Kapitel 7


Kapitel 7

 

In der Nacht vom Samstag auf den Sonntag schloß Pavel kein Auge. Er lag wie in Fieberhitze und meinte immer, jetzt und jetzt komme jemand, ihm den Brief abzufordern, den ihm die Baronin am Abend überschickt hatte und der ihm Einlaß ins Kloster verschaffen sollte. Sie konnte sich’s anders überlegt, ihre Güte konnte sie gereut haben… Pavel kauerte sich zusammen auf seiner elenden Lagerstätte und faßte wilde Entschlüsse für den Fall, daß seine Besorgnisse in Erfüllung gehen sollten Indessen graute der Morgen, und Pavels eigene Hirngespinste blieben seine einzigen Bedränger. Dennoch verließ die Unruhe ihn nicht. Schon um vier Uhr stand er am Brunnen und wusch sich vom Kopf bis zu den Füßen, zog Hemd und Hose an und den Rock, der eine bedeutende Verschönerung erfahren hatte. Auf dessen schleißigster Stelle, gerade über dem Herzen, prangte ein bunter Flicken, ein handgroßes Stück Zeug, das beim Zuschneiden von Vinskas neuem Leibchen übriggeblieben war. Pavel nahm sich vor, es herabzutrennen und der kleinen Milada zu schenken, wenn es ihr so gut gefiele wie ihm.

Und so zog er rüstig und freudig aus und begegnete keiner lebenden Seele im ganzen Dorf. An der Mauer des Schloßgartens schlüpfte er besonders eilig vorbei, und nun ging’s bergab und bergauf, immer mit der stillen Besorgnis: Wenn mir nur keiner nachläuft, um mich zurückzurufen.

Auf der Höhe angelangt, von welcher aus er vor fast zwei Jahren dem Wagen nachgeblickt, der seine Schwester entführte, atmete er freier. Er besann sich, wie schön er damals die Türme der Stadt hatte glänzen gesehen. Heute lagerten Herbstnebel über ihnen und verbargen sie seinen Augen. Und auf dem Feld, das zu jener Zeit im Grün der jungen Halme geprangt, lagen große harte Schollen, vom Pfluge umgelegt, dessen Schaufel einen Metallglanz auf ihnen hinterlassen hatte. Er schritt weiter, verlor sein Ziel oft aus den Augen, verfolgte es aber mit dem Instinkt eines Tieres; es fiel ihm nicht ein, daß er’s verfehlen könnte.

Drei Stunden war er gewandert, da hörte er zum ersten Male deutlich den Schlag der Uhr von einem der Kirchtürme schallen und langte bald darauf bei den kleinen Häuschen der Vorstadt an.

Die Brücke, von welcher er oft sprechen gehört hatte, lag vor ihm, und unter ihr rauschte ein so gewaltiges Wasser, wie er nicht gewußt hatte, daß es auf Erden gibt. Und das Wunder, das er anstaunt, Milada sieht es alle Tage, denkt Pavel; und Stolz auf die Schwester und Ehrfurcht vor ihr ergreifen ihn.

Am Brückenpfeiler sitzt ein altes Weib und hat Äpfel feil. Gewiß ißt Milada Äpfel noch ebenso gern wie früher – wie wär’s, wenn er ihr ein paar mitbrächte? Die Hökerin kehrt ihm den Rücken zu; sie kramt eben in ihrer Vorratskiste; ihr ein paar Äpfel wegzumausen wär eine kleine Kunst… Soll er? soll er nicht? – Eine innere Stimme warnt ihn: Gestohlenes Gut taugt nicht mehr für Milada… Er steht und zaudert.

Da wendet sich die Alte, sieht ihn, rühmt ihre Ware und lädt ihn zum Kaufe ein.

»Ich hab kein Geld«, sagt Pavel zögernd.

