Bozena Kapitel 20

Beim «Grünen Baum» hatte die Unterhaltung schon begonnen, aber noch war wenig Wein getrunken worden, noch gab es keine ausgelassene Lustigkeit, noch hatte kein Streit stattgefunden. Die Paare drehten sich langsam und mit bewunderungswürdiger Ausdauer. Von Zeit zu Zeit ertönte ein lauter Jubelruf, ein Bursche klatschte in die Hände, hob seine Tänzerin hoch empor, ließ sie dann sich ein Weilchen allein neben ihm herschwenken, umfaßte sie von neuem und ruhig tanzten sie weiter mit denselben schläfrigen Gesichtern, mit denen sie ihre Fronarbeit verrichteten.

Bernhard trat oft in die Mitte der Stube, sah mit Wohlgefallen, wie viele Mädchenaugen sich erwartungsvoll auf ihn richteten, winkte jedoch keine der Anwesenden nach Bauernsitte zu sich herbei. Eva war für diesen Walzer versagt und mit einer Geringeren trat er nicht in den Reigen.

Bozena stand, alle Frauen und die meisten Männer, die sie umgaben, überragend, finster und grollend in einer Ecke und wies alle Aufforderungen, sich an dem Tanze zu beteiligen, kurz ab. Sie sei nur gekommen, ein wenig zuzusehen, müsse gleich wieder heim. Die Musik schwieg, ein Tanz war zu Ende, nach kurzer Pause wurde wieder aufgespielt, und jetzt hatte Bernhard die «Gräfin» erfaßt und wirbelte mit ihr durch die Stube. Nicht langsam und mattherzig, wie ihr früherer Partner, frisch, mit fröhlicher Anmut und Leichtigkeit schwenkte er sie im Takte. Wie zwei Vögel schwebten sie, flogen sie, als ob die Lüfte sie trügen, jetzt im engen Kreise wie die Lerchen, jetzt wie die Schwalben – dahingleitend in weitem Bogen. Er flüsterte ihr etwas zu und die kokette Dorfschöne blinzelte ihn herausfordernd an; fester drückte er sie an sich, warf den Kopf zurück und schien zu fragen: wer widerstände mir? Sie, nicht minder selbstbewußt, aber weniger naiv, schlug die Augen nieder und schien zu antworten: Ich – vielleicht!

Bozena verwandte von den beiden keinen Blick, ihr Herz klopfte zum Zerspringen, schmerzliche Eifersucht zerschnitt ihr die Brust. Oh, jung sein und begehrenswert wie jene dort! Im Angesichte aller mit Stolz von ihm umfangen werden wie sie, nur einmal, nur einen einzigen seligen Augenblick! Tu ein Wunder, Gott, der du alles kannst! Befriedige diese dürstende Sehnsucht, erlöse diese arme, ringende Seele, lasse sie einmal unschuldig sein ohne Reue und Scham!…

Zu so unerfüllbaren Wünschen hatte Bozena sich verstiegen, als eine Stimme sie anrief: «Grüß Gott!» Evas Vater, ein alter schöner Mann, war zu ihr getreten, er deutete mit dem Mundstück seiner Pfeife auf seine Tochter und fuhr fort: «Das tanzt! Das tanzt!» Wohlgefällig betrachtete er sein Kind und sah dann wieder die Angeredete an, als wollte er sie zur Bewunderung auffordern. Schon drängte sich ein hartes Wort auf Bozenas Lippen, aber sie sprach es nicht aus, vielmehr sprach sie, den Greis forschend ins Auge fassend: «Ein schönes Paar!» Der Bauer verzog den Mund: «Paar?» wiederholte er «Paar? die zwei? – Je nun, auf dem Tanzboden – ja.» Und Bozena atmete auf. Derselbe Ausdruck des engherzigen Hochmuts, der in den welken Zügen des Alten wie versteinert lag – das blühende Gesicht seiner Eva trug ihn auch. Die wird ihr nicht im Ernste eine Nebenbuhlerin, der ist der Jäger trotz aller seiner Vorzüge zu gering! – Bozena verließ die Wirtsstube, sie schritt über den Hof einem kleinen Obstgarten zu, von dem aus der Fußsteig, der bis an die Stadtmauer führte, leicht zu erreichen war. Auf eine Bank unter einem Apfelbaum ließ sie sich nieder und versank in ihre düsteren Gedanken. Eine kurze Zeit nur, und lebhafte, eilende Schritte näherten sich. Sie blickte nicht zurück, sie wußte, er ist es, er sucht sie auf. Im nächsten Augenblick war er bei ihr, setzte sich neben sie auf die Bank und sprach schmeichelnd: «Bozena! Läßt sich die Böse endlich finden?»

Sie antwortet ihm nicht. Er suchte, jedoch vergeblich, ihre Hand zu fassen. «Was hast du wieder? So sag doch ein Wort! – Was ist dir?» sagte Bernhard mit dem leicht erregten Unwillen verwöhnter Menschen.

Nun fuhr sie auf: «Er fragt! Er fragt noch! … Wie? Jetzt kann er kommen, weil ich allein bin! Vor den Leuten kennt er mich nicht! … Weißt du was? Wie du mit mir spielst, so spielt die Eva mit dir!»

Das hatte sie nicht sagen wollen, nicht gleich, nicht so, aber der Ingrimm, der in ihr kochte, sprudelte die Worte heraus. Keuchend lehnte sie sich zurück an den Stamm des Baumes, biß die Zähne übereinander und kreuzte die Arme über der gequälten Brust.

Bernhard lachte gezwungen.

«Mit mir spielt niemand», entgegnete er. «Die Eva weiß recht gut, daß mir’s nicht im Ernst zu tun ist um sie. – Und du solltest wissen, daß ich dich lieb habe!» rief er mit plötzlich ausbrechender Zärtlichkeit und wollte sie umfassen.

Sie stieß ihn zurück und sprach, an allen Gliedern bebend: «Seit einem Jahr vergällt er mir mein Leben. Küßt mich im geheimen und verleugnet mich vor den Leuten … Fort von mir!» herrschte sie, als er statt aller Antwort die Zürnende an sein Herz zu ziehen strebte: «Es muß sein – hörst du? – ich verstelle und verstecke mich nicht mehr. Laß mich in Frieden, wenn du dich meiner schämst!»

Bozena stemmte die Hand gegen seine Brust und hielt ihn von sich mit ausgestrecktem Arme. Und mit diesem stählernen Arme, das wußte Bernhard wohl, hätte er vergeblich gerungen. So senkte er den Kopf auf ihn nieder, lehnte seine Wange daran und sprach: «Ich mag das Gerede der Klatschmäuler nicht – es könnte meinem Grafen zugetragen werden. Und der, du weißt ja, meint, am besten wär’s für mich, wenn ich die Kammerjungfer der Frau Gräfin nähme. Aber ich mag sie nicht!» rief er, sich aufrichtend. «Sie ist mir zuwider – ich hab nur eine gern … Laß mich nur einmal Förster sein, – und die ganze Welt soll schon sehen – wen?!» Es war ein Klang von warmer, überzeugender Empfindung in seinen Worten. Er hatte sie lieb, die Bozena, gewiß; er war stolz auf den uneingeschränkten Besitz dieses bisher unbesiegten Herzens. Er freute sich der Gewalt, die ihm über die Gewaltige gegeben war. Sein unsicheres Wesen wurde von ihrem starken, sein schwankender Wille von ihrem festen mächtig angezogen. Im Bewußtsein ihrer unbegrenzten Liebe ruhte er wie in einer goldenen Wolke, er fühlte sich durch ihre Hingebung gehoben und verklärt. Schützend umhüllte sie ihn, ohne ihn je gedemütigt zu haben, denn immer war sie bereit, sich ihm zu unterwerfen, und alle Lust und alles Weh kam ihr von ihm. Ein Wort, und die Unbezwingliche lag zu seinen Füßen, die größere Seele beugte sich vor seiner Kleinheit, denn kraft ihrer Liebe war er ihr Herr.

Bozena hatte den Arm sinken lassen, der Jäger schlang den seinen um ihren Hals und preßte seine Lippen auf die ihren. Ihr Zorn zerschmolz unter seinen Küssen. Heiße Tränen traten ihr ins Auge und sie sprach wehmütig: «Ich werde niemals deine Frau! Du wirst dich niemals zu mir bekennen. Schweig!» fiel sie ihm ins Wort, da er widersprechen wollte. «Dazu hast du nie den Mut! … Ich bin nur eine arme Magd, und du willst höher hinaus – wir sind nicht füreinander …»

«Ich will dich», beteuerte Bernhard mit Ungestüm, «keine andere, weil sich keine mit dir vergleichen kann. Meinst du, ich bin blind und seh das nicht? … Hab Geduld! … Wirf mir nichts vor … Wir kommen doch zusammen, aber jetzt will ich nichts wissen, nichts hören, nichts fragen als nur: hast mich lieb?»

Bozena legte die gerungenen Hände in ihren Schoß und seufzte schmerzlich auf: «Fragst nicht auch, ob Gott im Himmel lebt? … O Jesus, ob ich ihn lieb habe? Ich wollt, ich könnte sagen, nein, oder ich wollt, ich könnte sagen, warum?»

Trotzig richtete sie sich auf und sprach, als trachte sie sich selbst zu beruhigen über die Natur ihrer Liebe: «In dein hübsches Gesicht habe ich mich nicht vergafft!»

Der Jäger lachte und küßte sie, und Bozena erduldete seine Liebkosungen, aber sie erwiderte sie nicht.

«So bist du heute», grollte sie, «und morgen ist alles wieder wie früher, und morgen trittst du mir wieder aufs Herz. O könnt ich frei sein! … Könnt ich mich losmachen von dir!»

Er erschrak über die Verzweiflung, die aus ihrer Stimme klang; zum erstenmale tauchte die Möglichkeit, sie zu verlieren, vor ihm auf und erfüllte ihn mit tiefster Besorgnis, mit bitterstem Weh: «Dich losmachen von mir?» fragte er vorwurfsvoll, «das möchtest du?»

«Wohl möcht ich’s!» antwortete sie, «aber was hilft mir das? … Bin ich nicht wie verfangen im Dorngestrüpp, es zerfleischt mich, – und läßt mich nicht los … Bernhard! Bernhard!» Sie beugte sich vor, mit beiden Händen griff sie in sein Haar, zog seinen Kopf an ihre Brust und schaute in die Augen, die sich bittend und voll heißer Zärtlichkeit zu ihr erhoben. «Bist mir denn treu?» schrie sie plötzlich auf.

Das rief wieder die alte Bozena! Das war wieder die echte alte Leidenschaft! – Sie zitterte um ihn, er hatte sie wieder! Der funkelnde Blick des Jägers ruhte fest in dem ihren und seine Seele frohlockte. Übermütig strich er mit Daumen und Zeigefinger den Schnurrbart in die Höhe und sprach schmollend, wie ein berechnender, kluger, vollendeter Don Juan:

«Bist du denn mein?»

«Schäm dich!» erwiderte sie, und barg ihr Gesicht in ihre Schürze und schluchzte laut.

Er aber flehte, tröstete, beteuerte. Kein Liebesschwur, den er nicht tat, kein Schmeichelwort, das er nicht sagte. Und Bozena lauschte seiner süßen Rede, von neuem überwunden, von neuem überzeugt. Er wolle ein Ende machen! Das gelobte er, und sollt es ihn die Stelle kosten und seines Grafen Gnade! Von der Bozena läßt er nicht, er kennt ihren Wert, ihr gehört er an in Glück und Not, im Leben und im Tode. Nur sie vermag – – da fährt er zusammen, hält inne … hinter den Büschen des Zauns hat sich’s geregt. Der Teufel! haben seine Worte einen Zeugen gehabt? War ein Lauscher da? Bernhard springt empor und auf die Stelle los, von der aus das Geräusch gekommen. Er ruft laut: «Wer da?» – keine Antwort und ringsum niemand zu erblicken. Sie sind allein.

Etwas verlegen über die Bestürzung, die er unwillkürlich hatte erblicken lassen, kehrt der Jäger zurück. In einen andern Menschen verwandelt, gleichgültig und kalt stand er vor seiner Geliebten und sagte: «Es ist spät – ich muß fort.»

Sie biß die Zähne übereinander und maß ihn mit verachtungsvollen Blicken.

«O du!» rief sie «wenn einer dort gestanden hätt, und wär’s der Stallbub gewesen aus eurem Hause … Und hätte der gespaßt: Unser Jäger geht mit der Magd des Weinhändlers – vor dem Stallbuben hättest du mich verleugnet! Jetzt hättest du’s getan! … Und wenn dich heut abends beim Tische der Hausoffiziere jemand nach mir fragt, wirst du antworten: Ich kenne sie nicht! Gelt?» schrie Bozena mit vernichtendem Hohne und richtete sich hoch auf vor ihm, der mit finsterem Gesichte zur Erde starrte und – schwieg.

«Ich Narr! Ich Narr!» stöhnte sie und wandte sich und rannte davon. Sie schaute nicht – er rief sie nicht zurück, und dennoch hemmte sie bald die Raschheit ihrer Schritte. Sie blieb stehen – sie lauschte – sie wartete und setzte dann immer langsamer ihren Weg fort. Wie oft hatten sie sich schon getrennt, aber niemals hatte ein Abschied ihr das Herz zerrissen wie dieser. Hatte sie doch noch nie so harte Worte zu ihm gesprochen, war ihm doch niemals so weh durch sie geschehen. Wird er ihr je verzeihen? – Schon denkt sie nichts andres mehr als: wird er mir je verzeihen?…

Das macht: sie ist gefangen, ein Spielball in eines Knaben Hand – die große Bozena!

Bozena Kapitel 21

5.

Während Bozena in so schweren Herzenskämpfen rang, wurde auch ihr Schützling von seinem Schicksal ereilt. Zugleich glücklicher und unglücklicher als ihre Getreue, hatte Rosa eine Neigung eingeflößt, die sich nicht verbarg, die nur allzu eifrig zur Schau getragen wurde, die aber so gut wie keine Hoffnung bot, zu ihrem Ziele, dem Frieden einer erwünschten Ehe zu gelangen.

Seit einigen Monaten war in der Umgebung Weinbergs ein Ulanenregiment einquartiert, dessen hübschester Leutnant den großen, sehr mittelmäßig gepflasterten Platz des Städtchens für den geeignetsten Ort zu halten schien, wo seinen Pferden die letzte, höchste Dressur beizubringen wäre. Er kam heut auf dem Mohrenkopf und morgen auf dem Schwarzbraun; er umkreiste den steinernen Marktbrunnen im Jagdgalopp, im spanischen Schritt, im kurzen und im langen Trabe. Er jagte, die Hand am Schirme seines Käppchens, im Fluge wie ein Kosak, oder er ritt feierlich und langsam wie der Cid unter Ximenens Altan, an dem alten Hause vorüber. Und am Fenster stand Rosa voll Bewunderung und lächelte ihm zu. Seit dem Augenblicke, da sie ihn zum erstenmale gesehen, hatte ein neues Leben für sie begonnen. Seltsam, seltsam war ihr’s damals ergangen. So, meinte sie, so rasch, so plötzlich und unwiederbringlich hätte noch keine ihr Herz verloren, nein, verschenkt – gern, glückselig verschenkt.

Mit klingendem Spiele und flatternden Fähnlein war das Regiment auf einem Marsche nach der neuen Garnison durch die Stadt geritten. Und Rosa, von dem Schalle der lustigen Musik an das Fenster gelockt, hatte sich ergötzt an dem bunten Schauspiel zu ihren Füßen; Zug um Zug marschierte vorüber und manches Auge richtete sich mit Wohlgefallen auf das Mädchen, das so übermütig auf die staubbedeckten Reiter herabsah, als defilierten sie nur ihr zu Ehren und zum Spaße da vorbei.

Endlich kam er herangeritten, nachlässig, mit schlaffen Zügeln, und träumte vor sich hin. Nun schien das alte Haus seine Aufmerksamkeit zu erregen. Wie ein verwitterter Aristokrat inmitten geschniegelter Emporkömmlinge nahm es sich mit seinen etwas abgebröckelten Stukkaturen, seinen schweren Strebepfeilern und tiefen Fensterbogen aus, neben den blanken, charakterlosen Nachbarn. Der Offizier sah an dem grauen Gemäuer empor, wie überrascht von seiner altertümlichen Schönheit. Als wecke es in ihm eine wehmütige Erinnerung, betrachtete er es ernsthaft, ja traurig und doch fast liebevoll. Und jetzt begegnete sein Blick dem der Rose am Fenster, dieser holden, trotzigen Rose, so schön, so frisch in ihrer düsteren Umrahmung. Vier junge Augen ruhten ineinander mit unschuldigem Erstaunen, mit selbstvergessenem Entzücken. Und das alte, ewig neue Wunder vollzog sich; in zwei von Schmerz und Glück noch unberührten Seelen erwachte die Sehnsucht und mit Bangen die Ahnung all der Wonnen und all des Wehs, die sie bestimmt waren einander zu bereiten, die Ahnung des großen Lebensgeheimnisses, das Aufgehen des eigenen in einem fremden Dasein.

Unwillkürlich hielt der Jüngling sein Pferd an, und stand regungslos mit emporgewandtem Haupte, mit dem Ausdruck der seligsten Bewunderung auf seinem Gesichte. Eine Hand, die sich auf seine Schulter legte, eine Stimme, die ihn anrief: «Schläfst du, Fehse?» weckte ihn aus seiner Versunkenheit. Er errötete über und über und setzte sich wieder in Bewegung. Der Kamerad aber war der Richtung, welche die Augen des Freundes genommen, mit den seinen gefolgt, er lächelte und machte eine Bewegung, als wollte er sagen: «Ja so – jetzt verstehe ich!»

Und Rosa, bestürzt, beschämt, eilte vom Fenster hinweg, mit dem Gefühl einer ertappten Sünderin. Wie peinlich war der Augenblick! Und doch – sie hätte ihn nicht tauschen mögen gegen alle frohe Stunden, die sie bisher erlebt.

Das kindische Pärchen flog in sein erstes Liebesabenteuer hinein wie junge Vögel in das Feuer. Damals hatte ein österreichischer Offizier alle mögliche Zeit, seine Privatangelegenheiten zu besorgen. Wenn er, wie Fehse es tat, auch täglich drei Meilen weit ritt, um an der Wand den Schatten seiner Angebeteten oder am Fenster den Schimmer ihres Nachtlämpchens zu erblicken, der Dienst, der ihm oblag, brauchte nicht darunter zu leiden.

Später wurde der Leutnant in ein dem Städtchen näher gelegenes Dorf versetzt, und nun begannen jene Fensterparaden auf dem Platze, die sehr bald Rosas Freude ausmachten und Herrn Heißenstein ein Ärgernis gaben.

Frau Nannette nahm von alledem keine Notiz.

Eine Sache, von der man sich nur Kenntnis verschaffen konnte, indem man aus dem Fenster sah, fand sie für angemessen zu ignorieren. Sie predigte nicht etwa mit Worten allein, sie predigte durch ihr Beispiel. Sie pflegte zu unterlassen, was Regula bleiben lassen sollte.

Jawohl, bleiben lassen! Oder hat man jemals gehört, daß ein wohlerzogenes Mädchen Lust und Zeit hätte, aus dem Fenster zu sehen? Wenn dies der Fall, dann muß Frau Nannette sich schämen und ihre Unwissenheit bekennen. Denn wahrlich, ihr ist dergleichen niemals zur Kenntnis gekommen.

Einen stillen, aber heißen Bewunderer fanden die equestrischen Übungen des Leutnants an Mansuet Weberlein. Von seinem Kasten aus, in dem er hockte wie der Frosch im Wetterglase, begleitete der Kommis die Versuche des Ulanen, Fräulein Augentrosts Aufmerksamkeit zu erwecken, mit seinen innigsten Sympathien. Er war ein so begeisterter Anhänger des Militärs, daß er jedem Unternehmen, gleichviel ob es von dem ganzen Stande oder von einem einzelnen seiner Mitglieder in das Werk gesetzt wurde, das beste Gedeihen wünschte.

Wie es kam, daß sich in Weberleins Seele kriegerische Neigungen entwickelten, ist unerklärt geblieben. Er stammte aus einem friedfertigen Geschlechte. Seine Ahnherren hatten als Kommis im Geschäfte Heißenstein gedient, solange dasselbe überhaupt bestand, und sein Vater hatte ihn auferzogen in der Furcht Gottes und der Militärpflicht. Und trotzdem! Als er achtzehn Jahre alt und noch nicht viel über drei Schuh in der vertikalen, aber schon bedenklich in der schrägen Richtung gewachsen war, da kamen Werber aus Ungarn herüber in die Stadt. Mansuet entlief seinem väterlichen Hause und stellte sich.

Er wurde ausgelacht und heimgeschickt. Aber von diesem Tage an galt er in seiner Familie für einen Haudegen, und fühlte sich in einem gewissen Grade mit dem Soldatenwesen verbunden.

In gemütlichen Stunden sagte er zu seinen Vertrauten: «Sehen Sie, jetzt wäre ich Hauptmann, wenn ich nämlich gedient, ich wäre sogar Major, wenn man mich nämlich dazu gemacht hätte.»

Er wußte den Militärschematismus auswendig und avancierte mit seinen eingebildeten Kameraden, in seinem eingebildeten Range. Wenn der hübsche Leutnant Fehse am Hause vorüberritt, da verfehlte Mansuet niemals, dem zweiten Kommis zuzuflüstern: «Sehen Sie, der wäre jetzt mein Subordinierter, wenn ich nämlich gedient hätte, bei den Ulanen nämlich, und zwar im zweiten Regimente.»

Die unschwer zu erratenden Absichten seines «Subordinierten» aus allen Kräften zu fördern, empfand Weberlein den lebhaftesten Drang. Und eines schönen Morgens, als Fehse wieder sein Pferd auf dem Platze tummelte, bemerkte sein stiller Gönner, mit einer Hand auf den Schützling deutend und mit der andern dem Prinzipal einen Brief zur Unterschrift vorlegend: «Ansprechendes Exterieur, das des Herrn Leutnants. Scheinen hier einen Punkt der Anziehung gefunden zu haben.»

Und als Heißenstein schwieg, fuhr der Kommis mit einem diplomatischen Lächeln fort: «So frei gewesen, über den Herrn Leutnant Erkundigungen einzuziehen. Bei Großhändler Heller. Sind dort täglicher Gast. Gute Referenzen. Sehr estimiert im Regimente, höchst anständig.»

«Kümmert das Sie?» fragte Herr Heißenstein in wegwerfendem Tone und schob dem Kommis den unterzeichneten Brief hin.

Weberlein legte einen zweiten vor und erwiderte: «Sehr viel. Die Anständigkeit des Nebenmenschen kümmert mich immer sehr viel.»

«Sie wollen sich vermutlich mit ihm in Verbindung setzen», bemerkte der Prinzipal spöttisch. Weberlein war einmal entschlossen kühn zu sein; er ließ sich nicht irremachen durch die majestätische Ironie Heißensteins. Er dachte: «Wetter! man muß etwas tun für seine Freunde. Ein gutes Wort kann Wunder wirken; es kann Möglichkeiten ins Auge fassen lassen, die sonst nicht erwogen worden wären.»

Und so sprach er: «In Verbindung – ich? – Nur insofern, als ich vermöchte, eine Verbindung mit anderen Personen zu vermitteln, die ihm wahrscheinlich erwünschter wäre.»

Während dieser letzten Rede hatte der Haudegen seine Augen recht fest auf das Blatt in seiner Hand gerichtet. Jetzt wandte er sie seinem Chef zu. Der saß kerzengerade aufgerichtet und machte eine so eisige Miene, daß Mansuet sich von ihrem Anblick durch und durch erkältet fühlte und hüstelnd, als fröre ihn, seinen Rock zuknöpfte. Heißenstein sah den Kommis von der Seite an, und jede Falte auf seinem Gesichte, jedes Haar seiner emporgezogenen Augenbrauen schien zu sagen. «Dieser Mensch wird mich niemals verstehen!»

Der Tag verging. Herr Heißenstein ging auffallend früh und in auffallend schlechter Laune zum Abendessen. Die letztere wurde noch vermehrt, als er Rosas Platz am Tische unbesetzt fand. Ein unerquickliches Gespräch entspann sich zwischen dem Herrn und der Frau vom Hause.

«Wo ist Rosa?»

«Wie allabendlich bei Heller.»

«Wer gab ihr die Erlaubnis…»

«Die nimmt sie wohl selbst. Wer hätte der etwas zu erlauben?»

«Ich!» schrie Heißenstein.

«Du hast doch bis jetzt gegen diese Besuche nichts einzuwenden gehabt», meinte Frau Nannette.

