Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Cili Jupe führte zwischen Mr. M’Choakumchild und Mrs. Gradgrind kein angenehmes Leben und geriet in den ersten Monaten ihrer Probezeit manchesmal in die Versuchung, davonzulaufen. Den ganzen Tag hindurch fiel ein gewaltiger Hagel von Tatsachen, und das Leben ward ihr im allgemeinen wie ein so dicht vollgepfropftes Rechenbuch entfaltet, daß sie ohne einen gewissen Zwang sicher davongelaufen wäre.

Es ist ein beklagenswerter Gedanke; aber dieser Zwang war nicht das Resultat der Arithmetik, sondern trotz aller Berechnung selbst auferlegt und machte alle Wahrscheinlichkeitstabellen zu schanden, die irgendein Statistiker aus den Prämissen hätte zusammenstellen können. Das Mädchen lebte dem Glauben, ihr Vater habe sie nicht gänzlich verlassen. Sie nährte die Hoffnung, daß er zurückkommen werde, und vertraute fest, daß es ihn glücklicher machen wird, wenn sie bleibe, wo sie war. Die jämmerliche Unwissenheit, mit der Jupe an diesen Trost sich klammerte und die höhere Beruhigung verschmähte, mittels einer richtigen arithmetischen Basis zur vollen Intelligenz zu gelangen, daß ihr Vater ein unnatürlicher Vagabund sei, erfüllte Mr. Gradgrind mit Bedauern. Doch was war zu tun? M’Choakumchild berichtete, daß sie einen schwerfälligen Kopf für Zahlen habe; daß sie, nachdem sie einmal einen allgemeinen Begriff von dem Globus gefaßt hatte, so gut wie gar kein Interesse für seine genaue Ausmessung empfand; daß sie in der Erlernung von Daten äußerst langsam war, wenn nicht ein erschütterndes Ereignis damit in Verbindung stand; daß sie in Tränen ausbrechen konnte, wenn man sie aufforderte, den Preis von 247 Musselinhauben à 14,5 Pence, unmittelbar (durch Kopfrechnen) anzugeben, daß sie in der Schule so weit wie möglich, zurück war, daß sie nach einem achtwöchentlichen Unterricht in der Staatswirtschaft erst gestern von einem Dreikäsehoch verbessert werden mußte. Sie hatte nämlich auf die Frage: »Was ist das erste Prinzip dieser Wissenschaft?« die alberne Antwort gegeben: »Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu.«

Mr. Gradgrind bemerkte mit Kopfschütteln, das sei alles sehr schlimm. Es zeige eben, wie nötig es sei, sie fort und fort mahlen zu lassen in der Mühle des Wissens, durch Systeme, Listen, Blaubücher, Statistiken und Tabellenverzeichnisse von A bis Z. Jupe müsse also »tüchtig angehalten werden«. So ward denn Jupe tüchtig angehalten, wurde trauriger, aber nicht gelehrter.

»Es muß doch herrlich sein, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, Miß Luise«, sagte sie eines Abends, als Luise sich bestrebte, ihre verworrenen Begriffe für den nächsten Tag etwas klarer zu machen.

»Meinst du?«

»Ich würde so vieles wissen, Miß Luise. Alles was mir jetzt schwerfällt, würde dann so leicht sein.«

»Du würdest darum nicht besser daran sein, Cili.«

Cili äußerte nach einer kleinen Zögerung: »Ich würde nicht schlimmer daran sein.« Worauf Miß Luise antwortete: »Das weiß ich nicht.«

Beide Mädchen hatten bisher sich wenig miteinander unterhalten! einmal, weil das Leben in Stone Lodge einförmig wie eine Maschine sich fortbewegte, den gesellschaftlichen Umgang erdrosselte; dann auch, weil ihnen persönliche Unterhaltung verboten worden war, mit Rücksicht auf Cilis frühere Laufbahn. So waren sie sich noch immer fast fremd. Cili, deren dunkle Augen verwundert auf Luises Gesicht ruhten, war im Zweifel, ob sie noch etwas sagen oder schweigen sollte.

»Du bist meiner Mutter nützlicher und angenehmer, als ich es je sein kann«, fuhr Luise fort. »Du bist dir selbst angenehmer, als ich es mir bin.«

»Aber bitte, Miss Luise«, entgegnete Cili, »Ich bin – ach, gar so dumm.«

Luise bedeutete ihr mit einem helleren Lachen als gewöhnlich, daß sie mit der Zeit klüger werden würde.

»Sie wissen nicht«, sagte Cili halb weinend, »was für ein dummes Mädchen ich bin; während der ganzen Schulzeit mache ich Fehler. Ich werde von Mr. und Mrs. Choakumchild immer wieder aufgerufen, nur um regelmäßig Fehler zu machen. Ich kann sie nicht vermeiden, sie scheinen mir so natürlich.«

»Nun Cili, meinst du, daß Mr. und Mrs. M’Choakumchild sich nie irren?«

»Oh nein«, erwiderte sie lebhaft, »sie wissen alles ganz genau.«

»Sag mal, worin hast du dich denn geirrt?«

»Ich schäme mich fast, es zu sagen«, sagte Cili zögernd. »Aber erst heute zum Beispiel setzte uns Mr. M’Choakumchild die ›natürliche Wohlfahrt‹ auseinander.«

»Es muß wohl ›nationale Wohlfahrt‹ heißen«, bemerkte Luise.

»Ja, das war’s. – Aber ist’s nicht dasselbe?« fragte sie furchtsam.

»Du würdest richtiger ›nationale‹ gebrauchen, da er sich so ausdrückte«, entgegnete Luise mit der ihr eigentümlichen gelassenen Verhaltenheit.

»Nationale Wohlfahrt. Nun, sagte er, dieses Schulzimmer ist eine Nation und besitzt an Geld fünfzig Millionen. Ist das nicht eine glückliche Nation? Mädchen Nummer Zwanzig, ist das nicht eine glückliche Nation und befindest du dich nicht in einem Zustand des Gedeihens?«

»Was sagtest du darauf?« fragte Luise.

»Ich sagte, Miss Luise, daß ich es nicht wisse. Ich meinte, ich könnte nicht wissen, ob es eine glückliche Nation sei und ob ich mich in einem Zustande des Gedeihens befände, bis ich wüßte, wer denn eigentlich das Geld hätte und ob etwas davon mein wäre. Aber das gehörte nicht zur Sache. Es war durchaus nicht in den Zahlen enthalten«, sagte Cili, sich die Augen trocknend.

»Da hast du dich gröblich geirrt«, bemerkte Luise.

»Ja, Miss Luise, jetzt weiß ich, daß ich es tat. Mr. M’Choakumchild sagte hierauf, er wolle mich nochmals vornehmen. Er sagte nun, dieses Schulzimmer sei eine unendlich große Stadt, worinnen sich eine Million Einwohner befände. Von diesen stürben im Verlauf eines Jahres nur fünfundzwanzig in den Straßen an Hunger. Was hast du zu diesem Tatsachenverhältnis zu sagen? Darauf meinte ich, weil ich es eben nicht besser wußte, daß es für die, die verhungerten, geradeso traurig sei, ob die übrigen noch eine Million oder eine Million Millionen zählten. Und das war ebenfalls falsch.«

»Freilich war es das.«

»Dann sagte Mr. M’Choakumchild, er wolle mich zum dritten Male vornehmen. Er sagte nun, ›hier ist also die Stotteristik‹–«

»Statistik«, verbesserte Luise.

»Jawohl, Miss Luise – das erinnert mich immer an das Stottern, was auch zu meinen Versehen gehört – Statistik der Unfälle zur See. Ich setze jetzt den Fall, sagte Mr. M’Choakumchild, daß hunderttausend Personen in einer bestimmten Zeit große Seereisen unternehmen, und von ihnen ertrinken oder verbrennen bloß fünfhundert. Wie viel Prozent macht das aus? Worauf ich antwortete, Miss«, hier schluchzte Cili laut auf, da sie sich mit äußerster Zerknirschung des größten Versehens anklagte, »worauf ich antwortete: gar keine!«

»Gar keine, Cili?«

»Gar keine, Miss – für die Verwandten und Freunde der Umgekommenen. Ich werde nie etwas lernen«, sagte Cili, »das Schlimmste dabei ist aber, daß, obgleich mein armer Vater so sehr wünschte, daß ich etwas lernen möchte, und obgleich ich es selbst so gern möchte, weil es sein Wunsch war, ich doch fürchte, keine Neigung dafür zu haben.«

Luise betrachtete den hübschen, bescheidenen Kopf, wie er sich verschämt niedersenkte, bis er sich wieder erhob, um ihr ins Gesicht zu blicken. Darauf fragte sie:

»Hat dein Vater selbst so viel gewusst, Cili, daß er wünschte, du möchtest gut unterrichtet werden?«

Cili zögerte mit einer Antwort und ließ deutlich merken, daß sie ein verbotenes Gelände betreten. Luise aber fügte hinzu: »Niemand hört uns, und selbst wenn es der Fall wäre, so würde niemand in einer so harmlosen Frage etwas Unartiges sehen.«

»Nein, Miss Luise«, antwortete Cili also ermutigt und schüttelte den Kopf, »Vater wußte in der Tat sehr wenig. Es ist schon viel, daß er schreiben konnte, und es ist noch mehr, als Leute seiner Art gewöhnlich können, daß er imstande war, das von ihm Geschriebene zu lesen – obgleich es für mich ganz deutlich war.«

»Und deine Mutter?«

»Vater sagte, sie war sehr klug. Sie starb, als ich geboren wurde. Sie war«, Cili machte die schreckliche Mitteilung mit nervöser Aufregung, »sie war eine Tänzerin.«

»Hat dein Vater sie geliebt?« Luise stellte all diese Fragen mit jenem heftigen, wilden und unsteten Interesse, das ihr eigen war – ein Interesse, das sich einem verbannten Wesen gleich verirrt hatte und sich in einsamen Orten verbarg.

»O ja! So zärtlich wie er mich liebte. Zuerst liebte mich Vater bloß um ihretwillen. Er schleppte sich mit mir herum, als ich noch ein kleines Kindchen war. Seit jener Zeit sind wir nie getrennt gewesen.«

»Und doch hat er dich jetzt verlassen, Cili?«

»Bloß zu meinem Besten. Niemand versteht ihn wie ich und niemand kennt ihn so wie ich. Als er mich zu meinem Wohle verließ – er würde mich nie seines Wohles wegen verlassen haben – hat ihm, das weiß ich wohl, diese schwere Notwendigkeit beinahe das Herz gebrochen. Er wird nicht einen einzigen Augenblick glücklich sein, bis er nicht zurückkommt.«

»Erzähle mir mehr von ihm«, sagte Luise. »Ich werde dich auch nie mehr darum befragen. Wo wohntet ihr?«

»Wir reisten im Lande umher und hatten keinen bestimmten Aufenthaltsort. Vater ist«, Cili lispelte das grauenhafte Wort, »ein Clown.«

»Der die Leute lachen macht?« sagte Luise mit einem Nicken des Verständnisses.

»Jawohl. Zuweilen wollte aber niemand lachen, und dann pflegte Vater zu weinen. In letzter Zeit geschah es öfter, daß man nicht lachen mochte, und er pflegte ganz verzweifelt nach Hause zu kommen. Vater gleicht nicht den andern Leuten. Die, die ihn nicht so gut wie ich kannten und ihn nicht so zärtlich wie ich liebten, mochten denken, daß er nicht bei Sinnen war. Zuweilen spielten sie ihm einen Possen. Sie ahnten aber nicht, wie sehr er das empfand und wie es ihn niederdrückte, wenn er mit mir allein war. Er war weit, weit furchtsamer, als sie meinten.«

»Und du warst in allem sein Trost?«

Sie nickte bejahend, während die Tränen über ihr Gesichtchen niederströmten. »Ich hoffe es, und Vater sagte, daß ich es war. Weil er so scheu und furchtsam wurde, und weil er sich so arm, schwach, unwissend und hilflos (so pflegte er sich selbst zu nennen) fühlte, darum wünschte er, daß ich sehr viel wissen und von ihm ganz verschieden sein möchte. Ich pflegte ihm vorzulesen, um ihn zu erheitern, und er fand viel Vergnügen daran. Die Bücher waren unpassend – ich darf sie hier ja nicht mal nennen – wir wußten aber nicht, daß sie etwas Arges enthielten.«

»Und er mochte sie?« fragte Luise, ihren forschenden Blick fortwährend auf Cili geheftet.

»O, und wie. Sie lenkten ihn oft ab von Dingen, die ihm wirklich geschadet hatten. Gar oft und oft pflegte er des Nachts all seine Kümmernisse zu vergessen, wenn er voller Neugierde war, ob der Sultan der Dame gestatten werde, in der Erzählung fortzufahren oder ob er sie enthaupten lassen werde, ehe diese zu Ende sei.«

»Und dein Vater war immer gütig? Bis zuletzt?« fragte Luise, indem sie das große Prinzip verletzte und sich sehr verwunderte.

»Immer, immer!« entgegnete Cili, die Hände zusammenschlagend. »Gütiger und gütiger, als ich es sagen kann. Er war bloß eines Abends zornig, und das nicht gegen mich, sondern gegen Merrylegs. Merrylegs«, (sie nannte lispelnd die grauenhafte Tatsache) »ist sein Künstlerhund.«

»Weshalb war er auf den Hund böse?« fragte Luise.

»Vater befahl Merrylegs, als sie von der Vorstellung nach Hause gekommen waren, auf die Lehne von zwei Stühlen zu springen und kreuzweise auf diesen zu stehen – was zu seinen Kunststücken gehörte. – Er sah Vater an, tat es aber nicht gleich. An jenem Abend war Vater alles mißlungen, und er hatte beim Publikum gar keinen Beifall geerntet. Er rief klagend aus, daß selbst der Hund um sein Mißlingen wisse und kein Mitleid mit ihm habe. Darauf schlug er den Hund, und ich war erschrocken und sagte: ›Vater, Vater! Bitte tu dem Tier nichts zuleid, das dich so lieb hat. Der Himmel möge dir verzeihen, Vater, halt ein.‹ Er hielt inne. Der Hund blutete, und Vater warf sich, den Hund in seinen Armen haltend, weinend auf den Boden, und der Hund leckte ihm das Gesicht.«

Luise sah, daß sie schluchzte, und küßte sie, nachdem sie sich ihr genähert hatte, nahm sie bei der Hand und setzte sich an ihre Seite.

»Nun erzähle mir noch, wie dein Vater dich verlassen hat, Cili. Da ich dich bereits so viel gefragt habe, sage mir auch das Ende davon. Wenn jemand dabei zu tadeln ist, dann bin ich es und nicht du.«

»Meine liebe Miß Luise«, sagte Cili, bedeckte ihre Augen und schluchzte fortwährend. »Ich kam an jenem Nachmittag aus der Schule nach Hause und traf den armen Vater, der ebenfalls gerade vom Zirkuszelt nach Hause gekommen war. Er saß beim Feuer, sich krümmend, als ob er Schmerzen empfände. Ich sagte zu ihm: ›Hast du dich verletzt, Vater?‹ (wie es oft geschah, und das kommt bei Zirkusleuten häufig vor), worauf er sagte: ›Ein wenig, mein Herz!‹ Als ich mich dann niederbeugte und ihm ins Gesicht blickte, sah ich, daß er weinte. Je mehr ich zu ihm sprach, desto mehr verbarg er sein Gesicht. Zuerst schüttelte er sich heftig und sagte nichts als: ›Mein Herz! Mein Lieb!‹«

Da kam Tom träge herbeigeschlendert und starrte die beiden mit einer Kälte an, die kein besonderes Interesse für etwas anderes als sich selbst verriet, und im Augenblick war selbst von diesem Interesse für das eigene Ich nicht viel sichtbar.

»Ich habe Cili bloß einiges gefragt, Tom«, bemerkte seine Schwester, »du brauchst darum nicht fortzugehen. Unterbrich uns aber jetzt nicht gleich, lieber Tom.«

»Oh! sehr wohl!« erwiderte Tom. »Es ist nur, daß Vater den alten Bounderby mit nach Hause gebracht hat, und ich möchte, daß du in das Gesellschaftszimmer kämest. Wenn du nämlich kommst, so dürfte es sich leicht fügen, daß der alte Bounderby mich zu Tisch ladet, und wenn du nicht kommst, so ist keine Hoffnung dafür.«

»Ich werde gleich kommen.«

»Ich werde auf dich warten«, sagte Tom, »um gewiß zu sein.«

Cili fuhr in einem leiseren Tone fort: »Endlich sagte der Vater, daß er abermals das Publikum nicht befriedigt habe und ihm dies jetzt nie gelinge, daß er nur zur Schande und Schmach da sei, und daß ich mich im ganzen ohne ihn besser befunden hätte. Ich sagte ihm alles Liebe, was mir vom Herzen kam. Darauf beruhigte er sich, und ich setzte mich neben ihn und erzählte ihm alles von der Schule und den Dingen, die man daselbst getan oder gesagt hatte. Als ich ihm nichts mehr zu sagen hatte, schlang er die Arme um meinen Nacken und küßte mich recht oft. Dann bat er mich, ihm die Mixtur, deren er sich bediente, für die kleine Verletzung zu holen, und zwar in dem Laden, wo man sie am besten bekam, und der sich am andern Ende der Stadt befand. Dann ließ er mich fort, nachdem er mich abermals geküßt hatte. Als ich die Treppe hinuntergegangen war, kehrte ich nochmals zurück, um ihm noch ein klein wenig Gesellschaft zu leisten, guckte durch die Tür und sagte: ›Lieber Vater, soll ich Merrylegs mitnehmen?‹ Vater schüttelte mit dem Kopfe und sagte: ›Nein, Cili, nein! Nimm nichts mit dir, mein Herz, was mir gehört‹, worauf ich ihn beim Feuer sitzend verließ. Dann erst muß ihm, dem armen, armen Vater der Gedanke gekommen sein, fortzugehen, um etwas zu meinem Wohl zu versuchen; denn als ich zurückkam, war er fort.«

»Hör mal! Eil dich wegen des alten Bounderby, Lu«, warf Tom ein.

»Das ist alles, was ich zu erzählen habe, Miß Luise. Ich bewahre für ihn das Neunkraftöl auf, und ich weiß, daß er zurückkommen wird. Jeder Brief, den ich in der Hand von Mr. Gradgrind sehe, benimmt mir den Atem und blendet meine Augen, denn ich meine immer, er kommt vom Vater oder von Mr. Sleary wegen meines Vaters. Mr. Sleary versprach, sobald er nur von Vater hören sollte, sogleich zu schreiben, und ich habe das Vertrauen zu ihm, daß er Wort halten wird.«

»Mach dich doch endlich auf zum alten Bounderby, Lu!« sagte Tom und pfiff ungeduldig. »Er wird bald fort sein, wenn du dich nicht eilst.«

So oft seitdem Cili vor Mr. Gradgrind in Gegenwart seiner Familie einen Knix machte und mit bebender Stimme fragte: »Ich bitte um Verzeihung, Sir, wenn ich lästig falle – aber – ist noch kein Brief für mich angekommen?« – dann ließ Luise stets die jeweilige Arbeit sinken und harrte ebenso erwartungsvoll auf die Antwort wie Cili selbst. Wenn dann Mr. Gradgrind regelmäßig zur Antwort gab: »Nein, Jupe, nichts dergleichen«, so wiederholte sich das Zittern von Cilis Lippen in dem Gesicht Luises, und ihre Augen folgten Cili mitleidsvoll bis zur Tür. Mr. Gradgrind benutzte solchen Anlaß gewöhnlich zur Belehrung und bemerkte nach Cilis Abgehen, wenn Jupe vom frühesten Alter an gehörig erzogen worden wäre, so würde sie die Grundlosigkeit solcher phantastischen Hoffnungen aus richtigen Prinzipien sich haben demonstrieren können. Dennoch schien es (obwohl nicht ihm, denn er merkte nichts davon), als ob eine phantastische Hoffnung ebensogut wie eine Tatsache sich einwurzeln könne.

Diese Bemerkung muß sich ausschließlich auf Mr. Gradgrinds Tochter beschränken. Was Tom betrifft, so ward aus ihm ein nicht ganz seltenes Musterexemplar der Rechenkunst, das sich als solches gewöhnlich mit Nummer eins abgibt. Was Mrs. Gradgrind anbelangt, so guckte sie, wenn sie überhaupt einmal etwas zu sagen hatte, wie ein Hamsterweibchen aus ihren Umschlagtüchern und bemerkte:

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, wie wird mein armer Kopf geplagt und gemartert durch das beharrliche, ewige und ewige Fragen des Mädchens Jupe wegen ihrer lästigen Briefe. Wahrhaftig, ich scheine dazu bestimmt, verdammt und verurteilt, von Gegenständen umgeben zu sein, die nie ein Ende nehmen wollen. Es ist wirklich ganz schrecklich, daß alles, was mich umgibt, kein Ende nehmen will.«

Bei dieser Stelle fiel Mr. Gradgrinds Blick auf seine klagende Gattin, und unter dem Einfluß dieses winterlichen Stücks Tatsache verfiel sie wieder in Stumpfsinnigkeit.

Achtes Kapitel.


Achtes Kapitel.

Laßt uns abermals den Grundton anschlagen, ehe wir in unserer Melodie fortfahren!

Als Luise um ein halb Dutzend Jahre jünger war, wurde sie eines Tages belauscht, wie sie mit ihrem Bruder ein Gespräch mit den Worten anknüpfte: »Tom, ich sollt‘ mich wundern« – worauf Mr. Gradgrind, der sie belauschte, hervortrat und sagte: »Luise, man muß sich nie wundern!«

Hierin beruhte die Springfeder der mechanischen Kunst und des Geheimnisses, die Vernunft zu erziehen, ohne sich zur Ausbildung der Gefühle und Neigungen herabzulassen. Man muß sich nie wundern! Bringe alle Sachen vermittels Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division in Ordnung und wundere dich nie. »Gebt mir ein Kind«, sagt M’Choakumchild, »das wenigstens allein gehen kann, und ich werde es dahin bringen, daß es sich niemals mehr wundert!«

Nun befand sich zufällig in Coketown neben vielen Kinderchen, die eben erst gehen gelernt hatten, eine beträchtliche Anzahl von Kindern, die dem Schritt der Gegenwart zum Trotz zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig Jahre oder mehr den Normalkindern voraus und auf die schändliche Welt losgegangen waren. Da diese Wunderkinder für jede menschliche Gesellschaft Entsetzen erregende Geschöpfe waren, so zerkratzten sich die achtzehn Glaubenssekten gegenseitig das Gesicht und rauften sich einander die Haare aus, um ein Übereinkommen über die Schritte zu treffen, die sie für die Verbesserung ihrer Charaktere nehmen müßten – was freilich nie zustande kam. Ein überraschender Umstand das, wenn man die glückliche Anwendung der Mittel für das Ziel in Erwägung zieht. Aber obgleich sie in allen begreiflichen und unbegreiflichen (besonders aber den unbegreiflichen) Dingen verschiedener Meinung waren, stimmten sie doch darin ziemlich überein, daß diese unglücklichen Kinder sich nie über etwas wundern dürften. Nummer Eins sagte, man müsse alles aufs Wort glauben. Nummer Zwei sagte, alles müsse nach den Prinzipien der Nationalökonomie erfaßt werden. Nummer Drei schrieb sinnlose Werkchen, worin er bewies, wie das erwachsene gute Kind von selbst die Sparkasse benutze und das erwachsene schlimme Kind unumgänglich zur Deportation verurteilt würde. Nummer Vier machte unter dem kläglichsten Vorwand, ein rechter Schalk zu sein (während sie eigentlich recht kläglich war), die seichtesten Ansprüche, ganze Fallgruben von Wissenschaften zu bergen. Es sei Pflicht, die Kinder dorthin zu leiten und hineinzuschmuggeln. Alle diese Kinder stimmten jedoch darin überein, daß sie sich nie wunderten.

Es befand sich eine Bibliothek in Coketown, zu der der allgemeine Zutritt leicht war. Mr. Gradgrind quälte sich viel darüber, was die Leute in dieser Bibliothek lasen: ein Punkt, worüber kleine Flüsse tabellarischer Verzeichnisse zu gewissen Perioden in den heulenden Ozean von tabellarischen Verzeichnissen flössen, in dessen Tiefen noch kein Taucher hinabgefahren und wieder glücklich heraufgekommen war. Es war recht entmutigend und eine traurige Tatsache, daß selbst diese Leser sich immer wieder wunderten. Sie wunderten sich über die menschliche Natur, die menschlichen Leidenschaften, die menschlichen Hoffnungen und Befürchtungen, über die Kämpfe, Siege und Niederlagen, über die Sorgen, Freuden und Bekümmernisse und über Leben und Sterben gewöhnlicher Männer und Frauen. Nach fünfzehnstündiger Arbeit setzten sie sich hin, bloße Märchen über Männer und Frauen zu lesen, die ihnen mehr oder weniger glichen, und über Kinder, die den ihrigen mehr oder weniger gleich kamen. Robinson nahmen sie sich mehr als Euklid zu Herzen, und sie schienen überhaupt mehr Erholung bei Goldsmith als bei Adam Riese zu finden. Mr. Gradgrind hatte sich in Schrift und Wort fortwährend mit diesem Ergebnis beschäftigt, und er konnte nie herausbringen, wie dieses unerklärbare Phänomen dabei herauskam.

»Das Leben ist mir zuwider, Lu. Ich hasse es ganz und gar, und ich hasse jeden Menschen, dich ausgenommen«, sagte der unnatürliche kleine Thomas Gradgrind während der Abenddämmerung in der »Friseurstube«.

»Du hassest doch nicht Cili, Tom?«

»Ich hasse es, sie Jupe nennen zu müssen. Und sie haßt mich«, sagte Tom verdrießlich.

»Nein, das tut sie gewiß nicht, Tom.«

»Sie muß«, sagte Tom. »Sie muß unsere ganze Sippschaft hassen und verabscheuen. Man wird sie eher stumpfsinnig machen, als daß man mit ihr zurechtkommt. Sie wird schon so gelb wie Wachs und so dumm wie – ich.«

Der kleine Thomas führte solche Reden, indessen er rittlings auf einem Stuhl vor dem Feuer saß, die Arme auf die Lehne gestützt und mit dem Gesicht in die Arme vergraben. Seine Schwester saß in dem dunklen Winkel am Ofen, bald ihn und bald die hellen Funken betrachtend, wie sie auf den Herd flogen.

