11.
Der Poststellwagen, der Mansuet nach Weinberg zurückbrachte, fuhr im selben Augenblick durch das Tor, in dem der stattliche Zug, der Heißenstein zur letzten Ruhe geleitete, sich nach dem Friedhof in Bewegung setzte. Als Weberlein das alte Haus betrat, da hatten sie soeben seinen toten Herrn daraus fortgeführt.
In grenzenloser Bestürzung vernahm der Kommis diese Kunde. Er war zu spät gekommen! Er hatte dem Greise nicht mehr die Hand drücken, ihn nicht mehr fragen können: «Was ist geschehen für Ihr Enkelkind?»
In wilder Eile rannte Mansuet nach dem Gottesacker. Die kirchliche Zeremonie war noch nicht beendet, als er dort anlangte, er durchbrach die versammelte Menge und drängte sich bis an die Stelle vor, von der herüber er Lichter schimmern und bläuliche Weihrauchwolken in die klare Winterluft aufsteigen sah. Noch war das Grab nicht geschlossen über seinem Gebieter. Neben dem betenden Priester, auf den Arm des Grafen Ronald gestützt, stand Nannette, mit verstörtem Angesicht und kaum fähig, sich aufrecht zu halten. An ihrer Seite Regula, ruhig, steif, die herben Lippen fest geschlossen. Und hinter ihr, sie hoch überragend: – Wer? … O Himmel – gütiger: – Wer? Es ist die große, es – war die schöne Bozena. An ihrer Hand ein kleines, holdes Geschöpf – Mansuet muß alle Kraft aufbieten, um nicht laut einen teuren Namen auszurufen. «Röschen!» tönt es in seinem Innern mit wehmütigem Jubel.
Während des Schlusses der traurigen Feier verwendete er kein Auge von dem Kinde, und als alles vorüber war und die anwesenden Bekannten sich um Nannette und Regula drängten, um ihnen ihr Beileid zu bezeigen, näherte er sich Bozena, bei der nur Schimmelreiter allein stehen geblieben war. Sie begrüßte ihn mit einem ernsten Kopfnicken, und er, dem das Herz doch weich zum Schmelzen war, pflanzte sich vor sie hin, starr und eckig, wie eine Feuerkieke, und sagte, nachdem er die Freundin lange betrachtet: «Haben sich sehr verändert.»
«Bin grau geworden», erwiderte Bozena, zog das kleine Röschen, das sich ganz und gar eingewickelt hatte in die Falten ihres Rockes, aus seinem Verstecke hervor und hob es in ihren Armen auf.
«Nicht gerade grau, vielmehr pfeffer- und salzfarbig», sprach Mansuet, und als Bozena ihn darauf versicherte, er hingegen sehe gerade noch so aus wie vor sieben Jahren, antwortete er gleichgültig: «Die Leute behaupten’s.»
Schimmelreiter hat später oft erzählt, Mansuet sei ihm damals merkwürdig affektiert vorgekommen. Man habe ihm einen schweren Kampf zwischen Schmerz und Freude und zugleich das Bestreben angesehen, nicht mehr davon zu verraten, als er für vereinbar hielt mit seiner Manneswürde.
«Ich bin aber», nahm Bozena nach einer Pause das Wort, «noch so rüstig wie je, und ich bitte Sie, sagen Sie das der Frau. Was ihr zwei andere Mägde leisten, das leiste ich allein und betreue nebstbei das Kind, es soll ihr keine Ungelegenheit machen, solange ich da bin. Ich bitte Sie, Herr Mansuet, legen Sie ein gutes Wort für mich ein, damit man mich bei dem Kinde läßt.»
«Ganz überflüssig», antwortete der Kommis, «die Frau wird Sie gern behalten, die kennt ihren Vorteil.»
Sie waren langsam hinter der Menge, die sich nach allen Richtungen verlief, hergeschritten, und traten nun aus dem Friedhofe. Mansuet schielte immerfort nach dem Kinde, das ihn, das Köpfchen an Bozenas Hals geschmiegt, so schelmisch anblinzelte, wie die Augen eines sechsjährigen Mädchens nur immer vermögen.
