mrs. General«, sagte Mr. Dorrit, »setzen Sie sich.«

Mrs. General ließ sich mit anmutig dankender Verbeugung, die einen schönen Bogen bildete, in den Stuhl nieder, den ihr Mr. Dorrit anbot.

»Madame«, fuhr dieser fort, »da Sie die Freundlichkeit hatten, sich – hm – mit der Bildung meiner Töchter zu beschäftigen, und da ich überzeugt bin, daß nichts, was dieselben nahe angeht – ha –, Ihnen gleichgültig sein kann –«

»Ganz unmöglich«, sagte Mrs. General in ihrer ruhigsten Art.

»– so wünsche ich Ihnen mitzuteilen, Madame, daß meine anwesende Tochter –«

Mrs. General machte eine leichte Kopfverbeugung gegen Fanny. Diese machte gleichfalls eine sehr tiefe Kopfverbeugung gegen Mrs. General und richtete sich dann wieder stolz auf.

»– daß meine Tochter Fanny sich – ha – mit Mr. Sparkler verlobt hat, den Sie kennen. Sie werden von nun an der Hälfte Ihrer schwierigen – ha – schwierigen Aufgabe enthoben sein.« – Mr. Dorrit wiederholte seine Worte mit einem ärgerlichen Blick auf Fanny. »Dagegen wird, wie ich hoffe, in keinem andern Teil der Stellung, die Sie im Augenblick in meiner Familie einzunehmen die Güte haben, die geringste Änderung oder Verminderung eintreten.«

»Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, während ihre behandschuhten Hände in exemplarischer Ruhe aufeinander lagen, »ist stets ungemein rücksichtsvoll und schlägt meine freundlichen Dienste viel zu hoch an.«

(Miß Fanny hustete, als wollte sie sagen: »Sie haben recht!«)

»Miß Dorrit hat ohne Zweifel mit der größten Besonnenheit gewählt, soweit dies die Umstände gestatteten, und wird mir wohl erlauben, ihr meine aufrichtigsten Glückwünsche darzubringen. Wenn keine Fesseln der Leidenschaft uns binden«, Mrs. General schloß ihre Augen bei dem Worte, als ob sie es nicht aussprechen und dabei jemanden ansehen könnte, »wenn die nächsten Verwandten ihre Zustimmung geben und das stolze Gebäude einer Familie dadurch befestigt wird – so sind dies gewöhnlich gute Vorbedeutungen. Ich hoffe. Miß Dorrit wird mir erlauben, ihr meine besten Glückwünsche darzubringen.«

Hier hielt Mrs. General inne und fügte bei sich hinzu, um ihr Gesicht wieder in die richtigen Falten zu legen: »Papa, Potatoes, Poultry, Prunes und Prism.«

»Mr. Dorrit«, fügte sie laut hinzu, »zeigt sich sehr verbindlich gegen mich: und für die Aufmerksamkeit, ja, ich möchte sagen Auszeichnung, daß mir von ihm und Miß Dorrit so früh diese vertrauliche Mitteilung geworden ist, erlaube ich mir, meinen lebhaftesten Dank auszusprechen. Mein Dank und mein Glückwunsch gehören gleicherweise Mr. Dorrit und Miß Dorrit.«

»Mir«, bemerkte Miß Fanny, »ist dies ausnehmend erfreulich, ganz außerordentlich erfreulich. Das wohltuende Bewußtsein, daß Sie nichts gegen meine Verbindung einzuwenden haben, Mrs. General, nimmt mir wahrhaftig eine große Last vom Herzen. Ich weiß kaum, was ich getan«, sagte Fanny, »wenn Sie Einwürfe gemacht, Mrs. General.«

Mrs. General änderte die Lage ihrer Handschuhe, indem sie den rechten nach oben, den linken nach unten legte und dabei lächelte, während ihr Mund Prunes und Prism auszusprechen schien.

»Ihre Zufriedenheit mir zu erhalten, Mrs. General,« sagte Fanny mit einem Lächeln, in dem nichts von Prunes und Prism zu gewahren war, »wird natürlich das höchste Streben meines Lebens sein; sie zu verlieren, wäre natürlich das größte Unglück für mich. Ich bin jedoch überzeugt, Ihre große Freundlichkeit wird nichts dagegen haben, und ich hoffe, auch Papa wird nichts dagegen haben, wenn ich einen kleinen Irrtum, den Sie begangen, berichtige. Die besten Menschen sind so sehr dem Irrtum ausgesetzt, daß selbst Sie, Mrs. General, einen kleinen Irrtum begangen haben. Die Aufmerksamkeit und Auszeichnung, deren Sie so nachdrücklich als in diesem Vertrauen liegend erwähnten, Mrs. General, mögen allerdings äußerst schmeichelhaft und wohltuend sein; aber sie kommen nicht von mir. Das Verdienst, Sie wegen dieser Sache zu Rate gezogen zu haben, wäre so groß für mich gewesen, daß ich fühle, ich darf keinen Anspruch darauf machen, wenn ich es nicht wirklich habe. Es ist ganz und gar Papas Verdienst. Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Ermutigung und Ihr Wohlwollen, aber Papa war es, der sie heischte. Ich habe Ihnen zu danken, Mrs. General, daß Sie meine Brust von einer schweren Last befreiten, indem Sie so freundlich Ihre Zustimmung zu meiner Verbindung geben; aber Sie haben mir durchaus nicht dafür zu danken. Ich hoffe, Sie werden auch künftig, wenn ich das Vaterhaus verlassen habe, mein Tun und Treiben billigen, und meine Schwester wird der Lieblingsgegenstand Ihrer herablassenden Güte sein, Mrs. General.«

Nach dieser Anrede, die sie in ihrer höflichsten Weise vorbrachte, verließ Miß Fanny das Zimmer mit artiger und freundlicher Miene, um mit dunkelrotem Gesicht die Treppe hinaufzustürmen, sobald sie aus dem Hörkreis war, auf ihre Schwester loszufahren, sie einen kleinen Hamster zu schelten, sie zu schütteln, daß sie die Augen besser öffne, ihr zu sagen, was unten vorgegangen, und sie zu fragen, was sie jetzt von Papa dächte?

Gegen Mrs. Merdle benahm sich die junge Dame mit großer Unabhängigkeit und Selbstbeherrschung; aber noch immer, ohne entschieden die Feindseligkeiten zu eröffnen. Bisweilen hatten sie ein kleines Scharmützel, wenn Fanny sich durch diese Dame auf den Rücken geklopft glaubte, oder wenn Mrs. Merdle besonders jung und gut aussah; aber Mrs. Merdle schloß diese Waffengänge immer nach kurzer Zeit damit, daß sie mit der anmutigsten Gleichgültigkeit in ihre Kissen sank und ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtete. Die Gesellschaft (denn dieses geheimnisvolle Wesen saß auch auf den sieben Hügeln) fand, daß Miß Fanny sich durch ihre Verlobung sehr gebessert habe. Sie war zugänglicher, freier und einnehmender, weit weniger anmaßend; und dies in solchem Grade, daß sie jetzt ein ganzes Heer von Verehrern und Bewunderern um sich versammelte – zu nicht geringem Ärger der Frauen, die heiratsfähige Töchter hatten und die gewissermaßen wegen des Miß Dorritschen Kriegsfalls aus der Gesellschaft aufstanden und eine rebellische Fahne aufpflanzten. Miß Dorrit, die sich der Unruhen freute, die sie hervorrief, schritt nicht nur in eigner Person stolz durch dieselben hindurch, sondern führte selbst Mr. Sparkler prahlend durch die Massen, indem sie zu sagen schien: »Wenn ich es für passend halte, nur von diesem einen schwachen Gefangenen lieber, als von einem stärkeren in Fesseln begleitet, meinen Triumphzug zu halten, so ist das meine Sache. Genug, ich will es so!« Mr. Sparkler seinerseits fragte nichts, sondern ging, wohin man ihn führte, tat, was man ihm sagte, fühlte, daß, wenn er wegen seiner Brautwahl ausgezeichnet wurde, diese Auszeichnung zu erringen ihm wenig Mühe gekostet, und war herzlich dankbar für diese öffentliche Anerkennung.

Da der Winter seinem Ende entgegeneilte und der Frühling nahte, während diese Dinge vor sich gingen, wurde es nötig, daß Mr. Sparkler in die Heimat zurückkehrte und die ihm angewiesene Stellung für die Betätigung und Richtung seines Geistes, seiner Kenntnisse, seines Handelstalentes, seiner geistigen und körperlichen Kräfte einnehme. Das Land Shakespeares, Miltons, Bacons, Newtons, Watts, das Land eines Heeres von verstorbenen und lebenden abstrakten Philosophen, Naturphilosophen und Bezwingern der Natur und Kunst in ihren Myriaden Formen rief Mr. Sparkler, daß er komme und sich seiner annehme, da es sonst zugrunde gehen müsse. Mr. Sparkler, der nicht imstande war, den Todesschrei, der aus der Tiefe der Seele seines Landes drang, zu widerstehen, erklärte, daß er gehen müsse.

Dadurch wurde natürlich die Frage, wann, wo und wie Mr. Sparkler dem ersten Mädchen der ganzen Welt, das keinen Unsinn an sich habe, angetraut werden sollte, zu einer brennenden. Die Lösung derselben teilte Miß Fanny, nachdem man eine Zeitlang geheime Verhandlungen darüber gepflogen, ihrer Schwester selbst mit.

»Nun, mein Kind«, sagte sie, indem sie sie eines Tages aufsuchte, »ich will dir etwas sagen. Es ist eben erst zum Beschluß gekommen, und natürlich eile ich im selben Augenblick zu dir, wo die Sache zum Beschluß gekommen ist.« »Deine Heirat, Fanny?«

»Mein kostbares Kind«, sagte Fanny, »greife mir nicht vor. Lasse mich auf meine Weise mein Vertrauen mit dir teilen, du kleines, unruhiges Ding. Wenn ich deine Vermutung wörtlich beantwortete, so würde ich nein antworten. Denn es handelt sich nicht so sehr um meine Heirat als um Edmunds Heirat.«

Klein-Dorrit schien, und vielleicht nicht ohne Ursache, etwas verlegen, diese seine Unterscheidung zu verstehen.

»Ich mache keine Schwierigkeit«, rief Fanny, »und habe keine Eile. Mich braucht man auf keinem öffentlichen Bureau, noch bedarf man meiner Stimme sonstwo. Aber Edmund wird verlangt. Und Edmund ist sehr niedergeschlagen, daß er fort muß, und wahrhaftig, ich wünschte nicht, daß er sich selbst überlassen wäre. Denn wo es möglich – und es ist gewöhnlich möglich – etwas Törichtes zu tun, so tut er es sicher.«

Als sie diesen unparteiischen Inbegriff des Vertrauens, das man auf ihren künftigen Gatten setzen könne, geschlossen, nahm sie mit einer Geschäftsmiene den Hut ab, den sie trug, und ließ ihn an den Bändern auf dem Boden baumeln.

»Es handelt sich deshalb mehr um Edmund, als um mich. Doch wir brauchen nicht mehr davon zu sagen. Es springt von selbst in die Augen. Nun, meine liebste Amy, wenn die Frage aufsteigt, geht er allein, oder geht er nicht allein?, so steigt die weitere Frage auf, sollen wir hier und bald getraut werden, oder sollen wir in der Heimat und in einigen Monaten getraut werden?«

»Ich sehe, ich soll dich verlieren, Fanny.«

»Was für ein kleines Ding du bist«, rief Fanny, halb nachsichtig und halb ungeduldig, »daß du mir immer zuvorkommst! Bitte, mein Liebling, lasse mich ausreden. Jene Frau«, sie sprach natürlich von Mrs. Merdle, »bleibt bis nach Ostern hier; im Falle ich nun hier heirate und mit Edmund nach London gehe, hätte ich den Vorsprung vor ihr. Das ist etwas. Weiter, Amy. Ist jene Frau mir au« dem Wege, so wüßte ich nicht, was ich Besonderes gegen den Vorschlag einzuwenden haben sollte, den Mr. Merdle Papa machte, daß Edmund und ich unsere Wohnung in jenem Hause aufschlagen – du weißt, wo du einst mit einer Tänzerin warst, meine Liebe –, bis unser eigenes Haus gewählt und eingerichtet werden kann. Noch weiter, Amy. Da Papa immer die Absicht hatte, im Frühjahr nach London zu gehen, so würden wir, wenn Edmund und ich verheiratet wären, nach Florenz gehen, wohin uns Papa nachkäme, und wir könnten dann alle drei zusammen nach Hause reisen. Mr. Merdle hatte Papa gebeten, in dem bereits erwähnten Hause bei ihm zu wohnen, und ich glaube auch, er hat die Absicht. Aber er ist Herr seines Tuns, und über diesen Punkt (der auch gar nicht wesentlich ist) kann ich nicht mit Bestimmtheit sprechen.«

Fanny legte auf den Unterschied, daß Papa Herr seines Tuns sei, was bei Mr. Sparkler in keiner Weise der Fall, durch die Art, wie sie die Sache darstellte, einen besonderen Nachdruck. Ihre Schwester bemerkte es jedoch nicht; denn ihre Gefühle waren zwischen dem Schmerz einer baldigen Trennung und dem sehnsüchtigen Wunsche geteilt, daß man auch sie in den Plan, England zu besuchen, mit eingeschlossen habe.

»Das sind die Arrangements, liebe Fanny?«

»Das sind die Arrangements!« wiederholte Fanny. »Nun, wahrhaftig, Kind, du stellst mich nicht wenig auf die Probe. Du weißt, ich hütete mich ganz besonders davor, die Worte so zu setzen, daß irgendeine derartige Deutung möglich war. Was ich sagte, war, daß gewisse Fragen sich darbieten; und dies sind die Fragen.«

Klein-Dorrits gedankenvolle Augen ruhten zärtlich und sanft auf ihr.

»Nun, mein süßes Mädchen«, sagte Fanny, ihren Hut an seinen Bändern mit großer Ungeduld hin- und herschwingend, »was soll das Stieren? Eine kleine Eule könnte mich ebenso stark ansehen. Ich verlange Rat von dir, Amy. Was rätst du mir zu tun?«

»Glaubst du«, fragte Klein-Dorrit nach kurzem Zögern überredend, »glaubst du, Fanny, daß es nicht besser wäre, wenn man alles in Betracht zieht, daß du die Heirat noch einige Monate verschöbest?«

»Nein, kleine Schildkröte«, versetzte Fanny in außerordentlich scharfem Tone, »das denke ich durchaus nicht.«

Hier schleuderte sie den Hut ganz von sich und warf sich in einen Stuhl. Aber gleich darauf wieder von zärtlichen Gefühlen ergriffen, sprang sie vom Stuhl auf und kniete auf den Boden nieder, um ihre Schwester und den Stuhl und alles zu umarmen.

»Glaube nicht, daß ich heftig und unfreundlich bin, liebes Kind, ich bin es wirklich nicht. Aber du bist so ein kleines närrisches Ding! Du machst, daß man dir gleich den Kopf abbeißt, wenn man dich liebkosen möchte. Habe ich dir nicht gesagt, mein liebes Kind, daß man Edmund nicht sich selbst überlassen darf? Und weißt du wirklich nicht, daß dem so ist?«

»Doch, doch, Fanny. Du sagtest das, ich weiß es.«

»Und du weißt es, das weiß ich«, versetzte Fanny. »Nun, mein kostbares Kind! Wenn man ihn nicht sich selbst überlassen darf, denke ich, so sollt‘ ich mit ihm gehen – habe ich dich also, liebste Amy, so zu verstehen, daß du, nachdem du gehört, welche Schritte in dieser Sache möglich sind, mir im ganzen rätst, sie zu tun?«

»Es scheint so, meine Liebe«, sagte Klein-Dorrit.

»Nun gut!« rief Fanny mit resignierter Miene, »dann muß es wohl auch geschehen? Ich kam zu dir, meine Liebe, in dem Augenblick, wo ich den Zweifel und die Notwendigkeit, einen Entschluß zu fassen, fühlte. Ich habe meinen Entschluß nunmehr gefaßt. So mag es nun sein.«

Nachdem Fanny in dieser musterhaften Weise schwesterlichem Rat und dem Drang der Umstände nachgegeben, wurde sie außerordentlich wohlwollend, wie jemand, der seine eigenen Neigungen der teuersten Freundin geopfert und in diesem Bewußtsein ein höchst wohltuendes Gefühl empfand. »Im Grunde, meine Amy«, sagte sie zu ihrer Schwester, »bist du das beste kleine Geschöpf, das man sich denken kann; voll Klugheit und Einsicht; und ich wüßte nicht, wie ich’s ohne dich anfangen sollte!«

Mit diesen Worten umarmte sie sie noch einmal und mit noch größerer Innigkeit und Herzlichkeit.

»Nicht, daß ich beabsichtigte, je ohne dich zu sein, Amy, keineswegs, denn ich hoffe, wir werden beinahe unzertrennlich sein. Und nun, mein Liebling, will ich auch dir einen Rat geben. Wenn du hier allein mit Mrs. General bleibst –«

»Ich soll hier allein mit Mrs. General bleiben?« sagte Klein-Dorrit ruhig.

»Natürlich, mein kostbares Kind, bis der Papa zurückkommt! Wenn du nicht etwa Edward Gesellschaft nennen willst, was er gewiß nicht ist, selbst wenn er hier ist, und noch weniger natürlich, wenn er in Neapel oder Sizilien ist. Ich war im Begriff, zu sagen – aber du bist solch ein närrisches Ding, daß du einen aus dem Konzept bringst – wenn du hier allein mit Mrs. General zurückbleibst, Amy, so dulde nicht, daß sie dich irgendwie auf schlaue Weise dazu bringt, es als etwas Natürliches anzusehen, daß sie sich um Papa oder daß Papa sich um sie bekümmert. Sie wird das tun, wenn sie es kann. Ich kenne ihre schlaue Manier, sich mit ihren Handschuhen fortzutasten. Du aber darfst sie unter keiner Bedingung verstehen. Und wenn Papa dir bei seiner Rückkehr sagen sollte, daß er die Absicht habe, Mrs. General zu deiner Mama zu machen (was durch mein Weggehen nicht wenig wahrscheinlich wird), so rate ich dir, daß du sogleich erklärst: »Papa, ich bitte, mich entschieden dagegen aussprechen zu dürfen. Fanny hat mich davor gewarnt; sie ist dagegen, und ich bin dagegen.« Ich will damit nicht sagen, daß irgendein Einwurf von deiner Seite auch nur die geringste Wirkung zu machen, Aussicht hat, oder daß ich glaube, du werdest ihn mit der nötigen Festigkeit vorbringen. Aber es handelt sich hier um ein Prinzip – ein kindliches Prinzip, und ich bitte dich dringend, dich nicht von Mrs. General bestiefmuttern zu lassen, ohne jenes Prinzip dadurch zu manifestieren, daß du es jedermann so unbehaglich wie möglich machst. Ich erwarte von dir nicht, daß du fest bei demselben beharrst – ich weiß wirklich, du wirst es nicht tun, soweit die Sache Papa betrifft, aber ich möchte dich zum Bewußtsein des Pflichtgefühls bringen. Was die Unterstützung von meiner Seite oder den Widerspruch betrifft, den ich gegen eine solche Heirat einsetzen kann, so werde ich dich nicht im Stiche lassen, meine Liebe. Alles Gewicht, das mir meine Stellung als verheiratete Frau gibt, die nicht ganz aller Anziehungskraft entbehrt, – und gewohnt, dieser Frau Widerstand zu leisten, wie dies immer bei mir der Fall sein wird – all dies Gewicht, darauf kannst du dich verlassen, werde ich auf das Haupt und das falsche Haar (denn ich bin überzeugt, es ist nicht echt, so häßlich es auch ist, und so unwahrscheinlich es auch ist, daß jemand vernünftiges Geld dafür ausgeben sollte) von Mrs. General fallen lassen!«

Klein-Dorrit hörte diesen Rat an, ohne zu wagen, etwas gegen denselben einzuwenden, ohne jedoch auch Fanny irgendeinen Grund zu dem Glauben zu geben, sie beabsichtige, ihn zu befolgen. Da Fanny nun gewissermaßen ihr Jungfrauenleben förmlich abgeschlossen und ihre weltlichen Angelegenheiten geordnet hatte, begann sie mit dem ihr eigentümlichen Eifer, sich für die ernste Veränderung in ihrer Lage vorzubereiten.

Die Vorbereitung bestand darin, daß sie ihr Mädchen, in Begleitung eines Kuriers, nach Paris sandte, um die Ausstattung für eine Braut zu kaufen, der die gegenwärtige Erzählung –- ohne ins Platte zu verfallen – keinen englischen Namen geben kann, der jedoch einen französischen Namen zu geben (nach dem gewöhnlichen Grundsatz, bei der Sprache zu bleiben, in der sie mal geschrieben), ihr ebenso widerstrebt. Die von diesen Agenten angekaufte schöne und reiche Garderobe machte im Verlaufe weniger Wochen ihren Weg durch das dazwischen liegende Land, das mit Zollhäusern überfüllt war, in dem eine ungeheure Armee schäbiger Bettler in Uniform garnisonierte, die beständig die Bitte um Almosen wiederholten, als wenn jeder einzelne dieser Krieger der alte Belisar wäre, und deren es so zahlreiche Legionen gab, daß, wenn der Kurier nicht genau anderthalb Scheffel Silbergeld ausgegeben hätte, um ihrer Not abzuhelfen, sie durch das bloße Umdrehen schon die Garderobe zerfetzt hätten, ehe sie nach Rom gelangt wäre. Aus all diesen Gefahren ging sie jedoch siegreich hervor, Zoll um Zoll, und kam in bester Beschaffenheit am Ziel ihrer Reise an.

Dort wurde sie auserlesenen Gesellschaften von Besucherinnen vorgelegt, in deren zartem Busen sie unversöhnliche Gefühle weckte. Gleichzeitig wurden lebhafte Vorbereitungen für den Tag gemacht, an dem einige von diesen Schätzen öffentlich zur Schau gestellt werden sollten. Die Hälfte der Engländer in der Stadt des Romulus erhielt Einladungskarten zum Frühstück; die andre Hälfte machte Vorbereitungen, um als kritisierende Freiwillige an verschiedenen Vorposten der Feierlichkeit unter Waffen zu sein. Der hochgestellte und ausgezeichnete englische Signor Edgardo Dorrit kam mit Extrapost durch den tiefen Schmutz und auf den schlechten Wegen von Neapel (wo er dem strebenden neapolitanischen Adel Manieren beibrachte), um der Feierlichkeit anzuwohnen. Das beste Hotel und alle seine Kochkünstler waren mit der Bereitung des Festmahles in Anspruch genommen. Die Anweisungen von Mr. Dorrit brachten bei Torlonia beinahe eine Krisis hervor. Der britische Konsul hatte während seines ganzen Konsulats keine solche Hochzeit gehabt.

Der Tag erschien, und die Wölfin auf dem Kapitol hätte vor Neid die Zähne fletschen können, wenn sie hatte sehen müssen, wie die Inselwilden die Sache heutzutage treiben. Die bösen Kaiser der Soldateska mit den Mördergesichtern, denen die Bildhauer die abscheuliche Häßlichkeit nicht hatten wegschmeicheln können, hätten von ihren Piedestalen herabkommen können, um die Braut zu entführen. Die vertrocknete alte Fontäne, wo sich ehedem die Gladiatoren gewaschen, hätte zu Ehren der Feierlichkeit wieder springen können. Der Tempel der Vesta hätte sich wieder aus seinen Trümmern erheben können, um bei dieser feierlichen Gelegenheit sich in seiner ganzen Schönheit zu zeigen. Sie hätten es tun können: aber taten es nicht. Wie lebendige Wesen – selbst wie manchmal die Herren und Herrinnen der Schöpfung – hätten sie viel tun können, taten aber nichts. Die Feierlichkeit ging mit staunenswertem Pomp vor sich: Mönche in schwarzen Kutten, weißen Kutten und braunen Kutten blieben stehen, um den Wagen nachzusehen; herumziehende Landleute in Schafpelzen bettelten und bliesen unter den Fenstern des Hauses; die englischen Freiwilligen zogen vorüber; der Tag verging bis zur Vesperstunde; das Fest war vorbei; die Tausende von Kirchenglocken läuteten, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, und St. Peter leugnete, daß er irgend etwas damit zu tun habe.

Inzwischen war die Braut dem Ziel ihrer ersten Tagreise auf dem Wege nach Florenz nahe. Es war eine Eigentümlichkeit dieser Hochzeit, daß sie ganz nur Braut war. Niemand nahm von dem Bräutigam Notiz. Niemand nahm von der ersten Brautjungfer Notiz. Wenige hätten vor dem Glanz Klein-Dorrit (die diese Stelle versah) bemerken können, selbst vorausgesetzt, daß viele sie gesucht hätten. So war die Braut in ihren schönen Wagen gestiegen, zufällig von dem Bräutigam begleitet, und fing jetzt an, nachdem sie wenige Minuten lang sanft über ein schönes Pflaster gerollt, sich durch einen melancholischen Sumpf und durch eine lange, lange Straße von Verfall und Trümmern hindurchzuwinden. Andere Hochzeitswagen sollen vorher und seitdem dieselbe Straße gefahren sein.

Wenn sich Klein-Dorrit an diesem Abend ein wenig einsam und gedrückt fühlte, so würde sie nichts so sehr erleichtert haben, als wenn sie neben ihrem Vater wie in frühern Zeiten an der Arbeit hätte sitzen oder ihm sein Nachtessen und sein Bett bereiten können. Aber daran war jetzt nicht zu denken, wo sie mit Mrs. General auf dem Bock der Zeremonienkutsche saß. Und das Nachtessen! Wenn Mr. Dorrit ein solches verlangte, mußten ein italienischer Koch und ein Schweizer Konditor Mützen so hoch wie die Mitra des Papstes aufsetzen und die Geheimnisse von Alchimisten in einem mit kupfernen Kasserollen versehenen Laboratorium unter der Erde verrichten, ehe er es bekommen konnte.

Er war an diesem Abend sententiös und belehrend; wäre er einfach herzlich gewesen, so hätte das Klein-Dorrit wohler getan; aber sie nahm ihn, wie er war – wann hatte sie ihn nicht genommen, wie er war – und faßte ihn von seiner besten Seite auf. Mrs. General zog sich endlich zurück. Ihr Weggehen am I?7 Abend war immer ihre frostigste Zeremonie, als fände sie es notwendig, die menschliche Phantasie zu Stein erstarren zu machen, daß man ihr nicht folge. Als sie ihre strengen Präliminarien gemacht, die bis zu platonischen Übungen sich verstiegen, verließ sie das Zimmer. Klein-Dorrit schlang dann ihren Arm um ihres Vaters Hals, um ihm gute Nacht zu sagen.

»Meine liebe Amy«, sagte Mr. Dorrit, indem er ihre Hand ergriff, »das ist das Ende eines Tages, der mich – ha – sehr gerührt und mir sehr wohlgetan hat.«

»Wohl auch ein wenig müde gemacht, Vater?«

»Nein«, sagte Mr. Dorrit, »nein, ich fühle keine Müdigkeit, wenn sie eine so – hm – mit Freude der reinsten Art verbundene Veranlassung hat.«

Klein-Dorrit freute sich, ihn bei so guter Stimmung zu finden, und lächelte voll Glückseligkeit.

»Mein Liebe«, fuhr er fort. »Dies ist ein Tag – ha –, der als ein gutes Beispiel gelten kann. Ein gutes Beispiel, mein treuer Liebling, – hm – für dich.«

Klein-Dorrit, durch seine Worte etwas in Verlegenheit gebracht, wußte nicht, was sie sagen sollte, obgleich er innehielt, als ob er erwartete, sie werde etwas sagen.

»Amy«, fuhr er fort, »deine liebe Schwester, unsere Fanny, hat – ha, hm – eine Ehe geschlossen, die vortrefflich geeignet ist, die Basis unserer – ha – Bekanntschaft auszudehnen und unsere – hm – sozialen Beziehungen zu konsolidieren. Meine Liebe, ich glaube, daß die Zeit nicht fern sein wird, wo eine – ha – annehmbare Partie sich für dich finden wird.«

»O, nein! Laß mich bei dir bleiben. Ich bitte dich, laß mich bei dir bleiben. Ich verlange nichts weiter, als bei dir zu bleiben und für dich zu sorgen!«

Sie sagte es wie jemand, der plötzlich aufgeschreckt wird.

»Nein, Amy, Amy«, sagte Mr. Dorrit. »Das ist schwach und kindisch, schwach und kindisch. Deine Stellung – ha – legt dir eine Verpflichtung auf. Es gilt, diese Stellung geltend zu machen; ich kann – ha – selbst für mich sorgen. Oder«, fügte er nach einem Augenblick hinzu, »wenn ich jemand brauchte, der für mich sorgte, so – hm – kann ich, mit dem – ha – Segen der Vorsehung, jemand finden, der für mich sorgt. Ich kann nicht – ha, hm – alle Last auf dich wälzen, liebes Kind, und – ha – dich gewissermaßen aufopfern.«

O, welch eine Tageszeit für diese Beteurung von Selbstverleugnung: o; welche Zeit, um sie mit einer Miene auszusprechen, als ob man Glauben für sie forderte; welch eine Zeit, daran zu glauben, wenn das möglich wäre!