»Was mich betrifft«, sagte Tom, und zerwühlte mit verzweifelter Hand sein Haar nach allen Richtungen. »Ich bin ein Esel, ja, das bin ich. Ich bin so eigensinnig wie nur einer sein kann und dümmer wie irgendeiner. Ich bin so störrisch wie ein Esel und möchte ausschlagen wie ein solcher.«

»Doch nicht auf mich los, Tom?«

»Nein, Lu, dir würde ich nichts zuleide tun. Ich habe mit dir gleich von Anfang an eine Ausnahme gemacht. Ich weiß nicht, was dieses – verdammte, abscheuliche Kerkerloch – ohne dich sein würde.« Tom hatte eine kleine Pause gemacht, um solchen genügend schmeichelhaften und bezeichnenden Ausdruck für das väterliche Dach zu finden und fühlte sich tatsächlich momentan ein bißchen erleichtert.

»Wirklich, Tom? Meinst du wirklich?«

»Sicher, es ist mein Ernst. Wozu nützt es aber, davon zu sprechen?« entgegnete Tom, sich das Gesicht am Rockärmel reibend, als wollte er sich ins Fleisch beißen, um dieses in Einklang mit seiner Gemütsverfassung zu bringen.

»Sieh, Tom«, sagte seine Schwester, nachdem sie eine Weile die Funken schweigend betrachtet hatte, »da ich immer älter und größer werde, sitze ich oft da, mich wundernd und nachdenkend, wie unglücklich ich doch bin, daß ich dich mit unserm elterlichen Hause nicht besser versöhnen kann. Ich weiß nicht, was andere Mädchen können. Ich kann dir nichts vorsingen oder vorspielen. Ich kann kein Gespräch mit dir führen, um deinen Geist zu erheitern; denn ich sehe nichts Unterhaltendes und ich lese keine unterhaltenden Bücher, daß es dir zum Vergnügen gereichen könnte, wenn ich mit dir darüber spräche, wenn du der Ausspannung bedürftig bist.«

»Mir geht es doch genau so. Ich bin in dieser Beziehung ebenso schlimm daran, und ich bin noch dazu ein Esel, was du nicht bist. Da sich Vater einmal entschlossen hat, aus mir einen Gauner oder einen Esel zu machen und ich kein Gauner bin, so ist doch klar, daß ich ein Esel werden muß. Und das bin ich auch«, sagte Tom verzweiflungsvoll.

»Es ist sehr schade«, sagte Luise nach einer zweiten Pause, bedächtig aus dem dunklen Winkel hervorsprechend, »es ist jammerschade. Es ist sehr, sehr schlimm für uns beide.«

»Ach du«, sagte Tom, »du bist ein Mädchen, Lu, und ein Mädchen hilft sich besser heraus als ein Knabe. Ich sehe nicht, daß dir etwas abgeht. Du bist das einzige Vergnügen, das ich habe. – Du kannst selbst diesen Ort aufheitern – und du kannst mich immer führen, wie es dir gefällt.«

»Du bist ein lieber Bruder, Tom, und solange du glaubst, ich kann das alles, so liegt mir nichts daran, es besser zu verstehen. Obwohl ich es besser verstehe, und das tut mir sehr leid.« Sie ging zu ihm und küßte ihn und ging wieder in ihren Winkel zurück.

»Ich wollte, ich könnte alle Tatsachen sammeln, von denen wir so viel hören«, sagte Thomas, trotzig mit den Zähnen knirschend, »und alle Figuren samt den Leuten, die sie erfunden haben, und ich wollte, ich könnte tausend Fässer Pulver unter sie stellen und sie allesamt in die Luft sprengen. Aber wenn ich zu dem alten Bounderby komme, dann will ich mich schon rächen.«

»Dich rächen, Tom?«

»Ich werde mir ein wenig gütlich tun und herumschlendern und mir manches ansehen und manches hören. Ich werde mich für die Weise entschädigen, in der ich erzogen worden.«

»Täusche dich nur vorderhand nicht, Tom. Mr. Bounderby denkt wie Vater und ist noch weit grober und nicht halb so gut, wie er ist.«

»O!« sagte Tom lachend, »daran liegt mir nichts. Ich weiß schon, wie ich den alten Bounderby herumzukriegen und zu nehmen habe.«

Ihre Schatten zeichneten sich auf der Wand ab, aber die Schatten der hohen Bücherschränke liefen an der Wand und auf der Zimmerdecke ineinander, gleich als ob das Gewölbe einer dunklen Höhle über Bruder und Schwester hinge. Nun hätte aber eine schwärmerische Einbildungskraft (wenn solch verräterisches Ding sich dort hätte einschleichen können) leicht herausgedeutet, daß der fragliche Schatten der ihres Gespräches und seiner mehr und mehr hereindrohenden Verschwisterung mit ihrer Zukunft sei.

»Und was ist deine große Besänftigungsmethode, Tom? Ist sie ein Geheimnis?«

»O«, sagte Tom, »wenn es ein Geheimnis ist, so ist es nicht schwer zu erraten. Du selbst bist das Besänftigungsmittel. Du bist Mr. Bounderbys kleiner Liebling, sein Nesthäkchen. Für dich tut er alles. Wenn er etwas Unangenehmes zu mir sagt, so brauche ich ihm nur zu sagen: ›Meine Schwester Lu wird sich darüber ärgern und bös sein, Mr. Bounderby. Sie hat mir immer gesagt, Sie würden sicherlich nachsichtiger mit mir sein, als der –.‹ Wenn das ihn nicht herumkriegt, so weiß ich nicht, was sonst.«

Nachdem er eine Weile auf eine Antwort gewartet und keine bekommen hatte, fiel Tom ermüdet in die Wirklichkeit zurück, wand sich gähnend an der Stuhllehne herum und brachte seine Locken immer mehr in Unordnung, bis er am Ende plötzlich aufblickte und fragte:

»Schläfst du, Lu?«

»Nein, Tom. Ich sehe dem Feuer zu.«

»Es scheint, daß du mehr daran zu sehen findest, als ich jemals darin entdecken konnte«, sagte Tom. »Vermutlich wieder einer der Vorteile, die ein Mädchen vor uns voraus hat.«

»Tom«, fragte seine Schwester bedächtig und in sonderbarem Tone, als ob sie ihre Frage aus dem Feuer herausbuchstabierte, in dem die Schriftzüge übrigens nicht ganz deutlich zu sein schienen, »Tom, macht dir denn die Aussicht auf die Übersiedlung zu Mr. Bounderby irgendwelche Freude?«

»Nun«, erwiderte Tom, seinen Stuhl zurückschiebend und aufstehend, »es hat wenigstens etwas Gutes: es bringt mich von Haus fort.«

»Es hat wenigstens etwas Gutes«, wiederholte Luise in dem vorigen sonderbaren Tone, »es bringt dich von Haus fort. Ja.«

»Freilich tut es mir dann auch wieder sehr leid, Lu, dich zu verlassen, und besonders dich hier zu lassen. Aber du weißt ja, gehen muß ich, ich mag wollen oder nicht, und es ist doch besser, ich gehe an einen Ort, wohin ich dir immerhin noch erreichbar bleibe, als an einen Platz, wo ich diesen Vorteil ganz und gar verlieren müßte. Siehst du das nicht ein?«

»Jawohl, Tom.«

Die Antwort, obwohl entschieden, hatte so lange auf sich warten lassen, daß Tom hingehen und auf ihre Stuhllehne sich hatte stützen können, um das Feuer, das die Schwester so sehr in Anspruch nahm, auch einmal von ihrem Gesichtspunkte aus zu betrachten und zu sehen, was er etwa daraus entnehmen könne.

»Abgesehen davon, daß es ein Feuer ist«, sagte Tom, »schaut es mich so dumm und ungereimt an, wie jedes andere Ding. Was siehst du denn darin? Doch keinen Zirkus?«

»Ich sehe gar nichts Besonderes darin, Tom. Aber wie ich so hineingeschaut, habe ich mich gewundert über dich und mich, wenn ich daran denke, daß wir einmal beide erwachsen sein werden.«

»Hast dich schon wieder einmal gewundert!« sagte Tom.

»Ich habe so unlenksame Gedanken«, erwiderte die Schwester, »daß sie sich notwendig verwundern müssen.«

»Aber ich bitte dich, Luise«, sagte Mrs. Gradgrind, die unbemerkt die Tür geöffnet hatte, »laß das um Gottes willen, du leichtsinniges Mädchen; oder dein Vater wird mich es nicht of genug hören lassen können. Und Thomas, es ist wirklich eine Schande, wenn mein armer Kopf mich beständig so schmerzt, daß ein Junge von deiner Erziehung, dessen Ausbildung so viel gekostet hat wie die deine, seine Schwester noch aufmuntert, sich zu wundern, da du doch weißt, daß dies dein Vater ausdrücklich verboten hat.«

Luise stellte Toms‘ Beteiligung an dem Vergehen in Abrede. Aber ihre Mutter stopfte ihr mit der schlußgültigen Antwort den Mund: »Luise, sprich mir nichts dagegen bei meinem gegenwärtigen Gesundheitszustand; denn wärest du nicht von einem andern dazu verführt worden, so würde es ja moralisch und physisch unmöglich sein, daß du dergleichen getan haben könntest.«

»Es hat mich niemand dazu verführt, Mutter, als der Anblick der roten Funken, wie sie aus dem Feuer fallen, erbleichen und sterben. Es hat mich denken machen, wie kurz denn doch am Ende mein Leben sein werde, und wie wenig ich darin zu erreichen vermag.«

»Unsinn!« sagte Mrs. Gradgrind, und wurde beinahe energisch. »Unsinn! Steh nicht länger so da und schwatze mir kein solches Zeug mehr vor, Luise. Du weißt doch, daß dein Vater, wenn es ihm je zu Ohren kommen sollte, er gar keine Ruhe mehr geben würde. Und das nach all der Mühe, die man sich mit dir gegeben hat! Nach all den Vorlesungen, die du besucht und den Experimenten, die du mit angesehen hast! Ich habe doch selbst, während meine ganze rechte Seite starr war vor Kälte, deinen Lehrer über Kombustion, Kalzination und Kalorifikation, und ich kann wohl sagen über jede Art von Ation, dich unterrichten hören. Das konnte eine arme schwache Person beinahe von Sinnen bringen; so wurde dir das einexerziert. Und nun muß ich von dir solches unsinnige Geschwätz von Asche und Funken vernehmen!« Zuletzt sank Mrs. Gradgrind auf einen Stuhl und entlud sich, ehe sie unter dem Gewicht dieser bloßen Schatten von Tatsachen zusammensank, ihres stärksten Arguments: »Ja wahrlich«, sagte sie, »ich wünschte, ich hätte nie Kinder gehabt, und dann solltet ihr einmal erfahren haben, was ihr ohne mich hättet anfangen wollen!«

Siebenunddreißigstes Kapitel.


Siebenunddreißigstes Kapitel.

Es ist ein gefährliches Ding, im Umkreis eines dünkelhaften Prahlers etwas zu sehen, ehe es der Prahler selbst sieht. Mr. Bounderby fühlte, daß Mrs. Sparsit ihm unverschämt zuvorgekommen und der Ansicht war, weiser zu sein als er. Er war unversöhnlich aufgebracht gegen sie, wegen ihrer triumphierenden Entdeckung von Mrs. Pegler. Er drehte diese Vermessenheit von seiten einer Frau in ihrer abhängigen Stellung so lange um und um in seinem Sinne, bis sie im Umdrehen anschwoll wie eine Lawine. Endlich machte er die Entdeckung, daß es bedeuten würde, den größtmöglichen Betrag von krönendem Ruhm aus dieser Verbindung zu gewinnen, dieses Frauenzimmer mit den vornehmen Familienverbindungen los zu werden. Er wollte es in seiner Gewalt haben, zu sagen: »Sie war eine Frau von Familie und wünschte sich an mich zu hängen, aber ich wollte es nicht haben und machte mich von ihr los.« Zu gleicher Zeit würde man Mrs. Sparsit nach Verdienst bestrafen.

Mehr als je von diesem Gedanken erfüllt, kam Mr. Bounderby zum zweiten Frühstück und setzte sich in dem aus früheren Zeiten bekannten Speisezimmer nieder, in dem sein Porträt hing. Mrs. Sparsit saß am Feuer, ihren Fuß in ihrem baumwollenen Fußsacke, und dachte wenig daran, was ihr bevorstand.

Seit der Pegler-Angelegenheit hatte diese edle Dame ihre Teilnahme für Mr. Bounderby mit einem Schleier von ruhiger Melancholie und Ergebenheit umhüllt. Infolgedessen war es ihre Gewohnheit geworden, einen wehmutsvollen Blick anzunehmen, den sie jetzt auf ihren Herrn richtete.

»Was wollt Ihr, Ma’am?« sagte Mr. Bounderby in kurzer und rauher Weise.

»Bitte Sir«, antwortete Mr«. Sparsit, »beißen Sie meine Nase nicht ab.«

»Ihre Nase abbeißen, Ma’am!« wiederholte Mr. Bounderby. »Ihre Nase!« damit wollte er andeuten, wie Mrs. Sparsit wohl begriff, daß es zu diesem Zwecke eine zu ausgebildete Nase sei. Nach dieser beleidigenden Bemerkung schnitt er sich eine Brotkruste ab und warf das Messer mit gewaltsamem Geräusch nieder.

Mrs. Sparsit nahm ihren Fuß aus dem Fußsacke und sagte: »Mr. Bounderby, Sir!«

»Nun, Ma’am?« versetzte Bounderby. »Was starren Sie?«

»Darf ich fragen, Sir«, sagte Mr». Sparsit, »ob Sie diesen Morgen Unannehmlichkeiten gehabt haben?«

»Ja, Ma’am.«

»Darf ich fragen, Sir«, fuhr die beleidigte Frau fort, »ob ich die unglückliche Ursache bin, daß Sie Ihre gute Laune verloren haben?«

»Nun wohl, ich will Ihnen etwas sagen, Ma’am«, erwiderte Bounderby, »ich bin nicht hierhergekommen, um angeschrien zu werden. Ein Frauenzimmer mag noch so hohe Familienbeziehungen haben, und es kann ihr doch nicht gestattet werden, einen Mann in meiner Stellung zu langweilen und zu ärgern, und ich habe nicht Lust, mir das gefallen zu lassen.« (Bounderby hielt es für nötig, fortzufahren, denn er sah voraus, daß er geschlagen werden würde, sobald er auf Einzelheiten einging.)

Mrs. Sparsit erhob sich erst, dann zog sie ihre koriolanischen Augenbrauen zusammen, legte ihre Arbeit in ihren Korb und brach auf.

»Sir«, sagte sie majestätisch, »es ist offenbar, daß ich Ihnen gegenwärtig im Wege bin. Ich werde mich in mein eigenes Gemach zurückziehen.«

»Erlauben Sie mir, Ihnen die Tür zu öffnen, Ma’am.«

»Danke, Sir, ich kann es selbst tun.«

»Sie sollten es mir lieber erlauben, Ma’am«, sagte Bounderby, indem er an ihr vorüberging und seine Hand auf das Schloß legte, »weil es mir Gelegenheit verschaffen wird, Ihnen ein Wort zu sagen, ehe Sie gehen. Mrs. Sparsit, ich glaube, Sie sind hier beengt, nicht wahr? Es scheint mir, daß es unter meinem niedrigen Dache schwerlich genug Raum gibt für eine Dame von Ihrem Talent, sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen.«

Mrs. Sparsit warf ihm einen Blick der finstersten Verachtung zu und sagte mit großer Höflichkeit: »Wirklich, Sir?«

»Ich habe seit den letzten Ereignissen darüber nachgedacht, sehen Sie, Ma’am«, sagte Bounderby; »und es scheint nach meinem unmaßgeblichen Urteile –«

»O, bitte, Sir«, unterbrach ihn Mrs. Sparsit mit lebhafter Heiterkeit, setzen Sie Ihr Urteil nicht herab. Jedermann weiß, wie unfehlbar Mr. Bounderbys Urteil ist. Jedermann hat Beweise davon gehabt. Es muß das Thema der allgemeinen Unterhaltung sein. Setzen Sie alles an sich herab, nur Ihr Urteil nicht, Sir«, sagte Mrs. Sparsit lachend.

Mr. Bounderby, sehr rot und unbehaglich, wiederholte:

»Noch einmal, Ma’am, es scheint mir, daß eine andere Art Hauswesen eine Dame von Ihren Fähigkeiten ganz anders zur Geltung bringen würde. Solch ein Hauswesen etwa, wie das Ihrer Verwandten, der Lady Scadgers. Glauben Sie nicht auch, Sie dürften da einige Dinge finden, mit denen Sie sich befassen könnten?«

»Es ist mir nie zuvor eingefallen, Sir«, erwiderte Mrs. Sparsit, »aber jetzt, wo Sie es erwähnen, halte ich es für höchst wahrscheinlich.«

»Dann versuchen Sie es vielleicht einmal, Ma’am«, sagte Mr. Bounderby, indem er einen Umschlag mit einem Scheck darin in ihren kleinen Korb legte. »Sie können nach Gutdünken die Zeit zu Ihrer Abreise wählen, Ma’am. Aber indessen dürfte es wohl für eine Dame mit Ihren Geisteskräften angenehmer sein, ihre Mahlzeiten bei sich selbst zu essen, als daß andere ihr beschwerlich fallen. Ich muß mich wirklich bei Ihnen entschuldigen, daß ich Ihnen solange im Lichte gestanden, obgleich ich nur Josiah Bounderby von Coketown bin.«

»Bitte, das ist nicht der Erwähnung wert, Sir«, erwiderte Mrs. Sparsit. »Wenn dies Porträt sprechen könnte, Sir, so würde es bezeugen, daß ich es schon vor langer Zeit als das Gemälde eines Einfaltspinsels ansah. Aber es hat den Vorteil vor seinem Original voraus, daß es nicht die Fähigkeit besitzt, sich selbst bloßzustellen und andere nicht anzuekeln. Nichts, was ein Einfallspinsel tut, kann Erstaunen oder Unwillen erregen; das Tun und Lassen eines Einfaltspinsels kann nur Verachtung einflößen.«

Während sie dies sagte, bemühte sich Mrs. Sparsit, mit ihren römischen Zügen, wie die auf einer Münze, ihrer Verachtung gegen Mr. Bounderbys Ausdruck zu verleihen, maß ihn mit festem Blicke vom Kopf bis zum Fuße, schwebte verächtlich an ihm vorüber und stieg die Treppe hinauf. Mr. Bounderby schloß die Tür und stellte sich vor das Feuer. Nach seiner alten, unbeherrschten Art versenkte er sich in sein Porträt und in die Zukunft.

Wie weit in die Zukunft? Er sah Mrs. Sparsit einen täglichen Kampf mit den Spitzen aller weiblichen Waffen gegen die neidische, beißende, reizbare, peinigende Lady Scadgers auskämpfen. Sie lag noch immer mit ihrem geheimnisvollen Fuße im Bette und hatte ihr unzureichendes Einkommen ungefähr in der Mitte jedes Quartals aufgezehrt, in einer schlechten, kleinen, luftlosen Wohnung, eine bloße Kammer für einen, nur ein Stall für zwei. Aber sah er mehr? Erhaschte er einen Schimmer von sich selbst, wenn er Bitzer den Fremden vorstellte als den strebsamen jungen Mann, so ergeben den großen Verdiensten seines Herrn, der den Platz des jungen Toms errungen und den jungen Tom beinahe selbst gefangen hätte, zur Zeit, als dieser von verschiedenen Landstreichern weggelockt wurde? Sah er einen schwachen Widerschein seines eigenen Bildes, wie er ein großprahlerisches Testament machte? Fünfundzwanzig Aufschneider sollten nach zurückgelegtem fünfundzwanzigsten Jahre jeder den Namen Josiah Bounderby von Coketown annehmen, für immer in Bounderbyhall speisen, für immer in Bounderbyhäusern wohnen, für immer eine Bounderbykapelle besuchen, für immer sich von einem Bounderbykaplan einschläfern lassen, für immer von einer Bounderbystiftung ernährt werden, sich für immer alle gesunden Magen mit einem Übermaß von Bounderbymischmasch und Bounderbyprahlerei verderben. Hatte er irgendeine Ahnung von dem Tage, fünf Jahre später, als Josiah Bounderby von Coketown an einem Schlaganfalle in der Coketownstraße sterben sollte, und dasselbe köstliche Testament seine lange Laufbahn von Spitzfindigkeiten, Betrügereien, falschen Ansprüchen, schlechtem Beispiel, wenig Nutzen und vielen Prozessen beginnen sollte? Wahrscheinlich nicht. Jedoch das Porträt mußte das alles miterleben.

Auch Mr. Gradgrind saß an demselben Tage und zur selben Stunde gedankenvoll in seinem Zimmer. Wieviel von der Zukunft sah er? Sah er sich selbst, einen ergrauten, verlebten Mann, seine bisher unbiegsamen Ideen der gegebenen Verhältnisse, Tatsachen und Träume dem Glauben der Hoffnung anpassen und der Menschenliebe unterordnen und nicht länger den Versuch machen, diese himmlischen Drei in seinen staubigen kleinen Mühlen zu zermahlen? Erhaschte er einen Blick von sich selbst, wie er deshalb von seinen früheren politischen Verbündeten verachtet wurde? Sah er sie in der Zeit, wo es allgemein anerkannt war, daß die nationalen Gassenkehrer nur miteinander etwas zu tun haben und keine Verpflichtung gegen eine Abstraktion, genannt Volk, anerkennen, das den ehrenwerten Gentleman mit diesem und mit dem und womit nicht, fünf Tage in der Woche bis zu den frühen Morgenstunden drangsalt? Wahrscheinlich hatte er eine starke Vorahnung davon, denn er kannte seine Leute.

Auch Luise betrachtete am Vorabend desselben Tages das Feuer, wie in früheren Zeiten, jedoch mit freundlicherer und demütigerer Miene. Wieviel von der Zukunft mochte vor ihrem Blick aufsteigen? Plakate an den Straßenecken, mit ihres Vaters Namen unterzeichnet, die den verstorbenen Stephen Blackpool, Weber, von dem falschen Verdacht entlasteten, und die Schuld seines eigenen Sohnes veröffentlichten, mit soviel Milderung als seine Jahre und Versuchung (er konnte sich nicht überwinden »Erziehung« hinzuzufügen) beanspruchen durften, gehörten der Gegenwart an. So gehörte Stephen Blackpools Grabstein, mit ihres Vaters Bericht über seinen Tod auch fast zur Gegenwart, denn sie wußte, daß das so sein sollte. Diese Dinge konnte sie leicht sehen. Aber, wieviel von der Zukunft?

Ein Arbeitermädchen, namens Rachael, das nach einer langen Krankheit eines Tages wieder auf den Ruf der Fabrikglocke erschien und wieder zur bestimmten Stunde hin- und zurückging unter den Coketownschen »Händen«; ein Mädchen von gedankenvoller Schönheit, immer schwarz gekleidet, aber milden Sinnes und heiter, selbst munter. Sie allein schien von allen Leuten an dem Orte mit einer gesunkenen, versoffenen Elenden ihres eigenen Geschlechtes Mitleid zu haben, die man zu Zeiten in der Stadt insgeheim sie anbetteln und anrufen sah. Ein Arbeitermädchen, immer arbeitend, aber zufrieden damit, wie mit ihrem natürlichen Lose, bis sie zu alt zu fernerer Arbeit sein würde. Sah Luise das? So etwas sollte geschehen.

Ein verlassener Bruder, viele tausend Meilen entfernt, auf tränendurchnäßtem Papier schreibend, daß ihre Worte zu bald in Erfüllung gegangen, und daß alle Schätze der Welt unbedenklich hingeworfen werden würden für einen Blick auf ihr liebes Gesicht. Später dieser Bruder sich der Heimat nähernd, voll Hoffnung, sie zu sehen, und durch Krankheit aufgehalten; und dann ein Brief von fremder Hand, in dem es heißt: »er starb in dem Hospitale, am Fieber, und starb in Reue und Liebe zu Euch: sein letztes Wort war Euer Name.« Sah Luise diese Dinge? Solche Dinge sollten geschehen.

Sie selbst wieder ein Weib – eine Mutter – liebreich besorgt für ihre Kinder, immer voll Sorge, daß sie Kindlichkeit des Geistes in nicht geringerem Grade als Kindlichkeit des Körpers bewahrten, da sie erkannt, daß jene noch ein schöneres Ding sei und ein Besitz, von dem ein aufgespartes Stückchen ein Segen und ein Glück für den Weisesten? Sah Luise das? So etwas sollte nimmer geschehen.

Aber der glücklichen Cili glückliche Kinder, sie liebend; alle Kinder sie liebend; sie selbst, unterrichtet in kindlichem Wissen; nie denkend, daß eine unschuldige und hübsche Einbildung zu verachten sei; unablässig bemüht, ihre niedriger gestellten Mitgeschöpfe kennenzulernen und ihr maschinenmäßiges Leben der rauhen Wirklichkeit mit jenen idealen Annehmlichkeiten und Genüssen zu verschönen, ohne die das Herz der Kindheit verwelken, die stärkste physische Manneskraft vollkommen moralisch tot, und die klarsten Berechnungen über Nationalreichtum ein Wandgekritzel sein werden, – sie diesen Weg gehend ohne phantastisches Gelübde, oder Unterschrift, oder Brüderschaft, oder Schwesterschaft, oder Bürgschaft, oder Vertrag, oder Putz, oder Armenbasar,14 sondern einfach als eine zu erfüllende Pflicht. Sah Luise diese Dinge von sich selbst? Diese Dinge sollten geschehen.

Lieber Leser! Es hängt von dir und mir ab, ob in unseren beiden Wirkungskreisen ähnliche Dinge geschehen sollen oder nicht. Laßt sie geschehen! Wir werden dann mit leichterem Herzen am Feuer sitzen und seine Asche grau und kalt werden sehen.

Viertes Kapitel.


Viertes Kapitel.