«Werden Sie», fragte der Kommis, «das Kind noch lange so herumschleppen?» und setzte, sich an Röschen wendend, mürrisch hinzu: «Weißt du wohl, daß es eine Schande ist, sich tragen zu lassen, wenn man so alt ist wie du?»
«Es liegt viel Schnee», meinte Bozena entschuldigend, «und sie ist nicht schwerer als eine Puppe.»
«Mag sein», entgegnete Mansuet.» Was haben Sie nur an der aufgezogen?»
«Klein ist sie, das ist wahr», sagte Bozena.
«Und stumm auch», sagte Mansuet.
Da brach das Kind in schallendes Gelächter aus und rief, so laut es konnte: «Ich bin nicht stumm! – und gehen kann ich auch … Und ich will jetzt laufen, Bozena. Du kannst den kleinen schlimmen Mann auf den Arm nehmen, damit er wieder gut wird.»
Bozena war sehr erschrocken über diese unpassende Äußerung ihres Zöglings, und gebot ihm Schweigen. Zu Mansuet aber sprach sie: «Ich hoffe, Sie können nicht bös sein auf ein dummes Kind.»
Worauf er großartig erwiderte: «Lassen Sie sich nicht auslachen.»
Schimmelreiter jedoch küßte wie verzückt das über Bozenas Schulter herabhängende Händchen der Kleinen. Schweigend langte die Gesellschaft zu Hause an. Unter dem Tore setzte Bozena ihre leichte Bürde ab; sie blieb stehen, kreuzte die Arme und hielt eine Weile die Augen stumm auf das gegenüberliegende Haus gerichtet.
«Wer wohnt jetzt dort?» fragte sie endlich mit Überwindung.
«Gar viele Leute», antwortete Mansuet, «wir haben ja Wohnungsnot in Weinberg. Der Kreishauptmann, der Herr Graf, ist im Jahre achtundvierzig fortgekommen. Und unser Bekannter, sein Jäger» – Mansuet wandte den Kopf und heftete den Blick so fest auf einen der steinernen Torpfeiler, als ob sich dort etwas Unerhörtes begäbe – «der hat die Kammerjungfer der Gräfin geheiratet und ein Revier gekriegt, hier in der Nähe …»
«Hier in der Nähe?» wiederholte Bozena.
«Ist aber längst nicht mehr da, hat selbständig nicht gut getan, heißt es», fuhr Mansuet fort. «So schickte ihn sein Graf auf eines der großen Güter, die er in Böhmen besitzt. Dort lebt der Bernhard unter der Zucht des Oberförsters, der keinen Spaß versteht … verstehen soll. Soll! – das alles weiß ich ja nur vom Hörensagen …»
«In Böhmen also», sagte Bozena leise vor sich hin.
«Ja, ganz hoch oben. Es heißt auch, er sei öfter betrunken als nüchtern, aber ich will ihm nichts Übles nachreden. Es heißt, er prügle seine Frau; nun, das ist ihre Sache. Ein Wunder wär’s übrigens nicht. Das verwöhnte Jüngferchen paßt auf keinen Fall für hin. Der hätte ein tüchtiges Weib gebraucht, das ihm den Daumen aufs Auge setzt.»
Ein Bote von Frau Heißenstein, der Mansuet und Schimmelreiter nach dem Geschäftszimmer beschied, wo ihnen das Testament, von dem sie noch keine Kenntnis hatten, vorgelesen werden sollte, unterbrach dieses Gespräch. Die beiden Kommis empfahlen sich und folgten dem Rufe der Gebieterin.
Als sie eintraten, fanden sie Nannette auf das eifrigste – Mansuet behauptete auf das zudringlichste – bemüht, den Grafen Ronald zurückzuhalten, der sich verabschieden wollte. Sie gab ihm mit einem süßsäuerlichen Lächeln zu verstehen, daß es gefühllos wäre, die Hinterbliebenen eines ihm befreundeten Mannes in solcher Eile zu verlassen.