»Sprich nicht, Amy. Ich sage es ganz entschieden, ich kann das nicht zugeben. – Ich – ha – darf – es nicht zugeben. Mein – hm – Gewissen würde es nicht erlauben. Ich ergreife daher die mir durch diese angenehme und rührende Gelegenheit gebotene Veranlassung, dir feierlich – ha – kundzutun, daß es jetzt mein innigster Wunsch und Vorsatz ist, dich – ha – angemessen (ich wiederhole angemessen) verheiratet zu sehen.«

»O nein, mein lieber Vater, ich bitte dich!«

»Amy!« sagte Mr. Dorrit, »ich bin fest überzeugt, daß, wenn die Sache, die wir hier besprechen, einer Person von höherer Weltkenntnis, größerem Zartgefühl und schärferer Einsicht vorgelegt würde – wir wollen zum Beispiel sagen, Mrs. General –, so würden nicht zweierlei Ansichten über den – hm – liebevollen Charakter und die Richtigkeit meiner Gefühle stattfinden. Da ich jedoch deinen liebevollen und gehorsamen Charakter aus – hm – Erfahrung kenne, so bin ich überzeugt, daß ich nichts weiter zu sagen brauche. Ich habe – hm – für den Augenblick keinen Gatten, den ich dir vorschlagen könnte; ich habe sogar nicht mal einen in Aussicht. Ich wünsche nur – ha –, daß wir uns verstehen. Hm. Gute Nacht, meine liebe und einzig mir bleibende Tochter. Gute Nacht. Gott sei mit dir!«

Wenn Klein-Dorrit jemals in dieser Nacht der Gedanke kam, daß er sie jetzt in seinem Glücke leicht hingeben könnte, jetzt, da er im Sinn hatte, sie durch eine zweite Gattin zu ersetzen, so verscheuchte sie diesen Gedanken alsbald wieder. Unverändert treu gegen ihn wie in den schlimmsten Zeiten, wo sie allein mit ihrer Hand ihn gestützt und aufrechterhalten, wies sie diesen Gedanken von sich ab und kannte in ihrer tränenvollen Ruhelosigkeit keinen herberen Gedanken, als daß er jetzt alles im Licht ihres Reichtums und mit der beständigen Sorge ins Auge faßte, reich zu bleiben und reicher zu werden.

Sie saßen noch drei Wochen länger in ihrer Staatskutsche, mit Mrs. General auf dem Bock; dann reiste er nach Florenz, um mit Fanny zusammenzutreffen. Klein-Dorrit hätte ihm so gern bis dahin Gesellschaft geleistet, einzig um ihrer Liebe willen, und wäre dann, an ihr teures England denkend, zurückgekehrt. Aber da der Kurier mit der Braut gegangen, war der Kammerdiener nunmehr an der Reihe; und diese wäre erst an sie gekommen, wenn man niemand mehr für Geld hätte haben können.

Mrs. General nahm das Leben leicht – so leicht, heißt das, wie sie überhaupt etwas nehmen konnte –, als der römische Haushalt in ihrem alleinigen Besitz blieb; und Klein-Dorrit fuhr oft in einem Mietswagen, den man ihnen gelassen, aus oder sprang auch allein aus dem Wagen und wanderte unter den Ruinen des alten Rom umher. Die Trümmer des großen alten Amphitheaters, der alten Tempel, der alten erinnerungsreichen Bogengänge, der alten vielbetretenen Straße, der alten Gräber erschienen ihr außer in ihrer eigentlichen Gestalt auch als Ruinen des alten Marschallgefängnisses – als Ruinen ihres eigenen ehemaligen Lebens – als Ruinen der Gesichter und Gestalten derer, die es damals bevölkert, als Ruinen der Neigungen, Hoffnungen, Sorgen und Freuden, die darin gewaltet hatten. Zwei untergegangene Sphären I?9 des Tuns und Leidens standen vor dem einsamen Mädchen, das oft auf einem zerbröckelten Steine saß; und an dem einsamen Orte, unter dem blauen Himmel, sah sie beides zugleich.

Dann kam gewöhnlich Mrs. General, nahm allem die Farbe, wie Natur und Kunst alle Farbe aus ihr genommen; sie schob zwischen Mr. Eustaces Text überall Prunes und Prism, wo sie nur konnte; sah sich überall nach Mr. Eustace und Kompagnie um und hatte sonst für nichts Auge; scharrte die dürrsten Knochen Altertum zusammen und verschlang sie ohne menschliches Erbarmen – wie ein Werwolf in Handschuhen.

Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

Vorwärts

Das neuverheiratete Ehepaar wurde bei seiner Ankunft in Harleystreet, Cavendishsquare, London, von dem Oberhaushofmeister empfangen. Dieser große Mann nahm kein Interesse an ihnen, aber er duldete sie im ganzen. Es müssen beständig Leute verheiratet und getraut werden, sonst brauchte man keine Haushofmeister. Wie Staaten zum Besteuern da sind, so sind Familien da, um gehaushofmeistert zu werden. Der Oberhaushofmeister dachte jedenfalls, daß der Lauf der Natur seinetwegen die Fortpflanzung der reichen Bevölkerung vorschreibe.

Er ließ sich deshalb herab, den Wagen von der Haustür aus ohne zürnende Blicke zu betrachten, und sagte zu einem seiner Untergebenen auf höchst liebenswürdige Weise: »Thomas, hilf beim Abpacken!« Er geleitete sogar die junge Frau die Treppe hinauf zu Mr. Merdle; aber dies war als ein Akt der Huldigung gegen das schöne Geschlecht (das er bewunderte, wie er notorisch in die Reize einer gewissen Herzogin sich verliebt hatte) und nicht als ein Unterordnen seiner selbst unter die Familie zu betrachten.

Mr. Merdle schlich auf dem Kaminteppich umher und erwartete die Ankunft Mrs. Sparklers. Seine Hand schien beim Willkomm in seinen Rockärmel hinaufzukriechen, und er gab ihr einen solchen Überfluß von Rockaufschlag, daß es wie ein Empfang von dem der Volksvorstellung entsprechenden Bilde von Guy Fawkes3 war. Als er seine Lippen auf die ihren drückte, nahm er sich bei den Handgelenken fest und deckte sich den Rücken durch die Ottomanen und Stühle und Tische, als wenn er sein eigner Polizeimann wäre, und sagte zu sich: »Nun, nichts da! Kommt! Ich habe euch mal, wie ihr seht, und ihr geht ruhig mit mir!«

Mrs. Sparkler, die nun in den Staatszimmern installiert war – dem Allerheiligsten von Eiderdaunen, Seide und feinem Linnen –, fühlte, daß ihr Triumph gelungen und ihr Weg Schritt für Schritt gemacht sei. Am Tage vor ihrer Hochzeit hatte sie der Kammerfrau von Mrs. Merdle mit anmutiger Gleichgültigkeit in Mrs. Merdles Gegenwart ein hübsches kleines Andenken (Armband, Hut und zwei Kleider, alles ganz neu) geschenkt, was ungefähr viermal so viel wert war als das Geschenk, das Mrs. Merdle ihr früher gemacht hatte. Sie wohnte jetzt in Mrs. Merdles eigenen Zimmern, die mit einigen Extranachbesserungen ihrer würdiger gemacht worden waren. Während sie hier weilte, umgeben von allen Luxusgegenständen, die der Reichtum kaufen und die Phantasie erfinden konnte, sah sie mit ihrem innern Auge den schönen Busen, der im Einklang mit ihrem frohlockenden Herzen schlug, mit dem so lange berühmt gewesenen Busen wetteiferten, ihn überglänzen und verdrängen. Glücklich? Fanny mußte glücklich sein, denn sie wünschte nicht mehr, lieber tot zu sein.

Der Kurier hatte es nicht gebilligt, daß Mr. Dorrit in dem Hause eines Freundes wohne, und vorgezogen, ihn nach einem Hotel in Brook Street, Grosvenorsquare zu bringen. Mr. Merdle befahl, morgen früh seinen Wagen bereit zu halten, damit er sogleich nach dem Frühstück Mr. Dorrit seine Aufwartung machen könne.

Der Wagen sah glänzend aus, die Pferde waren glatt, das Geschirr funkelte, die Livreen machten den Eindruck des Reichen und Soliden. Ein herrliches entsprechendes Äußere. Eine Equipage für einen Merdle. Leute, die früh auf waren, sahen ihr nach, wie sie durch die Straßen hinrollte, und sagten mit ehrfurchtsvollem Ton: »Da fährt er!«

Da fuhr er hin, bis Brook Street ihm Halt gebot. Dann kam er wie ein Juwel aus seinem prachtvollen Gehäuse, aber nicht durch sich glänzend, sondern ganz das Gegenteil.

Aufruhr in dem Bureau des Hotels. Merdle! Der Wirt, obgleich ein Gentleman von großem Stolz, der kaum mit zwei Vollblutpferden in die Stadt gekommen war, kam heraus, um ihn die Treppe hinaufzuführen. Die Kommis und die Diener schnitten ihm durch Seitengänge den Weg ab und warteten wie zufällig an Gängen und Ecken, um ihn zu sehen. Merdle! O Sonne, Mond und Sterne, der große Mann! Der reiche Mann, der gewissermaßen das Neue Testament verbessert hat, indem er bereits in das Himmelreich gekommen war. Der Mann, der jeden, den er wollte, zu Tische einladen konnte und der so viel Geld verdiente. Als er die Treppe hinaufging, standen die Leute schon auf den untern Stufen, damit sein Schatten auf sie fiele, wenn er herabkäme. So brachte man die Kranken und legte sie auf den Weg, den der Apostel kommen mußte – der nicht in die gute Gesellschaft gekommen und kein Geld verdient hatte.

Mr. Dorrit saß im Schlafrock, mit der Morgenzeitung beschäftigt, beim Frühstück. Der Kurier meldete mit aufgeregter Stimme: »Mr. Mairdaile!« Mr. Dorrits übervolles Herz hüpfte vor Freude, als er aufsprang. »Mr. Merdle, das ist wahrhaftig eine Ehre. Erlauben Sie mir, Ihnen auszusprechen, wie – hm – hoch ich die Ehre – ha – diesen – ha, hm – schmeichelhaften Beweis Ihrer Aufmerksamkeit zu schätzen weiß. Ich weiß recht gut, mein Herr, wie sehr Ihre Zeit in Anspruch genommen ist und – ha – welch unermeßlichen Wert sie hat.« Mr. Dorrit konnte das Wort unermeßlich nicht rund genug zu seiner Zufriedenheit aussprechen. »Daß Sie – ha – zu dieser frühen Stunde etwas von Ihrer unschätzbaren Zeit auf mich verwenden, ist – ha – ein Kompliment, das ich mit der größten Achtung anerkenne.« Mr. Dorrit zitterte wirklich, als er den großen Mann anredete.

Mr. Merdle ließ in seiner gedämpften, innerlichen, zögernden Stimme ein paar Worte hören, die nichts besagen wollten; und zuletzt sagte er: »Ich bin sehr erfreut, Sie zu sehen, Sir.«

»Sie sind sehr freundlich«, sagte Mr. Dorrit, »wirklich sehr freundlich.« Inzwischen hatte sich der Besuch gesetzt und fuhr mit seiner großen Hand über die erschöpfte Stirn. »Sie sind hoffentlich wohl, Mr. Merdle?«

»Ich bin so wohl, wie ich – ja, ich bin so wohl, wie ich gewöhnlich bin«, sagte Mr. Merdle.

»Ihre Geschäfte müssen Sie außerordentlich in Anspruch nehmen?«

»So ziemlich. Aber – o nein, es fehlt mir eigentlich nichts«, sagte Mr. Merdle im Zimmer umhersehend.

»Etwas schlechte Verdauung?« deutete Mr. Dorrit an.

»Wohl möglich. Aber ich – o ich befinde mich ganz gut«, sagte Mr. Merdle.

Auf seinen Lippen, wo sie sich schlossen, waren schwarze Streifen, als wenn etwas Pulver darauf abgebrannt worden wäre; und er sah aus wie ein Mann, der, wenn er von etwas lebhafterem Temperament wäre, heute morgen starkes Fieber gehabt haben würde. Dies und die schwerfällige Weise, wie er über seine Stirn strich, hatten Mr. Dorrits besorgliche Erkundigungen veranlaßt.

»Mrs. Merdle«, fuhr Dorrit einschmeichelnd fort, »verließ ich, wie Sie wohl zu hören erwarten werden, als die von allen – ha – Beobachtern Beobachtete, von allen – hm – Bewunderern Bewunderte, als die, die die ganze römische Gesellschaft entzückt und bezaubert hat. Sie sah außerordentlich gut aus, als ich die Römerstadt verließ.«

»Mrs. Merdle«, sagte Mr. Merdle, »gilt im allgemeinen als eine sehr anziehende Frau. Und sie ist es auch ganz gewiß. Ich weiß es wohl, daß sie es ist.«

»Wer wüßte es nicht?« antwortete Mr. Dorrit.

Mr. Merdle drehte seine Zunge in seinem geschlossenen Munde umher – es schien eine steife und unlenksame Zunge –, feuchtete die Lippen an, strich mit der Hand über die Stirn und sah wieder im Zimmer umher, hauptsächlich unter die Stühle. »Aber«, sagte er, indem er Mr. Dorrit zum ersten Male ins Gesicht sah und dann augenblicklich die Blicke auf die Westenknöpfe von Mr. Dorrit herabsinken ließ, »wenn wir von anziehendem Wesen sprechen, so sollte Ihre Tochter unser Gesprächsgegenstand sein. Sie ist ausnehmend schön. Nach Gesicht wie Gestalt ist sie eine ungewöhnliche Erscheinung. Als die jungen Leute vergangenen Abend ankamen, war ich wirklich überrascht von dem Anblick solcher Reize.«

Mr. Dorrit fühlte sich so geschmeichelt, daß er sagte – ha –, er könne nicht umhin, mündlich Mr. Merdle zu wiederholen, was er bereits brieflich getan, daß er die Verbindung ihrer Familien für eine große Ehre und ein großes Glück halte. Und er bot ihm seine Hand. Mr. Merdle betrachtete die Hand eine Augenblick, nahm sie einen Augenblick, als wenn sie ein gelber Präsentierteller oder eine Fischscheibe wäre, und gab sie dann Mr. Dorrit zurück.

»Ich dachte, ich wolle sogleich hierherfahren«, sagte Mr. Merdle, »um meine Dienste anzubieten, im Falle ich etwas für Sie tun kann, und Ihnen zu sagen, ich hoffe, Sie werden mir wenigstens die Ehre erweisen, heute und immer bei mir zu speisen, solange Sie in der Stadt und nicht anderwärts besser in Anspruch genommen sind.«

Mr. Dorrit war entzückt über diese Aufmerksamkeiten.

»Werden Sie sich lange hier aufhalten?«

»Ich habe vorderhand die Absicht«, sagte Mr. Dorrit, »nicht länger als vierzehn Tage zu verweilen.«

»Das ist nach einer so langen Reise ein sehr kurzer Aufenthalt«, versetzte Mr. Merdle.

»Hm. Ja«, sagte Mr. Dorrit. »Aber offen gesagt – ha – mein lieber Merdle, ich finde das Leben auf dem Kontinent meiner Gesundheit so zuträglich und meinem gegenwärtigen Geschmack so entsprechend, daß ich – hm – bei meinem gegenwärtigen Besuche in London nur zweierlei im Auge habe. Nämlich erstens – ha – das ausgezeichnete Glück und – ha – die Ehre, die mir gegenwärtig zuteil wird und die ich zu schätzen weiß; und zweitens das Arrangement – hm –, das heißt, die beste Anlegung – ha, hm – meiner Kapitalien.«

»Nun, Sir«, sagte Mr. Merdle, nachdem er seine Zunge noch einmal gedreht, »wenn ich Ihnen in dieser Beziehung irgendwie von Nutzen sein kann, so befehlen Sie über mich.«

Mr. Dorrit zögerte mehr denn gewöhnlich mit seinen Worten, als er auf diesen kitzlichen Punkt zu sprechen kam, denn er war sich nicht ganz klar, wie ein so erhabener Potentat es aufnehmen möchte. Er zweifelte, ob die Erwähnung eines persönlichen Kapitals oder Vermögens nicht ein zu elender Detailkram für einen solchen Großhändler sei. Sehr erleichtert durch Mr. Merdles freundliches Anerbieten seiner Dienste, säumte er nicht, sie anzunehmen, und überhäufte ihn mit Dank.

»Ich hätte – ha – kaum gewagt«, sagte Mr. Dorrit, »versichere ich Ihnen, einen so außerordentlichen Vorteil wie Ihren unmittelbaren Rat und Beistand zu hoffen. Obgleich ich natürlich, unter allen Umständen, wie die – ha, hm – ganze übrige zivilisierte Welt Mr. Merdles Spuren gefolgt wäre.«

»Sie wissen, wir können uns beinahe Verwandte nennen, Sir«, sagte Mr. Merdle, indem er mit großem Interesse das Muster des Teppichs betrachtete, »und deshalb können Sie ganz auf meine Dienste zählen zu dürfen versichert sein.«

»Ah. Sehr hübsch, wahrhaftig!« rief Mr. Dorrit. »Ah. Sehr hübsch!«

»Es würde«, sagte Mr. Merdle, »im gegenwärtigen Augenblick für einen, der nicht eingeweiht ist, sehr schwer sein, an einer der guten Spekulationen teilzunehmen – natürlich spreche ich von meinen eigenen guten Spekulationen –«

»Natürlich, natürlich!« rief Mr. Dorrit, in einem Ton, der deutlich zu sagen schien, daß es gar keine andern guten Spekulationen geben könne.

»– außer zu sehr hohem Preis, was wir eine sehr lange Zahl zu nennen pflegen.«

Mr. Dorrit lachte in der gehobenen Stimmung, in der er sich befand. »Ha, ha, ha! Lange Zahl. Gut. Ha. Wirklich sehr bezeichnend.«

»Ich behalte jedoch«, sagte Mr. Merdle, »gewöhnlich die Vollmacht für mich, einzelne zu bevorzugen – die Leute würden es vielleicht begünstigen heißen –, was ich als eine Art Belohnung für meine Sorge und Mühe ansehe.«

»Und ihren Gemeingeist und Ihr Genie«, fügte Mr. Dorrit hinzu.

Mr. Merdle schien mit einer trocknen schlingenden Bewegung diese Eigenschaften wie eine Pille hinunterzuschlucken; dann fügte er hinzu: »Eine Art von Entschädigung. Wenn Sie mir erlauben, will ich sehen, wie ich von dieser beschränkten Vollmacht (denn die Leute sind eifersüchtig, und sie ist beschränkt) in Ihrem Interesse Gebrauch machen kann.«

»Sie sind sehr gut«, versetzte Mr. Dorrit. »Sie sind sehr gut.«

»Natürlich«, sagte Mr. Merdle, »muß bei diesen Geschäften die größte Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit herrschen; Glaube auf Wort muß zwischen den einzelnen gelten; zweifelloses und unzweifelhaftes Vertrauen muß obwalten; sonst könnte man kein Geschäft machen.«

Mr. Dorrit begrüßte diese edlen Gesinnungen lebhaft und freudig.

»Deshalb«, sagte Mr. Merdle, »kann ich Ihnen bloß bis zu einer gewissen Ausdehnung den Vorzug geben.«

»Ich verstehe. In einer beschränkten Ausdehnung«, bemerkte Mr. Dorrit.

»Beschränkten Ausdehnung. Und ganz offen vor der Welt. Mit meinem Rate dagegen ist es etwas anderes«, sagte Mr. Merdle. »Soviel dieser gilt –«

»Oh! Soviel dieser gilt!« (Mr. Dorrit konnte selbst bei Mr. Merdle nicht die geringste Unterschätzung seines Wertes ertragen.)

»– diesen zu geben, wenn ich Lust habe, hindert mich nichts, was die makellose Ehre zwischen mir und meinen Genossen verlangt. Und dieser«, sagte Mr. Merdle, jetzt ganz auf den Kehrichtkarren, der unter dem Fenster vorüberfuhr, seine Aufmerksamkeit richtend, »wird stets zu Ihren Diensten stehen, wenn Sie denselben einzuholen für passend erachten.«

Neuer Dank von seiten Mr. Dorrits. Abermaliges Über-die-Stirne-Fahren von Mr. Merdles Hand. Pause und Schweigen. Betrachten der Westenknöpfe Mr. Dorrits von seiten Mr. Merdles.

»Da meine Zeit ziemlich kostbar ist«, sagte Mr. Merdle plötzlich aufstehend, als wenn er inzwischen auf seine Beine gewartet und diese nun gekommen wären, »so muß ich mich jetzt nach der City begeben. Kann ich Sie vielleicht irgendwohin mitnehmen? Ich würde mich glücklich schätzen, Sie irgendwo aussteigen oder mit meinem Wagen weiterfahren zu lassen. Er steht zu Ihren Diensten.«

Mr. Dorrit bedachte sich, daß er Geschäfte bei seinem Bankier habe. Sein Bankier wohnte in der City. Das traf sich glücklich; Mr. Merdle konnte ihn in die City mitnehmen. Aber er dürfe natürlich Mr. Merdle nicht aufhalten, bis er seinen Rock angezogen? Jawohl dürfe und müsse er das; Mr. Merdle bestand darauf. Mr. Dorrit zog sich deshalb in das nächste Zimmer zurück, vertraute sich seinem Kammerdiener an und kam nach fünf Minuten strahlend wieder.

Dann sagte Mr. Merdle: »Erlauben Sie mir, Sir. Nehmen Sie meinen Arm.« Dann stieg Mr. Dorrit, auf Mr. Merdles Arm gelehnt, die Treppe hinab, sah die Gläubigen auf den Stufen stehen und fühlte, daß ein Abglanz des Lichts von Mr. Merdle auf ihn fiel. Dann stieg man in den Wagen und fuhr in die City, und das Volk staunte sie an, und die Hüte flogen von grauen Köpfen herunter, und es war ein allgemeines Bücken und Kriechen vor diesem wunderbaren Sterblichen; eine solche Demut im Geiste war – beim Himmel, nein! das mögen die Schmeichler aller Namen bedenken – weder in der Westminster-Abtei noch in der St. Paulskirche zusammengenommen an irgendeinem Sonntag im Jahre zu sehen. Es war ein berauschender Traum für Mr. Dorrit, so hoch erhaben in diesem öffentlichen Triumphwagen zu sitzen und diese prachtvolle Fahrt nach dem entsprechenden Ziele, der goldenen Lombardstraße mitzumachen.

Dort bestand Mr. Merdle darauf, auszusteigen und seinen Weg zu Fuß zu machen, indem er seinen armen Wagen zu Mr. Dorrits Disposition stellte. So wurde der Traum noch berauschender, als Mr. Dorrit allein von dem Bankier herauskam und die Leute in Abwesenheit Mr. Merdles ihn ansahen und er mit den Ohren seines Geistes den häufigen Ausruf hörte, während er blitzschnell dahinfuhr: »Ein ausgezeichneter Mann muß das sein, wenn er Mr. Merdles Freund ist!«

Bei dem Mittagsmahl dieses Tages, obgleich es ganz unvorbereitet arrangiert war, befand sich eine glänzende Gesellschaft von lauter Leuten, die nicht aus irdischem Staube, sondern aus einem wertvolleren, bis jetzt unbekannten Stoffe gemacht waren und ihren herrlichen Segen auf die Ehe der Tochter Mr. Dorrits ausströmten. Und Mr. Dorrits Tochter begann an diesem Tage in allem Ernst ihren Wettkampf mit jener nicht anwesenden Frau; und begann ihn so gut, daß Mr. Dorrit, wenn man es verlangt, die eidliche Erklärung hätte abgeben können, Mrs. Sparkler habe ihr ganzes Leben der vollen Länge nach im Schoße des Glückes gelegen und habe nie von einem so groben Worte der englischen Sprache wie Marshalsea gehört.

Am nächsten und übernächsten und allen darauffolgenden Tagen, die stets von neuen Tischgesellschaften beehrt waren, wirbelten Karten auf Mr. Dorrit herab wie Theaterschnee. Als Freund und Verwandter des berühmten Mr. Merdle wünschten Advokat, Bischof, Schatz, Chornus und jedermann Mr. Dorrit kennenzulernen. In den zahlreichen Kontors Mr. Merdles in der City war, wenn Mr. Dorrit in einem derselben bei seinen Geschäftsbesuchen im Osten erschien (was häufig geschah, denn diese nahmen erstaunlich zu), der Name Dorrit stets ein Paß, der Zutritt zu dem großen Merdle verschaffte. So wurde der Traum mit jeder Stunde berauschender, und Mr. Dorrit fühlte immer mehr, daß diese Verbindung ihn wirklich vorwärtsgebracht habe.

Nur eines lag nichts weniger als golden und leicht auf Mr. Dorrits Seele. Das war der Oberhaushofmeister. Diese erstaunliche Persönlichkeit sah ihn während seiner offiziellen Beaufsichtigung des Diners in einer Weise an, die Mr. Dorrit sehr in Frage zu ziehen geneigt war. Wenn er durch die Halle und über die Treppe ging, um sich zum Diner zu begeben, sah er ihn mit einer glasigen Starrheit an, die Mr. Dorrit nicht gefiel. Wenn Mr. Dorrit bei Tische saß und trank, sah er durch sein Weinglas, wie der Oberhaushofmeister ihn mit kaltem und geisterhaftem Blicke betrachtete. Der Zweifel stieg in ihm auf, ob ihn nicht der Oberhaushofmeister als Gefangenen gekannt, ihn im Gefängnis gesehen – vielleicht ihm sogar vorgestellt worden. Er sah den Oberhaushofmeister so genau an, als man überhaupt einen solchen Mann ansehen kann, und doch erinnerte er sich nicht, daß er ihn je anderwärts gesehen hatte. Zuletzt neigte er sich zu der Ansicht, daß der Mann keine Ehrfurcht, diese große Kreatur kein Gefühl besitze. Aber das beruhigte ihn nicht, denn, er mochte denken, was er wollte, der Oberhaushofmeister ließ sein geringschätziges Auge auf ihm ruhen, selbst wenn dieses Auge auf das Silberzeug oder andern Tafelschmuck sah. Ihm einen Wink zu geben, daß diese Begrenzung seines Blickes unangenehm sei, oder ihn zu fragen, was das heißen solle, war ein zu kühnes Wagstück, um sich dazu zu entschließen, denn er war gegen seinen Herrn und dessen Gäste entsetzlich streng und erlaubte ihnen nicht, sich die geringste Freiheit gegen ihn herauszunehmen.

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

Reisegenossen.

Im Herbste des Jahres krochen Dunkelheit und Nacht zu den höchsten Gipfeln der Alpen empor.

Es war die Zeit der Weinlese in den Tälern auf der Schweizer Seite des St. Bernhardpasses und an den Ufern des Genfer Sees. Die Luft war von dem Duft der eingeernteten Trauben geschwängert. Körbe, Bütten und Kübel mit Trauben standen in den dunklen Dorftorwegen, verstellten die steilen und engen Dorfgassen und wurden den ganzen Tag auf Wegen und Straßen hin und her getragen. Trauben, von den Füßen zertreten und zerquetscht, lagen überall umher. Die junge Bäuerin, die sich schwerbeladen nach Hause schleppte, beruhigte ihr schreiendes Kind mit Trauben. Der Idiot, der seinen dicken Kropf unter der Traufe der hölzernen Hütte an dem Wege zum Wasserfall sonnte, saß gierig Trauben kauend da. Der Atem der Kühe und Ziegen duftete angenehm von dem Laub und den Kämmen der Trauben. Die versammelten Gäste in jedem kleinen Wirtshause sprachen, während sie aßen und tranken, von Trauben. Schade, daß aus dem großen Überfluß nicht etwas Reife auf den dünnen, harten, steinigen Wein überging, der im ganzen aus diesen Trauben gemacht wurde!

Die Luft war den ganzen schönen Tag über warm und durchsichtig gewesen. Glänzende metallene Kirchturmspitzen und Kirchendächer, die man da und dort in der Ferne sah, hatten die weite Gegend durchblitzt: und die schneeigen Berggipfel waren so klar gewesen, daß nicht daran gewöhnte Augen mit dem Blick über das dazwischenliegende Land hinwegeilten und ihre rauhe Höhe als etwas Fabelhaftes gering achtend, gewöhnlich glaubten, sie seien in wenigen Stunden zu erreichen. Bergkuppen von großer Berühmtheit sah man von den Tälern, wo bisweilen monatelang keine Spur von ihrer Existenz sichtbar war, seit dem Morgen klar und nahe an dem blauen Himmel stehen. Und selbst jetzt, wo es unten dunkel wurde, hoben sie sich – gleichsam feierlich zurückschreitend wie Geister, die entschwinden wollen – doch noch deutlich in ihrer Einsamkeit über dem Nebel und dem Schatten bleich und kalt vom Himmel ab.

Von diesen Einöden und vom Paß des großen St. Bernhard aus gesehen stieg die Nacht an den Bergen flutartig empor. Als sie endlich die Mauern des Klosters auf dem großen St. Bernhard erreicht hatte, erschien dieser wetterharte Bau wie eine zweite Arche, die auf den Schattenwogen schwamm.

Die Dunkelheit, die einige Fremde überholte, hatte die rauhen Klostermauern erreicht, als diese Reisenden noch den Berg hinanklommen. Wie die Hitze des glühenden Tages, die sie haltzumachen und an den Strömen geschmolzenen Schnees und Eises zu trinken eingeladen hatte, nun in die durchdringende Kälte der frostigen verdünnten Nachtluft auf großer Höhe übergegangen war, so war die frische Schönheit der Reise in tieferliegenden Gegenden jetzt der Dürre und Öde gewichen. Ein schroffer, holperiger Pfad, auf dem die Maultiere, eines hinter dem andern, von Block zu Block kletterten und sich wanden, als wenn sie die verbröckelte Treppe einer riesigen Ruine hinaufstiegen, war jetzt ihr Weg. Kein Baum war zu sehen, keine Pflanze zu erblicken, nur ein armes, braunes, elendes Moos, das in den Ritzen der Felsen erstarrt war. Geschwärzte Skelettarme von Holz zeigten am Wege hinauf nach dem Kloster, als wenn die Gespenster früherer Reisenden, die im Schnee begraben worden waren, an dem Schauplatz ihres Unglücks umgingen. Eiszapfenbehangene Höhlen und Hütten, als Zufluchtsorte für plötzliche Stürme gebaut, glichen ebenso vielen flüsternden Stimmen, die die Gefahren dieses Ortes den Reisenden ins Ohr raunten. Nimmerruhende Wirbel und Labyrinthe von Nebel wanderten, von einem Klagewind gescheucht, umher; und Schnee, die ringsum drohende Gefahr des Berges, gegen die man alle Sicherheitsmaßregeln getroffen, trieb heftig in die Tiefe.