Da Mr. Bounderby nicht Mrs. Grundy war, wer war er denn?

Nun, Mr. Bounderby war so nahe daran, Mr. Gradgrinds Busenfreund zu sein, wie ein Mann, allen Gefühls bar, sich in jener geistigen Verwandtschaft an einen Zweiten anzuschmiegen vermag, der allen Gefühles bar ist. So nahe, oder wenn der Leser es vorziehen sollte, so ferne stand ihm Mr. Bounderby.

Er war ein reicher Mann: Bankier, Kaufmann, Fabrikant und was nicht alles noch. Ein dicker, lärmender Mann mit glotzenden Blicken und einem ehernen Gelächter. Ein Mann aus einem rohen Stoff geschaffen, der ausgedehnt worden zu sein schien, um ihn so umfangreich zu machen. Ein Mann, dessen Kopf und Stirn aufgedunsen war, mit geschwollenen Adern an den Schläfen und einer Haut, die auf seinem Gesicht derartig ausgespannt war, daß es schien, als hielte sie seine Augen offen und als hebe sie seine Augenbrauen empor. Ein Mann mit dem vorwaltenden Anschein, als sei er wie ein Ballon aufgebläht und bereit, aufzufliegen. Ein Mann, der sich nie genug damit brüsten konnte, sich selbst aufgeschwungen zu haben. Ein Mann, der durch seine, wie ein metallenes Sprachrohr klingende Stimme fortwährend seine ehemalige Unwissenheit und Armut ausposaunte. Ein Mann, der ein Renommist der Demut war.

Um ein oder zwei Jahre jünger als sein ausgezeichnet praktischer Freund, sah Mr. Bounderby doch älter aus. Seinen siebenundvierzig oder achtundvierzig Jahren konnten die sieben oder acht noch hinzugefügt werden, ohne daß es jemanden überrascht hätte. Er hatte nicht viel Haare. Man mochte denken, er habe sie weggeschwatzt, und die übriggebliebenen, die sämtlich in Unordnung emporstanden, waren so unordentlich, weil sie durch seine aufgeblasene Ruhmredigkeit fortwährend hin und her getrieben wurden.

Mr. Bounderby stand also in dem förmlichen Gesellschaftszimmer von Stone Lodge auf dem Kaminteppich, wärmte sich am Feuer und erging sich in einigen Bemerkungen darüber, daß gerade sein Geburtstag sei. Er stand vor dem Feuer, teils weil der Frühlingsnachmittag, obgleich die Sonne schien, kühl war, teils weil das Gespenst von feuchtem Mörtel stets in dem Schatten von Stone Lodge spukte, und teils weil er auf diese Weise eine gebieterische Stellung einnahm, von wo aus er Mr. Gradgrind sich unterwerfen konnte.

»Kein Schuh bedeckte meinen Fuß. Was Strümpfe betrifft, so kannte ich dergleichen nicht einmal dem Namen nach. Die Tage brachte ich in einem Graben zu und die Nächte in einem Schweinestalle. Auf diese Weise feierte ich meinen zehnten Geburtstag. Nicht daß ein Graben mir etwas Neues wäre – denn in einem Graben wurde ich geboren.«

Mrs. Gradgrind war ein kleines, dünnes, weißes Bündel von Schals mit winzigen Äuglein und einer ungemeinen sowohl geistigen als körperlichen Schwäche. Sie schluckte andauernd Medizin, ohne daß dies eine Wirkung hervorbrachte, und sie wurde jedesmal, wenn Symptome eines neuen Auflebens sich bei ihr einstellten, unausbleiblich von einem wuchtigen Stück Tatsache, das auf sie niederstürzte, betäubt. Mrs. Gradgrind hoffte, daß der Graben trocken gewesen?

»Nein! So naß wie ein eingetunkter Bissen. Ein Fuß hoch Wasser darin«, sagte Mr. Bounderby.

»Genug um einem Kindchen eine Erkältung zuzuziehen«, bemerkte Mrs. Gradgrind.

»Eine Erkältung? Ich wurde mit einer Lungenentzündung geboren, und das war, wie ich glaube, die einzig mögliche Entzündung«, entgegnete Mr. Bounderby. »Jahrelang, Ma’am, war ich eines der elendesten, beklagenswertesten Kinder, die es je gegeben. Ich war so kränklich, daß ich fortwährend stöhnte und ächzte. Ich war so zerlumpt und schmutzig, daß Sie mich nicht mit einer Zange angefaßt hätten.«

Mrs. Gradgrind warf einen matten Blick auf die Zange, was bei ihrer Blödheit das geeignetste war, was sie tun konnte.

»Wie ich mich durchgewunden, das wüßte ich nicht zu sagen«, meinte Bounderby. »Ich glaube, mit meiner Entschlossenheit. Ich war in meinem nachherigen Leben ein entschlossener Charakter, und so war ich dazumal, wie ich glaube. Da bin ich nun, Mrs. Gradgrind, auf irgendeine Weise und habe niemandem als mir selbst dafür zu danken.«

Mrs. Gradgrind drückte schwach und zart die Hoffnung aus, daß seine Mutter –

»Meine Mutter? Durchgebrannt, Ma’am«, sagte Bounderby.

Mrs. Gradgrind stutzte wie gewöhnlich, brach zusammen und gab nach.

»Meine Mutter überließ mich meiner Großmutter«, sagte Bounderby, »und meiner schärfsten Erinnerung gemäß war meine Großmutter das boshafteste und schlechteste alte Weib, das je gelebt hat. Wenn ich zufällig ein Paar Schuhe erhielt, so war sie imstande, sie mir abzunehmen und für Getränke zu verkaufen. Ja, ich habe mit angesehen, wie diese Großmutter, im Bette liegend, vierzehn Gläser Branntwein vor dem Frühstück sich einverleibte.«

Mrs. Gradgrind, die matt lächelte und kein sonstiges Lebenszeichen von sich gab, sah aus (wie das bei ihr gewöhnlich der Fall war) wie ein leidlich ausgeführtes Transparent einer kleinen Frauenfigur, ohne daß man hinreichendes Licht dahinter angebrannt hatte.

»Sie hielt einen Krämerladen«, fuhr Bounderby fort, »und legte mich in eine Eierkiste. Das war die Wiege meiner Kindheit, eine alte Eierkiste. Sobald ich so groß war, um davonzulaufen, lief ich natürlich davon. Alsdann ward aus mir ein junger Vagabund. Statt daß ein altes Weib mich prügelte und verhungern ließ, ward ich jetzt von allen geprügelt und dem Hunger preisgegeben. Sie hatten recht; für sie war kein Grund vorhanden, anders zu verfahren. Ich war eine Last, ein Krebsschaden und eine Pest. Ich weiß alles recht wohl.«

Sein Stolz, es zu einer Periode seines Lebens zu der großen gesellschaftlichen Auszeichnung gebracht zu haben, eine Last, ein Krebsschaden und eine Pest zu sein, konnte nur durch eine dreimalige laute Wiederholung dieser Renommage befriedigt werden.

»Ich war, wie ich glaube, bestimmt, mich durchzuwinden, Mrs. Gradgrind. Ob ich dazu bestimmt war oder nicht, Ma’am, ich tat es. Ich wand mich durch, obgleich mir niemand an die Hand ging. – Vagabund, Laufjunge, wieder Vagabund, Arbeiter, Träger, Schreiber, erster Geschäftsführer, halber Kompagnon, Josiah Bounderby von Coketown. Das sind die Vorstufen meiner Laufbahn bis zum Gipfel. Josiah Bounderby von Coketown erlernte das ABC an den Aufschriften der Läden und erhielt erst die Fertigkeit, die Zeit auf einem Zifferblatte zu enträtseln, als er die Turmglocke der St.-Giles-Kirche in London unter der Leitung eines versoffenen Krüppels studierte. Das war ein überführter Dieb und ein unverbesserlicher Landstreicher. Erzählt Josiah Bounderby von Coketown von euren Kreisschulen und euren Musterschulen und euren Erziehungsanstalten und eurem ganzen Plunder von Schulen, und Josiah Bounderby von Coketown wird euch einfach sagen: Ganz recht, ganz schön – er hatte nicht diese günstigen Gelegenheiten – laßt uns aber Leute mit harten Köpfen und starken Fäusten haben – die Erziehung, die ihn emporgeschwungen, taugt nicht für einen jeden. Das weiß er recht gut – auf diese Art war nun aber seine Erziehung, und ihr könnt ihn dazu zwingen, kochendes Fett hinunterzuschlucken, aber ihr werdet ihn nie dazu bewegen, die Tatsachen aus seinem Leben zu verheimlichen.«

Erhitzt auf diesem Gipfel seiner Rede angekommen, hielt Josiah Bounderby von Coketown inne. Er hielt gerade inne, als sein ausgezeichnet praktischer Freund, noch immer von den beiden Verbrechern begleitet, ins Zimmer trat. Als sein ausgezeichnet praktischer Freund ihn erblickte, blieb er stehen und warf auf Luise einen vorwurfsvollen Blick, der einfach sagte: »Sieh hier deinen Bounderby!«

»Nun«, polterte Mr. Bounderby, »was gibt’s? Warum sieht der kleine Thomas so sauertöpfig drein?«

Er sprach von dem kleinen Thomas, sah aber dabei Luise an.

»Wir guckten in den Zirkus hinein«, murrte Luise hochmütig, ohne ihre Augen zu erheben, »und Vater erwischte uns.«

»Und, Mrs. Gradgrind«, sagte ihr Gatte pathetisch, »ich hätte meine Kinder ebensogern beim Lesen von Gedichten überraschen mögen.«

»Du lieber Himmel«, wimmerte Mrs. Gradgrind. »Wie konntet ihr nur, Luise und Thomas? Ich verwundere mich über euch. Ich gestehe offen, ihr könntet es einen bereuen lassen, überhaupt je Kinder gehabt zu haben. Ich habe große Lust zu sagen, ich wollte, ich hätte keine. Was ihr aber dann getan haben würdet, das möchte ich gern wissen.«

Diese triftigen Bemerkungen schienen auf Mr. Gradgrind keinen günstigen Eindruck zu machen. Er runzelte ungeduldig die Stirn.

»Als ob ihr bei der Migräne, an der mein Kopf jetzt leidet, die Muscheln, Mineralien und sonstigen Dinge, die für euch angeschafft wurden, nicht hättet anstatt der Zirkusse besichtigen können!« sagte Mrs. Gradgrind. »Ihr wißt so gut wie ich, daß Kinder keine Zirkuslehrer haben, oder Zirkusse in Kabinetts besitzen, oder über Zirkusse Lektionen anhören. Was könntet ihr also möglicherweise von den Zirkussen erfahren? Ihr habt sicherlich genug Beschäftigung, wenn euch darum zu tun wäre. Bei dem gegenwärtigen Zustand meines Kopfes könnte ich mich selbst der Namen von der Hälfte der Tatsachen nicht erinnern, die ihr euch zu merken habt.«

»Das ist es ja eben«, schmollte Luise.

»Sagt mir nicht, daß ist es ja eben; weil es dergleichen nicht sein kann«, sagte Mrs. Gradgrind. »Geht und treibt sogleich etwas Geographiologisches.« Mrs. Gradgrind war nicht gelehrter Natur und schickte ihre Kinder gewöhnlich mit diesem allgemeinen Befehle fort, um ihre Studien fortzusetzen.

Mrs. Gradgrinds Vorrat an Tatsachen befand sich wirklich im allgemeinen in einem jammervollen Zustand der Mangelhaftigkeit. Mr. Gradgrind war aber durch zwei Gründe bewogen worden, diese Dame zur ehelichen Würde zu erheben. Erstens gewährte sie als arithmetisches Problem die höchste Befriedigung, und zweitens war ihr jeder »Unsinn« fremd. Mit Unsinn bezeichnete er Phantasie; und es ist in der Tat wahrscheinlich, daß sie von jedem derartigen Makel ebenso frei war, als je ein menschliches Wesen, das nicht die höchste Stufe des Stumpfsinns erreicht hatte.

Der einfache Umstand, mit ihrem Mann und Mr. Bounderby sich allein zu befinden, war hinreichend, diese bewunderungswürdige Frau abermals zu betäuben, ohne daß sie mit einer andern Tatsache zusammengestoßen wäre. So starb sie abermals hin, und niemand bekümmerte sich um sie.

»Bounderby«, sagte Mr. Gradgrind, und rückte einen Stuhl an das Feuer, »Sie interessieren sich stets so sehr für meine Kinder – besonders für Luise – ich suche daher um gar keine Entschuldigung für meinen Ausspruch, daß diese Entdeckung mich tief kränkt. Ich habe mich (wie Sie wissen) der Ausbildung der Vernunft meiner Kinder systematisch gewidmet. Die Vernunft ist (wie Sie wissen) die einzige Naturgabe, die von der Erziehung ausgebildet werden sollte. Und doch dürfte folgendes aus dem heutigen unerwarteten Ereignis, so unbedeutend es an und für sich sein mag, deutlich werden: Es hat sich etwas in die Köpfe von Thomas und Luisen geschlichen, das bestimmt ist – oder vielmehr das es nicht ist – ja, ich wüßte mich nicht besser auszudrücken, als indem ich sage, das niemals bestimmt war, entwickelt zu werden und woran ihre Vernunft keinen Anteil hat.«2

»Es liegt gewiß nichts Vernünftiges darin, einen Haufen Vagabunden zu betrachten«, erwiderte Bounderby. – »Als ich selbst noch ein Vagabund war, wurde ich von niemandem mit Interesse betrachtet. Das weiß ich wohl.«

»Dann entsteht die Frage«, sagte der ausgezeichnet praktische Vater und heftete die Augen auf das Feuer, – »worin hat diese gemeine Neugier ihren Ursprung?«

»Ich will Ihnen sagen worin. In eitler Phantasie.«

»Ich will nicht hoffen«, sagte der ausgezeichnete Praktikus. »Ich muß indessen gestehen, daß diese Besorgnis mich auf dem Heimwege wirklich ergriffen.«

»In eitler Phantasie, Gradgrind«, wiederholte Bounderby. »Das ist höchst schädlich für jeden Menschen, und verflucht schädlich für ein Mädchen wie Luise. Ich würde Mrs. Gradgrind für meine derben Ausdrücke um Verzeihung bitten, wenn sie nicht wüßte, daß ich keine Bildung besitze. Wer bei mir Bildung erwartet, wird sich getäuscht finden. Ich habe keine gebildete Erziehung genossen.«

»Ob irgend«, sagte Mr. Gradgrind, mit den Händen in den Taschen und die höhlenartigen Augen auf das Feuer gerichtet, »ob irgendwer von den Lehrern oder der Dienerschaft ihnen etwas zugeflüstert hat? Ob Luise oder Thomas etwas gelesen haben mögen? Ob trotz aller Vorsichtsmaßregeln ein unnützes Märchenbuch seinen Weg ins Haus gefunden? Denn so etwas ist doch wahrlich gar seltsam und unbegreiflich bei Gemütern, die durch Regel und Norm von der Wiege auf praktisch ausgebildet wurden.«

»Halt!« rief Bounderby, der während der ganzen Zeit wie früher beim Feuer saß und auf demselben Stück Möbel in herzbrechender Demut zerflossen war. »Sie haben eines von den Kindern jener Landstreicher in der Schule?«

»Cecilie Jupe mit Namen!« sagte Mr. Gradgrind, seinen Freund einigermaßen betroffen anblickend.

»Nun halt!« rief Bounderby abermals. »Wie kam sie hierher?«

»Nun, Tatsache ist, daß ich das Mädchen gerade jetzt zum erstenmal gesehen. Sie kam eigens hierher mit der Bitte, aufgenommen zu werden, da sie nicht eigentlich zur Stadt gehört und – ja Sie haben recht, Bounderby, Sie haben recht.«

»Nun halt!« rief Bounderby nochmals. »Luise hat sie bei ihrer Ankunft gesehen?«

»Luise hat sie sicherlich gesehen; denn sie meldete mir noch das Gesuch. Aber Luise hat sie ohne Zweifel in Mrs. Gradgrinds Gegenwart gesehen.«

»Bitte, Mrs. Gradgrind«, sagte Bounderby, »was war vorgegangen?«

»Ach, ich arme Kranke!« erwiderte Mrs. Gradgrind. »Das Mädchen bedurfte der Schule und Mr. Gradgrind brauchte Mädchen für die Schule: da sagten Luise und Thomas beide, das Mädchen wünsche zu kommen und auch Mr. Gradgrind wolle, daß Mädchen kommen möchten. Wie war es da möglich, ihnen zu widersprechen, bei solchem Tatbestande?«

»Ich will Ihnen nun was sagen, Gradgrind«, rief Bounderby. »Jagen Sie das Mädchen geradezu aus der Schule und damit hat die Geschichte ein Ende.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung.«

»Auf einmal abgetan!« sagte Bounderby, »war mein Wahlspruch von Kindheit auf. Als mir der Gedanke kam, von der Eierkiste und meiner Großmutter davonzulaufen, tat ich es auf der Stelle. Verfahren Sie ebenso. Probieren Sie es auf einmal.«

»Wollten Sie einen Gang machen?« fragte sein Freund. »Ich habe die Adresse des Vaters. Vielleicht hätten Sie nichts dagegen, mit mir nach der Stadt zu gehen.«

»Nicht das geringste«, sagte Mr. Bounderby, »da Sie es auf einmal abmachen wollen.«

Mr. Bounderby warf sich den Hut auf – er warf ihn immer auf, um sich als einen Mann darzustellen, der zu sehr damit beschäftigt war, sich emporzuschwingen, als daß er die Mode hätte studieren können, wie ein Hut aufzusetzen sei – und schlenderte, mit den Händen in der Tasche, in den Vorsaal.

»Ich trage nie Handschuhe«, pflegte er gewöhnlich zu sagen. »Ich hatte keine, als ich die Leiter emporklomm. Würde sonst nicht so hoch gestiegen sein.«

Als er, während Mr. Gradgrind hinaufging, um die Adresse des Vaters zu holen, einige Minuten in dem Vorsaal herumschlendernd zurückgeblieben war, öffnete er die Tür des Studierzimmers der Kinder. Er blickte in jenes helle, mit einer Fußbodendecke belegte Gemach, das ungeachtet seiner Bücher- und Schubladenschränke und seiner mannigfachen gelehrten und wissenschaftlichen Einrichtungen den heiteren Anblick einer Friseurstube gewährte. – Luise lehnte träge am Fenster und sah hinaus, ohne etwas zu sehen, während der kleine Thomas racheschnaubend beim Feuer stand. Adam Smith und Malthus,3 zwei jüngere Gradgrinds, waren bei einer Lektion aufgehoben, und die kleine Jane war, nachdem sie auf ihrem Gesicht vermittels Griffel und Tränen eine ziemliche Masse von feuchtem Pfeifenton fabriziert hatte, über einfachen Brüchen eingeschlafen.

»Ist schon abgemacht, Luise! Schon abgemacht, kleiner Thomas!« sagte Bounderby. »Ihr werdet es nicht wieder tun. Ich stehe gut dafür, daß Vater es vergessen wird. Nun, Luise, das ist einen Kuß wert, nicht wahr?«

»Sie können sich einen nehmen, Mr. Bounderby«, entgegnete Luise nach einer frostigen Pause, ging langsam durch das Zimmer und hob, während sie ihr Gesicht abwandte, ihre Wange zu ihm in unfreundlicher Weise empor.

»Immer mein Goldkindchen! Nicht wahr, das bist du doch, Luise?« sagte Mr. Bounderby. »Adjes, Luise!«

Er ging seines Weges, sie aber blieb an derselben Stelle stehen und rieb sich mit ihrem Taschentuche die Wange, die er geküßt hatte, bis sie feuerrot wurde. Fünf Minuten nachher tat sie noch immer dasselbe.

»Was treibst du denn, Luise?« warnte sie ihr Bruder in verdrießlichem Tone. »Du wirst dir ein Loch ins Gesicht reiben.«

»Du kannst die Stelle mit deinem Federmesser ausschneiden, Tom, wenn du willst. Es würde mich nicht weinen machen.«

  1. Malthus (1766-1834), Volkswirtschaftler, der die bekannten Theorien von der Überbevölkerung aufstellte.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Coketown, wohin die Herren Bounderby und Gradgrind sich jetzt begaben, war ein Triumph der Tatsächlichkeit. Es zeigte sich nicht mehr von Phantasie befleckt, als Mr. Gradgrind selbst. Laßt uns zuerst den Grundton zum Klingen bringen, Coketown, bevor wir in unserm Liede fortfahren.

Es war eine Stadt aus roten Ziegelsteinen, oder von Ziegelsteinen, die rot gewesen wären, wenn Rauch und Asche es gestattet hätten. So aber hatte die Stadt ein unnatürliches, schwarzrotes Aussehen, wie das gemalte Gesicht eines Wilden. Es war eine Stadt von Maschinen und hohen Rauchfängen, aus denen endlose Schlangen fort und fort emporwirbelten und niemals ein Ende nahmen. Dort befand sich auch ein schwarzer Kanal und ein Fluß, der mit einer übelriechenden Farbe purpurn dahinströmte.

Ungeheure Fabrikkasernen-Massen mit öden Fenstern ragten da. Den ganzen Tag hörte man Klirren und Beben. Einförmig fuhr der Stempel der Dampfmaschine auf und nieder, wie der Kopf eines Elefanten in melancholischem Wahnsinn. Diese Stadt enthielt große Straßen, die sich alle einander glichen, und viele kleine Straßen, die sich noch mehr glichen, bewohnt von Leuten, die sich ebenfalls gleich waren, die alle zu denselben Stunden ein- und ausgingen, mit demselben Tritt auf demselben Pflaster, um die nämliche Arbeit zu verrichten, bei denen jeder Tag dem von gestern und morgen gleichkam und jedes Jahr das Duplikat des vergangenen und des künftigen war.

Diese Eigenheiten von Coketown waren überhaupt von der Arbeit, durch die es lebte, unzertrennlich. In grellem Gegensatz dazu stehen jene Bequemlichkeiten des Lebens, die in der ganzen Welt beliebt sind, und die Annehmlichkeiten des Lebens, die an der Dame der Kultur und Gesellschaft, wir wollen gar nicht nachforschen, wieviel Anteil haben. Solch Wesen geselliger Lebensfreude könnte kaum ertragen, auch nur den Namen des erwähnten Ortes nennen zu hören. Der Rest der charakteristischen Eigenschaften war nicht sonderlich belangvoll; es waren folgende:

Man sah in Coketown nichts, was nicht streng arbeitsam war. Wenn die Bekenner einer Religion eine Kapelle daselbst bauten – wie die Bekenner von achtzehn Religionssekten es getan – so machten sie es zu einem frommen Parkhaus aus roten Ziegelsteinen, zuweilen mit einer Glocke (dies aber nur bei besondern Prachtexemplaren) in einem Vogelkäfig an der Spitze. Als einzige Ausnahme stand die neue Kirche da, ein mit Stuckarbeit versehenes Gebäude, mit einem vierkantigen Turm oberhalb des Tores. Dieser Turm endete in vier kurzen Zinnen, die wie geschmückte Stelzen aussahen. Alle öffentlichen Inschriften in der Stadt waren auf gleiche Weise mit harten Schriftzügen in Schwarz und Weiß ausgeführt. Das Gefängnis hätte das Krankenhaus und das Krankenhaus das Gefängnis abgeben können, das Rathaus hätte eins von beiden oder beides zugleich, oder sonst was immer sein können; und all das wegen der Ungereimtheit im Baustil.

Tatsachen, Tatsachen, Tatsachen gaben sich in jedem wesentlichen Anblick der Stadt kund; und Tatsachen, Tatsachen, Tatsachen in jedem nicht wesentlichen. Die Schule von M’Choakumchild war durchgehends Tatsache; die Zeichenschule war durchgehends Tatsache, und die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren lauter Tatsachen. Alles war auch Tatsache, von der Entbindungsanstalt bis zum Kirchhofe. Was man also nicht mit Zahlen beweisen und dartun konnte, daß es auf dem billigsten Markte zu kaufen und auf dem teuersten zu verkaufen war, das hatte keine Existenzberechtigung, das sollte niemals sein, bis zu aller Welt Ende, Amen.

Eine Stadt, die der Tatsächlichkeit so sehr geweiht und so siegreich in deren Aufrechterhaltung war, die gedieh natürlich in hohem Grade? – Nein, doch nicht, nicht besonders. Nicht? Du lieber Himmel!

Nein. Coketown ging aus seinen Schmelzöfen nicht in jeder Beziehung hervor wie Gold, das die Feuerprobe ausgehalten. Erstens waltete in dem Orte das verwirrende Geheimnis: Wer gehört zu den achtzehn Sekten? Mochte es tatsächlich Leute geben, die dazu gehörten – die Arbeiterklasse war jedenfalls nicht dabei. Es machte einen seltsamen Eindruck, wenn man am Sonntagmorgen durch die Straßen schritt. Dann sah man, wie wenige von diesen Leuten durch das barbarische Glockengeklimper, das Kranke und Nervenschwache zum Wahnsinn trieb, au»ihrem eigenen Viertel, aus ihrem eigenen engen Zimmer und von den Ecken ihrer eigenen Straße sich zum Gottesdienst gerufen fühlten. Da lungerten sie träge herum, glotzten auf den Kirchen- und Kapellengang hinüber, als auf ein Ding, mit dem sie durchaus nicht in Berührung standen.

