Achtes Kapitel.


Achtes Kapitel.

Laßt uns abermals den Grundton anschlagen, ehe wir in unserer Melodie fortfahren!

Als Luise um ein halb Dutzend Jahre jünger war, wurde sie eines Tages belauscht, wie sie mit ihrem Bruder ein Gespräch mit den Worten anknüpfte: »Tom, ich sollt‘ mich wundern« – worauf Mr. Gradgrind, der sie belauschte, hervortrat und sagte: »Luise, man muß sich nie wundern!«

Hierin beruhte die Springfeder der mechanischen Kunst und des Geheimnisses, die Vernunft zu erziehen, ohne sich zur Ausbildung der Gefühle und Neigungen herabzulassen. Man muß sich nie wundern! Bringe alle Sachen vermittels Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division in Ordnung und wundere dich nie. »Gebt mir ein Kind«, sagt M’Choakumchild, »das wenigstens allein gehen kann, und ich werde es dahin bringen, daß es sich niemals mehr wundert!«

Nun befand sich zufällig in Coketown neben vielen Kinderchen, die eben erst gehen gelernt hatten, eine beträchtliche Anzahl von Kindern, die dem Schritt der Gegenwart zum Trotz zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig Jahre oder mehr den Normalkindern voraus und auf die schändliche Welt losgegangen waren. Da diese Wunderkinder für jede menschliche Gesellschaft Entsetzen erregende Geschöpfe waren, so zerkratzten sich die achtzehn Glaubenssekten gegenseitig das Gesicht und rauften sich einander die Haare aus, um ein Übereinkommen über die Schritte zu treffen, die sie für die Verbesserung ihrer Charaktere nehmen müßten – was freilich nie zustande kam. Ein überraschender Umstand das, wenn man die glückliche Anwendung der Mittel für das Ziel in Erwägung zieht. Aber obgleich sie in allen begreiflichen und unbegreiflichen (besonders aber den unbegreiflichen) Dingen verschiedener Meinung waren, stimmten sie doch darin ziemlich überein, daß diese unglücklichen Kinder sich nie über etwas wundern dürften. Nummer Eins sagte, man müsse alles aufs Wort glauben. Nummer Zwei sagte, alles müsse nach den Prinzipien der Nationalökonomie erfaßt werden. Nummer Drei schrieb sinnlose Werkchen, worin er bewies, wie das erwachsene gute Kind von selbst die Sparkasse benutze und das erwachsene schlimme Kind unumgänglich zur Deportation verurteilt würde. Nummer Vier machte unter dem kläglichsten Vorwand, ein rechter Schalk zu sein (während sie eigentlich recht kläglich war), die seichtesten Ansprüche, ganze Fallgruben von Wissenschaften zu bergen. Es sei Pflicht, die Kinder dorthin zu leiten und hineinzuschmuggeln. Alle diese Kinder stimmten jedoch darin überein, daß sie sich nie wunderten.

Es befand sich eine Bibliothek in Coketown, zu der der allgemeine Zutritt leicht war. Mr. Gradgrind quälte sich viel darüber, was die Leute in dieser Bibliothek lasen: ein Punkt, worüber kleine Flüsse tabellarischer Verzeichnisse zu gewissen Perioden in den heulenden Ozean von tabellarischen Verzeichnissen flössen, in dessen Tiefen noch kein Taucher hinabgefahren und wieder glücklich heraufgekommen war. Es war recht entmutigend und eine traurige Tatsache, daß selbst diese Leser sich immer wieder wunderten. Sie wunderten sich über die menschliche Natur, die menschlichen Leidenschaften, die menschlichen Hoffnungen und Befürchtungen, über die Kämpfe, Siege und Niederlagen, über die Sorgen, Freuden und Bekümmernisse und über Leben und Sterben gewöhnlicher Männer und Frauen. Nach fünfzehnstündiger Arbeit setzten sie sich hin, bloße Märchen über Männer und Frauen zu lesen, die ihnen mehr oder weniger glichen, und über Kinder, die den ihrigen mehr oder weniger gleich kamen. Robinson nahmen sie sich mehr als Euklid zu Herzen, und sie schienen überhaupt mehr Erholung bei Goldsmith als bei Adam Riese zu finden. Mr. Gradgrind hatte sich in Schrift und Wort fortwährend mit diesem Ergebnis beschäftigt, und er konnte nie herausbringen, wie dieses unerklärbare Phänomen dabei herauskam.

»Das Leben ist mir zuwider, Lu. Ich hasse es ganz und gar, und ich hasse jeden Menschen, dich ausgenommen«, sagte der unnatürliche kleine Thomas Gradgrind während der Abenddämmerung in der »Friseurstube«.

»Du hassest doch nicht Cili, Tom?«

»Ich hasse es, sie Jupe nennen zu müssen. Und sie haßt mich«, sagte Tom verdrießlich.

»Nein, das tut sie gewiß nicht, Tom.«

»Sie muß«, sagte Tom. »Sie muß unsere ganze Sippschaft hassen und verabscheuen. Man wird sie eher stumpfsinnig machen, als daß man mit ihr zurechtkommt. Sie wird schon so gelb wie Wachs und so dumm wie – ich.«

Der kleine Thomas führte solche Reden, indessen er rittlings auf einem Stuhl vor dem Feuer saß, die Arme auf die Lehne gestützt und mit dem Gesicht in die Arme vergraben. Seine Schwester saß in dem dunklen Winkel am Ofen, bald ihn und bald die hellen Funken betrachtend, wie sie auf den Herd flogen.

»Was mich betrifft«, sagte Tom, und zerwühlte mit verzweifelter Hand sein Haar nach allen Richtungen. »Ich bin ein Esel, ja, das bin ich. Ich bin so eigensinnig wie nur einer sein kann und dümmer wie irgendeiner. Ich bin so störrisch wie ein Esel und möchte ausschlagen wie ein solcher.«

»Doch nicht auf mich los, Tom?«

»Nein, Lu, dir würde ich nichts zuleide tun. Ich habe mit dir gleich von Anfang an eine Ausnahme gemacht. Ich weiß nicht, was dieses – verdammte, abscheuliche Kerkerloch – ohne dich sein würde.« Tom hatte eine kleine Pause gemacht, um solchen genügend schmeichelhaften und bezeichnenden Ausdruck für das väterliche Dach zu finden und fühlte sich tatsächlich momentan ein bißchen erleichtert.

»Wirklich, Tom? Meinst du wirklich?«

»Sicher, es ist mein Ernst. Wozu nützt es aber, davon zu sprechen?« entgegnete Tom, sich das Gesicht am Rockärmel reibend, als wollte er sich ins Fleisch beißen, um dieses in Einklang mit seiner Gemütsverfassung zu bringen.

»Sieh, Tom«, sagte seine Schwester, nachdem sie eine Weile die Funken schweigend betrachtet hatte, »da ich immer älter und größer werde, sitze ich oft da, mich wundernd und nachdenkend, wie unglücklich ich doch bin, daß ich dich mit unserm elterlichen Hause nicht besser versöhnen kann. Ich weiß nicht, was andere Mädchen können. Ich kann dir nichts vorsingen oder vorspielen. Ich kann kein Gespräch mit dir führen, um deinen Geist zu erheitern; denn ich sehe nichts Unterhaltendes und ich lese keine unterhaltenden Bücher, daß es dir zum Vergnügen gereichen könnte, wenn ich mit dir darüber spräche, wenn du der Ausspannung bedürftig bist.«

»Mir geht es doch genau so. Ich bin in dieser Beziehung ebenso schlimm daran, und ich bin noch dazu ein Esel, was du nicht bist. Da sich Vater einmal entschlossen hat, aus mir einen Gauner oder einen Esel zu machen und ich kein Gauner bin, so ist doch klar, daß ich ein Esel werden muß. Und das bin ich auch«, sagte Tom verzweiflungsvoll.

»Es ist sehr schade«, sagte Luise nach einer zweiten Pause, bedächtig aus dem dunklen Winkel hervorsprechend, »es ist jammerschade. Es ist sehr, sehr schlimm für uns beide.«

»Ach du«, sagte Tom, »du bist ein Mädchen, Lu, und ein Mädchen hilft sich besser heraus als ein Knabe. Ich sehe nicht, daß dir etwas abgeht. Du bist das einzige Vergnügen, das ich habe. – Du kannst selbst diesen Ort aufheitern – und du kannst mich immer führen, wie es dir gefällt.«

»Du bist ein lieber Bruder, Tom, und solange du glaubst, ich kann das alles, so liegt mir nichts daran, es besser zu verstehen. Obwohl ich es besser verstehe, und das tut mir sehr leid.« Sie ging zu ihm und küßte ihn und ging wieder in ihren Winkel zurück.

»Ich wollte, ich könnte alle Tatsachen sammeln, von denen wir so viel hören«, sagte Thomas, trotzig mit den Zähnen knirschend, »und alle Figuren samt den Leuten, die sie erfunden haben, und ich wollte, ich könnte tausend Fässer Pulver unter sie stellen und sie allesamt in die Luft sprengen. Aber wenn ich zu dem alten Bounderby komme, dann will ich mich schon rächen.«

»Dich rächen, Tom?«

»Ich werde mir ein wenig gütlich tun und herumschlendern und mir manches ansehen und manches hören. Ich werde mich für die Weise entschädigen, in der ich erzogen worden.«

»Täusche dich nur vorderhand nicht, Tom. Mr. Bounderby denkt wie Vater und ist noch weit grober und nicht halb so gut, wie er ist.«

»O!« sagte Tom lachend, »daran liegt mir nichts. Ich weiß schon, wie ich den alten Bounderby herumzukriegen und zu nehmen habe.«

Ihre Schatten zeichneten sich auf der Wand ab, aber die Schatten der hohen Bücherschränke liefen an der Wand und auf der Zimmerdecke ineinander, gleich als ob das Gewölbe einer dunklen Höhle über Bruder und Schwester hinge. Nun hätte aber eine schwärmerische Einbildungskraft (wenn solch verräterisches Ding sich dort hätte einschleichen können) leicht herausgedeutet, daß der fragliche Schatten der ihres Gespräches und seiner mehr und mehr hereindrohenden Verschwisterung mit ihrer Zukunft sei.

»Und was ist deine große Besänftigungsmethode, Tom? Ist sie ein Geheimnis?«

»O«, sagte Tom, »wenn es ein Geheimnis ist, so ist es nicht schwer zu erraten. Du selbst bist das Besänftigungsmittel. Du bist Mr. Bounderbys kleiner Liebling, sein Nesthäkchen. Für dich tut er alles. Wenn er etwas Unangenehmes zu mir sagt, so brauche ich ihm nur zu sagen: ›Meine Schwester Lu wird sich darüber ärgern und bös sein, Mr. Bounderby. Sie hat mir immer gesagt, Sie würden sicherlich nachsichtiger mit mir sein, als der –.‹ Wenn das ihn nicht herumkriegt, so weiß ich nicht, was sonst.«

Nachdem er eine Weile auf eine Antwort gewartet und keine bekommen hatte, fiel Tom ermüdet in die Wirklichkeit zurück, wand sich gähnend an der Stuhllehne herum und brachte seine Locken immer mehr in Unordnung, bis er am Ende plötzlich aufblickte und fragte:

»Schläfst du, Lu?«

»Nein, Tom. Ich sehe dem Feuer zu.«

»Es scheint, daß du mehr daran zu sehen findest, als ich jemals darin entdecken konnte«, sagte Tom. »Vermutlich wieder einer der Vorteile, die ein Mädchen vor uns voraus hat.«

»Tom«, fragte seine Schwester bedächtig und in sonderbarem Tone, als ob sie ihre Frage aus dem Feuer herausbuchstabierte, in dem die Schriftzüge übrigens nicht ganz deutlich zu sein schienen, »Tom, macht dir denn die Aussicht auf die Übersiedlung zu Mr. Bounderby irgendwelche Freude?«

»Nun«, erwiderte Tom, seinen Stuhl zurückschiebend und aufstehend, »es hat wenigstens etwas Gutes: es bringt mich von Haus fort.«

»Es hat wenigstens etwas Gutes«, wiederholte Luise in dem vorigen sonderbaren Tone, »es bringt dich von Haus fort. Ja.«

»Freilich tut es mir dann auch wieder sehr leid, Lu, dich zu verlassen, und besonders dich hier zu lassen. Aber du weißt ja, gehen muß ich, ich mag wollen oder nicht, und es ist doch besser, ich gehe an einen Ort, wohin ich dir immerhin noch erreichbar bleibe, als an einen Platz, wo ich diesen Vorteil ganz und gar verlieren müßte. Siehst du das nicht ein?«

»Jawohl, Tom.«

Die Antwort, obwohl entschieden, hatte so lange auf sich warten lassen, daß Tom hingehen und auf ihre Stuhllehne sich hatte stützen können, um das Feuer, das die Schwester so sehr in Anspruch nahm, auch einmal von ihrem Gesichtspunkte aus zu betrachten und zu sehen, was er etwa daraus entnehmen könne.

»Abgesehen davon, daß es ein Feuer ist«, sagte Tom, »schaut es mich so dumm und ungereimt an, wie jedes andere Ding. Was siehst du denn darin? Doch keinen Zirkus?«

»Ich sehe gar nichts Besonderes darin, Tom. Aber wie ich so hineingeschaut, habe ich mich gewundert über dich und mich, wenn ich daran denke, daß wir einmal beide erwachsen sein werden.«

»Hast dich schon wieder einmal gewundert!« sagte Tom.

»Ich habe so unlenksame Gedanken«, erwiderte die Schwester, »daß sie sich notwendig verwundern müssen.«

»Aber ich bitte dich, Luise«, sagte Mrs. Gradgrind, die unbemerkt die Tür geöffnet hatte, »laß das um Gottes willen, du leichtsinniges Mädchen; oder dein Vater wird mich es nicht of genug hören lassen können. Und Thomas, es ist wirklich eine Schande, wenn mein armer Kopf mich beständig so schmerzt, daß ein Junge von deiner Erziehung, dessen Ausbildung so viel gekostet hat wie die deine, seine Schwester noch aufmuntert, sich zu wundern, da du doch weißt, daß dies dein Vater ausdrücklich verboten hat.«

Luise stellte Toms‘ Beteiligung an dem Vergehen in Abrede. Aber ihre Mutter stopfte ihr mit der schlußgültigen Antwort den Mund: »Luise, sprich mir nichts dagegen bei meinem gegenwärtigen Gesundheitszustand; denn wärest du nicht von einem andern dazu verführt worden, so würde es ja moralisch und physisch unmöglich sein, daß du dergleichen getan haben könntest.«

»Es hat mich niemand dazu verführt, Mutter, als der Anblick der roten Funken, wie sie aus dem Feuer fallen, erbleichen und sterben. Es hat mich denken machen, wie kurz denn doch am Ende mein Leben sein werde, und wie wenig ich darin zu erreichen vermag.«

»Unsinn!« sagte Mrs. Gradgrind, und wurde beinahe energisch. »Unsinn! Steh nicht länger so da und schwatze mir kein solches Zeug mehr vor, Luise. Du weißt doch, daß dein Vater, wenn es ihm je zu Ohren kommen sollte, er gar keine Ruhe mehr geben würde. Und das nach all der Mühe, die man sich mit dir gegeben hat! Nach all den Vorlesungen, die du besucht und den Experimenten, die du mit angesehen hast! Ich habe doch selbst, während meine ganze rechte Seite starr war vor Kälte, deinen Lehrer über Kombustion, Kalzination und Kalorifikation, und ich kann wohl sagen über jede Art von Ation, dich unterrichten hören. Das konnte eine arme schwache Person beinahe von Sinnen bringen; so wurde dir das einexerziert. Und nun muß ich von dir solches unsinnige Geschwätz von Asche und Funken vernehmen!« Zuletzt sank Mrs. Gradgrind auf einen Stuhl und entlud sich, ehe sie unter dem Gewicht dieser bloßen Schatten von Tatsachen zusammensank, ihres stärksten Arguments: »Ja wahrlich«, sagte sie, »ich wünschte, ich hätte nie Kinder gehabt, und dann solltet ihr einmal erfahren haben, was ihr ohne mich hättet anfangen wollen!«

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Cili Jupe führte zwischen Mr. M’Choakumchild und Mrs. Gradgrind kein angenehmes Leben und geriet in den ersten Monaten ihrer Probezeit manchesmal in die Versuchung, davonzulaufen. Den ganzen Tag hindurch fiel ein gewaltiger Hagel von Tatsachen, und das Leben ward ihr im allgemeinen wie ein so dicht vollgepfropftes Rechenbuch entfaltet, daß sie ohne einen gewissen Zwang sicher davongelaufen wäre.

Es ist ein beklagenswerter Gedanke; aber dieser Zwang war nicht das Resultat der Arithmetik, sondern trotz aller Berechnung selbst auferlegt und machte alle Wahrscheinlichkeitstabellen zu schanden, die irgendein Statistiker aus den Prämissen hätte zusammenstellen können. Das Mädchen lebte dem Glauben, ihr Vater habe sie nicht gänzlich verlassen. Sie nährte die Hoffnung, daß er zurückkommen werde, und vertraute fest, daß es ihn glücklicher machen wird, wenn sie bleibe, wo sie war. Die jämmerliche Unwissenheit, mit der Jupe an diesen Trost sich klammerte und die höhere Beruhigung verschmähte, mittels einer richtigen arithmetischen Basis zur vollen Intelligenz zu gelangen, daß ihr Vater ein unnatürlicher Vagabund sei, erfüllte Mr. Gradgrind mit Bedauern. Doch was war zu tun? M’Choakumchild berichtete, daß sie einen schwerfälligen Kopf für Zahlen habe; daß sie, nachdem sie einmal einen allgemeinen Begriff von dem Globus gefaßt hatte, so gut wie gar kein Interesse für seine genaue Ausmessung empfand; daß sie in der Erlernung von Daten äußerst langsam war, wenn nicht ein erschütterndes Ereignis damit in Verbindung stand; daß sie in Tränen ausbrechen konnte, wenn man sie aufforderte, den Preis von 247 Musselinhauben à 14,5 Pence, unmittelbar (durch Kopfrechnen) anzugeben, daß sie in der Schule so weit wie möglich, zurück war, daß sie nach einem achtwöchentlichen Unterricht in der Staatswirtschaft erst gestern von einem Dreikäsehoch verbessert werden mußte. Sie hatte nämlich auf die Frage: »Was ist das erste Prinzip dieser Wissenschaft?« die alberne Antwort gegeben: »Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu.«

Mr. Gradgrind bemerkte mit Kopfschütteln, das sei alles sehr schlimm. Es zeige eben, wie nötig es sei, sie fort und fort mahlen zu lassen in der Mühle des Wissens, durch Systeme, Listen, Blaubücher, Statistiken und Tabellenverzeichnisse von A bis Z. Jupe müsse also »tüchtig angehalten werden«. So ward denn Jupe tüchtig angehalten, wurde trauriger, aber nicht gelehrter.

»Es muß doch herrlich sein, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, Miß Luise«, sagte sie eines Abends, als Luise sich bestrebte, ihre verworrenen Begriffe für den nächsten Tag etwas klarer zu machen.

»Meinst du?«

»Ich würde so vieles wissen, Miß Luise. Alles was mir jetzt schwerfällt, würde dann so leicht sein.«

»Du würdest darum nicht besser daran sein, Cili.«

Cili äußerte nach einer kleinen Zögerung: »Ich würde nicht schlimmer daran sein.« Worauf Miß Luise antwortete: »Das weiß ich nicht.«

Beide Mädchen hatten bisher sich wenig miteinander unterhalten! einmal, weil das Leben in Stone Lodge einförmig wie eine Maschine sich fortbewegte, den gesellschaftlichen Umgang erdrosselte; dann auch, weil ihnen persönliche Unterhaltung verboten worden war, mit Rücksicht auf Cilis frühere Laufbahn. So waren sie sich noch immer fast fremd. Cili, deren dunkle Augen verwundert auf Luises Gesicht ruhten, war im Zweifel, ob sie noch etwas sagen oder schweigen sollte.

»Du bist meiner Mutter nützlicher und angenehmer, als ich es je sein kann«, fuhr Luise fort. »Du bist dir selbst angenehmer, als ich es mir bin.«

»Aber bitte, Miss Luise«, entgegnete Cili, »Ich bin – ach, gar so dumm.«

Luise bedeutete ihr mit einem helleren Lachen als gewöhnlich, daß sie mit der Zeit klüger werden würde.

»Sie wissen nicht«, sagte Cili halb weinend, »was für ein dummes Mädchen ich bin; während der ganzen Schulzeit mache ich Fehler. Ich werde von Mr. und Mrs. Choakumchild immer wieder aufgerufen, nur um regelmäßig Fehler zu machen. Ich kann sie nicht vermeiden, sie scheinen mir so natürlich.«

»Nun Cili, meinst du, daß Mr. und Mrs. M’Choakumchild sich nie irren?«

»Oh nein«, erwiderte sie lebhaft, »sie wissen alles ganz genau.«

»Sag mal, worin hast du dich denn geirrt?«

»Ich schäme mich fast, es zu sagen«, sagte Cili zögernd. »Aber erst heute zum Beispiel setzte uns Mr. M’Choakumchild die ›natürliche Wohlfahrt‹ auseinander.«

»Es muß wohl ›nationale Wohlfahrt‹ heißen«, bemerkte Luise.

»Ja, das war’s. – Aber ist’s nicht dasselbe?« fragte sie furchtsam.

»Du würdest richtiger ›nationale‹ gebrauchen, da er sich so ausdrückte«, entgegnete Luise mit der ihr eigentümlichen gelassenen Verhaltenheit.

»Nationale Wohlfahrt. Nun, sagte er, dieses Schulzimmer ist eine Nation und besitzt an Geld fünfzig Millionen. Ist das nicht eine glückliche Nation? Mädchen Nummer Zwanzig, ist das nicht eine glückliche Nation und befindest du dich nicht in einem Zustand des Gedeihens?«

»Was sagtest du darauf?« fragte Luise.

»Ich sagte, Miss Luise, daß ich es nicht wisse. Ich meinte, ich könnte nicht wissen, ob es eine glückliche Nation sei und ob ich mich in einem Zustande des Gedeihens befände, bis ich wüßte, wer denn eigentlich das Geld hätte und ob etwas davon mein wäre. Aber das gehörte nicht zur Sache. Es war durchaus nicht in den Zahlen enthalten«, sagte Cili, sich die Augen trocknend.

»Da hast du dich gröblich geirrt«, bemerkte Luise.

»Ja, Miss Luise, jetzt weiß ich, daß ich es tat. Mr. M’Choakumchild sagte hierauf, er wolle mich nochmals vornehmen. Er sagte nun, dieses Schulzimmer sei eine unendlich große Stadt, worinnen sich eine Million Einwohner befände. Von diesen stürben im Verlauf eines Jahres nur fünfundzwanzig in den Straßen an Hunger. Was hast du zu diesem Tatsachenverhältnis zu sagen? Darauf meinte ich, weil ich es eben nicht besser wußte, daß es für die, die verhungerten, geradeso traurig sei, ob die übrigen noch eine Million oder eine Million Millionen zählten. Und das war ebenfalls falsch.«

»Freilich war es das.«

»Dann sagte Mr. M’Choakumchild, er wolle mich zum dritten Male vornehmen. Er sagte nun, ›hier ist also die Stotteristik‹–«

»Statistik«, verbesserte Luise.

»Jawohl, Miss Luise – das erinnert mich immer an das Stottern, was auch zu meinen Versehen gehört – Statistik der Unfälle zur See. Ich setze jetzt den Fall, sagte Mr. M’Choakumchild, daß hunderttausend Personen in einer bestimmten Zeit große Seereisen unternehmen, und von ihnen ertrinken oder verbrennen bloß fünfhundert. Wie viel Prozent macht das aus? Worauf ich antwortete, Miss«, hier schluchzte Cili laut auf, da sie sich mit äußerster Zerknirschung des größten Versehens anklagte, »worauf ich antwortete: gar keine!«

»Gar keine, Cili?«

»Gar keine, Miss – für die Verwandten und Freunde der Umgekommenen. Ich werde nie etwas lernen«, sagte Cili, »das Schlimmste dabei ist aber, daß, obgleich mein armer Vater so sehr wünschte, daß ich etwas lernen möchte, und obgleich ich es selbst so gern möchte, weil es sein Wunsch war, ich doch fürchte, keine Neigung dafür zu haben.«

Luise betrachtete den hübschen, bescheidenen Kopf, wie er sich verschämt niedersenkte, bis er sich wieder erhob, um ihr ins Gesicht zu blicken. Darauf fragte sie:

»Hat dein Vater selbst so viel gewusst, Cili, daß er wünschte, du möchtest gut unterrichtet werden?«

Cili zögerte mit einer Antwort und ließ deutlich merken, daß sie ein verbotenes Gelände betreten. Luise aber fügte hinzu: »Niemand hört uns, und selbst wenn es der Fall wäre, so würde niemand in einer so harmlosen Frage etwas Unartiges sehen.«

»Nein, Miss Luise«, antwortete Cili also ermutigt und schüttelte den Kopf, »Vater wußte in der Tat sehr wenig. Es ist schon viel, daß er schreiben konnte, und es ist noch mehr, als Leute seiner Art gewöhnlich können, daß er imstande war, das von ihm Geschriebene zu lesen – obgleich es für mich ganz deutlich war.«

»Und deine Mutter?«

»Vater sagte, sie war sehr klug. Sie starb, als ich geboren wurde. Sie war«, Cili machte die schreckliche Mitteilung mit nervöser Aufregung, »sie war eine Tänzerin.«

»Hat dein Vater sie geliebt?« Luise stellte all diese Fragen mit jenem heftigen, wilden und unsteten Interesse, das ihr eigen war – ein Interesse, das sich einem verbannten Wesen gleich verirrt hatte und sich in einsamen Orten verbarg.

»O ja! So zärtlich wie er mich liebte. Zuerst liebte mich Vater bloß um ihretwillen. Er schleppte sich mit mir herum, als ich noch ein kleines Kindchen war. Seit jener Zeit sind wir nie getrennt gewesen.«

»Und doch hat er dich jetzt verlassen, Cili?«

»Bloß zu meinem Besten. Niemand versteht ihn wie ich und niemand kennt ihn so wie ich. Als er mich zu meinem Wohle verließ – er würde mich nie seines Wohles wegen verlassen haben – hat ihm, das weiß ich wohl, diese schwere Notwendigkeit beinahe das Herz gebrochen. Er wird nicht einen einzigen Augenblick glücklich sein, bis er nicht zurückkommt.«

»Erzähle mir mehr von ihm«, sagte Luise. »Ich werde dich auch nie mehr darum befragen. Wo wohntet ihr?«

»Wir reisten im Lande umher und hatten keinen bestimmten Aufenthaltsort. Vater ist«, Cili lispelte das grauenhafte Wort, »ein Clown.«

»Der die Leute lachen macht?« sagte Luise mit einem Nicken des Verständnisses.

»Jawohl. Zuweilen wollte aber niemand lachen, und dann pflegte Vater zu weinen. In letzter Zeit geschah es öfter, daß man nicht lachen mochte, und er pflegte ganz verzweifelt nach Hause zu kommen. Vater gleicht nicht den andern Leuten. Die, die ihn nicht so gut wie ich kannten und ihn nicht so zärtlich wie ich liebten, mochten denken, daß er nicht bei Sinnen war. Zuweilen spielten sie ihm einen Possen. Sie ahnten aber nicht, wie sehr er das empfand und wie es ihn niederdrückte, wenn er mit mir allein war. Er war weit, weit furchtsamer, als sie meinten.«

»Und du warst in allem sein Trost?«

Sie nickte bejahend, während die Tränen über ihr Gesichtchen niederströmten. »Ich hoffe es, und Vater sagte, daß ich es war. Weil er so scheu und furchtsam wurde, und weil er sich so arm, schwach, unwissend und hilflos (so pflegte er sich selbst zu nennen) fühlte, darum wünschte er, daß ich sehr viel wissen und von ihm ganz verschieden sein möchte. Ich pflegte ihm vorzulesen, um ihn zu erheitern, und er fand viel Vergnügen daran. Die Bücher waren unpassend – ich darf sie hier ja nicht mal nennen – wir wußten aber nicht, daß sie etwas Arges enthielten.«

»Und er mochte sie?« fragte Luise, ihren forschenden Blick fortwährend auf Cili geheftet.