Die Reihe der von ihrem Tagewerk müden Maulesel wand sich langsam an dem steilen Abhang in die Höhe: der vorderste wurde von einem Führer zu Fuß geleitet, der einen breitkrempigen Hut und eine runde Jacke hatte, auf der Schulter ein bis zwei Alpenstöcke trug und mit einem andern Führer plauderte. Die Schar der Reiter führte kein Gespräch. Die scharfe Kälte, die Anstrengung der Reise und ein neues Gefühl von gehemmtem Atem, zum Teil, als stiegen sie gerade aus sehr klarem, gekräuseltem Wasser, zum Teil, als wenn sie schluchzten, ließ sie schweigen.

Endlich glänzte ein Licht auf der Höhe der Felsentreppe durch Schnee und Nebel. Die Führer trieben die Maultiere an; diese hoben die gesenkten Köpfe, die Jungen der Reisenden waren gelöst, und unter einem plötzlich entstandenen Wirrwarr von Ausgleiten, Klettern, Klingeln, Klirren und Schwatzen kamen alle bei dem Tor des Klosters an.

Andre Maultiere waren nicht lange zuvor angekommen, einige mit reisenden Landleuten, andere mit Waren, und hatten den Schnee vor der Tür in einen Pfuhl von Schmutz getreten. Reitsättel und Zügel, Packsättel und Glockenriemen, Maultiere und Menschen, Laternen, Fackeln, Säcke, Mundvorräte, Fässer, Käselaibe, Tönnchen mit Honig und Butter, Strohbündel und Pakete mancherlei Art lagen in diesem aufgetauten Sumpfe und auf den Stufen durcheinander. Hier oben in den Wolken sah man alles durch Wolken, und alles schien sich in Wolken aufzulösen. Der Atem der Leute war Wolke, der Atem der Maultiere war Wolke, die Lichter waren von Wolke umgeben, die dicht nebenan Sprechenden waren vor Wolken nicht zu sehen, obgleich ihre Stimmen und alle andern Klänge überraschend klar waren. Von der wolkigen Reihe von Maultieren, die rasch innerhalb der Mauer Kreise bildeten, biß oder schlug gewöhnlich das eine das andre, und dann war der ganze Nebel zerstreut. Die Männer drangen dazwischen, Geschrei von Menschen und Tieren scholl aus dem Knäuel, und niemand, der dabeistand, konnte unterscheiden, was geschehen war. Mitten in diesem Treiben strömte der Klosterstall, der den untern Stock des Gebäudes bildete und in den man durch die Grundstocktür trat, außerhalb der all dieses Durcheinander sich umhertrieb, seinen Beitrag an Wolke aus, als wenn das ganze rauhe Gebäude mit nichts sonst gefüllt wäre und zusammenstürzen würde, sobald es sich geleert, so daß dann der Schnee auf die kahlen Berggipfel fiele.

Während all dieser Lärm und diese Unruhe unter den lebenden Reisenden herrschte, waren still versammelt in einem vergitterten, ein halbes Dutzend Schritte entfernten Hause, das von der gleichen Wolke umhüllt war und in das die gleichen Schneeflocken trieben, die toten Reisenden, die man auf dem Berge gefunden. Die vor vielen Wintern vom Sturm überraschte Mutter, die noch immer mit dem Säugling an der Brust in der Ecke stand; der Mann, der erfroren, während er aus Hunger oder Furcht den Arm zum Munde erhob, und ihn noch immer nach vielen Jahren an seine trockenen Lippen drückte. Eine schreckliche, auf seltsame Weise zusammengekommene Gesellschaft! Ein furchtbares Schicksal für eine Mutter, vorhergesehen zu haben: »Umgeben von so manchen und solchen Gefährten, die ich niemals gesehen und nie sehen werde, werden ich und mein Kind unzertrennlich auf dem großen St. Bernhard zusammen wohnen, Generationen überdauern, die uns zu sehen kommen und nie unsere Namen oder ein Wort von unserer Lebensgeschichte, außer dem Ende, erfahren werden.«

Die lebenden Reisenden dachten in jenem Augenblick wenig oder gar nicht an die toten. Sie dachten weit mehr daran, vor dem Klostertor abzusteigen und sich an dem Klosterfeuer zu wärmen. Aus dem Gewirr sich loswindend, das bereits weniger lärmend wurde, da man die Masse der Maultiere in dem Stall unterzubringen begann, eilten sie, schauernd vor Kälte, die Treppe hinauf in das Haus. Dort herrschte ein Geruch, der durch den Boden von den angebundenen Tieren herausdrang, ähnlich dem Geruch einer Menagerie von wilden Tieren. Drinnen befanden sich starke gewölbte Gänge, hohe steinerne Pfeiler und dicke Mauern mit kleinen verfallenen Fenstern – Bollwerke gegen die Bergstürme, als wenn es menschliche Feinde gewesen wären. Ferner düstere gewölbte Schlafzimmer, schrecklich kalt, aber reinlich und gastlich für Fremde eingerichtet. Endlich ein gemeinsames Konversationszimmer, in dem die Gäste saßen und aßen, wo auch bereits ein Tisch aufgestellt war und ein helles Feuer rot und hoch im Kamin flackerte.

In diesem Zimmer setzten sich die Reisenden, nachdem ihnen von zwei jungen Mönchen die für die Nacht bestimmten Quartiere angewiesen waren, um den Kamin. Es waren drei Gesellschaften: die erste, als die zahlreichste und bedeutendste, war die langsamste und hatte sich von einer und der andern auf dem Wege herauf überholen lassen. Sie bestand aus einer älteren Dame, zwei grauen Herren, zwei jungen Damen und ihrem Bruder. Diese hatten (vier Führer ungerechnet) einen Kurier, zwei Diener und zwei Kammermädchen bei sich: diese große lästige Gesellschaft wurde anderwärts unter einem Dache untergebracht. Diejenige Gesellschaft, die sie überholte und nun hinterdrein kam, bestand nur aus drei Gliedern: einer Dame und zwei Herren. Die dritte Gesellschaft, die von dem Tal auf der italienischen Seite des Passes heraufkam und zuerst da war, bestand aus vier Gliedern: einem vollblütigen, hungrigen und schweigsamen deutschen Hofmeister mit einer Brille, der sich auf einer Tour mit drei jungen Männern, seinen Zöglingen, befand, lauter vollblütigen, hungrigen und schweigsamen Menschen mit Brillen.

Diese drei Gruppen saßen rings um das Feuer, sich trocken ansehend und auf das Nachtessen wartend. Nur einer unter ihnen, einer von den Herren, die zu der Gesellschaft von den dreien gehörten, machte einen Ansatz zu einer Unterhaltung. Indem er seine Angelschnur nach dem Häuptling des bedeutenden Stammes auswarf, während er sich an seine eigenen Reisegenossen wandte, bemerkte er in einem Ton, der die ganze Gesellschaft einschloß, wenn sie eingeschlossen sein wollte, daß es ein langer Tag gewesen und daß er die Damen bedauere. Daß er fürchte, eine von den jungen Damen sei nicht stark genug und nicht hinlänglich ans Reisen gewöhnt und sei vor zwei bis drei Stunden außerordentlich ermüdet gewesen. Er habe von seinem Standort im Nachtrab aus bemerkt, daß sie ganz erschöpft auf ihrem Maultier gesessen. Er habe später zwei- oder dreimal sich die Ehre gegeben, einen von den Führern zu fragen, der nach hinten gekommen sei, wie es der jungen Dame gehe. Er sei entzückt zu erfahren, daß sie sich erholt und daß es nur ein vorübergehendes Unbehagen gewesen wäre. Er glaube (diesmal faßte er den Häuptling ins Auge und wandte sich an ihn), es werde ihm erlaubt sein, seine Hoffnung auszusprechen, daß sie sich nun ganz wohl befinde und nicht bereue, die Reise gemacht zu haben.

»Meine Tochter, – ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir«, versetzte der Häuptling, – »ist vollkommen wiederhergestellt und fand großes Interesse an der Gesellschaft.«

»Vielleicht zum erstenmal in den Bergen?« sagte der einschmeichelnde Reisende.

»Zum – ha – zum erstenmal in den Bergen«, sagte der Häuptling. »Aber Sie sind damit vertraut, mein Herr?« fuhr der einschmeichelnde Reisende fort.

»Ich bin – hm – ziemlich vertraut damit. Nicht aus den letzten Jahren. Nicht aus den letzten Jahren«, versetzte der Häuptling, mit der Hand winkend.

Der einschmeichelnde Reisende antwortete auf das Winken der Hand mit einer Verbeugung des Kopfes und wandte sich von dem Häuptling zu der zweiten jungen Dame, die er bis jetzt noch nicht angeredet hatte, außer, daß er sie zu den Damen zählte, die er so innig bedauerte.

Er sprach die Hoffnung aus, daß die Anstrengungen des Tages sie nicht zu sehr mitgenommen hätten.

»Mitgenommen haben sie mich allerdings«, versetzte die junge Dame, »aber sie haben mich nicht ermüdet.«

Der einschmeichelnde Reisende machte ihr sein Kompliment über die richtige Unterscheidung. Das habe er sagen wollen. Jede Dame müsse sich freilich über dieses sprichwörtlich unfügsame und beschwerliche Tier, den Maulesel, beschweren.

»Wir mußten natürlich«, sagte die junge Dame, die ziemlich zurückhaltend und stolz war, »die Wagen und den Fourgon in Martigny zurücklassen. Und die Unmöglichkeit, etwas, was man braucht, an diesen unzugänglichen Ort herauszubringen, und die Notwendigkeit, allen Komfort zurückzulassen, ist nicht sehr angenehm.«

»Ein wüster Ort, allerdings«, sagte der einschmeichelnde Reisende.

Die ältliche Dame, die ein Muster von pünktlichem Anzug war und die in ihrer Art vollkommen genannt werden konnte, wenn man sie als ein Stück Maschine betrachtete, warf hier mit sanfter leiser Stimme eine Bemerkung ein.

»Aber wie andere unbequeme Orte«, bemerkte sie, »muß man ihn sehen. Als ein Ort, von dem viel die Rede, muß er mal besucht werden.«

»Oh! ich habe durchaus nichts dagegen, daß man ihn sieht, ich versichere Sie, Mrs. General«, versetzte die andere nachlässig.

»Sie, Madame«, sagte der einschmeichelnde Reisende, »haben diesen Ort schon früher besucht?«

»Ja«, versetzte Mrs. General. »Ich war früher schon hier. Ich möchte Ihnen raten, meine Liebe«, sagte sie zu der genannten jungen Dame, »Ihr Gesicht vor der Hitze des Feuers zu schützen, nachdem es der Bergluft und dem Schnee ausgesetzt gewesen. Auch Ihnen, meine Liebe«, fügte sie, an die andere junge Dame gewandt, hinzu, die sogleich tat, wie ihr anempfohlen worden, während die erstere einfach sagte: »Ich danke Ihnen, Mrs. General; ich fühle mich ganz behaglich so und ziehe es vor, zu bleiben, wie ich bin.«

Der Bruder, der vom Stuhl aufgestanden war, um das Piano zu öffnen, das in dem Zimmer stand, und hineingepfiffen hatte, schlenderte jetzt, das Monokel im Auge, wieder zu dem Feuer zurück. Er war im vollsten und vollständigsten Reiseanzug. Die Welt schien kaum groß genug, um ihm eine seiner Equipierung entsprechende Reisegelegenheit zu bieten.

»Diese Burschen brauchen ungeheuer lange zu ihrem Nachtessen«, sagte er schleppend. »Ich bin begierig, was sie uns geben werden! Hat jemand ein Vorstellung davon?«

»Keine gebratenen Menschen, glaube ich«, antwortete die Stimme des zweiten Herrn von der Gesellschaft der drei.

»Ich vermute nicht. Was meinen Sie?« fragte er.

»Daß, da Sie nicht bei dem allgemeinen Souper aufgesetzt werden sollen, Sie uns vielleicht die Gefälligkeit erweisen werden, sich nicht an dem allgemeinen Feuer zu rösten«, versetzte der andere.

Der junge Herr, der in einer bequemen Stellung am Kamin stand, das Monokel auf die Gesellschaft gerichtet, den Rücken nach dem Feuer zu und die Rockflügel unter den Armen, als ob er zum Hühnergeschlecht gehörte und an den Spieß gesteckt wäre, um zu braten, verlor bei dieser Antwort die Fassung; er schien im Begriffe, eine Erklärung zu fordern, als man entdeckte – indem alle Augen auf den Sprechenden gerichtet waren –, daß die Dame, die bei ihm war, ein junges und hübsches Geschöpf, nichts von dem gehört hatte, was vorgegangen, da sie ohnmächtig den Kopf auf die Schulter hatte sinken lassen.

»Ich glaube«, sagte der Herr in gedämpften Tone, »es wäre das beste, ich brächte sie sogleich nach ihrem Zimmer. Wollen Sie jemanden rufen, daß man Licht bringt?« fügte er, an seinen Begleiter gewandt, hinzu; »man muß uns den Weg zeigen. Ich glaube nicht, daß ich mich in diesem seltsamen Labyrinth zurechtfinden werde.«

»Bitte, lassen Sie mich mein Mädchen rufen«, sagte die größere von den jungen Damen.

»Bitte, lassen Sie mich dies Wasser an ihre Lippen bringen«, sagte die kleinere, die bis jetzt noch nicht gesprochen hatte.

Da jeder tat, was er vorschlug, so war kein Mangel an Beistand. Und als gar die beiden Mädchen eintraten (begleitet vom Kurier, damit niemand ihnen den Mund verstopfe, wenn er sie unterwegs in einer fremden Sprache anredete), war sogar die Aussicht auf zuviel Beistand. Als der Herr dies sah, sagte er einige Worte zu der kleinern und jüngern von den beiden Damen, legte den Arm seiner Frau um seine Schulter, hob sie in die Höhe und trug sie hinweg.

Sein Freund, der mit den andern Fremden nun allein war, ging langsam in dem Zimmer auf und ab, ohne wieder zu dem Feuer zu kommen: er zupfte nachdenklich an seinem schwarzen Schnurrbart, als ob er sich für die letzte Erwiderung verantwortlich fühlte. Während der Gegenstand derselben in einer Ecke Schmähungen ausstieß, wandte sich der Häuptling stolz an diesen Herrn.

»Ihr Freund, mein Herr«, sagte er, »ist – ha – etwas ungeduldig, und in seiner Ungeduld weiß er vielleicht nicht genau, was er andern schuldig ist – aber wir wollen darüber hinwegsehen, wir wollen darüber hinwegsehen. Ihr Freund ist etwas ungeduldig, mein Herr.«

»Es mag wohl sein, mein Herr«, versetzte der andere. »Da ich jedoch die Ehre gehabt, die Bekanntschaft dieses Herrn im Hotel zu Genf zu machen, wo wir und zahlreiche gute Gesellschaft vor einiger Zeit uns trafen, und da ich die Ehre gehabt, bei verschiedenen späteren Ausflügen mich seiner Gesellschaft und Unterhaltung zu erfreuen, so kann ich nichts hören – nicht einmal von einem Mann Ihres Äußern und Ihrer Stellung, was diesem Gentleman nachteilig wäre.«

»Sie sind durchaus in keiner Gefahr, mein Herr, irgend etwas Derartiges von mir zu hören. Wenn ich die Bemerkung machte, daß Ihr Freund Ungeduld an den Tag gelegt, so sage ich damit nichts Nachteiliges. Ich mache diese Bemerkung nur, weil nicht zu bezweifeln ist, daß mein Sohn, der durch Geburt und – ha – durch Erziehung – hm – Gentleman ist, sich bereitwillig jedem artig ausgesprochenen Wunsche bezüglich des Feuers gefügt, das für alle Glieder dieser Gesellschaft gleich zugänglich ist. Was ich grundsätzlich richtig finde, denn – ha – alle sind –hm – in solchen Fällen gleichberechtigt.«

»Gut!« lautete die Antwort. »Und damit genug! Ich bin Ihres Sohnes ergebener Diener. Ich bitte Ihren Sohn, die Versicherung meiner vollkommensten Hochachtung zu empfangen. Und nun, mein Herr, gestehe ich, gestehe ich offen, daß mein Freund bisweilen von sarkastischem Temperament ist.«

»Die Dame ist Ihres Freundes Frau, mein Herr?«

»Die Lady ist meines Freundes Frau, mein Herr.«

»Sie ist sehr schön.«

»Sie ist unvergleichlich schön. Sie befinden sich im ersten Jahre ihrer Verbindung. Sie sind zum Teil noch auf einer Hochzeits-, zum Teil auf einer Kunstreise.«

»Ihr Freund ist ein Künstler?«

Der Herr antwortete, indem er die Finger seiner rechten Hand küßte und den Kuß armhoch zum Himmel emporwarf, was soviel heißen sollte, wie: ich weihe ihn den himmlischen Mächten als einen unsterblichen Künstler.

»Er ist jedoch ein Mann aus vornehmer Familie«, fügte er hinzu. »Er hat die besten Beziehungen. Er ist mehr als ein Künstler. Er stammt aus sehr vornehmem Hause. Er mag seine Verwandtschaft wirklich stolz, ungeduldig, sarkastisch (ich erlaube mir beide Ausdrücke) zurückgestoßen haben, aber er besitzt sie einmal. Funken, die während unserer Unterhaltung fielen, haben mich darüber belehrt.«

»Nun! Ich hoffe«, sagte der stolze Herr, mit einer Miene, als wollte er die Sache endlich abtun, »daß die Unpäßlichkeit der Dame nur vorübergehend sein werde.«

»Das hoffe ich auch, mein Herr.« »Bloße Ermüdung, glaube ich.«

»Nicht Ermüdung allein, mein Herr, denn ihr Maultier strauchelte heute, und sie fiel aus dem Sattel. Sie fiel leicht und stand ohne Unterstützung wieder auf den Füßen; dann ritt sie lachend voraus: aber sie klagte gegen Abend über eine leichte Quetschung in der Seite. Sie sprach mehr als einmal davon, als wir hinter Ihnen den Berg hinauf ritten.«

Der Häuptling des großen Gefolges, der gnädig, aber nicht vertraulich war, schien nun der Ansicht zu sein, daß er sich mehr als genug herablassend bewiesen. Er sagte nichts mehr, und es trat für eine Viertelstunde Stille ein bis zum Abendessen.

Mit dem Abendessen kam einer von den jungen Mönchen (es schien hier keine alten Mönche zu geben) und setzte sich oben an die Tafel. Das Mahl war ganz ähnlich wie das Abendessen in einem gewöhnlichen Schweizer Hotel, und guter roter Wein, in einer heitereren Luft gewachsen, fehlte nicht. Der reisende Künstler kam ruhig zurück und nahm seinen Platz am Tisch ein, als die übrigen sich setzten: er schien nicht entfernt mehr an sein letztes Scharmützel mit dem Fremden in dem vollkommenen Reiseanzug zu denken.

»Bitte«, fragte er den Wirt über seine Suppe hinüber, »hat Ihr Kloster jetzt viele von seinen berühmten Hunden?«

»Monsieur, drei.«

»Ich sah drei im Gange unten. Ohne Zweifel die fraglichen drei.«

Der Wirt, ein schlanker, helläugiger, ernster, junger Mann von feinen Manieren, dessen Kleidung in einer schwarzen Kutte mit Streifen von weißem Tuch darüber, wie Tragbänder, bestand und der der klösterlichen Eigenart der Bernhardiner Mönche nicht mehr glich als wie der klösterlichen Zucht der Hunde von St. Bernhard, antwortete, ohne Zweifel würden es die drei fraglichen sein.

»Und ich glaube«, sagte der reisende Künstler, »ich habe einen derselben früher schon gesehen.«

Es sei möglich. Es sei ein wohlbekannter Hund. Monsieur könne ihn leicht im Tale oder sonstwo an dem See gesehen haben, wenn er (der Hund) mit einem vom Orden hinabgegangen, um Unterstützung für das Kloster zu sammeln.

»Was regelmäßig zu einer bestimmten Zeit im Jahr geschieht, nicht wahr?«

Monsieur habe recht.

»Und nie ohne den Hund. Der Hund ist sehr wichtig.«

Monsieur habe wieder recht. Der Hund sei sehr wichtig. Die Leute interessieren sich sehr für den Hund als einen von den überall bekannten Hunden, wie Mademoiselle begreifen werde.

Mademoiselle war etwas langsam im Begreifen, als ob sie noch nicht recht an das Französische gewöhnt wäre. Mrs. General begriff es jedoch statt ihrer.

»Fragen Sie ihn, ob er viele Menschen gerettet hat?« sagte der junge Mann, der seine Fassung verloren hatte, in seinem heimischen Englisch.

Der Wirt bedurfte keiner Übersetzung der Frage. Er antwortete rasch französisch: »Nein. Dieser niemanden.«

»Warum nicht?« fragte derselbe Herr.

»Entschuldigen Sie«, antwortete der Wirt gelassen, »geben Sie ihm die Gelegenheit, und er wird es sicher tun. Zum Beispiel, ich bin fest überzeugt«, fügte er, indem er das Kalbfleisch aufschnitt, um es herumreichen zu lassen, ruhig nach dem jungen Mann hinüberlächelnd, der aus der Fassung gekommen, hinzu: »daß, wenn Sie, Monsieur, ihm die Gelegenheit geben sollten, er mit größtem Eifer sich beeilen würde, seine Pflicht zu tun.«

Der reisende Künstler lachte. Der einschmeichelnde Reisende (der die lebhafte Besorgnis an den Tag legte, er möchte nicht seinen vollen Anteil an dem Abendessen erhalten) wischte sich einige Tropfen Wein mit einem Stück Brot von dem Schnurrbart und mischte sich in das Gespräch.

»Es wird etwas spät, mein Vater«, sagte er, »für Vergnügungsreisende, nicht wahr?«

»Ja, es ist spät. Noch zwei bis drei Wochen, und wir liegen im Winterschnee begraben.«

»Dann«, sagte der einschmeichelnde Reisende, »gilt’s den ausscharrenden Hunden und den begrabenen Kindern, nach den Bildern.«

»Entschuldigen Sie«, sagte der Wirt, der die Anspielung nicht ganz verstand, »wie ist das gemeint mit den ausscharrenden Hunden und begrabenen Kindern, nach den Bildern?«

Der reisende Künstler fiel wieder ins Wort, ehe eine Antwort gegeben werden konnte.

»Wissen Sie nicht«, fragte er seinen Reisegenossen kalt über den Tisch hinüber, »daß nur Schmuggler im Winter dieses Weges kommen oder irgendein Geschäft auf diesem Wege haben können?«

»Herr, mein Gott! Nein, davon habe ich nie gehört.«

»Dem ist aber so. Und da sie die Vorzeichen des Wetters ziemlich gut wissen, so machen sie den Hunden nicht viel zu schaffen – die infolgedessen auch ziemlich ausgestorben sind – obwohl diese Herberge bequem für sie gelegen ist. Ihre jungen Familien, sagte man mir, lassen sie gewöhnlich zu Hause. Aber es ist ein großer Gedanke!« rief der reisende Künstler, unerwartet in einen enthusiastischen Ton ausbrechend. »Es ist eine erhabene Idee. Es ist die schönste Idee von der Welt und preßt uns Tränen aus, beim Himmel!« Nachdem er geendigt, aß er mit großer Ruhe an seinem Kalbfleisch fort.

Es lag genug höhnenden Widerspruchs in diesen Worten, um einen Mißton hervorzurufen, obgleich die Art, wie sie hervorgebracht wurden, sehr fein und die Person, die sie vorbrachte, sehr viel Manier hatte, und obgleich der herabsetzende Teil derselben so geschickt eingekleidet war, daß es für ein an die englische Sprache nicht vollkommen gewöhntes Ohr sehr schwer war, es zu verstehen oder selbst, wenn man es verstanden, sich beleidigt zu fühlen, so einfach und leidenschaftslos war der Ton. Nachdem er mit seinem Kalbfleisch mitten in der allgemeinen Stille zu Ende war, richtete der Sprecher wieder das Wort an seinen Freund.

»Sehen Sie«, sagte er in seinem früheren Ton, »sehen Sie diesen Herrn, unsern Wirt, an, der noch nicht mal in dem besten Mannesalter steht und auf so anmutige Weise und mit so seiner Lebensart und Bescheidenheit uns die Honneurs macht! Manieren für eine Krone geeignet! Essen Sie mit dem Lord-Mayor von London (wenn Sie eine Einladung bekommen können) und bemerken Sie den Kontrast. Dieser liebe Junge, mit dem feinstgeschnittenen Gesicht, das ich jemals sah, einem Gesicht von vollendeter Zeichnung verläßt ein tätiges Leben und kommt hier herauf, ich weiß nicht, wie viele Fuß über dem Spiegel des Sees, in keiner andern Absicht (ausgenommen, hoffe ich, um sich in einem trefflichen Refektorium zu ergötzen), als um ein Hotel für müßige arme Teufel, wie Sie und ich, zu halten und die Rechnung unsrem Gutdünken zu überlassen! Wie, ist das nicht ein schönes Opfer? Was brauchen wir mehr, um uns rühren zu lassen? Weil nicht acht bis neun Monate lang von den zwölfen gerettete Leute von interessantem Äußern sich am Halse der klügsten Tiere, die hölzerne Flaschen tragen, festhalten, sollen wir deshalb den Ort tadeln? Nein! Segen über diesen Ort. Es ist ein großer Ort, ein herrlicher Ort!«

Die Brust des grauen Gentleman, der der Häuptling der bedeutenden Gesellschaft war, schwoll, als wollte er dagegen protestieren, daß man ihn unter die armen Teufel zähle. Kaum hatte der reisende Künstler zu sprechen aufgehört, als er selbst mit großer Würde das Wort ergriff, als läge es ihm ob, an den meisten Orten das erste Wort zu führen, und er hätte diese Pflicht eine kurze Weile versäumt.

Er teilte mit großer Gewichtigkeit ihrem Wirt seine Ansicht mit, daß sein Leben im Winter hier ein höchst trauriges sein müsse.

Der Wirt gestand dem Monsieur zu, daß es etwas einförmig sei. Die Luft sei lange Zeit schwer zu atmen. Die Kälte sei sehr streng. Man müsse jung und kräftig sein, um es auszuhalten. Sei man dies jedoch und habe man den Segen des Himmels …

Ja, das sei sehr gut. »Aber die Gefangenschaft?« fragte der graue Herr.

Es gebe viele Tage, selbst bei schlechtem Wetter, wo es möglich sei, auszugehen. Es sei dann ihre Gewohnheit, einen kleinen Weg zu bahnen und sich dort Bewegung zu machen.

»Aber der Raum«, machte der graue Herr geltend. »So klein! So – ha – sehr beschränkt.«

Monsieur möge sich erinnern, daß man die Zufluchtorte besuchen und auch dorthin Wege bahnen müsse.

Monsieur machte dagegen geltend, daß der Raum –ha – hm – so schmal sei. Mehr als das. Es sei immer derselbe, immer derselbe. Mit einem ausweichenden Lächeln hob und senkte der Wirt sanft seine Schultern. Das sei wahr, bemerkte er, aber es möge ihm zu sagen gestattet sein, daß beinahe alle Dinge ihre verschiedenen Gesichtspunkte hätten. Monsieur und er sehen dies sein armes Leben nicht vom gleichen Gesichtspunkt an. Monsieur sei nicht an Gefangenschaft gewöhnt.

»Ich – ha – ja, sehr wahr«, sagte der graue Gentleman. Er schien einen tüchtigen Stoß von der Kraft dieses Beweises zu bekommen.

Monsieur, als ein reisender Engländer, umgeben von allen Mitteln, angenehm zu reisen, ohne Zweifel im Besitz von Vermögen, Wagen, Dienerschaft –

»Ja wohl, ja wohl. Ganz richtig –« sagte der Gentleman.

Monsieur könne sich nicht leicht in die Lage einer Person setzen, die nicht die Macht habe, zu wählen, ich will heute dahin gehen und morgen dorthin: ich will diese Grenzen überschreiten, die Fesseln, die mich binden, erweitern. Monsieur könnte sich vielleicht nicht vorstellen, wie der Geist sich in solchen Dingen der gebieterischen Notwendigkeit fügt.

»Es ist wahr«, sagte Monsieur. »Wir wollen – ha – die Sache nicht weiter verfolgen. Sie sind – hm – sehr genau, ich zweifle nicht daran. Wir wollen nicht weiter davon reden.«

Als das Essen vorüber war, zog er während des Sprechens seinen Stuhl weg und bewegte sich nach seinem früheren Platz bei dem Feuer. Da es am größten Teil des Tisches sehr kalt war, nahmen die andern Gäste gleichfalls ihre früheren Sitze bei dem Feuer ein, denn sie hatten die Absicht, sich vor Schlafengehen tüchtig zu wärmen. Als sie sich vom Tische erhoben, verbeugte sich der Wirt vor allen Anwesenden, wünschte ihnen gute Nacht und ging von dannen. Zuvor hatte ihn jedoch der einschmeichelnde Reisende gefragt, ob sie etwas Wein heiß gemacht bekommen könnten; und da er »ja« geantwortet und das Getränk kurz darauf hereingesandt, setzte sich dieser Reisende in die Mitte der Gruppe und war in der vollen Hitze des Feuers bald damit beschäftigt, es den übrigen zu servieren.