Ronald ließ sich endlich überreden und blieb, vermochte aber nicht zu verbergen, wie unpassend ihm seine Anwesenheit im Hause in diesem Augenblicke erschien.
Man setzte sich um den Tisch. Doktor Wenzel verlas das Testament Heißensteins.
Der Verstorbene ernannte darin seine einzige Tochter, Regula Heißenstein, zur Universalerbin seines ganzen Vermögens. Die Nutznießung desselben verblieb lebenslänglich seiner getreuen Gattin, Frau Nannette Heißenstein. Einige ansehnliche Legate waren ausgesetzt, Schimmelreiter war reichlich, Mansuet fürstlich bedacht. Ihm wurde überdies im ebenerdigen Geschoß des Hauses eine Wohnung für die Dauer seiner ganzen Lebenszeit zur freien Verfügung gestellt. Mit warmen Worten sprach Heißenstein von «dem treuesten Diener», er empfahl seiner Frau und seiner Tochter, ihn hoch in Ehren zu halten und ohne seinen Rat nichts Wichtiges zu beschließen.
Während Doktor Wenzel diesen Absatz des Testamentes salbungsvoll vortrug, schien Mansuet immer kleiner zu werden, und sank zuletzt so tief in sich zusammen, daß sein vornübergebeugter Kopf in eine Linie mit dem Tischrande zu stehen kam und keiner von den Anwesenden sein Gesicht sehen konnte.
Einige Verfügungen zu Gunsten der Armen der Stadt folgten, zuletzt kam die Anordnung, das Geschäft des Kaufmanns nach seinem Tode sogleich aufzulösen und das Verbot, die Firma, unter was immer für Bedingungen, zu veräußern. Mit Leopold Heißenstein habe das Handlungshaus zu bestehen aufgehört. Das Testament war vor sieben Jahren verfaßt und seither auch nicht ein Wort daran geändert, nicht das kleinste Kodizill beigefügt worden.
Eine Stunde später empfahl sich Graf Ronald bei den Damen. Mansuet und Schimmelreiter begleiteten ihn bis an den Wagen, und machten dann einen weiten Spaziergang auf der Landstraße. Erst bei sinkender Nacht kamen sie heim. Sie waren die ganze Zeit hindurch fast stumm nebeneinander hergegangen.
Jetzt, als sie schon unter das Haustor traten, sprach Schimmelreiter: «Ja, ja, Sie sind nun eine glänzende Partie, und ich bin eine sehr annehmbare.»
«Was sind Sie?» fragte Mansuet.
«Eine annehmbare Partie», wiederholte Schimmelreiter und zupfte sich an dem dünnen, borstigen, weit abstehenden Barte. Er sah mit seinem runden Gesichte, seiner flachen Nase und seinen großen Augen einem Seehunde ähnlicher denn je.
«Besonders Ihre fünfundfünfzig Jahre werden die Frauenzimmer locken» sprach Weberlein wegwerfend.
«Ich wünsche mir keinen Backfisch» rief sein Kollege eifrig, und fügte nach einer Pause, während der Mansuet ihn spöttisch von der Seite ansah, stockend und in großer Verlegenheit hinzu: «Diejenige, welche – ist bereits mittelalterlich.»
Aber schon im nächsten Augenblicke wollte er, wie Lazarillo, lieber gestorben sein, als diese Rede ausgesprochen haben, denn er hörte neben sich ein derart schneidendes «So?», als hätte es eine Schlange gezischt. Der kleine Mansuet fuhr mit beiden Händen in die Taschen seines Rockes, hob sich so hoch er konnte auf den Fußspitzen empor und sagte dem großen Schimmelreiter trocken in den Bart hinein: «Beruhigen Sie sich! – Diejenige nimmt Sie nicht.» Mit diesen Worten wandte er sich, und war so rasch verschwunden, als hätte ihn der Boden verschlungen.