»O, und wie. Sie lenkten ihn oft ab von Dingen, die ihm wirklich geschadet hatten. Gar oft und oft pflegte er des Nachts all seine Kümmernisse zu vergessen, wenn er voller Neugierde war, ob der Sultan der Dame gestatten werde, in der Erzählung fortzufahren oder ob er sie enthaupten lassen werde, ehe diese zu Ende sei.«

»Und dein Vater war immer gütig? Bis zuletzt?« fragte Luise, indem sie das große Prinzip verletzte und sich sehr verwunderte.

»Immer, immer!« entgegnete Cili, die Hände zusammenschlagend. »Gütiger und gütiger, als ich es sagen kann. Er war bloß eines Abends zornig, und das nicht gegen mich, sondern gegen Merrylegs. Merrylegs«, (sie nannte lispelnd die grauenhafte Tatsache) »ist sein Künstlerhund.«

»Weshalb war er auf den Hund böse?« fragte Luise.

»Vater befahl Merrylegs, als sie von der Vorstellung nach Hause gekommen waren, auf die Lehne von zwei Stühlen zu springen und kreuzweise auf diesen zu stehen – was zu seinen Kunststücken gehörte. – Er sah Vater an, tat es aber nicht gleich. An jenem Abend war Vater alles mißlungen, und er hatte beim Publikum gar keinen Beifall geerntet. Er rief klagend aus, daß selbst der Hund um sein Mißlingen wisse und kein Mitleid mit ihm habe. Darauf schlug er den Hund, und ich war erschrocken und sagte: ›Vater, Vater! Bitte tu dem Tier nichts zuleid, das dich so lieb hat. Der Himmel möge dir verzeihen, Vater, halt ein.‹ Er hielt inne. Der Hund blutete, und Vater warf sich, den Hund in seinen Armen haltend, weinend auf den Boden, und der Hund leckte ihm das Gesicht.«

Luise sah, daß sie schluchzte, und küßte sie, nachdem sie sich ihr genähert hatte, nahm sie bei der Hand und setzte sich an ihre Seite.

»Nun erzähle mir noch, wie dein Vater dich verlassen hat, Cili. Da ich dich bereits so viel gefragt habe, sage mir auch das Ende davon. Wenn jemand dabei zu tadeln ist, dann bin ich es und nicht du.«

»Meine liebe Miß Luise«, sagte Cili, bedeckte ihre Augen und schluchzte fortwährend. »Ich kam an jenem Nachmittag aus der Schule nach Hause und traf den armen Vater, der ebenfalls gerade vom Zirkuszelt nach Hause gekommen war. Er saß beim Feuer, sich krümmend, als ob er Schmerzen empfände. Ich sagte zu ihm: ›Hast du dich verletzt, Vater?‹ (wie es oft geschah, und das kommt bei Zirkusleuten häufig vor), worauf er sagte: ›Ein wenig, mein Herz!‹ Als ich mich dann niederbeugte und ihm ins Gesicht blickte, sah ich, daß er weinte. Je mehr ich zu ihm sprach, desto mehr verbarg er sein Gesicht. Zuerst schüttelte er sich heftig und sagte nichts als: ›Mein Herz! Mein Lieb!‹«

Da kam Tom träge herbeigeschlendert und starrte die beiden mit einer Kälte an, die kein besonderes Interesse für etwas anderes als sich selbst verriet, und im Augenblick war selbst von diesem Interesse für das eigene Ich nicht viel sichtbar.

»Ich habe Cili bloß einiges gefragt, Tom«, bemerkte seine Schwester, »du brauchst darum nicht fortzugehen. Unterbrich uns aber jetzt nicht gleich, lieber Tom.«

»Oh! sehr wohl!« erwiderte Tom. »Es ist nur, daß Vater den alten Bounderby mit nach Hause gebracht hat, und ich möchte, daß du in das Gesellschaftszimmer kämest. Wenn du nämlich kommst, so dürfte es sich leicht fügen, daß der alte Bounderby mich zu Tisch ladet, und wenn du nicht kommst, so ist keine Hoffnung dafür.«

»Ich werde gleich kommen.«

»Ich werde auf dich warten«, sagte Tom, »um gewiß zu sein.«

Cili fuhr in einem leiseren Tone fort: »Endlich sagte der Vater, daß er abermals das Publikum nicht befriedigt habe und ihm dies jetzt nie gelinge, daß er nur zur Schande und Schmach da sei, und daß ich mich im ganzen ohne ihn besser befunden hätte. Ich sagte ihm alles Liebe, was mir vom Herzen kam. Darauf beruhigte er sich, und ich setzte mich neben ihn und erzählte ihm alles von der Schule und den Dingen, die man daselbst getan oder gesagt hatte. Als ich ihm nichts mehr zu sagen hatte, schlang er die Arme um meinen Nacken und küßte mich recht oft. Dann bat er mich, ihm die Mixtur, deren er sich bediente, für die kleine Verletzung zu holen, und zwar in dem Laden, wo man sie am besten bekam, und der sich am andern Ende der Stadt befand. Dann ließ er mich fort, nachdem er mich abermals geküßt hatte. Als ich die Treppe hinuntergegangen war, kehrte ich nochmals zurück, um ihm noch ein klein wenig Gesellschaft zu leisten, guckte durch die Tür und sagte: ›Lieber Vater, soll ich Merrylegs mitnehmen?‹ Vater schüttelte mit dem Kopfe und sagte: ›Nein, Cili, nein! Nimm nichts mit dir, mein Herz, was mir gehört‹, worauf ich ihn beim Feuer sitzend verließ. Dann erst muß ihm, dem armen, armen Vater der Gedanke gekommen sein, fortzugehen, um etwas zu meinem Wohl zu versuchen; denn als ich zurückkam, war er fort.«

»Hör mal! Eil dich wegen des alten Bounderby, Lu«, warf Tom ein.

»Das ist alles, was ich zu erzählen habe, Miß Luise. Ich bewahre für ihn das Neunkraftöl auf, und ich weiß, daß er zurückkommen wird. Jeder Brief, den ich in der Hand von Mr. Gradgrind sehe, benimmt mir den Atem und blendet meine Augen, denn ich meine immer, er kommt vom Vater oder von Mr. Sleary wegen meines Vaters. Mr. Sleary versprach, sobald er nur von Vater hören sollte, sogleich zu schreiben, und ich habe das Vertrauen zu ihm, daß er Wort halten wird.«

»Mach dich doch endlich auf zum alten Bounderby, Lu!« sagte Tom und pfiff ungeduldig. »Er wird bald fort sein, wenn du dich nicht eilst.«

So oft seitdem Cili vor Mr. Gradgrind in Gegenwart seiner Familie einen Knix machte und mit bebender Stimme fragte: »Ich bitte um Verzeihung, Sir, wenn ich lästig falle – aber – ist noch kein Brief für mich angekommen?« – dann ließ Luise stets die jeweilige Arbeit sinken und harrte ebenso erwartungsvoll auf die Antwort wie Cili selbst. Wenn dann Mr. Gradgrind regelmäßig zur Antwort gab: »Nein, Jupe, nichts dergleichen«, so wiederholte sich das Zittern von Cilis Lippen in dem Gesicht Luises, und ihre Augen folgten Cili mitleidsvoll bis zur Tür. Mr. Gradgrind benutzte solchen Anlaß gewöhnlich zur Belehrung und bemerkte nach Cilis Abgehen, wenn Jupe vom frühesten Alter an gehörig erzogen worden wäre, so würde sie die Grundlosigkeit solcher phantastischen Hoffnungen aus richtigen Prinzipien sich haben demonstrieren können. Dennoch schien es (obwohl nicht ihm, denn er merkte nichts davon), als ob eine phantastische Hoffnung ebensogut wie eine Tatsache sich einwurzeln könne.

Diese Bemerkung muß sich ausschließlich auf Mr. Gradgrinds Tochter beschränken. Was Tom betrifft, so ward aus ihm ein nicht ganz seltenes Musterexemplar der Rechenkunst, das sich als solches gewöhnlich mit Nummer eins abgibt. Was Mrs. Gradgrind anbelangt, so guckte sie, wenn sie überhaupt einmal etwas zu sagen hatte, wie ein Hamsterweibchen aus ihren Umschlagtüchern und bemerkte:

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, wie wird mein armer Kopf geplagt und gemartert durch das beharrliche, ewige und ewige Fragen des Mädchens Jupe wegen ihrer lästigen Briefe. Wahrhaftig, ich scheine dazu bestimmt, verdammt und verurteilt, von Gegenständen umgeben zu sein, die nie ein Ende nehmen wollen. Es ist wirklich ganz schrecklich, daß alles, was mich umgibt, kein Ende nehmen will.«

Bei dieser Stelle fiel Mr. Gradgrinds Blick auf seine klagende Gattin, und unter dem Einfluß dieses winterlichen Stücks Tatsache verfiel sie wieder in Stumpfsinnigkeit.

Siebenunddreißigstes Kapitel.


Siebenunddreißigstes Kapitel.

Es ist ein gefährliches Ding, im Umkreis eines dünkelhaften Prahlers etwas zu sehen, ehe es der Prahler selbst sieht. Mr. Bounderby fühlte, daß Mrs. Sparsit ihm unverschämt zuvorgekommen und der Ansicht war, weiser zu sein als er. Er war unversöhnlich aufgebracht gegen sie, wegen ihrer triumphierenden Entdeckung von Mrs. Pegler. Er drehte diese Vermessenheit von seiten einer Frau in ihrer abhängigen Stellung so lange um und um in seinem Sinne, bis sie im Umdrehen anschwoll wie eine Lawine. Endlich machte er die Entdeckung, daß es bedeuten würde, den größtmöglichen Betrag von krönendem Ruhm aus dieser Verbindung zu gewinnen, dieses Frauenzimmer mit den vornehmen Familienverbindungen los zu werden. Er wollte es in seiner Gewalt haben, zu sagen: »Sie war eine Frau von Familie und wünschte sich an mich zu hängen, aber ich wollte es nicht haben und machte mich von ihr los.« Zu gleicher Zeit würde man Mrs. Sparsit nach Verdienst bestrafen.

Mehr als je von diesem Gedanken erfüllt, kam Mr. Bounderby zum zweiten Frühstück und setzte sich in dem aus früheren Zeiten bekannten Speisezimmer nieder, in dem sein Porträt hing. Mrs. Sparsit saß am Feuer, ihren Fuß in ihrem baumwollenen Fußsacke, und dachte wenig daran, was ihr bevorstand.

Seit der Pegler-Angelegenheit hatte diese edle Dame ihre Teilnahme für Mr. Bounderby mit einem Schleier von ruhiger Melancholie und Ergebenheit umhüllt. Infolgedessen war es ihre Gewohnheit geworden, einen wehmutsvollen Blick anzunehmen, den sie jetzt auf ihren Herrn richtete.

»Was wollt Ihr, Ma’am?« sagte Mr. Bounderby in kurzer und rauher Weise.

»Bitte Sir«, antwortete Mr«. Sparsit, »beißen Sie meine Nase nicht ab.«

»Ihre Nase abbeißen, Ma’am!« wiederholte Mr. Bounderby. »Ihre Nase!« damit wollte er andeuten, wie Mrs. Sparsit wohl begriff, daß es zu diesem Zwecke eine zu ausgebildete Nase sei. Nach dieser beleidigenden Bemerkung schnitt er sich eine Brotkruste ab und warf das Messer mit gewaltsamem Geräusch nieder.

Mrs. Sparsit nahm ihren Fuß aus dem Fußsacke und sagte: »Mr. Bounderby, Sir!«

»Nun, Ma’am?« versetzte Bounderby. »Was starren Sie?«

»Darf ich fragen, Sir«, sagte Mr». Sparsit, »ob Sie diesen Morgen Unannehmlichkeiten gehabt haben?«

»Ja, Ma’am.«

»Darf ich fragen, Sir«, fuhr die beleidigte Frau fort, »ob ich die unglückliche Ursache bin, daß Sie Ihre gute Laune verloren haben?«

»Nun wohl, ich will Ihnen etwas sagen, Ma’am«, erwiderte Bounderby, »ich bin nicht hierhergekommen, um angeschrien zu werden. Ein Frauenzimmer mag noch so hohe Familienbeziehungen haben, und es kann ihr doch nicht gestattet werden, einen Mann in meiner Stellung zu langweilen und zu ärgern, und ich habe nicht Lust, mir das gefallen zu lassen.« (Bounderby hielt es für nötig, fortzufahren, denn er sah voraus, daß er geschlagen werden würde, sobald er auf Einzelheiten einging.)

Mrs. Sparsit erhob sich erst, dann zog sie ihre koriolanischen Augenbrauen zusammen, legte ihre Arbeit in ihren Korb und brach auf.

»Sir«, sagte sie majestätisch, »es ist offenbar, daß ich Ihnen gegenwärtig im Wege bin. Ich werde mich in mein eigenes Gemach zurückziehen.«

»Erlauben Sie mir, Ihnen die Tür zu öffnen, Ma’am.«

»Danke, Sir, ich kann es selbst tun.«

»Sie sollten es mir lieber erlauben, Ma’am«, sagte Bounderby, indem er an ihr vorüberging und seine Hand auf das Schloß legte, »weil es mir Gelegenheit verschaffen wird, Ihnen ein Wort zu sagen, ehe Sie gehen. Mrs. Sparsit, ich glaube, Sie sind hier beengt, nicht wahr? Es scheint mir, daß es unter meinem niedrigen Dache schwerlich genug Raum gibt für eine Dame von Ihrem Talent, sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen.«

Mrs. Sparsit warf ihm einen Blick der finstersten Verachtung zu und sagte mit großer Höflichkeit: »Wirklich, Sir?«

»Ich habe seit den letzten Ereignissen darüber nachgedacht, sehen Sie, Ma’am«, sagte Bounderby; »und es scheint nach meinem unmaßgeblichen Urteile –«

»O, bitte, Sir«, unterbrach ihn Mrs. Sparsit mit lebhafter Heiterkeit, setzen Sie Ihr Urteil nicht herab. Jedermann weiß, wie unfehlbar Mr. Bounderbys Urteil ist. Jedermann hat Beweise davon gehabt. Es muß das Thema der allgemeinen Unterhaltung sein. Setzen Sie alles an sich herab, nur Ihr Urteil nicht, Sir«, sagte Mrs. Sparsit lachend.

Mr. Bounderby, sehr rot und unbehaglich, wiederholte:

»Noch einmal, Ma’am, es scheint mir, daß eine andere Art Hauswesen eine Dame von Ihren Fähigkeiten ganz anders zur Geltung bringen würde. Solch ein Hauswesen etwa, wie das Ihrer Verwandten, der Lady Scadgers. Glauben Sie nicht auch, Sie dürften da einige Dinge finden, mit denen Sie sich befassen könnten?«

»Es ist mir nie zuvor eingefallen, Sir«, erwiderte Mrs. Sparsit, »aber jetzt, wo Sie es erwähnen, halte ich es für höchst wahrscheinlich.«

»Dann versuchen Sie es vielleicht einmal, Ma’am«, sagte Mr. Bounderby, indem er einen Umschlag mit einem Scheck darin in ihren kleinen Korb legte. »Sie können nach Gutdünken die Zeit zu Ihrer Abreise wählen, Ma’am. Aber indessen dürfte es wohl für eine Dame mit Ihren Geisteskräften angenehmer sein, ihre Mahlzeiten bei sich selbst zu essen, als daß andere ihr beschwerlich fallen. Ich muß mich wirklich bei Ihnen entschuldigen, daß ich Ihnen solange im Lichte gestanden, obgleich ich nur Josiah Bounderby von Coketown bin.«

»Bitte, das ist nicht der Erwähnung wert, Sir«, erwiderte Mrs. Sparsit. »Wenn dies Porträt sprechen könnte, Sir, so würde es bezeugen, daß ich es schon vor langer Zeit als das Gemälde eines Einfaltspinsels ansah. Aber es hat den Vorteil vor seinem Original voraus, daß es nicht die Fähigkeit besitzt, sich selbst bloßzustellen und andere nicht anzuekeln. Nichts, was ein Einfallspinsel tut, kann Erstaunen oder Unwillen erregen; das Tun und Lassen eines Einfaltspinsels kann nur Verachtung einflößen.«

Während sie dies sagte, bemühte sich Mrs. Sparsit, mit ihren römischen Zügen, wie die auf einer Münze, ihrer Verachtung gegen Mr. Bounderbys Ausdruck zu verleihen, maß ihn mit festem Blicke vom Kopf bis zum Fuße, schwebte verächtlich an ihm vorüber und stieg die Treppe hinauf. Mr. Bounderby schloß die Tür und stellte sich vor das Feuer. Nach seiner alten, unbeherrschten Art versenkte er sich in sein Porträt und in die Zukunft.

Wie weit in die Zukunft? Er sah Mrs. Sparsit einen täglichen Kampf mit den Spitzen aller weiblichen Waffen gegen die neidische, beißende, reizbare, peinigende Lady Scadgers auskämpfen. Sie lag noch immer mit ihrem geheimnisvollen Fuße im Bette und hatte ihr unzureichendes Einkommen ungefähr in der Mitte jedes Quartals aufgezehrt, in einer schlechten, kleinen, luftlosen Wohnung, eine bloße Kammer für einen, nur ein Stall für zwei. Aber sah er mehr? Erhaschte er einen Schimmer von sich selbst, wenn er Bitzer den Fremden vorstellte als den strebsamen jungen Mann, so ergeben den großen Verdiensten seines Herrn, der den Platz des jungen Toms errungen und den jungen Tom beinahe selbst gefangen hätte, zur Zeit, als dieser von verschiedenen Landstreichern weggelockt wurde? Sah er einen schwachen Widerschein seines eigenen Bildes, wie er ein großprahlerisches Testament machte? Fünfundzwanzig Aufschneider sollten nach zurückgelegtem fünfundzwanzigsten Jahre jeder den Namen Josiah Bounderby von Coketown annehmen, für immer in Bounderbyhall speisen, für immer in Bounderbyhäusern wohnen, für immer eine Bounderbykapelle besuchen, für immer sich von einem Bounderbykaplan einschläfern lassen, für immer von einer Bounderbystiftung ernährt werden, sich für immer alle gesunden Magen mit einem Übermaß von Bounderbymischmasch und Bounderbyprahlerei verderben. Hatte er irgendeine Ahnung von dem Tage, fünf Jahre später, als Josiah Bounderby von Coketown an einem Schlaganfalle in der Coketownstraße sterben sollte, und dasselbe köstliche Testament seine lange Laufbahn von Spitzfindigkeiten, Betrügereien, falschen Ansprüchen, schlechtem Beispiel, wenig Nutzen und vielen Prozessen beginnen sollte? Wahrscheinlich nicht. Jedoch das Porträt mußte das alles miterleben.

Auch Mr. Gradgrind saß an demselben Tage und zur selben Stunde gedankenvoll in seinem Zimmer. Wieviel von der Zukunft sah er? Sah er sich selbst, einen ergrauten, verlebten Mann, seine bisher unbiegsamen Ideen der gegebenen Verhältnisse, Tatsachen und Träume dem Glauben der Hoffnung anpassen und der Menschenliebe unterordnen und nicht länger den Versuch machen, diese himmlischen Drei in seinen staubigen kleinen Mühlen zu zermahlen? Erhaschte er einen Blick von sich selbst, wie er deshalb von seinen früheren politischen Verbündeten verachtet wurde? Sah er sie in der Zeit, wo es allgemein anerkannt war, daß die nationalen Gassenkehrer nur miteinander etwas zu tun haben und keine Verpflichtung gegen eine Abstraktion, genannt Volk, anerkennen, das den ehrenwerten Gentleman mit diesem und mit dem und womit nicht, fünf Tage in der Woche bis zu den frühen Morgenstunden drangsalt? Wahrscheinlich hatte er eine starke Vorahnung davon, denn er kannte seine Leute.

Auch Luise betrachtete am Vorabend desselben Tages das Feuer, wie in früheren Zeiten, jedoch mit freundlicherer und demütigerer Miene. Wieviel von der Zukunft mochte vor ihrem Blick aufsteigen? Plakate an den Straßenecken, mit ihres Vaters Namen unterzeichnet, die den verstorbenen Stephen Blackpool, Weber, von dem falschen Verdacht entlasteten, und die Schuld seines eigenen Sohnes veröffentlichten, mit soviel Milderung als seine Jahre und Versuchung (er konnte sich nicht überwinden »Erziehung« hinzuzufügen) beanspruchen durften, gehörten der Gegenwart an. So gehörte Stephen Blackpools Grabstein, mit ihres Vaters Bericht über seinen Tod auch fast zur Gegenwart, denn sie wußte, daß das so sein sollte. Diese Dinge konnte sie leicht sehen. Aber, wieviel von der Zukunft?

Ein Arbeitermädchen, namens Rachael, das nach einer langen Krankheit eines Tages wieder auf den Ruf der Fabrikglocke erschien und wieder zur bestimmten Stunde hin- und zurückging unter den Coketownschen »Händen«; ein Mädchen von gedankenvoller Schönheit, immer schwarz gekleidet, aber milden Sinnes und heiter, selbst munter. Sie allein schien von allen Leuten an dem Orte mit einer gesunkenen, versoffenen Elenden ihres eigenen Geschlechtes Mitleid zu haben, die man zu Zeiten in der Stadt insgeheim sie anbetteln und anrufen sah. Ein Arbeitermädchen, immer arbeitend, aber zufrieden damit, wie mit ihrem natürlichen Lose, bis sie zu alt zu fernerer Arbeit sein würde. Sah Luise das? So etwas sollte geschehen.

Ein verlassener Bruder, viele tausend Meilen entfernt, auf tränendurchnäßtem Papier schreibend, daß ihre Worte zu bald in Erfüllung gegangen, und daß alle Schätze der Welt unbedenklich hingeworfen werden würden für einen Blick auf ihr liebes Gesicht. Später dieser Bruder sich der Heimat nähernd, voll Hoffnung, sie zu sehen, und durch Krankheit aufgehalten; und dann ein Brief von fremder Hand, in dem es heißt: »er starb in dem Hospitale, am Fieber, und starb in Reue und Liebe zu Euch: sein letztes Wort war Euer Name.« Sah Luise diese Dinge? Solche Dinge sollten geschehen.

Sie selbst wieder ein Weib – eine Mutter – liebreich besorgt für ihre Kinder, immer voll Sorge, daß sie Kindlichkeit des Geistes in nicht geringerem Grade als Kindlichkeit des Körpers bewahrten, da sie erkannt, daß jene noch ein schöneres Ding sei und ein Besitz, von dem ein aufgespartes Stückchen ein Segen und ein Glück für den Weisesten? Sah Luise das? So etwas sollte nimmer geschehen.

Aber der glücklichen Cili glückliche Kinder, sie liebend; alle Kinder sie liebend; sie selbst, unterrichtet in kindlichem Wissen; nie denkend, daß eine unschuldige und hübsche Einbildung zu verachten sei; unablässig bemüht, ihre niedriger gestellten Mitgeschöpfe kennenzulernen und ihr maschinenmäßiges Leben der rauhen Wirklichkeit mit jenen idealen Annehmlichkeiten und Genüssen zu verschönen, ohne die das Herz der Kindheit verwelken, die stärkste physische Manneskraft vollkommen moralisch tot, und die klarsten Berechnungen über Nationalreichtum ein Wandgekritzel sein werden, – sie diesen Weg gehend ohne phantastisches Gelübde, oder Unterschrift, oder Brüderschaft, oder Schwesterschaft, oder Bürgschaft, oder Vertrag, oder Putz, oder Armenbasar,14 sondern einfach als eine zu erfüllende Pflicht. Sah Luise diese Dinge von sich selbst? Diese Dinge sollten geschehen.

Lieber Leser! Es hängt von dir und mir ab, ob in unseren beiden Wirkungskreisen ähnliche Dinge geschehen sollen oder nicht. Laßt sie geschehen! Wir werden dann mit leichterem Herzen am Feuer sitzen und seine Asche grau und kalt werden sehen.

Viertes Kapitel.


Viertes Kapitel.

Da Mr. Bounderby nicht Mrs. Grundy war, wer war er denn?

Nun, Mr. Bounderby war so nahe daran, Mr. Gradgrinds Busenfreund zu sein, wie ein Mann, allen Gefühls bar, sich in jener geistigen Verwandtschaft an einen Zweiten anzuschmiegen vermag, der allen Gefühles bar ist. So nahe, oder wenn der Leser es vorziehen sollte, so ferne stand ihm Mr. Bounderby.

Er war ein reicher Mann: Bankier, Kaufmann, Fabrikant und was nicht alles noch. Ein dicker, lärmender Mann mit glotzenden Blicken und einem ehernen Gelächter. Ein Mann aus einem rohen Stoff geschaffen, der ausgedehnt worden zu sein schien, um ihn so umfangreich zu machen. Ein Mann, dessen Kopf und Stirn aufgedunsen war, mit geschwollenen Adern an den Schläfen und einer Haut, die auf seinem Gesicht derartig ausgespannt war, daß es schien, als hielte sie seine Augen offen und als hebe sie seine Augenbrauen empor. Ein Mann mit dem vorwaltenden Anschein, als sei er wie ein Ballon aufgebläht und bereit, aufzufliegen. Ein Mann, der sich nie genug damit brüsten konnte, sich selbst aufgeschwungen zu haben. Ein Mann, der durch seine, wie ein metallenes Sprachrohr klingende Stimme fortwährend seine ehemalige Unwissenheit und Armut ausposaunte. Ein Mann, der ein Renommist der Demut war.

Um ein oder zwei Jahre jünger als sein ausgezeichnet praktischer Freund, sah Mr. Bounderby doch älter aus. Seinen siebenundvierzig oder achtundvierzig Jahren konnten die sieben oder acht noch hinzugefügt werden, ohne daß es jemanden überrascht hätte. Er hatte nicht viel Haare. Man mochte denken, er habe sie weggeschwatzt, und die übriggebliebenen, die sämtlich in Unordnung emporstanden, waren so unordentlich, weil sie durch seine aufgeblasene Ruhmredigkeit fortwährend hin und her getrieben wurden.

Mr. Bounderby stand also in dem förmlichen Gesellschaftszimmer von Stone Lodge auf dem Kaminteppich, wärmte sich am Feuer und erging sich in einigen Bemerkungen darüber, daß gerade sein Geburtstag sei. Er stand vor dem Feuer, teils weil der Frühlingsnachmittag, obgleich die Sonne schien, kühl war, teils weil das Gespenst von feuchtem Mörtel stets in dem Schatten von Stone Lodge spukte, und teils weil er auf diese Weise eine gebieterische Stellung einnahm, von wo aus er Mr. Gradgrind sich unterwerfen konnte.

»Kein Schuh bedeckte meinen Fuß. Was Strümpfe betrifft, so kannte ich dergleichen nicht einmal dem Namen nach. Die Tage brachte ich in einem Graben zu und die Nächte in einem Schweinestalle. Auf diese Weise feierte ich meinen zehnten Geburtstag. Nicht daß ein Graben mir etwas Neues wäre – denn in einem Graben wurde ich geboren.«

Mrs. Gradgrind war ein kleines, dünnes, weißes Bündel von Schals mit winzigen Äuglein und einer ungemeinen sowohl geistigen als körperlichen Schwäche. Sie schluckte andauernd Medizin, ohne daß dies eine Wirkung hervorbrachte, und sie wurde jedesmal, wenn Symptome eines neuen Auflebens sich bei ihr einstellten, unausbleiblich von einem wuchtigen Stück Tatsache, das auf sie niederstürzte, betäubt. Mrs. Gradgrind hoffte, daß der Graben trocken gewesen?

»Nein! So naß wie ein eingetunkter Bissen. Ein Fuß hoch Wasser darin«, sagte Mr. Bounderby.

»Genug um einem Kindchen eine Erkältung zuzuziehen«, bemerkte Mrs. Gradgrind.