Um diese Zeit schlüpfte die jüngere von den beiden jungen Damen, die stumm und aufmerksam in ihrer dunklen Ecke (das Kaminfeuer war das Hauptlicht in dem finstern Zimmer, die Lampe brannte rauchig und düster) auf das gehorcht, was von der abwesenden Dame gesprochen wurde, zur Tür hinaus. Sie wußte nicht, welchen Weg sie gehen sollte, als sie leise dieselbe geschlossen hatte; nach einigem Hin- und Hergehen in den hallenden Gängen und den zahlreichen Wegen kam sie an ein Zimmer in einer Ecke des Hauptgangs, wo die Diener beim Abendessen saßen. Diese gaben ihr eine Lampe und zeigten ihr den Weg nach dem Zimmer der Dame.

Es lag über der großen Treppe im obern Stock. Da und dort waren die kahlen weißen Wände durch ein eisernes Gitter unterbrochen, und sie glaubte, als sie vorüberging, der Ort sei eine Art Gefängnis. Die rundbogige Tür des Zimmers oder der Zelle der Dame war nicht ganz geschlossen. Nachdem sie zwei- bis dreimal daran geklopft hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, drückte sie sie langsam auf und sah hinein.

Die Dame lag mit geschlossenen Augen außen auf dem Bett, durch wollene Decken und Umschlagtücher, mit denen sie bei ihrem Erwachen aus der Ohnmacht zugedeckt worden, vor der Kälte geschützt. Ein düstres Licht in der tiefen Fensternische verbreitete wenig Helle in dem gewölbten Zimmer. Die Fremde trat schüchtern an das Bett und sagte leise flüsternd: »Befinden Sie sich besser?«

Die Dame lag im Schlummer, und das Geflüster war zu schwach, um sie aufzuwecken. Ihr Besuch, der noch immer ganz stille stand, sah sie aufmerksam an.

»Sie ist sehr hübsch«, sagte sie bei sich. »Ich sah noch nie ein so schönes Gesicht. O, wie anders sehe ich aus!«

Es war ein seltsamer Ausspruch, aber er hatte seine verborgene Bedeutung, denn ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich weiß, ich hatte recht. Ich weiß, er sprach von ihr, an jenem Abend. Ich konnte sehr leicht über alles andre im Irrtum sein. Aber darüber nicht, nicht darüber!«

Mit sanfter und zarter Hand strich sie eine verirrte Locke von dem Haar der Schlafenden zurück und berührte dann die Hand, die außerhalb der Decke lag.

»Ich sehe sie gern an«, atmete sie leicht vor sich hin. »Ich sehe gerne, was ihn so sehr angezogen hat.«

Sie hatte ihre Hand noch nicht losgelassen, als die Schlafende ihre Augen öffnete und zurückfuhr.

»Bitte, beunruhigen Sie sich nicht. Ich bin nur eine von den Reisenden unten. Ich kam, um Sie zu fragen, ob Sie sich besser befänden und ob ich etwas für Sie tun könnte.«

»Ich danke: Sie waren bereits so freundlich, Ihr Kammermädchen zu meiner Unterstützung zu senden.«

»Nein, nicht ich, das war meine Schwester. Befinden Sie sich besser?«

»Viel besser. Es ist nur eine leichte Quetschung; man hat nach ihr gesehen und nun geht es beinahe ganz gut. Es machte mich nur einen Augenblick schwindlig und ohnmächtig. Es hatte mir zuvor schon weh getan. Aber zuletzt überwältigte es mich plötzlich.«

»Darf ich bei Ihnen bleiben, bis jemand kommt? Ist es Ihnen angenehm?«

»Es würde mir sehr lieb sein, denn es ist hier sehr einsam; aber ich fürchte, Sie werden die Kälte zu sehr fühlen.«

Ich kümmere mich nicht um die Kälte. Ich bin nicht zart, wenn ich auch danach aussehe.« Sie rückte augenblicklich einen von den rohen Stühlen an das Bett und setzte sich. Die andere nahm ebenso rasch einen Teil eines Reisemantels vom Bett und legte ihn auf sie, so daß ihr Arm, indem sie ihn um sie hielt, auf ihrer Schulter ruhte.

»Sie haben so ganz das Aussehen einer freundlichen Pflegerin«, sagte die Dame, sie anlächelnd, »daß es mir ist, als wenn sie aus meiner Heimat zu mir kämen.«

»Das freut mich sehr.«

»Ich träumte gerade von der Heimat, als ich aufwachte. Von meiner alten Heimat, meine ich, ehe ich verheiratet war.«

»Und ehe Sie so weit davon entfernt waren.«

»Ich war schon weiter entfernt von ihr, aber damals war der beste Teil derselben bei mir, und ich vermißte nichts. Ich fühlte mich so verlassen, als ich einschlief, und, die Heimat vermissend, wanderten meine Gedanken zu ihr zurück.«

Es lag ein traurig inniger und kummervoller Klang in ihrer Stimme, der ihren Gast einen Augenblick lang abhielt, sie anzusehen.

»Es ist ein seltsamer Zufall, der uns zuletzt unter dieser Decke zusammenführt, mit der Sie mich umhüllt haben«, sagte die Fremde nach einer Pause: »denn Sie müssen wissen, ich habe Sie schon lange gesucht.«

»Sie haben mich gesucht?«

»Ich glaube, ich habe ein kleines Billett bei mir, das ich Ihnen geben sollte, wenn ich Sie fände. Da ist es. Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist es an Sie adressiert. Nicht wahr?«

Die Dame nahm es, sagte ja und las es. Ihr Besuch beobachtete sie, während sie dies tat. Es war sehr kurz. Sie errötete etwas, als sie ihre Lippen an die Wangen ihres Besuches legte, und drückte ihre Hand.

»Die liebe junge Freundin, der er mich vorstellt, soll mir bisweilen ein Trost sein, sagt er. Sie ist wahrlich ein Trost für mich, im ersten Augenblick, da ich sie sehe.«

»Vielleicht kennen Sie«, sagte die Fremde zögernd, »vielleicht kennen Sie meine Geschichte nicht? Vielleicht hat er Ihnen nie meine Geschichte erzählt?«

»Nein.«

»O nein, warum sollte er auch! Ich habe selbst kaum ein Recht, es zu tun, da ich nicht dazu aufgefordert worden bin. Es ist nicht viel dabei, aber sie möchte Ihnen erklären, weshalb ich Sie bitte, nichts von dem Briefe hier zu sagen. Sie sahen vielleicht meine Familie bei mir? Einige Mitglieder derselben – ich sage das zu Ihnen – sind etwas stolz, etwas vorurteilsvoll.«

»Sie sollen ihn wieder haben«, sagte die andere, »dann ist mein Gatte sicher, daß er ihn nicht sieht. Er möchte ihn sonst durch irgendeinen Zufall finden oder davon sprechen. Wollen Sie ihn wieder in Ihren Busen stecken, um dessen gewiß zu sein?«

Sie tat es mit großer Vorsicht. Ihre kleine, zarte Hand hielt den Brief noch, als sie jemand im Gange draußen hörten.

»Ich versprach«, sagte die Fremde aufstehend, »daß ich ihm schreiben wolle, wenn ich sie gesehen hätte (ich mußte Sie sicher früher oder später sehen), um ihm zu sagen, ob Sie wohlauf und glücklich seien. Ich darf wohl sagen, daß Sie wohl und glücklich seien?« »Ja, ja, ja! Sagen Sie ihm, ich sei sehr wohlauf und sehr glücklich. Und ich danke ihm herzlich und werde ihn nie vergessen.«

»Ich werde Sie morgen früh sehen. Wir werden uns somit recht bald wiedersehen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht. Ich danke Ihnen, danke Ihnen. Gute Nacht, meine Liebe.«

In größter Hast und Unruhe nahmen sie voneinander Abschied, und ebenso rasch war die Fremde aus der Tür. Sie hatte erwartet, dem Gatten der Dame zu begegnen: aber die im Gange befindliche Person war nicht er: es war der Reisende, der die Weintropfen mit einem Stück Brot vom Schnurrbart gewischt hatte. Als er die Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um – denn er ging in der Dunkelheit.

Seine Höflichkeit, die ausnehmend groß war, wollte nicht dulden, daß sie sich selbst die Treppe hinableuchte und allein gehe. Er nahm ihre Lampe, hielt sie so, daß das beste Licht auf die steinerne Treppe fiel, und begleitete sie den ganzen Weg bis zu dem Speisezimmer. Sie hatte Mühe, auf dem Weg hinab zu verbergen, daß sie jeden Augenblick nahe daran war, zitternd zusammenzusinken; denn die Erscheinung dieses Reisenden war ihr besonders unangenehm. Sie hatte vor dem Essen in ihrer Ecke gesessen und sich vorgegaukelt, was er wohl in den Szenen und an den Orten ihrer Vergangenheit für eine Rolle gespielt, um ihr einen solchen Widerwillen einzuflößen, der ihn ihr nahezu furchtbar erscheinen ließ.

Er begleitete sie mit seiner lächelnden Höflichkeit hinab, führte sie in das Zimmer und nahm seinen Sitz am besten Platz des Kamins wieder ein. Dort saß er, während das Feuer, das bereits schwächer zu brennen begann, in dem dunklen Zimmer seinen Schein bald heller, bald matter auf ihn warf, die Beine nach der Wärme ausgestreckt, den heißen Wein bis auf den Grund leerend, während ein ungeheurer Schatten seine Bewegungen an Wand und Decke nachahmte.

Die müde Gesellschaft war aufgebrochen, und alle andern waren zu Bett gegangen, außer dem Vater der jungen Dame, der in seinem Stuhl am Fenster schlummerte. Der Reisende hatte sich die Mühe genommen, seine Taschenflasche mit Branntwein aus seinem entfernten, im zweiten Stock befindlichen Schlafzimmer zu holen. Er sagte es ihnen, als er den Inhalt in den Rest des Weines goß und ihn mit neuem Behagen trank.

»Darf ich Sie fragen, ob Sie auf dem Wege nach Italien sind?«

Der graue Herr war aufgestanden und rüstete sich zum Gehen. Er antwortete bejahend.

»Ich gleichfalls!« sagte der Reisende. »Ich darf wohl hoffen. Sie in schöneren Gegenden und unter freundlicheren Umständen wieder zu begrüßen als auf diesem traurigen Berge.«

Der Fremde verbeugte sich, ziemlich entfernt, und sagte, er sei ihm sehr verbunden.

»Wir armen Leute, Sir«, sagte der Reisende, den Schnurrbart mit der Hand trocknend, denn er hatte ihn in den Wein und Branntwein getaucht, »wir armen Leute reisen nicht wie Fürsten, aber die Galanterie und feinere Lebensart hat auch für uns ihren hohen Wert. Ihre Gesundheit, mein Herr!«

»Ich danke Ihnen, mein Herr.«

»Auf die Gesundheit Ihrer ausgezeichneten Familie, – der schönen Ladies, Ihrer Töchter!«

»Nein Herr, ich danke Ihnen abermals. Ich wünsche Ihnen gute Nacht. Meine Liebe, warten unsre – ha – Leute?«

»Sie sind ganz nahe zur Stelle, Vater.«

»Erlauben Sie!« sagte der Reisende, indem er aufstand und die Tür offen hielt, als der alte Herr, seinen Arm in den seiner Tochter steckend, durch das Zimmer darauf zuschritt. »Angenehme Ruhe! Auf das Vergnügen, Sie wiederzusehen! Auf morgen denn!«

Als er in der höflichsten Art und mit dem feinsten Lächeln seine Hand küßte, schmiegte sich die junge Dame fester an ihren Vater an und ging voller Angst, ihn zu berühren, an ihm vorüber.

»Hm!« sagte der einschmeichelnde Reisende, der sich gehen und seinen Ton sinken ließ, als er allein war. »Wenn sie sich alle zu Bett begeben, nun, so muß ich eben auch gehen. Sie haben ja eine verdammte Eile. Man sollte glauben, die Nacht wäre lang genug in dieser schauerlich kalten Stille und Einsamkeit, wenn man erst in zwei Stunden zu Bett ginge!«

Den Kopf zurücklehnend, während er das Glas austrank, fielen seine Blicke auf das Fremdenbuch, das, nebst Feder und Tinte, offen auf dem Piano lag, wie wenn die Namen während seiner Abwesenheit eingezeichnet worden wären. Er nahm es in die Hand und las die eingetragenen Namen:

William Dorrit, Esquire, Frederick Dorrit, Esquire, Edward Dorrit, Esquire, und Dienerschaft. Von Frankreich Miß Dorrit, nach Italien. Miß Fanny Dorrit, Mrs. General, Mr. und Mrs. Henry Gowan. Von Frankreich nach Italien.

Dazu fügte er mit einer kleinen, verwickelten Handschrift, in einen dünnen Schnörkel endigend, der einem um alle übrigen Namen geworfenen Lasso ähnlich sah:

Blandois. Paris. Von Frankreich nach Italien.

Dann begab er sich, während seine Nase über seinen Schnurrbart herabkam und sein Schnurrbart sich unter seiner Nase bäumte, nach der ihm angewiesenen Kammer.

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Die Träume der Mrs. Flintwinch mehren sich.

Die kühlen Wartezimmer des Circumlocution Office, wo er ziemlich viele Zeit in Gesellschaft verschiedener lästiger Sträflinge verbrachte, die verurteilt waren, bei lebendigem Leibe auf diesem Rade gerädert zu werden, hatten Arthur Clennam während drei oder vier aufeinanderfolgender Tage reichliche Gelegenheit geboten, den Gegenstand seiner letzten flüchtigen Begegnung mit Miß Wade und Tattycoram genügend zu erschöpfen. Er hatte darüber nicht mehr herausbringen können und war darüber auch nicht unklarer geworden, und auf diesem unbefriedigenden Punkte sah er sich halb gezwungen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Während dieser Zeit war er nicht in dem traurigen Hause seiner Mutter gewesen. Da aber jetzt wieder einer seiner gewöhnlichen Besuchsabende gekommen war, verließ er seine Wohnung und seinen Associé gegen neun Uhr und ging langsam nach der düstern Heimat seiner Jugend.

Es machte immer auf seine Phantasie den Eindruck von etwas Grimmerfülltem, Geheimnisvollem und Traurigem; und seine Phantasie war empfänglich genug, die ganze Nachbarschaft in dem Anstrich eines dunklen Schattens zu sehen. Wenn er in einer trüben Nacht durch die dunklen Straßen schritt, schienen sie ihm alle wie Niederlagen drückender Geheimnisse. Die verlassenen Kontors mit ihren Geheimnissen von Büchern und Papieren, in Kasten und Schränken eingeschlossen: die Bankhäuser mit ihren Geheimnissen von feuerfesten Zimmern und Kellern, deren Schlüssel sich in sehr wenigen geheimen Taschen und sehr wenigen geheimen Herzen befanden; die Geheimnisse all der zerstreuten Schleifer in der großen Mühle, unter denen ganz gewiß Räuber, Fälscher und Betrüger mancherlei Art waren, die das Licht jedes anbrechenden Tages zur Entdeckung bringen konnte; er dachte vielleicht, daß diese Dinge, durch ihr Verstecktsein die Luft schwer machten. Und während der Schatten immer dichter wurde, je näher man der Quelle kam, dachte er an die Geheimnisse der einsamen Kirchengrüfte, wo die Leute, die heimlich in eisernen Kisten aufgehoben hatten, nun ihrerseits in ähnlicher Weise aufgehoben waren und noch nicht aufgehört hatten wehe zu tun; und dann an die Geheimnisse des Flusses, wie er zwischen zwei finstern Labyrinthen von Geheimnissen, die sich dicht gedrängt viele Meilen weit ausdehnten, die freie Luft und das freie Feld fernhaltend, über denen sich Winde und Vogelflug bewegten, seine trübe wirbelnde Flut hinwälzte.

Der Schatten wurde jedoch immer dunkler, je näher er dem Hause kam; das melancholische Zimmer, das sein Vater einst bewohnt, unheimlich durch das bittende Gesicht, das er selbst hatte erstarren sehen, als niemand außer ihm am Bette wachte, tauchte vor seinem Geiste auf. Die erstickende Luft war Geheimnis. Das Düster und der Moder und der Staub des ganzen Gebäudes war Geheimnis. Im Herzen desselben waltete seine Mutter mit dem unveränderlichen Gesicht und dem unbeugsamen Willen, fest die Geheimnisse aus ihrem eigenen und seines Vaters Leben bewahrend und mit strengem Sinn dem großen letzten Geheimnisse des Lebens die Stirn bietend.

Er war in die enge und steile Straße eingebogen, auf die der Hof oder die Ringmauer ging, in der das Haus stand, als ein anderer Schritt hinter ihm gleichfalls einlenkte, und zwar so dicht hinter ihm, daß er gegen die Mauer gedrängt wurde. Da sein Geist von jenen Gedanken umfangen war, traf ihn diese Begegnung ganz unvorbereitet, so daß der andre Zeit hatte, ziemlich polternd zu sagen: »Verzeihung! Nicht meine Schuld!« und vorbeizugehen, ehe er Zeit hatte, zum Bewußtsein der ihn umgebenden Wirklichkeit zu kommen.

Als dieser Moment vorüber war, sah er, daß der Mann, der vor ihm her ging, derselbe war, der in den letzten Tagen seine Gedanken so vielfach beschäftigte. Es war keine zufällige Ähnlichkeit, unterstützt durch die Kraft des Eindrucks, den der Mann auf ihn gemacht hatte. Es war wirklich der Mann, derselbe, dem er gefolgt, als er mit dem Mädchen ging, und den er dann belauschte, als er mit Miß Wade sprach.

Die Straße fiel steil ab und war außerdem krumm, und der Mann (der, obgleich nicht betrunken, doch das Ansehen hatte, von starkem Getränk aufgeregt zu sein) ging so rasch hinab, daß Clennam ihn aus den Augen verlor. Ohne die bestimmte Absicht, ihm zu folgen, aber mit einem unbestimmten Drang, die Gestalt noch ein wenig länger zu beobachten, beeilte Clennam seine Schritte, um über die Biegung der Straße hinauszukommen, die den Unbekannten seinen Blicken entzog. Als er umbog, sah er den Mann nicht mehr.

Da stand er nun dicht vor dem Torweg des mütterlichen Hause und sah die Straße hinab: aber sie war leer. Nirgend war ein schattiger Vorsprung, der groß genug gewesen, den Mann zu verstecken! nirgend eine Ecke, hinter der er hätte verschwunden sein können: auch hörte man keine Tür auf- oder zuschließen. Demungeachtet war er der Ansicht, daß der Mann einen Schlüssel in der Hand gehabt, eine der zahlreichen Haustüren geöffnet haben und dort eingetreten sein müsse.

Über den seltsamen Vorfall und das seltsame flüchtige Zusammentreffen nachsinnend, trat er in den Hofraum. Als er aus bloßer Gewohnheit nach den schwach erleuchteten Fenstern des Zimmers seiner Mutter hinaufschaute, fielen seine Blicke auf die Gestalt, die ihm soeben aus den Augen verschwunden, die an dem eisernen Gitter des kleinen öden Hofes lehnte und vor sich hinlächelte. Eine von den vielen umherstreifenden Katzen, die sich beständig hier bei Nacht umhertrieben, und die sich vor ihm fürchtete, schien stehengeblieben zu sein, als er stehenblieb, und sah von oben von der Mauer, dem Türbogen und andern sichern Orten auf ihn mit Augen herab, die den seinen durchaus nicht unähnlich waren. Er war nur einen Augenblick stehengeblieben, um sich diesen Spaß zu machen: dann ging er sogleich weiter, indem er den Zipfel seines Mantels über die Schulter warf, stieg die uneben eingesunkenen Stufen hinan und pochte laut an die Tür.

Clennams Erstaunen war nicht so groß, daß er außerstande gewesen, seinen Entschluß nicht sogleich fest zu fassen. Er ging ebenfalls nach der Tür und stieg die Stufen hinan. Der Fremde sah ihn mit prahlerischer Miene an und sang vor sich hin:

»Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Compagnon de la Majolaine!
Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Immer froh!«

Darauf pochte er wieder.

»Sie sind ungeduldig, Sir«, sagte Arthur.

»Das bin ich auch! Tod meines Lebens, Sir«, versetzte der Fremde, »es liegt in meinem Charakter, ungeduldig zu sein!«

Das Klirren der von Mrs. Affery zur Vorsicht vor die Tür gelegten Kette, ehe sie öffnete, bewirkte, daß sie beide nach dieser Richtung blickten. Affery öffnete ein wenig: sie hielt ein flackerndes Licht in der Hand und fragte, wer zu dieser Nachtzeit so laut poche? »Wie, Arthur?« fügte sie erstaunt hinzu, als sie ihn zuerst bemerkte. »Doch Sie nicht, wahrhaftig? Ach, der Herr schütze uns! Nein«, rief sie, als sie den andern sah. »Er ist wieder da!«

»Allerdings! Er ist wieder da, liebe Mrs. Flintwinch«, rief der Fremde, »öffnen Sie die Tür, und lassen Sie mich meinen teuren Freund Jeremiah in meine Arme schließen! Öffnen Sie die Tür, und lassen Sie mich in die Umarmung meines Flintwinch eilen!«

»Er ist nicht zu Hause«, sagte Affery.

»Holen Sie ihn!« rief der Fremde. »Holen Sie meinen Flintwinch. Sagen Sie ihm, daß es sein alter Blandois ist, der soeben in England angekommen ist; sagen Sie ihm, sein kleiner Junge sei hier, sein Kleinod, sein Vielgeliebter! Machen Sie die Tür auf, schöne Mrs. Flintwinch, und lassen Sie mich inzwischen meine Huldigung – Blandois‘ Huldigung – der Dame des Hauses darbringen. Sie lebt noch immer? Sehr gut. So machen Sie auf!«

Zu Arthurs wachsendem Erstaunen machte Mrs. Affery, während sie ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah, als wollte sie ihn warnen, sich mit diesem Herrn einzulassen, die Kette los und öffnete die Tür. Der Fremde trat ohne weiteres in die Vorhalle und ließ Arthur hinter sich dreinkommen.

»Machen Sie, daß Sie fortkommen. Beeilen Sie sich! Bringen Sie meinen Flintwinch! Melden Sie mich bei der Dame des Hauses an!« rief der Fremde, indem er mit hallenden Schritten auf dem steinernen Flur einherging.

»Bitte, sagen Sie mir, Affery«, sagte Arthur laut und streng, während er den Fremden entrüstet von Kopf bis zu Fuß maß, »wer ist dieser Herr?«

»Bitte, sagen Sie mir, Affery«, wiederholte der Fremde nun seinerseits, »wer – ha, ha, ha, wer ist dieser Herr?«

Die Stimme von Mrs. Clennam rief gerade zur rechten Zeit von ihrem Zimmer oben: »Affery, lasse sie beide heraufkommen. Arthur, komm gleich zu mir herauf!« »Arthur?« rief Blandois, indem er seinen Hut tief abnahm und die Absätze, die gerade zu einem großen Schritte weit voneinander abstanden, zusammenbrachte, während er sich zeremoniös verbeugte. »Der Sohn vom Hause? Ich bin der ergebenste Diener des Sohnes vom Hause!«

Arthur sah ihn nicht gerade schmeichelhafter denn zuvor an und ging ohne Gegengruß die Treppe hinauf. Der Fremde folgte ihm. Mrs. Affery nahm den Schlüssel, der hinter der Tür hing, und schlüpfte hurtig hinaus, um ihren Herrn zu holen.

Ein Zuschauer, der von dem früheren Erscheinen Blandois‘ in diesem Zimmer wußte, würde einen Unterschied in Mrs. Clennams heutigem Empfang mit damals bemerkt haben. In ihrem Gesicht konnte man das freilich nicht sehen; und auch ihr zurückhaltendes Wesen, ihre ruhige Stimme waren vollkommen in ihrer Gewalt. Der Unterschied bestand einzig darin, daß sie von dem Augenblick, da er eingetreten war, keinen Blick von ihm wandte, und daß sie zwei bis dreimal, wenn er zu laut wurde, etwas auf dem Stuhl, auf dem sie aufrecht dasaß, während die Hände unbeweglich auf den Seitenlehnen ruhten, sich vorbeugte, als wollte sie ihm die Versicherung geben, daß Sie ihm augenblicklich, solange er nur wolle, Gehör zu schenken bereit sei. Arthur mußte dies bemerken, obgleich er über den Unterschied zwischen dem gegenwärtigen und dem früheren Empfang nicht urteilen konnte.

»Madame«, sagte Blandois, »erzeigen Sie mir die Ehre, mich Ihrem Herrn Sohn vorzustellen. Es scheint mir, Madame, als wenn Monsieur, Ihr Sohn, Lust hätte, sich über mich zu beklagen. Er ist etwas unhöflich gegen mich.«

»Sir«, sagte Arthur, indem er ihm rasch ins Wort fiel, »wer Sie immer auch sein mögen, und auf welche Art Sie hierherkommen mögen, wenn ich Herr von diesem Hause wäre, würde ich keine Zeit verlieren, Sie hinauszuwerfen.«

»Aber du bist nicht Herr vom Hause«, sagte seine Mutter, ohne ihn anzusehen. »Zum Unglück für die Befriedigung deines unvernünftigen Wunsches bist du nicht Herr vom Hause, Arthur.«

»Ich mache auch keinen Anspruch darauf, Mutter. Wenn ich an dem Benehmen dieses Herrn in diesem Hause etwas auszusetzen habe, und zwar so viel, daß ich ihn sicherlich keine Minute länger hier dulden würde, wenn ich etwas zu sagen hätte, so geschieht das nur um Deinetwillen.«

»Im Falle eine Zurückweisung nötig wäre, könnte ich sie selbst machen«, versetzte sie. »Und ich würde mich auch nicht besinnen.«

Der Gegenstand ihres Streites, der sich gesetzt hatte, lachte laut und schlug sich mit der Hand auf das Bein.

»Du hast kein Recht«, sagte Mrs. Clennam, immer in Beziehung auf Blandois, obgleich sie die Worte direkt an ihren Sohn richtete, »zum Nachteil irgendeines Herrn zu sprechen (am wenigsten von allen eines Herrn aus fremden Lande), weil er nicht nach deinem Geschmack ist oder sein Benehmen nicht nach deinen Regeln bildete. Wohl möglich, daß der Herr aus ähnlichen Gründen Einwendungen gegen dich zu machen hat.«

»Ich hoffe es«, versetzte Arthur.

»Dieser Herr«, fuhr Mrs. Clennam fort, »brachte bei einer frühern Gelegenheit einen Empfehlungsbrief von sehr geschätzten und für seinen Charakter bürgenden Geschäftsfreunden. Ich weiß durchaus nicht, was der Grund ist, der den Herrn diesmal hierherführt. Ich kenne seine Absichten nicht im entferntesten, und es läßt sich auch nicht voraussetzen, daß ich imstande sei, auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben«; ihr gewöhnlich schon sehr finsterer Blick wurde noch finsterer, während sie diese Worte mit langsamer und gewichtiger Emphase aussprach: »wenn der Herr jedoch uns den Zweck seines Besuches auseinandersetzen wird, was ich ihn, gegen mich und Flintwinch, sobald dieser zurück ist, zu tun die Güte zu haben bitte, so wird es sich ohne Zweifel zeigen, daß es sich um unsre gewöhnlichen Geschäfte handelt, die zu fördern unser Beruf und Vergnügen ist. Es kann nichts anderes sein.«

»Wir werden sehen, Madame«, sagte der Geschäftsmann.

»Wir werden sehen«, stimmte sie zu. »Der Herr ist mit Flintwinch bekannt, und als er das letztemal in London war, erinnere ich mich gehört zu haben, daß er und Flintwinch einen Abend in stiller Vertraulichkeit und Gemütlichkeit miteinander zugebracht haben. Ich habe nicht Gelegenheit, viel von dem zu erfahren, was außerhalb meines Zimmers vorgeht, und das Geklapper des kleinlichen irdischen Treibens hat kein Interesse für mich; aber ich erinnere mich, das gehört zu haben.«

»Allerdings, Madame. So war es.« Er lachte wieder und pfiff den Refrain der Melodie, die er vor der Tür gesungen.

»Deshalb, Arthur«, sagte die Mutter, »kommt dieser Herr als ein Bekannter und nicht als ein Fremder hierher; und es ist sehr zu bedauern, daß deine unvernünftige Leidenschaftlichkeit Anstoß an ihm genommen. Ich bedaure es. Ich sage dies zu dem Herrn. Ich weiß, du würdest es nicht sagen; deshalb sage ich es für mich und für Flintwinch, da dieser Herr mit uns beiden Geschäfte macht.«

Man hörte jetzt den Schlüssel in dem Schloß der Haustür und die Tür auf- und zugehen. Infolgedessen erschien Mr. Flintwinch; bei seinem Eintritt stand der Fremde laut lachend von seinem Stuhl auf und schloß ihn fest in seine Arme.