Mit der Freundlichkeit der Hökerin ist es sogleich vorbei, und ihre Aufforderung lautet jetzt: »Wenn du kein Geld hast, so pack dich!«

Das ist wieder gewohnter Klang, Pavel fühlt sich angeheimelt, er fragt nun fast zutraulich nach dem nächsten Weg zum Fräuleinstift.

»Was willst du im Fräuleinstift?« brummt das Weib. »Wärst gestern gekommen. Am Samstag wird dort ausgeteilt.«

Pavel lügt, er weiß selbst nicht warum, und behauptet, das sei ihm wohl bekannt, wiederholt seine Erkundigung und wandelt, nachdem er sie erhalten, einem Hause zu, das sich wie eine riesige gelbgetünchte Schachtel am Ende des Platzes erhebt. Es hat auffallend kleine Fenster und an der Seite ein schmales Pförtchen, zu dem einige Stufen hinunterführen. Ratlos stehe er lange davor, pocht, rüttelt an der Klinke, aber die bleibt unbeweglich und sein Pochen ungehört. Eine Schar kleiner Jungen kommt daher; einer von ihnen springt die Treppe zur Klosterpforte hinab, hängt sich an den Glockenstrang, läßt ihn plötzlich zurückschnellen und läuft davon. Ein Geläute, das gar nicht enden wollte, drang aus dem Innern des Hauses; das Pförtchen öffnete sich, Pavel trat ein und stand weder vor einer geschlossenen Tür; doch hatte diese ein Glasfenster und gewährte den Einblick in eine Halle, deren ziemlich niedriges Gewölbe von freistehenden Säulen getragen wurde und deren Wände mit Feuchtigkeitsflecken bedeckt waren. Eine Nonne erschien, musterte den Besucher und fragte mit strenger Miene: »Warum schellst du so stark? Was willst du?«

»Meine Milada«, stammelte Pavel. Es überkam ihn plötzlich, daß er sich unter einem Dache mit seiner Schwester befand, und unleidlich wurde seine Ungeduld. »Wo ist sie?« rief er.

»Wen meinst du?« fragte die Klosterfrau. »Es gibt hier keine Milada, du bist wohl fehlgegangen.«

Schon wollte sie ihn abweisen, da erinnerte er sich des Talismans, den er bei sich trug, und überreichte den Brief.

Die Nonne betrachtete eine Weile die Aufschrift: »Ja so«, sagte sie. »Liebes Kind, deine Schwester heißt bei uns Maria. Du kannst sie jetzt nicht sehen, sie ist in der Kirche.«

Pavel erklärte, er wolle auch in die Kirche, und dabei nahm sein Gesicht einen so entschlossenen und bösen Ausdruck an, daß der Pförtnerin angst wurde. Sie bemühte sich, ihm begreiflich zu machen, daß er warten müsse, bis die Messe aus sein werde, führte ihn zu dem Ende in ein an die Halle anstoßendes Zimmer, ließ ihn dort allein und verschloß hinter ihm die Tür.

Da war er ein Gefangener. Der düstere Raum, in dem er sich befand, hatte keinen zweiten Eingang, dafür aber drei mit schweren bauchigen Gittern versehene Fenster. Sie öffneten sich auf einen mit Obstbäumen bepflanzten Rasenplatz, in dessen Mitte, altersgrau und verwittert, eine Muttergottesstatue stand, ein buntes Kränzlein auf dem Haupte, und Pavel dachte gleich, niemand anders als Milada habe das geflochten… Wenn sie doch käme, bald käme, wenn doch die Messe schon vorüber wäre! … Glockenklang erhob sich, es wurde zum Sanktus geläutet; nun folgte die Wandlung, Pavel sank auf die Knie und betete inbrünstig: Lieber Gott, schick mir meine Schwester! Er sehnte sich, er hoffte, er wartete- die Glocken hatten längst zum letzten Segen geläutet, die Kleine erschien immer noch nicht. Und still war’s ringsum wie in einer leeren Kirche. Kein Mensch im Garten zu erblicken, in der Halle kein Laut, kein Schritt zu hören. Pavel warf sich gegen die Tür und polterte mit Händen und Füßen, solange er konnte. Umsonst, niemand kam, ihn zu erlösen. – Erschöpft und verzweifelt sank er auf den Boden, zu Füßen eines großen Tisches, der nebst einigen an die Wände gerückten Stühlen die ganze Einrichtung der Stube bildete.