»Eine Erkältung? Ich wurde mit einer Lungenentzündung geboren, und das war, wie ich glaube, die einzig mögliche Entzündung«, entgegnete Mr. Bounderby. »Jahrelang, Ma’am, war ich eines der elendesten, beklagenswertesten Kinder, die es je gegeben. Ich war so kränklich, daß ich fortwährend stöhnte und ächzte. Ich war so zerlumpt und schmutzig, daß Sie mich nicht mit einer Zange angefaßt hätten.«

Mrs. Gradgrind warf einen matten Blick auf die Zange, was bei ihrer Blödheit das geeignetste war, was sie tun konnte.

»Wie ich mich durchgewunden, das wüßte ich nicht zu sagen«, meinte Bounderby. »Ich glaube, mit meiner Entschlossenheit. Ich war in meinem nachherigen Leben ein entschlossener Charakter, und so war ich dazumal, wie ich glaube. Da bin ich nun, Mrs. Gradgrind, auf irgendeine Weise und habe niemandem als mir selbst dafür zu danken.«

Mrs. Gradgrind drückte schwach und zart die Hoffnung aus, daß seine Mutter –

»Meine Mutter? Durchgebrannt, Ma’am«, sagte Bounderby.

Mrs. Gradgrind stutzte wie gewöhnlich, brach zusammen und gab nach.

»Meine Mutter überließ mich meiner Großmutter«, sagte Bounderby, »und meiner schärfsten Erinnerung gemäß war meine Großmutter das boshafteste und schlechteste alte Weib, das je gelebt hat. Wenn ich zufällig ein Paar Schuhe erhielt, so war sie imstande, sie mir abzunehmen und für Getränke zu verkaufen. Ja, ich habe mit angesehen, wie diese Großmutter, im Bette liegend, vierzehn Gläser Branntwein vor dem Frühstück sich einverleibte.«

Mrs. Gradgrind, die matt lächelte und kein sonstiges Lebenszeichen von sich gab, sah aus (wie das bei ihr gewöhnlich der Fall war) wie ein leidlich ausgeführtes Transparent einer kleinen Frauenfigur, ohne daß man hinreichendes Licht dahinter angebrannt hatte.

»Sie hielt einen Krämerladen«, fuhr Bounderby fort, »und legte mich in eine Eierkiste. Das war die Wiege meiner Kindheit, eine alte Eierkiste. Sobald ich so groß war, um davonzulaufen, lief ich natürlich davon. Alsdann ward aus mir ein junger Vagabund. Statt daß ein altes Weib mich prügelte und verhungern ließ, ward ich jetzt von allen geprügelt und dem Hunger preisgegeben. Sie hatten recht; für sie war kein Grund vorhanden, anders zu verfahren. Ich war eine Last, ein Krebsschaden und eine Pest. Ich weiß alles recht wohl.«

Sein Stolz, es zu einer Periode seines Lebens zu der großen gesellschaftlichen Auszeichnung gebracht zu haben, eine Last, ein Krebsschaden und eine Pest zu sein, konnte nur durch eine dreimalige laute Wiederholung dieser Renommage befriedigt werden.

»Ich war, wie ich glaube, bestimmt, mich durchzuwinden, Mrs. Gradgrind. Ob ich dazu bestimmt war oder nicht, Ma’am, ich tat es. Ich wand mich durch, obgleich mir niemand an die Hand ging. – Vagabund, Laufjunge, wieder Vagabund, Arbeiter, Träger, Schreiber, erster Geschäftsführer, halber Kompagnon, Josiah Bounderby von Coketown. Das sind die Vorstufen meiner Laufbahn bis zum Gipfel. Josiah Bounderby von Coketown erlernte das ABC an den Aufschriften der Läden und erhielt erst die Fertigkeit, die Zeit auf einem Zifferblatte zu enträtseln, als er die Turmglocke der St.-Giles-Kirche in London unter der Leitung eines versoffenen Krüppels studierte. Das war ein überführter Dieb und ein unverbesserlicher Landstreicher. Erzählt Josiah Bounderby von Coketown von euren Kreisschulen und euren Musterschulen und euren Erziehungsanstalten und eurem ganzen Plunder von Schulen, und Josiah Bounderby von Coketown wird euch einfach sagen: Ganz recht, ganz schön – er hatte nicht diese günstigen Gelegenheiten – laßt uns aber Leute mit harten Köpfen und starken Fäusten haben – die Erziehung, die ihn emporgeschwungen, taugt nicht für einen jeden. Das weiß er recht gut – auf diese Art war nun aber seine Erziehung, und ihr könnt ihn dazu zwingen, kochendes Fett hinunterzuschlucken, aber ihr werdet ihn nie dazu bewegen, die Tatsachen aus seinem Leben zu verheimlichen.«

Erhitzt auf diesem Gipfel seiner Rede angekommen, hielt Josiah Bounderby von Coketown inne. Er hielt gerade inne, als sein ausgezeichnet praktischer Freund, noch immer von den beiden Verbrechern begleitet, ins Zimmer trat. Als sein ausgezeichnet praktischer Freund ihn erblickte, blieb er stehen und warf auf Luise einen vorwurfsvollen Blick, der einfach sagte: »Sieh hier deinen Bounderby!«

»Nun«, polterte Mr. Bounderby, »was gibt’s? Warum sieht der kleine Thomas so sauertöpfig drein?«

Er sprach von dem kleinen Thomas, sah aber dabei Luise an.

»Wir guckten in den Zirkus hinein«, murrte Luise hochmütig, ohne ihre Augen zu erheben, »und Vater erwischte uns.«

»Und, Mrs. Gradgrind«, sagte ihr Gatte pathetisch, »ich hätte meine Kinder ebensogern beim Lesen von Gedichten überraschen mögen.«

»Du lieber Himmel«, wimmerte Mrs. Gradgrind. »Wie konntet ihr nur, Luise und Thomas? Ich verwundere mich über euch. Ich gestehe offen, ihr könntet es einen bereuen lassen, überhaupt je Kinder gehabt zu haben. Ich habe große Lust zu sagen, ich wollte, ich hätte keine. Was ihr aber dann getan haben würdet, das möchte ich gern wissen.«

Diese triftigen Bemerkungen schienen auf Mr. Gradgrind keinen günstigen Eindruck zu machen. Er runzelte ungeduldig die Stirn.

»Als ob ihr bei der Migräne, an der mein Kopf jetzt leidet, die Muscheln, Mineralien und sonstigen Dinge, die für euch angeschafft wurden, nicht hättet anstatt der Zirkusse besichtigen können!« sagte Mrs. Gradgrind. »Ihr wißt so gut wie ich, daß Kinder keine Zirkuslehrer haben, oder Zirkusse in Kabinetts besitzen, oder über Zirkusse Lektionen anhören. Was könntet ihr also möglicherweise von den Zirkussen erfahren? Ihr habt sicherlich genug Beschäftigung, wenn euch darum zu tun wäre. Bei dem gegenwärtigen Zustand meines Kopfes könnte ich mich selbst der Namen von der Hälfte der Tatsachen nicht erinnern, die ihr euch zu merken habt.«

»Das ist es ja eben«, schmollte Luise.

»Sagt mir nicht, daß ist es ja eben; weil es dergleichen nicht sein kann«, sagte Mrs. Gradgrind. »Geht und treibt sogleich etwas Geographiologisches.« Mrs. Gradgrind war nicht gelehrter Natur und schickte ihre Kinder gewöhnlich mit diesem allgemeinen Befehle fort, um ihre Studien fortzusetzen.

Mrs. Gradgrinds Vorrat an Tatsachen befand sich wirklich im allgemeinen in einem jammervollen Zustand der Mangelhaftigkeit. Mr. Gradgrind war aber durch zwei Gründe bewogen worden, diese Dame zur ehelichen Würde zu erheben. Erstens gewährte sie als arithmetisches Problem die höchste Befriedigung, und zweitens war ihr jeder »Unsinn« fremd. Mit Unsinn bezeichnete er Phantasie; und es ist in der Tat wahrscheinlich, daß sie von jedem derartigen Makel ebenso frei war, als je ein menschliches Wesen, das nicht die höchste Stufe des Stumpfsinns erreicht hatte.

Der einfache Umstand, mit ihrem Mann und Mr. Bounderby sich allein zu befinden, war hinreichend, diese bewunderungswürdige Frau abermals zu betäuben, ohne daß sie mit einer andern Tatsache zusammengestoßen wäre. So starb sie abermals hin, und niemand bekümmerte sich um sie.

»Bounderby«, sagte Mr. Gradgrind, und rückte einen Stuhl an das Feuer, »Sie interessieren sich stets so sehr für meine Kinder – besonders für Luise – ich suche daher um gar keine Entschuldigung für meinen Ausspruch, daß diese Entdeckung mich tief kränkt. Ich habe mich (wie Sie wissen) der Ausbildung der Vernunft meiner Kinder systematisch gewidmet. Die Vernunft ist (wie Sie wissen) die einzige Naturgabe, die von der Erziehung ausgebildet werden sollte. Und doch dürfte folgendes aus dem heutigen unerwarteten Ereignis, so unbedeutend es an und für sich sein mag, deutlich werden: Es hat sich etwas in die Köpfe von Thomas und Luisen geschlichen, das bestimmt ist – oder vielmehr das es nicht ist – ja, ich wüßte mich nicht besser auszudrücken, als indem ich sage, das niemals bestimmt war, entwickelt zu werden und woran ihre Vernunft keinen Anteil hat.«2

»Es liegt gewiß nichts Vernünftiges darin, einen Haufen Vagabunden zu betrachten«, erwiderte Bounderby. – »Als ich selbst noch ein Vagabund war, wurde ich von niemandem mit Interesse betrachtet. Das weiß ich wohl.«

»Dann entsteht die Frage«, sagte der ausgezeichnet praktische Vater und heftete die Augen auf das Feuer, – »worin hat diese gemeine Neugier ihren Ursprung?«

»Ich will Ihnen sagen worin. In eitler Phantasie.«

»Ich will nicht hoffen«, sagte der ausgezeichnete Praktikus. »Ich muß indessen gestehen, daß diese Besorgnis mich auf dem Heimwege wirklich ergriffen.«

»In eitler Phantasie, Gradgrind«, wiederholte Bounderby. »Das ist höchst schädlich für jeden Menschen, und verflucht schädlich für ein Mädchen wie Luise. Ich würde Mrs. Gradgrind für meine derben Ausdrücke um Verzeihung bitten, wenn sie nicht wüßte, daß ich keine Bildung besitze. Wer bei mir Bildung erwartet, wird sich getäuscht finden. Ich habe keine gebildete Erziehung genossen.«

»Ob irgend«, sagte Mr. Gradgrind, mit den Händen in den Taschen und die höhlenartigen Augen auf das Feuer gerichtet, »ob irgendwer von den Lehrern oder der Dienerschaft ihnen etwas zugeflüstert hat? Ob Luise oder Thomas etwas gelesen haben mögen? Ob trotz aller Vorsichtsmaßregeln ein unnützes Märchenbuch seinen Weg ins Haus gefunden? Denn so etwas ist doch wahrlich gar seltsam und unbegreiflich bei Gemütern, die durch Regel und Norm von der Wiege auf praktisch ausgebildet wurden.«

»Halt!« rief Bounderby, der während der ganzen Zeit wie früher beim Feuer saß und auf demselben Stück Möbel in herzbrechender Demut zerflossen war. »Sie haben eines von den Kindern jener Landstreicher in der Schule?«

»Cecilie Jupe mit Namen!« sagte Mr. Gradgrind, seinen Freund einigermaßen betroffen anblickend.

»Nun halt!« rief Bounderby abermals. »Wie kam sie hierher?«

»Nun, Tatsache ist, daß ich das Mädchen gerade jetzt zum erstenmal gesehen. Sie kam eigens hierher mit der Bitte, aufgenommen zu werden, da sie nicht eigentlich zur Stadt gehört und – ja Sie haben recht, Bounderby, Sie haben recht.«

»Nun halt!« rief Bounderby nochmals. »Luise hat sie bei ihrer Ankunft gesehen?«

»Luise hat sie sicherlich gesehen; denn sie meldete mir noch das Gesuch. Aber Luise hat sie ohne Zweifel in Mrs. Gradgrinds Gegenwart gesehen.«

»Bitte, Mrs. Gradgrind«, sagte Bounderby, »was war vorgegangen?«

»Ach, ich arme Kranke!« erwiderte Mrs. Gradgrind. »Das Mädchen bedurfte der Schule und Mr. Gradgrind brauchte Mädchen für die Schule: da sagten Luise und Thomas beide, das Mädchen wünsche zu kommen und auch Mr. Gradgrind wolle, daß Mädchen kommen möchten. Wie war es da möglich, ihnen zu widersprechen, bei solchem Tatbestande?«

»Ich will Ihnen nun was sagen, Gradgrind«, rief Bounderby. »Jagen Sie das Mädchen geradezu aus der Schule und damit hat die Geschichte ein Ende.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung.«

»Auf einmal abgetan!« sagte Bounderby, »war mein Wahlspruch von Kindheit auf. Als mir der Gedanke kam, von der Eierkiste und meiner Großmutter davonzulaufen, tat ich es auf der Stelle. Verfahren Sie ebenso. Probieren Sie es auf einmal.«

»Wollten Sie einen Gang machen?« fragte sein Freund. »Ich habe die Adresse des Vaters. Vielleicht hätten Sie nichts dagegen, mit mir nach der Stadt zu gehen.«

»Nicht das geringste«, sagte Mr. Bounderby, »da Sie es auf einmal abmachen wollen.«

Mr. Bounderby warf sich den Hut auf – er warf ihn immer auf, um sich als einen Mann darzustellen, der zu sehr damit beschäftigt war, sich emporzuschwingen, als daß er die Mode hätte studieren können, wie ein Hut aufzusetzen sei – und schlenderte, mit den Händen in der Tasche, in den Vorsaal.

»Ich trage nie Handschuhe«, pflegte er gewöhnlich zu sagen. »Ich hatte keine, als ich die Leiter emporklomm. Würde sonst nicht so hoch gestiegen sein.«

Als er, während Mr. Gradgrind hinaufging, um die Adresse des Vaters zu holen, einige Minuten in dem Vorsaal herumschlendernd zurückgeblieben war, öffnete er die Tür des Studierzimmers der Kinder. Er blickte in jenes helle, mit einer Fußbodendecke belegte Gemach, das ungeachtet seiner Bücher- und Schubladenschränke und seiner mannigfachen gelehrten und wissenschaftlichen Einrichtungen den heiteren Anblick einer Friseurstube gewährte. – Luise lehnte träge am Fenster und sah hinaus, ohne etwas zu sehen, während der kleine Thomas racheschnaubend beim Feuer stand. Adam Smith und Malthus,3 zwei jüngere Gradgrinds, waren bei einer Lektion aufgehoben, und die kleine Jane war, nachdem sie auf ihrem Gesicht vermittels Griffel und Tränen eine ziemliche Masse von feuchtem Pfeifenton fabriziert hatte, über einfachen Brüchen eingeschlafen.

»Ist schon abgemacht, Luise! Schon abgemacht, kleiner Thomas!« sagte Bounderby. »Ihr werdet es nicht wieder tun. Ich stehe gut dafür, daß Vater es vergessen wird. Nun, Luise, das ist einen Kuß wert, nicht wahr?«

»Sie können sich einen nehmen, Mr. Bounderby«, entgegnete Luise nach einer frostigen Pause, ging langsam durch das Zimmer und hob, während sie ihr Gesicht abwandte, ihre Wange zu ihm in unfreundlicher Weise empor.

»Immer mein Goldkindchen! Nicht wahr, das bist du doch, Luise?« sagte Mr. Bounderby. »Adjes, Luise!«

Er ging seines Weges, sie aber blieb an derselben Stelle stehen und rieb sich mit ihrem Taschentuche die Wange, die er geküßt hatte, bis sie feuerrot wurde. Fünf Minuten nachher tat sie noch immer dasselbe.

»Was treibst du denn, Luise?« warnte sie ihr Bruder in verdrießlichem Tone. »Du wirst dir ein Loch ins Gesicht reiben.«

»Du kannst die Stelle mit deinem Federmesser ausschneiden, Tom, wenn du willst. Es würde mich nicht weinen machen.«

  1. Malthus (1766-1834), Volkswirtschaftler, der die bekannten Theorien von der Überbevölkerung aufstellte.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Coketown, wohin die Herren Bounderby und Gradgrind sich jetzt begaben, war ein Triumph der Tatsächlichkeit. Es zeigte sich nicht mehr von Phantasie befleckt, als Mr. Gradgrind selbst. Laßt uns zuerst den Grundton zum Klingen bringen, Coketown, bevor wir in unserm Liede fortfahren.

Es war eine Stadt aus roten Ziegelsteinen, oder von Ziegelsteinen, die rot gewesen wären, wenn Rauch und Asche es gestattet hätten. So aber hatte die Stadt ein unnatürliches, schwarzrotes Aussehen, wie das gemalte Gesicht eines Wilden. Es war eine Stadt von Maschinen und hohen Rauchfängen, aus denen endlose Schlangen fort und fort emporwirbelten und niemals ein Ende nahmen. Dort befand sich auch ein schwarzer Kanal und ein Fluß, der mit einer übelriechenden Farbe purpurn dahinströmte.

Ungeheure Fabrikkasernen-Massen mit öden Fenstern ragten da. Den ganzen Tag hörte man Klirren und Beben. Einförmig fuhr der Stempel der Dampfmaschine auf und nieder, wie der Kopf eines Elefanten in melancholischem Wahnsinn. Diese Stadt enthielt große Straßen, die sich alle einander glichen, und viele kleine Straßen, die sich noch mehr glichen, bewohnt von Leuten, die sich ebenfalls gleich waren, die alle zu denselben Stunden ein- und ausgingen, mit demselben Tritt auf demselben Pflaster, um die nämliche Arbeit zu verrichten, bei denen jeder Tag dem von gestern und morgen gleichkam und jedes Jahr das Duplikat des vergangenen und des künftigen war.

Diese Eigenheiten von Coketown waren überhaupt von der Arbeit, durch die es lebte, unzertrennlich. In grellem Gegensatz dazu stehen jene Bequemlichkeiten des Lebens, die in der ganzen Welt beliebt sind, und die Annehmlichkeiten des Lebens, die an der Dame der Kultur und Gesellschaft, wir wollen gar nicht nachforschen, wieviel Anteil haben. Solch Wesen geselliger Lebensfreude könnte kaum ertragen, auch nur den Namen des erwähnten Ortes nennen zu hören. Der Rest der charakteristischen Eigenschaften war nicht sonderlich belangvoll; es waren folgende:

Man sah in Coketown nichts, was nicht streng arbeitsam war. Wenn die Bekenner einer Religion eine Kapelle daselbst bauten – wie die Bekenner von achtzehn Religionssekten es getan – so machten sie es zu einem frommen Parkhaus aus roten Ziegelsteinen, zuweilen mit einer Glocke (dies aber nur bei besondern Prachtexemplaren) in einem Vogelkäfig an der Spitze. Als einzige Ausnahme stand die neue Kirche da, ein mit Stuckarbeit versehenes Gebäude, mit einem vierkantigen Turm oberhalb des Tores. Dieser Turm endete in vier kurzen Zinnen, die wie geschmückte Stelzen aussahen. Alle öffentlichen Inschriften in der Stadt waren auf gleiche Weise mit harten Schriftzügen in Schwarz und Weiß ausgeführt. Das Gefängnis hätte das Krankenhaus und das Krankenhaus das Gefängnis abgeben können, das Rathaus hätte eins von beiden oder beides zugleich, oder sonst was immer sein können; und all das wegen der Ungereimtheit im Baustil.

Tatsachen, Tatsachen, Tatsachen gaben sich in jedem wesentlichen Anblick der Stadt kund; und Tatsachen, Tatsachen, Tatsachen in jedem nicht wesentlichen. Die Schule von M’Choakumchild war durchgehends Tatsache; die Zeichenschule war durchgehends Tatsache, und die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren lauter Tatsachen. Alles war auch Tatsache, von der Entbindungsanstalt bis zum Kirchhofe. Was man also nicht mit Zahlen beweisen und dartun konnte, daß es auf dem billigsten Markte zu kaufen und auf dem teuersten zu verkaufen war, das hatte keine Existenzberechtigung, das sollte niemals sein, bis zu aller Welt Ende, Amen.

Eine Stadt, die der Tatsächlichkeit so sehr geweiht und so siegreich in deren Aufrechterhaltung war, die gedieh natürlich in hohem Grade? – Nein, doch nicht, nicht besonders. Nicht? Du lieber Himmel!

Nein. Coketown ging aus seinen Schmelzöfen nicht in jeder Beziehung hervor wie Gold, das die Feuerprobe ausgehalten. Erstens waltete in dem Orte das verwirrende Geheimnis: Wer gehört zu den achtzehn Sekten? Mochte es tatsächlich Leute geben, die dazu gehörten – die Arbeiterklasse war jedenfalls nicht dabei. Es machte einen seltsamen Eindruck, wenn man am Sonntagmorgen durch die Straßen schritt. Dann sah man, wie wenige von diesen Leuten durch das barbarische Glockengeklimper, das Kranke und Nervenschwache zum Wahnsinn trieb, au»ihrem eigenen Viertel, aus ihrem eigenen engen Zimmer und von den Ecken ihrer eigenen Straße sich zum Gottesdienst gerufen fühlten. Da lungerten sie träge herum, glotzten auf den Kirchen- und Kapellengang hinüber, als auf ein Ding, mit dem sie durchaus nicht in Berührung standen.

Es war auch nicht der Fremde allein, der das wahrnahm. Es bestand nämlich eine einheimische Gesellschaft in Coketown selbst, dessen Mitglieder man bei jeder Session des Unterhauses mit Entrüstung um einen Parlamentsakt petitionieren hören konnte, damit man diese Leute mit Gewalt religiös machen könnte. Dann kam die Teetotal-Gesellschaft (einer Gesellschaft, die sich aller geistigen Getränke enthält), die sich darüber beschwerte, daß dieselben Leute sich betrinken könnten und durch tabellarische Übersichten zeigten, daß sie sich wirklich betranken. Sie bewiesen bei ihren Teesitzungen, daß keine Beweggründe, weder menschliche noch göttliche (ausgenommen ein Orden) sie dazu bewegen konnte, die Gewohnheit, sich zu betrinken, aufzugeben. Dann kam der Apotheker und Drogist mit andern tabellarischen Übersichten, durch die dargetan wurde, daß sie Opium nehmen würden, wenn sie sich nicht berauschten. Dann kam der erfahrungsreiche Kaplan des Gefängnisses, mit noch mehr tabellarischen Übersichten, die alle sonstigen tabellarischen Übersichten übertrafen. Darinnen zeigte er, daß dieselben Leute zu verrufenen, dem Auge der Welt versteckten Schlupfwinkeln ihre Zuflucht nähmen, wo sie gemeine Lieder hörten und unzüchtige Tänze sahen. Darinnen habe A. B., der nächstens seinen vierundzwanzigsten Geburtstag feiern würde, und der zu achtzehnmonatlicher, einsamer Haft verurteilt worden, sein Ruin begonnen. Das habe A. B. selbst gestanden, allerdings ohne besondere religiöse Ergriffenheit, und er sei der Überzeugung, daß er ohne solche Lasterlokale ein Musterbild der vorzüglichsten Moral geworden wäre.

Dann kamen zu dieser Reihe noch Mr. Gradgrind und Mr. Bounderby hinzu, die beide gerade Coketown durchschritten und beide ausgezeichnet praktisch waren. Sie konnten bei Gelegenheit noch mehr tabellarische Übersichten liefern, die sich auf ihre eigenen persönlichen Erfahrungen gründeten und mit Fällen, die sie sahen und kannten, belegt wurden. Aus diesen Erfahrungen ging natürlich klar hervor – kurz es war das einzig Klare in der Sache – daß eben diese Leute des arbeitenden Volkes insgesamt ein schlechtes Pack wären.

Was Sie, meine Herren, für diese Volksklasse tun würden, die betreffenden Kreise würden doch nie dafür dankbar sein, sie wären eben ein unruhiges Volk, meine Herren. Sie wüßten niemals, was ihnen eigentlich not tut. Sie müßten immer nur das Beste haben, frische Butter kaufen, auf Bohnenkaffe bestehen und nur das beste Fleisch genießen. Aber dabei wären sie doch immer und ewig unzufrieden und unlenksam.

Kurz, es war die Moral des Ammenmärchens.

Es war mal ’ne Alte, was mögt Ihr wohl denken?
Die hatte gelebt nur von Speis‘ und Getränken;
Nur Speis‘ und Getränke das hatt‘ sie zur Kost,
Doch nie war und nimmer die Alte bei Trost.

Ob wohl eine Ähnlichkeit zwischen dem Zustand der Bevölkerung von Coketown und dem der kleinen Gradgrinds obwaltete? Man braucht es wohl bei unserm nüchternen Verstand und bei unserer Zahlenkenntnis heutzutage uns nicht erst zu sagen, daß eins der Urelemente im Dasein der arbeitenden Klasse von Coketown mit Bedacht für viele Jahre unterdrückt wurde? – daß die belebende Freude der Phantasie in ihnen ruhte, daß sie gerne diese Phantasie gesund ausströmen und sich betätigen lassen wollten, statt sie krampfhafter Hysterie preiszugeben? Daß gerade in dem Verhältnis, wie man viel und einförmig arbeitete, das Verlangen nach einer farbig sinnhaften, körperlichen Erquickung rege ward: – Nach einer Erholung, die den Mut und gute Laune fördern sollte, um ihnen Luft zu machen – nach einem anerkannten Festtag, sei es auch nur für einen ehrsamen Tag bei einer rührigen Musikbande – nach einer einfachen Pastete, bei der selbst M’Choakumchild die Hand nicht im Spiel hatte. Solch Verlangen muß und wird Befriedigung erlangen, oder es wird unvermeidlich eine verkehrte Richtung annehmen, es sei denn, daß die Gesetze der Natur aufgehoben würden! –

»Jener Mensch hält sich in Pod’s End auf, und ich weiß nicht genau, wo Pod’s End ist«, sagte Mr. Gradgrind. »Wo ist es, Bounderby?«

Mr. Bounderby wußte, daß es irgendwo in dem untern Teile der Stadt liege; sonst hatte er keine Kenntnis davon. Sie standen daher eine Weile still und schauten sich um.

Währenddem kam gerade von der Straßenecke ein Mädchen mit raschen Schritten und furchtsamen Blicken herbeigelaufen, das von Mr. Gradgrind sogleich erkannt wurde.

»Hallo!« rief er. »Halt! Wohin gehst du? Halt!«

Mädchen Nummer Zwanzig blieb pochenden Herzens stehen und machte einen Knix.

»Was rennst du in den Straßen«, rief Mr. Gradgrind, »in dieser unschicklichen Weise umher?«

»Ich bin – ich bin verfolgt worden«, keuchte das Mädchen, »und ich wollte entwischen.«

»Verfolgt?« wiederholte Mr. Gradgrind. »Wer wird dich verfolgen?«

Die Frage ward durch den farblosen Knaben Bitzer rasch und unerwartet für sie beantwortet, indem er in solch‘ blinder Hast um die Ecke gelaufen kam und so wenig eine Hemmung auf dem Pflaster erwartete, daß er an Mr. Gradgrinds Weste anrannte und in die Straße zurückprallte.

»Was soll das heißen. Junge?« sagte Mr. Gradgrind. »Was treibst du? Wie wagst du es, gegen unsereinen in dieser Weise anzustoßen?«

Bitzer hob seine Mütze auf, die durch den Zusammenstoß auf die Erde geflogen war, trat zurück, fuhr mit den Knöcheln der Hand an die Stirn und gab als Entschuldigung an, daß dies ein Zufall sei.

»Hat dich dieser Knabe verfolgt, Jupe?« fragte Mr. Gradgrind.

»Ja, mein Herr«, sagte das Mädchen mit Sträuben.

»Nein, ich tat es nicht, mein Herr!« rief Bitzer. »Nicht ehe sie von mir weglief. Aber Kunstreiter scheren sich wenig um das, was sie sagen, mein Herr. Sie sind dafür berühmt. Du weißt, daß Kunstreiter dafür berühmt sind, sich nicht um das zu scheren, was sie sagen«, sagte er zu Cili gewendet. »Das ist so allgemein bekannt in der Stadt als – mit Erlaubnis, mein Herr – als die Multiplikationstabelle bei den Kunstreitern unbekannt ist.« Bitzer wollte Mr. Bounderby damit imponieren.