»Wie, geht es, mein teurer Freund?« sagte er. »Wie sieht die Welt aus, mein Flintwinch? Rosenfarbig? Um so besser, um so besser! Ach, aber Sie sehen reizend aus! Sie sehen jung und frisch aus wie Frühlingsblumen! Ach, mein guter, kleiner Junge! Braves Kind, braves Kind!«

Während er Mr. Flintwinch mit diesen Komplimenten überhäufte, drehte er ihn mit einer Hand auf jeder der beiden Schultern um und um, bis die Schwankungen des armen Mannes, der bei dieser Behandlung noch trockner und verdrehter aussah denn sonst, dem eines ausgelaufenen Kreisels ähnlich wurden. »Ich hatte das letztemal eine Ahnung, daß wir noch besser und intimer bekannt werden würden. Fühlen Sie das auch, Flintwinch? Fühlen Sie das schon?«

»O nein, Sir«, versetzte Mr. Flintwinch, »fühle nicht« Ungewöhnliches. Würden Sie sich nicht lieber setzen? Sie kamen gewiß, um noch einmal Portwein zu kosten, Sir?«

»Ah, kleiner Spottvogel! kleiner Schäker!« rief der Fremde. »Ha, ha, ha, ha!« Und indem er zum Schlusse seines Scherzes Mr. Flintwinch von sich stieß, setzte er sich wieder.

Das Erstaunen, der Verdacht, die Entrüstung und die Scham, womit Arthur alledem zusah, machten ihn stumm. Mr. Flintwinch, der von der Heftigkeit des letzten Stoßes zwei oder drei Ellen zurückgetaumelt war, erholte sich wieder, und sein Gesicht hatte den ruhigen, dummen Ausdruck nicht verloren, nur sein Atem war kürzer geworden. Er stierte Arthur an, und nicht weniger verschlossen und hölzern war Mr. Flintwinch äußerlich, als sonst im gewöhnlichen Verlauf der Dinge; der einzige bemerkbare Unterschied war der, daß der Knoten seiner Krawatte, der sich gewöhnlich unter seinem Ohr befand, sich nach seinem Hinterkopf herumgearbeitet hatte, wo er ein schmuckhaftes Anhängsel bildete, nicht unähnlich einem Haarbeutel, wodurch Flintwinch ein höfisches Aussehen bekam.

Da Mrs. Clennam keinen Blick von Blandois wegwandte (auf den sie einen Eindruck machten wie ein stetiger Blick auf einen gemeinen Hund), so wandte Jeremiah kein Auge von Arthur. Es war, als wenn sie stillschweigend übereingekommen wären, jeder seinen besonderen Standpunkt einzunehmen. Während der darauffolgenden Pause stand deshalb Jeremiah da und kratzte an seinem Knie, während er Arthur ansah, als wenn er seine Gedanken mit einem Instrument herauszuholen versuchte.

Nach einer Weile stand der Fremde, als ob er das Schweigen langweilig fände, auf und stellte sich ungeduldig mit dem Rücken an das heilige Feuer, das so viele Jahre unausgesetzt gebrannt hatte. Darauf sagte Mrs. Clennam, indem sie zum ersten Male eine ihrer Hände bewegte und damit die Gebärde der Verabschiedung verband:

»Bitte, Arthur, überlaß uns unsern Geschäften.«

»Mutter, ich tue es mit Widerstreben.«

»Laß dich das nicht kümmern oder überhaupt irgend etwas«, versetzte sie. »Bitte, verlasse uns; komm zu jeder andern Zeit wieder, wenn du es für deine Pflicht halten magst, eine halbe Stunde hier langweilig zu verbringen. Gute Nacht.«

Sie hielt ihm ihre eingehüllten Finger hin, damit er sie, wie gewöhnlich, mit den seinen berühre, und er beugte sich über ihren Rollstuhl herab, um ihr Gesicht mit seinen Lippen zu berühren. Es kam ihm vor, als wenn ihre Wange gespannter und kälter wäre denn sonst. Als er sich aufrichtete und der Richtung ihres Blickes auf Mr. Flintwinchs guten Freund, Mr. Blandois, folgte, schlug dieser mit seinem Zeigefinger und Daumen ein lautes und verächtliches Schnippchen. »Ich lasse Ihren – Ihren Geschäftsfreund mit großem Erstaunen und höchst ungern in meiner Mutter Zimmer zurück, Mr. Flintwinch«, sagte Clennam.

Die genannte Person schlug wieder mit Daumen und Zeigefinger ein Schnippchen.

»Gute Nacht, Mutter.«

»Gute Nacht!«

»Ich hatte einst einen Freund, mein lieber Kamerad Flintwinch«, sagte Blandois, mit ausgespreizten Beinen vor dem Feuer stehend, so deutlich in der Absicht, Clennams zögernde Schritte zu hemmen, daß dieser in der Nähe der Tür stehenblieb: »Ich hatte einst einen Freund, der soviel von der Nachtseite dieser Stadt und ihrem Treiben gehört, daß er sich nach eingetretener Dunkelheit keinen zwei Leuten anvertraut hätte, die Ursache hatten, ihn unter den Boden zu bringen, – meiner Treu! nicht einmal in einem respektablen Hause, wie dieses – außer wenn er ihnen an Körperkraft überlegen war. Bah! was für ein Hasenfuß, mein Flintwinch! Hm?«

»Ein Feigling, das, Sir.«

»Einverstanden. Ein Feigling. Aber er würde das nicht getan haben, mein Flintwinch, außer wenn er gewußt, daß sie den Willen haben, ihn verstummen zu machen, aber nicht die Macht. Er hätte unter diesen Verhältnissen nicht mal aus einem Glase Wasser getrunken – selbst nicht in einem respektablen Hause, wie dieses, mein Flintwinch –, wenn er nicht zuvor jemanden von ihnen daraus hätte trinken, ja schlucken sehen!«

Clennam, der zu antworten verschmähte und es wirklich auch kaum imstande war, da ihm der Atem benommen war, sah den Fremden nur noch beim Hinausgehen flüchtig an. Der Fremde grüßte ihn mit einem abermaligen Schnippchen zum Abschied, und seine Nase senkte sich über seinen Schnurrbart herab, und sein Schnurrbart bäumte sich unter seiner Nase empor, während er unheilverkündend und häßlich lächelte.

»Um’s Himmels willen, Affery«, flüsterte Clennam, als sie ihm in der dunkeln Halle die Tür öffnete und er den Weg hinaussuchte, bis er den Nachthimmel erblickte, »was geht hier vor?«

Ihre Erscheinung war wahrhaftig gespenstisch, wie sie mit der Schürze über dem Kopf in der Dunkelheit dastand und dahinter hervor mit leiser, gedämpfter Stimme sprach:

»Fragen Sie mich nach nichts, Arthur. Ich träume seit lange in einem fort. Gehen Sie!«

Er ging hinaus, und sie schloß die Tür hinter ihm. Er sah hinauf nach den Fenstern des Zimmers seiner Mutter, und das trübe Licht, durch die gelben Vorhänge noch gedämpft, schien hinter Afferys Warnung drein zu antworten und zu murmeln: »Frage mich nach nicht«. Geh!«

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Ein Brief von Klein-Dorrit.

Lieber Mr. Clennam!

Da ich Ihnen in meinem letzten Brief schrieb, daß es am besten sei, wenn mir niemand schreibe, und da ein Brief, den ich Ihnen sende, Ihnen keine andere Beschwerlichkeit bereiten kann, als ihn zu lesen (vielleicht finden Sie nicht mal dazu Gelegenheit, obgleich ich hoffe, daß auch dieser Tag kommen wird), so will ich nun eine Stunde einem Briefe an Sie widmen. Diesmal schreibe ich Ihnen von Rom.

Wir verließen Venedig vor Mr. und Mrs. Gowan, aber sie waren nicht so lange unterwegs wie wir und machten nicht denselben Weg, so daß wir sie bei unserer Ankunft in einer Wohnung hier, an der sogenannten Via Gregoriana, fanden. Ich bin überzeugt. Sie kennen sie.

Nun will ich Ihnen alles, was ich von ihnen weiß, erzählen, weil ich überzeugt bin, daß Sie das am liebsten hören. Sie haben keine sehr komfortable Wohnung, aber vielleicht erschien sie mir anfangs weniger so, als es bei Ihnen der Fall gewesen wäre, weil Sie in vielen Ländern waren und mancherlei verschiedene Sitten kennengelernt haben. Natürlich ist es eine viel, viel bessere Wohnung – millionenmal schöner – als diejenige, an die ich bis vor kurzem gewöhnt gewesen bin; ich bilde mir ein, sie nicht mit meinen Äugen, sondern mit den ihrigen zu betrachten. Denn es läßt sich leicht erkennen, daß sie stets in einer liebevollen und glücklichen Umgebung aufgewachsen ist, selbst wenn sie nicht mit so großer Anhänglichkeit davon gesprochen hätte.

Nun, es ist eine etwas kahle Wohnung, zu der eine ziemlich dunkle gemeinsame Treppe führt, und besteht aus beinahe nichts denn einem großen, dunklen Zimmer, wo Mr. Gowan malt. Die Fenster, durch die man hinaussehen könnte, sind versperrt, und die Wände sind über und über mit Kreide und Kohle von andern bemalt, die vorher dort gewohnt, – ach, vielleicht seit vielen Jahren! Ein Vorhang, der mehr staubfarbig als rot aussieht, teilt das Zimmer, und der Teil hinter dem Vorhang ist das Privatwohnzimmer. Als ich sie zuerst darin sah, war sie allein, die Arbeit war ihr aus der Hand gesunken, und sie blickte zum Himmel empor, der durch den obern Teil der Fenster hereinschaute. Bitte, grämen Sie sich nicht darüber, wenn ich es Ihnen sage, aber es war alles nicht ganz so luftig, noch so hell und freundlich, noch so glücklich und jugendfrisch, wie ich es wohl gewünscht hätte.

Durch den Umstand, daß Mr. Gowan Papas Bild malt (was ich wohl kaum an der Ähnlichkeit gemerkt, wenn ich nicht dabei gewesen wäre, wie er malte), hatte ich häufiger Gelegenheit, seit jener Zeit bei ihr zu sein, als es wohl ohne diesen glücklichen Zufall der Fall gewesen. Sie ist sehr viel allein. Wirklich sehr viel allein.

Soll ich Ihnen von meinem zweiten Besuch bei ihr erzählen? Ich ging eines Tages, als es sich gerade traf, daß ich allein zu ihr hinüberspringen konnte, um vier oder fünf Uhr nachmittags zu ihr. Sie speiste allein zu Mittag, und ihr einsames Mahl war ihr von irgendwo auf einer Art Kohlenbecken, mit Feuer darin, gebracht worden, und sie hatte keine Gesellschaft oder Aussicht auf Gesellschaft, soweit ich sehen konnte, als den alten Mann, der das Essen gebracht. Er erzählte ihr eine lange Geschichte (von Räubern, die draußen vor der Stadt von einem steinernen Heiligenbild festgenommen worden), um sie zu unterhalten, wie er zu mir sagte, als ich wegging, »weil er selbst eine Tochter habe, die aber nicht so schön sei.«

Ich muß nun auch Mr. Gowan erwähnen, ehe ich das wenige sage, was ich weiter von ihr mitzuteilen habe. Er muß ihre Schönheit bewundern und stolz auf sie sein, denn jedermann rühmt sie, und er muß sie lieb haben, und ich zweifle auch nicht, daß dies der Fall, aber, eben in seiner Weise. Sie kennen seine Weise, und wenn sie ebenso nachlässig und gleichgültig in Ihren Augen erscheint als in den meinen, so habe ich gewiß nicht unrecht, wenn ich meine, daß sie wohl etwas anders und besser für sie sein dürfte. Wenn das nicht auch Ihre Ansicht ist, so bin ich überzeugt, daß ich mich vollständig im Irrtum befinde; denn Ihr unverändertes, armes Kind vertraut ganz und gar auf Ihr Wissen und Ihre Güte, mehr als es Ihnen jemals sagen könnte, wenn es auch den Versuch machte; aber erschrecken Sie nicht, ich werde es niemals versuchen.

Mr. Gowans unbeständiges und unzufriedenes Wesen ist (wie ich glaube, wenn Sie auch der Ansicht sind) schuld daran, daß er sich seinem Berufe sehr wenig widmet. Er tut nichts mit Ausdauer und Geduld; er fängt die Sachen an und läßt sie ebenso wieder liegen, und nimmt sie in Angriff und schiebt sie wieder beiseite, ohne sich weiter darum zu kümmern. Wenn ich ihn während der Sitzungen mit Papa habe manchmal sprechen hören, dachte ich mir, ob er vielleicht an gar nichts glaube, weil er keinen Glauben an sich hat. Ist dem so? Ich bin neugierig zu erfahren, was Sie sagen werden, wenn Sie auf diesen Punkt kommen. Ich weiß, wie Sie es ansehen würden und kann beinahe die Stimme hören, mit der Sie zu mir auf der Iron Bridge sprechen würden.

Mr. Gowan begibt sich viel unter das, was hier für die beste Gesellschaft gilt – obgleich es nicht den Anschein hat, als wenn er viel Gefallen daran fände oder einen Genuß darin sähe, wenn er dort ist –, und sie begleitet ihn zuweilen, in letzter Zeit ist sie dagegen wenig ausgegangen. Ich glaube bemerkt zu haben, daß sie in einer sehr ungereimten Weise von ihr sprechen, als wenn sie durch die Heirat mit Mr. Gowan ein sehr eigennütziges Glück gemacht, obgleich ganz dieselben Leute sich nicht im Schlafe einfallen lassen würden, ihn für sich oder ihre Töchter zu nehmen. Dann geht er auch aufs Land hinaus, um zu überlegen, wo und wann er Skizzen machen wolle: und überall, wo Fremde sind, hat er zahlreiche Freunde und ist wohlbekannt. Außerdem hat er einen Freund, der viel in seiner Gesellschaft ist, zu Hause, wie auswärts, obgleich er diesen Freund sehr kühl behandelt und sehr launisch in seinem Benehmen gegen ihn ist. Ich weiß ganz gewiß (denn sie hat es mir gesagt), daß sie diesen Freund nicht gern sieht. Er hat auch für mich etwas so Abstoßendes, daß es eine wahre Erleichterung für meine Seele ist, daß er im Augenblick sich nicht hier befindet. Wieviel mehr für sie!

Was ich Ihnen jedoch ganz besonders mitteilen möchte, und weshalb ich mich entschlossen habe, Ihnen so viel zu schreiben, trotzdem ich fürchte, es möchte Sie ohne Grund etwas beunruhigen, ist dies. Sie ist so wahr und hingebend und weiß so vollkommen, daß all ihre Liebe und Pflicht für immer ihm gehören, daß Sie überzeugt sein können, sie wird ihn lieben, ihn bewundern, ihn loben und alle seine Fehler verheimlichen, bis sie stirbt. Ich glaube sogar, sich selbst verbirgt sie dieselben und wird sie sich ewig verbergen. Sie hat ihm ein Herz geschenkt, das nicht mehr zurückgenommen werden kann; und wie sehr er es auch versuchen mag, er wird ihre Liebe niemals erschöpfen. Sie wissen die Wahrheit von solchen Herzen weit besser als ich. Aber ich mußte Ihnen sagen, welches Gemüt sie an den Tag legt und daß Sie nie zu gut von ihr denken können.

Ich habe sie in dem ganzen Brief noch nicht beim Namen genannt, aber wir sind jetzt so befreundet, daß ich sie bei ihrem Vornamen nenne, wenn wir ruhig beieinander sitzen, und auch sie nennt mich – nicht bei meinem Taufnamen, sondern bei dem, den Sie mir gegeben haben. Als sie mich Amy zu nennen begann, erzählte ich ihr meine kurze Geschichte, und daß Sie mich immer Klein-Dorrit genannt. Ich sagte ihr, daß mir dieser Name viel teurer sei als irgendein anderer, und so nennt sie mich nun auch Klein-Dorrit.

Vielleicht hat es Ihnen ihr Vater oder ihre Mutter noch nicht mitgeteilt, und Sie wissen es deshalb noch nicht, daß sie einen kleinen Jungen hat. Er ist erst vor zwei Tagen geboren, gerade eine Woche nach ihrer Ankunft. Es hat sie sehr glücklich gemacht. Ich muß Ihnen jedoch sagen, da ich Ihnen alles sagen soll, daß es mir vorkommt, als ob sie mit Mr. Gowan etwas gespannt wären, und daß sie seine spöttische Art ihnen gegenüber bisweilen für eine Kränkung ihrer Liebe zu ihrem Kinde ansehen. Erst gestern, als ich drüben war, sah ich Mr. Meagles seine Farbe wechseln und aufstehen und hinausgehen, als ob er fürchtete, er möchte seinen Zorn laut werden lassen, wenn er es nicht auf diese Art hinderte. Und doch bin ich überzeugt, sie sind so rücksichtsvoll, gutmütig und vernünftig, daß er ihnen den Kummer ersparen könnte. Es ist hart von ihm, daß er nicht etwas mehr Rücksicht auf sie nimmt.

Ich unterbrach mich bei dem letzten Absatz, um alles noch einmal zu überlesen. Es kam mir anfangs vor, als wenn ich mir eigentlich bloß alles verständlich und deutlich machen wollte; deshalb war ich auch gesonnen, den Brief gar nicht abzusenden. Als ich mir die Sache jedoch ein wenig überlegt, glaubte ich, mich der Hoffnung hingeben zu dürfen, Sie würden gleich merken, daß ich bloß um Ihretwillen so auf alles geachtet und nur beachtet, was ich beobachtet zu haben glaube, weil mich das Interesse, das Sie daran nehmen, dazu anspornte. Wahrhaftig, Sie dürfen mir glauben, das ist die Ursache.

Und nun habe ich für den gegenwärtigen Brief mit dieser Sache abgeschlossen und weiß nur wenig mehr zu sagen.

Wir sind alle sehr wohl, und Fanny macht jeden Tag Fortschritte. Sie können sich kaum denken, wie freundlich sie gegen mich ist, und welche Mühe sie sich mit mir gibt. Sie hat einen Verehrer, der ihr gefolgt ist, erst den ganzen Weg von der Schweiz, dann den ganzen Weg von Venedig, und der mir eben anvertraut hat, daß er ihr überall hin zu folgen gedenke. Ich war sehr in Verlegenheit, als er mit mir davon sprach, aber er wollte nicht anders. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, zuletzt sagte ich ihm jedoch, daß ich es für besser halte, wenn er es nicht tun würde. Denn Fanny (das sagte ich ihm jedoch nicht) ist viel zu gescheit und gewandt, um für ihn zu taugen. Er sagte aber dennoch, er würde bei seinem Vorsatz beharren. Ich habe natürlich keinen Verehrer.

Wenn Sie je soweit in diesem lange Briefe kommen, so werden Sie vielleicht sagen, gewiß wird Klein-Dorrit nicht schließen, ohne mir etwas von ihren Reisen zu sagen, und sicher ist es jetzt auch Zeit dazu. Wahrhaftig der Meinung bin ich auch, aber ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Seit wir Venedig verließen, waren wir in vielen wundervollen Städten, wie Genua und Florenz, und haben so viele wundervolle Eindrücke gehabt, daß mir beinahe schwindlig wird, wenn ich an die große Masse von Dingen denke. Aber Sie könnten mir so viel mehr davon erzählen, als ich Ihnen, daß ich nicht wüßte, weshalb ich Sie mit meinen Berichten und Schilderungen ermüden sollte.

Lieber Mr. Clennam, da ich den Mut hatte, Ihnen zu sagen, in welch stille Verlegenheit früher diese Reiseeindrücke meinen Geist versetzten, so will ich auch jetzt nicht verzagt sein. Einer meiner häufigsten Gedanken ist der: So alt diese Städte sind, ist mir ihr Alter kaum so merkwürdig und bietet mir kaum so viel Stoff zum Nachdenken als der Umstand, daß sie die ganze Zeit an ihrem Orte standen, während ich von der Existenz von zweien oder dreien höchstens etwas wußte und kaum etwas außerhalb unserer alten Mauern kannte. Es liegt etwas Melancholisches in dem Gedanken, und doch weiß ich nicht warum. Als wir neulich den berühmten schiefen Turm zu Pisa betrachteten, war’s ein heller sonniger Tag, und der Turm und die Gebäude ringsumher sahen so alt aus und die Erde und der Himmel so jung und der Schatten auf dem Boden so weich und ruhig! Ich konnte anfangs gar nicht an das Schöne und Interessante dieses Bildes denken, sondern ich mußte mir sagen: »Oh, wie viele Male, wenn der Schatten der Mauer auf unser Zimmer fiel und die müden Schritte im Hofe drunten auf und ab gingen, – oh, wie viele Male war dieser Platz ebenso still und lieblich wie heute!« Es hat mich ganz überwältigt. Mein Herz war so voll, daß mir die Tränen aus den Augen traten, obgleich ich mir alle Mühe gab, sie zurückzuhalten. Und ich habe dasselbe Gefühl oft – oft. Wissen Sie, daß ich, seit die Veränderung in unsern Vermögensverhältnissen eingetreten ist, obgleich mir ist, als träumte ich öfter denn zuvor, immer von mir geträumt habe, als wäre ich sehr jung? Ich sei nicht sehr alt, werden Sie sagen. Nein, das ist’s aber auch nicht, was ich meine. Ich träumte immer von mir, als wäre ich ein Kind, das nähen lernt. Ich träumte oft von mir, als wäre ich wieder dort, schaute auf wenig bekannte Gesichter im Hofe drunten, die ich glauben sollte, ganz vergessen zu haben, aber ebensooft bin ich auf Reisen – in der Schweiz oder Frankreich oder Italien – irgendwo, wo wir gewesen sind – aber immer als das kleine Kind. Mir träumte, ich sei zu Mrs. General mit den geflickten Kleidern hinabgegangen, in denen ich mich meiner zuerst erinnerte. Gar häufig träumte mir, ich setze mich in Venedig in großer Gesellschaft zu Tisch in Trauer um meine arme Mutter, in den Kleidern, die ich trug, als ich acht Jahre alt war, und noch lange trug, nachdem sie ganz fadenscheinig geworden und sich nicht mehr flicken lassen wollten. (5s hat mir großen Kummer gemacht, wenn ich daran dachte, wie wenig passend die Gesellschaft meine Erscheinung zu dem Reichtum meines Vaters finden werde, und wie sehr ich mir sein und Fannys und Edwards Mißfallen und Ungnade dadurch zuziehen würde, daß ich so offen zur Schau trage, was sie geheimzuhalten wünschen. Aber ich bin bei diesem Gedanken doch nicht älter geworden; und im selben Moment träumte mir, ich hätte mit Kopfweh am Tisch gesessen und hätte die Kosten des Diners berechnet und wäre ganz verrückt geworden bei dem Gedanken, wie das wieder gutgemacht werden sollte. Ich habe nie von den Veränderungen in unsern Vermögensverhältnissen geträumt! Nie vor jenem denkwürdigen Morgen, als Sie mit mir nach Hause gingen, um es meinem Vater mitzuteilen; ich habe sogar von Ihnen nie geträumt.

Lieber Mr. Clennam, es ist möglich, daß ich an Sie – und andere – bei Tage so oft gedacht habe, daß ich des Nachts keine Gedanken mehr übrig habe, die sich mit Ihnen beschäftigen konnten. Denn ich muß Ihnen jetzt gestehen, daß ich an Heimweh leide – daß ich mich so lebhaft und ernstlich nach der Heimat sehne, daß ich mich manchmal, wenn es niemand sieht, recht darob abhärme. Der Gedanke ist mir unerträglich, mein Gesicht noch weiter davon abzuwenden. Mein Herz wird mir etwas leichter, wenn wir uns der Heimat zukehren, und wären’s auch nur ein paar Meilen, wenn ich selbst weiß, daß wir bald wieder umkehren müssen. So teuer ist mir der Schauplatz meiner Armut und Ihrer Güte. Oh, so teuer, oh, so teuer!

Der Himmel weiß, wann Ihr armes Kind England wiedersehen wird. Allen (außer mir) gefällt das Leben hier sehr, und es ist noch kein Projekt wegen unserer Heimkehr zur Sprache gekommen, 3I?ein Vater spricht davon, daß er nächsten Frühling wegen einiger Vermögensangelegenheiten nach London gehen werde, aber ich habe keine Hoffnung, daß er mich mitnehmen wird. Ich habe mir Mühe gegeben, unter Mrs. Generals Anleitung einige Fortschritte zu machen, und ich hoffe, daß ich nicht mehr ganz so schwerfällig bin wie früher. Ich fange an, die schweren Sprachen, von denen ich Ihnen sagte, ziemlich leicht zu verstehen und zu sprechen. Ich erinnerte mich nicht, als ich Ihnen das letztemal schrieb, daß Sie beide beherrschen, aber es fiel mir später ein, und das half mir vorwärts. Gott segne Sie, lieber Mr. Clennam. Vergessen Sie nicht

Ihre ewig dankbare und ergebene

Klein-Dorrit.

P. S. Besonders vergessen Sie nicht, daß Minnie Gowan des besten Andenkens würdig ist, das Sie ihr weihen können. Sie vermögen nicht zu edel oder zu hoch von ihr zu denken. Ich vergaß das letztemal Mr. Pancks. Bitte, wenn Sie ihn sehen, grüßen Sie ihn freundlichst von Ihrer Klein-Dorrit. Er war immer sehr gut gegen Klein-Dorrit.

Zwölftes Kapitel


Zwölftes Kapitel

In welchem eine große patriotische Konferenz gehalten wird.

Der berühmte Name Merdle wurde mit jedem Tage berühmter im Lande. Niemand wußte, daß dieser hochberühmte Merdle je irgend jemand, sei er noch am Leben oder bereits verstorben, oder überhaupt irgendeinem Ding auf Erden irgend etwas Gutes erwiesen; niemand wußte, daß er irgendeine Fähigkeit oder einen Willen besaß, die je für irgendein Geschöpf auch nur den schwächsten Lichtstrahl auf irgendeinen Pfad der Pflicht oder Erholung, des Kummers oder Vergnügens, der Anstrengung oder Ruhe, der Wirklichkeit oder Phantasie unter all den zahlreichen Pfaden jenes Labyrinthes geworfen, in dem sich die Söhne Adams bewegen; niemand fühlte den geringsten Grund anzunehmen, daß der Stoff, aus dem dieser Gegenstand der Verehrung gemacht war, anderer Art sei als der allergewöhnlichste Ton, und dazu mit einem so klumpigen, rauchenden Docht, wie je ein Menschenbild, ehe es auseinanderfiel. Alle Leute wußten oder glaubten zu wissen, daß er sich ungeheuer bereichert, und aus diesem Grunde allein warfen sie sich vor ihm nieder, und zwar auf eine entwürdigendere und unentschuldbarere Weise als der roheste Wilde, der aus seiner Höhle aus der Erde kriecht, um in einem Klotz oder Reptil die Gottheit seiner nachtumhüllten Seele gnädig für sich zu stimmen.

Ja, die Hohenpriester dieses Kultus hatten den Mann vor sich als einen Protest gegen ihre Niedrigkeit. Die Masse huldigte auf den Glauben hin – obgleich immer genau wissend warum –, aber die den Kultus verrichtenden Priester am Altare hatten gewöhnlich den Mann selbst vor Augen. Sie saßen bei seinen Festen, und er saß bei ihren Festen. Immer begleitete ihn ein Gespenst, das zu diesen Hohepriestern sagte: »Sind das die Zeichen, an die ihr glaubt und denen zu huldigen euch Vergnügen macht? Dieser Kopf, diese Augen, diese Art zu sprechen, der Ton und das Wesen dieses Mannes? Ihr seid die Stützen des Circumlocution Office und die Beherrscher der Menschen. Wenn ein halbes Dutzend von euch handgemein werden, so scheint die Mutter Erde keine andern Beherrscher mehr zeugen zu können. Liegt eure Berechtigung in der besseren Kenntnis der Menschen, die diesen Mann empfängt, denen er hofiert und die er stolz macht? Oder, wenn ihr imstande seid, die Zeichen richtig zu beurteilen, die ich nie verfehle, euch zu zeigen, wenn er unter euch erscheint, ist es denn eure größere Redlichkeit, die euch dazu berechtigt?« Zwei ziemlich häßliche Fragen, die immer mit Mr. Merdle in der Stadt umhergehen; und es war stillschweigend allgemein angenommen worden, daß man sie niederhalten müsse.

Während der Abwesenheit von Mrs. Merdle im Auslande hielt Mr. Merdle das Haus beständig für den großen Strom von Besuchen offen. Einige wenige von diesen nahmen freundlich Besitz von dem Hause. Drei bis vier Damen von Rang und lebhaftem Wesen pflegten zueinander zu sagen: »Wir wollen Donnerstag bei unserm lieben Merdle essen. Wen werden wir einladen?« Unser lieber Merdle erhielt dann seine Instruktion und saß schwerfällig unter der Gesellschaft bei Tisch und ging später schläfrig in seinen Empfangzimmern umher, einzig dadurch auffallend, daß er gar nichts mit der Unterhaltung, die lebhaft im Gange war, zu tun zu haben schien.

Der Oberhaushofmeister, der Rachegeist im Leben dieses großen Mannes, verlor nichts von seiner Strenge. Er sah bei diesen Diners, solange der Busen nicht da war, zu, wie er bei den andern Diners zugesehen, wenn der Busen da war; und sein Auge war ein Basilisk für Mr. Merdle. Er war ein strenger Mann und hätte nicht eine Unze Speise oder eine Flasche abgezogen. Er würde nicht erlaubt haben, daß ein Diner gegeben werde, wenn er nicht hätte zusehen können. Er arrangierte die Tafel für seine eigene Würde. Wenn die Gäste das zu genießen beliebten, was serviert wurde, hatte er nichts dagegen: aber serviert wurde es zur Aufrechthaltung seines Ranges. Wenn er so an dem Nebentisch stand, schien er sagen zu wollen: »Ich habe das Amt übernommen, das, was vor mir ist, zu beaufsichtigen und nichts Geringeres als dies zu beaufsichtigen.« Wenn er den Vorsitzenden Busen vermißte, so war es gewissermaßen ein Teil seiner eigenen Würde, dessen er, aus unabweisbaren Gründen, für den Augenblick beraubt war. Gerade wie wenn er einen Tischaufsatz oder einen kostbaren Weinkühler vermißte, die zum Bankier geschickt wären.