«Von nun an hab ich dagegen einzuwenden», war des Hausvaters kategorische Antwort, und Bozena erhielt den Befehl, Rosa sofort abzuholen und nach Hause zu bringen. Die Magd gehorchte, und Regel, die inzwischen ihre Suppe ausgelöffelt und ohne das leiseste Geräusch geschluckt hatte, küßte ihren Eltern die Hände, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und verließ das Zimmer.

Das Ehepaar war allein.

Er hatte die «Brünner Zeitung», sie ihren Strickstrumpf zur Hand genommen. Vor ihm stand eine Flasche Weines, vor ihr ein kleiner Arbeitskorb, in dem das Knäuelchen, infolge der unglaublichen Geschwindigkeit, mit der sie strickte, ruhelos umherhüpfte. Die Bewegung dieses Knäuelchens schien Herrn Heißenstein unangenehm zu sein, denn er sah es manchmal über die Zeitung hinweg grimmig an.

Eine Atmosphäre des Unbehagens umgab die beiden alten Leute, und Frau Nannette bemühte sich vergeblich, sie zu zerstreuen. Sie lächelte, nickte mit dem Kopfe, sagte von Zeit zu Zeit: «Ja, ja» und: «Du lieber Gott, schon ein Viertel nach neun!» Oder: «Wie doch ein Tag so rasch vergeht!» Sie versuchte sogar durch ein kleines, gemütliches Gähnen die gezwungene Stimmung in eine bequeme zu verwandeln. Alles umsonst!

Endlich hielt sie im Stricken inne, und indem sie mit der Nadel einige Brotkrümchen auf dem Tische in eine gerade Linie schob, teilte sie ihrem Manne mit, als besänne sie sich dessen plötzlich – daß sich ihr heute vormittags auf der Promenade Leutnant von Fehse habe vorstellen lassen.

Herr Heißenstein äußerte den Anteil, den er an dieser Nachricht nahm, dadurch, daß er halblaut zu lesen begann: «Versteigerung der kärntnerischen Kammerfondsherrschaft Friesach, samt der Fronleichnamsbruderschaft Metnitz…»

Frau Nannette fuhr fort: «Ein sehr gebildeter, sehr wohlerzogener junger Mann…»

«An Gebäuden, an Grundstücken, an Untertanen, an Zehenten», murmelte Heißenstein.

«Du hörst nicht, Lieber», sprach seine Gemahlin, und setzte mit größerem Nachdrucke hinzu: «von altem Adel, aus Hannover.»

In einem Tone, der deutlich sagte: «Ich will auch nicht hören», und mit, wie es schien, gesteigertem Interesse an seiner Zeitung, las Heißenstein: «An Untertansgiebigkeit, an unsteigerlichem Gelddienste 609 Gulden 23¾ Kreuzer…»

«Die Fehse sind so alt wie die Montmorency», rief nun Frau Nannette etwas gereizt dazwischen, und vergaß in der Aufregung, ihrer Rede die logische Gliederung zu geben, die sie ihr sonst so gern verlieh. – «So alt wie die Montmorency, und er spricht das schönste Deutsch, das ich jemals hörte.»

«An Kleinrechten», las Heißenstein weiter: «Ein Paar Filzstiefel, ein Stück Hechten, siebenundzwanzig Hendeln, zwei Faschingshühner – – einhundertundfünf Pfund Harreisten…»

Jetzt riß der Faden von Frau Nannettens Geduld. Mühsam, mit großer Selbstüberwindung knüpfte sie ihn wieder zusammen.

Sie beugte sich vor, tippte mit der Stricknadel auf den Ärmel ihres Mannes und sprach: «Es wäre mir angenehm, wenn meine Regula öfters Gelegenheit hätte, dieses ganz vortreffliche Deutsch sprechen zu hören. Das Kind ist so bildungsfähig! Man sollte es nicht glauben, aber heute vormittags wechselte Herr von Fehse einige Worte mit ihr, und schon nachmittags überraschte sie mich mit der Anwendung einiger Imparfaits und Subjonctifs, und mit einer weichen Aussprache der Zischlaute, die mich entzückte. Gestatte demnach, lieber Mann…»

Die Stricknadel fuhr schmeichelnd über den Rockärmel, und bittende Augen ruhten auf dem hartnäckigen Leser. Dieser erhob den Kopf und lächelte seine Ehehälfte an, spöttisch, geringschätzig, herausfordernd.

Frau Nannette fühlte augenblicklich ihre Lippen trocken werden und ihren Hals sich zusammenschnüren. Sie dachte, nicht ohne einen kleinen Schauder, daß es möglich sei, einen Menschen inständigst zu hassen durch ein ganzes Leben hindurch, wegen eines einzigen Lächelns, wenn es so viel Verachtung, so viel Hohn ausdrücke wie dieses.

«Du wünschest also», sprach Herr Heißenstein, «wenn ich recht verstehe, einen Montmorency – Gott, wie sprach der Mann diesen edlen Namen aus! – als Sprachlehrer für unsere Regel. Ich zweifle, ob diese Art in solcher Eigenschaft zu fungieren pflegt, bei Weinhändlerstöchtern.»

Jetzt wurde die Türe des Vorzimmers geöffnet; die Stimme Rosas ließ sich vernehmen. Herr Leopold stand auf: «Genug gescherzt!» rief er, während seine Tochter eintrat. Er wandte sich gegen sie und schleuderte ihr in drohendem Tone die Worte zu: «Herr Leutnant Fehse wird mein Haus niemals betreten!»

Das Mädchen erbleichte und fragte ganz verwirrt über diesen sonderbaren Empfang: «Warum, Vater? – Warum? – Was hast du gegen ihn?»

«Nichts gegen ihn, nichts für ihn», erwiderte Heißenstein, «und dabei soll’s sein Bewenden haben.»

«Warum?» wiederholte sie, «er ist brav und gut, alle Welt liebt ihn.»

«Du wohl auch?» fuhr er sie mit grausamem Spotte an.

«Ja!» antwortete Rosa hochaufatmend.

Er sah sie an und eine leise Regung des Erbarmens mit dem Kinde wurde lebendig in seiner Seele. Streng, aber ohne Härte sprach er: «Schlag dir die Löffelei aus dem Kopfe! Ich will nichts wissen von einem Herrn von Fehse. Du hast gehört, mein Haus betritt er nie.»

«Doch Vater!» war die kühne Antwort des Mädchens, «er kommt morgen. Er will bei dir um mich werben.»

«Werben?!» schrie Heißenstein in aufloderndem Zorne. «Werben?!» Mit flammendem Gesicht schritt er auf seine Tochter zu…

Frau Nannette lief es kalt über den Rücken und mit einem kleinen Schrei sprang sie auf, floh in die Fensterecke und wünschte zu sein, was ihr Mann sie einst genannt: eine Maus – um sich verkriechen zu können.

Anders empfand die Tochter, die Schuldige, auf deren Haupt das Ungewitter sich zu entladen drohte, das die funkelnden Augen des Vaters, seine zuckenden Lippen, sein röchelnder Atem verkündeten. Furchtlos kreuzte sie die Arme und sah ihn mit trotziger Entschlossenheit an. Sie war schön, und Bozena hatte doch recht: sie glich ihrer Mutter. Selbst jetzt noch, in ihrem Zorne mahnte sie an die sanfte Frau. – Jene hätte das Haupt gebeugt, sie erhob’s – jene hätte den Kampf vermieden, sie nahm ihn auf – und dennoch! und dennoch!…

Mitten in seiner Wut, in seiner Empörung über den Widerstand, den sie zu leisten wagte, kam es ihm: Ich hab das Mädchen lieb! – Und wie Ekel an all der Kriecherei und Heuchelei um ihn her, erfaßte es ihn und zog ihn mit Macht zu der einzigen, die seinem Willen ihren Willen entgegensetzte.

Es war totenstill im Zimmer. Frau Nannette zitterte unhörbar, und Vater und Tochter standen einander lautlos gegenüber. Endlich sprach Heißenstein: «Er will kommen? Gut denn.»

«Vater!» rief Rosa, jubelnd über diese unerwartete Antwort. Sie ergriff seine Hand und wollte sie küssen. Er entzog sie ihr mit den Worten: «Mache dir keine Hoffnung, du Törin.»

*

Heißenstein empfing den Herrn Leutnant von Fehse mit aller möglichen Steifheit. Als der Offizier von Bozena geleitet eintrat, erhob sich der Herr des Hauses, ging ihm aber nicht entgegen. Er ließ ihn herankommen, erwiderte seinen militärischen Gruß mit einem Kopfnicken, und als Fehse sich nannte, wies er ihm schweigend einen großen Lehnstuhl an, der neben dem Schreibtische stand. Er selbst setzte sich wieder auf seinen kleinen unbehaglichen Strohsessel. Gerade aufgerichtet vor seinem Gaste, die Hände auf die Knie gelegt, jede einleitende Phrase verschmähend, erklärte er dem jungen Manne, er wisse, welch einen ehrenvollen Antrag zu stellen der Herr Leutnant gekommen sei und bedauere lebhaft, daß die obwaltenden Verhältnisse ihn zwängen, denselben abzulehnen.

Fehse wurde abwechselnd blaß und rot, richtete seine sanften blauen Augen voll Treuherzigkeit auf den Kaufmann und erklärte seinerseits, daß er Fräulein Rosa innigst liebe.

Herr Heißenstein schenkte dieser Versicherung unbedingten Glauben und der Offizier fühlte seine Hoffnung, daß der Vater seiner Geliebten nicht unerbittlich sein könne, wachsen. Er rief, er sei zwar noch sehr jung, bekleide noch keine hohe Charge, habe kein Vermögen, aber er stamme aus einer geachteten Familie, trage einen ehrenwerten Namen, besitze leidliche Fähigkeiten und hoffe Karriere zu machen. Über seinen Ruf bei Vorgesetzten und Kameraden möge Heißenstein Erkundigungen einziehen, sein Oberst sei bereit, sie zu erteilen.

Während er sprach, beobachtete der Geschäftsmann ihn scharf. – Eines großen Geistes Kind bist du nicht, dachte er, aber ein hübscher anständiger Bursche. Fehses offenes Wesen machte einen günstigen Eindruck auf den mißtrauischen und zurückhaltenden Kaufherrn, und der Gedanke an die Möglichkeit einer Vereinbarung flog ihm durch den Sinn. Aus Liebe hat schon mancher größere Opfer gebracht, als das wäre, das der junge Edelmann um Rosas willen bringen müßte, sagte sich Heißenstein.

Er begann umständlich und mit Bedacht dem Offizier zu erzählen, seit wie vielen Generationen das Geschäft, an dessen Spitze er stehe, sich in seiner Familie vom Vater auf den Sohn fortgeerbt habe. Ihm hätte der Himmel seinen Sohn genommen, aber seine ehrenwerte Firma müsse doch fortbestehen, und so sei es denn sein unabänderlicher Entschluß, die Hand seiner älteren Tochter nur demjenigen Manne zu gewähren, der sich herbeiließe, den Namen Heißenstein anzunehmen und dereinst das Handlungshaus weiterzuführen.

Das Gesicht Fehses verfinsterte sich, und als Heißenstein mit den Worten schloß: «Wollen Sie auf diese Bedingung eingehen?» antwortete er bebend vor Entrüstung: «Was berechtigt Sie zu glauben, daß ich meinen Namen weniger hochhalte, als Sie den Ihren? … Ich bin übrigens Soldat mit Leib und Seele und will es bleiben mein Leben lang.»

Herr Heißenstein zollte der klaren und männlichen Sprache des Offiziers, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ und ihre Unterredung beendete, seine Anerkennung. Er fügte, sich erhebend, hinzu, daß er von einem Mann von so korrekter Gesinnung auch ein korrektes Benehmen erwarte. Er äußerte seine, aus seiner Hochachtung für Herrn von Fehse entspringende Überzeugung, daß dieser künftighin jede Gelegenheit, Rosa zu begegnen, meiden werde, und unter der soeben ausgesprochenen Verzichtleistung auf ihre Hand auch die Verzichtleistung auf ihre Neigung verstehe.

«Keine von beiden!» entgegnete der junge Offizier flammend und glühend. «Ich liebe Ihre Tochter und werde von ihr geliebt, ich werde alles daran setzen, sie zu erringen!»

Und gleich darauf, seine Heftigkeit bereuend, flehte er: «Machen Sie uns nicht unglücklich!»

«Verlieren Sie keine Worte», sprach Heißenstein. «Es dürfte Sie später verdrießen, wenn Sie sich erinnern würden, Herr Leutnant von Fehse, daß Sie sich vor einem Weinhändler umsonst gedemütigt haben.» Er machte einige Schritte gegen die Tür.

«Ich werde», rief Fehse außer sich, «nie von Ihrer Tochter lassen! – Und seien Sie überzeugt: sie auch nicht von mir! … Sie sollen bereuen, was Sie heute tun. Merken Sie wohl: Ich habe Ihnen nichts versprochen. Ich habe kein Wort zu halten als das Wort, das ich ihrer Tochter gab!» Heißenstein stand eine Weile in Gedanken versunken und blickte dem Enteilenden nach. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und verfaßte einen langen Brief, den er noch am selben Tage eigenhändig der Post übergab.

Rosa wurde fortan unter strenger Aufsicht gehalten. Zwei traurige Monate hindurch durfte sie das Haus nicht verlassen, und außer in Gegenwart Frau Nannettens keinen Besuch empfangen. Dennoch gelang es Fehse einmal, ihr Nachricht zu geben, und Bozena, die im Zimmer neben dem ihren schlief, und der es war, als habe sie ihren Liebling schluchzen gehört, fand Rosa, als sie an ihr Bett trat, im Schlafe weinend, wie sie es als Kind oft getan. Und dabei hielt sie ein beschriebenes, von Tränen durchnäßtes Blättchen an ihre hochgerötete Wange gedrückt.

Am nächsten Morgen fragte Bozena wohl: «Was war das für ein Brief?» Aber sie bekam eine ausweichende Antwort, und begnügte sich damit.

«Wie mögen Sie Rosa quälen?» sagte sie zu ihrem Herrn. «So eine erste Liebelei, das ist wie Märzenschnee…»

So rein, meinte sie, und so vergänglich.

Von Ahnungen und Träumen nährt sich die junge Liebe, ist fern von ihrem Gegenstand glücklich durch den Gedanken an ihn; wenn sie weint, so freut sie sich ihrer Tränen, und wenn sie leidet, ist sie stolz auf ihren Schmerz … Was bedeutet die unschuldige Schwärmerei eines Kindes gegen die lodernde Höllenglut im Herzen Bozenas.

Bozena Kapitel 22

6.

Heißenstein erschien eines Tages in ungewöhnlich guter Stimmung im Familienzimmer. Er hatte zwei angenehme Nachrichten erhalten. Die erste lautete, das Regiment des Leutnants von Fehse sei im Begriffe, in eine neue Garnison zu marschieren; die zweite hatte ein Brief gebracht, die Antwort auf das Schreiben, das er nach seiner Unterredung mit dem Offizier nach Wien geschickt.

Sie lautete:

Euer Wohledlen zeige ich hiermit an, daß mein Sohn Joseph sich im Verlaufe der nächsten Woche die Ehre geben wird, Euer Wohledlen persönlich aufzuwarten. Derselbe ist vor wenigen Tagen aus England hier eingetroffen, allwo er die ihm aufgetragenen Geschäftsangelegenheiten zu gedeihlichem Abschlusse gebracht hat. Meine angenehme Hoffnung ist es jetzo, daß es ihm auch reussieren möge, sich die Wohlgeneigtheit und die gute Gesinnung Euer Wohledlen und deren werter Familie zu erwerben, und kann keineswegs umhin, zu versichern, daß mein innigster Wunsch befriedigt wäre, wenn mir heut über ein Jahr die Gelegenheit geboten und die Satisfaktion gewährt würde, in großväterlichem Kometenwein (grünes Siegel) die Gesundheit des ersten Frohburg-Heißenstein ausbringen zu dürfen.

Der ich verharre, Euer Wohledlen dienstwilliger

Frohburg.»

Während der Mahlzeit sprach Heißenstein wiederholt von seinem ehemaligen Jugend- und jetzigen Geschäftsfreunde Frohburg. Er lobte dessen wohlgeratene Kinder, er lobte vor allem dessen zweitgeborenen Sohn Joseph, den er zum letztenmal vor fünf Jahren in Wien gesehen hatte. Der Jüngling war damals zwanzig Jahre alt und berechtigte zu den schönsten Hoffnungen. In gut bürgerlichen Verhältnissen erzogen, zur Arbeit und Pflichterfüllung angehalten, hatte er sich zu einem tüchtigen Manne herangebildet. Wohl dem Vater, der sich eines solchen Sohnes rühmen darf, wohl der Frau, die er einst mit seiner Hand beglückt! – Heißenstein kündigte den bevorstehenden Besuch Josephs an und trug Frau Nannette auf, das Gastzimmer zu seinem Empfange auf das beste herstellen zu lassen.

«Ich hoffe und wünsche, daß er sich heimisch fühle bei uns!» setzte er hinzu, und die Drohung: weh euch, wenn er sich nicht heimisch fühlt! klang aus seinem Tone.

Obwohl Frau Nannettens stummes Kopfnicken die einzige Antwort war, die er erhielt, obwohl sich nicht die leiseste Einwendung gegen seine Behauptungen und Befehle erhob, hatte er sich in eine Gereiztheit hineingeredet, die nur hartnäckiger Widerspruch erklärt haben würde.

Oder wurde sie vielleicht durch Rosas bleiches Gesicht hervorgerufen? – Durch den verhaltenen Schmerz, mit dem sie ihre Lippen biß? – Durch die Blicke, die sie ihm aus glühenden Augen zuwarf, die in der letzten Zeit dunkler geworden schienen und in jenem feuchten und feurigen Glanze leuchteten, den vieles Weinen jungen Augen verleiht? … Las er die Gedanken von ihrer Stirn ab? Lag ihr Herz offen vor ihm?

Sie hatte ihn verstanden und schauderte. So wenig kannte sie der alte Mann? Er meinte sie zwingen zu können zu einer ihr widerstrebenden Ehe? Wäre ihr Herz auch frei gewesen, niemals hätte sie sich zwingen lassen. Und jetzt, da sie liebte, da er es wußte, glaubte er für sie wählen zu können? … Welch ein Abgrund klaffte zwischen ihm und ihr, wie fremd stand sie mitten unter den Ihren, wie allein im Vaterhaus! Mit welcher bitteren Qual empfand sie die traurigste von allen Einsamkeiten, die unter Menschen, die uns die nächsten sein sollten.

Unzufrieden mit sich selbst verließ Heißenstein das Gemach. Er hatte sich übereilt. Er hätte noch schweigen, noch nichts verraten sollen von seinen Zukunftsplänen, hätte einen Monat oder zwei ins Land gehen lassen sollen, bevor er den Geschäftsfreund an die längst schon zwischen ihnen genommene Verabredung mahnte. Er machte einen Gang durch die Stadt und besann sich, daß im Kontor die Arbeit seiner warte. Er begab sich in das Kontor und sah bald ein, daß er unfähig war, auch nur zwei zusammenhängende Zeilen niederzuschreiben. Endlich versuchte er, sich mit Mansuet in ein Gespräch einzulassen. Aber der war schweigsam und niedergeschlagen und gab nur einsilbige Antworten.

«Wissen Sie schon? Die Ulanen marschieren?» fragte der Chef unter anderm.

«Weiß», brummte Mansuet und spitzte die Ohren, wie in die Ferne lauschend.

«Sie kommen schon hier vorbei!» rief der zweite Kommis und sprang auf, «man hört die Musik!»

Heißenstein verließ das Kontor und stieg zum Zimmer seiner Tochter empor.

Als er die Tür des weitläufigen Gemaches leise öffnete, sah er Rosa in der Fensternische halb sitzend, halb liegend hingestreckt. Sie hatte die Arme über ihren Arbeitstisch geworfen und das Gesicht in die Linnen vergraben, die ihn bedeckten. Ihr ganzer Körper bebte unter den Erschütterungen eines heftigen Schluchzens, das sich schmerzlich emporrang aus der Tiefe ihrer Brust.

Von einem flüchtigen Mitleid ergriffen, blieb ihr Vater, ohne ein Zeichen seiner Gegenwart zu geben, am Eingange stehen.

Er war gekommen, um sie zu verhindern, dem Geliebten ein letztes Lebewohl zuzuwinken, nun dachte er: «Mag sie doch! – Nachher ist ja ohnehin alles vorbei.»

Das Getrappel der Pferde ertönte auf dem Pflaster, die Klänge eines alten Reiterliedes schallten durch die Luft. «Lebewohl! Lebewohl, mein Lieb!» sprachen sie, riefen sie dem verstehenden, pochenden Herzen zu.

Langsam richtete Rosa sich auf, sie öffnete das Fenster nicht, beugte sich nicht hinaus. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Arme schlaff herabhängend, stand sie regungslos, atemlos und starrte hinunter.

Und jetzt stieg eine dunkle, heiße Blutwelle in ihr Gesicht … Jetzt war er vorbeigekommen. – Und jetzt nickte sie ernsthaft und wiederholt, als hätte ihr jemand fragend zugewinkt und als antwortete sie: «Ja! – ja, gewiß!» Und wie beteuernd preßte sie beide Hände an ihre Brust.

Was soll’s? War das eine Verabredung?…

Geräuschvoll schloß Heißenstein die Türe, deren Klinke er noch in der Hand hielt.

Rosa wandte sich, erblickte ihren Vater und mit einem Schrei, mit ausgebreiteten Armen stürzte sie auf ihn zu. Sie warf sich vor ihm nieder und umklammerte seine Knie, sie drückte ihre Lippen auf seine abwehrenden Hände und beschwor ihn mit Tränen und mit Schluchzen: «Vater, Vater, gib mich ihm!»

Aber das bißchen Mitleid, das er mit einem Geschöpf empfinden konnte, das sich ihm widersetzte, war erloschen. Daß sie noch hoffte, daß sie noch meinte, ihren Willen durchzusetzen, daß sie es noch versuchte, das empörte ihn. Ist er der Mann, der seine Entschlüsse ändert? – Hat er nicht so manchen, den er übereilt gefaßt, zu seinem eigenen Nachteil ausgeführt, bloß deshalb, weil er ihn einmal gefaßt hatte? Und sie traute ihm zu, er werde jetzt nachgeben, da es sich um die Erfüllung eines Lebenswunsches handelte, um das Gelingen sorgsam vorbereiteter und lang gehegter Pläne? Er hatte ihr wohl zu wenig Strenge gezeigt, sie fürchtete ihn nicht genug.

Er ließ sich nicht zu einem Zornesausbruche hinreißen, er blieb nur dabei: sie muß sich fügen. Der Sinn von allem, was er sagte, war: «Mit dem Ungeliebten wirst du leben, den Geliebten wirst du vergessen.»

Auch in ihr waren die weichen und sanften Empfindungen nicht die vorherrschenden. In die Laune, zu bitten, kam sie selten. Heute galt es ihr ganzes Lebensglück, und das alte Wort: Not lehrt beten, bewahrheitete sich an ihr. Sie flehte demütig und inbrünstig; aber so wie er von seinem Entschlusse nicht wich, so blieb auch sie bei dem ihren: ich heirate keinen andern als meinen Geliebten.

«Ich hab ein trauriges Leben», klagte sie. «Du warst niemals gut gegen mich, und die andern sind bös und falsch gewesen. Endlich hab ich mein Herz an einen Fremden angehängt, kann ich dafür? Hat eure Gleichgültigkeit mich nicht dazu gestoßen? Sei du jetzt väterlich – verzeih mir – denke, wenn ich ein Unrecht getan habe, es ist zur Hälfte dein. Verzeih mir, Vater, und laß mich gewähren. Du weißt, ich war zeitlebens ein störrisches Geschöpf. Und den braven Joseph heiße warten; ein paar Jahre nur, dann heiratet er die brave Regula. Die sagt ‹Ja› zu allem, was du befiehlst, die ist nicht widerspenstig wie ich. Belohne sie für ihren Gehorsam mit deinem ganzen Hab und Gut. Ich will nichts, ich verzichte auf alles – nur deinen Segen gib – sag nur: Ziehe hin…»

«Ins Elend!» rief Heißenstein. «Weißt du, was du verlangst? Kennst du den Jammer einer armseligen Militärwirtschaft? Das Herumzigeunern von Dorf zu Dorf … Eine Ehe ohne eigenen Herd, einen Haushalt, den man nicht bestreiten, Kinder, die man nicht erziehen kann? Und er – glaubst du, daß er dich möchte, wenn du ihm kämst ohne einen Heller? Ein Narr wäre er, wenn er dich so nähme, und gewissenlos dazu. Also. nein! Und kein Wort mehr darüber: du gehorchst!»