Während sich dieses zu ebener Erde ereignete, saßen im düsteren Speisezimmer des ersten Stockes Nannette und ihre Tochter beim Abendessen. Regula hatte keinen Appetit und machte schon zum zweitenmal die Bemerkung, daß Graf Ronald ein angenehmer, aber doch gar stiller und schweigsamer junger Mann sei. Mit ihr zum Beispiel habe er keine Silbe gesprochen.
Nannette legte das Stückchen Brot, das sie eben im Begriffe war, in den Mund zu stecken, auf den Tisch, betrachtete es eine Weile tiefsinnig und sagte, indem sie einen fast schalkhaften Blick auf ihre Tochter warf, nichts könnte mehr für ihn sprechen, als – daß er nicht gesprochen habe.
In ihrem Zimmer, im zweiten Geschosse des Hauses, saß Bozena bei einer flackernden Kerze und nähte an einem Kinderkleidchen. Neben ihrem großen Bette stand ein kleines, das einst Rosa gehört hatte, als diese noch ein Kind war. Jetzt schlief ihr verwaistes Töchterlein darin. Sie selbst aber, und ihrer gedachte Bozena in dieser Stunde, sie schlief am Fuße des Negoi, in einem stillen Alpentale im fernen Grabe. Dort ruhte sie umsungen von den geheimnisvollen Liedern des Sturmes, umhüllt von der schimmernden Decke des Schnees, für alle tot; nur lebend noch in der Erinnerung einer armen Magd, und in den Träumen eines schlafenden Kindes.
*
Mansuet hatte recht gehabt. Nannette hütete sich wohl, Bozena zu entlassen.
Sie war viel zu klug, um sich über ihre geringe Befähigung zur Ausübung des Hausfrauenberufes zu täuschen, und daß Regel in diesem Punkte in ihre Fußtapfen trat, wußte sie ebenfalls. So konnte ihr nichts willkommener sein, als Bozenas tätige und umsichtige Hilfe. Und nicht nur praktischen, auch moralischen Vorteil schaffte deren Gegenwart. Daß Frau Heißenstein das Kind und die Magd der entlaufenen Stieftochter, die ihr eigener Vater verstoßen, aufgenommen hatte, erregte die Bewunderung der ganzen Stadt. Sich ein Verdienst aus einer Handlung machen, die ihr zum Nutzen gereichte, wie entsprach das Nannettens Neigungen!
Bozena trachtete «der Frau» das kleine Röschen so viel wie möglich aus den Augen zu schaffen, denn sein Anblick berührte die Stiefgroßmutter sehr unangenehm. Um keinen Preis jedoch hätte Bozena zugegeben, daß es auch nur einmal heißen könne, sie habe dem Kinde zuliebe das Geringste im Dienste Nannettens oder Regulas versäumt. So traf es sich, daß, infolge einer schweigenden Übereinkunft zwischen der Magd und ihrem alten Gönner, dieser sehr oft die Stelle einer Wärterin und eines Hofmeisters bei der Kleinen versah. Er weihte sie in die Geheimnisse des Lesens und Schreibens ein, lehrte sie die Volkshymne singen, führte sie sonntags zur Kirche und war täglich in der Mittagsstunde mit ihr auf der Promenade zu sehen. Und wie stolz schritt er da neben ihr einher! So schreitet nur noch eine ruhmbedeckter Kanonier neben der schönen Köchin seines Herzens. Der sechzigjährige Mansuet lebte auf in der Liebe zu Röschen; diese neue Leidenschaft stellte sogar seine alte Neigung für Bozena in den Schatten. Ja, ja – es ist nicht zu leugnen: allmächtig wirkt der Reiz der Jugend, unwiderstehlich der Zauber der Anmut, er bezwingt selbst die gefeite Seele, und: «ein gebrechlich Wesen ist» – der Mann.