Mr. Merdle ließ Einladungen zu einem Barnaclediner ergehen. Lord Decimus sollte daran teilnehmen, Mr. Tite Barnacle sollte teilnehmen, der angenehme junge Barnacle sollte teilnehmen; und

Bankier Merdle.

der Chorus der Parlamentarbarnacles, die in den Provinzen umherzogen, wenn das Haus geschlossen war, und den Ruhm ihres Anführers sangen, auch diese sollten teilnehmen. Natürlich war dies ein großartiges Ereignis. Mr. Merdle wollte die Barnacles bei sich sehen. Einige zarte kleine Geschäfte waren zwischen ihm und dem edlen Decimus zustande gebracht worden – der junge Barnacle mit den einnehmenden Manieren hatte den Unterhändler gemacht –, und Mr. Merdle hatte beschlossen, das Gewicht seiner großen Rechtlichkeit und großen Reichtümer in die Wagschale der Barnacles zu werfen. Mäkelei war den Arglistigen verdächtig: vielleicht weil es unleugbar, daß, wenn die Ergebenheit des unsterblichen Menschenfeindes durch Mäkeln hätte gewonnen werden können, die Barnacles es sicher getan hätten – zum Besten des Landes, natürlich zum Besten des Landes.

Mr«. Merdle hatte an diesen ihren herrlichen Gemahl, den als etwas Geringeres anzusehen als alle britischen Kaufleute seit den Tagen Whittingtons1 zusammengenommen, und drei Fuß tief vergoldet, Ketzerei war – sie hatte von Rom an ihren Gemahl mehrere Briefe hintereinander geschrieben, worin sie ungestüm in ihn drang, daß jetzt oder nie die Zeit sei, für Edmund Sparkler zu folgen. Mrs. Merdle hatte ihm gezeigt, daß die Sache Edmunds dringend sei, und daß unendliche Vorteile daraus für ihn entständen, wenn er etwas Gutes sogleich bekäme. In der Grammatik von Mrs. Merdles auf diese Sache sich beziehenden Zeitwörtern war nur ein Modus: der Imperativ; und dieser Modus hatte nur eine Zeit: das Präsens. Mrs. Merdles Zeitwörter wurden Mr. Merdle so dringend zum Konjungieren empfohlen, daß sein träges Blut und seine langen Rockaufschläge in große Bewegung kamen.

In diesen, Zustande der Aufregung hatte Mr. Merdle – dessen Blicke sich ausweichend um des Oberhaushofmeisters Schuhe hin und her bewegten, ohne sich zu dem Index der Gedanken dieser ungeheuren Kreatur zu erheben, – Mr. Merdle hatte ihm seine Absicht kundgetan, ein spezielles Diner zu geben: nicht ein sehr großes Diner, sondern ein spezielles Diner. Der Oberhaushofmeister hatte darauf kundgetan, daß er nichts dagegen einzuwenden habe, wenn das Diner noch so kostbar sei und er es überwachen werde: und der Tag des Diners war nun erschienen.

Mr. Merdle stand in einem seiner Empfangszimmer, den Rücken dem Feuer zugekehrt und die Ankunft seiner wichtigen Gäste erwartend, da. Er nahm sich selten oder nie die Freiheit, mit dem Rücken an seinem Feuer zu stehen, wenn er nicht ganz allein war. In Gegenwart des Oberhaushofmeisters hätte er so etwas nicht getan. Er würde sich selbst in seiner Konstablerart am Handgelenk ergriffen haben und auf dem Teppich vor dem Kamin auf und ab gegangen sein oder wäre unter den rauhen Möbeln hin und her geschlichen, wenn sein tyrannischer Diener in diesem Augenblick im Zimmer erschienen wäre. Die hinterlistigen Schatten, die aus ihrem Versteck hervorzukommen schienen, wenn das Feuer emporflackerte, und sich wieder in dasselbe zurückzogen, wenn das Feuer zusammensank, waren der Zeugen genug, wenn er seiner Bequemlichkeit pflegte. Sie waren sogar mehr als genug, wenn man seinem scheuen Blick auf sie einen Gedanken unterschob.

Mr. Merdles rechte Hand war voll von Abendzeitungen und die Abendzeitungen waren voll von Mr. Merdle. Sein erstaunliches Unternehmen, sein erstaunlicher Reichtum, seine erstaunliche Bank war das mästende Futter der Abendzeitung dieses Tages. Die wundervolle Bank, deren Hauptbesitzer, Begründer und Vorstand er war, bildete das jüngste der vielen Wunder Merdles. Bei alledem und mitten in diesen prachtvollen Unternehmungen war Mr. Merdle so bescheiden, daß er weit eher wie ein Mann aussah, der sein gepfändetes Haus nur noch für den Augenblick besaß, als wie ein Handelskoloß, der auf seinem eigenen Kaminteppich stand, während die kleinen Schiffe zum Diner einliefen.

Betrachtet mal die in den Hafen steuernden Schiffe! Der gewinnende junge Barnacle war der erste, der kam; aber Advokat holte ihn auf der Treppe ein. Advokat, wie gewöhnlich durch sein doppeltes Augenglas und seine kleine Juryverbeugung unterstützt, war außerordentlich erfreut, den gewinnenden jungen Barnacle zu sehen, und sprach die Vermutung aus, daß sie beide »in Banco« zu sitzen beabsichtigten, wie wir Advokaten das heißen, wenn wir einen ausgezeichneten Fall haben.

»Gewiß«, sagte der geistreiche junge Barnacle, der Ferdinand hieß: »Wieso?«

»Nun«, lächelte Advokat, »Wenn Sie nicht wissen, wie kann ich wissen? Sie stehen ja im Allerheiligsten des Tempels; ich bin einer von der bewundernden Masse draußen auf dem freien Feld.«

Advokat konnte einen leichten oder schweren Ton anschlagen, je nach dem Manne, mit dem er es zu tun hatte. Mit Ferdinand Barnacle scherzte er. Advokat war ferner immer bescheiden und schien sich zu unterschätzen, aber auf seine Art. Advokat war ein Mann von sehr verschiedenem Wesen in seinem Benehmen: aber ein roter Faden2 zog sich durch das Gewebe aller seiner Muster. Jeder, mit dem er zu tun hatte, war in seinen Augen ein Geschworener; und diesen Geschworenen mußte er herumkriegen, wenn er konnte.

»Unser hochberühmter Wirt und Freund«, sagte Advokat, »unser glänzender Handelsstern, will sich in die Politik hineinbegeben.«

»Hineinbegeben? Er war einige Zeit, wie Sie wissen, im Parlament«, versetzte der gewinnende junge Barnacle.

»Allerdings«, sagte Advokat, mit seinem feinkomischen Lachen für ausgezeichnete Geschworene, das sehr verschieden war von dem niedrigkomischen Lachen für drollige Krämer bei gewöhnlichen Jurys, »er war einige Zeit im Parlamente. Aber bis jetzt war unser Stern ein unruhiger und schwankender Stern? Hm?«

Ein gewöhnlicher Zeuge wäre durch dieses »Hm?« zu einer bejahenden Antwort verführt worden. Aber Ferdinand Barnacle sah Advokat pfiffig an, während sie hinaufschlenderten, und gab ihm durchaus keine Antwort.

»Jawohl, jawohl«, sagte Advokat, mit dem Kopfe nickend, denn er war nicht auf solche Weise abzuspeisen, »und deshalb sprach ich davon, daß wir in Banco sitzen werden, um eine wichtige Sache zu erledigen – das heißt, es werde ein großer und feierlicher Anlaß sein, wo, wie Kapitän Macheath sagt, ‚die Richter versammelt sind: ein furchtbarer Anblick!‘ Wir Advokaten sind sehr liberal, wie Sie sehen, wir zitieren den Kapitän, obgleich der Kapitän sehr streng gegen uns ist. Nichtsdestoweniger glaube ich nachweisen zu können, daß der Kapitän zugibt«, sagte Advokat mit einem leichten scherzhaften Schütteln seines Kopfes, denn bei seinen gerichtlichen rednerischen Ergießungen nahm er immer die Miene an, als hätte er auf die liebenswürdigste Weise von der Welt sich selbst zum besten, »daß der Kapitän zugibt, das Gesetz habe im ganzen die Absicht, unparteiisch zu sein. Denn, wie der Kapitän sagt, wenn ich ihn richtig zitiere – und wenn nicht –« fügte er hinzu, indem er mit seinem Doppelglas feinkomisch die Schulter seines Begleiters berührte, »wird mich mein gelehrter Freund berichtigen:

›Seitdem’s Gesetze gibt für jeden Grad,
Verbrechen fein zu wenden und zu drehen.
Begreif‘ ich nicht, daß auf dem Rad
Wir nicht die nobelste Gesellschaft sehen‹«

Diese Worte brachten sie nach dem Empfangszimmer, wo Mr. Merdle vor dem Fenster stand. Mr. Merdle war so verwundert, als er Advokat mit einem solchen Zitat im Munde eintreten sah, daß Advokat sich dahin erklärte, er habe Gay zitiert. »Allerdings keine von unsern Westminster-Hall-Autoritäten«, sagte er, »aber doch keineswegs einer, der von einem Manne verschmäht zu werden verdient, der die große praktische Weltkenntnis Mr. Merdles besitzt.«

Mr. Merdle sah aus, als ob er etwas sagen wollte, sah aber später wieder aus, als wenn er nichts sagen wollte. Die Pause, die dadurch eintrat, erlaubte, daß man Bischof meldete.

Bischof trat sehr demütig, und doch mit festem und raschem Schritte ein, als ob er seine Siebenmeilenstiefel anzuhaben und eine Reise um die Welt zu machen wünschte, um zu sehen, ob alles in befriedigendem Zustande sei. Bischof hatte keine Idee, daß diese Gesellschaft eine besondere Bedeutung habe. Dies war der bemerkenswerteste Zug in seinem Benehmen. Er war höflich, frisch, heiter, leutselig, sanft: aber außerordentlich unschuldig!

Advokat kam herbei, um sich auf die höflichste Weise nach dem Befinden von Mrs. Bischof zu erkundigen. Mrs. Bischof habe sich unglücklicherweise bei einer Konfirmation etwas erkältet, im übrigen sei sie jedoch wohl. Der junge Mr. Bischof sei ebenfalls wohl. Er befinde sich mit seiner jungen Frau und seinen kleinen Kindern bei seiner Seelsorge.

Die Repräsentanten des Barnaclechorus liefen darauf ein und nach ihnen Mr. Merdles Arzt. Advokat, der ein bißchen von seinem Auge und ein bißchen von seinem Doppelglas für jeden Eintretenden hatte, gleichgültig, mit wem er sprach oder wovon er sprach, kam auf geschickte Weise mit allen in Berührung, ohne daß man sah, wie er sich an sie machte, und wußte jeden einzelnen Jurymann an seiner besonderen Liebhaberei zu packen. Mit einigen vom Chorus lachte er über das schläfrige Mitglied, das vergangene Nacht ins Vorzimmer hinausgegangen und dann falsch gestimmt hatte: mit andern bedauerte er den Neuerungsgeist der Zeit, der nicht mal daran gehindert werden könne, ein unnatürliches Interesse an dem Staatsdienst und dem Staatsgeld zu nehmen; mit dem Arzt wußte er ein Wort über den allgemeinen Gesundheitszustand zu sprechen; er hatte sich zu gleicher Zeit eine Belehrung bei ihm zu holen, bezüglich eines Handwerkers von unleugbarer Erziehung und artigen Manieren – aber derartige Beglaubigungen in ihrer größten Entfaltung, meinte er, seien im Besitze anderer Bekenner der Heilkunst (Juryverbeugung) –, den er zufällig vorvorgestern unter den beschworenen gehabt, und von dem er durch Querfragen herausgebracht hatte, daß er einer der Ausleger der neuen Heilkunst sei, die Advokat wirklich – ja – hm – Advokat scheine es so; Advokat habe gedacht und gehofft, der Arzt werde ihm das sagen. Ohne sich herauszunehmen zu entscheiden, wo Ärzte nicht einer Meinung seien, wolle es Advokat doch, wenn er es als eine Frage des gemeinen Menschenverstandes und nicht der sogenannten gesetzlichen Ergründung betrachte, bedenken, dieses neue System sei – wenn er das in Gegenwart einer so großen Autorität aussprechen dürfe, Humbug. Ah! gestützt auf solche Ermutigung könne er schon wagen, Humbug zu sagen; und nun fühlte sich Advokats Geist erleichtert.

Mr. Tite Barnacle, der wie Dr. Johnsons berühmte Bekanntschaft nur eine Idee in seinem Kopfe hatte, und zwar eine, die falsch war, erschien inzwischen. Dieser ausgezeichnete Mann und Mr. Merdle, die nach verschiedenen Richtungen blickend und wie Wiederkäuer aussehend auf einer gelben Ottomane im Licht des Feuers dasaßen, ohne in einem mündlichen Verkehr miteinander zu stehen, hatten eine große Ähnlichkeit mit den beiden Kühen auf dem Bilde von Cuyp, die ebenfalls abgewandt voneinander dasitzen.

Aber nun kam Lord Decimus. Der Oberhaushofmeister, der sich bisher auf einen Teil seiner gewöhnlichen Funktionen beschränkt hatte, indem er die eintretende Gesellschaft ansah (und dies mit mehr Trotz als Gnade), schritt so weit aus seinem Kreise, daß er heraufkam und ihn anmeldete. Da Lord Decimus ein Pair von überwältigendem Eindruck war, so schloß ein schüchternes junges Mitglied des Unterhauses, das der letzte von den Barnacles gefangene Fisch war und zu diesem Diner zur Erinnerung an seinen Fang eingeladen worden, die Augen, als Seine Lordschaft eintrat.

Lord Decimus war nichtsdestoweniger sehr erfreut, das Mitglied zu sehen. Er war ebenfalls erfreut, Mr. Merdle zu sehen, erfreut, Bischof zu sehen, erfreut, den Arzt zu sehen, erfreut, Tite Barnacle zu sehen, erfreut, den Chorus zu sehen, erfreut, Ferdinand, seinen Privatsekretär, zu sehen. Lord Decimus, obgleich einer der Größten auf Erden, zeichnete sich nicht durch einschmeichelnde Manieren aus, und Ferdinand hatte ihn bis zu dem Punkt gefahren, von wo er alle, die er hier finden sollte, überschauen und ihnen sagen konnte, daß er erfreut sei, sie zu sehen. Als er diesen ungestümen Anlauf von Lebhaftigkeit und Herablassung hinter sich hatte, brachte sich Seine Lordschaft in dem Gemälde von Cuyp an und bildete die dritte Kuh in der Gruppe.

Advokat, der fühlte, daß er die ganze Jury für sich gewonnen und sich nun an den Obmann machen müsse, kam bald, das Doppelglas in der Hand, herbeigeschlichen. Advokat bot das Wetter, als einen Gegenstand, der ziemlich fernab von offizieller Zurückhaltung liegt, der Erwägung des Obmannes an. Advokat versicherte, man habe ihm gesagt (wie man immer jedermann sagt, obgleich, wer es sagt und warum, stets ein Geheimnis bleiben wird), daß es in diesem Jahre kein Spalierobst geben werde. Lord Decimus hatte bis jetzt noch nicht gehört, daß seine Pfirsiche Schaden genommen, er glaube jedoch, wenn seine Leute recht hätten, daß er keine Äpfel bekommen werde. Keine Äpfel? Advokat war ganz aufgelöst in Erstaunen und Bestürzung. Es wäre ihm wirklich völlig einerlei gewesen, wenn es keinen einzigen Apfel auf der ganzen Erde gegeben hätte, aber das Interesse, das er an dieser Apfelfrage zur Schau trug, war wirklich schmerzlich. Welcher Ursache aber, Lord Decimus – denn wir schwierigen Advokaten wollen immer belehrt sein und können nicht sagen, wie sich uns das noch nützlich erweist –, welcher Ursache, Lord Decimus, ist das zuzuschreiben? Lord Decimus war außerstande, eine Theorie darüber aufzustellen. Damit hätte sich ein anderer Mensch begnügt: Advokat jedoch, der nicht davon losließ, fragte mit unermüdlichem Interesse: »Aber was nun die Birnen betrifft?«

Lange, nachdem Advokat Generalfiskus geworden, wurde dies von ihm als ein Meisterstreich erzählt. Lord Decimus erinnerte sich eines Birnbaumes, der früher in einem Garten nahe an der Rückmauer des Hauses seiner Wirtin in Eton stand, auf dem der einzige Scherz in seinem Leben immerfort blühte. Es sei ein Scherz von kompakter und tragbarer Natur, der sich um den Unterschied zwischen Eton-Birnen und Parlamentspairs drehte: aber es sei ein Scherz, dessen Feinheit man, nach Lord Decimus‘ Ansicht, gar nicht verstehen könnte, wenn man den Baum nicht ganz genau kenne. »Deshalb hatte die Geschichte anfangs keine Idee von einem solchen Baum, Sir, dann fand sie ihn nach und nach im Winter, brachte ihn durch die übrigen Jahreszeiten, sah ihn keimen, blühen, Früchte tragen, die Frucht reifen, kurz, kultivierte den Baum, ehe sie aus dem Schlafzimmerfenster die Früchte stahl, in jener fleißigen und sorgfältigen Weise, daß verspätete Lauscher ihren Dank aussprachen, daß der Baum von Lord Decimus Zeit gepflanzt und gepfropft worden war. Advokats Interesse an den Äpfeln wurde durch die entzückte Teilnahme, mit der er die Fortschritte dieser Birnen verfolgte, von dem Augenblick an, als Lord Decimus feierlich begann: »Da Sie die Birnen erwähnen, so erinnern Sie mich an einen Birnbaum«, bis zu dem prachtvollen Schluß: »Und so kommen wir durch die verschiedenen Wechsel des Lebens von Etonbirnen zu Parlamentspairs«, so sehr überboten, daß er mit Lord Decimus die Treppe hinabgehen und sich sogar neben ihn bei Tische setzen mußte, um die Anekdote zu Ende zu hören. Advokat fühlte nun, daß er den Obmann gewonnen und mit gutem Appetit zu Tische gehen könne.

Es war einer Diner, das den Appetit hätte wecken können, selbst wenn Advokat keinen gehabt hätte. Die seltensten Speisen, üppig gekocht und prachtvoll serviert; die ausgesuchtesten Früchte; die feinsten Weine; Wunder von Arbeit in Gold und Silber, Porzellan und Glas; unzählige Dinge, köstlich für Geschmack, Geruch und Gesicht, wurden zusammen aufgestellt. Oh! was für ein herrlicher Mann, dieser Merdle, was für ein großer Mann, was für ein ausgezeichneter Mann, wie gesegnet und in welch beneidenswerten Verhältnissen – mit einem Worte, was für ein reicher Mann!

Er nahm seine gewöhnliche Achtzehnpennyportion in seiner unverdaulichen Weise zu sich und hatte so wenig für sich zu sagen wie je ein ausgezeichneter Mann. Glücklicherweise war Lord Decimus einer von jenen erhabenen Männern, die es nicht nötig haben, daß man mit ihnen spricht, denn sie können jederzeit genugsam sich mit ihrer eigenen Größe beschäftigen. Dies gestattete auch dem jungen schüchternen Mitglied, zuweilen seine Augen lange genug offen zu halten, um seine Speisen zu sehen. Sobald Lord Decimus jedoch sprach, schloß er sie wieder.

Der angenehme junge Barnacle und Advokat waren die Sprecher der Gesellschaft. Bischof wäre gleichfalls außerordentlich angenehm gewesen, wenn seine Unschuld nicht im Wege gestanden. Auf diese Weise mußte er bald zurückstehen. Wenn auf irgend etwas nur hingedeutet wurde, daß etwas zu profitieren sei, so war er alsbald verloren. Weltliche Angelegenheiten waren ihm zu schwierig; er konnte nicht mit ihnen zurechtkommen.

Dies zeigte sich namentlich, als Advokat gelegentlich sagte, es freue ihn, zu hören, daß man bald das Vergnügen und den Vorteil haben sollte, den gesunden einfachen Scharfsinn – nicht den demonstrativen und prunkenden, sondern den durch und durch gesunden und praktischen – Scharfsinn des gemeinschaftlichen Freundes Edmund Sparkler in die gute Seite einreihen zu dürfen.

Ferdinand Barnacle lachte und sagte: ja, er glaube es. Ein Votum sei ein Votum und immer annehmbar.

Advokat bedauerte, den lieben Freund Sparkler heute vermissen zu müssen.

»Er ist auf Reisen mit Mrs. Merdle«, versetzte Mr. Merdle, langsam aus seinem tiefen Sinnen erwachend, während er einen Löffel in seinen Ärmel schob, »es ist nicht unumgänglich notwendig, daß er zur Stelle sei.«

»Der Zauber des Namens Merdle genügt vollkommen«, sagte Advokat mit der Juryverbeugung.

»O – ja – ich glaube wohl«, stimmte Mr. Merdle bei, indem er den Löffel weglegte und linkisch jede seiner Hände in den Rockärmel der andern steckte. »Ich glaube, die Leute dort, die mir verbunden sind, werden keine Schwierigkeiten machen.«

»Ausgezeichnete Leute, Muster von Menschen!« sagte Advokat.

»Ich freue mich, daß Sie denselben Ihren Beifall schenken«, sagte Merdle.

»Und die Leute an den andern beiden Orten«, fuhr Advokat mit einem Blitzen seines scharfen Auges fort, während er sich leicht seinem herrlichen Nachbar zuwandte, »wir Advokaten sind immer neugierig, forschen alles aus, speichern Kleinigkeiten in unsern Flickwerkköpfen auf, da man nie wissen kann, wo es noch irgendwo zu brauchen ist; – wie steht es mit den Leuten an den beiden andern Orten? Sind sie auf ebenso lobenswerte Weise dem großen und kumulativen Einflusse eines so unternehmungsreichen und berühmten Mannes zugänglich? Lassen sich diese kleinen Wässerchen so ruhig und leicht, und wie durch den Einfluß von Naturgesetzen, so schön von dem majestätischen Strome verschlingen, der auf seinem bewundernswürdigen Wege das umliegende Land fruchtbar macht, daß sich ihr Lauf berechnen und genau vorhersagen läßt?«

Mr. Merdle, den Advokats Beredsamkeit etwas in Verlegenheit setzte, sah unruhig einige Augenblicke auf die nächste Salzbüchse und sagte dann zögernd:

»Sie kennen ihre Pflicht gegen die Gesellschaft ganz genau. Sie werden jeden wählen, den ich ihnen zu diesem Zwecke sende.«

»Sehr erfreulich«, sagte Advokat, »sehr erfreulich, das zu erfahren.«

Die drei fraglichen Orte waren drei kleine faule Löcher dieser Insel, in denen drei kleine, unwissende, betrunkene, schlemmende, schmutzige, vollmachtgebende Körperschaften wohnten, die in Mr. Merdles Tasche geschwankt waren. Ferdinand Barnacle lachte auf seine behagliche Weise und sagte lustig, das sei eine hübsche Gesellschaft. Bischof, der innerlich auf Friedenspfaden wandelte, war ganz gedankenabwesend. »Bitte«, fragte Lord Decimus, indem er seine Blicke an der Tafel umherlaufen ließ, »was ist das für eine Geschichte, die ich hörte, von einem Gentleman, der lange in einem Schuldgefängnisse gesessen, inzwischen aber nachgewiesen hat, daß er aus reicher Familie sei, und nun eine große Menge Geld geerbt hat? Ich hörte auf sehr verschiedene Art davon sprechen. Wissen Sie etwas davon, Ferdinand?«

»Ich weiß nur so viel«, sagte Ferdinand, »daß er dem Departement, dem ich anzugehören die Ehre habe«, – dieser glänzende junge Barnacle sagte die Phrase in scherzhaftem Tone, als wollte er sagen: wir wissen, was wir von diesen Redeformeln zu denken haben, aber wir müssen darauf halten, wir dürfen sie nicht fallen lassen, – »endlose Verlegenheit bereitet hat und uns in unzählige Scheidewasser tauchte.«

»Scheidewasser?« wiederholte Lord Decimus mit so majestätischem Hin- und Herwägen des Wortes, daß das schüchterne Mitglied die Augen fest schloß. »Scheidewasser?«

»Es war ein sehr schwieriges Geschäft«, bemerkte Mr. Lite Barnacle mit dem Ausdruck tiefen Grolls.

»Welcher Art«, sagte Lord Decimus, »war dieses Geschäft? Welcher Art war dieses – ha – Scheidewasser, Ferdinand?«

»O, diese Geschichte ist so gut, wie je eine war«, versetzte dieser Gentleman, »eine Sache in ihrer Art so gut wie nur möglich. Dieser Mr. Dorrit (sein Name ist Dorrit) hat sich ganze Menschenalter, ehe die Fee aus der Bank kam und ihm sein Vermögen gab, gegen eine Kaution, die er unterzeichnete, für den Vollzug eines Kontraktes verbindlich gemacht, der nicht vollzogen worden war. Er war Teilhaber eines großen Geschäftes, das in Spirituosen oder Knöpfen oder Wein oder Stiefelwichse oder Hafermehl oder Wollwaren oder Schweinefleisch oder Haften und Haken oder Eisen oder Sirup oder Schuhen oder dem einen oder andern für Ausrüstung von Soldaten oder Matrosen oder in sonst etwas machte; das Haus fallierte, und wir waren unter den Gläubigern; man legte von seiten der Krone den gesetzmäßigen Beschlag auf dasselbe und so fort. Als die Fee erschien und er uns zu bezahlen wünschte, da waren wir mitten in einem solch exemplarischen Kollationieren und Gegenkollatonieren, Signieren und Kontrasignieren begriffen, daß es sechs Monate dauerte, bis wir wußten, wie wir das Geld in Empfang nehmen und eine Bescheinigung dafür geben sollten. Es war ein Triumph der Staatsgeschäfte«, sagte der hübsche junge Barnacle, indem er herzlich lachte. »Sie haben in Ihrem ganzen Leben noch keine solche Masse von Akten gesehen. »Ja«, sagte der Bevollmächtigte eines Tages zu mir, »wenn ich von diesem Bureau zwei- oder dreitausend Pfund zu bekommen wünschte, statt daß ich sie jetzt ihm auszahlen will, ich könnte kaum so viel Mühe haben.« – »Sie haben ganz recht, mein Lieber« sagte ich, »künftig werden Sie wissen, daß wir hier etwas zu tun haben.«« Der angenehme junge Barnacle schloß, indem er abermals herzlich lachte. Er war wirklich ein gewandter, angenehmer, junger Mann, und seine Manieren waren außerordentlich einnehmend.

Die Art, wie Mr. Tite Barnacle die Sache ansah, war weniger leichtfertig. Er nahm es übel auf, daß Mr. Dorrit dem Departement durch die Absicht zu bezahlen Mühe gemacht hatte und betrachtete es als eine gröbliche Verletzung der Form, es nach so vielen Jahren zu tun. Aber Mr. Tite Barnacle war ein zugeknöpfter Mann und folglich ein gewichtiger Mann. Alle zugeknöpften Männer haben Gewicht. Allen zugeknöpften Männern wird Glauben geschenkt. Ob nun die zusammengehaltene und nie geübte Kraft des Aufknöpfens die Leute bezaubert; ob man glaubt, die Weisheit werde größer und stärker, wenn sie zugeknöpft sei, und verdampfe, wenn sie aufgeknöpft werde – soviel ist gewiß, daß der Mann, dem man Bedeutung und Wichtigkeit zuschreibt, der zugeknöpfte Mann ist. Mr. Tite Barnacle würde in den Augen der Leute nicht halb den Wert gehabt haben, den man ihm jetzt zuerkannte, wenn sein Rock nicht immer bis unter die weiße Krawatte zugeknöpft gewesen wäre.

»Darf ich fragen«, sagte Lord Decimus, »ob Mr. Dorrit – oder Dorrit – Familie hat?«

Da niemand sonst antwortete, sagte der Wirt: »Er hat zwei Töchter, Mylord.«

»Oh! Sie sind mit ihm bekannt?« fragte Lord Decimus.

»Mrs. Merdle ist mit ihnen bekannt. Und Mr. Sparkler ebenfalls. Ja«, sagte Mr. Merdle, »ich glaube sogar, daß eine von den jungen Damen Eindruck auf Edmund Sparkler gemacht hat. Er ist sehr empfänglich und – ich – glaube – die Eroberung –« hier stockte Mr. Merdle und sah auf das Tischtuch, was er gewöhnlich tat, wenn er sich beobachtet sah oder merkte, daß man ihm zuhörte.