Sie kommt nicht, sie kommt nicht, und mich hat man eingesperrt und vergessen – das sagte er sich, anfangs mit zorniger Empörung über etwas Abscheuliches und Unerhörtes, zuletzt mit stumpfer Ergebung in das Unabänderliche. Sein Kopf wurde immer schwerer, seine Augen fielen zu, er schlief ein. So fest, so tief schlief er, daß ihn das Geräusch der plötzlich aufgerissenen Tür nicht weckte, daß er erst zum Bewußtsein kam, als ein Paar kleine Arme ihn umklammerten, eine liebe, geliebte Stimme jauchzte: »Pavel, Pavel, bist du endlich da?«

Er riß die Augen auf, sprang empor – schaute, wurde feuerrot, hätte auch gern etwas gesagt und konnte nicht – brannte danach, sie an sein Herz zu ziehen, und wagte es nicht. – Ach, schön, schön hatte er sich seine Schwester vorgestellt, aber so schön, wie sie ihm in Wirklichkeit erschien, doch nie und nimmermehr!

– Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das im Schnitt ein wenig an einen priesterlichen Talar mahnte, und auf der Brust ein silbernes Kreuz. Ihre blonden Haare waren in einen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing bis zum Gürtel; an der Stirn, den Schläfen, im Nacken aber kräuselten sich, der glättenden Hand eigensinnig entschlüpft, kleine, feine goldige Löckchen und umgaben den Kopf wie ein Heiligenschein.

Immer scheuer wurde die Bewunderung, mit der Pavel das Kind betrachtete, plötzlich trübten sich seine Augen, er hob den Arm empor und preßte ihn an sein Gesicht.

Diesem seltsamen Empfang gegenüber blieb die Kleine eine Weile ratlos, umfing ihren Bruder aber bald von neuem, und unter ihren Liebkosungen wich der entfremdende Bann, der ihn bei ihrem Anblick ergriffen hatte. Er setzte sich, nahm sie auf seinen Schoß, küßte und herzte sie und ließ sich von ihr erzählen, wollte auf das genaueste wissen, wie sie lebte, was sie tat, was sie lernte, vor allem jedoch – was sie zu essen bekam. Er staunte, wie geringen Wert sie auf diese so wichtige Sache legte, wie ihr um nichts so sehr zu tun war als darum, das bravste Kind im ganzen Kloster zu sein, und um die Anerkennung dieser Tatsache.

»Es ist schwer, die Bravste zu sein, weil so viele gute Kinder da sind; aber ich bin’s doch!« sagte sie, richtete sich freudig auf und rief mehr im Ton der Überzeugung als der Frage: »Du bist es auch?«

»Ich?« entgegnete er, voll ehrlicher Verwunderung – – »wie soll denn ich brav sein?«

Ohne die verschränkten Finger von seinem Nacken zu lösen, streckte sie die Arme aus, bog sich zurück, sah ihm in die Augen und sprach: »Wie du brav sein sollst? – So halt – wie man halt brav ist; man tut nichts Unrechtes… Du wirst doch nichts Unrechtes tun?«

Er schüttelte den Kopf, suchte sich von ihr loszumachen, besonders aber ihren Blick zu vermeiden: »Warum soll ich nichts Unrechtes tun?« murmelte er – »es geht nicht anders.«

»Und welches Unrecht tust du zum Beispiel?«

»Zum Beispiel? … Ich nehme den Leuten Sachen weg…«

»Was für Sachen?«

»Wie du fragst? – Was soll ich denn nehmen? was ich immer genommen habe, Obst – oder Rüben oder Holz…«