Woche um Woche verging, Monat um Monat. Im Hause Heißenstein wurde es immer stiller, denn seine Gebieterin kränkelte und siechte dahin. Tiefe Melancholie hatte sich ihrer seit dem Todes ihres Mannes bemächtigt. «Er zieht sie nach», sagten die Leute. Sie nahm sichtbar ab; wenn man sie aber fragte, ob sie sich krank fühle, erwiderte sie fast erschrocken, sie habe sich niemals besser befunden. Der Arzt meinte, ihre Nerven seien angegriffen, der herannahende Frühling, der häufige Aufenthalt in freier Luft werde sie herstellen. Der Frühling kam, doch brachte er keine Veränderung im Befinden Nannettens herbei. Sie litt an Schlaflosigkeit, sie fieberte.
Eines Tages ließ sie Doktor Wenzel rufen und ersuchte ihn, alle gesetzlichen Schritte einzuleiten, um Regula, die im Begriffe stand in ihr zwanzigstes Jahr zu treten, großjährig sprechen zu lassen. Nannette sah der Erfüllung dieses Wunsches mit einer Ungeduld entgegen, die wohl verriet, daß sie keineswegs so ruhig über ihren Gesundheitszustand war, wie sie vorgab. Was sie quälte, war aber nicht die Furcht vor dem Tode, sondern eine peinliche Erinnerung, von der sie sich vergeblich loszumachen suchte. Sie wurde, was sie niemals gewesen war, zerstreuungsbedürftig und zu gleicher Zeit außerordentlich fromm. Sie brachte, trotz aller Warnungen des Arztes, der die größte Schonung empfahl, ihre Tage damit zu, ihre Bekannten und die Kirchen zu besuchen. Erschöpft oder aufgeregt kehrte sie heim, niemals jedoch aufgeregter, als wenn sie aus dem Beichtstuhle kam. An solchen Tagen wirkte der Anblick Röschens wie der eines Schrecknisses auf sie. Niemand konnte sich das erklären, nur Bozena sagte zu Mansuet, sie verstehe es wohl. Bozena war übrigens die Vorsicht selbst; niemals kam ein Wort über ihre Lippen, das auch nur dem Schatten eines Vorwurfs gegen «die Frau» geglichen hätte.
Der Arzt fand endlich einen Namen für Nannettens Krankheit, er nannte es ein Zehrfieber, und erteilte seiner Patientin den Rat, nach der Schweiz zu reisen.
«Werde ich dort gesund? Stehen Sie mir dafür?» fragte sie, und rief, als er eine ausweichende Antwort gegeben hatte: «Schon gut, schon gut. Lassen Sie mich zu Hause …» Sie vollendete den Satz nicht, warf einen feindlichen Blick auf den Arzt und entließ ihn.
Er ging, durchdrungen von Bewunderung für die starkmütige Frau, und sorgte für die Verbreitung ihres Ruhmes.
Sobald Regula großjährig erklärt worden war, eröffnete ihre Mutter eine lebhafte Korrespondenz mit der Freiin von Waffenau, in der viel von dem Grafen Ronald die Rede war. Er selbst ließ sich nicht blicken.
Nebst den geselligen Verpflichtungen und den frommen Übungen, die sie sich auferlegt hatte, nahm die Abwickelung der Erbschaftsangelegenheit und die Auflösung des Heißensteinschen Geschäftes die Witwe in Anspruch. Sie entfaltete eine staunenswerte Tätigkeit, sie wollte vom kleinsten Detail selbst Kenntnis nehmen, sie ließ sich täglich durch Wenzel Bericht erstatten, verhandelte mit Mansuet, beriet sich mit Schimmelreiter, den sie zu ihrem Sekretär ernannt hatte.
Aber seltsam, all die Interessen, die sie mit so großem Eifer betrieb, füllten ihre Seele nicht aus. Ein rätselhaftes Etwas, ein Gedanke, nie ausgesprochen, immer zurückgewiesen, immer wiederkehrend, ein quälender Mahner und Bedränger, hielt sie in seinem Banne. Mitten im Gespräche überkam es sie plötzlich, faßte sie mit unsichtbaren Händen, und in ihrer Kehle erstarb der Laut, auf ihrer Zunge das Wort. Ihr glanzloses Auge irrte unstet und ohne Blick umher; in peinvolles Sinnen versunken schien sie der Gegenwart und allem, was sie umgab, entrückt.