»Er erschreckte mich so sehr«, sagte das Mädchen, »mit den greulichen Fratzen, die er schnitt.«

»Oh«, rief Bitzer. »Oh! Bist nicht wie die andern? Bist nicht von den Kunstreitern? Ich habe sie nicht einmal angesehen, mein Herr. Ich fragte sie, ob sie morgen werde definieren können, was ein Pferd ist und bot mich an, es ihr nochmals zu sagen, und sie rannte davon und ich lief ihr nach, mein Herr, damit sie Bescheid wisse, wenn sie gefragt würde. Wenn du nicht zur Kunstreiterei gehörtest, so würdest du mit deiner Zunge nicht soviel Unheil anstiften.«

»Ihr Beruf scheint unter ihnen schon ziemlich bekannt zu sein«, bemerkte Mr. Bounderby. Sie werden es in einer Woche noch erleben, daß die ganze Schule scharenweise Zaungast sein wird.«

»Wahrlich, ich bin derselben Meinung«, entgegnete sein Freund. »Kehr‘ um, Bitzer, und pack‘ dich nach Hause. Jupe, bleib eine Weile hier. Laß mich noch einmal von dir hören, so davongerannt zu sein, Junge, und du wirst von mir durch den Schulmeister hören. Du verstehst, was ich meine. Marsch, fort!«

Der Knabe hielt in seinem raschen Blinzeln inne, fuhr abermals mit den Knöcheln der Hand an die Stirn, warf einen Blick auf Cili, drehte sich um und zog sich zurück.

»Nun, Mädchen«, jagte Mr. Gradgrind, »bringe mich und diesen Herrn zu deinem Vater. Wir wollen zu ihm gehen. Was hast du in der Flasche da?«

»Gin«, sagte Mr. Bounderby.

»Gott behüte, mein Herr! ’s ist Neunkraftöl.«4

»Was?« rief Mr. Bounderby.

»Neunkraftöl, mein Herr. Um Vater damit einzureiben.« Drauf Mr. Bounderby nach einem kurzen, lauten Gelächter: »Weshalb, zum Teufel, reibst du deinen Vater mit Neunkraftöl ein?«

»Unsere Leute gebrauchens immer, mein Herr, wenn sie sich in der Reitbahn beschädigen«, erwiderte das Mädchen, indem sie über ihre Achsel wegsah, um sich zu vergewissern, daß ihr Verfolger fort sei, »Sie beschädigen sich zuweilen sehr stark.«

»Geschieht ihnen recht«, sagte Mr. Bounderby, »da sie Müßiggänger sind.« Das Mädchen schaute ihm ins Gesicht mit einer Mischung von Staunen und Furcht.

»Beim heiligen Georg!« rief Mr. Bounderby, »als ich noch vier oder fünf Jahre jünger als du war, hatte ich ärgere Beulen aufzuweisen, als ein Zehn-, Zwanzig- oder Vierzigkraftöl hätte heilen können. Ich erhielt sie nicht durch Artistenkunststücke, sondern weil man mich tüchtig durchbläute. Für mich gab es kein Seiltanzen; ich tanzte auf dem bloßen Boden, wobei man mir mit dem Strick aufspielte.«

Mr. Gradgrind war, obgleich ziemlich hartherzig, durchaus nicht so roh wie Mr. Bounderby. Im ganzen betrachtet war seine Natur nicht herzlos. Sie hätte in der Tat sehr herzlich sein können, wenn er nur einmal ein einfaches Versehen in der Arithmetik begangen hätte, die ihm seit Jahren das Gleichgewicht hielt. Er sagte in einem, wie er meinte, beruhigenden Tone, während sie sich nach einer engen Straße zuwandten: »Das ist Pod’s End, Jupe, nicht wahr?«

»Das ist es, mein Herr – und mit Verlaub, mein Herr – das ist das Haus.«

Sie hielt in der Dämmerung vor der Tür eines armseligen, kleinen Wirtshauses, das von fahlen Lichtern erleuchtet war. Es sah so verstört und so jämmerlich aus, als ob es sich aus Mangel an Kunden selbst dem Trunk ergeben hätte, den Weg aller Trunkenbolde gegangen wäre und nun seinem Ende nahe sei.

»Brauchen nur an dem Schenktisch vorüber, mein Herr, und dann die Treppen hinauf. Bitte dann zu warten mit Verlaub, bis ich ein Licht bringe. Sollten Sie einen Hund hören, mein Herr, so wird es nur Merrylegs sein, der nur bellt.«

»Merrylegs und Neunkraftöl«, sagte Mr. Bounderby mit seinem metallenen Gelächter und trat zuletzt ein, »das klingt wunderhübsch für einen, der sich selbst aufgeschwungen!«

  1. nine oils, was eine Mixtur bedeutet, die aus neun Ölgattungen besteht. Sie wurde besonders in England gegen Beulen und Quetschungen benutzt, ist aber schon längst außer Gebrauch.

Sechstes Kapitel.


Sechstes Kapitel.

Das Wirtshaus hieß »Zu den Pegasus-Arms«. Pegasusbeine wäre entsprechender gewesen. Unter dem Flügelroß prangte also auf dem Schilde die Inschrift: Pegasus-Arms in römischen Buchstaben. Und unter der Inschrift wiederum hatte der Maler in einem flatternden Streifen das Motto angebracht:

»Ein gutes Malz gibt gutes Bier,
Komm nur herein, man schenkt es hier.
Ein guter Wein gibt guten Branntwein,
Sei unser Gast, er wird zur Hand sein.«

An der Wand, hinter dem kleinen schmutzigen Ausschank, befand sich unter Glas und Rahmen ein zweiter Pegasus – ein theatralischer – mit Flügeln aus wirklicher Gaze, über und über mit goldenen Sternen beklebt und sein ätherisches Geschirr aus roter Seide gefertigt.

Da es draußen schon zu dunkel geworden war, um das Schild zu sehen, und da es drinnen noch nicht hell genug war, um das Bild zu sehen, so nahmen Mr. Gradgrind und Mr. Bounderby an diesen Idealitäten keinen Anstoß. Sie folgten dem Mädchen einige Winkeltreppen hinauf, ohne jemanden zu begegnen, und blieben im Dunkeln, während sie Licht holen ging. Sie erwarteten jeden Augenblick Merrylegs Stimme erschallen zu hören; aber der ausgezeichnet abgerichtete Hund hatte noch nicht gebellt, als das Mädchen und das Licht miteinander erschienen.

»Vater ist nicht in unserm Zimmer«, sagte sie mit einem Ausdruck tiefer Verwunderung. »Wenn Sie gefälligst eintreten wollten, so würde ich ihn sogleich holen.«

Sie traten ein: und Cili eilte, nachdem sie zwei Stühle für sie hingestellt, mit leichten, raschen Schritten davon. Es war ein schlechtes, armselig eingerichtetes Zimmer, worin ein Bett stand. An einem Nagel hing eine weiße Nachtmütze, mit zwei Pfauenfedern und einem kurzen, aufrechtstehenden Zopfe geschmückt, in der Signor Jupe an selbigem Nachmittag die mannigfachen Vorstellungen mit seinen keuschen Shakespearisierenden Stichelreden und Witzeleien belebt hatte. Sonst konnte nirgends etwas von seiner Garderobe oder ein anderes Merkmal von Jupe selbst oder seiner Beschäftigung wahrgenommen werden. Was Merrylegs anbelangt, so mag man den ehrwürdigen Ahn des wohldressierten Tieres, der sich auf der Arche einschiffte, zufällig aus derselben ausgeschlossen haben, da sich nicht die geringste Spur eines Hundes weder den Augen noch den Ohren in Pegasus-Arms kundgab.

Sie hörten das Auf- und Zuschlagen von den Türen der oberen Zimmer, da Cili von einem in das andere ging, um ihren Vater zu suchen. Bald darauf vernahmen sie Stimmen, die Überraschung ausdrückten. Sie kam rasch wieder in großer Eile heruntergesprungen, öffnete einen abgenützten, wurmstichigen und alten Koffer, mit Fell überzogen, fand ihn leer und blickte, die Hände zusammenschlagend, mit einem bestürzten Gesicht umher.

»Vater muß nach der Bude gegangen sein. Ich weiß nicht, weshalb er dahin gegangen sein sollte, aber er muß da sein. Ich bringe ihn in einer Minute.«

Sie war sogleich ohne Hut fort. Ihre langen, schwarzen Kinderhaare flatterten im Winde.

»Wo denkt sie hin?« sagte Mr. Gradgrind. »Zurück in einer Minute? Es ist mehr als eine halbe Meile.«

Ehe Mr. Bounderby noch antworten konnte, war ein junger Mann an der Tür erschienen, der mit den Worten: »Sie gestatten, meine Herren«, sich vorstellte, und mit den Händen in der Tasche hereintrat. Sein glattrasiertes, mageres und bleiches Gesicht war von einem dichten Wuchs schwarzen Haars beschattet, das dicht um den Kopf gekämmt und in der Mitte gescheitelt war. Seine Beine waren sehr kräftig, aber kürzer als Beine von richtigen Verhältnissen hätten sein sollen. Brust und Nacken hatte er um ebensoviel zu breit, als seine Beine zu kurz waren. Er trug einen Rock von Newmarket5 und eng anliegende Beinkleider; hatte einen Schal um den Hals gewunden, roch nach Brennöl, Stroh, Orangenschalen, Pferdefutter und Sägespänen und sah wie ein höchst sonderbarer Zentaur aus, eine Mischung von Stall und Theater. Wo das eine begann und das andere aufhörte, konnte niemand mit Genauigkeit bestimmen. Dieser Herr war auf den Anschlagzetteln angezeigt als Mr. E. W. B. Childere, der mit Recht wegen seiner kühnen Volten, im »Wilden Jäger in den nordamerikanischen Prärien« berühmt war. Bei diesem beliebten Kunststück stand ihm ein winzig kleiner Knabe mit einem alten Gesicht bei. Dieser Junge, sein Söhnchen, erschien jetzt in seiner Begleitung. Bei besagtem Kunststück ward der Kleine im Kopfstand an einem Fuß rücklings von seinem Vater gepackt, dann über dessen Schultern gehoben und schließlich in des Vaters flacher Hand mit dem Kopf ruhend, die Füße nach oben, getragen. Also ward er in der stürmisch väterlichen Weise gehalten, wie man wilde Jäger ihre Sprößlinge liebkosen sehen kann. Aufgeputzt mit Locken, Blumenkränzen, Flügeln, weißem Wismut und Karminschminke, schwang sich diese hoffnungsvolle junge Persönlichkeit zu einem anmutigen Kupido empor, daß sie das Hauptentzücken des mütterlichen Teils der Zuschauer bildete. Im Privatleben jedoch, wo die Kennzüge seines Charakters ein zu frühzeitig verschnittener Rock und eine ungewöhnlich rauhe Stimme waren, sank er vom ergötzlichen Götterkinde zum entsetzlichen Stalljungen herunter.

»Sie gestatten, meine Herren«, sagte Mr. E. W. B. Childers, im Zimmer umherblickend. »Ich glaube. Sie waren es, die Jupe zu sehen wünschten?«

»Jawohl«, sagte Mr. Gradgrind, »seine Tochter ging ihn zu holen, aber ich kann nicht warten. Ich möchte daher, wenn Sie es erlauben, eine Botschaft für ihn zurücklassen.«

»Sehen Sie, mein Freund«, warf Mr. Bounderby ein, »wir gehören zu den Leuten, die den Wert der Zeit kennen, ihr aber gehört zu den Leuten, die den Wert der Zeit nicht kennen.«

»Ich habe nicht«, entgegnete Mr. Childers, nachdem er ihn von Kopf bis Fuß gemessen, »die Ehre, Sie zu kennen – wenn Sie jedoch sagen wollen, daß Sie es verstehen, mit Ihrer Zeit mehr Geld zu machen, als ich mit der meinen, so müßte ich nach Ihrem Aussehen urteilen, daß Sie wohl recht haben.« »Und wenn Sie also derlei Geld gemacht haben, so, sollte ich meinen, verstehen Sie auch, es festzuhalten«, sagte Kupido.

»Laß gut sein, Kidderminster«, sagte Mr. Childers (Master Kidderminster war Kupidos irdischer Name).

»Was kommt er denn her, vor uns den Prahler zu spielen?« rief Master Kidderminster, ein cholerisches Temperament verratend. »Wenn Sie vor uns groß tun wollen, so zahlen Sie Ihr Geld an der Tür und machen Sie sich dann breit.«

»Kidderminster«, sagte Mr. Childer«, seine Stimme erhebend, »laß gut sein! – Mein Herr«, – zu Mr. Gradgrind gewendet. – »Ich sprach zu Ihnen. Vielleicht wissen Sie es, oder vielleicht wissen Sie es nicht (denn Sie dürften nicht viel den Vorstellungen beigewohnt haben), daß Jupe in letzter Zeit den Saum sehr oft verfehlt hat.«

»Was – was hat er verfehlt?« fragte Mr. Gradgrind und warf dem gewaltigen Bounderby einen hilfeflehenden Blick zu.

»Hat den Saum verfehlt.«

»Hat sich vorigen Abend dreimal beim Hosenbandorden präsentiert und brachte nicht einmal was zustande«, sagte Master Kidderminster. »Hat den Saum bei den Fähnlein verfehlt und war sehr ungeschickt beim Reifdurchlöchern.«

»Tat nicht, was er hätte tun sollen. Machte kurze Sprünge und schlechte Purzelbäume«, verdolmetschte Mr. Childers.

»Oh«, sagte Mr. Gradgrind, »das heißt man Saum, nicht wahr?«

»Im allgemeinen heißt man das den Saum verfehlen«, antwortete Mr. E. W. B. Childers.

»Neunkraftöl, Merrylegs, Saum verfehlen, Hosenbänder, Fahnen und Reifdurchbrechen«, schrie Mr. Bounderby mit seinem Gelächter der Gelächter. »Sonderbare Gesellschaft das für einen Mann, der sich selbst aufgeschwungen.«

»Lassen Sie sich nur herab«, warf Kupido ein. »O, du meine Güte! Wenn Sie sich zu der Höhe aufgeschwungen haben, auf der Sie stehen, so geruhen Sie nur, sich ein bißchen herabzulassen.«

»Das ist ein höchst zudringlicher Bursche«, sagte Mr. Gradgrind, indem er sich umdrehte und mit gerunzelter Stirn gegen ihn wandte.

»Wir würden für Sie einen jungen Gentleman zum Empfang bereitgehalten haben, wenn wir gewußt hätten, daß Sie kommen würden«, warf Master Kidderminster ganz unbefangen ein. »Es ist schade, daß Sie sich nicht vorher anmelden ließen, da Sie so etwas Besonderes sind. Sie kommen auf hohen Stelzen angetrabt, nicht wahr?«

»Was meint dieser unmanierliche Junge«, fragte Gradgrind, ihn mit einer Art Verzweiflung betrachtend, »mit seinen hohen Stelzen?«

»Hinaus mit dir! Hinaus mit dir!« rief Mr. Childers, indem er seinen jungen Freund einigermaßen nach der Prärieweise hinauswarf. »Straff traben oder schlaff traben – das hat nicht viel zu sagen. Es bedeutet bloß ein straffes oder lockeres Seil. Sie wollten doch eine Botschaft für Jupe hinterlassen?«

»Ja, das wollte ich.«

»Dann«, fuhr Childers rasch fort, »bin ich der Meinung, daß er sie nie erhalten wird. Kennen Sie ihn besonders?«

»Ich habe diesen Menschen nie in meinem Leben gesehen.«

»Dann zweifle ich sehr daran, ob Sie ihn nun je sehen werden. Es ist mir ziemlich klar, daß er sich davongemacht.«

»Meinen Sie, daß er seine Tochter im Stich gelassen?«

»Ja, ich glaube«, sagte Mr. Childers mit einem bejahenden Nicken, »daß er durchgebrannt ist. Er ward gestern abend ausgezischt, er ward vorgestern abend ausgezischt, und er ward heute ausgezischt. In letzter Zeit ist ihm das oft passiert, und er kann so etwas nicht aushalten.«

»Warum ist er – gar so sehr – ausgezischt worden?« fragte Mr. Gradgrind, das Wort höchst feierlich und gewaltsam herauswürgend.

»Seine Glieder werden steif und er wird immer mehr abgenützt«, sagte Childers. »Er hat wohl noch seine treffenden Pointen als Gackerer, aber davon kann er doch nicht leben.«

»Als Gackerer«, wiederholte Bounderby, »da haben wir’s wieder.«

»Als Sprecher, wenn es dem Herrn besser gefällt«, sagte Mr. E. W. B. Childers, und warf die Erklärung in anmaßender Weise über die Achsel hin. Dabei schüttelte er seine Locken, die sich alle zugleich bewegten. »Es ist doch eine merkwürdige Tatsache, mein Herr, daß diesen Mann der Gedanke tief schmerzte, seine Tochter wisse davon, wie er ausgezischt worden sei. Daß ihn dies zu tief schmerzte, als daß er hier weiter ausgehalten hätte«

»Gut!« unterbrach ihn Bounderby. »Das ist gut, Gradgrind! Ein Mensch, der seine Tochter so lieb hat, daß er von ihr wegläuft, das ist verflucht gut. Ha! Ha! Nun will ich Ihnen was sagen, junger Mann. Ich habe mich nicht immer in meiner gegenwärtigen Lage befunden. Ich weiß, was das heißen will. Sie dürfen wohl erstaunt sein, es zu hören, und doch ist’s wahr, daß auch meine Mutter von mir weglief.«

E. W. B. Childers machte die bissige Bemerkung, daß er über diese Mitteilung durchaus nicht erstaunt sei.

»Nun gut«, sagte Bounderby. »Ich wurde in einem Graben geboren und meine Mutter überließ mich meinem Schicksal. Entschuldige ich sie dafür? Nein! Habe ich sie je dafür entschuldigt? Ich gewiß nicht! Wie schelte ich sie dafür? Ich schelte sie wohl das schlechteste Weib, das je auf Erden gelebt hat, mit Ausnahme meiner versoffenen Großmutter. Ich hege keinen Familienstolz und kenne keine ideal-sentimentale Aufschneiderei. Einen Spaten nenne ich einen Spaten. Ich gebe der Mutter von Josiah Bounderby aus Coketown ohne Furcht und Begünstigung den gleichen Namen, den ich ihr gegeben haben würde, wenn sie die Mutter von Dick Jones aus Wapping gewesen wäre. Ebenso verfahre ich mit diesem Manne. Er ist für mich ein davongelaufener Schurke und ein Vagabund: das ist er auf gut Deutsch.«

»Es ist mir einerlei, was er ist oder nicht ist, auf Französisch oder auf Deutsch«, erwiderte E. W. B. Childers sich umwendend. »Ich erzähle Ihrem Freunde die Tatsache. Wenn Sie es nicht hören mögen, so steht Ihnen draußen freie Luft zur Verfügung. Sie erklären das hier laut genug: tun Sie, tun Sie das aber bitte lieber bei sich zu Hause«, ermahnte E. W. B. Childers mit strenger Ironie. »Lassen Sie sich in dieser Behausung über nichts laut aus, ohne dazu aufgefordert zu sein. Ich sollte doch glauben, daß Sie auch eine eigene Behausung haben?«

»Dürfte sein«, antwortete Mr. Bounderby, indem er lachte und mit seinem Geld klingelte.

»Dann sprechen Sie sich in Ihrer eigenen Behausung aus, wenn Sie so gut sein wollen«, sagte Childers, »weil dieses Gebäude nicht stark ist und es einstürzen könnte, wenn Sie so laut reden.«

Damit maß er Mr. Bounderby abermals vom Kopf bis zum Fuß, und wandte sich wie von einem Manne, mit dem man fertig ist, von ihm ab und zu Mr. Gradgrind.

»Jupe schickte seine Tochter vor ungefähr einer Stunde auf einen Gang aus, und dann sah man ihn, den Hut in die Augen gedrückt, mit einem in ein Taschentuch gewickelten Bündel unter dem Arm, sich davonschleichen. Sie wird es nie von ihm glauben mögen, und doch hat er sich davongemacht und sie sitzen lassen.«

»Bitte«, sagte Mr. Gradgrind, »warum wird sie es nie glauben wollen?«

»Weil sie beide ein Herz und eine Seele waren. Weil sie nie getrennt gewesen. Weil er sie bis jetzt schwärmerisch zu lieben schien«, sagte Childers, und tat ein paar Schritte, um in den leeren Koffer zu sehen. Sowohl Mr. Childers als Master Kidderminster hatten einen seltsamen Gang. Sie gingen mit viel weiter auseinandergesperrten Beinen, als dies bei dem gewöhnlichen Menschenschlag der Fall ist, und sie waren sich wohl bewußt, daß sie in den Knien ziemlich steif zu sein hatten. Dieser Gang war nämlich allen männlichen Mitgliedern der Slearyschen Truppe eigen und sollte eigentlich andeuten, daß sie immer zu Pferde säßen.«

»Arme Cili!, hätte er sie doch lieber in die Lehre gegeben«, sagte Childers, indem er von dem Koffer aufblickte und seine Locken abermals schüttelte. »Jetzt hat er sie ohne alle Hilfsmittel zurückgelassen.«

»Es spricht sehr zu Ihren Gunsten, der Sie niemals in der Lehre waren, eine solche Meinung zu äußern«, bemerkte Mr. Gradgrind billigend.

»Ich niemals in der Lehre gewesen? Ich kam in dem Alter von sieben Jahren in die Lehre.«

»Ach, wirklich?« sagte Mr. Gradgrind, etwas empfindlich darüber, sich um seine gute Meinung betrogen zu sehen. »Ich wußte nicht, daß es der Gebrauch ist, junge Leute in die Lehre zu geben, um –«

»Müßiggang zu lernen«, fügte Mr. Bounderby mit lautem Gelächter hinzu. »Nein, zum Kuckuck, das wußte ich auch nicht.«

»Ihr Vater hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß sie das ganze Teufelszeug des Schulunterrichts zu lernen hätte«, nahm Childer wieder das Wort auf und tat, als sei Mr. Bounderby überhaupt nicht vorhanden. »Wie ihm dieser Gedanke kam, weiß ich nicht: ich weiß nur, daß er ihn niemals aufgegeben. Seit sieben Jahren hat er für sie – hier etwas Lesen – dort etwas Schreiben und dann wieder etwas Rechnen aufgeschnappt.«

Mr. E. W. B. Childers zog eine Hand aus der Tasche, strich sich Gesicht und Kinn damit und betrachtete Mr. Gradgrind mit einem Blick, der viel Zweifel und wenig Hoffnung ausdrückte. Gleich von Anfang an trachtete er, jenen Herrn zugunsten des verlassenen Mädchens einzunehmen.

»Als Cili hier in die Schule gebracht wurde«, fuhr er fort, »war er vergnügt wie ein Clown. Ich selbst konnte die Ursache nicht vollständig ergründen, da wir bei unserer herumwandernden Lebensweise hier nicht ansässig sind. Ich vermute aber, er hatte diesen Sparren im Kopfe – er war immer halb vernagelt – und nun betrachtete er sie als versorgt. Wenn Sie heute abend hergekommen sein dürften, um ihm mitzuteilen, daß Sie etwas zu ihrem Besten tun wollten«, sagte Mr. Childers, sich das Gesicht abermals streichend und seinen Blick wiederholend, »so würde sich das höchst glücklich fügen und zur rechten Zeit kommen – sehr glücklich und ganz zur rechten Zeit.«

»Im Gegenteil«, versetzte Mr. Gradgrind. »Ich wollte ihm sagen, daß ihr Umgang mit der Truppe sie ungeeignet für die Schule macht, und daß sie diese nicht mehr besuchen darf. Wenn ihr Vater sie jedoch wirklich schonungslos verlassen hat – Bounderby, lassen Sie uns ein Wort miteinander sprechen.«

Mr. Childers begab sich hierauf in höflicher Weise mit seinen Kunstreiterschritten an den Treppentritt außerhalb der Tür und blieb dort stehen, sich das Gesicht streichend und dabei leise pfeifend. Auf diese Weise beschäftigt, fielen ihm einzelne Redensarten aus Mr. Bounderbys Mund ein, wie: »Nein. Ich sage nein. Ich rate Ihnen, es nicht zu tun. Ich sage durchaus nein.« Währenddem vernahm er die von Mr. Gradgrind in einem leiseren Ton gesprochenen Worte: »Aber selbst als ein Beispiel für Luise, zu was dieser Beruf, der der Gegenstand gemeiner Neugierde gewesen, führen und kommen kann. Betrachten Sie die Sache von diesem Gesichtspunkt aus, Bounderby.«

Unterdessen hatten sich die verschiedenen Mitglieder der Slearyschen Truppe von den oberen Regionen, wo sie einquartiert waren, nach und nach versammelt. Sie bildeten einen Kreis und schoben sich, mit Mr. Childers leise sprechend, allmählich ins Zimmer. Unter der Gesellschaft befanden sich zwei oder drei hübsche junge Frauen mit ihren zwei oder drei Männern, und ihren zwei oder drei Müttern samt ihren acht oder neun Kindern, die nötigenfalls Feendienste versahen. Der Vater der einen Familie pflegte den Vater der andern Familie auf der Spitze einer großen Stange zu balancieren. Der Vater einer dritten Familie formte oft eine Pyramide aus diesen beiden Vätern, wobei Master Kidderminster die Spitze und er selbst die Basis bildete. Sämtliche Väter verstanden es, auf rollenden Fässern zu tanzen, auf Flaschen zu stehen, Messer und Bälle aufzufangen, Teller zu wirbeln, auf allerhand Dingen zu reiten, über alles zu springen und an einem Nichts sich festzuhalten. Die Mütter konnten alle auf einem schlaffen Draht und einem straffen Seile tanzen und taten dies auch. Ferner konnten sie rasche Sprünge auf sattellosen Pferden ausführen.

Keine von ihnen nahm es, was die Bloßstellung ihrer Beine betraf, im geringsten genau, und eine von ihnen hielt, allein einen sechsspännigen griechischen Wagen lenkend, ihren Einzug in jede Stadt. Sie gaben sich insgesamt das Ansehen, höchst flott und welterfahren zu sein, waren nicht besonders sorgfältig in ihrer bürgerlichen Kleidung und hielten in ihrem Hauswesen nicht die geringste Ordnung. Das ganze Wissen der Gesellschaft hatte noch nicht einmal einen bescheidenen Brief zustande gebracht. Dennoch war ihnen eine wunderbare Sanftmut und Kindlichkeit eigen; sie waren unfähig, Gaunerstreiche zu verüben und waren stets bereitwillig, sich gegenseitig beizustehen und zu bemitleiden. Das war gewiß oft ebenso großer Achtung und ebensolcher Anerkennung wert, wie die Alltagstugenden jeder anderen Menschenklasse.

Mr. Sleary erschien als letzter. Er war, wie bereits erwähnt, ein wohlbeleibter Mann, mit einem starren und einem beweglichen Auge, mit einer Stimme (wenn man sie so nennen darf), die wie das Schnaufen eines alten, gesprungenen Blasebalgs klang, mit einem fahlen Gesicht und mit einem duseligen Kopf, der niemals nüchtern und niemals betrunken war.

»Tquire«, sagte Sleary, der an Asthma litt und dessen Atem für den Buchstaben S zu dick und zu schwer war. »Ihr Ergebenter. Dat it in der Tat ein tlecht Getäft, tehr tlecht. Tie werden wohl gehört haben, dat man vermutet, mein Clown mit teinem Hunde wären durchgebrannt?«

Er hatte sich an Mr. Gradgrind gewendet, der mit Ja antwortete.