Mit steigender Angst, aber noch zweifelnd, schrie die Kleine auf: »Dann bist du ja ein Dieb!«

»Ich bin auch einer.«

»Das ist nicht wahr! sag, daß es nicht wahr ist, daß du nicht schlecht bist! um Gottes willen, sag es…«

Sie drohte, schmeichelte und geriet in Bestürzung, als er die Entschuldigung vorbrachte: »Wie soll ich nicht schlecht sein? Die Eltern sind ja auch schlecht gewesen.«

»Just deswegen!« rief sie, »begreifst du’s nicht? – Just deswegen bin ich die Bravste im ganzen Kloster und mußt du der Bravste sein im ganzen Dorf… damit der liebe Gott den Eltern verzeiht, damit ihre Seelen erlöst werden… Denk an die Seele des Vaters, wo die jetzt ist…«

Eine fliegende Blässe überzog wie ein Hauch ihre rosigen Wangen. »Wir müssen immer beten«, fuhr sie fort, »beten, beten und gute Werke tun und uns bei jedem guten Werke sagen: Für die arme Seele, die im Fegefeuer brennt.«

Mit tiefster Durchdrungenheit stimmte Pavel bei: »Ja, die brennt gewiß.«

»O Gott im Himmel! … und weißt du, was ich glaube?« flüsterte die Kleine – »wenn wir schlimm sind, da brennt sie noch ärger, weil der liebe Gott sich denkt, das kommt von dem bösen Beispiel, welches diese Kinder bekommen haben von…« Sie hielt inne, schluckte einigemal nacheinander, ihre Augen öffneten sich weit und starrten den Bruder voll leidenschaftlichen Schmerzes an. Plötzlich faßte sie seinen Kopf mit beiden Händen, drückte ihr Gesicht an das seine und fragte: »Warum stiehlst du?«

»Ach was«, erwiderte er, »laß mich.«

Sie umklammerte ihn fester und rief wieder ihr beschwörendes: »Sag! sag!« und da er durchaus nicht Rede stehen wollte, begann sie zu raten: »Stiehlst du vielleicht aus Hunger… Bist du vielleicht manchmal hungrig?«

Er lächelte gelassen: »Ich bin immer hungrig.«

»Immer!«

»Ich denk aber nicht immer dran«, suchte er sie zu beruhigen, als sie in Jammer ausbrach über diese Antwort; doch hörte die Kleine ihn nicht an, sondern rannte, unter heftigen Vorwürfen gegen sich selbst, aus dem Zimmer.

Bald erschien sie wieder, gefolgt von einer Laienschwester, die einen reichlich mit Brot und Fleisch besetzten Teller trug. Der wurde auf den Tisch gestellt und Pavel eingeladen, sich’s schmecken zu lassen.

Er machte der Aufforderung Ehre, aß hastig, war aber erstaunlich bald satt.

»Ist das dein ganzer Appetit?« fragte die Klosterdienerin und sah ihn mit jungen hellen Augen freundlich an. »Bist nicht gewohnt ans Essen, hast gleich genug, ich kenn das schon. Woher kommt er denn, wer ist er?« wandte sie sich an Milada.

»Von zu Hause«, antwortete diese, »er ist mein Bruder.«

»Nun ja, in Christus, jeder Arme ist unser Bruder in Christus.«

»So mein ich’s nicht, er ist mein wirklicher Bruder!« beteuerte Milada und wurde böse, als die Schwester sie ermahnte, sich erstens nicht zu ärgern und zweitens nicht einmal im Scherz eine Unwahrheit zu sagen.

»Aber ich sag ja keine Unwahrheit, Schwester Philippine! Fragen Sie die ehrwürdige Mutter, fragen Sie das Fräulein Pförtnerin! …« eiferte das Kind. Die Klosterdienerin aber erwiderte gutmütig verweisend: »Seien Sie ruhig, Fräulein Maria, seien Sie nicht schlimm, Sie waren schon so lange nicht mehr schlimm. Nur nicht wieder in den alten Fehler verfallen, sonst müßt ich’s melden; Sie wissen recht gut, daß ich’s melden müßt.« Damit nahm sie rasch den Teller vom Tisch, nickte den Kindern einen munteren Abschiedsgruß zu und ging.