Sie bewegte noch ihre Lippen, aber sie sprach nicht mehr. Ihre Tränen waren versiegt, finster blickte sie ihren Vater an, der schon an der Türe stand. Da schien ein plötzlich ausbrechendes Gefühl sie zu überwältigen. Sie eilte ihm nach und warf sich an seine Brust. Er fragte: «Bist vernünftig … willst gehorchen?»

Sie gab keine Antwort, sie trat weg von ihm, nachdem sie ihn noch einmal innig geküßt hatte.

Eine Stunde später ließ sie ihn bitten, den Rest des Tages auf ihrem Zimmer zubringen zu dürfen, und die Erlaubnis dazu wurde ihr gewährt.

Frau Nannette lauerte und beobachtete, und schlich mehrmals an Rosas Türe vorbei und sah zufällig – sie wußte wenigstens selbst nicht, wie es geschah – durch das Schlüsselloch. Rosa saß an ihrem kleinen Pulte und ordnete die Gegenstände, die in der Lade aufbewahrt waren.

Im ganzen Hause herrschte einmal wieder dumpfe Gewitterschwüle. Der «Herr» grollte, Bozena ging mit verstörter Miene umher, Mansuet war in bärbeißiger Laune und hatte auf offener Straße einen Streit gehabt mit Bernhard, dem Pfau. Einen Streit, den der kleine Kommis mutwillig heraufbeschwor.

Ohne allen Grund war er im Gespräch mit dem Jäger immer anzüglicher geworden und hatte endlich etwas gemurmelt von einem, «erbärmlichen Wicht». Und Bernhard hatte erwidert: «Führen Sie keine solchen Stichelreden, Sie haben kein savoir-vivre.» Worauf Mansuet rief: «Das ist mir tuttegal! Wenn ich auch nicht sage, was Sie sind, deswegen bleiben Sie’s doch.»

Der Streit würde sicherlich zu Tätlichkeiten geführt haben, wenn der gräfliche Kammerdiener, der demselben beiwohnte, den Jäger nicht fortgezogen und gesagt hätte: «Laß ihn, was kümmerst du dich um den alten Krakeeler!»

Früher als gewöhnlich wurde heute zur Ruhe gegangen. Jeder der Hausbewohner schien Eile zu haben, sich in seine Stube zurückzuziehen.

Frau Nannette schritt in der ihren auf und nieder, seltsame Gedanken und Hoffnungen bewegten sie.

Sie war kurzsichtig, ihr Ehrgeiz zu wenig hochfliegend gewesen. Sie hatte in dem Leutnant Fehse nur einen bildenden Umgang gesehen, nur einen Reformator für Regulas vom Dialekt etwas angehauchte Aussprache. Und nun zeigte sich, daß er sie hätte befreien, erlösen können von dem ewig störenden Einfluß der Stieftochter; er hätte, geschickt unterstützt, diese vielleicht sogar dahin bringen können, sich mit ihm zu verbinden, auch gegen den Willen ihres Vaters.

Ein unversöhnlicher Zwiespalt wäre daraus entstanden. Heißenstein hätte sich losgesagt von der verlorenen Tochter, und in alle Rechte, die Rosa einbüßte, würde Regula getreten sein.

Frau Nannetten schwindelte, als alle diese Gedanken in ihr aufstiegen. So nahe war, so erreichbar die Erfüllung ihrer kühnsten, verwegensten Wünsche gewesen, und sie hatte nichts davon geahnt. Eine kostbare, einzige, nie wiederkehrende Gelegenheit war versäumt, ihrer Tochter die alleinige Herrschaft über das Haus und all seine reichen Güter für die Zukunft zu sichern.

Aufgeregt wie nie in ihrem Leben, bestieg sie ihr Lager und löschte das Licht. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Sie lag sinnend und grübelnd, und ihre Pulse hämmerten fieberhaft.

Im Kamin heulte der Sturm, und draußen umraste er das Haus; warf Sand an die Scheiben, daß sie klirrten, prallte an das Tor, daß es dröhnte; riß Ziegel vom Dach und schleuderte sie mit Gepolter auf die Straße. Frau Nannette hüllte sich in ihre Decke und flüsterte mechanisch ihr Abendgebet.

Wie ist ihr? Wird ihre spröde Phantasie beweglich und gaukelt ihr die Verwirklichung ihrer Träume vor? … Narrt sie die Einbildung, oder hört sie wirklich das Haustor knarren in seinen verrosteten Angeln? – Es ist geöffnet worden, mühsam, langsam – und alsbald schlägt der Sturm es wieder zu und schwer fällt es ins Schloß.

Nannette erhebt sich und eilt ans Fenster. Die Nacht ist dunkel, von keinem Stern erhellt. Die vier Öllampen, welche die Beleuchtung des Platzes zu besorgen haben, verbreiten ein gar spärliches Licht. Sie lauscht, sie späht in die Nacht hinaus, sie wünscht sich die Augen einer Eule, um die Finsternis durchdringen zu können. Jetzt, jetzt sieht sie in die Lichtscheibe, die eine der Lampen auf den Boden wirft, eine Gestalt treten – eine Gestalt im weißen Reitermantel – sie scheint eine zweite zu stützen, zu leiten … Einen Augenblick sind die beiden klar und deutlich sichtbar, dann verschwinden sie im Dunkel. Nannette hat sie erkannt … Und ihr Gewissen ruft ihr zu: Verhindere Unheil – rette das Haus vor Schmach. Auf! auf! Den Mann geweckt – ein Wort, ein Ruf von ihm führt das verirrte Kind zurück. Noch ist es Zeit – tu deine Pflicht!

Was Pflicht! … Ihrer Tochter die Wege bereiten, das ist ihre Pflicht! …

Minuten vergehen, schwerwiegende Minuten. Das Schicksal gönnt ihr noch eine Frist, um ihre Kraft zusammenzuraffen, zu einer guten Tat.

Sie läßt sie ungenützt vergehen.

Ein leichter Wagen fliegt über das Pflaster, Funken sprühen auf unter den Hufen der Rosse. – In den Lüften aber wird es still – still ringsumher – nichts laut als nur der Schall, den jenes Gefährte weckt und sein jagendes Gespann. Von Fieberfrost geschüttelt horcht Nannette. Sie möchte den Sturm beschwören, daß er das Gerassel der Räder übertöne, das den Vater wecken, ihre Hoffnungen noch jetzt vernichten kann…

Grundlose Sorge! Der Sturm hat nur neuen Atem geschöpft; er erhebt sich stärker als zuvor und verschlingt in seinem Toben das ohnmächtige Geräusch, das die Erde ihm zusendet in sein luftiges Reich.

*

Am nächsten Morgen, als Bozena ihm das Frühstück auf sein Zimmer brachte, war Heißensteins erste Frage: «Wie geht es Rosa?»

«Alles still bei ihr, sie schläft wohl noch», antwortete die Magd.

Er zürnte: «Schläft – um acht Uhr? Was für Gewohnheiten! … Hat die Prinzessin so viel Zeit übrig? Wecke sie. Schicke sie hierher.»

Eine Viertelstunde verging. Rosa kam nicht, Bozena brachte keinen Bescheid.

Ist das Kind krank? – Unsinn! Man wird nicht krank wegen einer bekämpften Laune. Das kommt in Romanen vor, nicht im Leben. Oder stellte sie sich vielleicht krank? Das wäre sehenswert!

Mit raschen Schritten geht er über den Gang, kleine Treppen auf und ab. Der Weg von seinem Zimmer zu dem der Tochter scheint ihm endlos. – «Ein rechtes Winkelwerk», denkt er, «dieses Haus.» Er würde den alten Kasten umgebaut haben, wenn ihm der Himmel einen Sohn gelassen hätte. Aber so! – Für einen Schwiegersohn unternimmt er dergleichen nicht. An die Stelle eines Kindes wird der niemals treten, wenn er auch noch so ehrenvoll den Namen der allgeschätzten Firma trägt.

Heißenstein biegt um die Ecke des schmalen Ganges, der zu Rosas Zimmer führt, und staunt, die Tür nur angelehnt zu finden. Er tritt ein; Rosa ist nicht da – das Bett ist unberührt – die Lade des Pultes, in dem sie ihre kleinen Reichtümer aufzubewahren pflegte, geöffnet, doch scheint nichts darin zu fehlen und der Schlüssel steckt. Heißenstein schließt die Lade, und zieht den Schlüssel ab. «Nachlässig und vergeßlich wie immer!» brummte er, dabei jedoch erfaßt ihn eine unerklärliche Angst.

Er eilte zu seiner Frau hinüber; sie saß am Klavier und gab ihrer Tochter Unterricht.

«Hast du Rosa schon gesehen?» fragte er, und bemühte sich, seinem Ausdruck den Anschein der Gleichgültigkeit zu geben.

«Heute noch nicht», antwortete Frau Nannette obenhin, ergrünte wie der Freiherr von Münchhausen, und wandte sich sofort wieder zu Regula, sie beschwörend, dis und es, trotz ihrer scheinbaren Ähnlichkeit, niemals zu verwechseln.

Heißenstein murmelte einen Fluch, und schritt hinaus. Er ist wohl verrückt, sich Gedanken zu machen. Wohin anders sollte Rosa gegangen sein als in die Kirche, die Frühmesse zu hören, zu beten um Ergebung, Sanftmut, Geduld, die ihr not tun, wahrlich! – Das ist’s. Wie kam er nicht gleich darauf? … Daß man doch immer die einfachste, natürlichste Erklärung zuletzt findet.

Jetzt wird sie wohl zurückgekehrt sein, und wenn auch nicht, er will sie erwarten in ihrem Zimmer, und sie ohne Härte empfangen. Er nimmt sich überhaupt vor, in Zukunft milder gegen sie zu sein. Ihr Vorwurf gestern, so ungerecht er war, hat ihm weh getan und fordert zum mindesten eine Widerlegung, eine Zurechtweisung.

Auf dem Gange rennt Bozena ihrem Herrn in den Weg; verstört – bleich wie der Tod.

«Fort!» keucht sie – «Das Kind ist fort!»

«Schweig, Närrin!» – ruft er ihr zu, «Rosa ist daheim – in ihrem Zimmer, muß daheim sein» – und zum zweitenmal tritt er in das Gemach.

Bozena weiß: es ist nicht – er irrt! Und dennoch weckt die Zuversicht, die ihr Herr zur Schau trägt, in ihr einen Schimmer von Hoffnung; er ist trügerisch; wie bald, und er erlischt. Sie stehen in dem Gemache des Kindes und finden es leer.

Von neuem jammert Bozena: «Sie ist fort!» Und den alten Mann überfällt plötzlich und mit Entsetzen die Gewißheit, daß er seine Tochter verloren hat.

Augenblicklich fordert seine Qual ein Opfer, an dem sie sich rächen kann. Schäumend, mit der blinden Wut eines Tieres dringt er auf Bozena ein und schmettert sie zu Boden. Sie fällt hin wie ein Baum, sie wehrt sich nicht.

«So hast du sie gehütet?» schreit er halb von Sinnen, und wiederholt ohne Aufhören: «So hast du sie gehütet?»

Sie zuckt nicht unter seiner ehernen Faust, sie erhebt sich nicht, sie fühlt nichts, sie weiß nichts zu sagen als: «So hab ich sie gehütet!»

Er faßt ihre gerungenen Hände und reißt sie empor auf ihre Knie.

«Sie mußte durch dein Zimmer – mußte sie nicht? … Und du liegst auf dem Ohr – und hörst nichts, siehst nichts – hast geschlafen wie ein Klotz! … Hast geschlafen, während sie davonging – du! du! Die sich ihre Pflegemutter nannte … Eine saubere Pflegemutter! Eine saubere Wärterin! Eine brave Magd!»

Bozena lag gebrochen und ohnmächtig vor ihm auf den Knien. Als er die Worte sprach: «Hast geschlafen …» hatten ihre Augen ihn mit der Scheu des Wahnsinns angeblickt, und sich dann gesenkt in verzweiflungsvoller Scham.

Ein klägliches Wimmern und Stöhnen entrang sich ihrer Brust. – Geschlafen? Das glaubte er? …

O der harte, rauhe Gebieter – der schonungslose Herr, vor dem alle zittern, den sie unbarmherzig nennen, der das geringste Versehen wie einen unverzeihlichen Fehler bestraft … Nicht mit dem leisesten Verdacht streift er ihre Schuld! Was sie getan hat, das traute er ihr nicht zu. Er klagt sie an, doch er verunehrt sie nicht, wie er’s sollte – wie sie es verdient, wie sie selbst sich verunehrt hat!

Was sie getan, er kann es nicht einmal im höchsten Zorn denken – sie ist schlechter, als ein Mensch denken kann! …

Sorglosigkeit wirft er ihr vor. Einen Schlaf, den sie nicht mehr hat – den Schlaf der Unschuld, der Ehrlichkeit und eines ruhigen Gewissens!

Weh über Bozena – sie hat sich selbst gerichtet – den Augenblick verschmerzt sie nie!

Angesichts ihrer maßlosen Verzweiflung gewann Heißenstein einige Fassung. Er öffnete Rosas Pult, er suchte nach einem Briefe, nach einem Abschiedswort, das sie vielleicht für ihn hinterlassen hatte. Er fand nur einen kleinen Zettel, den er vorhin übersehen, und darauf stand:

«Ich gehe zu ihm ohne einen Heller.»

Das war ihre Antwort auf des Vaters: «Glaubst du, er nähme dich ohne einen Heller?»

Er knitterte das Blatt zusammen und warf es zur Erde. Bozena stürzte sich darauf – und las – und raffte sich empor, riß den Schrank auf und durchsuchte ihn mit brennender Hast: «Nichts!» rief sie schmerzlich – «o du guter Gott – nichts fehlt als die Kleider, die sie auf dem Leibe trug und ihr leichtes Mäntelchen … So geht sie aus dem Vaterhause – so geht mein Kind, mein Leben, mein alles hinaus in die weite Welt!»

Heißenstein gebot ihr Schweigen. Er hat sich ermannt. Zwei Stunden später saß er im Postwagen und fuhr denselben Weg, den die Ulanen genommen.

«Wenn jemand nach mir fragen sollte», hatte er beim Abschied gesagt – «ich bin mit» – wie schwer brachte er den Namen über die Lippen! – «mit Rosa nach Wien gefahren. Das ist alles, was ihr wißt. Ihr versteht?»

«Ihr versteht», sagte er, aber er sah dabei nur seine Frau an. Der Verschwiegenheit seiner Magd war er gewiß.

Bozena Kapitel 23

An diesem Tage gönnte sich Bozena keinen Augenblick der Ruhe. Kein Raum, vom Keller bis zum Dachboden, in dem sie nicht nachsah mit kundigem Auge, nicht ordnete mit flinker und geschickter Hand. Sie scheuerte und fegte, verfolgte ihren verhaßtesten Feind: den Staub, bis in seine verborgensten Schlupfwinkel, und blickte des Abends zufrieden auf ihr vollendetes Werk.

Es war ihr letztes Vermächtnis an das Haus, dem sie durch achtzehn Jahre treu gedient.

Sodann begab sie sich ins Kontor, zu Mansuet. Er war allein, die jüngeren Herren hatten schon Feierabend gemacht.

«Was steht zu Diensten?» fragte der Kommis mit einer Gespreiztheit, die nach Würde aussehen sollte. Seit jenem Tanze beim «Grünen Baum» zeigte er sich etwas zurückhaltend gegen Bozena.

«Ich habe Sie bitten wollen», antwortete die Magd, ihm ein Päckchen reichend, das in Papier gewickelt und mit einem Wollfaden zugebunden war, «mir mein Sparkassenbuch aufzuheben.»

Er bemühte sich, sein Erstaunen zu verbergen, und sprach nachlässig: «Wie komme ich zu der Ehre? Ist Ihr Geld bei Ihnen nicht mehr sicher?»

«Seien Sie schon so gut und heben Sie mir’s halt auf», erwiderte sie und streckte ihm die Hand entgegen, in die er seine langen Finger zögernd legte.

«Ich danke Ihnen im voraus, Herr Mansuet. Ich danke Ihnen überhaupt für alles.»

Fort war sie. Hatte ihn verlassen, bevor er Zeit fand, sie zurückzuhalten und sich seine Bestürzung über den bewegten Ton ihrer Stimme recht zum Bewußtsein zu bringen. Und jetzt erst besann er sich, jetzt erst fiel es ihm mit banger Besorgnis auf das Herz, daß sie reisemäßig gekleidet war, ein Bündel trug und eine Geldtasche umgeschnallt hatte.

«Will auch die davongehen?» murmelte er mit schmerzlicher Ironie vor sich hin.

Da möchte er zuvor doch ein Wort mit ihr reden.

Er hatte ihre Stube niemals betreten, jetzt begab er sich dahin. Auf sein Pochen erfolgte keine Antwort, dennoch trat er ein. Inmitten des Zimmers stand ein gepackter Koffer; auf den Deckel hatte eine ungeübte Hand den Namen «Bozena Ducha» mit weißer Ölfarbe gepinselt.

Der Kommis stellte sich davor hin und betrachtete ihn mit wehmütigen Blicken.

«Sie geht ihrem Kinde nach. Hat recht – ich versteh’s», – dachte Weberlein. «Und mich freut’s, daß sie’s über das Herz bringt sich loszumachen von dem Hund, dem Bernhard. Mich freut’s sehr.» Und eine heiße Träne stieg ihm ins Auge.

Er sah sich um in der hochgewölbten, weißgetünchten Stube, in der alles Reinlichkeit atmete. Hier also hat sie existiert, die Bozena. Da steht ihr gewaltiges Bett mit seiner schneeigen Decke, daneben die buntbemalte Truhe, die ihr Eigentum war, die sie mitgebracht hatte aus dem heimatlichen Dorfe. Im Fenster ihr Arbeitstisch, auf dem Gesimse der Rosmarinstock, den sie aus einem kleinen Zweige gezogen; über der Tür das geschnitzte Christusbild, auf dessen Haupt sie über die Dornenkrone ein Blumenkränzlein gelegt hat. Oh – die Bozena! – Wenn sie das einem Menschen getan hätte statt einem Gotte … Wenn sie einem Menschen die Dornen des Lebens in Blumen verwandelt hätte … Einen Gott hätte der sich gefühlt.

Mansuet läßt sich auf einen Schemel nieder, stützt den Ellbogen auf den Koffer und den Kopf auf seine Hand und träumt, so wach er ist – so alt er ist!

Wie die Sachen stehen, hätte ihn die Bozena wohl schwerlich genommen. Er ist zu klein für sie, sie ist zu groß für ihn. Wenn er aber länger geraten wäre um einen halben Schuh, oder – einen ganzen –, wenn er überdies schön geworden wäre – und das hätte ja ohne Wunder der Fall sein können, es sind so viele Leute schön! Dann … Wer weiß, was dann geschehen wäre?

Seinen eigentlichen Beruf würde er gewiß ergriffen haben – Soldat wäre er geworden, und ein Reiterstückchen wie jenes, das Fehse, der Sapperlotter, heute nachts ausgeführt, – das hätt er auch getroffen, er traut sich’s zu!

Nur, daß er sich nicht, so lieblich es auch ist, das Fräulein Augentrost mitgenommen hätte … Er weiß eine andre – die hätte er zu seiner Herrin gemacht, der seine Lorbeeren zu Füßen gelegt, die auf starken Armen durch das Leben getragen … An deren Herzen würde er jetzt ruhen, ein seliger Mann!

So schwärmt der kleine Mansuet von Liebe, Ruhm und Wonne und kauert neben Bozenas Habseligkeiten, wie ein armer Köter neben den zurückgelassenen Gewändern seines Herrn.

*

Der schöne Bernhard saß in seiner Stube und war mit der Abfassung eines Briefes beschäftigt, der ihm viel Mühe machte. Er legte die Feder weg, ergriff sie wieder, er schien zu warten, daß sie sich von selbst in Bewegung setze und das Schreiben beende, das an eine angebetete Wilhelmine gerichtet war und von Liebe, von einem feindlichen Geschicke, von Selbstverleugnung und Vertrauen sprach.

Aber die Feder, deren gequälter Bart sich schon jämmerlich sträubte, wollte ihm den Gefallen nicht tun. Sie benahm sich im Gegenteil so widerspenstig, daß er sich bequemen mußte, sie neu zu schneiden. Von dieser Beschäftigung weg warf er wohlgefällige Blicke im Zimmer umher. Es war mit allerlei Kram überladen und hingen nicht die zwei Gewehre, der Hirschfänger und die Saunadel an der Wand, man könnte glauben, anstatt im Zimmer eines jungen Jägers in dem einer alten Kammerjungfer zu sein. Dazu fehlen weder die Gitarre an blauem Bande, noch die Schattenrisse und Neujahrsbildchen in goldpapiernen Rähmchen, noch so mancher andre geschmacklose Tand aus Wachs und Porzellan.

Die Feder war geschnitten, und so gut oder übel, als es ging, wurde der Brief fortgesetzt. Ein elastischer und energischer Schritt, der sich auf der Treppe vernehmen ließ, störte den Jäger auf das angenehmste in seiner verdrießlichen Tätigkeit. Rasch warf er den angefangenen Brief in die Tischlade, sprang auf und begrüßte das hochgewachsene Weib, das jetzt über die Schwelle trat, mit den jubelnden Worten: «Das hätt ich mir nicht getraut zu hoffen, daß du heut wieder kommst!»

«Freu dich nicht», antwortete Bozena, und er erschrak über das düstere Feuer, das aus ihren Augen leuchtete und über die Abscheu verratende Bewegung, mit der sie ihn von sich wies.

Zwei Schritte und sie stand am Tische, legte ein seidenes Tuch, ein Gebetbuch und einen Ring darauf und sagte: «Ich komm nur, dir die Sachen zurückzubringen, die du mir geschenkt hast. Es ist aus zwischen uns. Ich geh.»

«Was ist der durch den Kopf gefahren?» dachte Bernhard, nahm eine gleichgültige Miene an und fragte: «Du gehst? – und warum? – und wohin?»

Sie zuckte schweigend die Achseln; er ertrug den eiskalten Blick nicht, den sie auf ihm ruhen ließ, und wendete sich ab.

Ärger und Verdruß erfüllten ihn. Sie ist ihm hinter irgendeine Liebelei gekommen, gewiß; deshalb zürnt sie und droht, ihn zu verlassen. Daß sie es wirklich tun könnte, das fällt ihm nicht im Traum ein.

Eher löscht die Sonne aus als ihre Liebe zu ihm, eher verliert er den Glauben an sich selbst als den an ihre Treue.

Nur Vorsicht jetzt, nur unbefangen bleiben! – Am besten ist, er fängt sie in ihrem eigenen Netz.

«Warte!» ruft er ihr zu «so kommst du mir nicht fort. Wer bringt, muß nehmen. Nimm auch du alles zurück, was du mir geschenkt hast.»

Er trat an seine Schublade und wollte sie öffnen, da erinnerte er sich des Briefes an die «angebetete Wilhelmine», der darin lag und dessen in großen Lettern prangende Aufschrift dem scharfen Auge Bozenas schwerlich entgangen wäre. Er errötete und ließ den schon ausgestreckten Arm sinken.

«Behalt’s», sagte sie, «ich werde keinen Liebsten mehr haben, dem ich es schenken könnt!»

Wie seltsam hart klang ihre Stimme, welche Entschlossenheit sprach aus ihrem Ton und welche wehmütige Trauer aus ihrem Gesicht, aus ihrer Haltung und ihrem ganzen Wesen! Kann man zugleich so stark sein und so weich, die Seele eines Helden besitzen und das Herz eines Weibes?

Den Schwachen, der geherrscht hatte über so viel Kraft, erfaßte zum erstenmal ein Bangen, daß diese sich gegen ihn erheben könnte.

Und als er Bozena stumm und gelassen dem Ausgange zuschreiten sah, rief er ihr zu: «Bleib! … Was hast du nur? … Was hab ich dir denn getan?»

«Nichts», erwiderte sie. «Laß mich, ich hab Eile.»

«Du bleibst! – Ich will’s – – ich bitte dich!»

Er folgte ihr, umschlang sie und drückte sie heftig an sich.

Er sah, wie sie erbebte und unsäglich litt, aber die Zärtlichkeit der Selbstsüchtigen ist der Grausamkeit verwandt. Stumpf gegen Bozenas widerstrebende Empfindung, drückte er Kuß um Kuß auf ihre Lippen und flüsterte: «Ich hab dich lieb … Bleib bei mir, Bozena! … Warum willst du nicht?»

Sie entrang sich seiner Umarmung; ihre Wangen flammten und ihr Atem flog.

«Verstehst nicht?» sagte sie: «Es ist aus. Ich bin jetzt von dir los und für immer, denn ich hab die Stunde verflucht, wo ich zum ersten- und letztenmal durch dich glücklich war.»

«Verflucht?!»