»Gut, Tquire«, entgegnete er, indem er seinen Hut abnahm und das Futter mit einem Taschentuch rieb, das er zu diesem Zwecke darin verwahrte. »It et Ihre Abticht, etwat für dat Mädchen zu tun?«

»Ich werde ihr einen Vorschlag machen«, sagte er, »wenn sie zurückkommt.«

»Freut mich, et zu hören, Tquire. Nicht dat ich dat Kind lotwerden oder ihr überhaupt im Wege tehen will. Ich bin gar geneigt, tie in die Lehre zu nehmen, obgleich et für ihr Alter nicht mehr gut it. Meine Timme it etwat heiter, Tquire, und kann nicht leicht von denen vernommen werden, die mich nicht kennen. Wenn Tie aber ebento in Ihrer Jugend in Kälte und Hitze, in Hitze und Kälte und in Kälte und Hitze in die Reitbahn getrieben worden wären, wie dat oft bei mir der Fall war, to würde et Ihre Timme nicht better übertanden haben, alt die meinige.«

»Ich glaube nicht«, sagte Mr. Gradgrind.

»Wat wollen Tie trinken, Tquire, während Tie warten? Toll et Terry tein? Befehlen Tie nur, Tquire«, sagte Mrs. Sleary mit gastfreundlicher Bereitwilligkeit.

»Ich danke Ihnen, ich bedarf gar nichts«, antwortete Mr. Gradgrind.

»Tagen Tie dat nicht, Tquire. Wat tagt Ihr Freund? Haben Tie noch nicht gegetten, to können Tie ein Glat Bittern nehmen.«

Seine Tochter Josephine – ein hübsches, achtzehnjähriges, blondes Mädchen, das schon mit zwei Jahren auf ein Pferd gesetzt worden und schon mit zwölf Jahren ein Testament gemacht hatte – sie trug es immer bei sich und sprach darinnen den Willen aus, sie wolle zusammen mit den beiden Ponys begraben werden – rief jetzt: »St! Vater! Sie ist schon zurück.«

Da kam Cili Jupe in demselben Tempo in das Zimmer gelaufen, wie sie es verlassen hatte. Als sie so alle versammelt sah, ihre Blicke sah und keinen Vater sah, stieß sie einen kläglichen Schrei aus und stürzte sich trostsuchend an den Busen der geschicktesten Seiltänzerin (die sich gerade in guter Hoffnung befand), worauf dieselbe niederkniete, um sie zu kosen und mit ihr zu weinen.

»Dat it eine höllite Tande, meiner Teel, dat it et«, sagte Slearn.

»O mein teurer Vater, mein guter, lieber Vater, wohin bist du gegangen? Du bist wohl fortgegangen, um etwas Gutes für mich aufzutreiben, das weiß ich gewiß. Aber wie unglücklich und elend wirst du ohne mich sein, armer, armer Vater, bis du zurückkommst!« Es war rührend, dies und ähnliches von ihr zu hören. Sie hatte den Blick nach oben gewandt und die Arme ausgestreckt, als ob sie danach trachtete, seinen scheidenden Schatten aufzuhalten und zu umarmen, so daß niemand ein Wort redete, bis Mr. Bounderby (der ungeduldig geworden war) die Stille brach:

»Nun, ihr guten Leutchen alle«, sagte er, »das ist eitel Zeitverlust. Macht dem Mädchen die Tatsache begreiflich. Wenn ihr wollt, will ich sie ihr klarmachen; denn ich bin auch einmal im Stich gelassen worden. Also, wie heißt du doch? Dein Vater hat sich davongemacht – hat dich im Stich gelassen – und du darfst nicht erwarten, ihn jemals in deinem Leben wiederzusehen.«

Diese Leute aber kümmerten sich so wenig um den abstrakten Begriff der reinen Tatsachen und waren in dieser Beziehung schon soweit ausgeartet, daß sie, anstatt von dem stark ausgeprägten, gesunden Menschenverstand des Sprechers einen günstigen Eindruck zu empfangen, ihm diesen sehr übelnahmen. Die Männer murmelten: »Pfui, Schande!« und die Frauen: »roher Mensch«, und Sleary erteilte Mr. Bounderby eilig und vertraulich folgenden Wink:

»Ich will Ihnen wat tagen, Tquire. Um et Ihnen gerade heraut zu tagen, to it meine Meinung, die Tache abzubrechen und gut tein zu latten. Et tind gutherzige Leute, die Meinigen, aber ti tind ein bitchen heftig, und wenn Tie meinen Rat nicht befolgen, to will ich verdammt tein, wenn tie Tie nicht zum Fenster hinauswerfen.«

Da Mr. Bounderby auf diese freundlichen Zuflüsterungen sich zurückhaltender benahm, fand Mr. Gradgrind einen Ausweg für seine ausgezeichnet praktische Behandlung der Angelegenheit.

»Es ist doch ganz bedeutungslos«, sagte er, »ob man die Person irgendwann zurückerwarten kann oder nicht. Er ist fort, und für den Augenblick kann man seine Rückkehr nicht annehmen. Damit, glaube ich, sind alle einverstanden.«

»Einvertanden, Tquire. Halten Tie fet daran«, ließ sich Sleary vernehmen.

»Nun gut. Ich kam hierher, um Jupe, dem Vater des armen Mädchens, mitzuteilen, daß sie nicht mehr in der Schule zugelassen werden könnte, da sich tatsächliche Einwendungen, die ich nicht weiter zu erläutern brauche, gegen die Aufnahme von Kindern erheben, deren Väter auf ähnliche Weise beschäftigt sind. Ich bin aber jetzt unter den veränderten Umständen bereit, einen Vorschlag zu machen. Ich bin bereit, dich aufzunehmen, Jupe, dich zu erziehen und für dich zu sorgen. Die einzige Bedingung (nebst einem guten Betragen deinerseits), die ich mache, ist die, daß du dich sogleich mit einem Male entscheidest, ob du mich begleiten oder hierbleiben willst. Auch daß du, wenn du mich einmal begleitest, mit deinen Freunden, die hier gegenwärtig sind, wie es sich von selbst versteht, jede Verbindung abbrichst. Das ist alles, was ich zu dem Fall zu sagen habe.«

»zu gleicher Zeit«, sagte Sleary, »mut ich auch mein Wort hinzufügen, Tquire, damit beide Teiten der Fahne getehen werden können. Wenn du bei mir in die Lehre gehen willt, Tetilie, to weit du, wat du zu tun hat und wer deine Gefährten tind. Emma Gordon, an deren Buten du jetzt lieget, würde dir eine Mutter und Jotephine würde dir eine Tweter sein. Ich will mich nicht alt einen engelguten Menten autgeben. Ich kann dir nur tagen, dat wenn du den Taum verfehlen wirt, ich tehr böte tein und einen oder twei Flüche auttoten werde. Wat ich aber tagen will, Tquire, dat it, ich mag in guter oder tlechter Laune geweten tein, to habe ich doch noch keinem Pferde wat zu Leide getan, Flüche autgenommen – und dat et nicht zu erwarten it, dat ich in meinem Alter anfangen werde, mit einem Bereiter andert zu verfahren. Ich habe nie grotplärrit getan, und ich habe nun getagt, wat ich tagen wollte.«

Der letzte Teil dieser Rede war an Mr. Gradgrind gerichtet, der dazu ernst nickte und sagte:

»Das einzige, was ich noch betreffs deinem Entschluß zu sagen habe, Jupe, ist, daß man sich glücklich preisen kann, eine vernünftige, praktische Erziehung zu genießen, und daß selbst dein Vater in diesem Sinn für dich gewünscht und gefühlt zu haben scheint.«

Die letzten Worte machten auf das Mädchen einen sichtbaren Eindruck. Sie hielt in ihrem unmäßigen Schluchzen inne, befreite sich ein wenig von Emma Gordon und wandte ihr Gesicht ihrem Gönner zu. Die ganze Gesellschaft merkte die Stärke ihrer Veränderung und schöpfte tief Atem, was einfach sagen sollte: »Sie wird gehen.«

»Du mußt wissen, was du tust, Jupe«, warnte sie Mr. Gradgrind. »Ich sage nichts mehr. Du mußt wirklich selbst wissen, was du tust.«

»Wenn Vater zurückkommt«, rief das Mädchen nach einer minutenlangen Pause, abermals in Tränen ausbrechend, »wie wird er mich je wiederfinden können, wenn ich fortgehe?«

»Darüber kannst du vollständig beruhigt sein«, sagte Mr. Gradgrind gelassen; denn er hatte die ganze Angelegenheit wie ein Rechenexempel ausgearbeitet. »In diesem Falle wird dein Vater, wie ich denke, sich wenden müssen an Mr. –«

»Tleary, dat it mein Name, Tquire. Ich täme mich teiner nicht. It in ganz England bekannt und klingt überall tehr gut.«

»Mr. Sleary, der ihm dann mitteilen wird, wohin du dich begeben. Ich würde nicht die Macht haben, dich gegen seinen Willen zu behalten, und es wird ihm wohl niemals schwerfallen, Thomas Gradgrind von Coketown aufzufinden. Ich bin sehr bekannt.«

»Tehr bekannt«, stimmte Sleary bei, indem er sein bewegliches Auge rollen ließ. »Tie gehören zu den Leuten, die ziemlich viel Geld auter dem Haute bewahren. Doch latten wir dat jetzt tein.«

Eine neue Pause trat ein, und dann rief sie schluchzend und die Hände sich vor das Gesicht haltend: »O, gebt mir meine Kleider, gebt mir meine Kleider und laßt mich fort, ehe mein Herz bricht.«

Betrübt bemühten sich die Frauen, die Kleider zusammenzusuchen. Das war bald geschehen, da ihrer nicht viel waren. Sie packten sie in einen Korb, der sie oft auf Reisen begleitet hatte. Cili saß die ganze Zeit hindurch schluchzend auf dem Boden, mit den Händen vor den Augen. Mr. Gradgrind und sein Freund standen an der Tür, bereit, sie mit sich fortzunehmen. Mr. Sleary ragte in der Mitte des Zimmers, umgeben von den männlichen Mitgliedern der Truppe; ganz so, wie er im Zentrum der Reitbahn, während seine Tochter Josephine ihre Kunststücke ausführte, emporgeragt hätte. Ihm fehlte nichts als seine Peitsche.

Nachdem der Korb unter Stillschweigen gepackt war, brachten sie ihr den Hut, glätteten das in Unordnung geratene Haar und setzten ihn ihr auf. Hierauf drängten sie sich um sie, beugten sich anmutig über sie, um das Bild zu vervollständigen, und küßten und herzten sie. Dann brachten sie die Kinder, um Abschied von ihr zu nehmen, und gebärdeten sich eben ganz wie eine Schar gutherziger, natürlicher und närrischer Frauen.

»Nun, Jupe«, sagte Mr. Gradgrind, »wenn du fest entschlossen bist, so komm.«

Sie mußte aber noch von der männlichen Gesellschaft Abschied nehmen. Jeder von ihnen mußte aber erst die Arme auseinanderwinden (denn sie nahmen alle, wenn sie sich in Slearys Nähe befanden, die berufsmäßige Stellung an) und nun gaben sie ihr den Abschiedskuß. Master Kidderminster machte dabei eine Ausnahme, da in seinem jugendlichen Wesen der ursprüngliche Keim eines Menschenfeindes lag. Auch wußte man von ihm, daß er Heiratspläne gehegt und sich später verdrießlich zurückgezogen. An Mr. Sleary kam die Reihe zuletzt. Er öffnete seine Arme weit, nahm sie bei den Händen und würde sie auf- und niedergeschwungen haben, wie Reitmeister gewöhnlich junge Damen nach der Ausführung eines raschen Rittes zu beglückwünschen pflegen. Aber Cili zeigte sich zu keinem Rückprall geneigt, sondern stand bloß weinend vor ihm.

»Leb wohl, mein Kind«, sagte Sleary. »Ich hoffe, du wirt dein Glück machen, und niemand von untern Leuten wird dich jemalt belätigen, dafür tehe ich ein. Ich wollte, dein Vater hätte teinen Hund nicht mitgenommen. Et it unangenehm, den Hund auf unterm Spielprogramm weglatten zu mütten. Wenn ich et aber gut überlege, to würde der Hund ohne teinen Herrn tich nicht produziert haben – und die Tache it eben to breit wie lang.«

Dabei sah er sie mit seinem starren Auge aufmerksam an, überflog die Truppe mit dem beweglichen, küßte sie, schüttelte den Kopf und führte sie zu Mr. Gradgrind wie zu einem Pferde.

»Da it tie, Tquire«, sagte er, einen berufsmäßigen Blick auf sie werfend, als ob sie in dem Sattel zurechtgesetzt werden sollte. »Tie wird Ihnen Ehre machen. Leb wohl, Tetilie!«

»Leb wohl, Cecilie! Leb wohl, Cili! Gott mit dir, mein Kind!« ertönte es von allen Seiten im ganzen Zimmer. Das reitmeisterliche Auge hatte die Flasche Neunkraftöl in ihrem Busen bemerkt und fiel jetzt ein: »Lat die Flate hier, mein Kind. Tie it zu grot für dich, tie zu tragen. Nun wird tie für dich unnütz tein. Gieb tie mir.«

»Nein, nein!« rief sie, wieder in Tränen ausbrechend. »Ach, nein! Bitte, lassen Sie mich sie aufbewahren, bis Vater zurückkommt. Er wird sie brauchen, wenn er zurückkommt. Er hat nie daran gedacht fortzugehen, als er mich nach ihr schickte. Bitte, ich muß sie für ihn aufheben.«

»Nun, meinetwegen, mein Kind (Tie tehen, Tquire, wie die Dinge tehen). Lebe wohl, Tetilie! Diet it mein letztet Wort zu dir. Halte die Bedingungen deiner Verpflichtung ein, gehorche dem Tquire und vergit unt. Aber wenn du einmal grot geworden, verheiratet und wohlhabend bit, und einer Reitertruppe begegnen tolltet, to tei nicht unempfindlich gegen tie. Türne nicht mit ihr. Gönne ihnen wat Gutet, wenn du kannt und bedenke, du könntet noch wat Tlimmeret tun. Die Leute mütten tich auch unterhalten, Tquire«, fuhr Sleary fort, durch das viele Sprechen engbrüstiger als je gemacht, »sie können nicht immer arbeiten und auch nicht immer tudieren. Denken Tie dat Bete und nicht dat Tlimmte von unt. Ich weit, dat ich mich all mein Lebtag von der Reiterei ernährt habe: ich glaube jedoch die ganze Philotophie der Tache auteinandergetetzt zu haben, wenn ich Ihnen tage, Tquire, denken Tie dat Bete von unt; nicht dat Tlimmte.«

Die Slearysche Philosophie ward vorgetragen, als sie die Treppe hinuntergingen, und vor dem starren Auge der Philosophie – und ebenso vor dem beweglichen – verschwanden bald die drei Gestalten samt dem Korbe in der Dunkelheit der Straße.

Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Da Mr. Bounderby ein Junggeselle war, so stand eine ältliche Dame gegen ein festes Jahresgehalt seinem Haushalt vor. Sie hieß Mrs. Sparsit und bildete eine hervorragende Erscheinung als Begleiterin in Mr. Bounderbys Wagen, wenn er, der gerne sich als ein Mann, aus niedrigem Stande emporgeschwungen, aufspielte, im Triumphzug dahinrollte.

Mrs. Sparsit hatte nämlich nicht nur bessere Zeiten gesehen, sondern besaß auch hohe Verbindungen. Sie hatte eine Großtante, die derzeit noch lebte und Lady Scadgers hieß. Der selige Mr. Sparsit, der sie als Witwe zurückließ, war von mütterlicher Seite das gewesen, was Mrs. Sparsit noch immer mit »Powler« bezeichnete. Es gab Uneingeweihte von beschränktem Wissen und schwerfälliger Fassungskraft, die nicht wußten, was Powler bedeute, und die selbst darüber in Zweifel schwebten, ob es ein Gewerbe, eine politische Partei oder ein Glaubensbekenntnis bezeichnen solle. Die Scharfsinnigeren jedoch bedurften nicht erst der Belehrung, daß die Powlers ein altes Geschlecht bildeten. Ihr Ursprung konnte so weit zurückverfolgt werden, daß es nicht wundernahm, wenn sie sich zuweilen aus dem Licht der Öffentlichkeit verloren, wie es ihnen häufig passierte bei Rennen, Hasardspiel, Wuchergeschäften und vor dem Schuldgerichtshof.

Der selige Mr. Sparsit, der von mütterlicher Seite ein Powler war, heiratete diese Frau, die von väterlicher Seite eine Scadgers gewesen.

Lady Scadgers (eine unendlich fette alte Frau, mit einem zügellosen Appetit nach Rindfleisch und mit geheimnisvollen Beinen, die schon seit vierzehn Jahren das Bett nicht mehr hatten verlassen wollen) brachte die Heirat zustande. Sie tat das damals, als Sparsit gerade mündig geworden und sich vorzüglich durch einen schmächtigen Körper auszeichnete, der von zwei langen, dünnen Beinen getragen wurde und auf dem sich ein Kopf erhob, der nicht der Erwähnung wert war. Er erbte ein hübsches Vermögen von seinem Oheim, hatte es aber durch Schulden verscherzt, noch ehe er es erlangte, und brachte es unmittelbar nachher zweimal durch. So kam es, daß er bei seinem Tode, der in seinem vierundzwanzigsten Jahre erfolgte (der Schauplatz seiner Krankheit war Calais und die Ursache Branntwein) seine Witwe, von der er sich bald nach den Flitterwochen getrennt hatte, nicht in Überfluß zurückließ. Diese schutzverlassene Frau, die fünfzehn Jahre älter war als er, verfiel sogleich mit ihrer einzigen Verwandten, Lady Scadgers, in eine tödliche Feindschaft. Sie suchte sich eine Anstellung, teils der Lady zum Trotz, teils der Selbsterhaltung wegen. Und nun war sie hier gelandet in ihren alten Tagen, mit ihrer römischen Hakennase und den dicken, schwarzen Brauen, die Sparsit bezaubert hatten, und bereitete den Tee für Mr. Bounderbys Frühstück zu.

Wenn Mr. Bounderby ein Eroberer und Mrs. Sparsit eine gefangene Prinzessin gewesen wäre, die er als Glanzstück seiner Triumphzüge zur Schau stellte, so konnte er nicht mehr Aufhebens machen als er wirklich tat. Wie es zu seiner Großtuerei gehörte, seinen eigenen Ursprung zu erniedrigen, so gehörte es auch dazu, die Abkunft Mrs. Sparsits zu rühmen. In dem Maß, wie er es nicht gestatten wollte, daß ein einziger Lichtblick in seiner Jugend herrschte, pries er Mrs. Sparsits jugendliche Laufbahn in allen möglichen Vorzügen und überschüttete den Pfad dieser Frau mit ganzen Wagenladungen von Frührosen.

»Und doch, mein Herr«, pflegte er zu sagen, »was ist schließlich dabei herausgekommen? Da sitzt sie für hundert Pfund das Jahr (ich gebe ihr die hundert Pfund, ein Gehalt, das sie ganz nett findet), und führt den Haushalt von Josiah Bounderby in Coketown.« Ja, er machte soviel Wesens aus seiner Folie zu seiner Persönlichkeit, daß dritte Personen sich dieses Juwels bemächtigten und ihn bei mancher Gelegenheit mit großer Lebhaftigkeit funkeln ließen. Es gehörte zu den ärgerlichsten Eigenheiten Bounderbys, daß er nicht nur selbst sein Lob sang, sondern auch andere anregte, es für ihn zu singen. Er steckte mit seiner Prahlerei an. Fremde, die sonst ziemlich bescheiden waren, erhoben sich bei Gastmahlen in Coketown plötzlich vom Stuhle und taten in einer überschwenglichen Weise mit Bounderby groß. Sie erklärten, er stelle dar: das königliche Wappen der Nationalflagge, die Magna Charta,6 John Bull, das Habeas Corpus, die Bill of Rights,7 »des Briten Haus ist seine Burg«, Staat und Kirche und die englische Nationalhymne – das alles zusammengenommen! Und so oft (und es geschah sehr oft), daß ein Redner dieses Schlages zum Schluß anführte:

»Die Großen mögen leben im Glück oder in Unglücksnacht.
Ein Hauch kann sie machen, wie ein Hauch sie gemacht«,

so war die Gesellschaft gewiß mehr oder weniger überzeugt, daß von Mrs. Sparsit die Rede war.

»Mr. Bounderby«, sagte Mrs. Sparsit, »Sie frühstücken heute ungewöhnlich langsam.«

»Nun, Ma’am«, entgegnete er. »Ich denke gerade über Tom Gradgrinds Grille nach« – Tom Gradgrind sagte er barsch und rücksichtslos – als ob jemand ihn immer mit ungeheuren Bestechungen dazu bewegen wollte, Thomas zu sagen und er sich dennoch weigerte – »über Tom Gradgrinds Grille, Ma’am, das Seiltänzermädchen zu erziehen.«

»Das Mädchen wartet eben«, sagte Mrs. Sparsit, »um zu hören, ob sie direkt in die Schule oder hinauf in die Wohnung gehen soll.«

»Sie soll warten, Ma’am«, sagte Bounderby, »bis ich es selbst weiß. Ich nehme an, daß Tom Gradgrind bald hier sein wird. Sollte er wünschen, daß sie noch einen oder zwei Tage hier bleibt, so kann sie natürlich bleiben.«

»Natürlich kann sie es, wenn Sie wollen, Mr. Bounderby.«

»Ich sagte ihm, ich wolle ihr für die vorige Nacht hier zu übernachten erlauben, damit er es unterdessen überschlafen kann, ehe er sich entschließt, sie mit Luise in Verbindung zu bringen.«

»Wirklich, Mr. Bounderby? Das ist sehr wohlbedacht von Ihnen.«

»Mrs. Sparsits römische Hakennase erweiterte sich etwas in den Nüstern, und ihre schwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie einen Schluck Tee nahm.

»Mir ist es ziemlich klar«, sagte Bounderby, »daß das kleine Miezekätzchen aus solcher Gesellschaft nur wenig Nutzen ziehen kann.«

»Sprechen Sie von dem jungen Fräulein Gradgrind, Mr. Bounderby?«

»Ja, Ma’am! Ich spreche von Luise.«

»Da Sie ›kleines Miezekätzchen‹ sagten«, antwortete Mrs. Sparsit, »und eigentlich von zwei jungen Mädchen die Rede war, so wußte ich nicht, welche von beiden mit diesem Ausdruck bezeichnet werden sollte.«

»Luise«, wiederholte Mr. Bounderby, »Luise, Luise.«

»Sie sind wirklich ein zweiter Vater zu Luise.« Mrs. Sparsit schlürfte wieder etwas Tee und hatte, als sie die abermals zusammengezogenen Augenbrauen über die dampfende Tasse beugte, das Aussehen, als ob ihr klassisches Antlitz die Götter der Hölle anriefe.

»Wenn Sie gesagt hätten, daß ich ganz wie ein zweiter Vater zu Tom sei – ich meine den kleinen Tom und nicht meinen Freund Tom Gradgrind – dann hätten Sie näher ins Ziel geschossen. Ich werde den jungen Tom in meinem Geschäftsbureau verwenden. Werde ihn unter meine Fuchtel nehmen, Ma’am.«

»Wirklich? Er ist dafür noch etwas jung – nicht wahr, mein Herr?« – Das »mein Herr« der Mrs. Sparsit in der Ansprache an Mr. Bounderby, klang wie ein zeremoniöses Wort, dessen Gebrauch mehr achtunggebietend für sie als ehrerbietig für ihn war.

»Ich werde ihn nicht gleich nehmen. Vorerst muß er mit seinem Erziehungskram fertig sein«, sagte Mr. Bounderby. »Zum Donnerwetter! Er muß doch nun von dem Zeug sich genug einverleibt haben, für jetzt und alle Zeit. Was würde dieser Junge für große Augen machen, wirklich und wahrhaftig, wenn er wüßte, wie leer mein junger Magen von Kenntnissen war, als ich in seinem Alter stand.« Beiläufig bemerkt, das mußte er übrigens wissen, da er oft genug davon gehört hatte. »Wie schwer fällt es mir doch, mich mit jemandem bei beliebigen Dingen auf gleichem Fuß zu unterhalten! So habe ich heute morgen mit Ihnen über Gaukler gesprochen. Nun, was wissen Sie denn von Gauklern? – Zur Zeit, wo es für mich ein Gottessegen, ein Gewinn in der Lotterie gewesen wäre, mich aus dem Straßenschmutz emporzugaukeln, da saßen Sie in der italienischen Oper. Sie verließen das italienische Opernhaus, Ma’am, in weißem Atlas und Juwelen strahlend von Pracht, während ich keinen Penny besaß, um eine Fackel zu kaufen, um Ihnen damit zu leuchten.«

»Ich war wohl, mein Herr«, sagte Mrs. Sparsit mit einer heiter wehmütigen Würde, »schon in sehr zartem Alter mit der italienischen Oper bekannt.«

»Allerdings war ich es auch!« rief Bounderby, »aber mit der rauhen Seite davon. Ich versichere Sie, daß das Pflaster seiner Arkaden mir zum harten Lager zu dienen pflegte. Leute Ihres Schlages, Ma’am, die von Kindheit auf daran gewöhnt sind, auf Flaumfedern zu ruhen, können sich, ohne es versucht zu haben, keinen Begriff davon machen, wie hart ein Pflasterstein ist. Nein, nein! Es ist ganz nutzlos, mit Ihnen von Gauklern zu sprechen. Ich sollte mit Ihnen von ausländischen Tänzern, von London W, von May Fair und Lords und Ladys und von Honoratioren sprechen.«

»Ich bin der Ansicht, mein Herr«, entgegnete Mrs. Sparsit mit anstandsvoller Resignation, »daß Sie es nicht nötig haben, derlei zu tun. Ich hoffe es gelernt zu haben, mich in den Wechsel des Lebens zu fügen. Wenn ich Interesse daran gefunden habe, Ihren lehrreichen Erfahrungen zuzuhören, und mich daran nicht satt hören kann, so rechne ich mir das nicht zum Verdienst an, zumal ich weiß, daß man Sie allgemein darob bewundert.«

»Na, na! Ma’am«, sagte ihr Gönner. »Vielleicht sind manche Leute so liebenswürdig, zu behaupten, daß sie Josiah Bounderby aus Coketown in seiner plumpen Weise darüber hören mögen, was er alles durchgemacht. Aber Sie müssen doch gestehen, daß Sie selbst im Schoße des Überflusses geboren wurden. Lassen Sie es gut sein, Ma’am; Sie wissen, daß Sie im Schoße des Überflusses geboren wurden.«

»Ich kann es«, erwiderte Mrs. Sparsit mit einem Kopfschütteln, »nicht leugnen.«

Hierauf fühlte sich Mr. Bounderby bemüßigt, vom Tisch aufzustehen und sich, um sie entsprechend betrachten zu können, mit dem Rücken gegen das Feuer zu stellen. Sie hob gar so angenehm seine Vorzüge hervor!

»Und Sie waren in vornehmer Gesellschaft, in verflucht hoher Gesellschaft«, fügte er hinzu, sich die Füße wärmend.

»Es ist wahr, mein Herr«, sagte Mrs. Sparsit mit affektierter Demut, die der seinen ganz entgegengesetzt war und darum keine Gefahr lief, sie zu verletzen.

»Sie standen auf dem Gipfel der Mode und all dessen, was damit zusammenhängt«, sagte Mr. Bounderby.

»Ja, mein Herr«, entgegnete Mrs. Sparsit mit leutseliger Witwenhaftigkeit. »Es ist unstreitig wahr.«

Indem Mr. Bounderby die Knie krümmte, umarmte er beinahe seine Beine vor großer Zufriedenheit und lachte laut auf.

Da Mr. und Miß Gradgrind gerade angemeldet wurden, so empfing er jenen mit einem Händeschütteln und diese mit einem Kuß.

»Kann man Jupe hierher kommen lassen, Bounderby?« fragte Mr. Gradgrind.