Einmal geschah es, daß Nannette in einer Anwandlung dieser Art sich rasch erhob, geschäftig zu ihrem Schranke eilte, ihn öffnete und unbeweglich vor ihm stehen blieb. Ihre Hände sanken herab …
«Mutter!» rief Regula, nicht eben liebevoll, «was ist Ihnen, was suchen Sie?»
Nannette wandte sich ihr zu, wie traumverloren, mit dem Gesichte einer Nachtwandlerin: «Den Brief» flüsterte sie, «um ihn zu verbrennen. Aber – er ist schon verbrannt.»
«Welchen Brief, Mutter?»
Nannette legte den Finger auf ihren Mund, sah ängstlich um sich und sprach: «Schweigen! Schweigen!»
Kurze Zeit darauf fand Regula die bleiche Frau im Halbdunkel in der Mitte des Zimmers stehen; regungslos wie eine Wachsfigur stierte sie vor sich nieder, und ihre aufrechte Haltung bildete einen unheimlichen Gegensatz zu dem Ausdruck tödlicher Erschöpfung in ihrem Angesichte. Regula näherte sich ihr und fragte sie mit leisem Grauen: «Mutter, woran denken Sie?»
Die Angerufene erschrak, ein Schauer rieselte durch ihren Körper; als sie das Auge erhob und ihre Tochter erkannte, beugte sie sich ganz nahe zu ihr und sagte ihr ins Ohr: «An den letzten Blick des Sterbenden.»
«Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, Sie sind aufgeregt», ermahnte Regula, führte Nannette zum Sofa und nötigte sie, sich zu setzen.
«Ich bin nicht aufgeregt, liebes Kind», erwiderte die Kranke in kaltem Tone und verzog die Lippen zu einem schwachen Lächeln. «Ich überlege nur, wie schade es ist, daß ich mich damals gegen die Reise Mansuets aussprach, und daß ich jenen Aufruf nicht veröffentlichen ließ. Es wäre dadurch nichts verdorben worden, es wäre trotzdem alles gekommen, wie es kam, und – wie edel hätten wir gehandelt!»
«Es kann uns auch jetzt niemand einen Vorwurf machen», meinte Regula.
Nannette schwieg eine Weile, dann sagte sie: «Und der Dank des Sterbenden, mein Kind, – wäre er dann nicht gerechtfertigt gewesen?»
«Scheinbar, Mutter», sprach Regula. Sie begriff diese seltsame Reue nicht.
Frau Heißenstein legte ihre Hand auf die Hand ihrer Tochter. «Scheinbar … Unterschätze nie den Wert des Scheines. Schein ist alles, was sich nicht greifen, nicht mit Ziffern berechnen, nicht mit der Waage wägen läßt. Ehre, Ansehen vor der Welt – guter Name – wo läge da zwischen Schein und Wesen die Grenze? – Scheine achtungswert – du bist es!» fügte sie mit etwas erhobener Stimme hinzu, und Regula wußte ihr nichts zu antworten, als: «Sie sind so eigen, Mutter!»
Es wurde immer schlimmer mit Nannette. Der Arzt erzählte jedem, der es hören wollte, im Vertrauen, sie werde schwerlich den Herbst überleben. Regula diese traurige Mitteilung zu machen, fehlte ihm teils der Mut, teils die Gelegenheit. Sie wich ihm ängstlich aus, sie fragte ihn höchstens im Vorbeieilen: «Es geht besser, nicht wahr?» und schlüpfte hinweg, ohne seine Antwort abzuwarten. Ihr lag vor allem daran, sich so lange als möglich über das bevorstehende Unglück zu täuschen, mußte es kommen, so wollte sie davon überrascht werden. Sie war sparsam mit ihren Gefühlen, sie fürchtete – natürlich unbewußt – eine vor der Zeit geweinte Träne könne auf Kosten der Anstandszähre vergossen worden sein, die im entscheidenden Augenblicke nicht fehlen durfte.