Es war auch nicht der Fremde allein, der das wahrnahm. Es bestand nämlich eine einheimische Gesellschaft in Coketown selbst, dessen Mitglieder man bei jeder Session des Unterhauses mit Entrüstung um einen Parlamentsakt petitionieren hören konnte, damit man diese Leute mit Gewalt religiös machen könnte. Dann kam die Teetotal-Gesellschaft (einer Gesellschaft, die sich aller geistigen Getränke enthält), die sich darüber beschwerte, daß dieselben Leute sich betrinken könnten und durch tabellarische Übersichten zeigten, daß sie sich wirklich betranken. Sie bewiesen bei ihren Teesitzungen, daß keine Beweggründe, weder menschliche noch göttliche (ausgenommen ein Orden) sie dazu bewegen konnte, die Gewohnheit, sich zu betrinken, aufzugeben. Dann kam der Apotheker und Drogist mit andern tabellarischen Übersichten, durch die dargetan wurde, daß sie Opium nehmen würden, wenn sie sich nicht berauschten. Dann kam der erfahrungsreiche Kaplan des Gefängnisses, mit noch mehr tabellarischen Übersichten, die alle sonstigen tabellarischen Übersichten übertrafen. Darinnen zeigte er, daß dieselben Leute zu verrufenen, dem Auge der Welt versteckten Schlupfwinkeln ihre Zuflucht nähmen, wo sie gemeine Lieder hörten und unzüchtige Tänze sahen. Darinnen habe A. B., der nächstens seinen vierundzwanzigsten Geburtstag feiern würde, und der zu achtzehnmonatlicher, einsamer Haft verurteilt worden, sein Ruin begonnen. Das habe A. B. selbst gestanden, allerdings ohne besondere religiöse Ergriffenheit, und er sei der Überzeugung, daß er ohne solche Lasterlokale ein Musterbild der vorzüglichsten Moral geworden wäre.

Dann kamen zu dieser Reihe noch Mr. Gradgrind und Mr. Bounderby hinzu, die beide gerade Coketown durchschritten und beide ausgezeichnet praktisch waren. Sie konnten bei Gelegenheit noch mehr tabellarische Übersichten liefern, die sich auf ihre eigenen persönlichen Erfahrungen gründeten und mit Fällen, die sie sahen und kannten, belegt wurden. Aus diesen Erfahrungen ging natürlich klar hervor – kurz es war das einzig Klare in der Sache – daß eben diese Leute des arbeitenden Volkes insgesamt ein schlechtes Pack wären.

Was Sie, meine Herren, für diese Volksklasse tun würden, die betreffenden Kreise würden doch nie dafür dankbar sein, sie wären eben ein unruhiges Volk, meine Herren. Sie wüßten niemals, was ihnen eigentlich not tut. Sie müßten immer nur das Beste haben, frische Butter kaufen, auf Bohnenkaffe bestehen und nur das beste Fleisch genießen. Aber dabei wären sie doch immer und ewig unzufrieden und unlenksam.

Kurz, es war die Moral des Ammenmärchens.

Es war mal ’ne Alte, was mögt Ihr wohl denken?
Die hatte gelebt nur von Speis‘ und Getränken;
Nur Speis‘ und Getränke das hatt‘ sie zur Kost,
Doch nie war und nimmer die Alte bei Trost.

Ob wohl eine Ähnlichkeit zwischen dem Zustand der Bevölkerung von Coketown und dem der kleinen Gradgrinds obwaltete? Man braucht es wohl bei unserm nüchternen Verstand und bei unserer Zahlenkenntnis heutzutage uns nicht erst zu sagen, daß eins der Urelemente im Dasein der arbeitenden Klasse von Coketown mit Bedacht für viele Jahre unterdrückt wurde? – daß die belebende Freude der Phantasie in ihnen ruhte, daß sie gerne diese Phantasie gesund ausströmen und sich betätigen lassen wollten, statt sie krampfhafter Hysterie preiszugeben? Daß gerade in dem Verhältnis, wie man viel und einförmig arbeitete, das Verlangen nach einer farbig sinnhaften, körperlichen Erquickung rege ward: – Nach einer Erholung, die den Mut und gute Laune fördern sollte, um ihnen Luft zu machen – nach einem anerkannten Festtag, sei es auch nur für einen ehrsamen Tag bei einer rührigen Musikbande – nach einer einfachen Pastete, bei der selbst M’Choakumchild die Hand nicht im Spiel hatte. Solch Verlangen muß und wird Befriedigung erlangen, oder es wird unvermeidlich eine verkehrte Richtung annehmen, es sei denn, daß die Gesetze der Natur aufgehoben würden! –

»Jener Mensch hält sich in Pod’s End auf, und ich weiß nicht genau, wo Pod’s End ist«, sagte Mr. Gradgrind. »Wo ist es, Bounderby?«

Mr. Bounderby wußte, daß es irgendwo in dem untern Teile der Stadt liege; sonst hatte er keine Kenntnis davon. Sie standen daher eine Weile still und schauten sich um.

Währenddem kam gerade von der Straßenecke ein Mädchen mit raschen Schritten und furchtsamen Blicken herbeigelaufen, das von Mr. Gradgrind sogleich erkannt wurde.

»Hallo!« rief er. »Halt! Wohin gehst du? Halt!«

Mädchen Nummer Zwanzig blieb pochenden Herzens stehen und machte einen Knix.

»Was rennst du in den Straßen«, rief Mr. Gradgrind, »in dieser unschicklichen Weise umher?«

»Ich bin – ich bin verfolgt worden«, keuchte das Mädchen, »und ich wollte entwischen.«

»Verfolgt?« wiederholte Mr. Gradgrind. »Wer wird dich verfolgen?«

Die Frage ward durch den farblosen Knaben Bitzer rasch und unerwartet für sie beantwortet, indem er in solch‘ blinder Hast um die Ecke gelaufen kam und so wenig eine Hemmung auf dem Pflaster erwartete, daß er an Mr. Gradgrinds Weste anrannte und in die Straße zurückprallte.

»Was soll das heißen. Junge?« sagte Mr. Gradgrind. »Was treibst du? Wie wagst du es, gegen unsereinen in dieser Weise anzustoßen?«

Bitzer hob seine Mütze auf, die durch den Zusammenstoß auf die Erde geflogen war, trat zurück, fuhr mit den Knöcheln der Hand an die Stirn und gab als Entschuldigung an, daß dies ein Zufall sei.

»Hat dich dieser Knabe verfolgt, Jupe?« fragte Mr. Gradgrind.

»Ja, mein Herr«, sagte das Mädchen mit Sträuben.

»Nein, ich tat es nicht, mein Herr!« rief Bitzer. »Nicht ehe sie von mir weglief. Aber Kunstreiter scheren sich wenig um das, was sie sagen, mein Herr. Sie sind dafür berühmt. Du weißt, daß Kunstreiter dafür berühmt sind, sich nicht um das zu scheren, was sie sagen«, sagte er zu Cili gewendet. »Das ist so allgemein bekannt in der Stadt als – mit Erlaubnis, mein Herr – als die Multiplikationstabelle bei den Kunstreitern unbekannt ist.« Bitzer wollte Mr. Bounderby damit imponieren.

»Er erschreckte mich so sehr«, sagte das Mädchen, »mit den greulichen Fratzen, die er schnitt.«

»Oh«, rief Bitzer. »Oh! Bist nicht wie die andern? Bist nicht von den Kunstreitern? Ich habe sie nicht einmal angesehen, mein Herr. Ich fragte sie, ob sie morgen werde definieren können, was ein Pferd ist und bot mich an, es ihr nochmals zu sagen, und sie rannte davon und ich lief ihr nach, mein Herr, damit sie Bescheid wisse, wenn sie gefragt würde. Wenn du nicht zur Kunstreiterei gehörtest, so würdest du mit deiner Zunge nicht soviel Unheil anstiften.«

»Ihr Beruf scheint unter ihnen schon ziemlich bekannt zu sein«, bemerkte Mr. Bounderby. Sie werden es in einer Woche noch erleben, daß die ganze Schule scharenweise Zaungast sein wird.«

»Wahrlich, ich bin derselben Meinung«, entgegnete sein Freund. »Kehr‘ um, Bitzer, und pack‘ dich nach Hause. Jupe, bleib eine Weile hier. Laß mich noch einmal von dir hören, so davongerannt zu sein, Junge, und du wirst von mir durch den Schulmeister hören. Du verstehst, was ich meine. Marsch, fort!«

Der Knabe hielt in seinem raschen Blinzeln inne, fuhr abermals mit den Knöcheln der Hand an die Stirn, warf einen Blick auf Cili, drehte sich um und zog sich zurück.

»Nun, Mädchen«, jagte Mr. Gradgrind, »bringe mich und diesen Herrn zu deinem Vater. Wir wollen zu ihm gehen. Was hast du in der Flasche da?«

»Gin«, sagte Mr. Bounderby.

»Gott behüte, mein Herr! ’s ist Neunkraftöl.«4

»Was?« rief Mr. Bounderby.

»Neunkraftöl, mein Herr. Um Vater damit einzureiben.« Drauf Mr. Bounderby nach einem kurzen, lauten Gelächter: »Weshalb, zum Teufel, reibst du deinen Vater mit Neunkraftöl ein?«

»Unsere Leute gebrauchens immer, mein Herr, wenn sie sich in der Reitbahn beschädigen«, erwiderte das Mädchen, indem sie über ihre Achsel wegsah, um sich zu vergewissern, daß ihr Verfolger fort sei, »Sie beschädigen sich zuweilen sehr stark.«

»Geschieht ihnen recht«, sagte Mr. Bounderby, »da sie Müßiggänger sind.« Das Mädchen schaute ihm ins Gesicht mit einer Mischung von Staunen und Furcht.

»Beim heiligen Georg!« rief Mr. Bounderby, »als ich noch vier oder fünf Jahre jünger als du war, hatte ich ärgere Beulen aufzuweisen, als ein Zehn-, Zwanzig- oder Vierzigkraftöl hätte heilen können. Ich erhielt sie nicht durch Artistenkunststücke, sondern weil man mich tüchtig durchbläute. Für mich gab es kein Seiltanzen; ich tanzte auf dem bloßen Boden, wobei man mir mit dem Strick aufspielte.«

Mr. Gradgrind war, obgleich ziemlich hartherzig, durchaus nicht so roh wie Mr. Bounderby. Im ganzen betrachtet war seine Natur nicht herzlos. Sie hätte in der Tat sehr herzlich sein können, wenn er nur einmal ein einfaches Versehen in der Arithmetik begangen hätte, die ihm seit Jahren das Gleichgewicht hielt. Er sagte in einem, wie er meinte, beruhigenden Tone, während sie sich nach einer engen Straße zuwandten: »Das ist Pod’s End, Jupe, nicht wahr?«

»Das ist es, mein Herr – und mit Verlaub, mein Herr – das ist das Haus.«

Sie hielt in der Dämmerung vor der Tür eines armseligen, kleinen Wirtshauses, das von fahlen Lichtern erleuchtet war. Es sah so verstört und so jämmerlich aus, als ob es sich aus Mangel an Kunden selbst dem Trunk ergeben hätte, den Weg aller Trunkenbolde gegangen wäre und nun seinem Ende nahe sei.

»Brauchen nur an dem Schenktisch vorüber, mein Herr, und dann die Treppen hinauf. Bitte dann zu warten mit Verlaub, bis ich ein Licht bringe. Sollten Sie einen Hund hören, mein Herr, so wird es nur Merrylegs sein, der nur bellt.«

»Merrylegs und Neunkraftöl«, sagte Mr. Bounderby mit seinem metallenen Gelächter und trat zuletzt ein, »das klingt wunderhübsch für einen, der sich selbst aufgeschwungen!«

  1. nine oils, was eine Mixtur bedeutet, die aus neun Ölgattungen besteht. Sie wurde besonders in England gegen Beulen und Quetschungen benutzt, ist aber schon längst außer Gebrauch.

Sechstes Kapitel.


Sechstes Kapitel.

Das Wirtshaus hieß »Zu den Pegasus-Arms«. Pegasusbeine wäre entsprechender gewesen. Unter dem Flügelroß prangte also auf dem Schilde die Inschrift: Pegasus-Arms in römischen Buchstaben. Und unter der Inschrift wiederum hatte der Maler in einem flatternden Streifen das Motto angebracht:

»Ein gutes Malz gibt gutes Bier,
Komm nur herein, man schenkt es hier.
Ein guter Wein gibt guten Branntwein,
Sei unser Gast, er wird zur Hand sein.«

An der Wand, hinter dem kleinen schmutzigen Ausschank, befand sich unter Glas und Rahmen ein zweiter Pegasus – ein theatralischer – mit Flügeln aus wirklicher Gaze, über und über mit goldenen Sternen beklebt und sein ätherisches Geschirr aus roter Seide gefertigt.

Da es draußen schon zu dunkel geworden war, um das Schild zu sehen, und da es drinnen noch nicht hell genug war, um das Bild zu sehen, so nahmen Mr. Gradgrind und Mr. Bounderby an diesen Idealitäten keinen Anstoß. Sie folgten dem Mädchen einige Winkeltreppen hinauf, ohne jemanden zu begegnen, und blieben im Dunkeln, während sie Licht holen ging. Sie erwarteten jeden Augenblick Merrylegs Stimme erschallen zu hören; aber der ausgezeichnet abgerichtete Hund hatte noch nicht gebellt, als das Mädchen und das Licht miteinander erschienen.

»Vater ist nicht in unserm Zimmer«, sagte sie mit einem Ausdruck tiefer Verwunderung. »Wenn Sie gefälligst eintreten wollten, so würde ich ihn sogleich holen.«

Sie traten ein: und Cili eilte, nachdem sie zwei Stühle für sie hingestellt, mit leichten, raschen Schritten davon. Es war ein schlechtes, armselig eingerichtetes Zimmer, worin ein Bett stand. An einem Nagel hing eine weiße Nachtmütze, mit zwei Pfauenfedern und einem kurzen, aufrechtstehenden Zopfe geschmückt, in der Signor Jupe an selbigem Nachmittag die mannigfachen Vorstellungen mit seinen keuschen Shakespearisierenden Stichelreden und Witzeleien belebt hatte. Sonst konnte nirgends etwas von seiner Garderobe oder ein anderes Merkmal von Jupe selbst oder seiner Beschäftigung wahrgenommen werden. Was Merrylegs anbelangt, so mag man den ehrwürdigen Ahn des wohldressierten Tieres, der sich auf der Arche einschiffte, zufällig aus derselben ausgeschlossen haben, da sich nicht die geringste Spur eines Hundes weder den Augen noch den Ohren in Pegasus-Arms kundgab.

Sie hörten das Auf- und Zuschlagen von den Türen der oberen Zimmer, da Cili von einem in das andere ging, um ihren Vater zu suchen. Bald darauf vernahmen sie Stimmen, die Überraschung ausdrückten. Sie kam rasch wieder in großer Eile heruntergesprungen, öffnete einen abgenützten, wurmstichigen und alten Koffer, mit Fell überzogen, fand ihn leer und blickte, die Hände zusammenschlagend, mit einem bestürzten Gesicht umher.

»Vater muß nach der Bude gegangen sein. Ich weiß nicht, weshalb er dahin gegangen sein sollte, aber er muß da sein. Ich bringe ihn in einer Minute.«

Sie war sogleich ohne Hut fort. Ihre langen, schwarzen Kinderhaare flatterten im Winde.

»Wo denkt sie hin?« sagte Mr. Gradgrind. »Zurück in einer Minute? Es ist mehr als eine halbe Meile.«

Ehe Mr. Bounderby noch antworten konnte, war ein junger Mann an der Tür erschienen, der mit den Worten: »Sie gestatten, meine Herren«, sich vorstellte, und mit den Händen in der Tasche hereintrat. Sein glattrasiertes, mageres und bleiches Gesicht war von einem dichten Wuchs schwarzen Haars beschattet, das dicht um den Kopf gekämmt und in der Mitte gescheitelt war. Seine Beine waren sehr kräftig, aber kürzer als Beine von richtigen Verhältnissen hätten sein sollen. Brust und Nacken hatte er um ebensoviel zu breit, als seine Beine zu kurz waren. Er trug einen Rock von Newmarket5 und eng anliegende Beinkleider; hatte einen Schal um den Hals gewunden, roch nach Brennöl, Stroh, Orangenschalen, Pferdefutter und Sägespänen und sah wie ein höchst sonderbarer Zentaur aus, eine Mischung von Stall und Theater. Wo das eine begann und das andere aufhörte, konnte niemand mit Genauigkeit bestimmen. Dieser Herr war auf den Anschlagzetteln angezeigt als Mr. E. W. B. Childere, der mit Recht wegen seiner kühnen Volten, im »Wilden Jäger in den nordamerikanischen Prärien« berühmt war. Bei diesem beliebten Kunststück stand ihm ein winzig kleiner Knabe mit einem alten Gesicht bei. Dieser Junge, sein Söhnchen, erschien jetzt in seiner Begleitung. Bei besagtem Kunststück ward der Kleine im Kopfstand an einem Fuß rücklings von seinem Vater gepackt, dann über dessen Schultern gehoben und schließlich in des Vaters flacher Hand mit dem Kopf ruhend, die Füße nach oben, getragen. Also ward er in der stürmisch väterlichen Weise gehalten, wie man wilde Jäger ihre Sprößlinge liebkosen sehen kann. Aufgeputzt mit Locken, Blumenkränzen, Flügeln, weißem Wismut und Karminschminke, schwang sich diese hoffnungsvolle junge Persönlichkeit zu einem anmutigen Kupido empor, daß sie das Hauptentzücken des mütterlichen Teils der Zuschauer bildete. Im Privatleben jedoch, wo die Kennzüge seines Charakters ein zu frühzeitig verschnittener Rock und eine ungewöhnlich rauhe Stimme waren, sank er vom ergötzlichen Götterkinde zum entsetzlichen Stalljungen herunter.

»Sie gestatten, meine Herren«, sagte Mr. E. W. B. Childers, im Zimmer umherblickend. »Ich glaube. Sie waren es, die Jupe zu sehen wünschten?«

»Jawohl«, sagte Mr. Gradgrind, »seine Tochter ging ihn zu holen, aber ich kann nicht warten. Ich möchte daher, wenn Sie es erlauben, eine Botschaft für ihn zurücklassen.«

»Sehen Sie, mein Freund«, warf Mr. Bounderby ein, »wir gehören zu den Leuten, die den Wert der Zeit kennen, ihr aber gehört zu den Leuten, die den Wert der Zeit nicht kennen.«

»Ich habe nicht«, entgegnete Mr. Childers, nachdem er ihn von Kopf bis Fuß gemessen, »die Ehre, Sie zu kennen – wenn Sie jedoch sagen wollen, daß Sie es verstehen, mit Ihrer Zeit mehr Geld zu machen, als ich mit der meinen, so müßte ich nach Ihrem Aussehen urteilen, daß Sie wohl recht haben.« »Und wenn Sie also derlei Geld gemacht haben, so, sollte ich meinen, verstehen Sie auch, es festzuhalten«, sagte Kupido.

»Laß gut sein, Kidderminster«, sagte Mr. Childers (Master Kidderminster war Kupidos irdischer Name).

»Was kommt er denn her, vor uns den Prahler zu spielen?« rief Master Kidderminster, ein cholerisches Temperament verratend. »Wenn Sie vor uns groß tun wollen, so zahlen Sie Ihr Geld an der Tür und machen Sie sich dann breit.«

»Kidderminster«, sagte Mr. Childer«, seine Stimme erhebend, »laß gut sein! – Mein Herr«, – zu Mr. Gradgrind gewendet. – »Ich sprach zu Ihnen. Vielleicht wissen Sie es, oder vielleicht wissen Sie es nicht (denn Sie dürften nicht viel den Vorstellungen beigewohnt haben), daß Jupe in letzter Zeit den Saum sehr oft verfehlt hat.«

»Was – was hat er verfehlt?« fragte Mr. Gradgrind und warf dem gewaltigen Bounderby einen hilfeflehenden Blick zu.

»Hat den Saum verfehlt.«

»Hat sich vorigen Abend dreimal beim Hosenbandorden präsentiert und brachte nicht einmal was zustande«, sagte Master Kidderminster. »Hat den Saum bei den Fähnlein verfehlt und war sehr ungeschickt beim Reifdurchlöchern.«

»Tat nicht, was er hätte tun sollen. Machte kurze Sprünge und schlechte Purzelbäume«, verdolmetschte Mr. Childers.

»Oh«, sagte Mr. Gradgrind, »das heißt man Saum, nicht wahr?«

»Im allgemeinen heißt man das den Saum verfehlen«, antwortete Mr. E. W. B. Childers.

»Neunkraftöl, Merrylegs, Saum verfehlen, Hosenbänder, Fahnen und Reifdurchbrechen«, schrie Mr. Bounderby mit seinem Gelächter der Gelächter. »Sonderbare Gesellschaft das für einen Mann, der sich selbst aufgeschwungen.«

»Lassen Sie sich nur herab«, warf Kupido ein. »O, du meine Güte! Wenn Sie sich zu der Höhe aufgeschwungen haben, auf der Sie stehen, so geruhen Sie nur, sich ein bißchen herabzulassen.«

»Das ist ein höchst zudringlicher Bursche«, sagte Mr. Gradgrind, indem er sich umdrehte und mit gerunzelter Stirn gegen ihn wandte.

»Wir würden für Sie einen jungen Gentleman zum Empfang bereitgehalten haben, wenn wir gewußt hätten, daß Sie kommen würden«, warf Master Kidderminster ganz unbefangen ein. »Es ist schade, daß Sie sich nicht vorher anmelden ließen, da Sie so etwas Besonderes sind. Sie kommen auf hohen Stelzen angetrabt, nicht wahr?«

»Was meint dieser unmanierliche Junge«, fragte Gradgrind, ihn mit einer Art Verzweiflung betrachtend, »mit seinen hohen Stelzen?«

»Hinaus mit dir! Hinaus mit dir!« rief Mr. Childers, indem er seinen jungen Freund einigermaßen nach der Prärieweise hinauswarf. »Straff traben oder schlaff traben – das hat nicht viel zu sagen. Es bedeutet bloß ein straffes oder lockeres Seil. Sie wollten doch eine Botschaft für Jupe hinterlassen?«

»Ja, das wollte ich.«

»Dann«, fuhr Childers rasch fort, »bin ich der Meinung, daß er sie nie erhalten wird. Kennen Sie ihn besonders?«

»Ich habe diesen Menschen nie in meinem Leben gesehen.«

»Dann zweifle ich sehr daran, ob Sie ihn nun je sehen werden. Es ist mir ziemlich klar, daß er sich davongemacht.«

»Meinen Sie, daß er seine Tochter im Stich gelassen?«

»Ja, ich glaube«, sagte Mr. Childers mit einem bejahenden Nicken, »daß er durchgebrannt ist. Er ward gestern abend ausgezischt, er ward vorgestern abend ausgezischt, und er ward heute ausgezischt. In letzter Zeit ist ihm das oft passiert, und er kann so etwas nicht aushalten.«

»Warum ist er – gar so sehr – ausgezischt worden?« fragte Mr. Gradgrind, das Wort höchst feierlich und gewaltsam herauswürgend.

»Seine Glieder werden steif und er wird immer mehr abgenützt«, sagte Childers. »Er hat wohl noch seine treffenden Pointen als Gackerer, aber davon kann er doch nicht leben.«

»Als Gackerer«, wiederholte Bounderby, »da haben wir’s wieder.«

»Als Sprecher, wenn es dem Herrn besser gefällt«, sagte Mr. E. W. B. Childers, und warf die Erklärung in anmaßender Weise über die Achsel hin. Dabei schüttelte er seine Locken, die sich alle zugleich bewegten. »Es ist doch eine merkwürdige Tatsache, mein Herr, daß diesen Mann der Gedanke tief schmerzte, seine Tochter wisse davon, wie er ausgezischt worden sei. Daß ihn dies zu tief schmerzte, als daß er hier weiter ausgehalten hätte«

»Gut!« unterbrach ihn Bounderby. »Das ist gut, Gradgrind! Ein Mensch, der seine Tochter so lieb hat, daß er von ihr wegläuft, das ist verflucht gut. Ha! Ha! Nun will ich Ihnen was sagen, junger Mann. Ich habe mich nicht immer in meiner gegenwärtigen Lage befunden. Ich weiß, was das heißen will. Sie dürfen wohl erstaunt sein, es zu hören, und doch ist’s wahr, daß auch meine Mutter von mir weglief.«

E. W. B. Childers machte die bissige Bemerkung, daß er über diese Mitteilung durchaus nicht erstaunt sei.

»Nun gut«, sagte Bounderby. »Ich wurde in einem Graben geboren und meine Mutter überließ mich meinem Schicksal. Entschuldige ich sie dafür? Nein! Habe ich sie je dafür entschuldigt? Ich gewiß nicht! Wie schelte ich sie dafür? Ich schelte sie wohl das schlechteste Weib, das je auf Erden gelebt hat, mit Ausnahme meiner versoffenen Großmutter. Ich hege keinen Familienstolz und kenne keine ideal-sentimentale Aufschneiderei. Einen Spaten nenne ich einen Spaten. Ich gebe der Mutter von Josiah Bounderby aus Coketown ohne Furcht und Begünstigung den gleichen Namen, den ich ihr gegeben haben würde, wenn sie die Mutter von Dick Jones aus Wapping gewesen wäre. Ebenso verfahre ich mit diesem Manne. Er ist für mich ein davongelaufener Schurke und ein Vagabund: das ist er auf gut Deutsch.«

»Es ist mir einerlei, was er ist oder nicht ist, auf Französisch oder auf Deutsch«, erwiderte E. W. B. Childers sich umwendend. »Ich erzähle Ihrem Freunde die Tatsache. Wenn Sie es nicht hören mögen, so steht Ihnen draußen freie Luft zur Verfügung. Sie erklären das hier laut genug: tun Sie, tun Sie das aber bitte lieber bei sich zu Hause«, ermahnte E. W. B. Childers mit strenger Ironie. »Lassen Sie sich in dieser Behausung über nichts laut aus, ohne dazu aufgefordert zu sein. Ich sollte doch glauben, daß Sie auch eine eigene Behausung haben?«

»Dürfte sein«, antwortete Mr. Bounderby, indem er lachte und mit seinem Geld klingelte.

»Dann sprechen Sie sich in Ihrer eigenen Behausung aus, wenn Sie so gut sein wollen«, sagte Childers, »weil dieses Gebäude nicht stark ist und es einstürzen könnte, wenn Sie so laut reden.«

Damit maß er Mr. Bounderby abermals vom Kopf bis zum Fuß, und wandte sich wie von einem Manne, mit dem man fertig ist, von ihm ab und zu Mr. Gradgrind.