Durch Mark und Bein drang ihm dieses Wort, es verletzte ihn in seiner Manneseitelkeit; er stieß einen Schrei echten Schmerzes aus, und als sie den vernahm, da wußte sie, daß ihr Herz doch nicht so ganz für ihn gestorben war. Eine sanfte Regung erwachte in ihr, ein bleicher Schimmer ihres einstigen Gefühls. Und so sehr sie’s drängt: nur fort! nur fort – hinweg! – stumm, wie sie gewollt, kann sie doch nicht von ihm gehen.

Sie faßte ihn beim Arme und indem sie den Nacken niederbeugte, um ihm in das trotzig gesenkte Angesicht zu sehen, sprach sie gedämpft und rasch: «Du hast mich gehabt mit jedem Gedanken in meinem Hirn und mit jedem Hauch in meiner Brust. Und was hast du aus mir gemacht? … Weniger wert bin ich worden durch dich – an Lug und Trug hast du mich gewöhnt und meine Schuldigkeit hab ich um dich versäumt … Schweig!» gebot sie, als er sie unterbrechen wollte – «Ich werf dir nichts vor, dir nichts – alles, alles nur mir! Du kannst vielleicht nicht anders … Ich aber hätte anders gekonnt, und ich hab zehnfach gefrevelt, denn ich hab gefrevelt gegen meine Natur. Das geht so eine Weil‘ – man ist ja wie betrunken – aber die Stunde kommt, wo man erwacht … Mir ist sie gekommen – fürchterlich – und darum muß ich jetzt fort: und – darum, Bernhard, sag ich dir jetzt Lebewohl.»

Und wieder wandte sie sich, und wieder stürzte er ihr in den Weg. Alles in ihm, seine Leidenschaft, seine Eitelkeit, sein Trotz empörten sich gegen die Trennung von ihr.

«Ich laß dich nicht!» schrie er. «Ich rufe das ganze Haus zusammen, laufe hinüber zu deinen Herrenleuten und sage ihnen, daß du entfliehen willst!»

«Das tust du nicht», sagte sie und war wieder völlig ruhig und gefaßt. Mit ausgebreiteten Armen stellte sie sich vor die Tür.

«Ich binde und kneble dich, wenn du mir drohst, bei meiner armen Seele: ich tu’s. – Werd ich fertig mit dir oder nicht, wenn ich will! – was meinst? Willst du die Schande erleben, daß sie dich morgen so finden und hören, daß dich ein Weib gebunden hat?»

Zornig und beschämt trat Bernhard zurück. Nein, mit Gewalt war gegen Bozena nichts auszurichten und doch: verlieren konnte er sie nicht! Zu köstlich war ihr Besitz. Ist sie nur durch Güte und Demut wiederzugewinnen – wohlan, er übt Güte und Demut!

Er warf sich vor ihr nieder, er küßte weinend den Saum ihres Kleides und flehte mit gerungenen Händen: «Bleib bei mir, Bozena!»

Aber die Stimme, der sie sonst gefolgt wäre, und hätte sie aus dem Abgrund der Hölle nach ihr gerufen, hatte ihren alten Zauber eingebüßt. Noch bewegte, noch erschütterte ihr Klagen das Herz Bozenas, doch brach es ihren Willen nicht mehr. Sie hatte auf den Schrei der Sehnsucht ihres Geliebten keine Antwort, als ein schmerzliches «Leb wohl!»

Da sah er zum letztenmal zu ihr empor – angstvoll – fragend – erwartungsvoll – – und begriff endlich, daß alles vorüber war.

Er sprang auf; keuchend und stöhnend stürzte er sich auf sein Bett und wühlte seinen Kopf in die Kissen. Bozena warf einen letzten Blick auf ihn und verließ das Gemach.

*

In menschenfeindlichster Stimmung war Herr Heißenstein nach drei Tagen von seiner Fahrt zurückgekehrt. Als Frau Nannette ihm die Entweichung Bozenas mitteilte, äußerte er nicht das geringste Befremden. Er war und blieb schweigsam und undurchdringlich. Nannette mußte die raffiniertesten Künste, auf welche neugierige Frauen sich verstehen, anwenden, um ihm nur eine dürftige Kunde seiner Erlebnisse zu entlocken. Alles, was sie schließlich erfuhr, bestand darin, daß Rosa anständig untergebracht und das Regiment Fehses weiter marschiert sei nach Ungarn.

«Er wird sie jetzt heiraten müssen, es bleibt nichts andres übrig –» sagte Nannette und warf einen lauernden Blick auf ihren Mann.

Dieser war damit beschäftigt, Schriften zu ordnen, die er einem eisernen, in die Wand eingelassenen Schrank entnommen, der zur Aufbewahrung von Wert- und Familienpapieren diente. Aus einer großen Anzahl vergilbter Blätter hatte er den Trauschein seiner ersten Frau und den Taufschein Rosas hervorgesucht und sie auf dem Schreibtische ausgebreitet. Nannette bot sich an, den Rest «in das Archiv», wie sie großartig sagte, zurückzutragen, aber der undankbare Gatte belohnte ihren guten Willen nur durch ein mürrisches: «Laß gut sein!»

Er holte aus dem Schranke ein dünnes Päckchen, auf dessen Umschlag geschrieben stand: «Meiner Tochter Rosa mütterliches Erbe», und begab sich damit zum Schreibtisch zurück. Frau Nannette schlich ihm nach auf Schritt und Tritt, sie gab sich die erdenklichste Mühe, eine sanfte Duldermiene anzunehmen, und wiederholte mit einem tiefen Seufzer, durch den trotz aller Anstrengung, ihn zu unterdrücken, ein Laut des Jubels und Triumphes sich Luft machte: «Er wird sie jetzt heiraten müssen, es bleibt ihm nichts andres übrig.»

Abfertigend, ohne sie anzusehen, erwiderte Heißenstein: «Natürlich.»

Dieses beunruhigte sie. Soll zuletzt noch alles glücklich enden für die ungeratene Tochter? Nannettens Angst vor einem solchen Ausgange überwand einen Augenblick ihre Furcht vor ihrem Manne.

Mit grimmiger und etwas spöttischer Freundlichkeit sagte sie – und dabei zitterte in ihrem linken Mundwinkel ein Nerv wie ein frierendes Küchlein im Neste: «Du verzeihst wohl? … Du gibst wohl deinen Segen?»

Er fuhr auf. «Ich?!» donnerte er sie an und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Zimmer dröhnte und daß Frau Nannette einer Ohnmacht nahe war.

O Himmel! … So wie jetzt hatte er ausgesehen in jenem unvergeßlichen Zornesausbruch, in dem er das zarte Pflänzchen ihres Mutes so unbarmherzig knickte, daß es seitdem nur noch kränkliche Schößlinge trieb …

Nannette empfand plötzlich eine ganz merkwürdige Schwäche in den Knien und glaubte wahrhaftig, sie werde umsinken. Das aber geschah nicht, denn ihr Mann äußerte den Wunsch, allein zu bleiben, durch ein bündiges: «Hinaus!» Und sie trat sofort den Rückzug an, der nichts an Eile, und manches an Hoheit zu wünschen übrigließ.

In der nächsten Zeit hatte Heißenstein häufig Unterredungen mit seinem Rechtsfreunde, Herrn Doktor Paul Wenzel. Stundenlang und bei verschlossenen Türen wurde da verhandelt; und durch niemand, nicht einmal durch die besorgte Hausfrau und unter keinerlei Vorwand, ob er nun in Gestalt eines kleinen Imbisses, eines eben angelangten Briefes oder einer dringenden Nachfrage erschien, durften die Herren in ihrer Arbeit unterbrochen werden.

Da besann sich Nannette plötzlich, daß die Frau des Advokaten eine Jugendbekannte von ihr sei, daß sie einstens «intim liiert» mit ihr gewesen war, und sie empfand die nagendsten Gewissensbisse, die alte Freundin so lange vernachlässigt zu haben. So setzte sie denn eines schönen Nachmittags ihre Herbstkapotte mit den schottischen Bändern auf, – ein Geschenk, das ihre einstigen Zöglinge ihr kürzlich aus Wien zugesendet hatten, eine echte Lannoy! – hüllte sich in ihren schwarzen Seidenmantel und wurde, eine Viertelstunde später, bei der Gattin des Advokaten angemeldet.

Die gute Frau empfing sie in ihrem unbehaglichen und unbewohnten Salon mit allen Zeichen der Ehrfurcht und mit einer Verlegenheit, die zu verbergen sie nicht einmal versuchte, so gut wußte sie, daß es vergeblich sein würde. Sie bezeigte eine überschwengliche, mit einem gewissen Entsetzen vermischte Freude über den unerwarteten Besuch. Sie entschuldigte sich, daß Frau «von» Heißenstein sie im Hauskleide treffe – aber eine Familienmutter – du guter Gott, muß überall zugreifen … Sie entschuldigte sich, daß sie nicht ihr Leben damit zubringe, auf den Besuch Frau «von» Heißensteins zu warten, sie entschuldigte sich, daß sie Kinder habe und daß es heute nachts geregnet. Sie dankte endlich im stillen Gott, als ihr Mann eintrat und sie von dem mühevollen Geschäft erlöste, ganz allein mit der gebildetsten Frau der Stadt ein Gespräch führen zu müssen, bei welchem diese allerdings nicht zu Worte kommen konnte.

Der Advokat war ein schöner Greis mit fein modelliertem Kopfe, blassem Gesichte und vornehmer Haltung. Seine Mitbürger schätzten ihn hoch und die «Herrschaften» auf den umliegenden Gütern sahen ihn als ein Orakel an. «Was hat der Wenzel gesagt?» – «Man muß den Wenzel fragen», sprachen die feudalen Herren, sooft die Weisheit ihrer Verwalter nicht ausreichte, um irgendeinen Konflikt zwischen dem herrschaftlichen Amte und den Untertanen zu lösen.

In seinem Berufe war Wenzel ein Cato, im geselligen Verkehr jedoch und an seinem eigenen Herde liebenswürdig und galant, wie ein Abbé des achtzehnten Jahrhunderts. Weich hatte das Leben ihn gefaßt, er empfand es dankbar und machte auch andern das Leben so leicht als er konnte.

Seine viel jüngere Frau verehrte in ihm einen Halbgott, und den Nimbus eines solchen hatte sie verstanden, ihm an seinem schlichten bürgerlichen Herde zu wahren. Die liebevolle Bewunderung eines demütigen Weibes ist erfinderisch, ihr Gegenstand wandelte in einem Gemüsegarten – unter Palmen.

Bedächtig, als fürchte er durch eine rasche Bewegung die Weihrauchwolke zu zerstreuen, die ihn umfloß, kam Wenzel auf Frau Heißenstein zugeschritten, die sich erhob und «dem lieben, verehrten Freunde» voll Rührung ihr kleines rundes Händchen, das die Gestalt eines Lindenblattes hatte, entgegenstreckte.

«Ich weiß, was Sie hierherführt, gnädige Frau», sagte der Advokat, indem er sie mit bescheidener Verbindlichkeit nötigte, ihren Platz in der Sofaecke wieder einzunehmen. «Ihr edles Herz ist beängstigt durch die harten Maßregeln, die Ihr Herr Gemahl gestern gegen seine unglückliche Tochter ergriffen hat.»

«So ist es!» rief Frau Heißenstein und führte ihr Taschentuch an ihre trockenen Augen. «Sie verstehen mich, verehrter Freund. Raten Sie, helfen Sie. Ich selbst bin machtlos. Mein vortrefflicher, angebeteter Mann gestattet mir auch nicht ein Wort der Entschuldigung für das irregeleitete Kind zu sprechen.»

Der Advokat bedauerte sie sehr, versetzte sich ganz in ihre traurige Lage, und seine Frau vergoß teilnehmende Tränen.

«Dieser gestrige Schritt», nahm Nannette wieder das Wort, «diese … dieses. .. ich will sagen, dieser – Schritt –»

Was hätte sie darum gegeben, fragen zu dürfen, was für ein Schritt das war? Aber so viel will sie sich nicht vergeben. Daß sie keinen Einfluß auf ihren Mann hat, gesteht sie ein; daß sie sein Vertrauen nicht besitzt – nimmermehr. Und Wenzel hilft ihr nicht. Er schüttelt nur den Kopf und wiederholt: «Er ist zu hart, Ihr Herr Gemahl, zu hart.»

Nannette beschwört ihn, sein möglichstes zu tun, um ihren, durch seine unbegreifliche Tochter so schwer gekränkten Gatten zur Milde zu stimmen, und rüstet sich zum Aufbruche. Sie bittet, Nachsicht mit ihr zu haben, sie ist nur gekommen, um sich auszusprechen, sie hofft, der Advokat und seine teuere Frau werden ihr verzeihen, daß sie es so unumwunden getan; eine Mißdeutung besorgt sie «von solchen Seelen» nicht. Sie bedauert ihren über alles geliebten Mann, ihn zu tadeln erkühnt sie sich nicht. Sie geht, von dem Ehepaare bis zur Treppe geleitet.

«Wie gut und lieb sie ist!» sagt die Doktorin.

«Eine kluge Frau!» sagte lächelnd der Doktor.

Obwohl Nannette den Zweck ihres Besuches nicht vollkommen erreicht hatte, und die Maßregeln, die Heißenstein gegen seine Tochter ergriffen, ihr nach wie vor ein Geheimnis blieben, war sie doch mit dem erreichten Resultat recht zufrieden. Sie hatte erfahren, daß ihr Mann unversöhnlich ist, und sie hatte eine einflußreiche und hochachtbare Persönlichkeit überzeugt, daß die Stiefmutter keine Schuld daran trägt.

Am Abend brachte der Postbote einige Briefe für Herrn Heißenstein, die Nannette übernahm. Darunter befand sich einer von Rosa. Diesen behielt sie zurück – aus Vorsicht. Er konnte auf den Gemütszustand ihres Mannes schädlich wirken. Sie fühlte die Verpflichtung, sich mit seinem Inhalt bekannt zu machen. Der Brief war mit dem Herzblut des Kindes geschrieben und manche Träne war auf ihn gefallen. Nannette ist so ergriffen und erschüttert, findet das leidenschaftliche Einstürmen auf den beleidigten Vater so unpassend, daß sie nicht daran denkt, den Brief abzugeben, ja – ihn verbrennt.

Bozena Kapitel 24

Der Groll Heißensteins gegen seine Tochter wurde durch die Zeit nicht vermindert, eher sogar erhöht. Er hatte Rosa nicht aufgegeben und aus seinem Herzen gestrichen, nein, sie beschäftigte ihn immer, er führte in Gedanken fortwährend Krieg mit ihr. Mit der vom Verstande nicht mehr streng gezügelten Phantasie des Greises malte er sich ihr Vergehen in den dunkelsten Farben aus und verwünschte sie, der Schmerzen wegen, die sie nicht aufhörte ihm zu bereiten. An der Ansicht, die er sich einmal von der Sache gebildet hatte, hielt er hartnäckig fest. – Rosa trug Schuld am Untergange des Hauses, sie hatte Schande auf seinen Namen und auf sein graues Haupt gehäuft, er durfte ihr niemals vergeben – auch wenn er so schwach wäre, es tun zu wollen.

«Ihre Schuld kann niemals gut gemacht, und demnach auch nie vergeben werden», war der Sinn der Antwort, die er Mansuet zurief, sooft dieser ein gutes Wort für seinen Liebling einlegte. Damit war in den Augen des alten Herrn jede weitere Verhandlung abgeschnitten. Gegen dieses Argument, dessen schlagende Wirkung ihn, sooft er es aussprach, mit der Gewalt einer eben erst entdeckten Wahrheit ergriff, gab es keine Einwendung.

Mansuet beobachtete mit tiefem Bedauern die sichtliche Veränderung, die mit seinem Herrn vorging, und sagte zu Schimmelreiter, dem zweiten Kommis: «Der Prinzipal ist wie ein Herbsttag, nimmt ab an beiden Enden.»

Schimmelreiter besaß ein schwaches Begriffsvermögen, aber ein starkes Streben, die hohen und witzigen Gedanken des gescheiten Weberleins nachzudenken.

«An beiden Enden?» wiederholte er; «das heißt, von unten und von oben?»

Mansuet sprach etwas wegwerfend: «Das heißt: physisch und moralisch.»

«Sehen Sie, sehen Sie», rief Schimmelreiter, «so hab ich’s aufgefaßt!»

Fast noch weher, als Heißensteins ohnmächtiger Trübsinn, tat Mansuet Frau Nannettens kaum noch verhüllter Triumph. Sie sah jetzt mit Ruhe der Zukunft entgegen; die Gefahr, daß ihre Stieftochter jemals wieder in ihre Kindsrechte eingesetzt werden könnte, schien so gut wie überwunden. Rosas Flucht wurde für Nannette ein Abschnitt in der Zeitrechnung, nicht mehr noch weniger. Sie sagte: «Das war vor oder nach unserm Familienunglück», wie die Mohammedaner sagen: «vor oder nach der Hedschra» .

Etwa anderthalb Jahre, nachdem Rosa und Bozena das alte Haus verlassen hatten, in der Lichtmeßwoche, erhielt Mansuet einen Brief von seiner Freundin, aus einem Dorfe in der Nähe von Arad. Sie schrieb, daß Rosa ein zartes Mädchen zur Welt gebracht, das in der Taufe die Namen Leopoldine Rosa erhalten, das sein Vater jedoch nie anders als Röschen nenne. Der Herr Oberleutnant sei herzensgut, die junge Frau liebe ihn auch, wie sich’s gehört und wie er’s verdient. «Aber», hieß es in Bozenas Schreiben, «sie hat sich gar verändert, und wenn der Herr Heißenstein nicht doch zuletzt ein Einsehen hat und ihr verzeiht, so drückt es ihr das Herz ab und es nimmt wahrhaftig und Gott kein gutes End‘ mit ihr.»

Dieser Brief enthielt einen Einschluß von Rosas Hand, und in dem lag ein Zettelchen. Die junge Frau bat den lieben, getreuen Herrn Weberlein – den auch ihr Mann unbekannterweise herzlich grüßen ließ – auf das innigste, dasselbe in einer guten Stunde ihrem Vater zu übergeben.

Mansuet wartete einen Tag, zwei Tage. Das dünne Blättchen brannte wie Feuer auf seiner Brust. Er verbiß den Schmerz und benahm sich gegen seinen Prinzipal wie ein Liebhaber, der eine zürnende Schöne um jeden Preis in eine bessere Laune zu versetzen wünscht. Er hätte sich auf seine Knie vor ihm niederwerfen mögen – seine Stimme bebte, wenn er das Wort an seinen mürrischen Chef richtete, ein Wink von diesem verlieh dem kleinen Kommis Flügel. Von seinen Gefühlen überwältigt, erfaßte er plötzlich Heißensteins Hand, küßte sie und preßte sie dann mit einer Gebärde voll unwillkürlicher Komik an seine Brust.

Heißenstein konnte sich eines Lächelns nicht erwehren und fragte: «Was haben Sie denn?»

«Einen Brief!» platzte Mansuet heraus, «einen Brief von unserer Rosa!» wiederholte er, fast weinend – und hielt seinem Herrn das Zettelchen hin.

Heißenstein war bleich geworden bis an die Lippen, vergeblich rang er nach Worten; röchelnd, als läge eine Faust an seiner Gurgel und würge ihn, trat er auf Mansuet zu, riß das Papier aus seinen zitternden Fingern und warf es vor seinen Augen in das Feuer.

Minuten vergingen, bis der völlig außer Fassung geratene Mann zu sprechen vermochte, und dann brachte er mit wuterstickter Stimme die Drohung hervor: «Wagen Sie’s noch einmal, sich zum Boten jener – Frau zu machen, und mit Schimpf und Schande jag ich Sie aus dem Hause!»

Mansuet sah ihn mit einem sonderbaren Blicke an, und nach einer Pause, in welcher er ruhig zu überlegen schien, sagte er: «Gut.»

Ein Jahr danach um dieselbe Zeit erschien wieder ein Brief Bozenas und enthielt abermals einen Einschluß Rosas. Bozena hatte sich dieses Mal sehr kurz gefaßt; ihre Zeilen enthielten nur einen Gruß an Herrn Weberlein und die dringende Bitte, ihr mit umgehender Post einen Teil ihrer Ersparnisse zuzusenden. Mansuet besorgte diesen Auftrag sofort, obwohl die Ausführung desselben mehrere Morgenstunden in Anspruch nahm. Herr Heißenstein hatte voll Ungeduld soeben zum zehnten Mal nach ihm gefragt, als er endlich eintrat, ganz erhitzt, den Hut und den Oberrock mit Schnee bedeckt.

«Wo waren Sie?» herrschte sein Chef ihn an, «was fällt Ihnen ein, davonzulaufen um die Mittagszeit, vor Expedition der Post?»

Mansuet begab sich schweigend in seinen Glasverschlag, warf dort einige Zeilen auf einen Stempelbogen, den er mitgebracht hatte, trat dann zu Herrn Heißenstein, breitete das Blatt vor ihm auf dem Tische aus und sprach: «Hier meine schriftliche Kündigung. Will Sie nicht in die Notwendigkeit versetzen, mich mit Schimpf und Schande aus dem Hause zu jagen. Und hier» – er legte einen Brief auf den Stempelbogen – «ein heut morgens eingelangtes, an meinen Herrn Prinzipal durch mich zu übermittelndes Schreiben.»

Heißenstein sah abwechselnd den Kommis und das zusammengefaltete Blatt an, auf dem er die Schrift seiner Tochter erkannt hatte. Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es ihn, doch behielt er Ruhe genug, um erwidern zu können. «Ich verweigere die von Ihnen erbetene Entlassung. Sie befinden sich in meinem Dienste und haben zu gehorchen.»

Er stand auf und wies dem Kommis seinen Platz an: «Setzen Sie sich! … Setzen Sie sich! …» wiederholte er, und Mansuet folgte seinem Befehle. «Schreiben Sie!» Mansuet nahm eine Feder zur Hand – «Schreiben Sie: Der Unterzeichnete verbittet sich in Zukunft jede weitere Belästigung …»

Mansuet bebte am ganzen Körper, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, aber er schrieb, und Heißenstein fuhr fort zu diktieren: «Belästigung – durch Übersendung von Zuschriften, die an ihren Adressaten zu befördern ihm die Pflicht verbietet. Mansuet Weberlein, Kommis.»

«Mansuet?» rief dieser und sprang auf – «Ich soll das unterschreiben? – Eine haarsträubende Lüge?!»

Er faßte sich mit beiden Händen an den Kopf; sein Gesicht war kreideweiß.

«Mit Wonne und Entzücken», schrie er so laut, daß jedes seiner Worte deutlich vernommen werden konnte in der nebenanliegenden Stube, in welcher Herr Schimmelreiter arbeitete – «mit Wonne und Entzücken erfüllt mich jeder Beweis der Erinnerung und des Vertrauens, den ich von ihr erhalte, von der armen Rosa. Das ist die Wahrheit – die schreib ich – wenn Sie’s erlauben», setzte er leiser hinzu, «sonst – auch das nicht; denn das zu verbieten haben Sie ein Recht. Nämlich heute noch. Da liegt meine Kündigung.» Er deutete auf die Schrift und stürzte wie ein Rasender hinaus und in sein Zimmer, wo er eifrig seinen Kleiderschrank auszuräumen begann.

Eine Stunde lang herrschte im Kontor so tiefe Stille, daß Schimmelreiter angst und bange wurde. «Was tut der alte Herr? – Ist er eingeschlafen? – Ist er ohnmächtig geworden?» Schimmelreiter hätte gern nachgesehen, doch fehlte ihm der Mut dazu. Endlich hörte er seinen Namen rufen und stand im nächsten Augenblicke vor seinem Chef.

Dieser hatte gerötete Augen und sah merkwürdig alt und kummervoll aus. Er reichte dem Kommis ein Bögelchen Papier und ersuchte ihn, darauf zu schreiben:

Wird retourniert

Im Auftrage meines Prinzipals.
Schimmelreiter.

Heißenstein faltete und kuvertierte das Blatt selbst über Rosas unerbrochenen Brief und sprach: «Die Adresse nun!»

Schimmelreiter setzte die Feder an und wartete. «Wird’s?» rief jener, «worauf warten Sie?»

«Auf die Angabe der Adresse», erwiderte kleinlaut der Kommis.

«– Ja – so. Frau von Fehse – k. k. Oberleutnants-Gattin, zu Sega bei Arad in Ungarn, Haben Sie’s?»

«Zu dienen.»

Heißenstein erhob sich: «Auf die Post damit und sogleich!»