Die Zeit kam, in der Nannette das Zimmer nicht mehr verließ, es ging rasch mit ihr zu Ende. Sie hatte sich in ihren letzten Lebenstagen ganz an Bozena geschlossen, die kaum mehr von ihrer Seite weichen durfte. Wurde ein Besuch vorgelassen, so war es der Kranken angenehm, die Dienerin vorstellen und sagen zu können: «Es ist unsere brave Bozena, sie hat die Enkelin meines Mannes zurückgebracht. Sie wissen, das Kind seiner unglücklichen Tochter.»
Ein Jahr nach dem Tode Heißensteins kämpfte seine Witwe ihren letzten Kampf. Der Arzt erklärte eines Abends, er werde die Nacht im Hause zubringen. Regula schlich still und verstört umher, immer nur bemüht, sich zu fassen. Sooft sie an das Bett ihrer Mutter trat, winkte diese sie hinweg: «Denn», flüsterte die Kranke Bozena zu, «es greift sie zu sehr an.»
Wie auf eine schweigende Verabredung versammelten sich die Hausgenossen gegen zehn Uhr im Zimmer, das an Frau Nannettens Schlafgemach stieß. Die Lampe stand auf dem Tische, auf dem Kanapee saß Regel, häkelte an etwas sehr Feinem und Kunstvollem, und mußte immerfort Maschen zählen. Zu ihrer Rechten hatte der Doktor Platz genommen, beide Arme auf die Lehnen seines Fauteuils gestützt, und betrachtete mit wohlgefälliger Aufmerksamkeit seine, wie zur allgemeinen Bewunderung ausgelegten, dicken und reich beringten Finger.
Der Geistliche, der der Kranken vor acht Tagen auf ihren ausdrücklichen Wunsch die Sterbesakramente gereicht hatte, Mansuet, der gekrümmt wie ein Sprenkel auf einem kleinen Ecksofa saß, und Schimmelreiter, der bereits ein wenig schnarchte, hielten sich im Hintergrunde des Zimmers.
Um Mitternacht hörte man Nannette laut und eifrig sprechen, der Arzt und der Priester begaben sich zu ihr, kamen aber sogleich wieder zurück, weil die Kranke, die bei vollem Bewußtsein war, allein mit Bozena zu bleiben wünschte.
Mansuet stellte leise dem Doktor eine Frage, auf welche dieser, für alle vernehmlich, antwortete: «Vermutlich bis zum Morgen.»
Er setzte sich wieder in seinen Fauteuil und nickte ein. Die andern, selbst der Geistliche, ein noch sehr junger Mann, der bis jetzt wacker mit dem Schlafe gekämpft hatte, folgten seinem Beispiele.
Es schlug ein Uhr, die Lampe begann düsterer zu brennen, im Nebenzimmer war es still geworden. Regula lehnte sich zurück, sie kreuzte die Arme, sie schloß die Augen. Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken.
«Ich sollte zu meiner Mutter», dachte sie, «ich sollte…» Aber sterben sehen ist fürchterlich, sie hat es schon einmal erfahren. Und sie zögert und verfällt endlich in einen unruhigen Schlummer, aus dem sie plötzlich auffährt.
Ihr gegenüber steht Bozena, totenbleich.
«Meine Mutter stirbt!» spricht das Fräulein.
«Sie ist tot», antwortet die Magd mit leiser Stimme: «Kommen Sie.» Sie faßt die Zitternde, Schwankende, und von ihr geleitet begibt sich Regula an das Totenbett ihrer Mutter.
Von den Schläfern war keiner erwacht.
Weder der Arzt noch der Priester wollten es Wort haben, daß sie im entscheidenden Momente nicht auf ihrem Posten gewesen, und widersprachen denen nicht, die zu erzählen wußten, Nannette sei nach herzzerreißendem Abschied in den Armen ihrer Tochter gestorben.