»Jupe schickte seine Tochter vor ungefähr einer Stunde auf einen Gang aus, und dann sah man ihn, den Hut in die Augen gedrückt, mit einem in ein Taschentuch gewickelten Bündel unter dem Arm, sich davonschleichen. Sie wird es nie von ihm glauben mögen, und doch hat er sich davongemacht und sie sitzen lassen.«

»Bitte«, sagte Mr. Gradgrind, »warum wird sie es nie glauben wollen?«

»Weil sie beide ein Herz und eine Seele waren. Weil sie nie getrennt gewesen. Weil er sie bis jetzt schwärmerisch zu lieben schien«, sagte Childers, und tat ein paar Schritte, um in den leeren Koffer zu sehen. Sowohl Mr. Childers als Master Kidderminster hatten einen seltsamen Gang. Sie gingen mit viel weiter auseinandergesperrten Beinen, als dies bei dem gewöhnlichen Menschenschlag der Fall ist, und sie waren sich wohl bewußt, daß sie in den Knien ziemlich steif zu sein hatten. Dieser Gang war nämlich allen männlichen Mitgliedern der Slearyschen Truppe eigen und sollte eigentlich andeuten, daß sie immer zu Pferde säßen.«

»Arme Cili!, hätte er sie doch lieber in die Lehre gegeben«, sagte Childers, indem er von dem Koffer aufblickte und seine Locken abermals schüttelte. »Jetzt hat er sie ohne alle Hilfsmittel zurückgelassen.«

»Es spricht sehr zu Ihren Gunsten, der Sie niemals in der Lehre waren, eine solche Meinung zu äußern«, bemerkte Mr. Gradgrind billigend.

»Ich niemals in der Lehre gewesen? Ich kam in dem Alter von sieben Jahren in die Lehre.«

»Ach, wirklich?« sagte Mr. Gradgrind, etwas empfindlich darüber, sich um seine gute Meinung betrogen zu sehen. »Ich wußte nicht, daß es der Gebrauch ist, junge Leute in die Lehre zu geben, um –«

»Müßiggang zu lernen«, fügte Mr. Bounderby mit lautem Gelächter hinzu. »Nein, zum Kuckuck, das wußte ich auch nicht.«

»Ihr Vater hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß sie das ganze Teufelszeug des Schulunterrichts zu lernen hätte«, nahm Childer wieder das Wort auf und tat, als sei Mr. Bounderby überhaupt nicht vorhanden. »Wie ihm dieser Gedanke kam, weiß ich nicht: ich weiß nur, daß er ihn niemals aufgegeben. Seit sieben Jahren hat er für sie – hier etwas Lesen – dort etwas Schreiben und dann wieder etwas Rechnen aufgeschnappt.«

Mr. E. W. B. Childers zog eine Hand aus der Tasche, strich sich Gesicht und Kinn damit und betrachtete Mr. Gradgrind mit einem Blick, der viel Zweifel und wenig Hoffnung ausdrückte. Gleich von Anfang an trachtete er, jenen Herrn zugunsten des verlassenen Mädchens einzunehmen.

»Als Cili hier in die Schule gebracht wurde«, fuhr er fort, »war er vergnügt wie ein Clown. Ich selbst konnte die Ursache nicht vollständig ergründen, da wir bei unserer herumwandernden Lebensweise hier nicht ansässig sind. Ich vermute aber, er hatte diesen Sparren im Kopfe – er war immer halb vernagelt – und nun betrachtete er sie als versorgt. Wenn Sie heute abend hergekommen sein dürften, um ihm mitzuteilen, daß Sie etwas zu ihrem Besten tun wollten«, sagte Mr. Childers, sich das Gesicht abermals streichend und seinen Blick wiederholend, »so würde sich das höchst glücklich fügen und zur rechten Zeit kommen – sehr glücklich und ganz zur rechten Zeit.«

»Im Gegenteil«, versetzte Mr. Gradgrind. »Ich wollte ihm sagen, daß ihr Umgang mit der Truppe sie ungeeignet für die Schule macht, und daß sie diese nicht mehr besuchen darf. Wenn ihr Vater sie jedoch wirklich schonungslos verlassen hat – Bounderby, lassen Sie uns ein Wort miteinander sprechen.«

Mr. Childers begab sich hierauf in höflicher Weise mit seinen Kunstreiterschritten an den Treppentritt außerhalb der Tür und blieb dort stehen, sich das Gesicht streichend und dabei leise pfeifend. Auf diese Weise beschäftigt, fielen ihm einzelne Redensarten aus Mr. Bounderbys Mund ein, wie: »Nein. Ich sage nein. Ich rate Ihnen, es nicht zu tun. Ich sage durchaus nein.« Währenddem vernahm er die von Mr. Gradgrind in einem leiseren Ton gesprochenen Worte: »Aber selbst als ein Beispiel für Luise, zu was dieser Beruf, der der Gegenstand gemeiner Neugierde gewesen, führen und kommen kann. Betrachten Sie die Sache von diesem Gesichtspunkt aus, Bounderby.«

Unterdessen hatten sich die verschiedenen Mitglieder der Slearyschen Truppe von den oberen Regionen, wo sie einquartiert waren, nach und nach versammelt. Sie bildeten einen Kreis und schoben sich, mit Mr. Childers leise sprechend, allmählich ins Zimmer. Unter der Gesellschaft befanden sich zwei oder drei hübsche junge Frauen mit ihren zwei oder drei Männern, und ihren zwei oder drei Müttern samt ihren acht oder neun Kindern, die nötigenfalls Feendienste versahen. Der Vater der einen Familie pflegte den Vater der andern Familie auf der Spitze einer großen Stange zu balancieren. Der Vater einer dritten Familie formte oft eine Pyramide aus diesen beiden Vätern, wobei Master Kidderminster die Spitze und er selbst die Basis bildete. Sämtliche Väter verstanden es, auf rollenden Fässern zu tanzen, auf Flaschen zu stehen, Messer und Bälle aufzufangen, Teller zu wirbeln, auf allerhand Dingen zu reiten, über alles zu springen und an einem Nichts sich festzuhalten. Die Mütter konnten alle auf einem schlaffen Draht und einem straffen Seile tanzen und taten dies auch. Ferner konnten sie rasche Sprünge auf sattellosen Pferden ausführen.

Keine von ihnen nahm es, was die Bloßstellung ihrer Beine betraf, im geringsten genau, und eine von ihnen hielt, allein einen sechsspännigen griechischen Wagen lenkend, ihren Einzug in jede Stadt. Sie gaben sich insgesamt das Ansehen, höchst flott und welterfahren zu sein, waren nicht besonders sorgfältig in ihrer bürgerlichen Kleidung und hielten in ihrem Hauswesen nicht die geringste Ordnung. Das ganze Wissen der Gesellschaft hatte noch nicht einmal einen bescheidenen Brief zustande gebracht. Dennoch war ihnen eine wunderbare Sanftmut und Kindlichkeit eigen; sie waren unfähig, Gaunerstreiche zu verüben und waren stets bereitwillig, sich gegenseitig beizustehen und zu bemitleiden. Das war gewiß oft ebenso großer Achtung und ebensolcher Anerkennung wert, wie die Alltagstugenden jeder anderen Menschenklasse.

Mr. Sleary erschien als letzter. Er war, wie bereits erwähnt, ein wohlbeleibter Mann, mit einem starren und einem beweglichen Auge, mit einer Stimme (wenn man sie so nennen darf), die wie das Schnaufen eines alten, gesprungenen Blasebalgs klang, mit einem fahlen Gesicht und mit einem duseligen Kopf, der niemals nüchtern und niemals betrunken war.

»Tquire«, sagte Sleary, der an Asthma litt und dessen Atem für den Buchstaben S zu dick und zu schwer war. »Ihr Ergebenter. Dat it in der Tat ein tlecht Getäft, tehr tlecht. Tie werden wohl gehört haben, dat man vermutet, mein Clown mit teinem Hunde wären durchgebrannt?«

Er hatte sich an Mr. Gradgrind gewendet, der mit Ja antwortete.

»Gut, Tquire«, entgegnete er, indem er seinen Hut abnahm und das Futter mit einem Taschentuch rieb, das er zu diesem Zwecke darin verwahrte. »It et Ihre Abticht, etwat für dat Mädchen zu tun?«

»Ich werde ihr einen Vorschlag machen«, sagte er, »wenn sie zurückkommt.«

»Freut mich, et zu hören, Tquire. Nicht dat ich dat Kind lotwerden oder ihr überhaupt im Wege tehen will. Ich bin gar geneigt, tie in die Lehre zu nehmen, obgleich et für ihr Alter nicht mehr gut it. Meine Timme it etwat heiter, Tquire, und kann nicht leicht von denen vernommen werden, die mich nicht kennen. Wenn Tie aber ebento in Ihrer Jugend in Kälte und Hitze, in Hitze und Kälte und in Kälte und Hitze in die Reitbahn getrieben worden wären, wie dat oft bei mir der Fall war, to würde et Ihre Timme nicht better übertanden haben, alt die meinige.«

»Ich glaube nicht«, sagte Mr. Gradgrind.

»Wat wollen Tie trinken, Tquire, während Tie warten? Toll et Terry tein? Befehlen Tie nur, Tquire«, sagte Mrs. Sleary mit gastfreundlicher Bereitwilligkeit.

»Ich danke Ihnen, ich bedarf gar nichts«, antwortete Mr. Gradgrind.

»Tagen Tie dat nicht, Tquire. Wat tagt Ihr Freund? Haben Tie noch nicht gegetten, to können Tie ein Glat Bittern nehmen.«

Seine Tochter Josephine – ein hübsches, achtzehnjähriges, blondes Mädchen, das schon mit zwei Jahren auf ein Pferd gesetzt worden und schon mit zwölf Jahren ein Testament gemacht hatte – sie trug es immer bei sich und sprach darinnen den Willen aus, sie wolle zusammen mit den beiden Ponys begraben werden – rief jetzt: »St! Vater! Sie ist schon zurück.«

Da kam Cili Jupe in demselben Tempo in das Zimmer gelaufen, wie sie es verlassen hatte. Als sie so alle versammelt sah, ihre Blicke sah und keinen Vater sah, stieß sie einen kläglichen Schrei aus und stürzte sich trostsuchend an den Busen der geschicktesten Seiltänzerin (die sich gerade in guter Hoffnung befand), worauf dieselbe niederkniete, um sie zu kosen und mit ihr zu weinen.

»Dat it eine höllite Tande, meiner Teel, dat it et«, sagte Slearn.

»O mein teurer Vater, mein guter, lieber Vater, wohin bist du gegangen? Du bist wohl fortgegangen, um etwas Gutes für mich aufzutreiben, das weiß ich gewiß. Aber wie unglücklich und elend wirst du ohne mich sein, armer, armer Vater, bis du zurückkommst!« Es war rührend, dies und ähnliches von ihr zu hören. Sie hatte den Blick nach oben gewandt und die Arme ausgestreckt, als ob sie danach trachtete, seinen scheidenden Schatten aufzuhalten und zu umarmen, so daß niemand ein Wort redete, bis Mr. Bounderby (der ungeduldig geworden war) die Stille brach:

»Nun, ihr guten Leutchen alle«, sagte er, »das ist eitel Zeitverlust. Macht dem Mädchen die Tatsache begreiflich. Wenn ihr wollt, will ich sie ihr klarmachen; denn ich bin auch einmal im Stich gelassen worden. Also, wie heißt du doch? Dein Vater hat sich davongemacht – hat dich im Stich gelassen – und du darfst nicht erwarten, ihn jemals in deinem Leben wiederzusehen.«

Diese Leute aber kümmerten sich so wenig um den abstrakten Begriff der reinen Tatsachen und waren in dieser Beziehung schon soweit ausgeartet, daß sie, anstatt von dem stark ausgeprägten, gesunden Menschenverstand des Sprechers einen günstigen Eindruck zu empfangen, ihm diesen sehr übelnahmen. Die Männer murmelten: »Pfui, Schande!« und die Frauen: »roher Mensch«, und Sleary erteilte Mr. Bounderby eilig und vertraulich folgenden Wink:

»Ich will Ihnen wat tagen, Tquire. Um et Ihnen gerade heraut zu tagen, to it meine Meinung, die Tache abzubrechen und gut tein zu latten. Et tind gutherzige Leute, die Meinigen, aber ti tind ein bitchen heftig, und wenn Tie meinen Rat nicht befolgen, to will ich verdammt tein, wenn tie Tie nicht zum Fenster hinauswerfen.«

Da Mr. Bounderby auf diese freundlichen Zuflüsterungen sich zurückhaltender benahm, fand Mr. Gradgrind einen Ausweg für seine ausgezeichnet praktische Behandlung der Angelegenheit.

»Es ist doch ganz bedeutungslos«, sagte er, »ob man die Person irgendwann zurückerwarten kann oder nicht. Er ist fort, und für den Augenblick kann man seine Rückkehr nicht annehmen. Damit, glaube ich, sind alle einverstanden.«

»Einvertanden, Tquire. Halten Tie fet daran«, ließ sich Sleary vernehmen.

»Nun gut. Ich kam hierher, um Jupe, dem Vater des armen Mädchens, mitzuteilen, daß sie nicht mehr in der Schule zugelassen werden könnte, da sich tatsächliche Einwendungen, die ich nicht weiter zu erläutern brauche, gegen die Aufnahme von Kindern erheben, deren Väter auf ähnliche Weise beschäftigt sind. Ich bin aber jetzt unter den veränderten Umständen bereit, einen Vorschlag zu machen. Ich bin bereit, dich aufzunehmen, Jupe, dich zu erziehen und für dich zu sorgen. Die einzige Bedingung (nebst einem guten Betragen deinerseits), die ich mache, ist die, daß du dich sogleich mit einem Male entscheidest, ob du mich begleiten oder hierbleiben willst. Auch daß du, wenn du mich einmal begleitest, mit deinen Freunden, die hier gegenwärtig sind, wie es sich von selbst versteht, jede Verbindung abbrichst. Das ist alles, was ich zu dem Fall zu sagen habe.«

»zu gleicher Zeit«, sagte Sleary, »mut ich auch mein Wort hinzufügen, Tquire, damit beide Teiten der Fahne getehen werden können. Wenn du bei mir in die Lehre gehen willt, Tetilie, to weit du, wat du zu tun hat und wer deine Gefährten tind. Emma Gordon, an deren Buten du jetzt lieget, würde dir eine Mutter und Jotephine würde dir eine Tweter sein. Ich will mich nicht alt einen engelguten Menten autgeben. Ich kann dir nur tagen, dat wenn du den Taum verfehlen wirt, ich tehr böte tein und einen oder twei Flüche auttoten werde. Wat ich aber tagen will, Tquire, dat it, ich mag in guter oder tlechter Laune geweten tein, to habe ich doch noch keinem Pferde wat zu Leide getan, Flüche autgenommen – und dat et nicht zu erwarten it, dat ich in meinem Alter anfangen werde, mit einem Bereiter andert zu verfahren. Ich habe nie grotplärrit getan, und ich habe nun getagt, wat ich tagen wollte.«

Der letzte Teil dieser Rede war an Mr. Gradgrind gerichtet, der dazu ernst nickte und sagte:

»Das einzige, was ich noch betreffs deinem Entschluß zu sagen habe, Jupe, ist, daß man sich glücklich preisen kann, eine vernünftige, praktische Erziehung zu genießen, und daß selbst dein Vater in diesem Sinn für dich gewünscht und gefühlt zu haben scheint.«

Die letzten Worte machten auf das Mädchen einen sichtbaren Eindruck. Sie hielt in ihrem unmäßigen Schluchzen inne, befreite sich ein wenig von Emma Gordon und wandte ihr Gesicht ihrem Gönner zu. Die ganze Gesellschaft merkte die Stärke ihrer Veränderung und schöpfte tief Atem, was einfach sagen sollte: »Sie wird gehen.«

»Du mußt wissen, was du tust, Jupe«, warnte sie Mr. Gradgrind. »Ich sage nichts mehr. Du mußt wirklich selbst wissen, was du tust.«

»Wenn Vater zurückkommt«, rief das Mädchen nach einer minutenlangen Pause, abermals in Tränen ausbrechend, »wie wird er mich je wiederfinden können, wenn ich fortgehe?«

»Darüber kannst du vollständig beruhigt sein«, sagte Mr. Gradgrind gelassen; denn er hatte die ganze Angelegenheit wie ein Rechenexempel ausgearbeitet. »In diesem Falle wird dein Vater, wie ich denke, sich wenden müssen an Mr. –«

»Tleary, dat it mein Name, Tquire. Ich täme mich teiner nicht. It in ganz England bekannt und klingt überall tehr gut.«

»Mr. Sleary, der ihm dann mitteilen wird, wohin du dich begeben. Ich würde nicht die Macht haben, dich gegen seinen Willen zu behalten, und es wird ihm wohl niemals schwerfallen, Thomas Gradgrind von Coketown aufzufinden. Ich bin sehr bekannt.«

»Tehr bekannt«, stimmte Sleary bei, indem er sein bewegliches Auge rollen ließ. »Tie gehören zu den Leuten, die ziemlich viel Geld auter dem Haute bewahren. Doch latten wir dat jetzt tein.«

Eine neue Pause trat ein, und dann rief sie schluchzend und die Hände sich vor das Gesicht haltend: »O, gebt mir meine Kleider, gebt mir meine Kleider und laßt mich fort, ehe mein Herz bricht.«

Betrübt bemühten sich die Frauen, die Kleider zusammenzusuchen. Das war bald geschehen, da ihrer nicht viel waren. Sie packten sie in einen Korb, der sie oft auf Reisen begleitet hatte. Cili saß die ganze Zeit hindurch schluchzend auf dem Boden, mit den Händen vor den Augen. Mr. Gradgrind und sein Freund standen an der Tür, bereit, sie mit sich fortzunehmen. Mr. Sleary ragte in der Mitte des Zimmers, umgeben von den männlichen Mitgliedern der Truppe; ganz so, wie er im Zentrum der Reitbahn, während seine Tochter Josephine ihre Kunststücke ausführte, emporgeragt hätte. Ihm fehlte nichts als seine Peitsche.

Nachdem der Korb unter Stillschweigen gepackt war, brachten sie ihr den Hut, glätteten das in Unordnung geratene Haar und setzten ihn ihr auf. Hierauf drängten sie sich um sie, beugten sich anmutig über sie, um das Bild zu vervollständigen, und küßten und herzten sie. Dann brachten sie die Kinder, um Abschied von ihr zu nehmen, und gebärdeten sich eben ganz wie eine Schar gutherziger, natürlicher und närrischer Frauen.

»Nun, Jupe«, sagte Mr. Gradgrind, »wenn du fest entschlossen bist, so komm.«

Sie mußte aber noch von der männlichen Gesellschaft Abschied nehmen. Jeder von ihnen mußte aber erst die Arme auseinanderwinden (denn sie nahmen alle, wenn sie sich in Slearys Nähe befanden, die berufsmäßige Stellung an) und nun gaben sie ihr den Abschiedskuß. Master Kidderminster machte dabei eine Ausnahme, da in seinem jugendlichen Wesen der ursprüngliche Keim eines Menschenfeindes lag. Auch wußte man von ihm, daß er Heiratspläne gehegt und sich später verdrießlich zurückgezogen. An Mr. Sleary kam die Reihe zuletzt. Er öffnete seine Arme weit, nahm sie bei den Händen und würde sie auf- und niedergeschwungen haben, wie Reitmeister gewöhnlich junge Damen nach der Ausführung eines raschen Rittes zu beglückwünschen pflegen. Aber Cili zeigte sich zu keinem Rückprall geneigt, sondern stand bloß weinend vor ihm.

»Leb wohl, mein Kind«, sagte Sleary. »Ich hoffe, du wirt dein Glück machen, und niemand von untern Leuten wird dich jemalt belätigen, dafür tehe ich ein. Ich wollte, dein Vater hätte teinen Hund nicht mitgenommen. Et it unangenehm, den Hund auf unterm Spielprogramm weglatten zu mütten. Wenn ich et aber gut überlege, to würde der Hund ohne teinen Herrn tich nicht produziert haben – und die Tache it eben to breit wie lang.«

Dabei sah er sie mit seinem starren Auge aufmerksam an, überflog die Truppe mit dem beweglichen, küßte sie, schüttelte den Kopf und führte sie zu Mr. Gradgrind wie zu einem Pferde.

»Da it tie, Tquire«, sagte er, einen berufsmäßigen Blick auf sie werfend, als ob sie in dem Sattel zurechtgesetzt werden sollte. »Tie wird Ihnen Ehre machen. Leb wohl, Tetilie!«

»Leb wohl, Cecilie! Leb wohl, Cili! Gott mit dir, mein Kind!« ertönte es von allen Seiten im ganzen Zimmer. Das reitmeisterliche Auge hatte die Flasche Neunkraftöl in ihrem Busen bemerkt und fiel jetzt ein: »Lat die Flate hier, mein Kind. Tie it zu grot für dich, tie zu tragen. Nun wird tie für dich unnütz tein. Gieb tie mir.«

»Nein, nein!« rief sie, wieder in Tränen ausbrechend. »Ach, nein! Bitte, lassen Sie mich sie aufbewahren, bis Vater zurückkommt. Er wird sie brauchen, wenn er zurückkommt. Er hat nie daran gedacht fortzugehen, als er mich nach ihr schickte. Bitte, ich muß sie für ihn aufheben.«

»Nun, meinetwegen, mein Kind (Tie tehen, Tquire, wie die Dinge tehen). Lebe wohl, Tetilie! Diet it mein letztet Wort zu dir. Halte die Bedingungen deiner Verpflichtung ein, gehorche dem Tquire und vergit unt. Aber wenn du einmal grot geworden, verheiratet und wohlhabend bit, und einer Reitertruppe begegnen tolltet, to tei nicht unempfindlich gegen tie. Türne nicht mit ihr. Gönne ihnen wat Gutet, wenn du kannt und bedenke, du könntet noch wat Tlimmeret tun. Die Leute mütten tich auch unterhalten, Tquire«, fuhr Sleary fort, durch das viele Sprechen engbrüstiger als je gemacht, »sie können nicht immer arbeiten und auch nicht immer tudieren. Denken Tie dat Bete und nicht dat Tlimmte von unt. Ich weit, dat ich mich all mein Lebtag von der Reiterei ernährt habe: ich glaube jedoch die ganze Philotophie der Tache auteinandergetetzt zu haben, wenn ich Ihnen tage, Tquire, denken Tie dat Bete von unt; nicht dat Tlimmte.«

Die Slearysche Philosophie ward vorgetragen, als sie die Treppe hinuntergingen, und vor dem starren Auge der Philosophie – und ebenso vor dem beweglichen – verschwanden bald die drei Gestalten samt dem Korbe in der Dunkelheit der Straße.

Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Da Mr. Bounderby ein Junggeselle war, so stand eine ältliche Dame gegen ein festes Jahresgehalt seinem Haushalt vor. Sie hieß Mrs. Sparsit und bildete eine hervorragende Erscheinung als Begleiterin in Mr. Bounderbys Wagen, wenn er, der gerne sich als ein Mann, aus niedrigem Stande emporgeschwungen, aufspielte, im Triumphzug dahinrollte.

Mrs. Sparsit hatte nämlich nicht nur bessere Zeiten gesehen, sondern besaß auch hohe Verbindungen. Sie hatte eine Großtante, die derzeit noch lebte und Lady Scadgers hieß. Der selige Mr. Sparsit, der sie als Witwe zurückließ, war von mütterlicher Seite das gewesen, was Mrs. Sparsit noch immer mit »Powler« bezeichnete. Es gab Uneingeweihte von beschränktem Wissen und schwerfälliger Fassungskraft, die nicht wußten, was Powler bedeute, und die selbst darüber in Zweifel schwebten, ob es ein Gewerbe, eine politische Partei oder ein Glaubensbekenntnis bezeichnen solle. Die Scharfsinnigeren jedoch bedurften nicht erst der Belehrung, daß die Powlers ein altes Geschlecht bildeten. Ihr Ursprung konnte so weit zurückverfolgt werden, daß es nicht wundernahm, wenn sie sich zuweilen aus dem Licht der Öffentlichkeit verloren, wie es ihnen häufig passierte bei Rennen, Hasardspiel, Wuchergeschäften und vor dem Schuldgerichtshof.

Der selige Mr. Sparsit, der von mütterlicher Seite ein Powler war, heiratete diese Frau, die von väterlicher Seite eine Scadgers gewesen.

Lady Scadgers (eine unendlich fette alte Frau, mit einem zügellosen Appetit nach Rindfleisch und mit geheimnisvollen Beinen, die schon seit vierzehn Jahren das Bett nicht mehr hatten verlassen wollen) brachte die Heirat zustande. Sie tat das damals, als Sparsit gerade mündig geworden und sich vorzüglich durch einen schmächtigen Körper auszeichnete, der von zwei langen, dünnen Beinen getragen wurde und auf dem sich ein Kopf erhob, der nicht der Erwähnung wert war. Er erbte ein hübsches Vermögen von seinem Oheim, hatte es aber durch Schulden verscherzt, noch ehe er es erlangte, und brachte es unmittelbar nachher zweimal durch. So kam es, daß er bei seinem Tode, der in seinem vierundzwanzigsten Jahre erfolgte (der Schauplatz seiner Krankheit war Calais und die Ursache Branntwein) seine Witwe, von der er sich bald nach den Flitterwochen getrennt hatte, nicht in Überfluß zurückließ. Diese schutzverlassene Frau, die fünfzehn Jahre älter war als er, verfiel sogleich mit ihrer einzigen Verwandten, Lady Scadgers, in eine tödliche Feindschaft. Sie suchte sich eine Anstellung, teils der Lady zum Trotz, teils der Selbsterhaltung wegen. Und nun war sie hier gelandet in ihren alten Tagen, mit ihrer römischen Hakennase und den dicken, schwarzen Brauen, die Sparsit bezaubert hatten, und bereitete den Tee für Mr. Bounderbys Frühstück zu.

Wenn Mr. Bounderby ein Eroberer und Mrs. Sparsit eine gefangene Prinzessin gewesen wäre, die er als Glanzstück seiner Triumphzüge zur Schau stellte, so konnte er nicht mehr Aufhebens machen als er wirklich tat. Wie es zu seiner Großtuerei gehörte, seinen eigenen Ursprung zu erniedrigen, so gehörte es auch dazu, die Abkunft Mrs. Sparsits zu rühmen. In dem Maß, wie er es nicht gestatten wollte, daß ein einziger Lichtblick in seiner Jugend herrschte, pries er Mrs. Sparsits jugendliche Laufbahn in allen möglichen Vorzügen und überschüttete den Pfad dieser Frau mit ganzen Wagenladungen von Frührosen.