»Gewiß.« Man ließ daher Jupe kommen. Als sie eintrat, machte sie einen Knix vor Mr. Bounderby, vor seinem Freunde Tom Gradgrind und schließlich auch vor Luise. In ihrer Verwirrung vergaß sie jedoch unglücklicherweise Mrs. Sparsit. Dies bemerkte Bounderby und ließ sich polternd folgendermaßen vernehmen:

»Ich will dir nun was sagen, mein Kind. Jene Dame bei der Teekanne heißt Mrs. Sparsit. Diese Lady herrscht als Herrin in diesem Hause und sie ist eine Lady von vornehmen Verbindungen. Wenn du daher in irgendein Zimmer dieses Hauses kommst, so wirst du nur kurze Zeit darinnen bleiben dürfen, wenn du dich gegen die Dame nicht in ehrerbietigster Weise benimmst. Was mich betrifft, so ist es mir gleichgültig, wie du dich gegen mich benimmst, denn ich stelle nichts vor. Da ich weit davon entfernt bin, vornehme Verbindungen zu haben, so habe ich gar keine Verbindungen und stamme vom Abschaum der Menschheit ab. Wie du dich aber gegen jene Dame benimmst, daran ist mir gelegen, und du wirst tun, was ehrerbietig und anständig ist, oder du wirst gar nicht herkommen.«

»Ich will hoffen«, sagte Mr. Gradgrind in versöhnendem Tone, »daß es bloß ein Versehen war.«

»Mein Freund Tom Gradgrind nimmt an«, sagte Mr. Bounderby, »daß es bloß ein Versehen war, Mrs. Sparsit. Sehr möglich. Wie Sie aber wohl wissen, Ma’am, so erlaube ich nicht einmal ein Versehen gegen Sie.«

»Wirklich, Sie sind sehr gütig«, entgegnete Mrs. Sparsit, ihr Haupt in großartiger Demut schüttelnd. »Es ist nicht der Erwähnung wert.«

Cili, die sich während der ganzen Zeit mit Tränen in den Augen furchtsam entschuldigt hatte, ward von dem Herrn des Hauses zu Mr. Gradgrind hinübergewinkt. Sie trat aufmerksam vor ihn, und Luise stand, die Augen auf den Boden geheftet, kalt neben ihr, wahrend er sich folgendermaßen vernehmen ließ:

»Jupe, ich habe mich entschlossen, dich in mein Haus zu nehmen und dich, wenn du nicht in der Schule bist, bei Mrs. Gradgrind zu beschäftigen, die ziemlich kränklich ist. Ich habe Miß Luisen – dies ist Miß Luise – das jämmerliche, aber natürliche Ende deiner früheren Laufbahn erzählt, und du mußt es klar begreifen, daß diese Welt gänzlich vorüber ist und nicht mehr erwähnt werden darf. Von jetzt fängt deine eigentliche Lebensgeschichte an. Du bist zurzeit, wie mir bekannt ist, noch recht unwissend.«

»Ja, mein Herr, sehr«, antwortete sie knixend.

»Es wird mich mit Genugtuung erfüllen, dir eine strenge Erziehung zu geben, und du wirst allen, die mit dir in Berührung kommen, zum lebendigen Beweis der Vorzüge dienen, die deine zu empfangende Bildung dir verleihen wird. Du wirst gebessert und gebildet werden. Du hast wohl deinem Vater und den Leuten, unter denen ich dich fand, vorgelesen?« sagte Mr. Gradgrind. Dabei winkte er sie zu sich heran und fuhr leiser fort, als vorher. Cili antwortete:

»Bloß vor Vater und Merrylegs, mein Herr. Das heißt eigentlich vor Vater, da Merrylegs immer dabei war.«

»Laß Merrylegs gewesen sein, Jupe«, sagte Mr. Gradgrind mit leichtem Stirnrunzeln. »Ich frage nicht nach ihm. Du pflegtest also, wenn ich recht verstehe, deinem Vater vorzulesen?«

»O ja, mein Herr! Wohl an tausendmal. Das waren die glücklichsten, ach, von allen Zeiten die glücklichsten, die wir zusammen verlebten, mein Herr.« Jetzt erst, als ihr Schmerz zum Ausbruch kam, blickte Luise sie an.

»Und was«, fragte Mr. Gradgrind mit noch leiserer Stimme, »lasest du deinem Vater vor, Jupe?«

»Von Feen, mein Herr, von Zwergen und Geistern«, schluchzte sie.

»Da haben wir’s«, sagte Mr. Gradgrind, »das ist genug. Sprich nie mehr ein Wort von solch verderblichem Unsinn. Bounderby, das ist ein Fall für strenge Erziehung, und ich werde ihn mit Interesse behandeln.«

»Nun, gut«, sagte Mr. Bounderby. Ich habe Ihnen meine Meinung bereits mitgeteilt und ich würde nicht wie Sie handeln. Doch, sehr gut, sehr gut. Da sie einmal darauf erpicht sind, sehr gut.«

So nahmen denn Mr. Gradgrind und seine Tochter Cecilie Jupe mit sich nach Stone Lodge: Luise sprach unterwegs kein einziges Wort, weder ein gutes noch ein böses. Mr. Bounderby ging seinen täglichen Beschäftigungen nach und Mrs. Sparsit zog sich hinter ihre Augenbrauen zurück. Darauf stellte sie in dem Düster dieser Zurückgezogenheit während des weiteren Vormittags ihre grüblerischen Betrachtungen an.

Zweiunddreißigstes Kapitel.


Zweiunddreißigstes Kapitel.

Die Räuberei in der Bank beschäftigte fortwährend in erster Linie die Aufmerksamkeit des Direktors. Er war ein gewichtiger Mann in prahlerischer Schaustellung seiner Geschäftsbereitschaft und Tätigkeit. Er war ein Mann, der es aus sich selber zu etwas gebracht hatte. Er war ein Wunder in der Geschäftswelt, das herrlicher als Venus, aus Schlamm anstatt aus dem Meere emporgestiegen ist, und er zeigte gern, wie wenig seine häuslichen Angelegenheiten imstande seien, seinen Geschäftseifer niederzuschlagen. Daher bewegte er sich gleich in den ersten Wochen seines wiederangenommenen Junggesellenstandes in seiner gewöhnlichen geräuschvollen Weise und erneuerte jeden Tag seine Nachforschungen betreffs des Diebstahls mit solchem Lärm, daß die Polizeibeamten, die diese Sache in Händen hatten, fast wünschten, sie wäre niemals begangen worden.

Auch waren sie ganz ratlos und weit ab von der Witterung. Obgleich sie sich seit Beginn der Angelegenheit so ruhig verhalten hatten, daß die meisten Leute wirklich glaubten, sie sei als hoffnungslos aufgegeben worden, so wollte sich doch kein neuer Indizienpunkt zeigen. Keine der beteiligten Personen verriet unzeitigen Mut oder tat einen kompromittierenden Schritt. Und was noch auffallender war, von Stephen Blackpool konnte keine Spur aufgefunden werden, und das geheimnisvolle alte Weib blieb ein Geheimnis.

Da die Dinge einen solchen Gang nahmen, und sich keine geheimen Merkmale, die zur Entdeckung hätten führen können, zeigen wollten, so war das Endresultat von Mr. Bounderbys Nachforschungen, daß er beschloß, einen kühnen Streich zu wagen. Er setzte eine Ankündigung auf, in dem er zwanzig Pfund Belohnung für die Ergreifung von Stephen Blackpool aussetzte, der der Teilnahme an dem Einbruch in der Coketowner Bank in der und der Nacht verdächtig sei. Er beschrieb besagten Stephen Blackpool nach Kleidung, Aussehen, mutmaßlicher Größe und Manieren so genau er konnte. Er erzählte, wie er die Stadt verlassen und nach welcher Richtung hin man ihn zuletzt habe gehen sehen. Das Ganze ließ er in großen schwarzen Lettern auf einem Riesenbogen drucken und sorgte dafür, daß die Wände in der Stille der Nacht damit beklebt wurden, so daß es der ganzen Bevölkerung mit einem Male in die Augen fallen mußte.

An diesem Morgen hatten die Fabrikglocken nötig, noch einmal so stark zu läuten, um die Arbeitergruppen zu zerstreuen, die mit Tagesanbruch rund um die Plakate versammelt standen und sie mit neugierigen Augen verschlangen. Nicht am wenigsten neugierig von den versammelten Augen waren die Augen derjenigen, die nicht zu lesen verstanden. Als diese Leute der gefälligen Stimme lauschten, die laut vorlas – es findet sich immer so jemand, der gern aus der Not hilft – starrten sie mit so unbestimmtem, ehrfurchtsvollem Respekt auf die Buchstaben, die so viel sagten, daß es ergötzlich gewesen wäre, wenn der Anblick der Unwissenheit solcher Leute je anders als bedrohlich und unheilvoll sein könnte. Manche Augen und Ohren wurden noch Stunden später von diesen Plakaten als Vision verfolgt, während die Spindeln schnurrten, die Webstühle rasselten und die Räder schwirrten: und als die »Hände« wieder auf die Straßen entlassen wurden, fanden sich immer noch so viel Leser, als zuvor.

Slackbridge, der Arbeiterdelegierte, hatte diesen Abend seine Zuhörer auch daraufhin anzureden: und Slackbridge hatte ein reine« Plakat vom Drucker erhalten und es in seiner Tasche mitgebracht. O! meine Freunde und lieben Landsleute, mit Füßen getretene Arbeiter von Coketown, o! meine lieben Brüder, Arbeitsgenossen, Mitbürger und Kollegen, was war das für eine Szene, als Slackbridge das entfaltete, was er das »verdammte Dokument« nannte, und es an die Gasflamme hielt zum Abscheu der Arbeitergemeinde! O, meine teuren Brüder, seht, wozu ein Verräter in dem Feldlager dieser großen Geister, die eingeschrieben sind auf der heiligen Rolle der Gerechtigkeit und Eintracht, wirklich fähig ist! O, meine niedergetretenen Freunde, mit dem drückenden Joch der Tyrannen auf eurem Nacken und von dem eisernen Fuße des Despotismus in den Staub der Erde getreten, wie erfreut würden eure Unterdrücker sein, euch alle Tage eures Lebens auf den Bäuchen kriechen zu sehen, wie die Schlange in dem Garten, – o, meine Brüder, und soll ich als Mann nicht auch hinzufügen: meine Schwestern, was sagt ihr nun von Stephen Blackpool, dem Manne mit einer leichten Senkung an der Schulter und ungefähr fünf Fuß sieben Zoll Größe, wie es in diesem entwürdigenden und widerlichen Dokument, auf diesem nichtswürdigen Zettel, diesem ehrlosen Plakat, diesem abscheulichen Anschlag geschrieben steht: und mit welcher Majestät der Anklage werdet ihr die Viper zerschmettern, die diese Schande und Schmach über den gottgleichen Stand bringen würde, der ihn glücklicherweise für immer aus seinen Reihen gestoßen hat! Ja, meine Kompatrioten, glücklicherweise für immer ausgestoßen und fortgeschickt! Denn ihr erinnert euch, wie er hier vor euch stand auf dieser Plattform: ihr erinnert euch, wie ich ihn, Auge gegen Auge und Fuß gegen Fuß, durch all seine verwickelten Krümmungen hin verfolgte: ihr erinnert euch, wie er sich klein machte und schlich und sich schmiegte und haarspaltete: bis ich ihn, ohne einen Schatten von Grund, an dem man sich halten konnte, ausstieß aus unserer Mitte, als Gegenstand für den unvergänglichen Finger des Spottes, auf ihn zu weisen, und für das rächende Feuer jedes freien und denkenden Geistes ihn zu versengen und zu verbrennen! Und jetzt, meine Freunde – meine arbeitenden Freunde, denn ich setze einen triumphierenden Stolz in diesen »Schandfleck« – meine Freunde, deren harte, aber ehrenvolle Betten auf Trübsal gemacht, und deren karge, aber unabhängige Töpfe auf Mühseligkeit gekocht sind: und nun sage ich, meine Freunde, wie hat sich diese feige Memme auf sich selbst berufen, jetzt, wo er die gleisnerische Maske von seinen Lastern gerissen, vor uns steht in all seiner ursprünglichen Häßlichkeit! Ein was? Ein Dieb! Ein Plünderer! Ein geächteter Flüchtling mit einem Preise auf seinen Kopf; eine Wunde und Eiterbeule auf dem edlen Charakter der Coketownschen Arbeiterverbündeten. Daher, meine zu einem heiligen Bunde verbündeten Brüder, einem Bunde, auf den eure Kinder und Kindeskinder noch ungeboren ihre kindlichen Hände und Siegel gedrückt haben, schlage ich vor im Namen des vereinigten, vollzähligen Gerichtshofes, der immer wachsam für eure Wohlfahrt, immer voll Eifer für euren Nutzen ist, daß diese Versammlung beschließe: daß, da Stephen Blackpool, Weber, von dem auf diesem Plakat die Rede ist, bereits feierlich von der Gemeinde der Coketowner ›Hände‹ verworfen worden, dieselbe frei ist von der Schande seiner Missetaten und nicht als Klasse für seine ehrlosen Handlungen verantwortlich gemacht werden kann!«

So weit Slackbridge, knirschend und schwitzend ins Unglaubliche. Wenige rauhe Stimmen riefen: »Nein!« und ein oder zwei Dutzend stimmten mit »Hört! Hört!« einem Manne bei, der mit den Worten zur Vorsicht mahnte: »Slackbridge, Ihr verfahrt zu hitzig hierbei. Ihr geht zu weit!« Aber da« waren Pygmäen gegen eine Armee: die allgemeine Mehrheit der Versammlung unterzeichnete das Slackbridgesche Evangelium und brachte ihm ein dreifaches Hoch, als er sich, scheinbar außer Atem, zu ihnen niedersetzte.

Diese Männer und Frauen waren noch in den Straßen und gingen ruhig nach Hause, als Cili, die vor wenigen Minuten von Luise weggerufen worden war, zurückkehrte.

»Wer ist es?« fragte Luise.

»Es ist Mr. Bounderby«, sagte Cili, vor dem Namen zusammenschreckend, »und Euer Bruder, Mr. Tom, mit einer jungen Frau, die sich Rachael nennt und Euch zu kennen vorgibt.«

»Was wollen sie, liebe Cili?«

»Sie verlangen Euch zu sehen. Rachael hat geweint und scheint betrübt zu sein.«

»Vater«, sagte Luise, denn dieser war gegenwärtig, »ich kann aus einem selbstverständlichen Grunde nicht abschlagen, sie zu sehen. Sollen sie hereinkommen?«

Als sie eine bejahende Antwort erhielt, ging Cili hinaus, um sie zu holen. Sie kehrte im Augenblick mit ihnen zurück. Tom war der letzte und blieb in der dunkelsten Ecke des Zimmers bei der Tür stehen.

»Mrs. Bounderby«, sagte ihr Gatte, mit einer kühlen Verbeugung eintretend, »ich störe Sie doch hoffentlich nicht. Es ist eine unpassende Stunde, aber dieses junge Frauenzimmer hier hat Eröffnungen gemacht, die meinen Besuch nötig machen. Tom Gradgrind, da Euer Sohn, der junge Tom, aus irgendeinem eigensinnigen Grunde sich weigert, das Allergeringste betreffs dieser Eröffnungen auszusagen, weder Gutes noch Böses, so sehe ich mich genötigt, sie Eurer Tochter gegenüberzustellen.«

»Ihr habt mich schon einmal früher gesehen, junge Dame«, sagte Rachael, indem sie sich vor Luise stellte.

Tom hustete.

»Ihr habt mich schon einmal früher gesehen, junge Dame«, wiederholte Rachael, als sie ohne Antwort blieb.

Tom hustete wieder.

»So ist es.«

Rachael warf Mr. Bounderby einen stolzen Blick zu und fuhr fort: »Wollt Ihr mitteilen, junge Lady, wo und in welcher Gesellschaft das war?«

»Ich kam in das Haus, wo Stephen Blackpool wohnte, am Abend seiner Entlassung aus der Arbeit, und hier sah ich Euch. Er war auch da; und eine alte Frau, die nicht sprach und kaum zu sehen war, stand in einer dunklen Ecke. Mein Bruder war mit mir.«

»Warum konntet Ihr das nicht sagen, junger Tom?« fragte Bounderby.

»Ich versprach meiner Schwester, es nicht zu tun.« Dies wurde schnell von Luise bestätigt. »Und außerdem«, sagte der Bengel bitter, »erzählt sie ihre eigene Geschichte so außerordentlich gut und so ausführlich, daß es schade gewesen wäre, sie ihr aus dem Munde zu nehmen!«

»Saget gefälligst, Madame«, fuhr Rachael fort, »warum Ihr zu einer bösen Stunde an jenem Abend überhaupt zu Stephen kamt?«

»Ich fühlt« Mitleid mit ihm«, sagte Luise errötend, »und wünschte zu wissen, was er nun anzufangen gedenke, und wollte ihm meinen Beistand anbieten.«

»Danke schön, Madame«, sagte Bounderby. »Sehr geschmeichelt und verbunden!«

»Botet Ihr ihm«, fragte Rachael wieder, »eine Banknote an?«

»Ja: aber er schlug sie aus und wollte bloß zwei Pfund in Gold annehmen.«

Rachael warf Mr. Bounderby abermals einen bedeutungsvollen Blick zu.

»O, gewiß!« versetzte Bounderby. »Wenn Ihr die Frage stellt, ob Eure lächerliche und unglaubliche Erzählung wahr war oder nicht, so bin ich zu der Erklärung genötigt: Sie war es!«

»Junge Dame«, sagte Rachael, »Stephen Blackpool ist jetzt in öffentlichem, durch die ganze Stadt und wo sonst überall verbreitetem Druckanschlage als Dieb bezeichnet. Heute abend hat eine Versammlung stattgefunden, wo in derselben schimpflichen Weise von ihm gesprochen wurde. Stephen, der ehrenhafteste, treueste, beste Bursche!« Ihr Unwille versagte ihr die Worte und sie brach schluchzend ab.

»Ich bin sehr, sehr betrübt darüber«, sagte Luise.

»O! junge Dame, junge Dame«, erwiderte Rachael, »ich hoffe. Ihr seid es, aber ich weiß es nicht. Ich kann nicht sagen, was Ihr getan haben mögt! Euresgleichen kennt uns nicht, hat keine Teilnahme für uns, gehört nicht zu uns. Ich weiß nicht gewiß, warum Ihr an jenem Abend gekommen sein mögt. Ich kann nicht sagen, was für einen eigennützigen Zweck Ihr bei Eurem Besuche gehabt, da ich nicht vermuten kann, in welche traurige Lage Ihr den armen Knaben gestürzt. Damals sagte ich, Gott lohne Euch Euren Besuch, und ich sagte es von Herzen. Ihr schient so teilnehmend für ihn zu sein; aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich denken soll!«

Luise konnte sie wegen ihres ungerechten Argwohnes nicht tadeln, sie war so treu in ihrem Glauben an den Mann und so betrübt.

»Und wenn ich denke«, sagte Rachael unter Schluchzen, »wie der arme Junge dankbar war, da er Euch für so gütig hielt: wenn ich mich erinnere, wie er seine Hand über sein abgehärmtes Gesicht legte, die Tränen zu verdecken, die Ihr in seine Augen brachtet. – O, ich hoffe, daß Ihr über sein Unglück betrübt sein möget, und – daß Ihr keine schlimme Ursache dazu habt: aber ich weiß nicht, ich weiß nicht!«

»Ihr seid ein sauberes Stück«, brummte der Bube, indem er sich verdrießlich in seiner Ecke regte, »mit solchen kostbaren Beschuldigungen hierher zu kommen! Ihr solltet hinausgeworfen werden, da Ihr Euch so wenig zu benehmen wißt, und es würde Euch recht geschehen.«

Sie erwiderte nichts, und ihr leise« Schluchzen war der einzige Ton, der sich vernehmen ließ, bis Mr. Bounderby sprach:

»Kommt! Ihr wißt, was Ihr zu tun übernommen habt. Ihr hättet besser getan. Eure Ansicht hierüber mitzuteilen, als über jenen Gegenstand.«

»Wirklich, es tut mir leid«, entgegnete Rachael, ihre Augen trocknend, »wenn jemand hier mich so ansehen sollte: aber ich will nicht noch einmal so angesehen werden. Als ich gelesen hatte, Madame, was auf Stephen gedruckt ist, und was gerade soviel Wahrheit enthält, als wenn es auf Euch gedruckt wäre – ging ich direkt zur Bank, um zu erklären, daß ich Stephens Aufenthalt kenne, und das bestimmte Versprechen zu geben, daß er in zwei Tagen hier sein solle. Ich konnte damals Mr. Bounderby nicht sprechen, und Euer Bruder schickte mich weg; ich versuchte nun Euch zu finden, aber auch Ihr wäret nicht zu treffen, daher kehrte ich zu meiner Arbeit zurück. Sobald ich diesen Abend aus der Fabrik kam, beeilte ich mich zu hören, was man von Stephen spräche – denn ich weiß mit Stolz, er wird zurückkommen und seine Verleumder beschämen! – Darauf suchte ich wieder Mr. Bounderby auf, fand ihn und erzählte ihm alles haarklein, was ich wußte; er aber glaubte kein Wort von dem, was ich sagte, und brachte mich hierher.«

»Soweit ziemlich wahr«, stimmte Mr. Bounderby bei, mit den Händen m den Taschen und dem Hut auf dem Kopfe. »Aber ich kenne euch Art Leute nicht erst seit gestern, bitte ich zu bemerken, und ich weiß, daß ihr aus Mangel an Worten nie umkommen werdet. Nun, ich empfehle Euch jetzt, weniger zu sprechen, als zu handeln. Ihr habt übernommen, etwas zu tun: all meine Bemerkung hierauf ist gegenwärtig: tut es!«

»Ich habe an Stephen mit der Post, die diesen Nachmittag abgeht, geschrieben, wie ich ihm schon einmal geschrieben hatte, seitdem er abgereist ist«, sagte Rachael, »und er wird spätestens in zwei Tagen hier sein.«

»Dann will ich Euch etwas sagen. Ihr wißt vielleicht nicht«, erwiderte Mr. Bounderby, »daß man Euch selbst dann und wann beobachten läßt, da ihr als nicht ganz frei von dem Verdacht in dieser Angelegenheit angesehen wurdet, denn meistens beurteilt man die Leute nach dem Umgang, den sie pflegen. Da« Postbureau ist ebenso wenig vergessen worden. Was ich Euch nun sagen will, ist, daß kein Brief an Stephen Blackpool je aufgegeben worden ist. Daher überlasse ich Euch zu raten, was au« den Eurigen geworden ist. Vielleicht irrt Ihr Euch und habt niemals an ihn geschrieben.«

»Er war noch keine Woche von hier weg, Madame«, sagte Rachael, indem sie sich beschwörend an Luise wandte, »als er mir den einzigen Brief übersandte, den ich von ihm erhalten habe, und worin er sagte, daß er sich genötigt sehe, unter einem andern Namen Arbeit zu suchen.«

»O, bei St. Georg!« rief Bounderby, den Kopf schüttelnd und pfeifend, »er wechselt seinen Namen, so! Das ist ein schlimmer Fall für einen so fleckenlosen Burschen. Da« gilt, glaube ich, bei den Gerichtshöfen für ein wenig verdächtig, wenn ein Unschuldiger zufälligerweise mehrere Namen hat.«

»Was«, sagte Rachael, und wieder traten ihr Tränen in die Augen, »was um Gottes Barmherzigkeit willen blieb dem armen Jungen anders übrig. Die Meister gegen sich auf der einen Seite und die Arbeiter auf der andern, da er nur verlangte, in Frieden zu arbeiten und zu tun, was er für recht hielt. Kann ein Mann keine Seele und keine Überzeugung für sich allein haben? Muß er durch alles Unrecht mit dieser Seite, oder muß er durch alles Unrecht mit jener Seite gehen, oder sich wie ein Wild hetzen lassen?«

»Ja, ja, ich bemitleide ihn von ganzem Herzen«, erwiderte Luise: »und ich hoffe, daß er sich rechtfertigen wird.«

»Was das betrifft, so braucht Ihr nichts zu fürchten, junge Dame. Das tut er gewißlich!«

»Um so gewisser vermutlich«, warf Mr. Bounderby ein, »da Ihr zu sagen verweigert, wo er sich befindet. He?«

»Er soll durch keine Handlung von meiner Seite die unverdiente Schmach erdulden, zurückgebracht zu werden. Er soll auf eigenen Antrieb zurückkommen, um sich zu rechtfertigen, und alle diejenigen beschämen, die seinen guten Charakter verunglimpft haben, während er selbst zu seiner Verteidigung nicht zugegen war«, sagte Rachael, allem Mißtrauen trotzend, wie ein Felsen im Meere, »und er wird längstens in zwei Tagen hier sein.«

»Nein, noch mehr als dies«, setzte Mr. Bounderby hinzu, »wenn er an einem früheren Tage zu haben ist, so soll er noch eher Gelegenheit zu seiner Rechtfertigung finden. Was Euch betrifft, so habe ich nicht« gegen Euch.. Was Ihr mir gesagt habt, erweist sich als wahr, und ich habe Euch die Mittel verschafft, die Wahrheit zu beweisen, damit ist die Sache zu Ende. Ich wünsche euch allerseits gute Nacht. Ich muß mich ans Werk machen, um ein wenig weiter in dieser Sache zu sehen.«

Tom kam aus seiner Ecke, als Mr. Bounderby aufbrach, brach ebenfalls auf, hielt sich dicht hinter ihm und ging mit ihm hinweg. Der einzige Abschiedsgruß, zu dem er sich herabließ, war ein mürrisches »Gute Nacht, Vater!« Mit diesem kurzen Worte und einem finsteren Gesicht für seine Schwester, verließ er das Haus.

Seitdem sein Stammhalter in da« Haus getreten war, hatte Mr. Gradgrind kein Wort gesprochen. Er saß noch schweigend, als Luise in einem milden Tone sagte:

»Rachael, Ihr werdet eines Tages kein Mißtrauen in sich setzen, wenn Ihr mich besser kennt.«

»Es geht mir wider die Natur«, antwortete Rachael freundlicher, »jemandem zu mißtrauen: aber wenn man mir so sehr mißtraut, wenn man uns allen so sehr mißtraut – so kann ich eine gleiche Empfindung nicht ganz fernhalten. Ich bitte um Verzeihung, daß ich Euch Unrecht getan habe. Jetzt glaube ich nicht mehr, was ich sagte. Doch könnte ich wieder dahin kommen, es zu glauben, da man den armen Jungen so großes Unrecht tut.«

»Sagtet Ihr ihm in Eurem Briefe«, fragte Cili, »daß Verdacht auf ihn gefallen zu sein schien, weil er des Nachts bei der Bank gesehen worden sei? Er würde dann wissen, worüber er sich zu erklären hat, wenn er zurückkommt und vorbereitet sein.«

»Ja, Liebe«, antwortete sie: »aber ich kann nicht erraten, was ihn je dahin getrieben haben mag. Er pflegte nie dahin zu gehen. Das lag ganz außer seinem Wege. Sein Weg war derselbe wie meiner, und niemals dahinaus.«

Cili hatte schon neben ihr gestanden und fragte sie, wo sie wohne, und ob sie morgen abend kommen und sich nach Nachrichten von ihm erkundigen dürfe.

»Ich glaube nicht«, sagte Rachael, »daß er vor übermorgen hier sein kann.«

»Dann will ich auch am nächsten Abend kommen«, erwiderte Cili.

Als Rachael zugestimmt hatte und gegangen war, erhob Mr. Gradgrind seinen Kopf und sagte zu seiner Tochter:

»Luise, meine Teure, ich habe, soviel ich weiß, diesen Mann gesehen. Hältst du ihn für schuldig?«

»Ich glaube, ich habe ihn dafür gehalten, Vater, obgleich mit großem Widerstreben. Ich halte ihn nicht mehr dafür.«

»Das heißt, es gab eine Zeit, wo du dich selbst überredetest, es zu glauben, weil du wußtest, daß er verdächtig war. Sind seine Erscheinung und seine Manieren so ehrlich?«

»Sehr ehrlich.«

»Und ihr Vertrauen nicht zu erschüttern! Ich frage mich oft selbst«, sagte Mr. Gradgrind sinnend, »weiß der wirkliche Schuldige von diesen Anklagen? Wo ist er? Wer ist er?«

Sein Haar hatte seit kurzem begonnen, die Farbe zu ändern. Als er sich wieder so auf seine Hand stützte und grau und alt aussah, eilte Luise, Besorgnis und Teilnahme in ihren Zügen, voll Unruhe auf ihn zu und setzte sich dicht an seine Seite. Ihre Augen trafen zufällig in diesem Augenblick die Cilis. Cili fuhr errötend zusammen, und Luise legte ihren Finger an die Lippen.