Aber der Befehl reute ihn, sobald er gegeben war. Mit einem mißtrauischen Blick nahm er seinem Untergebenen den Brief aus der Hand und steckte ihn zu sich: «Lassen Sie’s», sprach er, «ich gehe ohnehin aus – komme wohl an der Post vorbei …»

Schimmelreiter brachte Hut und Oberrock und blickte seinem Herrn nach, der langsam und gebeugt im Schneegestöber über den Platz schritt.

«Dahin seine stolze Haltung … Was ist aus dem Manne geworden?» dachte er.

*

Als sich Mansuet nachmittags nach dem Kontor begab, um seine Filzschuhe zu holen, die er dort stehengelassen hatte, und einige ihm gehörende Kostbarkeiten aus seiner Lade zu sich zu nehmen: ein Federmesser, das Bozena ihm einst verehrt – ein Beutelchen, das Rosa für ihn gestrickt – endlich auch den neuesten Militärschematismus – sah er seine Kündigung auf seinem Pulte liegen.

Auf dem unteren Rande des Schriftstücks standen, ganz klein und verschämt, von Heißensteins Hand geschrieben, die Worte: «Kann nicht angenommen werden. Bitte vielmehr den getreuesten Diener, geduldig in Gutem und Üblem bei mir auszuharren. H.»

Mansuet brach in ein krampfhaftes Weinen aus und schluchzte: «Mir verzeiht er, mir altem Esel! – Seinem armen Kinde nicht! … O Menschenherz!»

Der nächste Brief, den Mansuet von Bozena erhielt, brachte keinen Einschluß mehr von Rosa. Die junge Frau war krank. Sie hatte vor der Zeit ein Knäblein geboren, das nur wenige Stunden lebte, und konnte sich seitdem nicht recht erholen. Bozena ließ sich zu keinem Worte der Klage herbei, sie zeigte dem alten Gönner das letzte Ereignis in der kleinen Familie an und bat ihn, ihr auch den Rest ihrer Ersparnisse zuzusenden.

Bozena Kapitel 25

Der Sommer des Jahres 1847 kam heran. Im Hause Heißensteins wurde ein schönes Fest: der sechzehnte Geburtstag Regulas, feierlich begangen. «Die ganze Stadt» nahm daran teil, mit alleiniger Ausnahme des Kommis Weberlein, der, von heftigen Kopfschmerzen ergriffen, sich im Augenblicke, wo er zur Tafel gerufen wurde, zu Bett legte. So mancher schöne Toast ward ausgebracht, auf das edle Elternpaar der Gefeierten und auf die Gefeierte selbst. Den schönsten jedoch sprach Advokat Wenzel, der Regula als «die junge Hoffnung des alten Hauses» und ihre Eltern als «den Stolz der Stadt» so hoch und lange, als es auf Erden nur denkbar möglich, leben ließ.

Man ging spät und äußerst erhoben und gerührt, in später Nachtstunde, nämlich um zehn Uhr, auseinander.

Am folgenden Tag trat Heißenstein eine Reise nach Wien an, und kehrte von dort nach dem Verlaufe einer Woche in ganz ungewöhnlich munterer Stimmung und in Begleitung Joseph Frohburgs zurück.

Frau Nannette empfing den jungen Mann, als er nach sorgfältig gemachter Toilette im Gesellschaftszimmer erschien, wo die Familie ihn erwartete, mit jener aus Haß und Liebe, Neid und Wohlwollen gemischten Empfindung, die überzärtliche Mütter dem zukünftigen Schwiegersohn entgegenbringen.

Der also wird in den Besitz ihres teuersten Gutes treten, für den hat sie das vorzüglichste der Geschöpfe geboren und erzogen!

Die gescheite Frau war zum erstenmal in ihrem Leben um eine Ansprache verlegen, als Joseph Frohburg sich tief und ehrfurchtsvoll vor ihr verbeugte, und Heißenstein gewann Zeit, die Vorstellung und Bewillkommnung auf das schlichteste zu besorgen, indem er sprach: «Das hier ist meine Frau, und das dort ist meine Tochter. Laß dir’s bei uns gefallen, mein Junge.»

Gefallen!

Joseph hatte den Blick zu Regula erhoben und sogleich wieder gesenkt. Der erste Eindruck, den sie auf ihn hervorbrachte, war ein ungünstiger, Nannette konnte sich das nicht verhehlen; aber sie tröstete sich mit der Hoffnung, ihr Geist werde ihn bezwingen.

«Zum Abendessen!» rief Heißenstein; «ich habe wahrhaftig Appetit!»

Man begab sich in das Speisezimmer, und Joseph erhielt seinen Platz neben Regula.

Nannette selbst, die ihrer Tochter doch alles mögliche Gute zutraute, war erstaunt über die feine Weise, mit der sie auf den Ideengang des Gastes einzugehen und dabei ihr Licht auf den Scheffel zu stellen verstand.

Er sprach von Nestroys letzter Posse. Sie wußte in seinen Bemerkungen darüber Anknüpfungspunkte zu finden, die sachte hinüberführten auf die Orestie des Äschylus, ihre philosophische Bedeutung und ihren politischen Zweck. Er sprach von der Lieblichkeit der Donauauen – sie schwebte von diesen nach den Sozietätsinseln und nannte den Namen jeder einzelnen. Er sprach von dem Tode seiner Mutter, sie – von der Nadowessischen Totenklage. Er erzählte von dem «Putsch» der Schweizer Radikalen, sie ließ ein Wort über Huitzilopochtli, den Kriegsgott der Azteken, fallen.

Zuletzt wurde das Verständnis zwischen dem jungen Pärchen ein so vollständiges, daß Rede und Gegenrede überflüssig schien. Dem Gaste zum mindesten, der von nun an schwieg.

Beim Beginne des Abendessens hatte sein Blick noch manchmal scheu und prüfend auf der eckigen Gestalt Regulas geruht, auf ihrem gelben Gesichte und den gleichfarbigen, an die Schläfe angeklebten Scheiteln, von denen auch nicht ein Haar abstand; jetzt blieb er hartnäckig auf das Tischtuch geheftet. Joseph wurde bleicher und bleicher, und mußte endlich gestehen, daß er sich unwohl fühle.

Heißenstein hob sofort die Tafel auf und geleitete seinen Gast, der aufzuatmen schien, als er das Speisezimmer im Rücken hatte, auf die für ihn bereit gehaltene Stube.

Am frühen Morgen schon stand ein Postwagen vor dem Hause, und Joseph in Reisekleidern vor Heißenstein.

«Verzeihen Sie mir, mein väterlicher Freund», sprach der junge Mann treuherzig, «aber – ich habe mir’s überlegt, ich fühle noch keinen Beruf, mich zu verheiraten. Ich glaube am ehrlichsten zu handeln, wenn ich es Ihnen gleich eingestehe.»

«Wozu die Eile?» fragte Heißenstein betroffen, «lerne meine Regel besser kennen. Sie gehört zu der Sorte von Weibern, denen jeder Mann ohne Sorge sein Lebensglück anvertrauen kann.»

«Ich bin davon überzeugt», erwiderte Joseph, «allein ob das ihre in meinen Händen gesichert wäre, daran zweifle ich.»

Heißenstein sah ihn an und schüttelte den Kopf: «Sei aufrichtig – sie gefällt dir nicht», sagte er mit einem Ausdruck von so hoffnungsloser Trauer in Stimme und Gebärde, daß Joseph, davon ergriffen, die Hand des alten Mannes faßte und drückte. Dieser klopfte ihm auf die Schulter: «Nun ja, ich habe Besseres für dich im Sinne gehabt. – Es hat aber nicht sein sollen.»

So endete Heißensteins letzter Versuch, den Traum seines Lebens zu verwirklichen. Mansuet suchte vergebens ihn darüber zu trösten, indem er ihn versicherte, er fände zehn für einen Freier für das Fräulein Tochter, und zwanzig für einen, die bereit wären, seinen Namen anzunehmen.

«Keinen mehr, dem ich ihn anbieten möchte!» entgegnete Heißenstein. «Glauben Sie, dazu sei mir leicht einer gut genug? – So mag er denn erlöschen. Ich seh es ein, der Mann, der mir recht wäre, nimmt die Regel nicht!»

Er verfiel in einen dumpfen Trübsinn, aus dem ihn nur noch selten ein Ausbruch des Zornes gegen die Zerstörerin alles dessen weckte, was er noch als Glück zu empfinden vermocht hätte. Mansuet wagte längere Zeit hindurch nicht Rosas zu erwähnen. Er hatte zwar auf seine dringende Nachfrage, wie die junge Frau sich befinde, beruhigende Antwort erhalten, aber Bozena hatte ihm zugleich mitgeteilt, sie habe es ihrem jungen Herrn in die Hand geloben müssen, keine Briefe mehr in das Heißensteinsche Haus zu schicken. Es sei genug gebettelt worden, er selbst wolle nun von einer Versöhnung nichts mehr hören.

«Das habe ich längst gefürchtet», dachte Mansuet. «Er ist k. k. Offizier, er kann sich die fortgesetzten Demütigungen nicht gefallen lassen. Was jetzt beginnen, du guter, lieber Gott? … Wenn von hier aus keine Schritte geschehen, dann ist’s für immer mit der Hoffnung auf eine Aussöhnung vorbei. Wir sind so weit gekommen, daß uns nur mehr eine Person Hilfe schaffen könnte: – Frau Nannette. Sie müßte sich zur Vermittlerin machen zwischen Vater und Tochter. Sie ist jetzt die Herrin des Hauses und ihres alternden Gatten. Er hat aufgehört, ihr Widerstand zu leisten, anfangs aus Gleichgültigkeit, später aus Ohnmacht.»

Die Folge dieser Betrachtungen war, daß sich Mansuet seiner Rosa zuliebe bis zu einer Art demonstrativer Höflichkeit erniedrigte, der verhaßten Gebieterin gegenüber. Er lief nicht mehr davon, wenn er sie von weitem erblickte, er wandte sich nicht ab, wenn er ihr begegnete. Er blieb stehen, machte Front und grüßte sie feierlich. Er brachte es sogar einmal dahin, mit einem Grinsen, das um alles in der Welt freundlich sein sollte, aber einfach – gräßlich war, zu sagen: «Sehr kalt heute? … Belieben zu frieren? …»

Weiter ging es nicht! – Nicht um den Maria-Theresia-Orden! Nicht um die ewige Glückseligkeit!

So versuchte er’s denn doch, sich an Heißenstein zu wenden, und erfuhr keine heftige Abweisung mehr. Der alte Mann antwortete mit schmerzlichen Klagen, mit tiefem Selbstbedauern, daß er nicht verzeihen dürfe – daß seine Pflicht es ihm verbiete.

Mit unerschöpflicher Geduld, mit einem Eifer, der sich nie verleugnete, begann Mansuet immer von neuem Vorstellungen zu machen, um Mitleid zu bitten – es war und blieb vergeblich.

Der alte Mann wurde nur ängstlich, versank nur tiefer in seine Grübeleien und wiederholte melancholisch: «Ich darf nicht, guter Mansuet. Seien Sie mir nicht böse, aber – ich darf nicht.»

In solchem Zustande fand das Revolutionsjahr 1848 den einst so kräftigen Heißenstein. Die Ereignisse der Märztage rüttelten ihn auf aus dem Traumleben, das er seit einiger Zeit führte. Ein neues Interesse ergriff ihn. Zwei Monate lang zählte ihn die liberale Partei zu ihren Anhängern, vom 15. Mai an wurde er ihr erbitterter Gegner.

Mansuet hatte natürlich keinen Augenblick von etwas anderm gesprochen, als von Dreinschlagen, Einhauen und Niederreiten. Wie man dem «Bäckenrummel» in Wien unter weiland Kaiser Franz ein Ende gemacht, so hätte man dieser «Lumperei von einer Revolution» ein Ende machen sollen, die ganz allein durch ein paar Landstände und durch ein halbes Dutzend Studenten «aus purem, verfluchtem Übermut» angerichtet worden war.

Schimmelreiter hingegen erklärte sich für einen konstituierenden Reichstag, mit einer Kammer als Übergangsstadium zur europäischen Republik. Er abonnierte auf die «Konstitution» und schwor, erst seitdem er dieses Blatt halte, wisse er, was es heiße: ein politisches Bewußtsein haben.

Eines Tages las er im Gasthause einigen andächtigen Zuhörern aus seiner Zeitung vor, wie man «auf dem Leichname des Weltkinderspieles ‹Nationalität› zuletzt siegend die Fahne des alles vereinenden Weltbürgertums aufpflanzen müsse,» da riß ihm Mansuet, der von ihm unbemerkt eingetreten war, das Blatt aus der Hand, und forderte ihn auf Degen – und auf Pistolen.

Schimmelreiter erklärte, dieser Forderung nicht entsprechen zu können, und durch volle vierzehn Tage hatte Mansuet für ihn nur das Schweigen der Verachtung. Es herrschte bittere Feindschaft zwischen den beiden, bis die glorreichen Nachrichten aus Italien ihre Gemüter besänftigten. Als Radetzky siegreich in Mailand eingezogen war, zog auch die Versöhnung in das Kontor ein, und die zwei Säulen des Heißensteinschen Hauses ragten wieder in herzerhebender Eintracht ruhig und friedlich nebeneinander.

Im September dieses ereignisvollen Jahres kamen Bekannte Nannettens nach Weinberg: Graf und Gräfin Rondsperg, die Eltern ihrer ehemaligen Zöglinge. Der Graf hatte sein Gut verlassen infolge ziemlich ernster Konflikte, in die er mit seinen Bauern geraten war.

Diese Leute ließen sich’s nicht nehmen, daß eine Änderung eingetreten sei in dem Verhältnisse zwischen «der Herrschaft» und ihnen; nicht nur scheinbar, nicht für kurze Zeit, wie der alte Graf meinte, sondern in Wirklichkeit und für immer. Er aber, dessen Vermögen seit Jahren schon zerrüttet war, wollte nicht an den Bestand einer Neuerung glauben, die seinen völligen Ruin herbeiführen mußte. Doch wurde er es endlich müde, ihnen Vernunft zu predigen, diesen störrischen Dummköpfen, die immer wieder auf die Behauptung zurückkamen: die Patrimonialrechte seien aufgehoben. Zum erstenmal seit der Verheiratung seiner Töchter – seit vollen vierzehn Jahren – verließ der Greis sein Schloß Rondsperg und das undankbare «Gesindel», seine Bauern.

Fern von ihnen wollte er die Wiederkehr der alten Zeiten und die Wiedereinführung der alten, einzig gesetzlichen Gesetze erwarten. Bis dahin sollten die Leute nur sehen, wie sie fertig würden ohne ihn.

Gleich nach der Ankunft des Grafen und seiner Gemahlin in Weinberg begaben sich Heißenstein und Nannette nach dem «Grünen Baum», in dem die Herrschaften abgestiegen waren, und luden sie dringend ein, das unbehagliche Quartier im Gasthofe mit einer Wohnung zu vertauschen, die ihnen Heißenstein in seinem Hause zur Verfügung stellte.

Der Antrag wurde mit liebenswürdiger Freundlichkeit angenommen. Schon am folgenden Tage zog das gräfliche Ehepaar, begleitet von einem einäugigen Kammerdiener und einer gichtbrüchigen Kammerjungfer, in die zu seinem Empfange auf das beste geschmückten Räume ein. Und gewiß betrat Karl V. das Haus Anton Fuggers auf dem Weinmarkte zu Augsburg mit nicht geringerem Bewußtsein einer von ihm erwiesenen Gnade, als Rondsperg des Haus des Kaufmanns Leopold Heißenstein. In seiner Art auch nicht minder gastfrei als der Nachkomme des Webermeisters zu Graben gegen den Beherrscher der Hälfte der damals bekannten Welt, bezeigte sich der Weinhändler gegen den herabgekommenen Edelmann. Während dessen Anwesenheit wurde das Haus von Besuchern nicht leer, und Heißenstein empfing die Gäste seiner Gäste mit derselben Zuvorkommenheit, die er diesen erwies. Frau Nannette drückte abwechselnd ihre einstigen Zöglinge: die Baronin von Waffenau und die Präsidentin von Horsky an ihr bewegtes Herz. Die erste kam von ihrem Gute Haluschka, die zweite kam aus Wien, die erste brachte vier unglaublich wilde Jungen im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren mit, die zweite nur ihren steifen, wortkargen Mann. Alle kamen, um die alten Leute zu sehen und der teuren Ex-Erzieherin und ihrem edlen Gatten Dank- und Lobpreisungen darzubringen. Frau Nannette war manchmal zumute, als ob ihr Flügel wüchsen.

Heißenstein hingegen hatte wahre, wenn auch nicht ungetrübte Herzensfreude nur an einem Gaste, an Ronald, dem Sohn des Grafen, dem die Aufgabe zugefallen war, seinem Vater die Wege zur Rückkehr zu ebnen und die guten Beziehungen zwischen Schloß und Dorf Rondsperg wiederherzustellen. Er fuhr ab und zu, und seine Anwesenheit war für Heißenstein jedesmal ein schmerzliches Fest. Mit einer Mischung von Neid und Wohlgefallen betrachtete er den schönen, ernsten Jüngling und dachte: «Wärst du mein Sohn!»

Während im Reichstage zu Wien und im Parlamente zu Frankfurt die Abschaffung des Adels beantragt wurde, genossen so einige seiner Mitglieder, nur, weil sie diesem Stande angehörten, an den Flammen eines gut bürgerlichen Herdes ein daheim längst entbehrtes Behagen.

Die Gräfin nahm die Gastfreundschaft Heißensteins und die Ergebenheitsbezeigungen Nannettens dankbar und demütig mit der Empfindung hin, mehr zu empfangen, als sie je erwidern könnte. Der Graf ließ sich alle Ehrenbezeigungen huldvoll gefallen, und belohnte sie – wie er überzeugt war, reichlich – durch ein gelegentlich hingeworfenes Wort der Anerkennung.

Im Frühjahr kam Ronald, um seine Eltern wieder nach Rondsperg abzuholen. Der Graf ließ sich überreden, «seine Untertanen» seien durch seine Abwesenheit den ganzen Winter hindurch genug bestraft, und entschloß sich um so leichter in ihre Mitte zurückzukehren, da ihm der Bauernrichter durch Ronald hatte sagen lassen, das leere Schloß käme ihm und der getreuen Gemeinde vor wie eine große Laterne ohne Licht.

Als man Abschied genommen hatte, wandte sich Ronald noch einmal zu Heißenstein, erfaßte seine beiden Hände und sprach: «Ich kann Ihnen niemals vergelten, was Sie für uns getan haben – doch gäbe ich alles darum, es wenigstens versuchen zu dürfen.»

Nannette und Regula vernahmen diese Worte. Ihre Blicke begegneten einander wie zwei Blitze. – Was meinst du? fragte der eine. – Es wäre mein innigster Wunsch, antwortete der andere. Ronald dreiundzwanzig Jahre – du siebzehn. Er vornehm, aber arm – du bürgerlich, aber reich … Sehr reich durch meine Fürsorge, mein Kind …

Ehrgeizige Gedanken stiegen in der Weinhändlerstochter auf. Ihre Mutter jedoch übte sich, in unbelauschten Stunden, in allen möglichen Betonungen der halblaut hingehauchten Worte: «Meine Tochter, die Gräfin von Rondsperg.»

Bozena Kapitel 3

10.

Vier Wochen nach Weberleins Abreise erschien ein Brief von ihm aus Arad. Er meldete darin, daß es ihm noch nicht gelungen sei, eine Spur von denen, die er suchte, aufzufinden. Er bat, einen Aufruf an Bozena, der sie dringend zur Rückkehr nach Weinberg auffordere, in allen österreichischen Blättern zu veröffentlichen.

«Das wäre doch ein Skandal!» bemerkte Regel.

Nannette ehrte die feinen Empfindungen ihrer Tochter, und sooft Heißenstein sagte: «Den Aufruf, gute Frau, hast du dafür gesorgt, daß der Aufruf in die Zeitungen komme – durch Wenzel, nicht wahr? Du brauchst es ihm nur aufzutragen … hast du es getan, Liebe?» – so oft wandte sie verlegen den Kopf und erwiderte: «Morgen soll es geschehen.»

Und jedesmal nickte ihr Heißenstein freundlich dankend zu und sagte: «Wenn der Aufruf gedruckt sein wird, möcht ich ihn lesen.»

Er äußerte auch manchmal den Wunsch, sich mit Wenzel zu beraten – wegen seines Testamentes. Aber der Arzt hatte nachdrücklich verboten, irgend jemand vorzulassen, mit dem der Kranke von Geschäften sprechen könnte, und Nannette mußte dem Advokaten den Eintritt verweigern – so weh es ihrem zartfühlenden Herzen auch tat. Übrigens war es Heißensteins Sache nicht mehr, auf einem Wunsche zu bestehen, derselbe war meist im Augenblicke vergessen, in dem er entstanden war.

Das Jahr neigte sich zum Ende und mit ihm das Leben des kranken Greises. Seine Gedanken begannen in Verwirrung zu geraten, er unterschied nicht mehr zwischen seinen Einbildungen und der Wirklichkeit. Täglich erzählte er Schimmelreiter, seine Enkelin werde nun bald kommen. Und gewöhnlich gab er dem Kommis die Versicherung, die bevorstehende Freude verdanke er seiner Frau, die alles veranstaltet habe zu Bozenas Heimkehr.

«Und Bozena bringt mir das Kind», flüsterte der Kranke geheimnisvoll. «Meine Frau hat einen Aufruf in die Zeitung setzen lassen, lesen Sie mir ihn vor, ich ersuche Sie.»

Schimmelreiter hatte von einem Aufrufe nichts gehört, denn der Brief Mansuets war ihm vorenthalten worden. Ratlos, was er tun oder sagen sollte, griff er dann nach einem Zeitungsblatte und murmelte einige Worte, denen der Greis jedoch, von seinen Träumen befangen, keine Aufmerksamkeit mehr schenkte.

Er lag ruhig, tage- und nächtelang, die Augen nach der Tür gerichtet, und sagte von Zeit zu Zeit: «War das nicht Bozenas Schritt? – Mir ist, als hörte ich sie kommen.»

Bittend erhob sein Blick sich zu Nannette: «Es sollte ihr doch jemand entgegengehen. Vielleicht weiß sie nicht mehr den Weg.»

Diese Sehnsucht ihres Mannes nach dem Kinde seiner pflichtvergessenen Tochter war Nannetten sehr peinlich, und Regel gab zu verstehen, daß sie sich verletzt fühle und gehofft habe, ihrem Vater mehr zu sein.

Um Neujahr erhielt Schimmelreiter einen Brief von Mansuet aus Klausenburg. Dort war Weberlein vier Wochen lang krank gelegen, hatte aber trotzdem «keine Minute» den Zweck seiner Reise aus dem Auge verloren. Er hatte geschrieben, viele Erkundigungen eingezogen; viele Boten ausgesendet und schließlich so viel erfahren, daß er meine, dermalen die Vermutung aussprechen zu können, Bozena sei mit dem Kinde auf dem Heimwege begriffen. Freilich dürfte sie «ohne einen Knopf Geldes» sein. «Sie wird wohl», so schloß Mansuets seltsame Epistel, «keine anderen Postpferde in Ungelegenheit versetzen als die beiden, die jedem Menschen angewachsen sind. Da heißt es ‹hü› sagen zum rechten und ‹hot› zum linken Fuß. Aber finalemang und wenn es schon nicht anders ist: die Bozena hat’s unternommen; die Bozena bringt’s zustande. Was mich bei der Sache bis aufs Blut beißt und wurmt, das ist, daß die alte Schermaus (Hypudaeus arvalis, das schädlichste Nagetier) am Ende doch recht behält und daß ich ebensogut getan hätte, hinter dem Ofen sitzen zu bleiben, als mich hier an der Szamos und an der großen Kükülü herumzutreiben, bis ich ein Fieber auf dem Buckel und die Nachricht in der Tasche hatte, daß die Vögel, auf die ich fahnde, ausgeflogen sind.»

Schimmelreiter hütete sich wohl, Frau Heißenstein von dem Inhalte dieses Briefes auch nur ein Wort zu verraten. Sie hatte am Morgen eine Unterredung mit dem Arzte gehabt, der äußerst besorgt war und erklärte, die Kräfte des Kranken schwänden in bedenklicher Weise. Mit aller möglichen Schonung machte Nannette ihre Tochter mit diesem Ausspruche des Arztes bekannt. Regula blieb dabei gefaßt und stark. Wie immer bemüht, ihre Mutter aufzurichten, sagte sie: «Sonderbar, eben heut ist mir der Vater wohler vorgekommen.»