»Und doch, mein Herr«, pflegte er zu sagen, »was ist schließlich dabei herausgekommen? Da sitzt sie für hundert Pfund das Jahr (ich gebe ihr die hundert Pfund, ein Gehalt, das sie ganz nett findet), und führt den Haushalt von Josiah Bounderby in Coketown.« Ja, er machte soviel Wesens aus seiner Folie zu seiner Persönlichkeit, daß dritte Personen sich dieses Juwels bemächtigten und ihn bei mancher Gelegenheit mit großer Lebhaftigkeit funkeln ließen. Es gehörte zu den ärgerlichsten Eigenheiten Bounderbys, daß er nicht nur selbst sein Lob sang, sondern auch andere anregte, es für ihn zu singen. Er steckte mit seiner Prahlerei an. Fremde, die sonst ziemlich bescheiden waren, erhoben sich bei Gastmahlen in Coketown plötzlich vom Stuhle und taten in einer überschwenglichen Weise mit Bounderby groß. Sie erklärten, er stelle dar: das königliche Wappen der Nationalflagge, die Magna Charta,6 John Bull, das Habeas Corpus, die Bill of Rights,7 »des Briten Haus ist seine Burg«, Staat und Kirche und die englische Nationalhymne – das alles zusammengenommen! Und so oft (und es geschah sehr oft), daß ein Redner dieses Schlages zum Schluß anführte:

»Die Großen mögen leben im Glück oder in Unglücksnacht.
Ein Hauch kann sie machen, wie ein Hauch sie gemacht«,

so war die Gesellschaft gewiß mehr oder weniger überzeugt, daß von Mrs. Sparsit die Rede war.

»Mr. Bounderby«, sagte Mrs. Sparsit, »Sie frühstücken heute ungewöhnlich langsam.«

»Nun, Ma’am«, entgegnete er. »Ich denke gerade über Tom Gradgrinds Grille nach« – Tom Gradgrind sagte er barsch und rücksichtslos – als ob jemand ihn immer mit ungeheuren Bestechungen dazu bewegen wollte, Thomas zu sagen und er sich dennoch weigerte – »über Tom Gradgrinds Grille, Ma’am, das Seiltänzermädchen zu erziehen.«

»Das Mädchen wartet eben«, sagte Mrs. Sparsit, »um zu hören, ob sie direkt in die Schule oder hinauf in die Wohnung gehen soll.«

»Sie soll warten, Ma’am«, sagte Bounderby, »bis ich es selbst weiß. Ich nehme an, daß Tom Gradgrind bald hier sein wird. Sollte er wünschen, daß sie noch einen oder zwei Tage hier bleibt, so kann sie natürlich bleiben.«

»Natürlich kann sie es, wenn Sie wollen, Mr. Bounderby.«

»Ich sagte ihm, ich wolle ihr für die vorige Nacht hier zu übernachten erlauben, damit er es unterdessen überschlafen kann, ehe er sich entschließt, sie mit Luise in Verbindung zu bringen.«

»Wirklich, Mr. Bounderby? Das ist sehr wohlbedacht von Ihnen.«

»Mrs. Sparsits römische Hakennase erweiterte sich etwas in den Nüstern, und ihre schwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie einen Schluck Tee nahm.

»Mir ist es ziemlich klar«, sagte Bounderby, »daß das kleine Miezekätzchen aus solcher Gesellschaft nur wenig Nutzen ziehen kann.«

»Sprechen Sie von dem jungen Fräulein Gradgrind, Mr. Bounderby?«

»Ja, Ma’am! Ich spreche von Luise.«

»Da Sie ›kleines Miezekätzchen‹ sagten«, antwortete Mrs. Sparsit, »und eigentlich von zwei jungen Mädchen die Rede war, so wußte ich nicht, welche von beiden mit diesem Ausdruck bezeichnet werden sollte.«

»Luise«, wiederholte Mr. Bounderby, »Luise, Luise.«

»Sie sind wirklich ein zweiter Vater zu Luise.« Mrs. Sparsit schlürfte wieder etwas Tee und hatte, als sie die abermals zusammengezogenen Augenbrauen über die dampfende Tasse beugte, das Aussehen, als ob ihr klassisches Antlitz die Götter der Hölle anriefe.

»Wenn Sie gesagt hätten, daß ich ganz wie ein zweiter Vater zu Tom sei – ich meine den kleinen Tom und nicht meinen Freund Tom Gradgrind – dann hätten Sie näher ins Ziel geschossen. Ich werde den jungen Tom in meinem Geschäftsbureau verwenden. Werde ihn unter meine Fuchtel nehmen, Ma’am.«

»Wirklich? Er ist dafür noch etwas jung – nicht wahr, mein Herr?« – Das »mein Herr« der Mrs. Sparsit in der Ansprache an Mr. Bounderby, klang wie ein zeremoniöses Wort, dessen Gebrauch mehr achtunggebietend für sie als ehrerbietig für ihn war.

»Ich werde ihn nicht gleich nehmen. Vorerst muß er mit seinem Erziehungskram fertig sein«, sagte Mr. Bounderby. »Zum Donnerwetter! Er muß doch nun von dem Zeug sich genug einverleibt haben, für jetzt und alle Zeit. Was würde dieser Junge für große Augen machen, wirklich und wahrhaftig, wenn er wüßte, wie leer mein junger Magen von Kenntnissen war, als ich in seinem Alter stand.« Beiläufig bemerkt, das mußte er übrigens wissen, da er oft genug davon gehört hatte. »Wie schwer fällt es mir doch, mich mit jemandem bei beliebigen Dingen auf gleichem Fuß zu unterhalten! So habe ich heute morgen mit Ihnen über Gaukler gesprochen. Nun, was wissen Sie denn von Gauklern? – Zur Zeit, wo es für mich ein Gottessegen, ein Gewinn in der Lotterie gewesen wäre, mich aus dem Straßenschmutz emporzugaukeln, da saßen Sie in der italienischen Oper. Sie verließen das italienische Opernhaus, Ma’am, in weißem Atlas und Juwelen strahlend von Pracht, während ich keinen Penny besaß, um eine Fackel zu kaufen, um Ihnen damit zu leuchten.«

»Ich war wohl, mein Herr«, sagte Mrs. Sparsit mit einer heiter wehmütigen Würde, »schon in sehr zartem Alter mit der italienischen Oper bekannt.«

»Allerdings war ich es auch!« rief Bounderby, »aber mit der rauhen Seite davon. Ich versichere Sie, daß das Pflaster seiner Arkaden mir zum harten Lager zu dienen pflegte. Leute Ihres Schlages, Ma’am, die von Kindheit auf daran gewöhnt sind, auf Flaumfedern zu ruhen, können sich, ohne es versucht zu haben, keinen Begriff davon machen, wie hart ein Pflasterstein ist. Nein, nein! Es ist ganz nutzlos, mit Ihnen von Gauklern zu sprechen. Ich sollte mit Ihnen von ausländischen Tänzern, von London W, von May Fair und Lords und Ladys und von Honoratioren sprechen.«

»Ich bin der Ansicht, mein Herr«, entgegnete Mrs. Sparsit mit anstandsvoller Resignation, »daß Sie es nicht nötig haben, derlei zu tun. Ich hoffe es gelernt zu haben, mich in den Wechsel des Lebens zu fügen. Wenn ich Interesse daran gefunden habe, Ihren lehrreichen Erfahrungen zuzuhören, und mich daran nicht satt hören kann, so rechne ich mir das nicht zum Verdienst an, zumal ich weiß, daß man Sie allgemein darob bewundert.«

»Na, na! Ma’am«, sagte ihr Gönner. »Vielleicht sind manche Leute so liebenswürdig, zu behaupten, daß sie Josiah Bounderby aus Coketown in seiner plumpen Weise darüber hören mögen, was er alles durchgemacht. Aber Sie müssen doch gestehen, daß Sie selbst im Schoße des Überflusses geboren wurden. Lassen Sie es gut sein, Ma’am; Sie wissen, daß Sie im Schoße des Überflusses geboren wurden.«

»Ich kann es«, erwiderte Mrs. Sparsit mit einem Kopfschütteln, »nicht leugnen.«

Hierauf fühlte sich Mr. Bounderby bemüßigt, vom Tisch aufzustehen und sich, um sie entsprechend betrachten zu können, mit dem Rücken gegen das Feuer zu stellen. Sie hob gar so angenehm seine Vorzüge hervor!

»Und Sie waren in vornehmer Gesellschaft, in verflucht hoher Gesellschaft«, fügte er hinzu, sich die Füße wärmend.

»Es ist wahr, mein Herr«, sagte Mrs. Sparsit mit affektierter Demut, die der seinen ganz entgegengesetzt war und darum keine Gefahr lief, sie zu verletzen.

»Sie standen auf dem Gipfel der Mode und all dessen, was damit zusammenhängt«, sagte Mr. Bounderby.

»Ja, mein Herr«, entgegnete Mrs. Sparsit mit leutseliger Witwenhaftigkeit. »Es ist unstreitig wahr.«

Indem Mr. Bounderby die Knie krümmte, umarmte er beinahe seine Beine vor großer Zufriedenheit und lachte laut auf.

Da Mr. und Miß Gradgrind gerade angemeldet wurden, so empfing er jenen mit einem Händeschütteln und diese mit einem Kuß.

»Kann man Jupe hierher kommen lassen, Bounderby?« fragte Mr. Gradgrind.

»Gewiß.« Man ließ daher Jupe kommen. Als sie eintrat, machte sie einen Knix vor Mr. Bounderby, vor seinem Freunde Tom Gradgrind und schließlich auch vor Luise. In ihrer Verwirrung vergaß sie jedoch unglücklicherweise Mrs. Sparsit. Dies bemerkte Bounderby und ließ sich polternd folgendermaßen vernehmen:

»Ich will dir nun was sagen, mein Kind. Jene Dame bei der Teekanne heißt Mrs. Sparsit. Diese Lady herrscht als Herrin in diesem Hause und sie ist eine Lady von vornehmen Verbindungen. Wenn du daher in irgendein Zimmer dieses Hauses kommst, so wirst du nur kurze Zeit darinnen bleiben dürfen, wenn du dich gegen die Dame nicht in ehrerbietigster Weise benimmst. Was mich betrifft, so ist es mir gleichgültig, wie du dich gegen mich benimmst, denn ich stelle nichts vor. Da ich weit davon entfernt bin, vornehme Verbindungen zu haben, so habe ich gar keine Verbindungen und stamme vom Abschaum der Menschheit ab. Wie du dich aber gegen jene Dame benimmst, daran ist mir gelegen, und du wirst tun, was ehrerbietig und anständig ist, oder du wirst gar nicht herkommen.«

»Ich will hoffen«, sagte Mr. Gradgrind in versöhnendem Tone, »daß es bloß ein Versehen war.«

»Mein Freund Tom Gradgrind nimmt an«, sagte Mr. Bounderby, »daß es bloß ein Versehen war, Mrs. Sparsit. Sehr möglich. Wie Sie aber wohl wissen, Ma’am, so erlaube ich nicht einmal ein Versehen gegen Sie.«

»Wirklich, Sie sind sehr gütig«, entgegnete Mrs. Sparsit, ihr Haupt in großartiger Demut schüttelnd. »Es ist nicht der Erwähnung wert.«

Cili, die sich während der ganzen Zeit mit Tränen in den Augen furchtsam entschuldigt hatte, ward von dem Herrn des Hauses zu Mr. Gradgrind hinübergewinkt. Sie trat aufmerksam vor ihn, und Luise stand, die Augen auf den Boden geheftet, kalt neben ihr, wahrend er sich folgendermaßen vernehmen ließ:

»Jupe, ich habe mich entschlossen, dich in mein Haus zu nehmen und dich, wenn du nicht in der Schule bist, bei Mrs. Gradgrind zu beschäftigen, die ziemlich kränklich ist. Ich habe Miß Luisen – dies ist Miß Luise – das jämmerliche, aber natürliche Ende deiner früheren Laufbahn erzählt, und du mußt es klar begreifen, daß diese Welt gänzlich vorüber ist und nicht mehr erwähnt werden darf. Von jetzt fängt deine eigentliche Lebensgeschichte an. Du bist zurzeit, wie mir bekannt ist, noch recht unwissend.«

»Ja, mein Herr, sehr«, antwortete sie knixend.

»Es wird mich mit Genugtuung erfüllen, dir eine strenge Erziehung zu geben, und du wirst allen, die mit dir in Berührung kommen, zum lebendigen Beweis der Vorzüge dienen, die deine zu empfangende Bildung dir verleihen wird. Du wirst gebessert und gebildet werden. Du hast wohl deinem Vater und den Leuten, unter denen ich dich fand, vorgelesen?« sagte Mr. Gradgrind. Dabei winkte er sie zu sich heran und fuhr leiser fort, als vorher. Cili antwortete:

»Bloß vor Vater und Merrylegs, mein Herr. Das heißt eigentlich vor Vater, da Merrylegs immer dabei war.«

»Laß Merrylegs gewesen sein, Jupe«, sagte Mr. Gradgrind mit leichtem Stirnrunzeln. »Ich frage nicht nach ihm. Du pflegtest also, wenn ich recht verstehe, deinem Vater vorzulesen?«

»O ja, mein Herr! Wohl an tausendmal. Das waren die glücklichsten, ach, von allen Zeiten die glücklichsten, die wir zusammen verlebten, mein Herr.« Jetzt erst, als ihr Schmerz zum Ausbruch kam, blickte Luise sie an.

»Und was«, fragte Mr. Gradgrind mit noch leiserer Stimme, »lasest du deinem Vater vor, Jupe?«

»Von Feen, mein Herr, von Zwergen und Geistern«, schluchzte sie.

»Da haben wir’s«, sagte Mr. Gradgrind, »das ist genug. Sprich nie mehr ein Wort von solch verderblichem Unsinn. Bounderby, das ist ein Fall für strenge Erziehung, und ich werde ihn mit Interesse behandeln.«

»Nun, gut«, sagte Mr. Bounderby. Ich habe Ihnen meine Meinung bereits mitgeteilt und ich würde nicht wie Sie handeln. Doch, sehr gut, sehr gut. Da sie einmal darauf erpicht sind, sehr gut.«

So nahmen denn Mr. Gradgrind und seine Tochter Cecilie Jupe mit sich nach Stone Lodge: Luise sprach unterwegs kein einziges Wort, weder ein gutes noch ein böses. Mr. Bounderby ging seinen täglichen Beschäftigungen nach und Mrs. Sparsit zog sich hinter ihre Augenbrauen zurück. Darauf stellte sie in dem Düster dieser Zurückgezogenheit während des weiteren Vormittags ihre grüblerischen Betrachtungen an.

Drittes Kapitel.


Drittes Kapitel.

Mr. Gradgrind schwebte von der Schule hochzufrieden nach Hause. Es war seine Schule, und er hatte sie zu einem Muster bestimmt. Er wollte aus jedem Kinde darin ein Muster machen – ganz wie die jungen Gradgrinds sämtlich Muster waren.

Es gab fünf junge Gradgrinds und jedes von ihnen war ein Muster. Sie waren von ihrem zartesten Alter an gehofmeistert worden: gehetzt wie junge Hasen. Beinahe seit sie allein laufen konnten, wurden sie angehalten, in die Schule zu laufen. Der erste Gegenstand, mit dem sie in Berührung kamen, oder von dem sie eine Erinnerung hegten, war eine große schwarze Tafel, woran ein garstiger Oger schreckliche weiße Figuren mit Kreide malte.

Nicht daß sie etwas von der Natur oder dem Namen Oger wußten. Bewahre die Tatsächlichkeit! Ich bediene mich nur des Ausdrucks, um ein Ungeheuer in einem pädagogischen Kastell zu bezeichnen, das mit einem, der Himmel weiß aus wie vielen Köpfen bestehenden Haupt die Jugend gefangennahm und sie bei den Haaren in die düsteren statistischen Höhlen schleppte.

Kein Junges von den Gradgrinds hat je ein Gesicht im Monde gesehen. Es war schon oben im Mond, ehe es noch deutlich sprechen konnte. Kein Junges von den Gradgrinds hat je das einfältige Reimgeklingel gelernt: O schimmre, schimmre kleiner Stern. Was du denn bist, wie wüßt‘ ich’s gern! es hat nie Bewunderung für diesen Gegenstand gehegt, da es schon mit fünf Jahren den großen Bären wie ein Professor Owen zergliedern und den Charles Wain wie ein Lokomotivführer treiben konnte. Kein Junges von Gradgrinds hat je eine Kuh auf dem Felde mit jener berühmten Kuh mit dem krummen Horn in Verbindung gebracht, die den Hund emporschleuderte, der die Katze erwürgte, die die Ratte tötete, die das Malz fraß, oder mit der noch berühmteren Kuh, die Tom Thumb verschlang. Es hatte nie von jenen Berühmtheiten vernommen und wurde mit der Kuh nur bekannt, als mit einem grasfressenden, wiederkäuenden, vierfüßigen Tier, das diverse Magen hatte.

Mr. Gradgrind lenkte seine Schritte seiner Wohnung der Tatsächlichkeit zu, die den Namen Stone Lodge (Steinhaus) führte. Er hatte sich der Wirklichkeit gemäß von seinem Großhandel mit Eisenwaren zurückgezogen, ehe er noch Stone Lodge baute und sah sich jetzt nach einer schicklichen Gelegenheit um, eine arithmetische Figur im Parlament auszumachen. Stone Lodge war in einem Marschlande innerhalb einer Meile oder zwei von einer großen Stadt gelegen, die in dem gegenwärtigen zuverlässigen Wegweiser den Namen Coketown (die Kohlenstadt) führt. Stone Lodge bildete eine ganz regelmäßige Figur auf der Fläche der Gegend. Kein einziger Gegenstand verdunkelte oder umschattete diese unnachgiebige Tatsache in der Landschaft. Ein großes vierkantiges Haus, dessen Hauptfenster von einem plumpen gewölbten Gang verdunkelt waren, wie die Augenbrauen seines Besitzers dessen Augen umdüsterten. Ein berechnetes, ausgeklügeltes, erwogenes und rekonstruiertes Haus war es. Sechs Fenster auf dieser Seite der Tür, sechs auf jener Seite; im ganzen zwölf auf diesem Flügel und im ganzen zwölf auf jenem Flügel; vierundzwanzig waren auf der Rückseite angebracht. Ein freier Rasenplatz und Garten samt einer jungen Allee, alles schnurgerade abgemessen, wie ein botanisches Register. Die Gasröhren und der Ventilator, die Abzugsgräben und die Wasserleitung, alles war von der vorzüglichsten Beschaffenheit. Eiserne Latten und Bindebalken, feuerfest von oben bis unten. Mechanische Hebemaschinen für die Hausmägde, mit ihren sämtlichen Bürsten und Besen – alles was das Herz begehren konnte.

Alles? Nun, ich nehme es an. Die kleinen Gradgrinds hatten auch Kabinette für verschiedene wissenschaftliche Fächer. Sie hatten ein kleines konchyliologisches Kabinett, ein kleines metallurgisches Kabinett und ein kleines mineralogisches Kabinett. Die Proben waren sämtlich geordnet und mit Zetteln versehen, und die Stücke Metall und Stein sahen aus, als ob sie von ihren verwandten Stoffen mit jenen erschrecklich harten Instrumenten – ihren eigenen Namen – abgelöst worden wären. Wenn nun, um die einfältige Legende von Peter Piper, der nie seinen Weg in ihre Kinderstube gefunden, zu umschreiben, die lüsternen jungen Gradgrinds nach mehr als alledem haschten, was war es, um Gottes Barmherzigkeit willen, wonach die lüsternen jungen Gradgrinds haschten!

Ihr Vater schritt in einer hoffnungsvollen, zufriedenen Gemütsstimmung aus. Er war nach seiner Weise ein zärtlicher Vater. Aber er würde sich wahrscheinlich (wenn er wie Cili Jupe um eine Definition befragt worden wäre) als einen »ausgezeichnet praktischen« Vater bezeichnet haben. Er setzte einen besonderen Stolz in die Redensart »ausgezeichnet praktisch«, was eine besondere Anwendung auf ihn zu haben schien. Was für Versammlungen jemals in Coketown abgehalten wurden und was deren Programm auch immer sein mochte, ganz gewiß ergriff bei einer solchen ein Coketowner die Gelegenheit, auf seinen ausgezeichnet praktischen Freund Gradgrind anzuspielen. Das fand immer den Beifall des ausgezeichnet praktischen Freundes. Er wußte, daß so etwas ihm gebührte; auch war ihm diese Gebühr angenehm.

Er hatte den neutralen Boden außerhalb des Weichbildes der Stadt erreicht, der weder Stadt noch Land war, und doch war eins von beiden beeinträchtigt, als der Klang von Musik an seine Ohren scholl. Die schmetternde und lärmende Bande, die zu der Kunstreitergesellschaft gehörte, und die seit einiger Zeit sich in dem hölzernen Pavillon daselbst niedergelassen hatte, war in vollem Zug. Eine Fahne, die von der Spitze des Tempels flatterte, verkündigte der Menschheit, daß es »Slearys Reitertruppe« sei, die auf ihren Beifall Anspruch erhebe.

Sleary selbst, eine derbe, moderne Statue, mit einer Geldbüchse am Ellbogen, in einer kirchlichen Nische von altertümlicher gotischer Bauart, nahm das Geld. Miß Josephine Sleary weihte damals, wie einige sehr lange und sehr schmale Streifen von Ankündigungszetteln anzeigten, die Belustigungen mit ihrem anmutigen Reiterkunststück des Tiroler Blumentanzes ein.

Unter den sonstigen angenehmen, aber stets höchst moralischen Wundern, die gesehen werden müssen, um geglaubt zu werden, sollte Signor Jupe an jenem Nachmittag »die ergötzlichen Fertigkeiten seines ausgezeichnet dressierten und sich produzierenden Hundes Merrylegs erläutern«. Er sollte ferner vorführen »sein Erstaunen erregendes Kunststück, 75 Zentner in hastiger Aufeinanderfolge rückwärts über den Kopf zu schleudern, und auf diese Weise einen Springbrunnen von festem Eisen inmitten der Luft zu bilden: ein Kunststück, das weder in diesem, noch in einem andern Lande je versucht worden, und das, nachdem es einen so entzückenden, stürmischen Beifall unter den begeisterten Massen hervorgerufen, dem Publikum nicht vorenthalten werden darf. Derselbe Signor Jupe sollte in häufigen Zwischenräumen »die verschiedenartigen Darstellungen mit seinen keuschen Shakespeareschen Stichelreden und Neckereien beleben«. Schließlich sollte er sie dadurch in Spannung versetzen, daß er in der »funkelnagelneuen und drolligen Hippokomedietta des Schneiders Reise nach Brentford, in seiner Lieblingsrolle des Mr. William Button von Tooly Street, erschien«.1

Thomas Gradgrind beachtete diese Trivialitäten, wie es sich von selbst versteht, nicht im geringsten, sondern ging vorüber, wie ein praktischer Mensch vorübergehen sollte, die lärmenden Insekten entweder von seinen Gedanken verscheuchend oder sie dem Zuchthaus überliefernd. Die Wendung der Straße führte ihn aber an der Rückwand der Bude vorüber, und an der Rückwand der Bude eine Menge von Kindern in einer Menge von merkwürdigen Verrenkungen beisammen und war bestrebt, die verborgenen Wunder des Platzes zu begaffen.

Das brachte ihn zum Stehen. »Nun sehe einer einmal diese Vagabunden«, sagte er, »wie sie das junge Pack aus einer Musterschule anlocken.«

Da ein Raum von niedergetretenem Gras und trockenem Schutt sich zwischen ihm und dem jungen Pack befand, so zog er seine Brille aus der Tasche, um nach einem Kinde zu sehen, das er bei Namen kannte und fortrufen könnte. Ein fast unglaubliches, obwohl deutlich wahrgenommenes Phänomen – was mußte er denn erblicken, als seine eigene bleichsüchtige Luise, die mit aller Gewalt durch ein Loch in einem Dielenbrett guckte, und seinen eigenen mathematischen Thomas, der sich auf dem Boden niederkauerte, um nur einen Huf von dem anmutigen Reiterkunststück des Tiroler Blumentanzes zu erhaschen!

Stumm vor Bestürzung schritt Mr. Gradgrind zu der Stelle, wo seine Familie sich so sehr entwürdigte, legte seine Hand auf jedes der sündigen Kinder und sagte: »Luise! Thomas!«

Beide erhoben sich, rot und außer Fassung. Luise blickte jedoch zu ihrem Vater mit mehr Kühnheit als Thomas empor. Thomas sah ihn in der Tat gar nicht an, sondern ließ sich ruhig wie eine Maschine nach Hause bringen.

»Im Namen des Erstaunens, des Müßiggangs und der Torheit«, sagte Mr. Gradgrind, indem er jedes mit einer Hand wegführte, »was macht ihr hier?«

»Wollten sehen, wie das Ding ausschaut«, erwiderte Luise kurz.

»Wie das Ding ausschaut?«

»Ja, mein Vater.«

In beiden war die Miene unterdrückter Hartnäckigkeit ausgeprägt, besonders aber in dem Mädchen. Trotzdem glühte da ein Leuchten im Auge und brach sich durch die Unzufriedenheit ihres Gesichtes Bahn, ein Leuchten, das keine Ruhe kannte, ein Feuer, das keinen Nahrungsstoff vorfand, eine verkommene Phantasie, die auf irgendeine Weise Leben in sich erhielt. Dies Feuer war es, das dem Leben in dieser Seele Glanz verlieh. Nicht den Glanz, der der fröhlichen Jugend so eigen, sondern den mit unsteten, heftigen und ungewissen Flammen, die etwas Schmerzliches in sich haben, ähnlich den Zuckungen eines blinden Gesichtes, das nach dem Wege umhertappt.