Advokat war außerordentlich erfreut, zu vernehmen, daß die Familie Merdle und diese Familie bereits in Berührung miteinander standen. Er setzte mit leiser Stimme dem Bischof über den Tisch hinüber auseinander, daß es eine Art analogen Beispiels zu dem physischen Gesetze sei, nach welchem Gleiches und Gleiches sich anziehe. Er betrachtete diese Anziehungskraft, die der Reichtum für den Reichtum habe, als etwas merkwürdig Interessantes und Sonderbares, – etwas, das auf unerklärliche Weise mit dem Magnet und dem Gesetze der Gravitation zusammenhänge. Bischof, der wieder auf die Erde herabgefallen war, als das gegenwärtige Gesprächsthema auf das Tapet gebracht wurde, stimmte zu. Er sagte, es sei allerdings höchst wichtig für die Gesellschaft, daß jemand, der sich plötzlich und unerwartet in der versuchungsvollen Lage sehe, mit der Kraft für das Gute und das Böse in der Gesellschaft ausgerüstet zu sein, sozusagen in der höheren Kraft einer legitimeren und riesenhafteren Potenz sich aufhebe, deren Einfluß (wie in dem Fall mit unserm Freund, an dessen Tisch wir sitzen) gewöhnlich mit den besten Interessen der Gesellschaft im Einklang stehe. Auf solche Weise bekämen wir, statt zwei rivalisierender und wetteifernder Flammen, einer größeren und einer geringeren, von denen jede ein trübes und unsicheres Licht verbreite, wenn sie zusammen als eins brennen, ein sanftes Licht, dessen angenehmer Strahl eine gleichmäßige Wärme durch das Land verbreite. Bischof schien seine Art, die Sache darzustellen, sehr zu lieben und verweilte deshalb lange dabei: Advokat (der keinen Geschworenen verlieren wollte) hatte das Ansehen, als säße er zu seinen Füßen und erquicke sich an seinen Lehren.

Da das Diner und Dessert drei Stunden lang dauerte, wurde das schüchterne Mitglied in dem Schatten von Lord Decimus rascher kühl, als er durch Speise und Trank warm geworden, und hatte nur ein Frösteln davon. Lord Decimus schien, wie ein großer Turm in einer flachen Gegend, seinen Schatten über das Tischtuch zu werfen, das Licht von dem ehrenwerten Mitgliede abzuhalten, das Mark des ehrenwerten Mitgliedes zu kühlen und ihm eine traurige Idee von Entfernung zu geben. Als er diesen unglücklichen Wanderer aufforderte, Wein zu trinken, hüllte er die schwankenden Schritte desselben in die dunkelsten Schatten, und als er sagte: »Ihre Gesundheit, Sir!« war alles rings um ihn her öde und trostlos.

Endlich begann Lord Decimus, mit einer Kaffeetasse in der Hand, unter den Bildern umherzuschweben und die interessante Erwägung in allen Gemütern hervorzurufen, wann er wohl aufhören würde, herumzuschweben, damit die kleineren Vögel in den zweiten Stock hinaufflattern könnten, was nicht anging, ehe er seine edlen Flügel in dieser Richtung geschwungen. Nach einigem Verweilen vor den Bildern und mehrmaligem Ausbreiten seiner Flügel, das zu nichts geführt, schwang er sich zu den Empfangszimmern empor.

Und hier entstand nun eine Schwierigkeit, die immer entsteht, wenn zwei Menschen speziell bei einem Diner zusammengebracht werden, um miteinander zu verhandeln. Jedermann (mit Ausnahme Bischofs, der keine Ahnung davon hatte) wußte genau, daß das Diner ausdrücklich gegessen und getrunken worden war, damit Lord Decimus und Mr. Merdle ein Gespräch von fünf Minuten miteinander führen könnten. Die so künstlich vorbereitete Gelegenheit war nun da, aber es schien von diesem Augenblick an kein einfach menschlicher Scharfsinn imstande zu sein, die beiden Häuptlinge in dasselbe Zimmer zu bringen. Mr. Merdle und sein edler Gast trieben sich beständig an den entgegengesetzten Enden der Perspektive umher. Es war vergeblich, daß der einnehmende Ferdinand Barnacle Lord Decimus veranlaßte, die bronzenen Pferde in der 3^ähe von Mr. Merdle sich anzusehen. Denn Mr. Merdle wich aus und schlich weg. Es war vergeblich, daß er Mr. Merdle zu Lord Decimus brachte, um ihm die Geschichte der Dresdener Vasen, die einzig in ihrer Art waren, zu erzählen. Denn nun wich Lord Decimus aus und schlich weg, während er seinen Mann im Auge behielt.

»Haben Sie je etwas dergleichen gesehen?« sagte Ferdinand zu Advokat, als er zwanzigmal gefoppt war.

»Oft!« versetzte Advokat. »Wenn ich nicht den einen von beiden in eine bestimmte Ecke dränge und Sie den andern«, sagte Ferdinand, »so bringt man die Sache nicht zustande.«

»Ganz wohl«, sagte Advokat. »Ich will Merdle auf mich nehmen, aber nicht Mylord.«

Ferdinand lachte mitten in seinem Ärger. »Zum Teufel mit beiden!« sagte er, auf seine Uhr sehend. »Ich sollte weggehen. Warum können sie auch, beim Teufel, nicht zusammenkommen. Sie wissen ja beide, was sie wünschen, und zu tun beabsichtigen. Sehen Sie sie nur einmal an!«

Sie zeigten sich beide an den entgegengesetzten Seiten, jeder mit dem absurden Gebaren, als wenn er nicht an den andern dächte, was nicht augenscheinlich lächerlicher hätte sein können, wenn es mit Kreide auf ihren Rücken geschrieben gewesen wäre. Bischof, der eben zu Advokat und Ferdinand getreten war, dessen Unschuld jedoch ihn abermals von der Sache ausgeschlossen und ihn in süßes Öl gewickelt hatte, sah man nun sich Lord Decimus nähern und ein Gespräch mit ihm anknüpfen.

»Ich glaube, ich muß Mr. Merdles Arzt zu bekommen suchen, daß er ihn festhält«, sagte Ferdinand; »und dann muß ich an meinen berühmten Verwandten Hand legen und ihn zu der Konferenz ködern, wenn ich kann, oder förmlich ziehen, wenn mir das erstere nicht gelingt.«

»Da Sie mir die Ehre erweisen«, sagte Advokat mit dem schlauesten Lächeln, »meine geringe Unterstützung in Anspruch zu nehmen, so ist sie mit größtem Vergnügen Ihnen zugesagt. Ich glaube nicht, daß es ein Mann tun kann. Wenn Sie jedoch versuchen wollen, den Lord in jenem entfernten Empfangzimmer, wo er jetzt im Gespräch vertieft ist, festzuhalten, so will ich versuchen, unsern lieben Merdle ebenfalls dahin zu bringen, ohne daß es ihm möglich werden soll, mir zu entwischen.«

»Top!« sagte Ferdinand. »Top!« sagte Advokat.

Advokat, der einen prachtvollen und höchst interessanten Anblick bot, wenn er sein Doppelglas an dem Bande lustig schweben ließ und sich freundlich vor einer ganzen Welt von Geschworenen verbeugte, Advokat stand plötzlich auf die scheinbar zufälligste Weise neben Mr. Merdle und ergriff diese Gelegenheit, eines kleinen Punktes zu erwähnen, über den er durch das Licht seiner praktischen Kenntnisse aufgeklärt zu sein wünschte. (Dabei nahm er Mr. Merdle beim Arme und führte ihn unvermerkt weg.) Ein Bankier, den er A.B. nennen wolle, leihe eine beträchtliche Summe Geldes, die er zu fünfzehntausend Pfund annehmen wolle, einem seiner Klienten oder Kunden, den er P.Q. nennen wolle. (Dabei hielt er Mr. Merdle fest im Arme, da sie Lord Decimus näher kamen.) Als Sicherheit für die Rückerstattung der Anleihe, die P.Q. gemacht, die er als verwitwete Dame annehmen wolle, wurden in A.B.’s Händen die Besitzdokumente eines Freiguts deponiert, die er Blinkitter Doddles nennen wolle. Nun sei die Sache die. Ein begrenztes Recht, in den Wäldern von Blinkitte Doddles Holz zu fällen, habe der Sohn von P.Q. besessen, der zu jener Zeit bereits majorenn gewesen und den er X.N. nennen wolle – aber nein, das wäre nicht recht. In Gegenwart von Lord Decimus unfern Wirt mit der trockenen Spreu der Gesetze hinzuhalten, wäre wirklich zu schlecht! Ein andermal. Advokat bedauerte wirklich und wollte kein Wort weiter sagen. Vielleicht gönne ihm Bischof ein halbes Dutzend Worte? (Er hatte Mr. Merdle auf ein Sofa dicht neben Lord Decimus niedergesetzt, und nun mußte die Sache in Gang kommen oder nie mehr.)

Und nun stand die ganze übrige Gesellschaft, lebhaft erregt und begierig, immer mit Ausnahme Bischofs, der nicht die leiseste Idee hatte, daß irgend etwas vorging, in einer Gruppe um den Kamin im nächsten Zimmer und gab sich das Ansehen, als ob sie über eine Menge kleiner Gesprächsgegenstände unbefangen plauderte, während im stillen aller Augen und Gedanken nach dem abgesonderten Paare schweiften. Der Chorus war ausnehmend ängstlich besorgt, da ihn vielleicht die bange Ahnung quälte, daß ihm etwas Bedeutendes entzogen werden sollte. Bischof allein sprach ruhig und unbekümmert fort. Er sprach mit dem großen Arzt über die Abspannung der Kehle, mit der junge Geistliche so häufig behaftet seien, und die Mittel, dem häufigen Vorkommen dieses Übels in der Kirche vorzubeugen. Der Arzt meinte, es sei im allgemeinen die beste Art dies zu vermeiden, wenn man wisse, wie man lesen solle, falls man das Lesen zur Profession mache. Bischof sagte zweifelnd, ob das wirklich seine Ansicht sei? Und der Arzt sagte, ganz entschieden sei das seine Ansicht.

Ferdinand war indes der einzige, der außerhalb des Kreises umherscharmützelte; er hielt ungefähr die Mitte zwischen diesem und den beiden, als wenn eine chirurgische Operation von Lord Decimus an Mr. Merdle oder von Mr. Merdle an Lord Decimus vorgenommen würde und seine Dienste zum Verbande jeden Augenblick notwendig sein könnten. Wirklich rief Lord Decimus nach einer Viertelstunde: »Ferdinand!«, und er ging hinein und nahm für fünf Minuten eine Stelle bei der Konferenz ein. Dann machte sich ein halbunterdrücktes Aufatmen unter der Gesellschaft Luft: denn Lord Decimus stand auf, um Abschied zu nehmen. Wiederum von Ferdinand nach dem Punkt geleitet, wo er sich herablassend zeigen konnte, schüttelte er der ganzen Gesellschaft auf die glänzendste Weise die Hand und sagte sogar zu Advokat: »Ich hoffe. Sie fühlen sich nicht durch meine Birnen verletzt?« Worauf Advokat entgegnete: »Eton, Mylord, oder Parlament?« was deutlich zeigte, daß er den Scherz verstanden hatte, da er darauf einging und zuletzt noch zart zu verstehen gab, daß er ihn sein ganzes Leben nicht vergessen werde.

All die große Bedeutung, die in Mr. Tite Barnacle eingeknöpft war, entfernte sich hierauf: nach diesem Ferdinand, der in die Oper ging. Einige von den übrigen blieben noch ein wenig, indem sie goldene Likörgläser durch klebrige Ringe mit Boule-Tischen vermählten, auf die Gefahr hin, daß Mr. Merdle etwas sage. Aber Mr. Merdle, der wie gewöhnlich träumerisch und verdrießlich in seinen Empfangszimmern umherschlenderte, sagte nie ein Wort.

Einige Tage später wurde der ganzen Stadt verkündigt, daß Edmund Sparkler, Esquire, der Stiefsohn des ausgezeichneten, weltberühmten Mr. Merdle, einer der Lords des Circumlocution Office geworden: und allen Treugläubigen wurde proklamiert, daß diese herrliche Ernennung als ein dankbares und schönes Zeichen der Huldigung begrüßt werden müsse, die der dankbare und herrliche Lord Decimus dem kommerziellen Interesse darbringe, das stets in einem großen Handelsstaat – und so weiter mit Pauken und Trompeten. Durch diesen Beweis der Huldigung gehoben, nahmen die herrliche Bank und alle übrigen herrlichen Unternehmungen ihren Fortgang: und Gaffer kamen nach Harley Street, Cavendish Square, nur um das Haus zu betrachten, wo das goldene Wunder lebte.

Und wenn sie den Oberhaushofmeister sahen, der in seinen herablassenden Augenblicken zur Flurtür herausschaute, sagten sich die Gaffer, wie reich er aussehe, und hätten gar gern gewußt, wieviel Geld er in der prachtvollen Bank habe. Aber wenn sie diese respektable Nemesis besser gekannt hätten, würden sie nicht neugierig gewesen sein und den Betrag mit der größten Genauigkeit haben angeben können.

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Der Fortschritt einer Epidemie.

Daß es mindestens ebenso schwierig sei, einer moralischen Ansteckung Einhalt zu tun als einer physischen; daß eine solche Krankheit mit der Bösartigkeit und Raschheit der Pest umsichgreife; daß die Ansteckung, wenn sie mal begonnen, keinen Stand und Beruf schone, sondern sich auf Leute von der besten Gesundheit werfe und an den unempfänglichsten Konstitutionen hervorbreche, ist eine durch die Erfahrung ebensosehr bestätigte Tatsache, als daß wir menschlichen Geschöpfe in einer Atmosphäre atmen. Ein unschätzbares Glück wäre es für alle, wenn die Angesteckten, in deren Schwäche und Verdorbenheit sich der Giftstoff erzeugte, augenblicklich festgenommen und in strengen Gewahrsam gebracht (wir wollen nicht gerade sagen summarisch erstickt) werden könnten, ehe der Giftstoff sich weiter zu verbreiten imstande wäre.

Wie ein großes Feuer die Luft weit in der Runde mit seinem Krachen erfüllt, so ließ die heilige Flamme, die die mächtigen Barnacles angefacht, die Luft immer weiter und weiter von dem Namen Merdle erschallen. Er ertönte von jeder Lippe und klang in jedes Ohr. Ein Mann wie Mr. Merdle existierte außer ihm nicht, hatte niemals existiert und konnte niemals wieder existieren. Niemand, wie wir früher erwähnten, wußte, was er getan; aber jedermann wußte, daß er das größte Wunder sei, das jemals existierte.

Im Bleeding Heard Yard, wo es keinen unverwendeten halben Penny gab, nahm man ebenso lebhaftes Interesse an diesem Ausbund von Menschen als an der Fondsbörse. Mrs. Plornish, nunmehr Inhaberin eines kleinen Spezerei- und Allerleikrams in einem kleinen Laden am lebhaftesten Ende des Hofes, oben an der Treppe, in dem ihr kleiner alter Vater und Maggy sie unterstützten, predigte gewöhnlich ihren Kunden über den Ladentisch hinüber von ihm. Mr. Plornish, der einen kleinen Anteil an dem Geschäft eines kleinen Bauunternehmens in der Nachbarschaft hatte, sagte, mit der Kelle in der Hand, wenn er oben auf den Gerüsten oder auf den Dachziegeln der Häuser stand, wie die Leute ihm erzählten, sei Mr. Merdle der Mann, »der alles in bezug auf das, was wir alle erwarten, sage ich euch, ins Geleise bringen könnte und, sage ich euch, soviel wir brauchen, sicher auch ins Haus schaffen wird.« Von Mr. Baptist, dem einzigen Mieter von Mr. und Mrs. Plornish, flüsterten sich die Leute zu, er lege die Ersparnisse, die er bei seinem einfachen und mäßigen Leben mache, zurück, um sie in einer oder der andern von Mr. Merdles Unternehmungen anzulegen. Die Bewohnerinnen des Bleeding Heard Yard teilten, wenn sie ihr Lot Tee und ihren Zentner Klatsch holten, Mr. Plornish mit, daß, wie sie von ihrer Base Mary Anne gehört hätten, die in diesem Fache arbeite, die Kleider von Mrs. Merdle drei Frachtwagen füllen würden. Daß sie eine so schöne Frau sei, wie nur irgendwo eine existierte, und einen Busen habe wie Marmor. Daß, soviel sie gehört, ihr Sohn aus einer früheren Ehe bei der Regierung angestellt worden; daß dieser erste Gemahl derselben ein General gewesen, und Armeen habe er ins Feld geführt und sei siegreich aus dem Kampfe hervorgegangen, wenn man alles glauben dürfe, was erzählt werde. Daß man behaupte, Mr. Merdle habe gesagt, wenn sie es ihm der Mühe wert machten, das ganze Ministerium zu übernehmen, wollte er es ohne Profit tun, aber es übernehmen und dabei verlieren könne er nicht. Daß jedoch nicht zu erwarten gewesen, er würde verlieren, denn seine Wege seien, ohne Übertreibung dürfe man das sagen, mit Gold gepflastert; daß es aber sehr zu bedauern wäre, daß man nicht etwas Hübsches zusammengeschossen, um ihm die Übernahme der Mühe wert zu machen; denn solche und nur solche Leute wüßten, wie hoch das Brot und das Fleisch im Preise gestiegen; und solche und nur solche Leute könnten und würden die teuren Preise wieder herunterbringen.

So epidemisch und heftig war das Fieber im Bleeding Heard Yard, daß es selbst an Mr. Pancks‘ Einsammlungstagen nicht von den Patienten wich. Die Krankheit nahm bei solchen Gelegenheiten die eigentümliche Form an, daß die Kranken eine unergründliche Entschuldigung und einen unerschöpflichen Trost in Anspielungen auf den Zaubernamen fanden. »Nun denn!« sagte Mr. Pancks gewöhnlich zu einem säumigen Mietmann, »bezahlen Sie! Vorwärts!«

»Ich habe es nicht«, antwortet der Säumige. »Ich sage Ihnen die Wahrheit, wenn ich behaupte, ich habe auch nicht einen einzigen Sixpence.«

«Das geht nicht, wie Sie wissen«, versetzt dann Mr. Pancks. »Sie werden doch nicht glauben, daß das gehen kann?«

Der Schuldner gibt mit einem niedergeschlagenen »Nein, Sir«, zu, daß er das selbst nicht glaube.

»Mein Hauseigentümer läßt sich das nicht gefallen, wie Sie sich denken können«, antwortet Mr. Pancks. »Er schickt mich nicht deshalb her. Bezahlen Sie! Vorwärts!«

Der Schuldner antwortet dann: »Ach, Mr. Pancks. Wenn ich der reiche Herr wäre, dessen Name in jedermanns Munde ist, – wenn ich Merdle hieße, Sir, würde ich augenblicklich bezahlen und mit Freuden bezahlen.«

Zwiegespräche über die Mietefrage fanden gewöhnlich an den Haustüren oder in den Gängen statt und dies in Gegenwart verschiedener tief teilnehmender »blutender Herzen«. Eine Anspielung dieser Art rief stets bei ihnen ein leises zustimmendes Gemurmel hervor, als ob jene ganz überzeugend wäre; und der säumige Schuldner, mochte er auch vorher noch so ratlos und niedergeschlagen sein, fühlte sich davon immer ein wenig getröstet.

»Wenn ich Mr. Merdle wäre, Sir, so sollten Sie keine Ursache haben, über mich zu klagen. Nein, wahrhaftig nicht!« fährt der Schuldner mit Kopfschütteln fort. »Ich würde dann so rasch bezahlen, Mr. Pancks, daß Sie das Geld gar nicht erst zu verlangen brauchten.«

Dabei hörte man abermals das zustimmende Gemurmel, das sagen wollte, es sei unmöglich, etwas Besseres vorzubringen, und es stehe dem Bezahlen wohl am nächsten.

Mr. Pancks sah sich dann genötigt, während er die Sache in sein Notizbuch eintrug, sich mit den Worten zu begnügen: »Gut! Sie werden Exekution ins Haus bekommen und hinausgesetzt werden; das ist’s, was Sie treffen wird. Das nützt nichts, mir da von Mr. Merdle vorzuschwatzen. Sie sind mal nicht Mr. Merdle, so wenig wie ich.«

»Nein, Sir,« antwortete der Schuldner. »Ich wünschte nur, Sie wären es, Sir.«

»Sie wären nachsichtiger gegen uns, wenn Sie Mr. Merdle wären, Sir,« fuhr dann der Schuldner, mutiger werdend, fort, »und es wäre besser für alle Teile. Besser für uns und besser für Sie. Sie würden dann nicht nötig haben, uns zu quälen, und brauchten sich selbst auch nicht zu quälen. Es würde Ihnen leichter ums Herz sein, Sir, und Sie würden milder gegen andre sein, wenn Sie Mr. Merdle wären.«

Mr. Pancks, den diese unpersönlichen Komplimente immer sehr verblüfften, erholte sich nie wieder nach einem solchen Angriff. Er konnte nur an seinen Nägeln beißen und auf den nächsten säumigen Schuldner losdampfen. Der Chorus der »blutenden Herzen« sammelte sich dann um den Schuldner, den er soeben verlassen, und die übertriebensten Gerüchte in Beziehung auf die Masse baren Geldes in Mr. Merdles Besitz gingen dann zu ihrem nicht geringen Tröste im Kreise herum.

Nach einer der vielen solchen Niederlagen an einem der vielen Zinstage machte Mr. Pancks nach Beendigung der Tagesgeschäfte, mit seinem Notizbuch unter dem Arm, einen Besuch in Mr. Plornishs Winkel. Mr. Panck’s Zweck war nicht geschäftlicher, sondern sozialer Natur. Er hatte einen schweren Tag gehabt und bedurfte einiger Erheiterung. Er stand jetzt auf freundschaftlichem Fuße mit der Familie Plornish, da er oft bei ähnlichen Gelegenheiten sie besucht und mit ihnen von Miß Dorrit geplaudert und Erinnerungen ausgetauscht hatte.

Mrs. Plornishs Wohnstübchen hinter dem Laden war nach ihrer eigenen Angabe eingerichtet und gemalt worden und bot auf der Seite des Ladens ein kleines Phantasiestück, das Mrs. Plornish große Freude machte. Dieser poetische Reiz, der dem Stübchen gegeben wurde, bestand darin, daß man die Wand so gemalt, daß sie das Äußere einer strohgedeckten Hütte darstellte: der Künstler hatte (so effektvoll, als es die höchst unproportionierten Verhältnisse nur erlaubten) die wirkliche Tür und das wirkliche Fenster darauf angebracht. Die bescheidene Sonnenblume und die Rosenpappel waren in üppiger Pracht und großem Gedeihen vor dieser ländlichen Wohnung dargestellt, während eine dicke Masse Rauchs, die aus dem Kamin aufstieg, von dem guten Leben drinnen oder vielleicht davon zeugte, daß er lange nicht gekehrt worden. Ein treuer Hund war in dem Moment dargestellt, wie er von der Schwelle auffährt und dem befreundeten Besucher an die Füße springt: ein rundes Taubenhaus, von einer Wolke Tauben umhüllt, erhob sich hinter dem Gartengeländer. An der Tür, wenn sie geschlossen war, befand sich ein Messingschild mit der Aufschrift: »Glückshütte, T. und M. Plornish«: die beiden Namen gehörten Mann und Frau. Keine Poesie und keine Kunst hatte je größeren Reiz für die Phantasie, als die Verbindung beider in dieser gemalten Hütte für Mrs. Plornish hatte. Es war ihr einerlei, daß Plornish die Gewohnheit hatte, sich daran zu lehnen, wenn er nach der Arbeit seine Pfeife rauchte, wenn sein Hut den Taubenschlag und alle Tauben verdeckte, wenn sein Rücken das Haus verschwinden ließ und seine Hände in der Tasche den blühenden Garten ausrodeten und das ganze umliegende Land wüstlegten. Für Mrs. Plornish blieb es immer ein außerordentlich schönes Hüttchen, eine herrliche Täuschung; und sie machte sich nichts daraus, daß Mr. Plornishs Auge einige Zoll über dem Giebelschlafzimmer im Dache war. Nachdem der Laden geschlossen war, hinauszukommen und ihren Vater ein Lied drinnen singen zu hören, war für sie ein wahrhaftes ländliches Fest, das goldne Zeitalter war wieder angebrochen. Und wahrhaftig, wenn diese herrliche Zeit hätte wiederkehren können oder überhaupt je existiert hätte, so möchte man bezweifeln, ob sie je herzlicher bewundernde Töchter hätten zeugen können als diese arme Frau.

Von dem Klingeln an der Ladentür aufmerksam gemacht, kam sie aus der »Glückshütte«, um zu sehen, wer es sei. »Ich dachte mir’s doch, daß Sie es sein würden, Mr. Pancks«, sagte sie, »denn es ist Ihr gewöhnlicher Abend, nicht wahr? Sehen Sie, hier ist auch schon der Vater auf den Klang der Glocke wie ein flinker junger Ladendiener herbeigeeilt. Sieht er nicht prächtig aus? Vater freut sich mehr, daß Sie es sind, als wenn’s ein Kunde wäre, denn er plaudert gar zu gern: und wenn die Rede auf Miß Dorrit kommt, so ist ihm das um so lieber. Sie haben Vater noch nie so gut bei Stimme gehört wie gegenwärtig«, sagte Mrs. Plornish, und ihre eigne Stimme zitterte vor Stolz und Freude. »Er hat uns vergangenen Abend Strophen in einer Weise gesungen, daß Plornish aufstand und ihm folgende Rede über den Tisch hinüber hielt: ›John Edward Nandy‹, sagte Plorish zum Vater, ›ich habe Euch nie solchen Triller singen hören wie heute abend.‹ Ist das nicht wohltuend, Mr. Pancks; nicht wahr?«

Mr. Pancks, der den Alten in seiner freundlichsten Weise angeschnaubt hatte, antwortete bejahend und fragte beiläufig, ob der muntre Altrobursche schon da sei? Mrs. Plornish antwortete, nein, noch nicht, er sei mit einer Arbeit nach dem Westend gegangen und habe gesagt, er wolle zur Teezeit wieder da sein. Mr. Pancks wurde dann gastfreundlich eingeladen, in die »Glückshütte« zu treten, wo er den älteren Master Plornish fand, der eben aus der Schule gekommen war. Als er den jungen Schüler über die Fortschritte, die er heute in der Schule gemacht, leicht examinierte, fand er, daß die vorgerückteren Schüler, die schon große Buchstaben und das M. schrieben, als Vorschrift die Worte »Merdle, Millionen« erhalten hatten.

»Und wie geht es Ihnen im Geschäft, Mrs. Plornish«, sagte Pancks, »da wir gerade von Millionen sprechen?«

»Es geht seinen soliden Gang, Sir«, versetzte Mrs. Plornish. »Lieber Vater, würdest du wohl in den Laden gehen und das Fenster ein wenig putzen, ehe der Tee fertig ist, du verstehst das so vortrefflich.«

John Edward Nandy humpelte hinaus, ganz vergnügt, den Wunsch seiner Tochter erfüllen zu können. Mrs. Plornish, die immer bei Erwähnung von Geldangelegenheiten vor dem alten Mann in tödlicher Verlegenheit war, da sie befürchtete, eine ihrer Äußerungen möchte seinen Stolz verletzen und ihn verleiten, wieder in das Armenhaus zu gehen, konnte nun ganz offenherzig gegen Mr. Pancks sein.

»Es ist wahr, daß das Geschäft seinen soliden Gang geht«, sagte Mrs. Plornish, indem sie leiser sprach, »und auch eine ausgezeichnete Kundschaft hat. Das einzige, was ihm im Wege steht, Sir, ist der Kredit.«

Diese Fatalität, die die meisten Leute, die in Geschäftsbeziehung zu den Bewohnern des »blutenden Herzens« standen, in ihrer ganzen Strenge fühlten, war ein großer Stein des Anstoßes für das Geschäft von Mrs. Plornish. Als Mr. Dorrit sie in dem Laden eingerichtet hatte, legten die »blutenden Herzen« eine große Rührung und den festen Entschluß an den Tag, sie dabei zu unterstützen, ein Zug, der der menschlichen Natur große Ehre macht. Anerkennend, daß sie als ein langjähriges Mitglied ihrer Gemeinde einen Anspruch auf ihre Großmut habe, verpflichteten sie sich mit lebhafter Teilnahme, komme was da wolle, bei Mrs. Plornish zu kaufen und ihre Gönnerschaft keinem andern Geschäft zuzuwenden. Von diesen edlen Gefühlen getragen, hatten sie sich sogar etwas übernommen und Luxus im Ankauf von Waren in dem Spezereigeschäft getrieben, indem sie die Linie überschritten, die sie sonst gewöhnlich zogen: dabei entschuldigten sie sich gegenseitig damit, wenn sie zu viel täten, geschehe es ja nur für eine Nachbarin und Freundin: für wen sollte man denn über die Schnur hauen, wenn nicht für eine solche? So unterstützt ging das Geschäft außerordentlich glänzend, und die vorrätigen Artikel gingen reißend ab. Kurz, wenn die »blutenden Herzen« nur bezahlt hätten, wäre das Geschäft ein äußerst brillantes gewesen: da sie sich jedoch ausschließlich aufs Borgen verlegten, so hatten die wirklich realisierten Gewinne noch nicht begonnen, sich in den Büchern zu zeigen.

Mr. Pancks machte ein wahres Stachelschwein aus sich, indem er bei der Betrachtung dieser Sachlage sich beständig durch die Haare strich, als der alte Mr. Nandy, mit geheimnisvoller Miene wieder in die Hütte tretend, die Anwesenden aufforderte, hinauszukommen und zu sehen, wie seltsam sich Mr. Baptist gebare, dem etwas begegnet sein müsse, das ihn erschreckt hätte. Alle drei gingen in den Laden hinaus und sahen durch das Fenster, wie Mr. Baptist, blaß und aufgeregt, folgende Wunderlichkeiten den Zuschauern zum besten gab. Zuerst gewahrte man ihn, wie er oben an der Treppe, die in den Hof hinabführte, die Straße hinauf und hinab blickte, wobei er mit dem Kopf vorsichtig dicht an der Ladentür hervorlugte. Nach sehr ängstlichem Forschen kam er aus seinem Hinterhalt hervor und ging rasch die Straße hinab, als wenn er ganz fortgehen wollte: dann kehrte er plötzlich um und ging im selben Schritt und mit derselben Verstellung die Straße hinauf. Als er ebensoweit die Straße hinauf als hinunter gegangen war, ging er quer über den Weg und verschwand. Was dieses letzte Manöver beabsichtigte, ward erst klar, als er von der Treppe herab plötzlich in den Laden trat, woraus hervorging, daß er einen großen und versteckten Umweg an Doyce und Clennam vorbei gemacht haben und dann gerade über den Hof gelaufen sein mußte. Er war deshalb, wie man sich denken kann, ganz außer Atem, und sein Herz schien rascher zu schlagen als die kleine Ladenglocke, die von seinem hastigen Türzuwerfen hinter ihm zitterte und klingelte.