Nannette jedoch war nicht zu beschwichtigen. Ruhelos wie ein Perpendikel bewegte sie sich zwischen ihrem und dem Zimmer des Kranken hin und her. Regula ersuchte sie mehrmals, sich nicht aufzuregen, was keinem Menschen nütze, ihr selbst aber schädlich sei. Sie gab ihrer Mutter den Rat, ein wenig auszugehen, frische Luft kalmiere die Nerven. Dieser Aufforderung Folge leistend, trat Frau Heißenstein langsam vor den Spiegel und setzte mit angenommener Gelassenheit und Sorgfalt ihren Hut auf. Da kam die Magd hereingestürzt und rief sie zu dem Kranken, den plötzlich eine Ohnmacht angewandelt hatte.

Nannette und ihre Tochter eilten nach Heißensteins Zimmer. Die Wärterin und Schimmelreiter waren damit beschäftigt, ihn zu laben …

Ein Blick auf die verfallenen Züge ihres Mannes, und Nannette rief schaudernd der Magd und dem Diener zu: «Den Arzt! … Den Priester! …» Jene rannten davon und ließen in der Bestürzung das Haustor geöffnet stehen.

Und in diesem Augenblick kam über den großen Platz geschritten eine hohe Frauengestalt in schadhaften, die Spuren langer Wanderung tragenden Gewändern. Sie hielt, sorgfältig in ein Tuch gehüllt, ein schlafendes Kind in ihren Armen. Müden Schrittes schleppte sie sich auf das alte Haus zu und klomm langsam die Treppe empor. Ihr Gesicht verklärte sich, als sie an dem dunkeln Getäfel des Eingangs hinaufblickte, ihr Auge grüßte die wohlbekannten Räume. Wie neu belebt durchwanderte sie die lange Zimmerreihe und stand endlich hochklopfenden Herzens vor dem Schlafgemach ihres alten Gebieters.

Drinnen das Hinundhereilen hastiger Schritte, ein ängstliches Fragen und Flüstern, das schwere Ächzen eines Kranken. Sie stieß die Tür auf und trat ein.

Mit Schrecken und Staunen richteten sich die Augen aller Anwesenden auf das fremde Weib, abwehrende Hände streckten sich gegen sie aus, und plötzlich kreischte eine dünne Stimme wie in Todesangst: «Bozena!»

«Bozena!» wiederholte tonlos und keuchend eine zweite Stimme aus der Tiefe des Zimmers, und von Nannette und Regel unterstützt, richtete eine Greisengestalt sich in den Kissen des Lagers auf.

«Herr!» antwortete die Gerufene mit einem Schrei des Schmerzes über ihn, über den Jammer seines Anblicks, und kniete an der Schwelle nieder.

«Näher – näher», flüsterte er, und Bozena, ihre letzte Kraft aufbietend, erhob sich, trat heran, setzte das Kind auf das Fußende des Bettes und brach zusammen.

Niemand dachte daran, ihr Hilfe zu bringen, wie versteinert standen alle.

Der Kranke aber sah das Kindlein an, lange, lange – liebevoll. Es war klein für seine Jahre und von einem solchen Ebenmaß der Glieder, daß jede seiner Bewegungen dem Auge schmeichelte wie sichtbar gewordener Wohllaut. Gesundheit blühte auf seinen zarten, rosig angehauchten Wangen, und Fülle des Lebens sprach aus den leuchtenden Augen, mit denen es die fremde Umgebung anstaunte zwischen Lachen und Weinen.

Endlich wandte der Greis den Blick von dem Kinde ab und richtete ihn auf seine Frau – unsäglichen Dankes voll. Und Nannette erbebte bis ins Mark, als dieser schon halb erloschene Blick sie traf und als der sterbende Mann zu ihr sprach: «Dieses Glück – ich danke es dir. Sei dafür gesegnet.»

Ein Schatten glitt über sein Gesicht: «Die Verwaiste!…» hauchte er, und eine schwere Träne rollte ihm die Wange entlang. Plötzlich raffte er sich auf; ein Funke der alten Kraft wurde lebendig in ihm, er erhob das Haupt und wandte es gegen Regula … Seine Hand, die so lange bewegungslos gewesen, deutete auf das Kind. «Deine heiligste Pflicht!» rief er gebieterisch seiner bleichen Tochter zu … «Verstehst du mich?…»

Damit sank er zurück. Einmal noch hob sich seine Brust – und er hatte ausgelitten.

Bozena Kapitel 4

11.

Der Poststellwagen, der Mansuet nach Weinberg zurückbrachte, fuhr im selben Augenblick durch das Tor, in dem der stattliche Zug, der Heißenstein zur letzten Ruhe geleitete, sich nach dem Friedhof in Bewegung setzte. Als Weberlein das alte Haus betrat, da hatten sie soeben seinen toten Herrn daraus fortgeführt.

In grenzenloser Bestürzung vernahm der Kommis diese Kunde. Er war zu spät gekommen! Er hatte dem Greise nicht mehr die Hand drücken, ihn nicht mehr fragen können: «Was ist geschehen für Ihr Enkelkind?»

In wilder Eile rannte Mansuet nach dem Gottesacker. Die kirchliche Zeremonie war noch nicht beendet, als er dort anlangte, er durchbrach die versammelte Menge und drängte sich bis an die Stelle vor, von der herüber er Lichter schimmern und bläuliche Weihrauchwolken in die klare Winterluft aufsteigen sah. Noch war das Grab nicht geschlossen über seinem Gebieter. Neben dem betenden Priester, auf den Arm des Grafen Ronald gestützt, stand Nannette, mit verstörtem Angesicht und kaum fähig, sich aufrecht zu halten. An ihrer Seite Regula, ruhig, steif, die herben Lippen fest geschlossen. Und hinter ihr, sie hoch überragend: – Wer? … O Himmel – gütiger: – Wer? Es ist die große, es – war die schöne Bozena. An ihrer Hand ein kleines, holdes Geschöpf – Mansuet muß alle Kraft aufbieten, um nicht laut einen teuren Namen auszurufen. «Röschen!» tönt es in seinem Innern mit wehmütigem Jubel.

Während des Schlusses der traurigen Feier verwendete er kein Auge von dem Kinde, und als alles vorüber war und die anwesenden Bekannten sich um Nannette und Regula drängten, um ihnen ihr Beileid zu bezeigen, näherte er sich Bozena, bei der nur Schimmelreiter allein stehen geblieben war. Sie begrüßte ihn mit einem ernsten Kopfnicken, und er, dem das Herz doch weich zum Schmelzen war, pflanzte sich vor sie hin, starr und eckig, wie eine Feuerkieke, und sagte, nachdem er die Freundin lange betrachtet: «Haben sich sehr verändert.»

«Bin grau geworden», erwiderte Bozena, zog das kleine Röschen, das sich ganz und gar eingewickelt hatte in die Falten ihres Rockes, aus seinem Verstecke hervor und hob es in ihren Armen auf.

«Nicht gerade grau, vielmehr pfeffer- und salzfarbig», sprach Mansuet, und als Bozena ihn darauf versicherte, er hingegen sehe gerade noch so aus wie vor sieben Jahren, antwortete er gleichgültig: «Die Leute behaupten’s.»

Schimmelreiter hat später oft erzählt, Mansuet sei ihm damals merkwürdig affektiert vorgekommen. Man habe ihm einen schweren Kampf zwischen Schmerz und Freude und zugleich das Bestreben angesehen, nicht mehr davon zu verraten, als er für vereinbar hielt mit seiner Manneswürde.

«Ich bin aber», nahm Bozena nach einer Pause das Wort, «noch so rüstig wie je, und ich bitte Sie, sagen Sie das der Frau. Was ihr zwei andere Mägde leisten, das leiste ich allein und betreue nebstbei das Kind, es soll ihr keine Ungelegenheit machen, solange ich da bin. Ich bitte Sie, Herr Mansuet, legen Sie ein gutes Wort für mich ein, damit man mich bei dem Kinde läßt.»

«Ganz überflüssig», antwortete der Kommis, «die Frau wird Sie gern behalten, die kennt ihren Vorteil.»

Sie waren langsam hinter der Menge, die sich nach allen Richtungen verlief, hergeschritten, und traten nun aus dem Friedhofe. Mansuet schielte immerfort nach dem Kinde, das ihn, das Köpfchen an Bozenas Hals geschmiegt, so schelmisch anblinzelte, wie die Augen eines sechsjährigen Mädchens nur immer vermögen.

«Werden Sie», fragte der Kommis, «das Kind noch lange so herumschleppen?» und setzte, sich an Röschen wendend, mürrisch hinzu: «Weißt du wohl, daß es eine Schande ist, sich tragen zu lassen, wenn man so alt ist wie du?»

«Es liegt viel Schnee», meinte Bozena entschuldigend, «und sie ist nicht schwerer als eine Puppe.»

«Mag sein», entgegnete Mansuet.» Was haben Sie nur an der aufgezogen?»

«Klein ist sie, das ist wahr», sagte Bozena.

«Und stumm auch», sagte Mansuet.

Da brach das Kind in schallendes Gelächter aus und rief, so laut es konnte: «Ich bin nicht stumm! – und gehen kann ich auch … Und ich will jetzt laufen, Bozena. Du kannst den kleinen schlimmen Mann auf den Arm nehmen, damit er wieder gut wird.»

Bozena war sehr erschrocken über diese unpassende Äußerung ihres Zöglings, und gebot ihm Schweigen. Zu Mansuet aber sprach sie: «Ich hoffe, Sie können nicht bös sein auf ein dummes Kind.»

Worauf er großartig erwiderte: «Lassen Sie sich nicht auslachen.»

Schimmelreiter jedoch küßte wie verzückt das über Bozenas Schulter herabhängende Händchen der Kleinen. Schweigend langte die Gesellschaft zu Hause an. Unter dem Tore setzte Bozena ihre leichte Bürde ab; sie blieb stehen, kreuzte die Arme und hielt eine Weile die Augen stumm auf das gegenüberliegende Haus gerichtet.

«Wer wohnt jetzt dort?» fragte sie endlich mit Überwindung.

«Gar viele Leute», antwortete Mansuet, «wir haben ja Wohnungsnot in Weinberg. Der Kreishauptmann, der Herr Graf, ist im Jahre achtundvierzig fortgekommen. Und unser Bekannter, sein Jäger» – Mansuet wandte den Kopf und heftete den Blick so fest auf einen der steinernen Torpfeiler, als ob sich dort etwas Unerhörtes begäbe – «der hat die Kammerjungfer der Gräfin geheiratet und ein Revier gekriegt, hier in der Nähe …»

«Hier in der Nähe?» wiederholte Bozena.

«Ist aber längst nicht mehr da, hat selbständig nicht gut getan, heißt es», fuhr Mansuet fort. «So schickte ihn sein Graf auf eines der großen Güter, die er in Böhmen besitzt. Dort lebt der Bernhard unter der Zucht des Oberförsters, der keinen Spaß versteht … verstehen soll. Soll! – das alles weiß ich ja nur vom Hörensagen …»

«In Böhmen also», sagte Bozena leise vor sich hin.

«Ja, ganz hoch oben. Es heißt auch, er sei öfter betrunken als nüchtern, aber ich will ihm nichts Übles nachreden. Es heißt, er prügle seine Frau; nun, das ist ihre Sache. Ein Wunder wär’s übrigens nicht. Das verwöhnte Jüngferchen paßt auf keinen Fall für hin. Der hätte ein tüchtiges Weib gebraucht, das ihm den Daumen aufs Auge setzt.»

Ein Bote von Frau Heißenstein, der Mansuet und Schimmelreiter nach dem Geschäftszimmer beschied, wo ihnen das Testament, von dem sie noch keine Kenntnis hatten, vorgelesen werden sollte, unterbrach dieses Gespräch. Die beiden Kommis empfahlen sich und folgten dem Rufe der Gebieterin.

Als sie eintraten, fanden sie Nannette auf das eifrigste – Mansuet behauptete auf das zudringlichste – bemüht, den Grafen Ronald zurückzuhalten, der sich verabschieden wollte. Sie gab ihm mit einem süßsäuerlichen Lächeln zu verstehen, daß es gefühllos wäre, die Hinterbliebenen eines ihm befreundeten Mannes in solcher Eile zu verlassen.

Ronald ließ sich endlich überreden und blieb, vermochte aber nicht zu verbergen, wie unpassend ihm seine Anwesenheit im Hause in diesem Augenblicke erschien.

Man setzte sich um den Tisch. Doktor Wenzel verlas das Testament Heißensteins.

Der Verstorbene ernannte darin seine einzige Tochter, Regula Heißenstein, zur Universalerbin seines ganzen Vermögens. Die Nutznießung desselben verblieb lebenslänglich seiner getreuen Gattin, Frau Nannette Heißenstein. Einige ansehnliche Legate waren ausgesetzt, Schimmelreiter war reichlich, Mansuet fürstlich bedacht. Ihm wurde überdies im ebenerdigen Geschoß des Hauses eine Wohnung für die Dauer seiner ganzen Lebenszeit zur freien Verfügung gestellt. Mit warmen Worten sprach Heißenstein von «dem treuesten Diener», er empfahl seiner Frau und seiner Tochter, ihn hoch in Ehren zu halten und ohne seinen Rat nichts Wichtiges zu beschließen.

Während Doktor Wenzel diesen Absatz des Testamentes salbungsvoll vortrug, schien Mansuet immer kleiner zu werden, und sank zuletzt so tief in sich zusammen, daß sein vornübergebeugter Kopf in eine Linie mit dem Tischrande zu stehen kam und keiner von den Anwesenden sein Gesicht sehen konnte.

Einige Verfügungen zu Gunsten der Armen der Stadt folgten, zuletzt kam die Anordnung, das Geschäft des Kaufmanns nach seinem Tode sogleich aufzulösen und das Verbot, die Firma, unter was immer für Bedingungen, zu veräußern. Mit Leopold Heißenstein habe das Handlungshaus zu bestehen aufgehört. Das Testament war vor sieben Jahren verfaßt und seither auch nicht ein Wort daran geändert, nicht das kleinste Kodizill beigefügt worden.

Eine Stunde später empfahl sich Graf Ronald bei den Damen. Mansuet und Schimmelreiter begleiteten ihn bis an den Wagen, und machten dann einen weiten Spaziergang auf der Landstraße. Erst bei sinkender Nacht kamen sie heim. Sie waren die ganze Zeit hindurch fast stumm nebeneinander hergegangen.

Jetzt, als sie schon unter das Haustor traten, sprach Schimmelreiter: «Ja, ja, Sie sind nun eine glänzende Partie, und ich bin eine sehr annehmbare.»

«Was sind Sie?» fragte Mansuet.

«Eine annehmbare Partie», wiederholte Schimmelreiter und zupfte sich an dem dünnen, borstigen, weit abstehenden Barte. Er sah mit seinem runden Gesichte, seiner flachen Nase und seinen großen Augen einem Seehunde ähnlicher denn je.

«Besonders Ihre fünfundfünfzig Jahre werden die Frauenzimmer locken» sprach Weberlein wegwerfend.

«Ich wünsche mir keinen Backfisch» rief sein Kollege eifrig, und fügte nach einer Pause, während der Mansuet ihn spöttisch von der Seite ansah, stockend und in großer Verlegenheit hinzu: «Diejenige, welche – ist bereits mittelalterlich.»

Aber schon im nächsten Augenblicke wollte er, wie Lazarillo, lieber gestorben sein, als diese Rede ausgesprochen haben, denn er hörte neben sich ein derart schneidendes «So?», als hätte es eine Schlange gezischt. Der kleine Mansuet fuhr mit beiden Händen in die Taschen seines Rockes, hob sich so hoch er konnte auf den Fußspitzen empor und sagte dem großen Schimmelreiter trocken in den Bart hinein: «Beruhigen Sie sich! – Diejenige nimmt Sie nicht.» Mit diesen Worten wandte er sich, und war so rasch verschwunden, als hätte ihn der Boden verschlungen.

Während sich dieses zu ebener Erde ereignete, saßen im düsteren Speisezimmer des ersten Stockes Nannette und ihre Tochter beim Abendessen. Regula hatte keinen Appetit und machte schon zum zweitenmal die Bemerkung, daß Graf Ronald ein angenehmer, aber doch gar stiller und schweigsamer junger Mann sei. Mit ihr zum Beispiel habe er keine Silbe gesprochen.

Nannette legte das Stückchen Brot, das sie eben im Begriffe war, in den Mund zu stecken, auf den Tisch, betrachtete es eine Weile tiefsinnig und sagte, indem sie einen fast schalkhaften Blick auf ihre Tochter warf, nichts könnte mehr für ihn sprechen, als – daß er nicht gesprochen habe.

In ihrem Zimmer, im zweiten Geschosse des Hauses, saß Bozena bei einer flackernden Kerze und nähte an einem Kinderkleidchen. Neben ihrem großen Bette stand ein kleines, das einst Rosa gehört hatte, als diese noch ein Kind war. Jetzt schlief ihr verwaistes Töchterlein darin. Sie selbst aber, und ihrer gedachte Bozena in dieser Stunde, sie schlief am Fuße des Negoi, in einem stillen Alpentale im fernen Grabe. Dort ruhte sie umsungen von den geheimnisvollen Liedern des Sturmes, umhüllt von der schimmernden Decke des Schnees, für alle tot; nur lebend noch in der Erinnerung einer armen Magd, und in den Träumen eines schlafenden Kindes.

*

Mansuet hatte recht gehabt. Nannette hütete sich wohl, Bozena zu entlassen.

Sie war viel zu klug, um sich über ihre geringe Befähigung zur Ausübung des Hausfrauenberufes zu täuschen, und daß Regel in diesem Punkte in ihre Fußtapfen trat, wußte sie ebenfalls. So konnte ihr nichts willkommener sein, als Bozenas tätige und umsichtige Hilfe. Und nicht nur praktischen, auch moralischen Vorteil schaffte deren Gegenwart. Daß Frau Heißenstein das Kind und die Magd der entlaufenen Stieftochter, die ihr eigener Vater verstoßen, aufgenommen hatte, erregte die Bewunderung der ganzen Stadt. Sich ein Verdienst aus einer Handlung machen, die ihr zum Nutzen gereichte, wie entsprach das Nannettens Neigungen!

Bozena trachtete «der Frau» das kleine Röschen so viel wie möglich aus den Augen zu schaffen, denn sein Anblick berührte die Stiefgroßmutter sehr unangenehm. Um keinen Preis jedoch hätte Bozena zugegeben, daß es auch nur einmal heißen könne, sie habe dem Kinde zuliebe das Geringste im Dienste Nannettens oder Regulas versäumt. So traf es sich, daß, infolge einer schweigenden Übereinkunft zwischen der Magd und ihrem alten Gönner, dieser sehr oft die Stelle einer Wärterin und eines Hofmeisters bei der Kleinen versah. Er weihte sie in die Geheimnisse des Lesens und Schreibens ein, lehrte sie die Volkshymne singen, führte sie sonntags zur Kirche und war täglich in der Mittagsstunde mit ihr auf der Promenade zu sehen. Und wie stolz schritt er da neben ihr einher! So schreitet nur noch eine ruhmbedeckter Kanonier neben der schönen Köchin seines Herzens. Der sechzigjährige Mansuet lebte auf in der Liebe zu Röschen; diese neue Leidenschaft stellte sogar seine alte Neigung für Bozena in den Schatten. Ja, ja – es ist nicht zu leugnen: allmächtig wirkt der Reiz der Jugend, unwiderstehlich der Zauber der Anmut, er bezwingt selbst die gefeite Seele, und: «ein gebrechlich Wesen ist» – der Mann.

Woche um Woche verging, Monat um Monat. Im Hause Heißenstein wurde es immer stiller, denn seine Gebieterin kränkelte und siechte dahin. Tiefe Melancholie hatte sich ihrer seit dem Todes ihres Mannes bemächtigt. «Er zieht sie nach», sagten die Leute. Sie nahm sichtbar ab; wenn man sie aber fragte, ob sie sich krank fühle, erwiderte sie fast erschrocken, sie habe sich niemals besser befunden. Der Arzt meinte, ihre Nerven seien angegriffen, der herannahende Frühling, der häufige Aufenthalt in freier Luft werde sie herstellen. Der Frühling kam, doch brachte er keine Veränderung im Befinden Nannettens herbei. Sie litt an Schlaflosigkeit, sie fieberte.

Eines Tages ließ sie Doktor Wenzel rufen und ersuchte ihn, alle gesetzlichen Schritte einzuleiten, um Regula, die im Begriffe stand in ihr zwanzigstes Jahr zu treten, großjährig sprechen zu lassen. Nannette sah der Erfüllung dieses Wunsches mit einer Ungeduld entgegen, die wohl verriet, daß sie keineswegs so ruhig über ihren Gesundheitszustand war, wie sie vorgab. Was sie quälte, war aber nicht die Furcht vor dem Tode, sondern eine peinliche Erinnerung, von der sie sich vergeblich loszumachen suchte. Sie wurde, was sie niemals gewesen war, zerstreuungsbedürftig und zu gleicher Zeit außerordentlich fromm. Sie brachte, trotz aller Warnungen des Arztes, der die größte Schonung empfahl, ihre Tage damit zu, ihre Bekannten und die Kirchen zu besuchen. Erschöpft oder aufgeregt kehrte sie heim, niemals jedoch aufgeregter, als wenn sie aus dem Beichtstuhle kam. An solchen Tagen wirkte der Anblick Röschens wie der eines Schrecknisses auf sie. Niemand konnte sich das erklären, nur Bozena sagte zu Mansuet, sie verstehe es wohl. Bozena war übrigens die Vorsicht selbst; niemals kam ein Wort über ihre Lippen, das auch nur dem Schatten eines Vorwurfs gegen «die Frau» geglichen hätte.

Der Arzt fand endlich einen Namen für Nannettens Krankheit, er nannte es ein Zehrfieber, und erteilte seiner Patientin den Rat, nach der Schweiz zu reisen.

«Werde ich dort gesund? Stehen Sie mir dafür?» fragte sie, und rief, als er eine ausweichende Antwort gegeben hatte: «Schon gut, schon gut. Lassen Sie mich zu Hause …» Sie vollendete den Satz nicht, warf einen feindlichen Blick auf den Arzt und entließ ihn.

Er ging, durchdrungen von Bewunderung für die starkmütige Frau, und sorgte für die Verbreitung ihres Ruhmes.

Sobald Regula großjährig erklärt worden war, eröffnete ihre Mutter eine lebhafte Korrespondenz mit der Freiin von Waffenau, in der viel von dem Grafen Ronald die Rede war. Er selbst ließ sich nicht blicken.

Nebst den geselligen Verpflichtungen und den frommen Übungen, die sie sich auferlegt hatte, nahm die Abwickelung der Erbschaftsangelegenheit und die Auflösung des Heißensteinschen Geschäftes die Witwe in Anspruch. Sie entfaltete eine staunenswerte Tätigkeit, sie wollte vom kleinsten Detail selbst Kenntnis nehmen, sie ließ sich täglich durch Wenzel Bericht erstatten, verhandelte mit Mansuet, beriet sich mit Schimmelreiter, den sie zu ihrem Sekretär ernannt hatte.

Aber seltsam, all die Interessen, die sie mit so großem Eifer betrieb, füllten ihre Seele nicht aus. Ein rätselhaftes Etwas, ein Gedanke, nie ausgesprochen, immer zurückgewiesen, immer wiederkehrend, ein quälender Mahner und Bedränger, hielt sie in seinem Banne. Mitten im Gespräche überkam es sie plötzlich, faßte sie mit unsichtbaren Händen, und in ihrer Kehle erstarb der Laut, auf ihrer Zunge das Wort. Ihr glanzloses Auge irrte unstet und ohne Blick umher; in peinvolles Sinnen versunken schien sie der Gegenwart und allem, was sie umgab, entrückt.

Einmal geschah es, daß Nannette in einer Anwandlung dieser Art sich rasch erhob, geschäftig zu ihrem Schranke eilte, ihn öffnete und unbeweglich vor ihm stehen blieb. Ihre Hände sanken herab …

«Mutter!» rief Regula, nicht eben liebevoll, «was ist Ihnen, was suchen Sie?»

Nannette wandte sich ihr zu, wie traumverloren, mit dem Gesichte einer Nachtwandlerin: «Den Brief» flüsterte sie, «um ihn zu verbrennen. Aber – er ist schon verbrannt.»

«Welchen Brief, Mutter?»

Nannette legte den Finger auf ihren Mund, sah ängstlich um sich und sprach: «Schweigen! Schweigen!»

Kurze Zeit darauf fand Regula die bleiche Frau im Halbdunkel in der Mitte des Zimmers stehen; regungslos wie eine Wachsfigur stierte sie vor sich nieder, und ihre aufrechte Haltung bildete einen unheimlichen Gegensatz zu dem Ausdruck tödlicher Erschöpfung in ihrem Angesichte. Regula näherte sich ihr und fragte sie mit leisem Grauen: «Mutter, woran denken Sie?»

Die Angerufene erschrak, ein Schauer rieselte durch ihren Körper; als sie das Auge erhob und ihre Tochter erkannte, beugte sie sich ganz nahe zu ihr und sagte ihr ins Ohr: «An den letzten Blick des Sterbenden.»

«Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, Sie sind aufgeregt», ermahnte Regula, führte Nannette zum Sofa und nötigte sie, sich zu setzen.

«Ich bin nicht aufgeregt, liebes Kind», erwiderte die Kranke in kaltem Tone und verzog die Lippen zu einem schwachen Lächeln. «Ich überlege nur, wie schade es ist, daß ich mich damals gegen die Reise Mansuets aussprach, und daß ich jenen Aufruf nicht veröffentlichen ließ. Es wäre dadurch nichts verdorben worden, es wäre trotzdem alles gekommen, wie es kam, und – wie edel hätten wir gehandelt!»

«Es kann uns auch jetzt niemand einen Vorwurf machen», meinte Regula.

Nannette schwieg eine Weile, dann sagte sie: «Und der Dank des Sterbenden, mein Kind, – wäre er dann nicht gerechtfertigt gewesen?»

«Scheinbar, Mutter», sprach Regula. Sie begriff diese seltsame Reue nicht.

Frau Heißenstein legte ihre Hand auf die Hand ihrer Tochter. «Scheinbar … Unterschätze nie den Wert des Scheines. Schein ist alles, was sich nicht greifen, nicht mit Ziffern berechnen, nicht mit der Waage wägen läßt. Ehre, Ansehen vor der Welt – guter Name – wo läge da zwischen Schein und Wesen die Grenze? – Scheine achtungswert – du bist es!» fügte sie mit etwas erhobener Stimme hinzu, und Regula wußte ihr nichts zu antworten, als: «Sie sind so eigen, Mutter!»

Es wurde immer schlimmer mit Nannette. Der Arzt erzählte jedem, der es hören wollte, im Vertrauen, sie werde schwerlich den Herbst überleben. Regula diese traurige Mitteilung zu machen, fehlte ihm teils der Mut, teils die Gelegenheit. Sie wich ihm ängstlich aus, sie fragte ihn höchstens im Vorbeieilen: «Es geht besser, nicht wahr?» und schlüpfte hinweg, ohne seine Antwort abzuwarten. Ihr lag vor allem daran, sich so lange als möglich über das bevorstehende Unglück zu täuschen, mußte es kommen, so wollte sie davon überrascht werden. Sie war sparsam mit ihren Gefühlen, sie fürchtete – natürlich unbewußt – eine vor der Zeit geweinte Träne könne auf Kosten der Anstandszähre vergossen worden sein, die im entscheidenden Augenblicke nicht fehlen durfte.

Die Zeit kam, in der Nannette das Zimmer nicht mehr verließ, es ging rasch mit ihr zu Ende. Sie hatte sich in ihren letzten Lebenstagen ganz an Bozena geschlossen, die kaum mehr von ihrer Seite weichen durfte. Wurde ein Besuch vorgelassen, so war es der Kranken angenehm, die Dienerin vorstellen und sagen zu können: «Es ist unsere brave Bozena, sie hat die Enkelin meines Mannes zurückgebracht. Sie wissen, das Kind seiner unglücklichen Tochter.»

Ein Jahr nach dem Tode Heißensteins kämpfte seine Witwe ihren letzten Kampf. Der Arzt erklärte eines Abends, er werde die Nacht im Hause zubringen. Regula schlich still und verstört umher, immer nur bemüht, sich zu fassen. Sooft sie an das Bett ihrer Mutter trat, winkte diese sie hinweg: «Denn», flüsterte die Kranke Bozena zu, «es greift sie zu sehr an.»

Wie auf eine schweigende Verabredung versammelten sich die Hausgenossen gegen zehn Uhr im Zimmer, das an Frau Nannettens Schlafgemach stieß. Die Lampe stand auf dem Tische, auf dem Kanapee saß Regel, häkelte an etwas sehr Feinem und Kunstvollem, und mußte immerfort Maschen zählen. Zu ihrer Rechten hatte der Doktor Platz genommen, beide Arme auf die Lehnen seines Fauteuils gestützt, und betrachtete mit wohlgefälliger Aufmerksamkeit seine, wie zur allgemeinen Bewunderung ausgelegten, dicken und reich beringten Finger.

Der Geistliche, der der Kranken vor acht Tagen auf ihren ausdrücklichen Wunsch die Sterbesakramente gereicht hatte, Mansuet, der gekrümmt wie ein Sprenkel auf einem kleinen Ecksofa saß, und Schimmelreiter, der bereits ein wenig schnarchte, hielten sich im Hintergrunde des Zimmers.

Um Mitternacht hörte man Nannette laut und eifrig sprechen, der Arzt und der Priester begaben sich zu ihr, kamen aber sogleich wieder zurück, weil die Kranke, die bei vollem Bewußtsein war, allein mit Bozena zu bleiben wünschte.

Mansuet stellte leise dem Doktor eine Frage, auf welche dieser, für alle vernehmlich, antwortete: «Vermutlich bis zum Morgen.»

Er setzte sich wieder in seinen Fauteuil und nickte ein. Die andern, selbst der Geistliche, ein noch sehr junger Mann, der bis jetzt wacker mit dem Schlafe gekämpft hatte, folgten seinem Beispiele.

Es schlug ein Uhr, die Lampe begann düsterer zu brennen, im Nebenzimmer war es still geworden. Regula lehnte sich zurück, sie kreuzte die Arme, sie schloß die Augen. Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken.

«Ich sollte zu meiner Mutter», dachte sie, «ich sollte…» Aber sterben sehen ist fürchterlich, sie hat es schon einmal erfahren. Und sie zögert und verfällt endlich in einen unruhigen Schlummer, aus dem sie plötzlich auffährt.

Ihr gegenüber steht Bozena, totenbleich.

«Meine Mutter stirbt!» spricht das Fräulein.

«Sie ist tot», antwortet die Magd mit leiser Stimme: «Kommen Sie.» Sie faßt die Zitternde, Schwankende, und von ihr geleitet begibt sich Regula an das Totenbett ihrer Mutter.

Von den Schläfern war keiner erwacht.

Weder der Arzt noch der Priester wollten es Wort haben, daß sie im entscheidenden Momente nicht auf ihrem Posten gewesen, und widersprachen denen nicht, die zu erzählen wußten, Nannette sei nach herzzerreißendem Abschied in den Armen ihrer Tochter gestorben.

Bozena Kapitel 5

12.

Nun waren sie allein, die altgeborene Regel, die unverwüstlich junge Bozena und das immer fröhliche Röschen; wohl selten würfelt «seine Majestät, der Zufall» größere Kontraste zusammen. Beschirmend waltete der Geist Mansuets über dem seltsamen Kleeblatte. Der Alte war dem Fräulein Heißenstein freundlicher gesinnt seit dem Heimgange Nannettens; weil sie nicht mehr unter dem schädlichen Einfluß ihrer Mutter stände, meinte er; in der Tat aber nur deshalb, weil er sich jetzt als Regels Beschützer fühlte. Trotz all ihres Ernstes, all ihrer Weisheit bedurfte sie seines Rates, holte ihn gern ein und befolgte ihn sogar.

«Sie hat Heißensteinsches Blut in den Adern, das muß sich nolens volens dokumentieren!» versicherte Mansuet eines Tages Bozena und dem Sekretär. «Warten Sie nur, geben Sie nur acht: Nächstens tut sie etwas für das Kind.»

Aber Schimmelreiter schüttelte zweifelnd den Kopf, er sprach: «Sie ist nicht verpflichtet, etwas für das Kind zu tun, also wird sie auch nichts tun. Wie lautet Ihre werte Meinung?» wandte er sich galant an Bozena.

Diese antwortete in der bedachtsamen Weise, die sie seit ihrer Rückkehr angenommen hatte: «Ich hoffe auf ihre Großmut!»

«Prosit!» sagte Schimmelreiter, dem es infolge eifrigen Bestrebens gelungen war, sich einige von Mansuets Redewendungen anzueignen. «Leichter pressen Sie Himbeersaft aus einer Zitrone, als eine großmütige Regung aus dieser Seele.»

Bozena schwieg und ließ sich auf keine weitere Erörterung ein.

«Sie widerspricht mir nicht gern», erklärte später der Sekretär Schimmelreiter mit Selbstgefühl.

«Sie widerspricht überhaupt keinem Menschen mehr», dachte Mansuet. «Mißtraut sie uns? Oder ist ihr alles so gleichgültig geworden, daß sie nicht einmal ein Wort dafür einsetzen mag? Was geht in ihr vor? … Gott mag es wissen!»

*

Nach dem Tode der Frau Heißenstein hatte Graf Ronald ihrer Tochter einen teilnahmsvollen Brief geschrieben, aber gekommen war er nicht. All die Arbeit, die er sich aufgebürdet, dürfte ihn abgehalten haben, meinte Regel; muß er doch die Geschäfte der Beamten versehen, die man in Rondsperg entlassen hatte, weil man sie nicht mehr besolden konnte.

Er war jetzt Direktor, Rentmeister, Förster und Wirtschafter in einer Person. Mit eisernem Fleiße mühte er sich ab, um die Armut fernzuhalten von seinem väterlichen Dache. Der alte Graf wollte nicht wissen, wie es um seine Verhältnisse stand. Vermochte Ronald es einmal nicht zu verhindern, daß ein ungeduldiger Gläubiger sich an den Greis drängte, dann wies ihn dieser an seinen Sohn, der die Leitung der Geschäfte allein übernommen habe. Den aber fragte er mit einer gewissen Schadenfreude, wann endlich die Segnungen des von ihm eingeführten neuen Regimes eintreten würden?

Daß sein Wohlstand für immer entschwunden sei, daran vermochte er ebensowenig zu glauben, als an den Bestand der neuen Staatsordnung. Rondsperg war ja ein Juwel, Rondsperg besaß ja unerschöpfliche Hilfsquellen. Sein Besitzer konnte durch die Ungunst der Zeiten in augenblickliche Verlegenheiten geraten, aber nicht in dauernde.

Wäre Roland auch imstande gewesen, seinem Vater diesen beglückenden Wahn zu rauben, er hätte es nicht getan; dazu liebte er ihn viel zu sehr. So setzte er denn unverdrossen seine vergebliche Arbeit fort. Ein Entschluß hätte freilich das bevorstehende Unheil wenigstens verzögern und dem Sohne einen Teil des väterlichen Gutes retten können: man hätte Rondsperg verpachten müssen. Aber bei dem alten Grafen fand das Wort «Verpachtung» ebensoviel Anklang, wie bei jedem unumschränkten Herrscher das Wort «Konstitution» . Ronald sprach es einmal aus, und – niemals wieder.

Regula Heißenstein war von diesen Verhältnissen genau unterrichtet. Der ehemalige Direktor von Rondsperg hatte sich in Weinberg ein nettes Haus gebaut und lebte dort in behaglichem Wohlstande. Er traf Schimmelreiter oft beim «Grünen Baum» und sprach gern mit ihm von dem Schauplatze seiner einstigen Taten. Er war ein gutmütiger Mann, und bewahrte auch den gnädigen Herrschaften, die er fünfundzwanzig Jahre lang, soviel es irgend an ihm lag, bestohlen hatte, ein freundliches Interesse. Dem Sekretär Regulas gegenüber ließ er es an zarten Winken nicht fehlen, welch ein verdienstliches Werk es wäre, den braven jungen Grafen aus aller Not zu retten, indem man ihm zu einer reichen Heirat verhülfe.

«Ein Goldfischchen, wie das Fräulein Heißenstein, das wäre halt was für ihn!» sagte der Direktor mit diplomatischem Lächeln.

«Ein adeliger, schöner Mann, wie der Graf von Rondsperg, das wäre was für sie!» erwiderte der Sekretär und schmunzelte auf das verbindlichste.

Die beiden Ehestifter machten einen Überschlag der Kosten, die erforderlich wären, um Rondsperg wieder ertragsfähig zu machen, die verpfändeten Grundstücke einzulösen, die eingestürzten Wirtschaftsgebäude aufzurichten, den fundus instructus zu erneuern; und eine Stunde später teilte schon der Herr Sekretär seinem Fräulein die Ergebnisse dieser Berechnungen mit. Sie nahm seinen Bericht gleichgültig entgegen, wie etwas, das sie gar nicht kümmerte, begab sich aber flugs an ihren Schreibtisch und begann sofort auf eigene Hand eifrigst zu rechnen. Sie fand, zu ihrer lebhaften Befriedigung, daß die Summe, um die sich’s handeln würde, so ansehnlich sie auch war, doch kaum ein Viertel ihres mobilen Vermögens betrug. Dieses Resultat versetzte sie in so gute und unternehmende Laune, daß sie noch selbigen Tages an Ronald schrieb, um ihm für die Teilnahme zu danken, die er ihr bei Gelegenheit des Todes ihrer unvergeßlichen Mutter ausgesprochen hatte.

Ihr Brief war mit all der Zurückhaltung verfaßt, die höchste Wohlerzogenheit einer jungen Dame, einem jungen Herrn gegenüber, auferlegt; der Stil wie gedrechselt, die Schrift wie gestochen. Es war ein Muster von einem Briefe und konnte nicht verfehlen, auf Ronald und seine Eltern, denen der Empfänger ihn doch gewiß mitteilen würde, den besten Eindruck hervorzubringen. Eine Danksagung dürfte kaum ausbleiben, und Regula nimmt sich vor, dieselbe nicht unbeantwortet zu lassen. Die Korrespondenz kommt in Gang, es folgt wohl einmal eine persönliche Begegnung. Die Kapitalistin erkundigt sich freundlich nach den Erfolgen der Tätigkeit des Landwirtes. Vertrauen belohnt ihre Teilnahme. Sie – in ausnehmend delikater Weise – bietet Hilfe. Er – nicht minder delikat – zögert anfangs und – gibt endlich nach: «Unter einer Bedingung, mein Fräulein! … Die Hand, von der ich annehme, muß mein werden!» – «O Herr Graf – Sie mißverstehen – Sie verkennen vielleicht die uneigennützige Absicht …» – «Kein Wort weiter, Edelste! …» Sein Schnurrbart ruht auf ihren Fingerspitzen; – der Rest ist Schweigen – Soll und Haben finden sich.

Während Regula von der Eroberung Ronalds träumte, träumten alle spekulativen Junggesellen und alle noch heiratsfähigen Witwer in Weinberg von dem Glück, die Erbin heimzuführen. Der eine tat es mit mehr, der andere mit weniger Zuversicht; doch kam jedem, wenn auch nur in einem Augenblicke des Übermuts, der Gedanke, die Heißensteinschen Reichtümer seien bestimmt, von ihm eingeheimst zu werden. Regula sah sich bald von einem Heere huldigender Freier umschwärmt, die nichts so emsig suchten, als die Gelegenheit, ihr Beweise der Ehrfurcht und Bewunderung zu geben und den heißen Wunsch an den Tag zu legen, der Alleinstehenden ihren Schutz angedeihen zu lassen und sich ritterlich zwischen sie und die Fährlichkeiten der bösen Welt zu werfen.

Das korrekte Fräulein empfing selbstverständlich keine Herrenbesuche; nur an drittem Orte war sie für ihre männlichen Sklaven zu treffen. Um so eifriger wurde sie von dem weiblichen Anhang ihrer Bewerber, von deren zärtlichen Müttern, Schwestern und Basen belagert. Diese ließen es nicht fehlen an der ausbündigsten Schmeichelei, und Regel sog dieses gefährliche Gift mit immer wachsendem Wohlgefallen ein. Wie schoß jetzt ihre, bereits von Frau Nannette zärtlich gepflegte Eitelkeit in die Blüte! Wie trugen die Verhältnisse dazu bei, ihren Durst nach Lob zu erhöhen! Sie war die unumschränkte Herrin ihrer werten Person, es galt nicht erst einen bärbeißigen Vater, eine launische Mutter, einen einflußreichen Verwandten zu gewinnen, um sich der Ersehnten nahen zu dürfen. Kein Ausdruck der Ergebenheit ging unterwegs verloren, jedes überschwengliche Wort gelangte unmittelbar an seine richtige Adresse, der Duft jedes Weihrauchkörnleins, das ein frommer Beter um Regulas Minnesold zu verbrennen für gut fand, wurde von der Göttin selbst eingesogen.

Ein Jahr nach dem Tode ihrer Mutter konnte Regula schon ebenso viele Briefe, als seitdem Tage verflossen waren, in die Lade legen, in der sie ihre teuersten Erinnerungen verwahrte. Und alle diese Briefe enthielten mehr oder minder unumwunden ausgesprochene Heiratsanträge. Von ihren Bewerbern durfte keiner sich rühmen, daß sie ihm die leiseste Hoffnung gegeben, und keiner sich beklagen, daß sie ihm die kühnste Hoffnung genommen habe. Sie hatte niemals an eine andere Verbindung, als an die mit dem Grafen Ronald gedacht, aber dennoch wollte sie von ihren zahlreichen Freiern nicht einen missen. Eine volle Woche hindurch war sie verstimmt, weil ein Witwer von fünfzig Jahren, der überdies Krautwurm hieß, unzufrieden mit der ausweichenden Antwort, die sie ihm erteilte, sich rasch resolvierte und eine andere Wahl traf, die sofort Genehmigung fand.

Fräulein Regula hielt es mit dem Futter für ihre Eitelkeit wie Voltaire mit seinem Ruhme: Er hatte davon für eine Million, aber er wollte noch für einen Sou.

Seit der Erfahrung, die sie an Herrn Krautwurm gemacht hatte, wurde sie noch vorsichtiger in der Behandlung ihrer Bewunderer. Dennoch gab es einen unter ihnen, den sie mißhandelte; zugleich der einzige, der Zutritt in ihr Haus erhalten, da er im Laufe der Zeiten Röschens Unterricht in den sogenannten deutschen Gegenständen übernommen hatte. Er war ein blonder, hübscher junger Mann mit dunkelblauen Augen und einem Vollbarte. Ihm war im Leben alles verkehrt gegangen. Er war zum Poeten geboren und wurde Professor der Mathematik, er schwärmte für Schönheit und Güte und – verliebte sich in Regula. Ja, er verliebte sich in sie. Was nicht einmal einem Geizhalse, dem reichen Fräulein gegenüber, gelang – er brachte es zuwege, oder vielmehr ihn überfiel’s, wie ein reißendes Tier aus dem Busche den ahnungslosen Wanderer überfällt.

Wie es möglich war, daß dieses reizlose Geschöpf eine brennende Leidenschaft erregte – wer kann es begreifen? Der nicht, der meint, das Entstehen der Liebe bedürfe eines andern Grundes als die Beschaffenheit des Herzens, dem sie entspringt. Was gefiel dem Professor Ludwig Bauer an Regula? Ihre frostige Höflichkeit? Ihr wächsernes Gesicht? – Was trieb ihn zu ihr? – Vielleicht nur das Verhängnis, das zu manchem Menschen spricht: Hier ist eine Gelegenheit, tief unglücklich zu werden – ergreife sie! Hier fließt ein Strom unsäglicher Leiden – stürz dich hinein!

Der junge Professor liebte das Fräulein Heißenstein mit einer grimmigen, stets beleidigten und gekränkten Liebe, die ihm alle Lebensfreude verdarb und die er nur um so hartnäckiger festhielt mit verbissener Treue. Um Regula täglich sehen zu können, bot er sich an, ihrer kleinen Nichte Unterricht im Rechnen und in der Grammatik zu geben. Die Tante ging sehr gern auf diesen Vorschlag ein. Sie fürchtete ohnedies, es könne auffallen, daß «ein ungebildeter Kommis» der alleinige Führer des nun schon achtjährigen Kindes auf den Pfaden der Wissenschaft sei. Hingegen geriet ganz Weinberg in Bewunderung, als es bekannt wurde: Ein Professor des Gymnasiums bringe jetzt in eigener Person der kleinen Waise die vier Spezies bei und führe sie am Ariadnefaden seiner Weisheit durch das Labyrinth der Endungen.

Es ist erstaunlich! – Und was das kosten mag! Ja, Fräulein Heißenstein ist eben jederzeit und immer, man kann nur sagen: großartig!

Allabendlich Schlag sechs Uhr trat Professor Bauer in das Speisezimmer, wo Röschens Lehrtisch in einer Fensternische aufgeschlagen war, und wo sie ihn seufzend erwartete, aber nicht seufzend aus Ungeduld. Sein erstes Wort lautete regelmäßig: «War Fräulein Tante nicht da? Wird Fräulein Tante nicht kommen?» Und kam sie nicht, dann hatte Röschen eine schlimme Stunde. Erschien sie aber, so beeilte er sich, zu sagen: «Es ist gut, du warst sehr brav, du bist fertig.»

Ei, wie rasch sie in diesem günstigen Falle ihren kleinen Lehrkram zusammenräumte, sich in einen Winkel des Zimmers verkroch und auf ihre Schreibtafel, statt Ziffern, Herrn und Damen zeichnete, mit unförmig großen Köpfen und unglaublich dünnen Armen, an deren Enden fünf Stängelchen hingen, die sich für Finger ausgaben.

Sobald Ludwig Bauer die von ihm Angebetete erblickte, wurde er entweder mürrisch oder verlegen. Ein nicht erhörter Liebhaber ist selten liebenswürdig, er tut gewöhnlich das möglichste, um seine Sache zu verschlimmern. Von seinen Gefühlen zu sprechen, war dem Professor selten erlaubt, um Regulas stets zur Abwehr bereite Tugend nicht unter die Waffen zu rufen. Versuchte er es aber, sich angenehm zu machen, indem er interessante Dinge vorbrachte, die den gebildeten Geist des Fräuleins mit neuen Erkenntnissen schmücken sollten, dann kam er meist am schlechtesten an. Regula empfand einen wahren Abscheu vor allem Wissen, das sie nicht selbst besaß, und hatte bei den Erörterungen des Professors eine Art, den Mund zu verziehen, zerstreute Blicke umherzuwerfen und mit fast geschlossenen Lippen zu sagen. «Warum nicht gar» – die ihn jedesmal auf das gramsamste beschämte.

Zu andern Zeiten wieder benahm sich Bauer höchst stürmisch und ungebärdig. Röschen konnte sich eines Tages nicht genug darüber wundern, daß ihre Tante so gar keine Angst vor ihm zu haben schien, sondern sein heftiges Gezänke mit Ruhe, ja mit einem Lächeln der Befriedigung anhörte.

«Stimmen Sie sich herab, stimmen Sie sich herab, Bester!» sagte sie.

Sie sagte «Bester» zu einem Menschen, der schrecklich böse war – Röschen konnte darauf schwören.

Der Professor stand auf, machte einen Gang durch das Zimmer, trat vor Regula hin, kreuzte die Arme und sprach: «Ich bin Ihnen so gleichgültig wie der Hund, der dort über den Platz läuft … Sie haben kein Herz, Fräulein!»

Regula warf einen Blick auf das Kind, das in der Ecke des Zimmers spielte, und entgegnete in ermahnendem Tone: «Sie wissen nicht, was Sie reden!»

«Nicht? … Bin ich Ihnen etwa nicht gleichgültig? … Antworten Sie mir!» rief der arme Professor in einem Atem flehend und drohend.

«Sie könnten es mir werden, wenn Sie so fortfahren – Freund», säuselte das Fräulein und schlug züchtig die Augen nieder. «Wäre das nicht traurig? … Freundschaft ist so schön – denken Sie an Jean Paul … Ich möchte Sie nicht verlieren …»

«Fräulein! Fräulein! – o Fräulein!» war alles, was er hervorbrachte im Sturme seiner Gefühle. Regula richtete sich kerzengerade auf; murmelte etwas von Anmaßung und Tyrannei, die sie sich verbitten müsse, und machte eine verabschiedende Handbewegung.

«Oh!» stöhnte Ludwig, gerade wie Othello: «Oh! – Oh! –» und stürzte zur Tür hinaus.

Röschen hatte sich in ihrer Angst hinter einen der hochlehnigen Sessel gekauert und erwartete, ihre Tante werde sich gleichfalls in Sicherheit zu bringen suchen. Sie machte ihr schon Platz neben sich: «Komm hierher!» flüsterte sie, fürchtend, der wütende Professor könnte wiederkehren.

Aber für das Kind war heut ein Tag der Überraschungen. Statt besorgt zu scheinen, sah die Tante dem Enteilenden mit einem triumphierenden Blick nach, und versuchte sogar, ein Liedchen zu trällern; aber das mißlang ihr, denn sie hatte weder Gehör noch Stimme, oder vielmehr beides falsch und ungehorsam, und wenn sie singen wollte: «Der Eichwald brauset, die Wolken ziehen», geriet sie jedesmal in die Melodie von: «Robert – Robert, mein Geliebter!»