Sie war jetzt noch ein Kind von fünfzehn oder sechszehn Jahren, dürfte sich aber in kurzem plötzlich zur Jungfrau entfalten. Ihr Vater war dieser Meinung, als er sie anblickte. Sie war hübsch. Würde eigensinnig gewesen sein (dachte er in seiner ausgezeichnet praktischen Weise), wenn es die Erziehung nicht verhindert hätte.

»Thomas, obgleich die Tatsache vor mir liegt, kann ich es doch kaum glauben, daß du mit deiner Erziehung und deinen Hilfsmitteln, deine Schwester zu einem derartigen Schauplatz gebracht haben solltest.«

»Ich brachte ihn, Vater!« sagte Luise rasch. »Ich bat ihn mitzukommen.«

»Es tut mir leid, das zu hören. Es tut mir in der Tat sehr leid, das zu hören. Es macht Thomas darum nicht besser und macht dich nur schlechter, Luise.«

Sie blickte abermals zu ihrem Vater empor, aber keine Träne benetzte ihre Wangen.

»Du, Thomas, und du, denen der Kreis der Wissenschaften geöffnet ist, Thomas und du, die ihr sozusagen mit Tatsachen angefüllt seid, Thomas und du, die ihr zur mathematischen Genauigkeit erzogen wurdet, Thomas und du hier!« rief Mr. Gradgrind. »In dieser entwürdigenden Lage! Ich bin ganz bestürzt!«

»Ich habe es satt, Vater. Ich habe es seit langem satt gehabt«, sagte Luise.

»Satt gehabt? Was?« fragte der erstaunte Vater.

»Ich weiß nicht was – ich glaube all und jedes.«

»Sag mir keine Antwort mehr«, entgegnete Mr. Gradgrind. »Du bist kindisch. Ich will nichts mehr hören.«

Er sprach nicht wieder, bis sie ungefähr eine halbe Meile stillschweigend gegangen waren, als er auf einmal losbrach: »Was würden deine besten Freunde sagen, Luise? Legst du auf ihre gute Meinung keinen Wert? Was würde Mr. Bounderby sagen?«

Bei der Nennung dieses Namens warf seine Tochter einen verstohlenen Blick auf ihn, der wegen seiner heftigen und forschenden Beschaffenheit merkwürdig war. Er merkte nichts davon; denn ehe er sie anblickte, hatte sie ihre Augen wieder auf den Boden geheftet.

»Was«, wiederholte er gleich darauf, »was würde Mr. Bounderby sagen?«

Während des ganzen Weges nach Stone Lodge wiederholte er in Zwischenräumen, während er die beiden Verbrecher nach Hause führte:

»Was würde Mr. Bounderby sagen?«

Als ob Mr. Bounderby Mrs. Grundy gewesen wäre!

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Mr. James Harthouse verbrachte eine ganze Nacht und einen Tag in einem Zustande so großer Aufregung, daß die »Welt«, mit ihrem besten Glas im Auge, während dieser seiner Geistesabwesenheit schwerlich in ihm den Bruder Jem des ehrenwerten und witzigen Parlamentsmitgliedes erkannt haben würde. Er war wirklich aufgeregt. Er sprach verschiedene Male mit einem Nachdruck, der fast an den Ausdruck der gewöhnlichen Sterblichen grenzte. Er ging hin und her in einer unerklärlichen Weise, wie ein Mann, der von einem Gegenstande besessen ist. Er ritt wie ein Straßenräuber. Mit einem Worte, er war von den obwaltenden Umständen so gelangweilt, daß er vergaß, in der von den Autoritäten vorgeschriebenen Weise auf die Langeweile auszugehen.

Nachdem er sein Pferd durch das Unwetter nach Coketown gepeitscht, als wenn es ein Katzensprung wäre, brachte er die ganze Nacht wachend zu; von Zeit zu Zeit mit der größten Heftigkeit klingelnd, den Hotelportier, der Wache hielt, mit dem Verbrechen belastend, Briefe oder Bestellungen zurückzuhalten, die ohne Zweifel für ihn hinterlassen worden seien. Er müsse sie auf der Stelle haben. Da der Abend kam und der Morgen kam und der Tag kam und weder eine Botschaft noch einen Brief brachte, so begab er sich wieder nach dem Landhause. Hier war der Rapport: Mr. Bounderby verreist und Mrs. Bounderby in der Stadt. Sie sei vergangenen Abend plötzlich dahin abgereist. Man hatte dies erst durch einen Brief aus der Stadt erfahren, der besagte, daß sie in Bälde nicht zurückkehren werde.

Unter diesen Umständen blieb ihm nichts übrig, als ihr in die Stadt zu folgen. Er ging nach dem Haus in der Stadt. Mrs. Bounderby nicht da. Er sprach bei der Bank vor. Mrs. Bounderby nicht da und Mrs. Sparsit nicht da. Mrs. Sparsit nicht da? Wer konnte so ursprünglich zur äußersten Verzweiflung getrieben worden sein, daß er sich ausgerechnet die Gesellschaft dieses Drachen suchte?

»Nun, ich weiß es nicht«, sagte Tom, der seine eigenen Gründe hatte, sich hierüber unbehaglich zu fühlen. »Sie ist diesen Morgen bei Tagesanbruch irgendwohin aufgebrochen. Sie ist immer geheimnisvoll, ich hasse sie. Ja, ich hasse ebenfalls das bleiche Gesicht des Laufburschen. Der hat auch immer seine blinzelnden Augen auf einem braven Kerl.«

»Wo wart ihr gestern abend, Tom?«

»Wo war ich gestern abend!« antwortete Tom. »Sieh‘ doch, so habe ich es gern. Ich wartete auf Euch, Mr. Harthouse, bis es vom Himmel herabgoß, wie ich es nie zuvor habe herabgießen sehen. Wo war ich auch? Wo waret Ihr, wollt Ihr sagen?«

»Ich war verhindert zu kommen – abgehalten.«

»Abgehalten!« murrte Tom. »Zwei von uns waren abgehalten. Ich war durch Warten abgehalten, bis ich jeden Zug, ausgenommen die Postkutsche, verpaßt hatte. Es würde eine ganz ergötzliche Partie gewesen sein, mit der Postkutsche in einer solchen Nacht zurückzurumpeln und durch einen Sumpf heimzuwaten. Kurz, ich mußte in der Stadt schlafen.«

»Wo?«

»Wo? Nun, in meinem eigenen Bette bei Bounderbys.«

»Saht Ihr Eure Schwester?«

»Was zum Kuckuck!« antwortete Tom, mit starrer Verwunderung, »konnte ich meine Schwester sehen, wenn sie fünfzehn Meilen weit entfernt war?«

Mr. Harthouse verwünschte innerlich die raschen Antworten des jungen Herrn. Dann wand er sich von dieser Zusammenkunft so harmlos wie möglich los und überlegte zum hundertsten Male, was das alles bedeuten sollte? Es wurde ihm nur eins klar. Das war, daß sie entweder in der Stadt oder auswärts sich befinde, daß er entweder zu schnell mit ihr, der Unbegreiflichen, gewesen, oder sie den Mut verloren hatte, oder daß sie entdeckt, oder daß ein zur Zeit noch unbekanntes Unglück oder Mißverständnis passiert war, und daß er diesem Unglücke entgegengehen müsse, worin es auch bestehe. Das Hotel, in dem er bekanntlich lebte, seitdem er zu diesem Lande der Finsternis verurteilt, war der Pfahl, an den er sich gebunden fühlte. Im übrigen – was sein wird, wird sein.

Mag ich nun eine Forderung oder eine Bestellung, oder eine bußfertige Vorstellung, oder eine Tracht Prügel aus dem Stegreif mit meinem Freunde Bounderby in der Lancashirer Manier zu erwarten haben, was ja wahrscheinlich bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge eintreten dürfte: »Auf jeden Fall will ich erst einmal dinieren« sagte Mr. James Harthouse. »Bounderby wiegt schwerer als ich, und wenn etwas echt Britisches zwischen uns vorgefallen sein sollte, so wäre es gut, ein wenig vorbereitet zu sein.«

Darauf klingelte er, warf sich nachlässig auf ein Sofa, beorderte »ein Diner um sechs – mit einem Beefsteak dabei«, und brachte die Zwischenzeit so gut hin, wie er konnte. Das gelang ihm aber nicht sehr gut; denn er verblieb in der größten Ratlosigkeit, und als die Stunden vergingen und keine Art der Aufklärung sich zeigen wollte, so vermehrte sich seine Ratlosigkeit mit Zinseszinsen.

Aber er nahm die Angelegenheit so kühl wie nur immer möglich und amüsierte sich immer wieder bei der lustigen Idee des erwarteten Boxkampfes und des Trainings dazu. »Es würde nicht übel sein«, gähnte er in einem Augenblick, »dem Kellner fünf Schilling zu geben und mit ihm loszuboxen. Es kam ihm die Idee: »Oder ein Kerl von beiläufig über zwei Zentnern könne stundenweise gemietet werden.« Aber diese Scherze verrieten an diesem Nachmittag nichts, als seine Unruhe; und, um die Wahrheit zu sagen, er langweilte sich fürchterlich.

Es war unvermeidlich, selbst vor dem Essen, noch oft dem Muster des Fußteppichs nach zu lustwandeln, aus dem Fenster zu sehen, an der Tür nach Fußtritten zu horchen, und gelegentlich ziemlich heiß zu werden, wenn sich dem Zimmer Tritte näherten. Aber nach dem Essen, als der Tag sich im Zwielicht auflöste und das Zwielicht in Nacht und er noch immer keine Aufklärung erhielt, war es ihm, wie er sagte, zumute, wie bei einer Inquisition mit anschließender »sanfter« Tortur. Jedoch, immer treu seiner Überzeugung, daß Snobismus die wahrhafte vornehme Lebensart sei (das war die einzige Überzeugung, die er hatte) benutzte er diese Krisis als passende Gelegenheit, Licht und Zeitung zu bestellen.

Er hatte eine halbe Stunde lang vergebens sich abgemüht, diese Zeitung zu lesen, als der Kellner erschien und geheimnisvoll und entschuldigend zugleich, sagte:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Man verlangt nach Ihnen, wenn Sie es erlauben.«

Eine vage Erinnerung, daß dies die gewöhnliche Formel sei, welche die Polizei gegen ihre unfreiwilligen Klienten anwendet, veranlaßte Mr. Harthouse, den Kellner trotzig entrüstet zu fragen, was zum Teufel er mit dem »verlangt« sagen wolle.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Eine junge Dame draußen wünscht Sie zu sprechen.«

»Draußen? Wo?«

»Hier vor der Tür, Sir.«

Mr. Harthouse wünschte den Kellner in aller Form zum Teufel, wohin er als Dummkopf erster Größe gehöre, und eilte dann auf den Gang. Hier stand ein junges Frauenzimmer, das er nie zuvor gesehen hatte. Einfach gekleidet, sehr ruhig, sehr hübsch. Als er sie in das Zimmer führte und einen Stuhl für sie hinstellte, bemerkte er beim Lichtschein, daß sie noch schöner war, als er anfangs gedacht. Ihre Erscheinung war unschuldig und jugendlich, und ihr Gesichtsausdruck außerordentlich angenehm. Sie zeigte keine Furcht vor ihm, noch die geringste Verwirrung; ihr Sinn schien ganz mit der Aufgabe ihres Besuches beschäftigt, und diese Aufgabe schien sie an die Stelle ihrer Person gesetzt zu haben.

»Ich spreche mit Mr. Harthouse?« sagte sie, als sie allein waren.

»Mit Mr. Harthouse. Und zwar«, fügte er innerlich hinzu, »reden Sie ihn an mit den vertrauensvollsten Augen, die ich je gesehen, und der schlichtesten und ruhigsten Stimme, die ich je gehört habe.«

»Wenn ich auch nicht weiß – und ich weiß es wirklich nicht, Sir –« sagte Cili, »was Sie Ihre Ehre als Gentleman in andern Fällen tun heißt«, das Blut stieg ihm ins Gesicht, als sie mit diesen Worten begann: »so bin ich doch überzeugt, daß ich darauf vertrauen kann, Sie werden meinen Besuch und was ich zu sagen habe, geheimhalten. Ich will mich darauf verlassen, wenn Sie mir sagen, daß ich Ihnen so weit vertrauen darf.«

»Sie dürfen es, ich versichere Sie.«

»Ich bin jung, wie Sie sehen; ich bin allein, wie Sie sehen. Ich komme zu Ihnen, Sir, ohne einen andern Rat oder eine andere Ermunterung als meine Hoffnung.«

Er dachte: »Aber das ist doch sehr stark«, als er dem momentan erhobenen Blick ihrer Augen folgte. Er meinte außerdem: »Das ist ein sehr seltsames Beginnen. Ich sehe nicht, wo das hinaus will.«

»Sie haben wohl schon erraten«, fuhr Cili fort, »von wem ich eben komme?«

»Während der letzten vierundzwanzig Stunden (die mir wie ebenso viele Jahre erschienen sind) habe ich mich in der größten Aufregung und Unruhe um eine Dame befunden. Die Hoffnung, die ich zu hegen wage, daß Sie von dieser Dame kommen, täuscht mich nicht, wie ich vertrauensvoll annehme.«

»Ich verließ sie vor einer Stunde.«

»In –?«

»In dem Haus ihres Vaters.«

Mr. Harthouses Gesicht verlängerte sich, trotz seines kühlen Wesens, und sein Erstaunen wuchs. »Dann sehe ich ganz gewiß nicht«, dachte er, »wohin das führen soll.«

»Vergangene Nacht eilte sie dorthin. Sie kam da in großer Aufregung an und war die ganze Nacht hindurch ohne Bewußtsein. Ich lebe in dem Haus ihres Vaters und war bei ihr. Sie können sich darauf verlassen, Sir, Sie werden sie nie wieder sehen, so lange Sie leben.«

Mr. Harthouse holte tief Atem. Wenn sich je ein junger Mann in der Lage befand, daß er nicht wußte, was er sagen sollte, so war dies ohne alle Frage bei ihm der Fall. Die kindliche Offenheit, mit der seine Besucherin sprach, ihre bescheidene Furchtlosigkeit, ihr ungekünsteltes Vertrauen, ihr gänzliches Selbstvergessen in ihrem ernsten, ruhigen Verhalten bei der Aufgabe, um derentwillen sie gekommen war; alles das, zusammengenommen mit ihrem Vertrauen auf sein leichthin gegebenes Versprechen – das ihn in seinem Innern beschämte – stellte sich ihm als etwas dar, worin er so unerfahren war, und woran seine gewöhnlichen Waffen so ohnmächtig abprallen mußten, daß er nicht ein Wort zu seiner Hilfe aufzubieten vermochte.

Endlich sagte er:

»Eine so überraschende Nachricht, so vertrauensvoll gegeben und von solchen Lippen, ist fürwahr im höchsten Grade entmutigend. Darf ich mich erkundigen, ob Sie von der fraglichen Dame beauftragt sind, mir diese Mitteilung in solchen hoffnungslosen Worten zu machen?«

»Ich habe keinen Auftrag von ihr.«

»Der Versinkende klammert sich an einen Strohhalm. Ohne Mißachtung Ihres Urteils und ohne Zweifel an Ihre Aufrichtigkeit bitte ich es zu entschuldigen, wenn ich mich zu der Ansicht neige, es sei noch Hoffnung vorhanden, daß ich nicht zu einer immerwährenden Verbannung vom Antlitz dieser Dame verurteilt bin.«

»Nicht die leiseste Hoffnung bleibt übrig. Der erste und hauptsächlichste Zweck meines Kommens, Sir, ist, Sie zu der Überzeugung zu bringen, es sei nicht mehr Hoffnung vorhanden, sie je wieder zu sprechen, als wenn sie im Augenblicke, wo sie gestern abend ins elterliche Haus trat, gestorben wäre.«

»Überzeugung? Aber wenn ich nun nicht kann – oder wenn ich bei der Schwachheit der menschlichen Natur halsstarrig bin – und nicht will?«

»Es ist dennoch wahr. Da ist keine Hoffnung.«

James Harthouse blickte sie an mit einem ungläubigen Lächeln um seine Lippen. Aber an ihrem durchdringenden Blicke wurde sein Lächeln zuschanden.

Er biß sich in die Lippen und nahm sich etwas Zeit zur Überlegung. »Gut, wenn es unglücklicherweise der Fall sein sollte«, sagte er, »daß ich zu einer so trostlosen Lage, wie diese Verbannung, gebracht bin, so werde ich die Dame nicht mit meiner Gegenwart behelligen. Aber sie sagten, Sie haben keine Vollmacht von ihr?«

»Ich habe einzig und allein die Vollmacht meiner Liebe für sie, und ihrer Liebe für mich. Ich habe keine andere Beglaubigung, als daß ich seit ihrer Heimkunft bei ihr gewesen, und daß sie mir ihr Vertrauen geschenkt hat. Ich habe keine andere Beglaubigung, als daß ich etwas von ihrem Charakter und von ihrer Ehe kenne. O! Mr. Harthouse, ich dächte, Sie könnten das auch zur Grundlage Ihrer Überzeugung machen!«

In der Höhle, wo sein Herz hätte sein sollen – in diesem Neste verdorbener Eier, wo die Vögel des Himmels hätten leben können, wenn sie nicht hinweggescheucht worden wären – wurde er von dem Stachel dieses Vorwurfes getroffen.

»Ich gehöre nicht zu der moralischen Menschensorte«, sagte er, »und ich habe niemals Anspruch auf derartige Eigenschaften gemacht. Ich bin so unmoralisch, wie es sich gehört. Wenn ich auf der andern Seite jedoch der Dame, die der Gegenstand unserer Unterhaltung ist, irgendwelche Unannehmlichkeiten bereitet oder sie unglücklicherweise kompromittiert, oder wenn ich mich selbst durch irgendeine Preisgabe von Gefühlen gegen sie vergangen habe, die nicht ganz vereinbar sind mit – in der Tat mit – dem häuslichen Herd. Oder wenn ich es zu benutzen suchte, daß ihr Vater eine Maschine, ihr Bruder ein Bengel und ihr Gatte ein Bär ist; so bitte ich mir die Versicherung zu gestatten, daß ich keine besonders üblen Absichten hatte, sondern von einer Stufe zur andern mit so unwiderstehlicher Leichtigkeit glitt, daß ich nicht die leiseste Ahnung hatte, das Sündenregister sei halb so lang, bis ich es durchzublättern begann. Wo ich denn finde«, schloß Mr. Harthouse, »daß es mehrere Bände stark ist.«

Obgleich er alles das in seiner frivolen Weise sagte, so war seine Art dabei diesmal doch bewußte Politur einer häßlichen Oberfläche. Er schwieg einen Augenblick; dann fuhr er mit mehr Unbefangenheit, jedoch mit Zügen von Unruhe und Mißvergnügen, die sich nicht ganz glätten lassen wollten, fort:

»Nach dem, was mir eben vorgestellt worden ist, in einer Weise, in die ich unmöglich Zweifel setzen kann – ich kenne kaum eine andere Quelle, von der ich es so bereitwillig angenommen hätte –, fühle ich mich verbunden. Ihnen, die Sie Ihrer Aussage nach mit dem Vertrauen beschenkt worden sind, folgendes zu sagen: Ich muß mich zu der Möglichkeit verstehen (so unerwartet sie auch kommt), die Dame nicht wieder zu sehen. Ich bin lediglich zu tadeln, daß ich die Sache habe so weit kommen lassen – und – und, ich kann nicht sagen«, fügte er mit einem pathetischen Redeschluß verlegen hinzu, »daß ich eine besondere Hoffnung darauf setze, jemals ein Kerl von der moralischen Sorte zu werden, oder daß ich überhaupt irgendwelchen Glauben an besagte moralische Sorte habe.«

Cilis Miene zeigte zur Genüge, daß sie mit ihrer Forderung an ihn noch nicht zu Ende sei.

»Sie sprachen«, resümierte er, als sie ihre Augen von neuem zu ihm aufschlug, »von Ihrem ersten Zweck. Darf ich annehmen, daß noch ein zweiter zu besprechen ist?«

»Ja.«

»Wollen Sie ihn mir bitte mitteilen?«

»Mr. Harthouse«, erwiderte Cili, mit einer Mischung von Güte und Festigkeit, vor der er ganz erlag, und mit einem einfachen Vertrauen in seine Verpflichtung, ihr Verlangen zu erfüllen, das ihn in einem eigentümlichen Nachteil hielt, »die einzige Genugtuung, die Ihnen zu geben übrigbleibt, ist, diesen Ort sofort und für immer zu verlassen. Ich habe die feste Überzeugung, daß Sie auf keine andere Weise das Unrecht und den Kummer, den Sie verursacht haben, mildern können. Ich habe die bestimmte Überzeugung, daß dies die einzige Möglichkeit, wieder gutzumachen, ist, die Sie noch haben. Ich sage nicht, daß es viel, oder daß es genug ist; aber es ist etwas und es ist notwendig. Ich bin durch nichts anderes zu dem Schritt ermächtigt, als was ich Ihnen schon angegeben habe. Niemand außer mir weiß darum, und so fordere ich Sie auf, noch diese Nacht von hier abzureisen, und zwar mit der Verpflichtung, nie wiederzukommen.«

Hätte sie ihn durch irgend etwas anderes als durch ihr schlichtes Vertrauen auf das Recht und die Wahrheit dessen, was sie sagte, zwingen wollen, hätte sie die geringste Unsicherheit oder Unentschlossenheit gezeigt, oder hätte sie in der besten Absicht einen Hintergedanken oder Vorwand beherbergt, hätte sie im mindesten das Lächerliche oder Erstaunliche der Lage, in die sie sich begeben, empfunden, oder wäre sie seinem etwaigen Widerspruch zugänglich gewesen – so hätte er sie darin schlagen können. Aber er würde ebenso leicht imstande gewesen sein, einen klaren Himmel zu verändern dadurch, daß er ihn erstaunt betrachtete, als hier einen Effekt zu machen.

»Aber kennen Sie«, fragte er ganz verzweifelt, »die Tragweite dessen, was Sie verlangen? Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß ich in einer öffentlichen Geschäftsangelegenheit hier bin, abgeschmackt genug an und für sich, aber auf die ich eingegangen bin und geschworen habe, und der man mich mit Leib und Seele ergeben glaubt? Sie wissen wahrscheinlich nichts davon, aber ich versichere Sie, daß es eine Tatsache ist.«

Er brachte keine Wirkung auf Cili hervor, Tatsache oder nicht Tatsache.

»Außerdem«, sagte Mr. Harthouse, indem er einmal oder zweimal im Zimmer auf und ab ging, »ist es so verteufelt absurd. Es würde einen Mann so lächerlich machen, nachdem er einmal für diese Kerls eingetreten ist, in solch unbegreiflicher Weise auszukneifen.«

»Es ist meine feste Überzeugung«, wiederholte Cili, »daß es die einzige Sühne ist, die noch in ihrer Macht liegt. Das ist meine feste Überzeugung, oder ich würde nicht hierhergekommen sein.«

Er blickte in ihr Gesicht und ging von neuem im Zimmer umher.

»Bei meiner Seele, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. So ungeheuer absurd.«

Es war jetzt an ihm die Reihe, sich Verschwiegenheit auszubedingen.

»Wenn ich imstande wäre, etwas so wahrhaft Lächerliches zu tun«, sagte er, indem er augenblicklich wieder stockte und sich gegen das Kamingesimse lehnte, »so könnte es nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dem ich vertrauen könnte, geschehen.«

»Ich werde Ihnen vertrauen Sir«, erwiderte Cili, »und Sie werden mir vertrauen.«

Als er sich an den Kamin anlehnte, erinnerte er sich an den Abend mit dem Bengel. Es war ganz dasselbe Kamingesimse, und es regte sich etwas in ihm, als wenn er diesen Abend der Bengel wäre. Er wußte nicht, wo aus noch ein.

»Meiner Ansicht nach hat sich noch nie ein Mann in einer so lächerlichen Lage befunden«, sagte er, bald zur Erde, bald in die Luft blickend, bald lachend, bald die Stirne runzelnd, bald auf, bald nieder gehend. »Aber ich sehe keinen Ausweg. Was geschehen soll, wird geschehen. Dieses wird allem Vermuten nach geschehen. Ich muß mich aufmachen, denke ich – kurz, ich verpflichte mich, es zu tun.«

Cili erhob sich. Sie war durch das Resultat nicht überrascht, »Aber ich darf Ihnen sagen«, fuhr Mr. James Harthouse fort, »daß ich zweifle, ob ein anderer Abgesandter oder Gesandtin sich mit demselben Erfolg an mich gewendet haben würde. Ich muß mich nicht nur als in eine sehr lächerliche Lage Versetzter betrachten, sondern als in allen Punkten geschlagen. Wollen Sie mir die Gunst gewähren, mich an den Namen meiner Feindin zu erinnern?«

»Meinen Namen?« sagte die Gesandtin.

»Der einzige Name, den ich möglicherweise diesen Abend zu kennen Verlangen tragen könnte.«

»Cili Jupe.«

»Verzeihung für meine Neugier zum Abschied. Und in Beziehung zu der Familie?«

»Ich bin nur ein armes Mädchen«, antwortete Cili. »Ich wurde von meinem Vater getrennt – er war nur ein Artist – und aus Mitleid von Mr. Gradgrind aufgenommen. Seitdem habe ich immer in dem Hause gelebt.«

Sie war verschwunden.

»Das war nötig, um die Niederlage vollständig zu machen«, sagte Mr. James Harthouse, mit resignierter Miene auf das Sofa sinkend, nachdem er eine Weile wie angewurzelt dagestanden. »Die Niederlage kann jetzt als vollständig angesehen werden. Nur ein armes Mädchen – nur ein Artist – nur James Harthouse zunichte gemacht – nur James Harthouse, eine große Pyramide von Bankerott.«

Die große Pyramide setzte sich’s in den Kopf, den Nil hinauf zu gehen. Er nahm augenblicklich eine Feder und schrieb folgendes Billett (in geeigneten Hieroglyphen) an seinen Bruder.

»Lieber Jack. Alles aus in Coketown. Herausgelangweilt aus dem Neste und auf Kamele ausgehend. Mit Liebe, Jem.«

Er zog die Klingel.