»Hallo, alter Junge!« sagte Mr. Pancks. »Altro, alter Bursche! Was gibt’s?«

Mr. Baptist oder Signor Cavaletto verstand nunmehr das Englische beinahe so gut als Mr. Pancks selbst und konnte es auch sehr gut sprechen. Nichtsdestoweniger mischte sich Mrs. Plornish, mit verzeihlichem Stolz auf ihr Talent, das sie zu allem nur nicht zur Italienerin machte, als Dolmetscherin in das Gespräch.

»Ich fragen«, sagte Mrs. Plornish, »was geschehen sein?«

»Kommen Sie in die kleine ›Glückshütte‹, Padrona«, versetzte Mr. Baptiste, indem er noch verstohlener als gewöhnlich mit verkehrter Hand den rechten Zeigefinger rückwärtsdrehte. »Kommen Sie!«

Mrs. Plornish war stolz auf den Titel Padrona, dem sie nicht so sehr die Bedeutung Herrin vom Hause als Meisterin der italienischen Sprache beilegte. Sie erfüllte deshalb augenblicklich Mr. Baptists Wunsch, und sie traten alle in die Hütte.

»Ich hoffe, Sie sein nicht erschrocken«, sagte Mrs. Plornish und machte sich mit ihrem gewöhnlichen Reichtum an Auswegen zum Dolmetscher gegenüber von Mr. Pancks. »Was geschehen sein? Padrona wünsche wissen?«

»Ich habe jemand gesehen«, versetzte Baptist. »Ich habe ihn rincontrato.«

»Ihn? wer ihn sein?« fragte Mrs. Plornish.

»Ein schlechter Mann. Der schlechteste Mensch. Ich hoffte, ihn nie wieder in meinem Leben zu sehen.«

»Wie wissen, daß schlecht sein?« fragte Mrs. Plornish.

»Das ist gleichgültig, Padrona. Ich weiß es nur zu gut.«

»Er Euch aber gesehen?« fragte Mr. Plornish.

»Nein, ich hoffe nicht. Ich glaube nicht.«

»Er sagte«, erklärte dann Mrs. Plornish, sich mit gnädiger Herablassung an ihren Vater und Mr. Pancks wendend, »daß er einem schlechten Mann begegnet sei, jedoch hoffe, nicht von ihm gesehen worden zu sein. Nun«, fragte Mr. Plornish, zum italienischen Idiom zurückkehrend, »warum hoffen, daß schlechter Mann Euch nicht gesehen?«

»Beste Padrona«, versetzte der kleine Ausländer, den sie so gnädig beschützte, »bitte, fragen Sie nicht. Noch einmal sage ich, es ist gleichgültig. Ich will ihn nicht sehen, ich will nicht von ihm gekannt sein – nimmer, nimmer. Genug, Schönste. Lassen wir die Sache!«

Der Gegenstand war ihm so unangenehm und brachte seine gewöhnliche Munterkeit in solche Verwirrung, daß Mrs. Plornish sich enthielt, weiter in ihn zu dringen, um so mehr, als der Tee schon einige Zeit auf dem Feuer gezogen hatte. Aber sie war nichtsdestoweniger sehr überrascht und neugierig, wenn sie auch keine Fragen mehr an ihn richtete; das gleiche war mit Mr. Pancks der Fall, dessen ausdrucksvolles Atmen, seit der kleine Mann eingetreten war, sehr schwerfällig geworden, wie bei einer Lokomotive, die mit einer großen Last einen steilen Abhang hinaufarbeitet. Maggy, die jetzt besser gekleidet war als früher, aber dem monströsen Charakter ihrer Haube treu geblieben, hatte seit dem ersten Augenblick mit offenem Mund und Augen im Hintergrund gestanden, und die starrenden und gaffenden Augen verloren nichts an Breite durch die vorzeitige Beseitigung der Sache. Wenn auch nicht mehr von der Sache geredet wurde, schien man doch von allen Seiten noch daran zu denken; selbst den beiden kleinen Plornishs ging die Sache nicht aus dem Kopf, denn sie nahmen an dem Abendessen in einer Weise teil, als wenn das Essen von Butter und Brot beinahe überflüssig würde durch die peinliche Wahrscheinlichkeit, daß der schlimmste aller Menschen ehestens erscheinen werde, um sie alle aufzuessen. Mr. Baptist begann nach und nach etwas munterer zu werden; aber er verließ nicht einen Augenblick den Stuhl, den er hinter der Tür und dicht am Fenster eingenommen, obgleich es nicht sein gewöhnlicher Platz war. Sooft die kleine Glocke klang, fuhr er zusammen und sah versteckt hinaus, mit dem Zipfel des kleinen Vorhangs in der Hand und dem übrigen vor dem Gesicht, offenbar nichts weniger als beruhigt, daß der Gefürchtete trotz all seiner Umwege und Schliche mit der furchtbaren Sicherheit eines Bluthundes ihn ausfindig machen würde.

Das Kommen von zwei oder drei Kunden und von Mr. Plornish, was verschiedene Male Unruhe hervorbrachte, veranlaßte Mr. Baptist häufig genug, seine Manöver zu machen, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich zu richten. Der Tee war getrunken und die Kinder zu Bett, und Mrs. Plornish brachte bereits den schüchternen Wunsch vor, ihr Vater möchte ihnen Chloë singen, als die Glocke wiederum ertönte und Mr. Clennam eintrat.

Clennam hatte lange über seinen Büchern und Briefen gesessen; denn die Wartezimmer des Circumlocution Office raubten ihm viel Zeit. Außerdem war er sehr niedergebeugt und unruhig durch den jüngsten Vorfall in seiner Mutter Hause. Er sah angegriffen und verlassen aus. Er fühlte es auch; aber nichtsdestoweniger ging er von seinem Kontor nach diesem Ende des Hofes, um ihnen mitzuteilen, daß er einen weiteren Brief von Miß Dorrit erhalten habe.

Diese Neuigkeit machte in der Hütte eine Sensation, die die allgemeine Aufmerksamkeit von Mr. Baptist ablenkte. Maggy, die sich alsbald in den Vordergrund drängte, schien die Nachrichten von ihrer kleinen Mutter gleicherweise mit Ohren, Nase, Mund und Augen einzusaugen, nur daß die letzteren von Tränen verschleiert waren. Sie war besonders erfreut, als Clennam ihr versicherte, daß es in Rom Spitäler gebe, und zwar sehr gut eingerichtete Spitäler. Mr. Pancks stieg im Ansehen, weil er in dem Briefe besonders erwähnt war. Jedermann war erfreut und voll Teilnahme und Clennam für seine Mühe wohl belohnt.

»Aber Sie sind müde, Sir. Lassen Sie mich eine Tasse Tee für Sie zurechtmachen«, sagte Mrs. Plornish, »wenn Sie sich herablassen wollen, eine solche in der Hütte anzunehmen, und vielen Dank auch, daß Sie uns so freundlich im Andenken behalten.«

Mr. Plornish, der es für seine Pflicht als Wirt hielt, seine persönliche Anerkennung hinzuzufügen, brachte sie in der Form vor, die immer sein höchstes Ideal der Verbindung von Zeremonie und Offenheit darstellte.

»John Edward Nandy«, sagte Plornish, indem er sich an den Alten wandte. »Sir. Es ist nicht zu oft, daß Ihr anspruchslose Handlungen ohne einen Funken von Stolz seht, und wenn Ihr deshalb sie seht, so erkennt sie mit dankbarer Verehrung an, denn wenn Ihr sie nicht seht und braucht sie einmal, wo Ihr sie nicht zu sehen bekommt, so ist es natürlich, daß Euch ganz recht geschieht.«

Auf diese Anrede antwortete Mr. Nandy:

»Ich bin ganz und gar Eurer Meinung, Thomas, und Eure Meinung ist dieselbe wie die meine, und deshalb kein Wort weiter davon, und da ich mit dieser Meinung nicht hinter dem Berge halte, sondern frei heraussage, ja, Thomas, ja, und diese Meinung ist die, in der Ihr und ich immer mit allen übereinstimmen und da also keine Verschiedenheit der Meinungen obwaltet, so kann nur eine Meinung sein, ganz gewiß, ja, Thomas, ja!«

Arthur sprach es mit etwas weniger Formalität aus, wie sehr es ihm wohltue, daß sie eine so kleine Aufmerksamkeit von seiner Seite so freundlich aufnähmen, und erklärte hinsichtlich des Tees, daß er noch nicht gespeist und direkt nach Hause gehen wollte, um sich nach einem angestrengten Tage zu erquicken, sonst würde er das gastfreundliche Anerbieten gern angenommen haben. Da Mr. Pancks ziemlich geräuschvoll seinen Dampf für die Abfahrt anspannte, schloß er mit der Frage an diesen Herrn, ob er ihn begleiten wollte? Mr. Pancks sagte, er wünsche nichts angelegentlicher, und die beiden verabschiedeten sich von der »Glückshütte«.

»Wenn Sie mit mir nach Hause gehen wollten, Pancks«, sagte Arthur, als sie auf der Straße waren, »und das Diner oder Souper, wie Sie’s heißen mögen, mit mir teilen wollten, so würden Sie mir nahezu einen Liebesdienst erzeigen; denn ich bin heute abend sehr müde und schlimmer Laune.«

»Verlangen Sie einen größern Dienst als diesen von mir«, sagte Pancks, »wenn Sie einen brauchen, und er soll getan werden.«

Zwischen diesem exzentrischen Charakter und Clennam hatte sich ein beständig wachsendes stilles Einvernehmen und Vertrauen hergestellt, seitdem Mr. Pancks auf dem Hofe des Marshalseagefängnisses über den Rücken von Mr. Rugg geflogen war. Als an dem denkwürdigen Tage der Abreise der Familie der Wagen wegfuhr, hatten diese beiden zusammen ihm nachgesehen und waren langsam miteinander weitergegangen. Als der erste Brief von Klein-Dorrit ankam, hörte niemand mit größerem Interesse seinen Inhalt als Mr. Pancks. Der zweite Brief, der gegenwärtig sich in Clennams Brusttasche befand, erwähnte seinen Namen ganz besonders. Obgleich er nie ein Geständnis oder eine Beteuerung gegen Clennam hatte laut werden lassen, und obgleich, was er soeben gesagt, wenig genug den Worten nach war, war doch die Überzeugung immer lebhafter und stärker bei Clennam geworden, daß Mr. Pancks in seiner eigentümlichen seltsamen Weise eine Neigung zu ihm gefaßt. Wenn man alle diese Fäden zusammenwand, so wurde Pancks an diesem Abend ein wahres Notankertau für ihn.

»Ich bin ganz allein«, sagte Arthur, als sie weitergingen. »Mein Kompagnon ist verreist, um an einem andern Ort etwas in der Branche unsres Geschäfts, die er besorgt, zu ordnen, und Sie werden ganz ungeniert sein.«

»Danke. Sie haben wohl eben nicht besonders auf den kleinen Altro geachtet, nicht wahr?« sagte Pancks.

»Nein. Warum?«

»Er ist ein munterer Junge, und ich bin ihm gut«, sagte Pancks. »Es muß ihm heute etwas Unangenehmes zugestoßen sein. Haben Sie keine Idee, was das sein mag, was ihn so außer Fassung gebracht?«

»Sie setzen mich in Erstaunen! Nein, durchaus nicht.«

Mr. Pancks setzte die Gründe zu seiner Frage auseinander. Arthur war ganz unvorbereitet und außerstande, eine Erklärung dafür beizubringen.

»Vielleicht fragen Sie ihn«, sagte Pancks, »da er ein Fremder ist?«

»Was soll ich ihn fragen?« versetzte Clennam.

»Was er auf der Seele hat.«

»Ich glaube, ich sollte zuerst selbst sehen, ob er etwas auf der Seele hat. Ich fand ihn immer und in jeder Beziehung so fleißig, so dankbar (für das wenige) und so zuverlässig, daß es aussehen möchte, als wenn ich ihm mißtraute. Und das wäre doch sehr ungerecht.«

»Wohl wahr«, sagte Pancks. »Aber wahrhaftig, Sie dürften kein Hauseigentümer sein, Mr. Clennam. Sie wären viel zu zartfühlend.«

»Was das betrifft«, versetzte Clennam lachend, »so habe ich auch kein großes Anrecht auf Cavaletto. Sein Holzschnitzen ist sein Broterwerb. Er hat die Schlüssel der Fabrik in Verwahrung, wacht jede zweite Nacht und vertritt gewissermaßen die Stelle eines Hausmeisters; aber wir haben wenig Arbeit für sein Fach und Talent, nur was wir haben, geben wir ihm. Nein, ich bin mehr sein Berater als sein Herr. Wenn ich mich seinen ständigen Rechtsfreund und Bankier nenne, so komme ich der Wahrheit noch näher. Da ich gerade davon spreche, daß ich sein Bankier sei, ist es nicht seltsam, Pancks, daß die Spekulationen, die jetzt in so vieler Leute Kopf herumgehen, auch den kleinen Cavaletto so lebhaft beschäftigen?«

»Spekulationen?« versetzte Pancks mit Schnauben. »Was für Spekulationen?«

»Die Spekulationen von Merdle.« »Ah! die Unternehmungen«, sagte Pancks. »Ja, ja! Ich wußte nicht, daß Sie von den Unternehmungen sprechen.«

Seine rasche Art, zu antworten, veranlaßte Clennam ihn zweifelhaft anzusehen, ob er mehr meine, als er sagte. Da jedoch seine Antwort von rascherem Gang und einem entsprechend lebhafteren Arbeiten der Maschinen begleitet war, so verfolgte Arthur die Sache nicht weiter, und sie kamen bald bei seinem Hause an.

Ein Diner, bestehend aus Suppe und Taubenpastete, auf einem kleinen runden Tisch vor dem Kamin aufgetragen und mit einer Flasche guten Weins versüßt, ölte Pancks Räderwerk auf höchst wirksame Weise ein; so daß, als Clennam seine türkische Pfeife holte und Mr. Pancks eine zweite türkische Pfeife übergab, der letztere sich außerordentlich behaglich fühlte.

Sie dampften eine Zeitlang schweigend, Pancks wie ein Dampfboot, das Wind, Flut, ruhige See und alle andern Bedingungen zu einer glücklichen Fahrt hat. Er war der erste, der zu sprechen anfing und sagte:

»Ja, Unternehmungen ist das richtige Wort.«

Clennam antwortete mit seinem früheren Blick: »Ah!«

»Ja, Ich komme darauf zurück, wie Sie sehen«, sagte Pancks.

»Ja. Ich sehe, Sie kommen darauf zurück«, versetzte Clennam, der neugierig war, warum.

»Ist es nicht seltsam, daß die Sache auch dem kleinen Altro im Kopfe herumgeht? Hm?« sagte Pancks, während er weiterrauchte, »Stellten Sie nicht die Frage so?«

»O ja, das war’s, was ich sagte.«

»So! Aber denken Sie sich nur, der ganze Hof ist voll davon. Sie kommen mir an meinen Zinstagen alle damit, wo ich nur hinkommen mag. Ob sie bezahlen oder nicht bezahlen. Merdle, Merdle, Merdle. Immer Merdle.«

»Sehr seltsam, wie diese Verblendung sich aller bemeistert«, sagte Arthur.

»Nicht wahr?« versetzte Pancks. Nachdem er eine oder zwei Minuten fortgeraucht, fügte er trockner, als sich mit seiner kürzlichen Ölung vertrug, hinzu: »Weil, wie Sie wissen, die Leute die Sache nicht verstehen.«

»Nicht im geringsten«, stimmte Clennam bei.

»Nicht im geringsten«, rief Pancks. »Sie verstehen nichts von Zahlen. Verstehen nichts von Geldfragen. Machen keine Berechnung. Haben nie eine solche gemacht, Sir!«

»Hätten sie das getan –« war Clennam im Begriff zu sagen, als Pancks ohne eine Veränderung des Gesichts einen seine gewöhnlichen Nasen- oder Kehlanstrengungen übertreffenden Ton hervorbrachte, daß er innehielt.

»Hätten sie das getan?« wiederholte Pancks in fragendem Tone.

»Ich dachte – Sie sprächen«, sagte Arthur, der in Verlegenheit war, welchen Namen er dieser Unterbrechung geben sollte.

»Durchaus nicht«, sagte Pancks. »Noch nicht. In einer Minute vielleicht. Wenn sie also das getan?« bemerkte Clennam, der nicht recht wußte, wie er seinen Freund nehmen sollte, »nun, so denke ich, würden sie es besser gewußt haben.«

»Wieso, Mr. Clennam?« fragte Pancks rasch und mit einem seltsamen Ausdruck, als wenn er seit dem Beginn des Gesprächs mit dem schweren Kaliber geladen gewesen, das er jetzt abschoß. »Sie haben recht, wissen Sie. Sie verstehen es nicht, aber sie haben recht.«

»Recht, wenn Sie Cavelettos Meinung, mit Mr. Merdle zu spekulieren, teilen?«

»Allerdings, Sir«, sagte Pancks. »Ich bin auf die Sache näher eingegangen. Ich habe die Berechnungen gemacht. Ich habe nachgerechnet. Sie sind gut und sicher.« Erleichtert von seiner Last, als er soweit gekommen war, sog Mr. Pancks einen so langen Zug, als seine Lungen erlaubten, aus seiner türkischen Pfeife und sah Clennam schlau und unverwandt an, während er aus- und eindampfte.

In solchen Augenblicken begann Mr. Pancks den gefährlichen Giftstoff, mit dem er geschwängert war, auszuströmen. Das ist die Art, wie die Krankheiten sich verbreiten; das ist die seine und verdeckte Weise, wie sie um sich greifen.

»Glauben Sie, mein guter Pancks«, fragte Clennam emphatisch, »daß Sie zum Beispiel Ihre tausend Pfund bei einem solchen Unternehmen aufs Spiel setzen würden?«

»Gewiß«, sagte Pancks, »und habe es auch bereits getan, Sir.«

Mr. Pancks sog abermals langsam den Rauch ein und dann noch einmal und warf dabei einen langen schlauen Blick auf Clennam.

»Ich sage Ihnen, Mr. Clennam, ich habe mich dabei beteiligt«, sagte Pancks. »Es ist ein Mann von ungeheuren Mitteln – enormem Kapitalvermögen – und von großem Einfluß bei der Regierung. Es sind die besten Spekulationen, die im Augenblick im Gange sind. Sie sind sicher. Sie sind gewiß.«

»So!« versetzte Clennam, indem er zuerst seinen Gefährten ernst ansah und dann ernst in das Feuer blickte. »Sie setzen mich in Erstaunen!«

»Bah!« versetzte Pancks. »Sagen Sie das nicht, Sir. Sie sollten das selbst so machen. Warum machen Sie´s nicht wie ich?«

Von wem Mr. Pancks die epidemische Krankheit geerbt, konnte er ebensowenig sagen, als wenn er unbewußterweise von einem Fieber befallen worden wäre. Zuerst, wie manche physische Krankheiten, aus der Verderbtheit der Menschen entstanden, und dann in ihrer Unwissenheit weiter verbreitet, stecken diese Epidemien nach einiger Zeit gar manche Leidende an, die weder unwissend noch verderbt sind. Mr. Pancks mochte dir Krankheit selbst von einem Subjekte dieser Art geerbt haben oder nicht, jedenfalls erschien er vor Clennam als ein solcher, und der Krankheitsstoff, den er verbreitete, war um so bösartiger. »Gewiß, Sir!« versetzte Pancks keck, indem er Dampf ausblies. »Und ich wünschte nur, es wäre zehnmal soviel.«

Clennam lagen an diesem Abend zweierlei Dinge auf seiner vereinsamten Seele: das eine war seines Kompagnons lang hinausgeschobene Hoffnungen; das andre, was er bei seiner Mutter gesehen und gehört hatte. In dem erleichternden Bewußtsein, Mr. Pancks bei sich zu haben und diesem Manne sein Vertrauen schenken zu können, fing er von beiden Dingen zu reden an, und beide brachten ihn mit vermehrter und beschleunigter Kraft auf den Ausgangspunkt zurück.

Es machte sich auf die einfachste Weise. Indem er die Spekulationsfrage, nach einer Pause, während der er durch den Rauch seiner Pfeife auf das Feuer geblickt hatte, verließ, erzählte er Pancks, wie und warum er mit dem großen Staatsdepartment in Berührung stehe. »Es ist eine harte Sache gewesen und ist es noch für Doyce«, sagte er zuletzt mit dem ganzen ehrlichen Gefühl, das der Gegenstand immer in ihm erweckte.

»Allerdings, sehr hart,« gab Pancks zu. »Aber Sie haben die Sache für ihn in die Hand genommen, Mr. Clennam.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie besorgen die Geldangelegenheiten des Geschäfts?«

»Ja, so gut ich kann.«

»Besorgen sie jedenfalls besser, Sir«, sagte Pancks. »Belohnen ihn für seine Mühe und seine fehlgeschlagenen Hoffnungen. Bieten ihm die Chancen, die die Zeit herbeiführt. Er, der geduldige und vielbeschäftigte Techniker, würde doch nie auf diese Weise Nutzen ziehen können. Er verläßt sich auf Sie, Sir.«

»Ich tue mein Bestes, Pancks«, versetzte Clennam, dem etwas unbehaglich wurde. »Um diese neuen Unternehmungen, von denen ich keine Erfahrung habe, genau zu prüfen, dazu glaube ich, nicht mehr zu taugen. Ich werde alt.«

»Alt werden?« rief Pancks. »Ha, ha!«

Es lag etwas so unzweifelhaft Ungemachtes in diesem wunderbaren Lachen und in dem langandauernden Schnauben und Pusten, das Mr. Pancks Erstaunen über diesen Gedanken und die Zurückweisung desselben ausdrückte, daß es außer allem Zweifel war, es sei ihm ernst damit.

»Alt werden?« rief Pancks. »Hört, hört, hört! Alt? Hört, hört!«

Diese positive Weigerung, auch nur einen einzigen Augenblick diesen Gedanken zu hegen, die sich in Mr. Pancks‘ fortdauerndem Schnauben wie in den Ausrufungen aussprach, ließen auch Arthur nicht länger daran festhalten. Ja, er befürchtete, es möchte Mr. Pancks in dem heftigen Kampf zwischen dem Atem, den er ausstieß, und dem Rauch, den er hinunterschluckte, ein Unglück passieren. Dieses Verzichten auf den zweiten Gesprächsgegenstand brachte ihn auf den dritten.

»Und Sie haben wirklich Ihre tausend Pfund in der Unternehmung angelegt?« Clennam hatte sich das Wort bereits angeeignet. »Jung, alt oder in mittleren Jahren, Pancks«, sagte er, als eine gelegene Pause eintrat, »ich befinde mich in einer sehr peinlichen und ungewissen Lage, in einem Zustand, der mich bezweifeln läßt, ob überhaupt etwas, was mir zu gehören scheint, auch wirklich mir gehört. Soll ich Ihnen sagen, wie das kommt? Soll ich Ihnen volles Vertrauen schenken?«

»Allerdings Sir«, sagte Pancks, »wenn Sie mich desselben für würdig halten.«

»Gewiß.«

»Das können Sie auch!« Mr. Pancks‘ kurze und scharfe Antwort, bekräftigt durch das plötzliche Ausstrecken seiner kohligen Hand, war ungemein ausdrucksvoll und überzeugend. Arthur schüttelte ihm warm die Hand.

Indem er nun seine alten Befürchtungen so milde darstellte wie möglich, ohne unverständlich zu werden, und seine Mutter dabei niemals mit Namen nannte, sondern nur unbestimmt von einer Verwandten sprach, vertraute er Mr. Pancks in Umrissen die Befürchtungen mit, die er hegte, und die Zusammenkunft, bei der er zugegen gewesen war. Mr. Pancks hörte mit solchem Interesse zu, daß er, die Annehmlichkeit der türkischen Pfeife ganz vergessend, sie an das Kamingitter unter die Feuereisen stellte und während der ganzen Zeit, solange ihm erzählt wurde, die Zinken und Haken seiner Haare mit den Händen am ganzen Kopf in die Höhe strich, daß er, als die Sache zum Schluß kam, wie ein Handwerkerhamlet aussah, der mit dem Geist seines Vaters spricht.

»Bringt mich wieder auf die Unternehmungen zurück, Sir!« rief er laut, indem er dabei Clennam lebhaft auf das Knie schlug. »Ich meine nicht, daß Sie sich arm machen sollen, um ein Unrecht, das Sie gar nicht begangen, wieder gutzumachen. Das ist Ihre Sache. Ein Mann muß für sich selbst sorgen. Aber ich sage nur so viel. Da Sie fürchten, Sie werden Geld brauchen, um Ihr eigen Blut von Schmach und Schande zu retten – so suchen Sie soviel wie möglich zu erwerben!«

Arthur schüttelte seinen Kopf, aber sah ihn auch gedankenvoll an,

»Werden Sie so reich, wie Sie können, Sir«, beschwor ihn Pancks mit mächtiger Konzentration aller seiner Energie auf diesen Rat. »Seien Sie so reich, wie Sie es mit Ehren können. Es ist Ihre Pflicht. Nicht Ihretwegen, sondern andrer wegen tun Sie’s. Fassen Sie die Zeit beim Schopfe. Der arme Mr. Doyce (der wirklich alt wird) muß sich auf Sie verlassen. Ihr Verwandter hängt von Ihnen ab. Sie wissen nicht, was alles von Ihnen abhängt.«

»Schon recht, schon recht!« versetzte Arthur. »Genug für heute abend.«

»Noch ein Wort, Mr. Clennam«, versetzte Pancks, »dann soll es genug sein für heute abend. Warum sollten Sie allen Gewinn den Unersättlichen, Schelmen und Betrügern überlassen? Warum wollen Sie allen Gewinn, der zu machen ist, meinem Hauseigentümer und dergleichen Leuten überlassen? Und doch tun Sie es. Wenn ich sage Sie, so meine ich Leute wie Sie. Sie wissen, daß Sie das tun. Ich muß das jeden Tag meines Lebens sehen. Ich sehe nichts anderes. Es ist mein Beruf, es zu sehen. Deshalb sage ich«, drängte Pancks, »man muß wagen und gewinnen.«

»Aber wenn es heißt, wagen und verlieren, wie ist es dann?« sagte Arthur.

»Kann nicht geschehen, Sir«, versetzte Pancks. »Ich habe einen tiefen Blick in die Sache getan. Der Name überall obenan – ungeheure Mittel – enormes Kapital – großartige Stellung! – hohe Verbindungen – Einfluß auf die Regierung. Kann nicht sein!«

Nach dieser sie Sache zu» Abschluß, bringenden Auseinandersetzung, beruhigte sich Mr. Pancks nach und nach wieder und ließ sein Haar sich wieder so weit senken, als dies der größten Überredungskunst möglich war, reklamierte die Pfeife wieder aus den Feuereisen, stopfte sie aufs neue und rauchte sie aus. Sie sprachen wenig mehr, leisteten jedoch einander Gesellschaft, indem sie schweigend dieselben Gegenstände verfolgten, und schieden nicht vor Mitternacht. Als Mr. Pancks Abschied nahm, steuerte er, nachdem er Mr. Clennam die Hand geschüttelt, ganz um ihn herum, ehe er zur Tür hinausdampfte. Dies nahm Arthur als eine Versicherung auf, daß er sich ganz auf Pancks verlassen könne, wenn er je in die Notwendigkeit versetzt werden sollte, seines Beistandes zu bedürfen, sei es nun in einem von den Punkten, von denen heute abend die Rede gewesen, oder in irgendeiner andern ihn berührenden Angelegenheit.

Während des ganzen nächsten Tages, und selbst solange seine Gedanken auf ganz andere Dinge gerichtet waren, fiel ihm bisweilen Mr. Pancks Spekulation mit seinen tausend Pfund und die Behauptung ein, daß er einen tiefen Blick in die Sache getan hätte. Er dachte, wie sanguinisch Mr. Pancks in dieser Sache sei, während er doch sonst keinen sanguinischen Charakter habe. Er dachte an das große Nationaldepartement und an die Freude, die es ihm gewähren würde, Doyce in besseren Umständen zu sehen. Er dachte an den dunkel drohenden Ort, der in seiner Erinnerung den Namen Heimat trug, und an die sich zusammenziehenden Schatten, die ihn noch dunkler drohend denn sonst machten. Er bemerkte aufs neue, daß, wohin er sich wandte, er den berühmten Mann Merdle sah, hörte oder berührte; er fand es sogar schwer, ein paar Stunden lang hintereinander an seinem Pult zu bleiben, ohne daß sich durch irgendeine oder andere Vermittlung dieser Name seinen körperlichen Sinnen dargeboten hatte. Er begann es doch seltsam zu finden, daß er überall war, und daß niemand als er ihm zu mißtrauen scheine. Und doch, wenn er soweit war, begann er sich zu erinnern, daß ja selbst er ihm nicht mißtraue; er hatte sich nur zufällig davon ferngehalten.

Solche Symptome sind, wenn eine Krankheit der Art grassiert, die Zeichen des Krankwerdens.