*

Ungefähr um dieselbe Zeit sah Mansuet den guten Schimmelreiter mit ganz verstörtem Gesicht aus dem Zimmer Bozenas treten. Er nahm im Gehen eine neue schwarze Krawatte von seinem Halse ab und ersetzte sie durch die dunkelgrau und grün quadrillierte, die er gewöhnlich trug. Als er an Weberlein vorüber sollte, machte er, um ihm auszuweichen, einen so großen Bogen, als die Breite des Ganges irgend erlaubte. Aber das half ihm nichts. Sein Freund schritt resolut auf ihn zu, nahm vertraulich seinen Arm und sprach: «Na, wissen Sie’s jetzt? Sie hat ‹Nein› gesagt, versteht sich?»

Schimmelreiter sah noch immer um sich mit Blicken, starr und gläsern, wie die eines Menschen, der eben einen großen Schrecken gehabt hat. Grenzenloses Erstaunen, die höchste Bestürzung malten sich auf einem runden Gesichte.

Plötzlich blieb er stehen, faßte Mansuets beide Hände und, indem er sich zu dem kleinen Manne niederbeugte, flüsterte er ihm zu: «Sie hat, denken Sie, sie hat ‹Nein› gesagt – denken Sie sich das!»

Und nun ließ er Mansuets Hände los und rang die seinen wie ein Trostloser.

Der Alte redete ihm zu: «Beschwichtigen Sie sich. Wissen Sie was? – Machen Sie sich nichts daraus.»

Der abgewiesene Freier mußte zugeben, daß er nicht leicht etwas Klügeres tun könnte. – Aber freilich, gleich das Klügste zu tun, wer trifft das so leicht? Überdies würde die Sache damit noch nicht abgetan sein. Das Schlimmste kommt nach! Das Gerede der Leute. «Alle Leute werden es erfahren!» jammerte Schimmelreiter.

«Was fällt Ihnen ein?» fragte Mansuet. « Die Bozena schwatzt nicht, und außer ihr weiß es niemand.»

Der Sekretär gestand, das Fräulein wisse es, ihr habe er pflichtschuldig gemeldet, er gehe mit dem Gedanken um, «sich zu verändern». Freilich ohne ihr mitzuteilen, auf wen seine Wahl gefallen sei.

«Dann ist ja alles vortrefflich!» sagte Weberlein, «dann gehen Sie gleich und nehmen eine andere.»

Diese Äußerung rief, so brutal sie schien, durchaus keine Entrüstung bei Schimmelreiter hervor, er meinte vielmehr, das sei zu überlegen, kam jedoch alsbald wieder auf die Katastrophe zurück, die jetzt seine ganze Seele erfüllte.

«Aber, die Bozena! … Begreifen Sie die Bozena? Begreifen Sie, daß sie mich ausgeschlagen hat? Sie hätte doch wirklich ein Glück mit mir gemacht. So eindringlich habe ich es ihr vorgestellt! – Es nützte nichts. Sie wird niemals heiraten, behauptet sie. Ich lasse nicht nach mit Fragen: Warum? warum? Ob sie ihr Herz an einen gehängt hat, den sie nicht kriegen kann? – Ob sie gar so hoch hinaus will? – ‹Nein! nein!› sagt sie. ‹Was also hält Sie ab?› sag ich. Und sie darauf: ‹Ein unübersteigliches Hindernis.› – ‹Das immer bleiben wird?› – ‹Immer.› – ‹An dem nichts zu ändern ist?› – ‹Nichts. Lassen Sie es jetzt gut sein, Herr Sekretär.› – Und ich hätte es sollen gut sein lassen. Aber da reitet mich der Teufel, daß ich nicht schweigen kann, daß ich noch frage: ‹Wenn dies unübersteigliche Hindernis nicht wäre, würden Sie mich dann nehmen?› – Glauben Sie es, oder nicht – sie antwortet mir: ‹Wenn Sie es durchaus wissen wollen: auch dann nicht.› Ja: ‹Auch dann nicht›, hat sie gesagt. Und jetzt möchte ich wissen, sie ist ja gut, tut niemandem gern weh – warum sie nicht lieber geschwiegen – warum sie nicht lieber eine ausweichende Antwort gegeben hat?»

«Jede andere hätt’s getan – aber sie? Sie sagt nur die Wahrheit, aber die ganze. Sie ist wahr wie der Tag», erwiderte Mansuet.

Bozena Kapitel 6

13.

So manche gutmütige Frau in Weinberg meinte, Fräulein Regula sei freilich ein Engel und Bozena freilich die bravste Magd unter der Sonne, aber dennoch könne man das Schicksal des zwischen den beiden aufwachsenden Kindes nicht gerade ein beneidenswertes nennen.

Röschen flößte gar vielen Leuten Mitleid ein, die sie an einem Fenster des grauen Hauses stehen und sehnsüchtig herabblicken sahen zu den Kindern, die auf dem Platze herumliefen und spielten. Ihr war Umgang mit Wesen ihres Alters nicht gegönnt und der Verkehr mit dem Kinde Mansuet entschädigte sie dafür doch schwerlich. Bozena wagte einmal, ihr gnädiges Fräulein darauf aufmerksam zu machen, wurde aber trocken abgewiesen. Regula vermochte nicht einzusehen, daß die Kleine einer andern als einer vernünftigen Umgebung bedürfe. Durchaus nicht. Sie selbst habe sich als Kind immer in Gesellschaft von Erwachsenen bewegt und es sei ihr wohl bekommen.

«O Bozena!» sagte Röschen einst –, «hätt ich doch lange Beine!»

«Was würden sie dir nützen, du Knirps?» fragte Bozena.

«Ich liefe – liefe –» und das Gesicht des Kindes war wie durchleuchtet von der geträumten Wonne, «liefe so schnell, wie die Vögel fliegen.»

Regula sah die Magd bedeutsam an und sprach halblaut: «Die Natur ihrer Mutter. Man kann sie nicht genug in acht nehmen.»

Dieses Wort schnitt Bozena ins Herz, aber sie verriet sich nicht. Sie neigte das Haupt ehrerbietig vor ihrer Herrin: «Sie werden das Kind behüten», sagte sie, «es ist in Ihrem Schutze und geborgen.»

Das Fräulein zuckte die Achseln und dachte, das unumschränkte Vertrauen, das die Leute in sie setzen, sei doch manchmal unbequem. Aufgebürdet, aufgedrungen wurde ihr das Kind der Schwester, und der Ruf von Tugend und Großmut, den sie genießt, zwingt sie, es bei sich zu behalten. Und in tiefinnerster Seele ist sie ihm so unbeschreiblich abgeneigt! Alles an ihm mißfällt ihr, stört sie, regt sie auf. Sein Lachen und Singen greift ihr die Nerven an, seine Liebkosungen bringen sie in Verlegenheit.«Laß mich, das schickt sich nicht», sagt sie, wenn Röschen ihr entgegenfliegt und ihr in die Arme stürzen will.

Mansuet nannte Regula das unmütterlichste Frauenzimmer, das ihm jemals vorgekommen sei, und meinte:«Wenn die einmal ein Kind kriegt und es fängt an zu schreien, dann schickt sie um die Polizei.»

Das Leben im Hause der alten Jungfer von zweiundzwanzig Jahren lief ab wie der Mechanismus einer Uhr, pünktlich und blutlos. In ihrer frostigen Atmosphäre konnte die Rede nicht sein von der freudigen und ungehemmten Entfaltung einer jungen Seele.

Arme Kinder haben die goldene Freiheit, reiche Kinder haben einen vergoldeten Käfig; Röschens Kindheit wurde in einem Käfig verlebt, aber er war von Eisen. Und dennoch war sie ein fröhliches Röschen und die Wahrheit erprobte sich an ihr: haben kann man das Glück, aber bekommen nicht. Sie war glücklich, denn sie liebte, was sie umgab, und wußte nicht, was Grollen sei. Sie liebte die lieblose Tante, sie trieb Abgötterei mit der strengen Bozena und mit dem alten Mansuet, und der vergalt’s ihr redlich. Was die Magd betraf, so war Röschen ihr teuerstes Gut; sie würde ohne Zögern jedes Opfer für sie gebracht, ihr Herzblut, wenn es galt, tropfenweise für sie vergossen haben, aber so wie sie ihre trotzige Rosa geliebt hatte, vermochte sie nicht mehr zu lieben. Das tiefste Gefühl, welches sie jemals beseelt, das hatte die mit ins Grab genommen, die von ihr gepflegt worden war, als sie selbst noch jung gewesen. Sie ließ Röschen niemals so derb an, wie sie deren Mutter angelassen hatte, aber dies geschah nicht, weil sie mehr Liebe, sondern weil sie mehr Mitleid für sie empfand.

So wenigstens legten die beiden ehemaligen Kommis sich Bozenas stilles, zurückhaltendes Benehmen aus. Sie aber waltete mit altem Fleiß in den alten Räumen, nur nicht mehr mit dem alten Übermut. Wenn sie das Zimmer betrat, in dem sie vor zwanzig Jahren ihren Herzensliebling triumphierend in ihren Armen erhoben und ihm alle Herrlichkeit der Welt prophezeit hatte, da glitt ein Schatten über ihre Stirn.

Ein Fremdling saß nun das Kind ihrer Rosa am Tische im Vaterhause und aß das Gnadenbrot aus ungnädiger Hand. –

Sechs Wochen, nachdem sich Schimmelreiter von Bozena einen so wohlgeflochtenen Korb geholt hatte, erhielt er das Jawort einer minder hartherzigen Schönen. Mit verklärten Augen, verjüngt durch das Glück, stellte er sich seinem Fräulein als Bräutigam vor. Regula erhöhte seine Seligkeit noch durch die huldvolle Annahme seiner Einladung, der Hochzeit beizuwohnen. Auch Bozena erhielt von der Gebieterin die Erlaubnis, zugleich mit ihr bei dem Feste zu erscheinen, das Schimmelreiter äußerst prachtvoll auszurichten gedachte.

Die von ihm Erwählte war die Tochter eines kleinen Beamten; eine blonde Jungfrau, von Mutter Natur mit so dauerhaften Reizen ausgerüstet, daß der Zahn der Zeit durch vierzig volle Jahre fast vergeblich an ihnen genagt hatte.

Sie sah bei der Trauung wirklich gar nicht übel aus, das mußte ihr jeder lassen – der es ihr nicht nehmen konnte. Ein paar Rivalinnen versuchten es umsonst. Allgemein jedoch hieß es, Schimmelreiter hätte besser getan, Bozena zu erwählen, die wohl um einige Jährlein älter, aber denn doch eine ganz andere Person sei, als die Beamtentochter.

Zur kirchlichen Feier war die halbe Stadt gebeten, zu dem Gastmahle, das am Abend beim «Grünen Baum» stattfand, nur eine kleine auserlesene Schar.

Das junge Ehepaar empfing seine Gäste in dem mit Blumen dekorierten und im Glanze von vielen Kerzen prangenden Honoratiorensaale. Vier Kellner, schwarzbefrackt, mit Rosen im Knopfloche, waren an der Tür postiert, und verneigten sich alle zugleich, sooft einer der Geladenen eintrat. Der erste, der sich einfand, war Doktor Wenzel mit seiner Frau und seinem erstgeborenen Sohne. Der Familie folgte auf dem Fuße ein magerer Freiherr aus altadeligem Hause, aber sehr herabgekommen in seinen Finanzen, der einstens ein wirklicher Attaché gewesen sein sollte, man wußte nicht bei welcher Gesandtschaft. Er war einer von Regulas hartnäckigsten Freiern, und fühlte sich glücklich, Schimmelreiters Freundschaft errungen zu haben, nachdem er um die Mansuets vergeblich geworben. – Sodann erschienen der ehemalige Direktor von Rondsperg und Herr Professor Bauer, zuletzt die Angehörigen der Braut.

Schimmelreiter ging von einem zum andern, und dankte jedem für die Ehre, die er ihm erwies. Doktor Wenzel sprach angelegentlich mit der Neuvermählten, die vor Gemütsbewegung wie eine Päonie glühte, und lobte den Charakter ihres Mannes, dann begab er sich zu diesem, und lobte die Bescheidenheit und Anmut seiner «bräutlichen Frau».

Der Professor hatte heute seinen schüchternen Tag, drückte sich an die Wände und wich schon von weitem jedem aus, der Miene machte, auf ihn zugehen zu wollen. Manchmal warf er einen sehnsüchtigen Blick nach der Tür, öfter jedoch einen wütenden auf den Freiherrn. Dieser hatte seine schwarzgefärbten Haare in kleine Locken brennen lassen, trug eine weiße Krawatte, und am roten Bande das Kommandeurkreuz des Hausordens einer deutschen Miniaturfürstlichkeit. Er sah ganz erschrecklich vornehm aus, und der schlichte Ludwig Bauer geriet darüber in Verzweiflung.

Um acht Uhr erschien endlich Fräulein Heißenstein, gefolgt von Mansuet und Bozena. Daß auch dieser Zutritt gewährt wurde in die vollkommen distinguierte Gesellschaft, die Schimmelreiter an seinem Ehrentage um sich versammelte, wurde dem Festgeber sehr hoch angerechnet; noch höher aber dem leutseligen Fräulein, das sich herabließ, mit der Magd an einem Tische zu sitzen. Regula wurde ehrfurchtsvoll empfangen und von Schimmelreiter an die Spitze der Tafel geleitet, wo sie zwischen ihm und dem Freiherrn Platz nahm. Ihr gegenüber am unteren Ende des Tisches saß Bozena zwischen Mansuet und Wenzel jun. der ungemein viel aß, besonders Brot, und sooft ihn jemand ansprach, aus Bestürzung darüber einen großen Bissen in den Mund steckte, bevor er den Versuch machte, zu antworten. Die natürliche Folge war ein Erstickungsanfall, den der bescheidene Jüngling in aller Stille zu überwinden suchte.

Dieser oft wiederholte Vorgang, den alle Anwesenden außer den Eltern Wenzel bemerkten, trug nicht wenig zur Erhöhung der allgemeinen Heiterkeit bei. Er wirkte, so unbedeutend er war, befreiend auf die bisher etwas gedrückte Stimmung der Braut. Immer freundlicher gestaltete sich das Fest, es herrschte bei dem größten Anstand die größte Unbefangenheit. Jedermann schien zu denken: da sitze ich im schön geschmückten Saale, an reich gedeckter Tafel, esse die köstlichsten Sachen, bin auf das beste gekleidet, befinde mich in zahlreicher und feiner Gesellschaft, und fühle mich dabei so heimisch, als befände ich mich zu Hause in meiner Stube.

Daß es bei einem Souper, an dem Doktor Wenzel teilnahm, an Trinksprüchen nicht fehlte, braucht wohl nicht erst gesagt zu werden. Es wurde auf das Wohl der Neuvermählten, auf das Wohl Regulas, auf das Wohl des Freiherrn, des Direktors und des Professors getrunken. Schimmelreiter brachte ein Hoch aus auf die Familie seiner geliebten Frau, der Freiherr eines auf die Frauen von Weinberg, der Direktor eines auf Doktor Wenzel und seine Angehörigen, und auf das ganze weibliche Geschlecht. Nun neigte sich das Fräulein zu Schimmelreiter und flüsterte ihm leise einige Worte zu. Er erhob sich wie elektrisiert und sprach:«Eine edle Dame mahnt mich, daß wir bisher noch eines versäumten, das uns ziemt …»

Die Pause, die der Redner hier machte, benützte der Professor, um leuchtenden Auges und mit bewegter Stimme das Zitat zu bringen.

«Willst du genau erfahren, was sich ziemt,
So frage nur bei edlen Frauen an.»

und Schimmelreiter fuhr fort:

«Nämlich auch die treue Dienerin des Hauses Heißenstein, Jungfer Bozena, hoch leben zu lassen. Auf ihr Wohl!» rief er, und dieser Toast fand lebhaften Anklang. Bozena verließ ihren Platz und ging mit dem Glase in der Hand von einem zum andern, um mit ihm anzustoßen. Dies wurde für jeden, der des Gespräches mit seinem Nachbarn satt war, das Signal, gleichfalls aufzustehen. Der Herr Direktor begab sich zu Regula und fragte sofort, ob sie Nachrichten von «seinen Herrschaften» habe. Er bedauerte über die Maßen «seinen lieben Grafen Ronald», nannte Rondsperg einen famosen Besitz … «das heißt hm! – freilich, es könnte alles wieder werden, wenn … ja – wenn!»

Schimmelreiter schlüpfte zu seiner Gattin hinüber und sagte der Verschämten ins Ohr, das Souper sei ausgezeichnet nobel gewesen, dann näherte er sich Mansuet, dem er gestand, er glaube behaupten zu dürfen, seine Kathi habe sich zu der Verbindung mit ihm nicht nur aus Vernunft entschlossen, sondern auch aus Liebe.

In diesem Augenblicke ließ sich im Nebenzimmer ein lauter Wortwechsel vernehmen. Deutlich unterschied man die Rufe: «Zurück!» – «Hier tritt man nicht ein! …» «Geladene Gesellschaft.» Und dazwischen wiederholte eine heisere Stimme unablässig: «Macht Platz! macht Platz, ihr Esel! – Was – geladen! Wüßten sie, daß ich auch da bin, ich wäre auch geladen!» Der Lärm wuchs, dumpfe Schläge fielen – die Tür flog auf … und ein Mann trat ein, den sogar die, die in früheren Zeiten oft mit ihm verkehrt hatten, nicht gleich erkannten.

Es mußten einige Augenblicke vergehen, bevor ihnen zum Bewußtsein kam, daß dieser dicke Geselle mit den schwimmenden Augen, dem roten, aufgedunsenen Gesichte, dem kurzen, keuchenden Atem kein andrer sei als – Bernhard, der ehemals schöne Jäger, Bernhard der Pfau!

Er sah, betroffen über den Anblick der stattlichen Gesellschaft, scheu umher, rückte den Hut ins Genick und sagte, wie um sich selbst Mut zu machen: «Man wird doch seine Bekannten besuchen dürfen, im Wirtshaus?»

«Der Mensch ist berauscht», sagte der Freiherr halblaut.

Regula stieß einen leisen Schreckensruf aus, und die Herren und Frauen eilten zu ihr, um sie zu beruhigen. So stand Bozena, die inzwischen ihre Runde beendet hatte und wieder an ihrem Platze angelangt war, allein dem Eindringling gegenüber, Aug‘ in Auge. Sie stand still – stumm und wie versteinert vor Grauen und Schmerz.

Ihr Leben war eine lange Buße gewesen für eine kurze Verirrung, und nun trat der Mensch, der sie verleitet hatte, vor sie hin, und ihr schien, als sei nichts gesühnt, als stiege ihre entwürdigte Vergangenheit verkörpert aus dem Dunkel des Vergessens und riefe ihr drohend zu: Mich besiegst du nie, ich bin unsterblich, bin unüberwindlich! –

Einen Augenblick zögerte der Jäger, dann ging er frech auf die Schweigende zu und rief: «Bozena! Kennst mich denn nicht mehr?»

Sie senkte finster den Kopf, und er fuhr fort: «Erst heute bin ich angekommen – bin hier wegen des Nachlasses meiner Frau, die gestorben ist – leider. Meine erste Frage war nach dir, natürlich, und wie ich höre, du bist da, lauf ich hinüber zu euch. Dort heißt’s: Beim ‹Grünen Baum›. Nun richtig! … So grüß dich Gott, Bozenka. Und jetzt laß uns plaudern!»

Er hatte, im Gehen etwas schwankend, einen Sessel herbeigeholt und setzte sich an die Seite Bozenas, die, blaß wie man sie niemals gesehen, auf ihren Stuhl gesunken war.

Schimmelreiter hatte indessen mit den Herren geflüstert und schien eine Abrede mit ihnen genommen zu haben. Er näherte sich jetzt und sagte geschäftsmäßig zu dem Jäger: «Alle Anwesenden sind meine Gäste. Dies zur Kenntnis.»

«Potztausend, der Schimmelreiter!» rief Bernhard. «Servus, servus … Alle Anwesenden Ihre Gäste? – Ich auch demnach – bin auch anwesend. Ein Glas her! Schenk ein, altes Tintenfaß!»

Der Sekretär ließ sich nicht beirren, sondern fügte im früheren Tone hinzu: «Weiß mich nicht zu besinnen, daß ich Sie geladen hätte», und dabei machte er rasch nacheinander winkende Bewegungen mit den Händen, als wollte er sagen: Fort! fort! fort!

Bernhard lachte blödsinnig, legte die Arme bis zu den Ellbogen auf den Tisch, rückte näher zu Bozena heran, sah ihr von unten hinauf ins Gesicht und sagte: «Er möcht mich weg haben, der Alte, aber was hilft’s? – Ich gehe nicht, ich bleib bei dir, mein Herzel!»

Nun fuhr Mansuet auf ihn los: «In welchem Tone erlauben Sie sich mit der Jungfer zu reden? » herrschte er ihn giftig an.

«Das ist der Mansuet, glaub ich», rief Bernhard spöttisch. «Bon soir, Herr Mansuet, was kümmert Sie mein Ton? – Wenn ihr», er blinzelte Bozena vertraulich zu, «mein Ton nicht recht ist, wird sie’s schon sagen. Nicht wahr, Bozenka, mein Schatz?»

Mansuet hielt sich nicht länger. «Der Teufel ist dein Schatz, du Trunkenbold!» schrie er, «und nun: fort! Und wenn du die Türe nicht findest, fliegst du zum Fenster hinaus!»

Das Gesicht des Jägers flammte, er rief: «Du Lump! Was geht’s euch an, ihr Lumpe, wie ich spreche mit meiner Geliebten?!»

«Deiner Geliebten?!» wetterte der kleine Kommis und hatte ihn im selben Augenblicke am Kragen und zerrte ihn vom Sessel herab auf den Boden, «deine Geliebte?! … Nimm das zurück, oder ich schlag dich tot, ich schlag dich tot!»

Bernhard tobte wie ein Rasender unter den Fäusten Schimmelreiters, der ihn gepackt hatte und ihm gleichfalls zurief: «Nimm das zurück!»

Er wehrte sich mit allen seinen Kräften und schrie dabei: «Just nicht! Euch zum Trotze nicht! Meine Geliebte, meine Geliebte! Sie war’s!»

Mansuet kannte sich nicht mehr. «Bestie!» kreischte er, riß ein Messer vom Tische und stürzte damit auf Bernhard zu …

Da erfaßte eine eiskalte Hand die seine und entwand ihm das Messer mit einem Rucke … Bozena stand zwischen dem Jäger und seinen Angreifern.

«Laßt ihn», sprach sie, ihre Stimme klang hart wie Metall. «Laßt ihn. Es ist wahr.»

Ein dumpfer Schrei erhob sich. Bernhard stand langsam auf, warf triumphierende Blicke im Zimmer umher und machte Miene, auf Bozena zuzueilen. Doch sie, mit stummer Verzweiflung im Angesichte, mit einer Gebärde unsäglicher Verachtung, wies gebieterisch nach der Tür.

Der Elende blieb erschrocken stehen, murmelte einige unverständliche Worte, zupfte seine Jacke zurecht und gehorchte.

Eine lange Pause folgte, die Männer warfen einander fragende Blicke zu, die Frauen senkten die ihren zur Erde. Frau Doktor Wenzel traten Tränen in die Augen; hätte sie nur dem Rate ihres Herzens folgen dürfen, sie wäre hingetreten zu Bozena und hätte ihr die Hand gedrückt. Der Zweifel jedoch, ob ihr Mann dies billigen würde, hielt sie zurück, und sie sagte nur unwillkürlich: «Arme Bozena!» Schimmelreiter starrte die Heldin des eben erlebten peinlichen Auftritts mit offenem Munde so befremdet an, als sähe er sie heute zum erstenmal. Seine Gattin vernahm, wie er leise vor sich hinsprach: «Darum also … O wie brav!» Der Freiherr wandte sich mit den Worten: «Une maîtresse femme, ma parole d’honneur!» zu Regula. Das Fräulein aber, deren Nase weiß wie Kreide geworden, war eitel Entrüstung und Unwille. «Skandal! – Skandal! – Skandal!» wiederholte sie in einem fort, ließ ihrem Lohnkutscher befehlen vorzufahren und entfernte sich, ohne Abschied von irgend jemandem zu nehmen, mit der Familie Wenzel, der sie Plätze in ihrem Wagen antrug. Ihre bestürzten Verehrer gaben ihr das Geleite.

Bozena stand noch immer wie angewurzelt auf derselben Stelle und schien von allem, was vorging, nichts zu sehen und nichts zu hören.

Mansuet trat zu ihr, berührte ihren Arm und sagte sanft und unaussprechlich traurig: «Kommen Sie!»

Die Unglückliche zuckte zusammen, ein schwerer, schmerzlicher Seufzer hob ihre Brust und gesenkten Hauptes folgte sie ihrem alten Freunde.