»Schickt meinen Diener her.«

»Ist zu Bette gegangen, Sir.«

»Laßt ihn aufstehen und einpacken.«

Er schrieb noch zwei Billetts. Eines an Mr. Bounderby, das ihm meldete, daß er von hier fortgereist sei und mitteilte, wo er in den nächsten vierzehn Tagen zu finden wäre. Das andere, ähnlichen Inhalts, an Mr. Gradgrind. Kaum war die Tinte auf den Adressen trocken, so hatte er die hohen Schornsteine von Coketown hinter sich und saß in einem Eisenbahnwagen, gedankenlos über die finstere Landschaft hinträumend.

Die moralische Menschensorte dürfte vielmehr annehmen, daß Mr. James Harthouse später einige erbauliche Betrachtungen an seinen schnellen Rückzug geknüpft hätte, als eine der wenigen Handlungen seines Lebens, die einer Buße gleich sahen, und als Denkzeichen für ihn, einer sehr schlimmen Katastrophe glücklich entronnen zu sein. Aber dem war durchaus nicht so. Ein geheimes Bewußtsein, Fiasko gemacht zu haben und lächerlich geworden zu sein, eine Furcht, was andere Gesinnungsgenossen, die für ähnliche Dinge einträten, zu seiner Aufführung sagen möchten, wenn sie ihnen bekannt würde – lasteten so auf ihm, daß er gerade diese Leistung, die doch bis jetzt seine beste gewesen sein mochte, um keinen Preis als seine Tat anerkennen wollte, und daß dies das einzige Blatt in seiner Lebensgeschichte war, dessen er sich aufrichtig schämte.

Einunddreißigstes Kapitel.


Einunddreißigstes Kapitel.

Mit einem entsetzlichen Schnupfen, mit einer Stimme, die es nur noch zum Wispern brachte, und in ihrem stattlichen Nasengestell durch immerwährendes Niesen so erschüttert, daß eine Explosion zu drohen schien – jagte die unermüdliche Mrs. Sparsit ihrem Patron nach, bis sie ihn in der Hauptstadt fand. Hier segelte sie gravitätisch auf ihn zu in seinem Hotel in St. James Street, zündete die brennbaren Stoffe, womit sie geladen war, an und schoß los. Nachdem sie nun mit unendlicher Befriedigung ihre Mission erfüllt hatte, fiel dieses hochherzige Weib in Ohnmacht auf Mr. Bounderbys Rockkragen.

Mr. Bounderbys erste Prozedur war, Mrs. Sparsit abzuschütteln und es ihr zu überlassen, auf dem Boden so viel Stufen des Leidens zu durchlaufen, wie sie Lust hatte. Darauf nahm er seine Zuflucht zu kräftigen Wiederbelebungsmitteln, drehte ihre Daumen, rieb ihre Hände, begoß ihr Gesicht reichlich mit Wasser und steckte ihr Salz in den Mund. Als diese Aufmerksamkeiten sie wieder zu sich gebracht hatten (und sie taten das eiligst), schaffte er sie gewaltsam in einen Schnellzug, ohne ihr eine weitere Erfrischung anzubieten, und brachte sie mehr tot als lebendig nach Coketown zurück.

Als klassische Ruine betrachtet bot Mrs. Sparsit am Ende ihrer Reise ein interessantes Schauspiel. Aber in jeder anderen Beziehung war der Belauf des Schadens, den sie letzte Zeit erlitten hatte, außerordentlich und stimmte ihre Ansprüche auf Bewunderung herab. Ohne alle Rücksicht auf die klägliche Beschaffenheit ihrer Kleidung und Körperkonstitution, und trotz ihres pathetischen Niesens wurde sie von Mr. Bounderby unmittelbar in eine Kutsche gepackt und nach Stone Lodge befördert.

»Nun, Tom Gradgrind«, platzte Bounderby bei später Nacht in das Zimmer seines Schwiegervaters: »hier ist eine Dame, hier – Mrs. Sparsit – Ihr kennt Mrs. Sparsit – die Euch etwas zu sagen hat, was Euch verstummen lassen wird.«

»Ihr habt meinen Brief nicht erhalten!« rief Mr. Gradgrind, von dem Auftritt überrascht.

»Euren Brief nicht erhalten, Sir!« schrie Bounderby. »Gegenwärtig ist keine Zeit für Briefe. Niemand soll Josiah Bounderby von Coketown bei der Gemütsverfassung, in der er sich jetzt befindet, von Briefen sprechen.«

»Bounderby«, sagte Mr. Gradgrind mit dem Tone milder Vorstellung. »Ich spreche von einem ganz speziellen Brief, den ich Euch wegen Luise geschrieben habe.«

»Tom Gradgrind«, erwiderte Bounderby, indem er mehrere Wale mit flacher Hand heftig auf den Tisch schlug! »ich spreche von einem ganz speziellen Boten, der wegen Luise zu mir gekommen ist. Mrs. Sparsit, Ma’am, tretet vor!«

Als die unglückliche Lady hierauf versuchte, ihr Zeugnis abzulegen, ohne eine Spur von Stimme und mit schmerzlichen Gebärden ihre entzündete Kehle bekundend, verschlimmerte sich ihr Zustand so sehr und ihre Gesichtsverdrehungen wurden so arg, daß Mr. Bounderby, unfähig es langer zu ertragen, sie am Arm faßte und schüttelte.

»Wenn Ihr es nicht herausbringen könnt, Ma’am«, sagte Mr. Bounderby, »so laßt es mich herausbringen. Das ist keine Gelegenheit für eine Dame, mag sie auch noch so hohe Verbindungen haben, um gänzlich heiser zu sein und sich zu stellen, als schlinge sie Kieselsteine. Tom Gradgrind, Mrs. Sparsit befand sich zufälligerweise kürzlich in der Lage, eine Unterredung außer dem Hause zwischen Eurer Tochter und Eurem liebenswürdigen Gentleman-Freund, Mr. James Harthouse, mit anzuhören.«

»In der Tat?« sagte Mr. Gradgrind.

»Jawohl! In der Tat!« schrie Bounderby. »Und in dieser Unterredung –«

»Es ist nicht nötig, ihren Inhalt zu wiederholen, Bounderby. Ich weiß, was vorging.«

»So? Vielleicht«, sagte Bounderby und starrte verwundert auf seinen so ruhigen und gefaßten Schwiegervater, »vielleicht wißt Ihr auch, wo Eure Tochter sich im gegenwärtigen Augenblicke befindet?«

»Ohne Zweifel. Sie befindet sich hier.«

»Hier?«

»Mein lieber Bounderby, ich bitte Euch, diese lauten Ausbrüche zu mäßigen, unter allen Umständen. Luise ist hier. Sobald sie sich von der Zusammenkunft mit der Person, von der Ihr sprecht und die ich aufrichtig bedaure, bei Euch eingeführt zu haben, losmachen konnte, eilte Luise hierher, um Schutz zu suchen. Ich selbst war erst wenige Stunden zu Hause gewesen, als ich sie hier in diesem Zimmer empfing. Sie eilte mit dem Eisenbahnzuge zur Stadt, lief von der Stadt in dieses Haus während eines rasenden Unwetters – und erschien hier vor mir in einem Zustand der Verzweiflung. Wie sich von selbst versteht, ist sie seitdem hier geblieben. Laßt Euch aber inständig ersuchen, um Euret- und ihretwillen, ruhiger zu sein.«

Mr. Bounderby starrte einige Augenblicke schweigend vor sich hin, nach jeder Seite, nur nicht nach der, wo sich Mrs. Sparsit befand; und dann sich plötzlich zur Nichte Lady Scadgers wendend, sagte er zu dieser unglücklichen Frau:

»Nun, Madame! Wir würden uns glücklich schätzen, wenn Sie es passend finden sollten, uns eine kleine Entschuldigung darüber hören zu lassen, warum Sie eine expresse Reise über Land unternehmen und kein anderes Gepäck mit sich führen als ein Altweibermärchen, Madame!«

»Sir«, flüsterte Mrs. Sparsit, »meine Nerven sind gegenwärtig zu sehr angegriffen und meine Gesundheit ist gegenwärtig zu sehr zerrüttet, und zwar in Ihrem Dienst, um mir etwas anderes zu gestatten, als meine Zuflucht zu Tränen zu nehmen.«

Und so tat sie.

»Na schön, Madame«, sagte Bounderby, »ohne Ihnen eine Bemerkung machen zu wollen, die sich für eine Frau von guter Familie nicht schickt, möchte ich mir doch erlauben, darauf aufmerksam zu machen, daß es etwas anderes gibt, wozu Sie Ihre Zuflucht nehmen dürften, nämlich eine Kutsche. Und da die Kutsche, in der wir herkamen, noch vor der Tür steht, so werden Sie mir erlauben, Sie hinein zu geleiten, und dann scheren Sie sich heim in die Bank. Das beste, was Sie da tun können, wird sein, Ihre Füße in das heißeste Wasser zu stecken, das Sie aushalten können, ein Glas siedend heißen Rum mit Butter zu nehmen und dann zu Bette zu gehen.« Mit diesen Worten streckte Mr. Bounderby seine rechte Hand nach der weinenden Dame aus und eskortierte sie in das fragliche Fuhrwerk, während sie noch manche klägliche Schnupfenträne auf dem Wege vergoß. Er kehrte bald allein zurück.

»Nun, da Ihr mir mit Eurer Miene zu verstehen gegeben habt, Tom Gradgrind, daß Ihr mit mir zu sprechen wünscht«, nahm er wieder das Wort, »hier bin ich. Aber ich bin nicht in einer sehr angenehmen Stimmung, ich sage es Euch offen: denn ich finde keinen Geschmack an dieser Angelegenheit, so wie sie nun einmal liegt, und ich glaube nicht, daß ich zu jeder Zeit so pflichtschuldig und unterwürfig von Eurer Tochter behandelt worden bin, wie Josiah Bounderby von Coketown von seiner Frau behandelt werden sollte. Ihr habt Eure Meinung, ich darf es sagen, und ich habe die meinige, denk‘ ich. Wenn Ihr nun meint, mir heute abend etwas sagen zu wollen, das dieser klaren Bemerkung zuwider läuft, so hättet Ihr besser getan, es zu lassen.«

Hierbei muß bemerkt werden, daß Mr. Bounderby, da Mr. Gradgrind sehr sanft war, ganz besondere Mühe darauf verwandte, in allen Beziehungen hart zu erscheinen. Das war so seine liebenswürdige Natur.

»Mein teurer Bounderby«, begann Mr. Gradgrind seine Entgegnung.

»Halt, Ihr müßt mich entschuldigen, aber ich wünsche nicht zu teuer zu sein. Das ein für allemal. Wenn ich anfange, jemandem teuer zu sein, so finde ich gewöhnlich, daß es seine Absicht ist, mich über den Löffel zu barbieren. Ich spreche nicht höflich zu Euch, denn, damit Ihr es wißt, ich bin nicht höflich. Wenn Ihr Höflichkeit haben wollt, so wißt Ihr, wo sie zu suchen. Ihr habt Eure Gentleman-Freunde, und die werden Euch so viel von dem Artikel vorsetzen, wie Ihr wollt. Ich für meine Person führe ihn nicht.«

»Bounderby«, nahm Mr. Gradgrind eifrig das Wort, »wir alle sind dem Irrtum unterworfen –«

»Ich dachte, Ihr könntet nicht irren«, unterbrach ihn Bounderby.

»Vielleicht dachte ich so. Aber ich sage, wir alle sind dem Irrtum unterworfen –«

»Ich dachte, Ihr könntet nicht irren«, unterbrach ihn Bounderby.

»Vielleicht dachte ich so. Aber ich sage, wir alle sind dem Irrtum unterworfen; und ich würde erkenntlich und dankbar für Euer Zartgefühl sein, wenn Ihr mir diese Hinweise auf Harthouse ersparen wolltet. Ich werde diesen Namen im Laufe unserer Unterredung nicht nennen, als ob Ihr mit ihm vertraut gewesen und ihn ermuntert hättet. Sprecht also bitte nicht, als sei dies bei mir der Fall gewesen.«

»Sein Name ist nicht über meine Zunge gekommen!« sagte Bounderby.

»Gut, gut!« lenkte Mr. Gradgrind mit einer geduldigen, ja unterwürfigen Miene ein. Dann saß er eine kleine Weile in Nachdenken versunken. »Bounderby, ich habe Grund zu zweifeln, ob wir immer Luise ganz verstanden haben.«

»Wen meint Ihr mit dem Wir?«

»Laßt mich denn sagen: ich«, erwiderte er auf die plumpe Frage. »Ich trage Bedenken, ob ich Luise verstanden habe. Ich zweifle fast, ob ich in ihrer Erziehungsweise ganz recht gehabt.«

»Da trefft Ihr den richtigen Fleck«, nahm Bounderby das Wort. »Darin bin ich mit Euch einverstanden. Ihr habt es endlich gefunden, nicht wahr? Erziehung! Ich will Euch sagen, was Erziehung ist – Hals über Kopf zum Hause hinausgeworfen, und in allen Dingen, mit Ausnahme der Prügel, kurzgehalten werden: Das ist es, was ich Erziehung nenne.«

»Ich denke. Euer gesunder Verstand wird begreifen«, wandte Mr. Gradgrind in aller Bescheidenheit ein, »daß, was auch immer die Verdienste eines solchen Systems sein mögen, seine allgemeine Anwendung auf Mädchen doch schwierig sein dürfte.«

»Ich sehe das durchaus nicht, Sir«, erwiderte der halsstarrige Bounderby.

»Nun«, seufzte Gradgrind, »wir wollen nicht auf die Erörterung dieser Frage eingehen. Ich versichere Euch, daß ich keine Lust zu Streitigkeiten habe. Ich wünsche womöglich, das wieder gutzumachen, was versäumt ist, und ich hoffe. Ihr werdet mir mit gutem Willen beistehen, denn ich bin sehr niedergeschlagen gewesen.«

»Ich verstehe Euch noch nicht«, sagte Bounderby«, mit entschlossener Halsstarrigkeit, »und daher kann ich kein Versprechen geben.«

»Im Verlaufe weniger Stunden, mein lieber Bounderby«, fuhr Mr. Gradgrind in derselben gedrückten und persönlichen Weise fort, »glaube ich besser über Luises Charakter unterrichtet worden zu sein, als in Jahren vorher. Die Aufklärung ist mir schmerzlich aufgedrungen worden und die Entdeckung also nicht mein Verdienst. Ich glaube, e« sind – Bounderby, Ihr werdet erstaunt sein, mich das sagen zu hören – ich glaube, e« sind Fähigkeiten in Luise, die – die arg vernachlässigt und – und etwas verstört worden sind. Und – und ich möchte Euch meine Meinung ausdrücken, daß – daß wenn Ihr mich in dem rechtzeitigen Bemühen unterstützen wolltet, sie eine Zeitlang ihrer besseren Statur zu überlassen, und diese durch Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit zu ihrer eigenen Entfaltung zu ermuntern – so – so würde es für unser aller Glück besser sein. Luise«, sagte Mr. Gradgrind, indem er sein Gesicht mit seiner Hand bedeckte, »ist immer mein Lieblingskind gewesen.«

Der polternde Bounderby schwoll so rot an, als er diese Worte hörte, daß er einem Schlagflusse nahe zu sein schien und wahrscheinlich auch war. Obgleich er bis in die beiden Ohrspitzen karmoisinrot anlief, verschloß er doch seinen Unwillen und sagte:

»Ihr möchtet sie gern eine Zeitlang hier behalten?«

»Ich – ich hatte allerdings die Absicht, anzuraten, mein lieber Bounderby, daß Ihr Luise erlauben möchtet, zu einem Besuche hierzubleiben, wo sie dann von Cili (ich meine natürlich Cäcilie Jupe), die sie versteht und ihr Vertrauen genießt, gepflegt werden könnte.«

»Aus allem dem schließe ich, Tom Gradgrind«, sagte Bounderby, indem er mit den Händen in der Tasche aufstand, »daß Ihr der Meinung seid, es beständen zwischen Lu Bounderby und mir Unstimmigkeiten, wie man zu sagen pflegt.«

»Ich befürchte, es bestehen gegenwärtig allgemeine Unstimmigkeiten zwischen Luise und – und – und fast allen den Verhältnissen, in welche ich sie gebracht habe«, war des Vaters sorgenvolle Antwort.

»Gut, nun merkt auf, Tom Gradgrind«, sagte Bounderby mit rotem Kopf, indem er sich ihm gegenüberstellte mit weit ausgespreizten Beinen, seine Hände tiefer in den Taschen, und sein Haar einem Heufelde vergleichbar, in welchem der Wind seines Ärgers wühlte. »Ihr habt gesagt, was Ihr zu sagen habt: nun will ich dasselbe tun. Ich bin ein Coketowner Mann. Ich bin Josiah Bounderby von Coketown. Ich kenne die Bausteine dieser Stadt, und ich kenne die Werke dieser Stadt, und ich kenne die Kamine dieser Stadt, und ich kenne den Rauch dieser Stadt, und ich kenne die ›Hände‹ dieser Stadt. Ich kenne das alles sehr wohl. Das sind Wirklichkeiten. Wenn mir aber jemand von idealen Eigenschaften spricht, so sage ich ihm sofort, wer er auch sein mag, daß ich weiß, was er meint. Er meint Schildkrötensuppe und Wildbret mit einem goldenen Löffel, und in einer sechsspännigen Kutsche fahren. Das ist es, was Eure Tochter will. Da Ihr nun der Meinung seid, daß sie haben soll, was sie will, so empfehle ich Euch, es ihr zu verschaffen. Denn, Tom Gradgrind, von mir wird sie es nie erhalten.«

»Bounderby«, erwiderte Mr. Gradgrind, »nach meiner Einleitung hoffte ich, Ihr würdet einen andern Ton angenommen haben.«

»Wartet nur ein bißchen«, entgegnete Bounderby; »Ihr habt gesagt, was Ihr zu sagen habt, glaube ich. Ich ließ Euch aussprechen; hört mich auch gefälligst zu Ende. Macht nicht ebensolch einen Narren der Unredlichkeit aus Euch wie einen der Ungereimtheit, denn obgleich es mir leid tut, Tom Gradgrind auf seinen gegenwärtigen Standpunkt herabgesunken zu sehen, so sollte es mir doch doppelt leid tun, wenn er so tief fiele. Nun wohl. Ihr gebt mir zu verstehen, daß eine Unstimmigkeit der einen oder der andern Art zwischen mir und Eurer Tochter bestehe. Ich will Euch als Antwort darauf zu verstehen geben, daß ohne alle Frage eine Unstimmigkeit erster Größe hier obwaltet, und die ist in Summa, daß Eure Tochter die Verdienste ihres Gatten nicht geziemend kennt und die Ehre einer Verbindung mit ihm nicht zu würdigen versteht, wie sie es von Gott und Rechts wegen tun müßte. Das ist verständlich gesprochen, hoffe ich.«

»Bounderby«, versetzte Mr. Gradgrind mit Nachdruck, »das ist unvernünftig.«

»In der Tat?« sagte Bounderby. »Ich freue mich. Euch so sprechen zu hören. Denn wenn Tom Gradgrind mit seiner ungewöhnlichen Erleuchtung mir sagt, daß das, was ich spreche, unvernünftig sei, dann bin ich vollkommen davon überzeugt, daß es verteufelt vernünftig ist. Mit Eurer Erlaubnis fahre ich fort. Ihr kennt meine Herkunft und Ihr wißt, daß ich eine ziemliche Reihe meiner Lebensjahre keinen Schuhanzieher brauchte, weil ich keine Schuhe hatte. Jetzt, Ihr mögt das glauben oder nicht, wie es Euch gut dünkt, gibt es Ladys – geborene Ladys – aus Familien – Familien sage ich – die fast den Boden küssen möchten, auf dem ich stehe.«

Diese Worte warf er seinem Schwiegervater, wie eine Rakete, herausfordernd an den Kopf.

»Dagegen«, fuhr Bounderby fort, »ist Eure Tochter weit entfernt, eine geborene Lady zu sein, wie Ihr selbst recht gut wißt. Nicht als ob ich einen Deut auf solche Dinge gäbe. Ihr wißt sehr wohl, daß ich es nicht tue, aber es ist eine Tatsache, an der Ihr nicht« zu ändern vermögt. Warum sage ich das?«

»Nicht um mich zu schonen, fürchte ich«, bemerkte Mr. Gradgrind mit leiser Stimme.

»Hört mich zu Ende«, sagte Bounderby, »und wartet, bis Ihr wieder an die Reihe kommt. Ich sage das, weil hochgestellte Frauen mit Erstaunen das Benehmen Eurer Tochter bemerkt und ihre Gefühllosigkeit beobachtet haben. Sie haben sich gewundert, wie ich es dulden konnte, und ich wundere mich selbst und will es nicht dulden.«

»Bounderby«, erwiderte Mr. Gradgrind, »ich glaube, je weniger wir diesen Abend sprechen, desto besser wird es sein.«

»Im Gegenteil, Tom Gradgrind, je mehr wir diesen Abend sprechen, desto besser ist es. Da« ist meine Ansicht. Das heißt«, fügte er einlenkend hinzu, »bis ich alles gesagt habe, was ich zu sagen wünsche, und dann ist es mir gleichgültig, wie bald wir aufhören. Ich komme zu einer Frage, welche unsere Verhandlungen abkürzen dürfte. Was meint Ihr mit dem Vorschlag, den Ihr eben gemacht habt?«

»Was ich damit meine, Bounderby?«

»Mit Eurem Besuchsvorschlage«, sagte Bounderby mit einem schroffen Zurückwerfen seines Heufeldes.

»Ich meine, daß ich hoffe. Ihr werdet Euch freundschaftlich bewegen lassen, es so einzurichten, daß Ihr Luise eine Zeit der Ruhe und des Nachdenkens hier gestattet. Das könnte zu einer allmählichen Besserung der Verhältnisse in vielen Beziehungen führen.«

»Zu einem sanften Erholungsschlummer auf Euren Ideen von der Unstimmigkeit?« fiel Bounderby ein.

»Wenn Ihr es so auffaßt.«

»Was brachte Euch auf den Gedanken?« sagte Bounderby.

»Ich habe es schon gesagt, ich fürchte, Luise ist nicht verstanden worden. Ist es zu viel verlangt, daß Ihr, Bounderby, der Ihr so viel älter seid als sie, behilflich sein solltet, sie auf den richtigen Weg zu führen? Ihr habt die Sorge für sie auf Euch genommen; auf Glück und Unglück, denn– –«

Mr. Bounderby dürfte von der Wiederholung seiner eigenen Worte zu Stephan Blackpool sehr unangenehm berührt worden sein; aber er schnitt das Zitat mit einem ärgerlichen Ruck kurz ab.

»Laßt das!« sagte er, »ich verlange nicht, hierüber belehrt zu werden. Welche Sorge ich auf mich nahm, weiß ich selbst so gut wie Ihr. Was ich auf mich nahm, geht Euch nichts an, das ist meine Sache.«

»Ich wollte nur bemerken, daß wir alle mehr oder weniger gefehlt haben, Ihr eben nicht ausgenommen, Bounderby; und daß einige Nachgiebigkeit von Eurer Seite, angesichts der übernommenen Verantwortlichkeit, nicht nur ein Akt aufrichtiger Güte, sondern vielleicht auch eine Luisen schuldige Pflicht sein dürfte.«

»Ich denke anders darüber«, polterte Bounderby heraus; »und werde diesen Handel nach meiner eigenen Ansicht zu Ende bringen. Seht, ich wünsche mich nicht hierüber mit Euch zu zanken, Tom Gradgrind. Euch die Wahrheit zu sagen, glaube ich nicht, daß es sich mit meiner Ehre verträgt, über einen solchen Gegenstand zu zanken. Was Euren Gentleman-Freund betrifft, so mag er sich zum Teufel scheren, wohin es ihm gut dünkt. Wenn er mir je in den Weg kommt, so werde ich ihm meine Meinung sagen, kommt er mir nicht in den Weg, so werde ich es nicht tun, denn es würde in diesem Falle meiner unwürdig sein. Was Eure Tochter anbetrifft, die ich zu Lu Bounderby gemacht habe, jedoch vielleicht besser bei ihrem Namen Lu Gradgrind belassen hätte, so wisset: Wenn sie nicht morgen mittag zwölf Uhr nach Hause kommt, so nehme ich an, daß sie vorzieht, fortzubleiben, und werde ihr ihre Putzsachen usw. hierher schicken: Ihr aber werdet in Zukunft für sie zu sorgen haben. Was ich den Leuten im allgemeinen in betreff der Unstimmigkeit sagen werde, die mich zur Auflösung des ehelichen Verhältnisses bewogen hat, wird folgendes sein. Ich bin Josiah Bounderby und hatte meine Erziehung; sie ist die Tochter von Tom Gradgrind und hatte ihre Erziehung: und die zwei Pferde wollten nicht zusammengehen. Ich bin, glaube ich, sehr wohl als ein ziemlich ungewöhnlicher Mann bekannt: und die Mehrzahl wird leicht genug begreifen, daß es auch eine ziemlich außergewöhnliche Frau sein müßte, die bei dem langen Laufe Spur mit mir halten könnte.«

»Laßt Euch ernstlich ersuchen, Bounderby, die Sache noch einmal zu überlegen«, stellte ihm Gradgrind vor, »ehe Ihr einen solchen Entschluß faßt.«

»Mein Entschluß ist immer gefaßt«, sagte Bounderby, indem er seinen Hut aufsetzte, »und was ich auch tue, ich tue es sofort. Es müßte mich überraschen, daß Tom Gradgrind eine solche Bemerkung an Josiah Bounderby von Coketown richtet, nachdem er soviel von ihm kennt, wie er kennt, wenn mich von Tom Gradgrind noch etwas überraschen könnte, seitdem er sich an sentimentalem Humbug beteiligt. Ich habe Euch meinen Entscheid gegeben und habe nichts mehr zu sagen. Gute Nacht!«

Hiermit ging Mr. Bounderby nach seinem Hause in der Stadt und legte sich zu Bette. Am folgenden Tage, fünf Minuten nach zwölf Uhr, gab er Befehl, Mrs. Bounderbys Sachen sorgsam zu verpacken und in die Wohnung Tom Gradgrinds zu senden, ließ seinen Landsitz zum Privatverkauf ausschreiben und setzte sich wieder auf den Junggesellenfuß.