Am nächsten Abend, als Cili heimkam und Luise erzählte, daß Stephen nicht gekommen sei, tat sie es flüsternd. Am darauffolgenden Abend, als sie mit derselben Nachricht nach Hause kam und hinzufügte, daß er nicht das geringste von sich habe hören lassen, sprach sie in demselben gedämpften, furchtsamen Tone. Von dem Augenblick an, wo sie diese Blicke gewechselt, erwähnten sie niemals seinen Namen oder irgend etwas, das mit ihm in Beziehung stand, laut; noch wurde jemals die Diebstahlsaffäre verfolgt, wenn Mr. Gradgrind davon sprach.

Die zwei ausbedungenen Tage verflossen, drei Tage und Nächte verflossen, und Stephen Blackpool erschien nicht, er blieb verschollen. Am vierten Tage kam Rachael, mit unerschütterlichem Vertrauen, jedoch in der Meinung, daß ihr Brief verunglückt sei, zur Bank und zeigte ihren von ihm erhaltenen Brief mit seiner Adresse in einer der vielen Arbeiterkolonien, die abseits von der Hauptstraße lag, sechzig Meilen weit. Boten wurden zu diesem Ort geschickt, und die ganze Stadt war erwartungsvoll, Stephen am folgenden Tage eingebracht zu sehen.

Während dieser ganzen Zeit folgte der Bengel Mr. Bounderby wie sein Schatten und nahm tätigen Anteil an allen Vorgängen. Er war sehr aufgeregt, schrecklich erhitzt, zerbiß seine Nägel bis ins Fleisch, sprach mit rauher, rasselnder Stimme und mit Lippen, die schwarz und verbrannt erschienen. Zur Stunde, wo der verdächtige Mann erwartet wurde, war der Bengel an der Station, Wetten anbietend, daß er vor Ankunft der Polizeiboten sich davongemacht haben und nicht erscheinen werde.

Der Bengel hatte recht, die Boten kehrten allein zurück, Rachaels Brief war abgegangen, Rachaels Brief war abgegeben, Stephen Blackpool hatte zur selben Stunde sich aus dem Staub gemacht; und keine Seele wußte mehr von ihm. Der einzige Zweifel in Coketown war, ob Rachael geschrieben hatte in gutem Glauben, daß er zurückkommen würde, oder ob sie ihm geraten, zu fliehen. In diesem Punkte waren die Meinungen geteilt.

Sechs Tage, sieben Tage, eine neue Woche. Der gemarterte Bengel trug einen totenbleichen Mut zur Schau und begann trotzig zu werden. »War der verdächtige Mensch der Dieb? Eine hübsche Frage! Wenn nicht, wo war der Mann, und warum kam er nicht zurück?«

Wo war der Mann und warum kam er nicht zurück? In der Stille der Nacht kehrte das Echo seiner eigenen Worte, die am Tage, der Himmel weiß, wie weit gerollt waren, wieder zu ihm zurück und weilten bei ihm bis zum Morgen.

Dreiunddreißigstes Kapitel.


Dreiunddreißigstes Kapitel.

Tag und Nacht kamen, Tag und Nacht gingen. Kein Stephen Blackpool. Wo war der Mann und warum kam er nicht zurück?

Jeden Abend kam Cili zu Rachaels Wohnung und saß mit ihr in ihrem kleinen, reinlichen Zimmer. Den ganzen Tag mühte sich Rachael an ihrer Arbeit ab, wie sich dieser Schlag Leute abmühen muß, so groß ihr Kummer auch sein mag. Die Rauchschlangen waren gleichgültig dagegen, wer verloren oder gefunden wurde, wer einen guten oder schlimmen Ausgang nahm; die melancholisch tollen Elefanten verloren, gleich den Männern der »harten Tatsachen«, nichts von ihrer gesetzten Routine, was immer auch sich ereignen mochte. Tag und Nacht kamen, Tag und Nacht gingen. Die Einförmigkeit war ununterbrochen. Selbst Stephen Blackpools Verschwinden fiel der Alltäglichkeit anheim und wurde ein ebenso eintöniges Wunder wie irgendein Maschinenstück von Coketown.

»Ich zweifle«, sagte Rachael, »ob im ganzen noch zwanzig in der ganzen Stadt übrig sind, die an dem armen, lieben Jungen noch Glauben haben.«

Sie sagte das zu Cili, als sie in ihrer Wohnung beisammensaßen, die einzig von der Lampe an der Straßenecke beleuchtet wurde. Cili war hergekommen, als es schon dunkel war, um ihre Heimkehr von der Arbeit zu erwarten; und sie hatten seitdem am Fenster gesessen, wo Rachael sie gefunden, ohne ein helleres zu verlangen, um ihr kummervolles Gespräch zu bescheinen.

»Wenn es nicht aus Barmherzigkeit so gefügt wäre, daß ich mit Euch sprechen könnte«, fuhr Rachael fort, »so gibt es Zeiten, wo ich glaube, mein Verstand würde sich nicht unverwirrt gehalten haben. Aber ich erhalte Hoffnung und Stärke durch Euch; und Ihr glaubt, daß, obgleich der Anschein sich gegen ihn erheben mag, er unschuldig befunden werden wird?«

»Ich glaube so«, antwortete Cili, »von ganzem Herzen. Ich fühle so zuversichtlich, Rachael, daß das Vertrauen, das Ihr allen Entmutigungen zum Trotze auf das Eurige setzt, nicht falsch sein kann, daß ich nicht mehr an ihm zweifle, als wenn ich ihn durch die Erfahrung so vieler Jahre kennengelernt hätte, wie Ihr.«

»Und ich, meine Teure«, sagte Rachael mit zitternder Stimme, »habe ihn während aller dieser Zeit als so treu gegen alles Edle und Gute in seiner ruhigen Weise erkannt, daß, selbst wenn nie wieder etwas von ihm gehört und ich hundert Jahre alt werden sollte, ich mit meinem letzten Atemzuge erklären könnte: Gott kennt mein Herz, ich habe niemals aufgehört, Stephen Blackpool zu trauen!«

»In unserem Hause, Rachael, glaubt alles, daß er vom Verdachte freikommen werde, früher oder später.«

»Je mehr ich erkenne, daß man mir dort glaubt, meine Teure, und je dankbarer ich es empfinde, daß Ihr von dort herkommt, um mich zu trösten, mir Gesellschaft zu leisten und bei mir gesehen zu werden, während ich selbst noch nicht von allem Verdachte frei bin, desto mehr betrübt es mich, daß ich je diese mißtrauischen Worte zu der jungen Lady sprechen konnte. Und doch –«

»Ihr setzt kein Mißtrauen mehr in sie, Rachael?«

»Jetzt, wo Ihr uns einander nähergebracht habt, nein. Aber ich kann es nicht zu jeder Zeit aus meinem Sinne verbannen –«

Ihre Stimme sank so vollständig zu einem leisen und langsamen Insichhineinreden herab, daß Cili, die dicht neben ihr saß, mit Aufmerksamkeit horchen mußte.

»Ich kann es nicht zu jeder Zeit aus meinem Sinne verbannen, irgend jemanden in Verdacht zu haben. Ich kann mir nicht denken, wer es ist, ich kann mir nicht denken, wie und warum es geschehen sein mag, aber ich hege Verdacht, daß jemand Stephen aus dem Wege geräumt hat. Ich hege Verdacht, daß irgend jemand durch seine freiwillige Zurückkunft und dadurch, daß er sich vor ihnen allen als unschuldig erweisen werde, bloßgestellt würde und, um das zu verhüten, ihn aufgehalten und aus dem Wege geräumt hat.«

»Das ist ein schrecklicher Gedanke«, sagte Cili erbleichend.

»Es ist ein schrecklicher Gedanke, anzunehmen, daß er gemordet sein könnte.«

Cili schauderte und wurde noch bleicher.

»Wenn mir das in den Sinn kommt, Liebe«, sagte Rachael, »und es kommt manchmal, obgleich ich alles tue, um es mir fern zu halten, indem ich bis zu hohen Zahlen bei meiner Arbeit zähle und immer wieder und wieder Stücke hersage, die ich konnte, als ich Kind war, – so verfalle ich in eine so wilde, heiße Unruhe, daß ich trotz meiner Ermüdung meilenweit gehen möchte. Ich muß Herr darüber werden, ehe ich schlafen gehe. Laßt mich mit Euch nach Hause gehen.«

»Er könnte vielleicht auf der Rückreise krank geworden sein«, versetzte Cili, indem sie ihr schüchtern einen abgenutzten Hoffnungsbrosamen hinwarf; »und in diesem Falle gibt es viele Orte am Wege, wo er weilen könnte.«

»Aber er ist in keinem von allen. Er ist in allen gesucht und nicht gefunden worden.«

»Wahr«, mußte Cili widerstrebend zugestehen.

»Er konnte den Weg in zwei Tagen machen. Wenn er schlecht zu Fuß war und nicht gehen konnte, so habe ich ihm in dem Brief, den er erhielt, das Geld geschickt, um zu fahren, damit er sein eigenes nicht auszugeben brauche.«

»Laßt uns hoffen, daß der morgende Tag etwas Besseres bringen werde, Rachael. Kommt an die Luft!«

Ihre freundliche Hand legte Rachaels Schal über ihr glänzend schwarzes Haar zurecht in der gewöhnlichen Weise, wie sie ihn trug, und sie gingen hinaus. Da der Abend schön war, so standen kleine Arbeitergruppen hier und da an den Straßenecken; aber für den größten Teil derselben war es Abendessenzeit, und daher waren nur wenige Leute auf den Straßen.

»Ihr seid jetzt nicht so aufgeregt, Rachael, und Eure Hand ist kühler.«

»Es geht mir besser, Liebe, wenn ich nur gehen und ein wenig frische Luft schöpfen kann. Zur Zeit, wo ich es nicht kann, werde ich schwach und verwirrt.«

»Aber Ihr dürft nicht anfangen, schwach zu werden, denn man könnte Eurer einst bedürfen, um Stephen zur Seite zu stehen. Morgen ist Sonnabend. Wenn wir morgen nichts Neues hören, so laßt uns am Sonntagmorgen einen Spaziergang aufs Land machen und Euch für eine neue Woche stärken. Wollt Ihr?«

»Ja, Liebe.«

Sie befanden sich jetzt in der Straße, wo Mr. Bounderbys Haus stand. Der Weg zu Cilis Bestimmungsort führte sie an der Tür vorüber, und sie gingen gerade darauf los. Vor kurzem war ein Eisenbahnzug in Coketown angekommen, der eine Anzahl Fahrzeuge in Bewegung gesetzt und ein beträchtliches Geräusch über die Stadt verbreitet hatte. Verschiedene Kutschen rasselten vor ihnen und hinter ihnen, als sie sich Mr. Bounderbys Wohnung näherten; und eine von den letzteren fuhr mit solcher Plötzlichkeit vor, als beabsichtige sie das Haus umzufahren, so daß sie sich unwillkürlich umsahen. Das helle Gaslicht über Mr. Bounderbys Treppe zeigte ihnen Mrs. Sparsit in dem Wagen, in einem Übermaß von Aufregung, die sich anstrengte, den Schlag zu öffnen. Mrs. Sparsit, die sie in demselben Augenblick bemerkte, rief ihnen zu, stehenzubleiben.

»Das ist ein glücklicher Zufall«, schrie Mrs. Sparsit, als sie vom Kutscher herausgelassen worden war. »Das ist ein Wink der Vorsehung! Kommt heraus, Madame«, sagte sie darauf zu jemandem drinnen, »oder wir werden Euch herausziehen müssen!«

Hierauf stieg niemand anders als das geheimnisvolle alte Weib aus. Mrs. Sparsit hielt sie unablässig am Kragen fest.

»Rührt sie nicht an, kein Mensch!« rief Mrs. Sparsit mit großer Energie. »Laßt niemand ihr nahe kommen. Sie gehört mir. Kommt herein, Madame, oder wir werden Euch hereinziehen müssen!« sagte sie darauf, ihr früheres Befehlswort wiederholend.

Der Anblick einer Matrone von klassischer Haltung, welche ein altes Weib am Schöpfe gefaßt hält und sie in ein Wohnhaus schleppt, würde unter allen Umständen für alle echt englischen Pflastertreter, denen das Glück geworden, es zu sehen, eine hinreichende Versuchung gewesen sein, sich mit Gewalt einen Weg in dieses Wohnhaus zu bahnen und das Ende der Geschichte mit anzusehen. Aber wenn diese Erscheinung noch erhöht worden wäre durch das Offenkundige und doch Geheimnisvolle, das sich zur Zeit für die ganze Stadt an die Bankräuberei knüpfte, so würde es die Pflastertreter hineingezogen haben mit unwiderstehlicher Gewalt, selbst wenn zu erwarten gestanden hätte, daß die Decke über ihren Häuptern zusammenfalle. Demgemäß drängten sich die Zuschauer, welche sich zufällig vor dem Hause befanden und aus einigen fünfundzwanzig der flinksten Nachbarn bestanden, dicht hinter Cili und Rachael hinein, als diese hinter Mrs. Sparsit und ihrem Opfer eintraten, und die ganze Masse machte einen wüsten Einfall in Mr. Bounderbys Speisesaal; und ohne einen Augenblick Zeit zu verlieren, stiegen die hinten stehenden Leute auf die Stühle, um besser über die vornstehenden hinwegsehen zu können.

»Ruft Mr. Bounderby herunter!« schrie Mrs. Sparsit. »Jungfer Rachael, wißt ihr, wer das ist?«

»Es ist Mrs. Pegler«, antwortete Rachael.

»Ich sollte denken, daß sie es ist!« rief Mrs. Sparsit frohlockend. »Holt Mr. Bounderby. Weg von hier, jedermann!« Hier murmelte die alte Mrs. Pegler, während sie sich verhüllte und der Beobachtung entzog, ein bittendes Wort. »Nichts davon«, rief Mrs. Sparsit laut, »ich habe Euch zwanzigmal auf dem Wege gesagt, daß ich Euch nicht lassen will, bis ich Euch ihm selbst überliefert habe.«

Jetzt erschien Mr. Bounderby, in Begleitung von Mr. Gradgrind und seinem Bengel, mit denen er droben eine Besprechung gehalten hatte. Mr. Bounderby sah mehr erstaunt als gastfreundlich aus, als er diese ungebetene Gesellschaft in seinem Speisezimmer zu Gesicht bekam.

»Wie, was ist da los!« rief er aus: »Mrs. Sparsit, Madame?«

»Sir«, erklärte die würdige Frau, »ich schätze mich glücklich, eine Person vorzuführen, die zu finden Sie großes Verlangen getragen haben. Ich wurde angefeuert von dem Wunsche, Ihrer Absicht zu Hülfe zu kommen, Sir. Mich leiteten die unvollkommenen Angaben über die Gegend, wo diese Person sich möglicherweise aufhalten könnte, wie sie von der jungen Rachael, die glücklicherweise hier ist, um die Identität zu beweisen, dargeboten wurden, und ich war so glücklich, meine Bemühungen von Erfolg gekrönt zu sehen und besagte Person mitzubringen, ich brauche nicht hinzuzufügen, ganz gegen ihren Willen. Es ist nicht ohne einige Beschwerlichkeit gewesen, daß ich es durchgesetzt habe; aber Beschwerlichkeit in Ihrem Dienste ist mir ein Vergnügen, und Hunger, Durst und Kälte eine wirkliche Befriedigung.«

Hier hielt Mrs. Sparsit inne, denn Mr. Bounderbys Gesicht zeigte eine außergewöhnliche Mischung von allen möglichen Farben und Äußerungen des Mißvergnügens, als sich die alte Mrs. Pegler seinem Blicke entschleierte.

»Wie, was meinen Sie damit?« lautete seine höchlich unerwartete Frage, in großem Zorne. »Ich frage Sie, was Sie damit meinen, Mrs. Sparsit, Madame?«

»Sir!« rief Mrs. Sparsit, mit einer Ohnmacht ringend.

»Warum, bekümmern Sie sich nicht um Ihre eigenen Angelegenheiten, Madame?« brüllte Bounderby. Wie erkühnen Sie sich, Ihre zudringliche Nase in meine Familienangelegenheiten zu stecken?« Diese Anspielung auf ihren bevorzugten Gesichtsteil überwältigte Mrs. Sparsit, sie fiel auf einen Stuhl nieder, als wenn sie erfroren wäre; und mit einem starren Blick auf Mr. Bounderby rieb sie langsam die Handschuhe gegeneinander, als wären sie auch erfroren.

»Mein teurer Josiah!« rief Mrs. Pegler zitternd. »Mein geliebtes Kind! Ich bin nicht zu tadeln. Es ist nicht meine Schuld, Josiah! Ich sagte dieser Lady wieder und wieder, daß ich wüßte, sie wäre im Begriff etwas zu tun, was dir nicht angenehm sein würde, aber sie wollte es so.«

»Warum ließt Ihr Euch von ihr herbringen? Konntet Ihr nicht ihr die Haube ein- oder einen Zahn ausschlagen, oder sie kratzen oder ihr etwas anderes antun?« fragte Bounderby.

»Mein einziges Kind! Sie drohte mir, daß ich, wenn ich ihr Widerstand leistete, von Schutzleuten hergebracht werden würde, und es sei besser, ruhig mitzukommen, als einen solchen Aufruhr in einem –« Mrs. Pegler blickte scheu aber stolz im Zimmer umher – »so feinen Hause, wie dieses zu erregen. Wahrlich, wahrlich, es ist nicht meine Schuld! Mein lieber, guter, stattlicher Junge! Ich habe immer ruhig und geheim gelebt, Josiah, mein Lieber. Ich habe nicht ein einziges Mal die Bedingung gebrochen. Ich habe nie gesagt, ich sei deine Mutter. Ich habe dich aus der Entfernung bewundert; und wenn ich zuweilen zur Stadt kam, in langen Zwischenräumen, um einen stolzen Blick auf dich zu tun, so habe ich es unerkannt getan, meine Seele, und bin wieder fortgegangen.«

Mr. Bounderby, seine Hände in den Taschen, ging in tödlicher Ungeduld an dem langen Speisetische auf und ab, während die Zuschauer gierig jede Silbe von Mrs. Peglers Rede verschlangen und mit jeder neuen Silbe größere Augen machten. Da Mr. Bounderby noch auf und ab ging, als Mrs. Pegler geendet hatte, so redete Mr. Gradgrind das angeschuldigte alte Weib an:

»Ich bin erstaunt, Madame«, bemerkte er streng, »daß Ihr in Euren alten Tagen noch die Stirne habt, auf Mr. Bounderby als Euren Sohn Anspruch zu machen, nachdem Ihr ihn so unnatürlich und unmenschlich behandelt habt.«

»Ich unnatürlich!« schrie die arme alte Mrs«. Pegler. »Ich unmenschlich gegen mein teures Kind?«

»Teuer!« wiederholte Mr. Gradgrind. »Ja teuer durch sein selbsterworbenes Vermögen, Madame, nehme ich mir die Freiheit zu sagen. Jedoch nicht sehr teuer, als Ihr ihn in seiner Kindheit verließet und der Roheit einer versoffenen Großmutter ausliefertet.«

»Ich meinen Josiah verlassen!« rief Mrs. Pegler aus, ihre Hände zusammenschlagend, »Nun, der Herr vergebe Euch Eure gottlosen Erfindungen und Eure Sünde gegen das Andenken meiner armen Mutter, welche in meinen Armen starb, ehe Josiah geboren ward. Möget Ihr Reue deshalb finden, Sir, und leben, um zur besseren Erkenntnis zu gelangen!«

Sie war so ernsthaft und empört, daß Mr. Gradgrind, von der Möglichkeit, die in ihm aufdämmerte, betroffen, in freundlicherem Tone weiter sagte:

»Ihr leugnet also, Madame, daß Ihr Euren Sohn in einer Gosse seinem Schicksal überließt?«

»Josiah in der Gosse!« rief Mrs. Pegler aus. »Nichts von der Art, Sir. Schämt Euch vor Euch selbst! Mein liebes Kind weiß und wird es Euch wissen lassen, daß, wenn er auch von geringen Eltern herkommt, er doch von Eltern herkommt, die ihn so sehr liebten, wie es die besten nur zu tun vermöchten. Sie hielten es nie für eine harte Entbehrung, sich einen Bissen abzuzwacken, damit er gut schreiben und rechnen lernen möchte; und ich habe seine Bücher noch zu Hause, die es beweisen. Wahrhaftig, ich habe sie!« sagte Mrs. Pegler mit unwilligem Stolze. Und mein lieber Knabe weiß und wird es Euch auch wissen lassen, Sir, daß nach seines geliebten Vaters Tode, als er acht Jahre alt war, seine Mutter sich ebenfalls ein bißchen absparen konnte, wie zu tun ihre Schuldigkeit und ihr Stolz und ihr Glück war, um ihm im Leben aufzuhelfen und Erziehung beizubringen. Und er war ein beharrlicher Junge, und ein gütiger Lehrer stand ihm zur Seite. So ging er schön seinen eigenen Weg vorwärts, bis er reich und glücklich wurde. Und ich will Euch wissen lassen, Sir – denn mein Sohn wird es nicht tun –, daß, obgleich seine Mutter nur einen kleinen Dorfladen unterhält, er sie nimmer vergaß, sondern mir eine Pension von dreißig Pfund jährlich aussetzte – mehr als ich nötig habe, denn ich lege davon auf die Seite. Er stellte nur die Bedingung, daß ich mich in stiller Zurückgezogenheit halten, nicht mit ihm großtun und ihn nicht in Verlegenheit bringen sollte. Und ich habe es nie getan, außer daß ich einmal des Jahrs nach ihm sah, ohne daß er es wußte. Und es ist recht«, sagte die arme alte Mrs. Pegler in ihrer liebevollen Verteidigung, »daß ich mich zurückhalten sollte. Ich habe gar keinen Zweifel, daß ich, wenn ich hier wäre, gar viel unpassende Dinge tun würde, und ich bin wohl zufrieden damit. Ich kann meinen Stolz auf meinen Josiah für mich behalten, und ich kann lieben um der Liebe selbst willen. Und ich schäme mich in Eure eigene Seele hinein, Sir«, sagte Mrs. Pegler am Ende, »für Eure Lügen und Verdächtigungen. Und ich stand hier nie zuvor, noch verlangte ich je hier zu stehen, da mein lieber Sohn nein sagte. Und ich würde auch jetzt nicht hier sein, wenn ich nicht hierher gebracht worden wäre. Und Pfui über Euch, o! ob der Schande, mich anzuklagen, meinem Sohne eine schlechte Mutter zu sein, während mein Sohn hier steht und es Euch so anders sagen könnte!«

Die Beistehenden, an und auf den Stühlen des Speisezimmers, erhoben ein Gemurmel der Teilnahme für Mrs. Pegler, und Mr. Gradgrind fühlte sich unschuldigerweise in eine sehr unangenehme Lage versetzt, als Mr. Bounderby, der unablässig auf und nieder gegangen, und jeden Augenblick dicker und dicker aufgeschwollen und röter und röter geworden war, plötzlich stehenblieb.

»Ich weiß nicht genau«, sagte er, »wie ich dazu komme, mit der Gegenwart der anwesenden Gesellschaft beehrt zu werden, aber ich will es unerörtert lassen. Wenn sie ganz zufriedengestellt sind, so wollen sie vielleicht so gut sein, sich zu verlieren. Oder mögen sie zufriedengestellt sein oder nicht, vielleicht wollen sie doch so gut sein, sich zu verlieren. Ich bin nicht verpflichtet, eine Vorlesung über meine Familienangelegenheiten zu halten, ich habe nicht übernommen, es zu tun, und bin nicht willens, es zu tun. Daher werden diejenigen, welche irgendwelche Auseinandersetzung über diesen Gegenstand erwarten, sich sehr getäuscht sehen, – namentlich Tom Gradgrind, und er kann dieses nicht zu früh erfahren. Was den Bankdiebstahl anbelangt, so ist hier ein Versehen gemacht, soweit es meine Mutter betrifft. Wenn hier nicht Überdienstfertigkeit stattgefunden hätte, so würde es nicht gemacht worden sein, und ich hasse Überdienstfertigkeit zu jeder Zeit, mit oder ohne Erfolg. Guten Abend!«

Obgleich Mr. Bounderby es in dieser Weise totzuschlagen suchte, indem er die Türe für den Abmarsch der Gesellschaft offenhielt, so war doch eine polternde Unsicherheit an ihm, die ihn zu gleicher Zeit sehr niedergeschlagen und über alle Maßen albern erscheinen ließ. Entlarvt als ein Mensch, der mit seiner Demut renommiert, der sein windiges Ansehen auf Lügen erbaut und in seiner Prahlerei die einfachste Wahrheit soweit von sich abgetan hatte, daß er den verächtlichen Anspruch erhob (es gibt keinen verächtlicheren), einen Stammbaum zu besitzen. Als die Leute an der Tür vorüberzogen, welche er hielt, wußte er, daß sie das Geschehene in der ganzen Stadt herumtragen und seinen Namen den vier Winden preisgeben würden. Er hätte nicht augenfälliger als ein geschorener und verlorener Aufschneider erscheinen können, und wenn er abgestutzte Ohren gehabt hätte. Selbst das unglückliche Frauenzimmer, Mrs. Sparsit, die vom Gipfel ihres Frohlockens in den Sumpf der Verzweiflung herabgestürzt war, befand sich nicht in einem so kläglichen Zustande, als jener gewichtige Mann und selbstgeschaffene Humbug, Josiah Bounderby von Coketown.

Als Rachael und Cili Mrs. Pegler, die für diese Nacht ein Bett im Hause ihres Sohnes erhalten sollte, verließen, gingen sie miteinander bis zum Tore von Stone Lodge und trennten sich hier. Mr. Gradgrind holte sie ein, ehe sie noch sehr weit gegangen waren, und sprach mit großem Interesse von Stephen Blackpool, für den seiner Meinung nach dieses wunderbare Aufhören des Verdachtes gegen Mrs. Pegler von guter Wirkung sein mußte.

Was den Bengel anbetraf, so hielt er sich während dieser ganzen Szene sowie bei allen früheren Gelegenheiten dicht hinter Bounderby. Er schien zu fühlen, daß, solange Bounderby keine Entdeckungen ohne sein Mitwissen machen konnte, er so ziemlich sicher war. Er besuchte nie seine Schwester; seitdem sie heimgekehrt war, hatte er sie nur einmal gesehen, an dem Abend, als er Bounderby auf den Fersen gefolgt war, wie schon erwähnt.

Es lagerte eine dunkle, unbestimmte Furcht auf dem Gemüte seiner Schwester, der sie nie Sprache verlieh, aber die den gottlosen und undankbaren Bengel mit einem geheimnisvollen Grauen umgab. Dieselbe dunkle Möglichkeit hatte sich auch in gleich gestaltloser Weise Cilis Geiste gerade an diesem Tage vorgestellt, als Rachael von jemandem sprach, der vielleicht durch Stephens Rückkunft hätte bloßgestellt werden können und ihn deshalb aus dem Wege geräumt habe. Luise hatte nie davon gesprochen, daß sie irgendwelchen Verdacht auf ihren Bruder in betreff des Diebstahls hege; sie und Cili hatten sich hierüber einander nicht anvertraut, ausgenommen in jenem Austausch von Blicken, als der Vater ahnungslos sein greises Haupt auf die Hand stützte; aber sie hatten sich verstanden, und sie wußten es beide.

Diese andere Befürchtung war so grauenhaft, daß sie jede von ihnen wie ein geisterhafter Schatten umschwebte; obgleich keine zu denken wagte, er sei ihr nahe, und noch weit weniger, daß er sich neben der andern befinde.

Und immer wuchs der künstliche Mut, den der Bengel gefaßt hatte. Wenn Stephen Blackpool der Dieb nicht war, laßt ihn sich doch zeigen. Warum tat er es nicht?

Eine andere Nacht. Wieder ein Tag und eine Nacht. Kein Stephen Blackpool. Wo war der Mann und warum kam er nicht zurück?

Vierunddreißigstes Kapitel.


Vierunddreißigstes Kapitel.

Es war ein strahlender Herbstsonntag, klar und kühl, als Cili und Rachael früh am Morgen sich trafen, um einen Spaziergang aufs Land zu machen.

Da Coketown nicht nur sein eigenes Haupt, sondern auch das der Nachbarschaft mit Asche bestreute – nach Art jener frommen Menschen, die für ihre eigenen Sünden Buße tun, indem sie andere Leute in den Sack stecken – so pflegten diejenigen, die dann und wann nach einem Zug frischer Luft dürsteten (nicht gerade die schlimmste von den Eitelkeiten des menschlichen Lebens) erst einige Meilen weit auf der Eisenbahn zu fahren und dann ihren Spaziergang zu beginnen oder sich gemächlich im Freien zu lagern.

Cili und Rachael halfen sich aus dem Rauche durch das übliche Mittel und stiegen auf der Station, die auf halbem Wege zwischen der Stadt und Mr. Bounderbys Landsitz lag, aus.

Obgleich die grüne Landschaft hier und da mit Kohlenhaufen befleckt war, so war sie doch an andern Orten grün, und es waren Bäume zu sehen, und Lerchen sangen (obgleich es Sonntag war) und angenehme Düfte erfüllten die Luft, und alles war von einem glänzend blauen Himmel überwölbt. Nach einer Richtung hin zeigte sich Coketown wie ein schwarzer Nebel; nach einer andern begannen Hügel emporzusteigen; nach einer dritten machte sich eine leise Veränderung in der Beleuchtung des Horizontes bemerkbar, da wo er auf das ferne Meer schien. Unter ihren Füßen war das Gras frisch, schöne Schatten von Baumzweigen spielten auf ihm hin und her und sprenkelten es; die Laubhecken waren üppig; über alles verbreitete sich Friede. Grubenmaschinen und magere, alte Pferde, welche den Kreislauf ihrer täglichen Arbeit auf dem Felde unterbrochen hatten, waren gleichfalls ruhig; die Räder hatten für eine kurze Zeit aufgehört, sich zu drehen, und das große Erdrad schien sich ohne seine gewöhnlichen Stöße und lärmenden Töne umzuwälzen.

Sie wanderten weiter durch die Felder und die schattigen Heckenwege hinunter, zuweilen stiegen sie über die Reste eines Zaunes, so modrig, daß sie unter der Berührung ihres Fußes zusammenfielen, zuweilen kamen sie an mit Gras bewachsenen Trümmern von Ziegelsteinen und Balken vorbei, die die Stelle verlassener Werkstätten bezeichneten. Sie folgten Pfaden und Spuren, so unbedeutend sie auch sein mochten. Schlünde, wo das Gras dicht und hoch, und wo Brombeersträuche, Ampferkraut und ähnliche Vegetation verworren zusammengehäuft war, vermieden sie immer; denn man erzählte sich in dieser Gegend schreckliche Geschichtchen von alten Gruben, die unter solchen Kennzeichen verborgen lägen.

Die Sonne stand hoch, als sie sich zur Ruhe niedersetzten. Sie hatten seit lange keinen Menschen, weder nah noch fern, gesehen; und die Einsamkeit blieb ununterbrochen. »Es ist so still hier, Rachael, und der Weg ist so unbetreten, daß ich glaube, wir müssen die ersten sein, die den ganzen Sommer über hier gewesen sind.«

Als Cili das sagte, wurden ihre Augen von einem andern dieser verrotteten Gehegeüberbleibsel auf dem Felde angezogen. Sie stand auf, um es in Augenschein zu nehmen. »Ich weiß nicht, dies ist noch nicht lange abgebrochen worden. Das Holz ist ganz frisch, wo es gebrochen. Hier sind auch Fußtapfen. – O, Rachael!«

Sie lief zurück und fiel ihr um den Hals. Rachael war schon aufgesprungen.

»Was gibt’s?«

»Ich weiß nicht. Da liegt ein Hut im Grase.«

Sie gingen zusammen vorwärts. Rachael nahm ihn auf, am ganzen Leibe zitternd. Sie brach in eine Flut von Tränen und Wehklagen aus. »Stephen Blackpool« stand auf der Innenseite von seiner eigenen Hand geschrieben.

»O, der arme Junge, der arme Junge! Er ist also doch auf die Seite geschafft worden; er liegt ermordet hier!«

»Hat denn – hat der Hut eine Blutspur an sich?« stammelte Cili.

Sie fürchteten sich, darauf zu blicken; gleichwohl untersuchten sie ihn und fanden kein Merkmal von Gewalttätigkeit, weder auswendig noch inwendig. Er mußte hier einige Tage gelegen haben, denn Regen und Tau hatten ihn gehärtet, und der Abdruck seiner Form befand sich auf dem Grase, da, wo er gefallen war. Sie blickten angstvoll um sich, ohne sich von der Stelle zu rühren, aber sie konnten nichts weiter bemerken. »Rachael«, flüsterte Cili, »ich will allein ein wenig vorwärts gehen.«

Sie hatte ihre Hand losgemacht und war im Begriff, vorwärtszuschreiten, als Rachael sie mit beiden Armen umschloß und einen Schrei ausstieß, der weithin über das Feld ertönte. Gerade vor ihren Füßen war der Abgrund eines schwarzen, zerrissenen Schlundes, unter dichtem Grase verborgen. Sie sprangen zurück und fielen auf ihre Knie, indem jede ihr Gesicht auf der Schulter der andern verbarg.

»O, mein guter Gott, er liegt dort unten, dort unten!« Dies und ihre schrecklichen Schmerzensrufe waren fürs erste alles, was von Rachael herausgebracht werden konnte, trotz aller Tränen, Bitten, Vorstellungen und Versuche. Es war unmöglich, sie zu besänftigen, und dringend notwendig, sie zu halten, oder sie würde sich selbst in den Abgrund gestürzt haben.

»Rachael, liebe Rachael, gute Rachael, bei der Liebe des Himmels, nicht diese fürchterlichen Schreie! Denk an Stephen, denk an Stephen, denk an Stephen!«

Durch eine ernstliche Wiederholung dieser Beschwörung, die mit all der Verzweiflung eines solchen Augenblickes ausgesprochen wurde, brachte es Cili endlich dahin, daß sie schwieg und sie mit einem tränenlosen, versteinerten Gesichte anblickte.

»Rachael, Stephen kann noch leben. Du würdest ihn doch nicht einen Augenblick verstümmelt auf dem Grunde dieses fürchterlichen Ortes liegen lassen wollen, wenn du ihm Hilfe bringen könntest?«

»Nein, nein, nein!«

»Rühre dich nicht von der Stelle, ihm zu Liebe! Ich will gehen und horchen.«

Sie schauderte, sich der Grube zu nähern; aber sie kroch auf Händen und Knien auf sie zu und rief seinen Namen, so laut sie nur rufen konnte. Sie lauschte, aber kein Schall antwortete. Sie rief wieder und horchte wieder, und immer kein antwortender Ton. Sie tat das zwanzig-, dreißigmal. Sie nahm eine Erdscholle von dem aufgewühlten Boden, worüber er gestolpert war, und warf sie hinein. Sie konnte ihren Fall nicht hören.

Die weite Aussicht, noch vor wenigen Minuten so schön in ihrer Stille, erfüllte jetzt ihr mutiges Herz fast mit Verzweiflung, als sie sich erhob und nach allen Seiten blickte, ohne Hilfe zu sehen. »Rachael, wir dürfen keinen Augenblick verlieren. Wir müssen nach verschiedenen Richtungen gehen und Hilfe suchen. Du wirst den Weg gehen, den wir gekommen, und ich will auf dem Pfade vorwärts gehen. Erzähle jedermann, den du triffst, was sich ereignet hat, wer es auch sei. Denk an Stephen, denk an Stephen!«

Sie sah an Rachaels Gesicht, daß sie jetzt Vertrauen auf sie setzen konnte. Nachdem sie ihr eine Zeitlang nachgesehen, während sie so dahinlief und die Hände rang, wandte sie sich um und ging fort, um selbst nachzusuchen: sie hielt an der Hecke an, um hier ihren Schal zu befestigen, als einen Wegzeiger zu dem Platze, dann warf sie ihren Hut zur Seite und lief, wie sie nie zuvor gelaufen war.

Laufe, Cili, laufe, in des Himmels Namen! Halte nicht an, um Atem zu schöpfen. Lauf, lauf! Sich selbst zur Eile antreibend, indem sie sich solche Ermahnungen in ihren Gedanken gab, lief sie von Feld zu Feld, von Heckenweg zu Heckenweg, von Platz zu Platz, wie sie noch nie zuvor gelaufen war: bis sie zu einem Schuppen an einem Maschinenhause kam, in dessen Schatten zwei Männer lagen und auf Stroh schliefen.

Erst sie zu wecken, und dann ihnen zu erzählen, so verstört und atemlos wie sie war, was sie hierhergeführt, hatte seine Schwierigkeiten: aber kaum hatten sie verstanden, warum es sich handelte, als ihre Lebensgeister von gleichem Feuer ergriffen wurden, wie die ihrigen. Einer der Männer war in einem betrunkenen Dusel, aber als sein Kamerad ihm laut zuschrie, daß ein Mann in den »Alten Höllenschacht« gefallen sei, sprang er fort zu einem Pfuhle schmutzigen Wassers, steckte seinen Kopf hinein und kam nüchtern zurück.

Mit diesen zwei Männern lief sie zu einem andern eine halbe Meile weiter, und mit diesem noch zu einem andern, während die ersten wieder zu andern liefen. Dann wurde ein Pferd gefunden, und sie gab einem andern Mann den Auftrag, auf Leben und Tod zur Eisenbahn zu reiten und Luise eine Botschaft zu übermitteln, die sie schrieb und ihm einhändigte. Mittlerweile war die Bevölkerung eines ganzen Dorfes auf den Beinen, und Winden, Stricke, Stangen, Lichter, Laternen und alle notwendigen Sachen wurden schnell herbeigeschafft, um zu dem »Alten Höllenschacht« gebracht zu werden.

Es schienen ihr bereits Stunden verflossen zu sein, seitdem sie den unglücklichen Mann in dem Grabe liegend, worin er lebendig begraben worden war, verlassen hatte. Sie konnte nicht länger ertragen, von ihm entfernt zu bleiben – das schien ihr wie ein Imstichlassen – und sie eilte schnell zurück, von einem halben Dutzend Arbeiter begleitet, einschließlich des betrunkenen Mannes, den die Nachricht nüchtern gemacht hatte, und welcher der tüchtigste von allen war. Als sie zu dem »Alten Höllenschacht« kamen, fanden sie ihn so einsam, als sie ihn verlassen hatten. Die Leute riefen und horchten, wie sie getan hatte, untersuchten den Rand des Abgrundes, besprachen, wie es hätte gekommen sein können, und setzten sich dann nieder, um zu warten, bis die Werkzeuge, die sie brauchten, herankämen.

Jedes Schwirren der Insekten in der Luft, jede Bewegung der Blätter, jedes Geflüster unter diesen Männern machte Cili erzittern, denn sie hielt es für einen Schrei in der Tiefe der Grube. Aber der Wind blies lässig darüber hin und kein Ton drang zur Oberfläche, und sie saßen auf dem Grab, wartend und wartend. Nachdem sie eine Zeitlang so gewartet hatten, begannen herumstreifende Leute, welche von dem Unfall gehört hatten, heranzukommen, dann langte die wahre Hilfe der Werkzeuge an. Mitten unter ihnen kehrte Rachael zurück, und mit ihr kam ein Wundarzt mit Wein und Arzneien. Aber die Hoffnung unter den Leuten, daß der Mann noch am Leben gefunden werden könnte, war in der Tat sehr klein.

Da jetzt genug Leute da waren, um die Arbeit zu beginnen, so stellte sich der nüchtern gewordene Mann an die Spitze des Ganzen, oder wurde durch allgemeine Zustimmung dazu berufen, zog einen weiten Kreis um den »Alten Höllenschacht« und stellte Männer an, ihn zu hüten. Außer solchen Freiwilligen, die zur Hülfeleistung angenommen worden waren, wurde vorerst nur Cili und Rachael gestattet, sich in diesem Kreis aufzuhalten: aber im Verlaufe des Tage«, al« die Nachricht einen Extrazug von Coketown brachte, befanden sich auch Mr. Gradgrind und Luise und Mr. Bounderby und der Bengel da.

Die Sonne stand vier Stunden tiefer als zu der Zeit, wo sich Rachael und Cili zuerst in das Gras niedergesetzt hatten, ehe eine Maschine von Stangen und Stricken errichtet war, vermittels deren zwei Männer mit Sicherheit hinabsteigen konnten. Bei dem Bau dieser Maschine hatten sich Schwierigkeiten erhoben, so einfach sie auch war: man hatte gefunden, daß gewisse Erfordernisse mangelten, und Botschafter mußten hin und zurück geschickt werden. Es war fünf Uhr am Nachmittage dieses heitern Sonntags, ehe ein Licht hinuntergelassen werden konnte, um die Luft zu prüfen, während drei bis vier rauhe Gesichter dicht zusammengedrängt standen, um es aufmerksam zu beobachten, und die Männer an der Winde drehten, wie sie angewiesen wurden. Das Licht wurde wieder herausgebracht, noch schwach brennend, dann wurde etwa« Wasser hineingeschüttet. Hierauf wurde der Eimer angehakt, und der nüchtern gewordene Mann stieg in Begleitung eines anderen mit Lichtern hinein und gab das Kommando »Niedergelassen!«

Als das Seil auslief, fest gespannt und angezogen und die Winde knarrte, war kein Atem unter den ein- oder zweihundert männlichen und weiblichen Zuschauern, der so ging, wie er zu gehen gewohnt war. Das Signal wurde gegeben, und die Winde hielt an, ein ansehnliches Stück Tau war unbenutzt. Jetzt folgte dem Anscheine nach ein so langer Zwischenraum, während dessen die Männer an der Winde müßig standen, daß einige Weiber schrien, es habe sich ein zweites Unglück ereignet! Aber der Arzt, welcher die Uhr in der Hand hielt, erklärte, daß noch nicht fünf Minuten verflossen wären und forderte sie streng auf, sich still zu verhalten. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, als die Winde sich umdrehte und von neuem arbeitete. Geübte Augen bemerkten, daß sie nicht so schwer ging, als wenn beide Arbeiter heraufkämen, und daß nur einer zurückkehrte. Das Seil kam an, fest und stramm, Ring auf Ring wurde um den Windebaum gewunden, und alle Augen waren auf die Grube gerichtet. Der ernüchterte Mann wurde herausgebracht und sprang lebhaft auf das Gras. Jetzt erhob sich ein allgemeiner Schrei: »Lebendig oder tot?« und dann tiefe, atemlose Stille.

Als er antwortete: »Lebendig!« erhob sich ein allgemeiner Ausruf der Freude, und manches Auge füllte sich mit Tränen.

»Aber er ist sehr schwer verletzt«, fügte er hinzu, sobald er sich wieder Gehör verschaffen konnte. »Wo ist der Doktor? Er ist so außerordentlich schwer verletzt, daß wir nicht wissen, wie wir ihn herausbringen sollen.«

Sie beratschlagten gemeinsam miteinander und blickten gespannt auf den Arzt, al« er einige Fragen tat und bei den erhaltenen Antworten seinen Kopf schüttelte. Die Sonne neigte sich jetzt, und die rote Beleuchtung des Abendhimmels fiel auf jedes Gesicht, so daß es genau in all seiner zweifelnden Spannung beobachtet werden konnte.

Da« Ergebnis der Beratung war, daß die Männer zur Winde zurückkehrten und der Grubenmann nochmals hinunterstieg und den Wein und einige Kleinigkeiten mit sich nahm. Dann kam der andere Mann herauf. Mittlerweile brachten einige Männer unter Anleitung des Wundarztes eine Hürde herbei, auf welche andere ein dickes Bett von mit Tüchern überdecktem losen Stroh machten! er selbst verfertigte sich einige Bandagen und Binden aus Schals und Taschentüchern. Als diese fertig waren, wurden sie dem Grubenmanne, der zuletzt heraufgekommen war, über den Arm gehängt, mit Anweisungen, wie er sie gebrauchen solle. Als er so dastand, von dem Lichte, das er bei sich führte, beleuchtet, während er seine kräftige Hand leicht auf einen der Pfähle stützte, bald in die Grube hinunterblickend, bald auf das Volk im Kreise umher, war er nicht die am wenigsten hervorragende Gestalt in der Szene. Es war jetzt finster, und man zündete Fackeln an.

Nach dem wenigen, was der Mann zu den Umstehenden sagte, und was schnell übel den ganzen Kreis hin wiederholt wurde, schien es, daß der verunglückte Mann auf einen Haufen zerkrümelten Schuttes gefallen war, mit dem die Grube halb verstopft war. Ferner war die Gewalt seines Falles durch Erdunebenheiten an der Seite gebrochen worden. Er lag auf seinem Rücken, den einen Arm gequetscht unter sich, und hatte seinem eigenen Glauben nach kaum sich geregt, seitdem er gefallen, außer daß er seine freie Hand zu einer Seitentasche geführt, worin er sich erinnerte, etwas Fleisch und Brot zu haben. Er verschluckte ein paar Krumen davon und tunkte damit ab und zu etwas Wasser auf. Er war geradenwegs von seiner Arbeit gegangen, sobald man an ihn geschrieben hatte, und war den ganzen Tag über marschiert: er befand sich gerade auf dem Wege zu Mr. Bounderbys Landsitz nach Einbruch der Dunkelheit, als er fiel. Er durchschritt diese gefährliche Gegend zu einer so gefährlichen Zeit, weil er unschuldig an dem war, was man ihm zur Last legte, und den nächsten Weg einschlagen wollte, auf dem er sich stellen konnte. Der »Alte Höllenschacht«, sagte der Grubenmann, mit einem Fluche auf ihn, hätte sich endlich seines bösen Namen« würdig gezeigt, denn obgleich Stephen setzt noch nicht sprechen könne, so glaubte er doch, man würde bald sehen, wie er ihn ums Leben gebracht.

Als alles bereit war, verschwand dieser Mann in der Grube. Er empfing noch die letzten hastigen Aufträge von seinen Kameraden und dem Arzte, nachdem die Winde schon begonnen hatte, ihn hinabzulassen. Das Tau lief aus wie zuvor, das Signal wurde gegeben wie zuvor, und die Winde hielt an. Kein Arbeiter zog jetzt seine Hand von ihr zurück. Jeder wartete, seine Hand am Griffe und seinen Körper zur Maschine niedergebeugt, bereit, umzuwinden und aufzuwinden. Endlich wurde das Zeichen gegeben, und der ganze Kreis neigte sich vorwärts.

Denn jetzt wand sich das Seil ein, wie es schien, aufs äußerste angespannt und stramm gezogen. Die Männer drehten mit Anstrengung, und die Winde ächzte. Es war fast unerträglich, auf das Seil zu blicken und zu denken, daß es reißen könnte. Aber Ring auf Ring schlang sich sicher um den Windebaum, und die Verbindungsketten erschienen, und endlich der Eimer mit den zwei Männern, die sich an den Seiten festhielten – ein Anblick, um den Kopf schwindeln zu machen und das Herz zu erdrücken –, und die Gestalt eines armen, zerschlagenen, menschlichen Wesens, sorgsam von ihnen unterstützt, umschlungen und angeknüpft.

Ein leises Gemurmel des Mitleids erhob sich rings aus dem Gedränge. Die Weiber weinten laut, als diese Gestalt, beinahe ohne Gestalt, ganz langsam von seiner eisernen Transportmaschine befreit und auf da« Strohbett gelegt wurde. Zuerst trat niemand als der Wundarzt heran. Er tat, was er konnte, bei seinem Niederlegen auf das Ruhebett, aber das beste, was er tun konnte, war ihn zuzudecken. Als er das sanft getan hatte, rief er Rachael und Cili herbei. Und jetzt sah man da« bleiche, abgehärmte, leidende Gesicht zum Himmel emporblicken, während die gebrochene rechte Hand bloß auf der Außenseite der Kleiderdecken lag, als wenn sie darauf wartete, von einer anderen Hand ergriffen zu werden.

Sie gaben ihm zu trinken, besprengten sein Gesicht mit Wasser und reichten ihm einige Tropfen zur Herzstärkung und etwas Wein. Obgleich er ganz bewegungslos dalag und zum Himmel blickte, lächelte er und sagte: »Rachael.«

Sie fiel nieder aufs Gras an seine Seite und beugte sich über ihn, bis sich ihre Augen zwischen den seinigen und dem Himmel befanden, denn er war nicht imstande, sie zu bewegen, um Rachael anzublicken.

»Rachael, meine Geliebte!«

Sie nahm seine Hand. Er lächelte wieder und sagte: »Laß sie nicht wieder los.«

»Du hast viele Schmerzen, mein einzig lieber Stephen?«

»Ich habe sie gehabt, aber jetzt nicht mehr. Ich habe sie gehabt – schrecklich und lang gelitten – aber es ist jetzt vorüber. Ah, Rachael, und alles ein trüber Schlamm! Ein trüber Schlamm, von Anfang bis zu Ende!«

Ein Schatten seines früheren Wesens schien zurückzukehren, als er diese Worte sprach.

»Ich bin in die Grube gefallen, Liebe, wie, nach den Erzählungen alter Leute, bereits Hunderte und Hunderte von Menschenleben – Väter, Söhne, Brüder, die Tausenden und Tausenden teuer waren, die sie vor Mangel und Hunger schützten. Ich bin in eine Grube gefallen, die mit Feuerdampf angefüllt war, schrecklicher als eine Schlacht. Ich habe in der öffentlichen Bittschrift gelesen, wie jedermann lesen konnte, von den Männern, die in den Gruben arbeiten. Darin flehten sie die Gesetzgeber um Christi willen an, ihre Arbeit nicht zum Mörder an ihnen werden zu lassen, sondern sie zu schonen für Weib und Kind, die sie ebensosehr lieben, wie vornehme Leute die ihren. Als die Grube in Betrieb war, tötete sie ohne Not: jetzt, wo sie verlassen ist, tötet sie auch ohne Not. Sieh, wie wir sterben ohne unser Verschulden, so oder so – in einem trüben Schlamme – alle Tage!«

Er sagte das matt, ohne den geringsten Zorn gegen irgendwen. Lediglich als Wahrheit.

»Du hast deine kleine Schwester nicht vergessen, Rachael. Du wirst sie nicht so leicht vergessen und mich, der ich ihr so nahe bin. Du weißt – arme, stille, liebe Dulderin – wie du für sie arbeitetest, während sie alle Tage lang in ihrem kleinen Stuhl an deinem Fenster saß. Sie starb, jung und ungestaltet, hinsiechend an krankhafter Luft, wie es doch nicht zu sein brauchte, und hinsiechend an den elenden Wohnungen des Arbeitervolkes. Ein schmutziger Schlamm! Alles ein schmutziger Schlamm!«

Luise näherte sich ihm; aber er konnte sie nicht sehen, da er mit seinem Antlitze gegen den nächtlichen Himmel gerichtet lag.

»Wenn nicht alle Dinge, die sich auf uns beziehen, Liebe, so finster und schmutzig wären, so hätte ich nicht brauchen hierherzukommen. Wenn wir uns nicht unter uns selbst im Schlamme bewegten, so würde ich nicht von meinen eigenen Webergenossen und Arbeiterbrüdern so mißverstanden worden sein. Wenn Mr. Bounderby mich jemals recht gekannt hätte – wenn er mich überhaupt gekannt hätte, so würde er sich niemals gegen mich erzürnt haben. Er hätte mich nicht in Verdacht haben können. Aber sieh nur dort, Rachael! Blicke nach oben hin!«

Indem sie seinen Augen folgte, bemerkte sie, daß er auf einen Stern blickte.

»Der hat auf mich geschienen«, sagte er ehrfurchtsvoll, »in meinen Leiden und meinem Elend da unten. Er hat in mein Herz geschienen. Ich habe auf ihn geblickt und habe an dich gedacht, Rachael, bis das Dunkel in meinem Geist sich zerstreute. Wenn manche sich die Mühe genommen hätten, mich besser zu verstehen, so würde ich mir auch die Mühe genommen haben, sie besser zu verstehen. Als ich deinen Brief erhielt, glaubte ich leicht, daß das, was die junge Lady mir sagte und tat, und was ihr Bruder mir sagte und tat, ein und dasselbe wäre, und daß eine böse Übereinkunft zwischen ihnen bestände. Als ich fiel, war ich sehr aufgebracht auf sie und ließ mich verleiten, so ungerecht gegen sie zu sein, wie andere gegen mich waren. Aber in unseren Urteilen wie in unseren Handlungen müssen wir duldsam und geduldig sein. Als ich in meiner Not und Trübsal so nach oben blickte und – der Stern über mir leuchtete – habe ich klarer gesehen und habe es zu meinem Sterbegebet gemacht, daß die ganze Welt nur näher zusammenrücken und ein besseres gegenseitiges Verständnis gewinnen möge, als es meinem armen schwachen Selbst vergönnt war.«

Als Luise hörte, was er sagte, beugte sie sich auf der andern Seite, Rachael gegenüber, auf ihn herunter, so daß er sie sehen konnte.

»Ihr habt gehört?« sagte er nach einem Schweigen von einigen Augenblicken. »Ich habe Euch nicht vergessen, Lady.«

»Ja, Stephen, ich habe Euch gehört; und Euer Gebet ist das meinige.« »Ihr habt einen Vater. Wollt Ihr einen Auftrag für ihn übernehmen?«

»Er ist hier«, sagte Luise mit Schrecken. »Soll ich ihn zu Euch bringen?«

»Bitte.«

Luise kehrte mit ihrem Vater zurück. Hand in Hand dastehend, blickten beide nieder auf das feierliche Gesicht.

»Sir, Ihr werdet mich rechtfertigen und meinen ehrlichen Namen bei allen Menschen wieder herstellen. Das überlasse ich Euch als mein Vermächtnis.«

Mr. Gradgrind war betroffen und fragte: »Wie?«

»Sir«, war die Antwort, »Euer Sohn wird Euch sagen, wie. Fragt ihn. Ich klage nicht an: ich lasse nichts hinter mir, nicht ein einziges Wort. Ich habe Euren Sohn gesehen und mit ihm gesprochen eines Nachts. Ich verlange nicht mehr von Euch, als daß Ihr mich rechtfertigt, – und ich habe das Vertrauen zu Euch, daß Ihr es tun werdet.«

Da die Träger nun bereit waren, ihn wegzuschaffen und der Arzt auf seine Entfernung drang, so schickten sich diejenigen, die Laternen und Fackeln hatten, an, sich vor der Tragbahre in Marsch zu setzen. Bevor sie erhoben wurde und während sie darüber übereinkamen, wie sie gehen sollten, sagte er zu Rachael, zum Stern hinaufblickend:

»So oft ich zu mir selbst kam und ihn auf mein Elend herniederscheinend fand, dachte ich, es wäre der Stern, der zu unseres Erlösers Heimat führte; ich glaube fast, es ist der Stern wirklich.«

Sie nahmen ihn jetzt auf, und er war innig erfreut, als er fand, daß sie im Begriff waren, ihn nach der Richtung hinzutragen, wohin der Stern ihn zu führen schien.

»Rachael, geliebtes Mädchen! Laß meine Hand nicht los. Wir wollen heute abend zusammengehen, meine Liebe.«

»Ich will deine Hand halten und an deiner Seite bleiben, den ganzen Weg über, Stephen.«

»Gott lohne es dir! Will jemand so gut sein, mein Gesicht zuzudecken?«

Sie trugen ihn sehr sanft über die Felder, die Zaunpfade herab durch die weite Landschaft. Rachael hielt immer seine Hand in ihrer. Selten unterbrach ein Flüstern das traurige Schweigen. Es war bald ein Leichenzug. Der Stern hatte ihm gezeigt, wo der Gott des Armen zu finden, und durch Erniedrigung, Not und Vergebung war er zur Ruhe seines Erlösers eingegangen.