»Sie will nicht glauben, daß ich dein Bruder bin«, sprach Pavel nach einer Weile.

Milada legte wieder ihre Wange an die seine und flüsterte ihm ins Ohr: »Vielleicht glaubt sie’s doch.«

»Glaubt’s doch? … Warum tut sie dann so? … Und warum hast du ihr’s nicht besser gesagt? Warum warst du gleich still? … Ich bin still, wenn ich recht hab, weil’s mich freut, wenn die Leut so dumm sind, und ich mir dann so gut denken kann: Ihr Esel! – Aber du brauchst das nicht.«

»Ja ich! ich bin auch still, nicht aus Trotz und Hochmut wie du – aus Demut und Selbstüberwindung.« Sie warf sich in die Brust, und ihr Gesichtchen leuchtete vor Stolz: »Damit die Engel im Himmel ihre Freude an mir haben.«

Nachdem sie sich an der Bewunderung geweidet, mit der er sie ansah, fuhr sie fort: »Pavel, ich darf unserer Mutter nicht schreiben, aber du schreibe ihr; schreibe ihr, daß ich immerfort für sie bete und nichts anderes werden will als eine Heilige… Ja! … und daß ich auch für sie sorge, schreibe ihr, und mir alle Tage etwas abbreche für sie und alle Tage wenigstens ein gutes Werk tue für sie… Und du, Pavel«, unterbrach sie sich, faßte ihn an beiden Schultern und fragte: »Was tust du für unsere Mutter?«

»Ich?« lautete seine Antwort, »– ich tu halt nichts.«

»Ach geh! du wirst schon etwas tun…«

»Was soll ich tun? – ich weiß nicht was.«

»So sag ich dir’s! – Du sollst dran denken, was die Mutter anfangen wird, wenn sie heimkehrt: Wohin soll sie gehen, wo soll sie wohnen, die arme Mutter?«

Und nun kam Milada mit einem ganz fertigen Plan, der darin bestand, daß Pavel einen Grund kaufen und für die Mutter ein Haus bauen müsse.

Er ärgerte sich: »Wie soll denn ich ein Haus bauen? Ich hab ja kein Geld.«

»Aber ich habe!« rief das Kind. »Wart, ich bring dir’s… bleib ruhig sitzen und wart.«

Eilends flog sie davon; lange jedoch dauerte es, eh sie wiederkam. Die Pförtnerin folgte ihr und hielt einen Gegenstand, den Milada in der Hand trug, scharf im Auge: »Halt«, sprach die Klosterfrau, »was wollen Sie damit tun?«

»Ich schenk es meinem Bruder, ich hab Erlaubnis von der ehrwürdigen Mutter.«

Die Pförtnerin betrachtete das Kind mißbilligend, fragte gedehnt: »Wirklich?« und zog sich langsam mit leise gleitenden Schritten zurück.

Milada schwang triumphierend einen gestrickten Beutel, durch dessen weite Maschen es hell und silbern blinkte. Er enthielt ihre Ersparnisse, das von der Frau Baronin erhaltene und gewissenhaft zurückgelegte Wochengeld, im ganzen vierunddreißig Gulden. Daß man damit noch keinen Grund kauft und noch kein Haus baut, leuchtete sogar dem geschäftsunkundigen Pavel ein; aber es war doch ein Anfang, es war doch ein Eigentum, an das sich die Hoffnung, es zu vergrößern, knüpfen ließ. Die Kinder berieten, wie das geschehen solle, und Milada kam bald darauf, daß ihr Bruder fleißig arbeiten und etwas verdienen müsse.

Pavel aber meinte: »Wie soll denn ich etwas verdienen? Solang ich beim Hirten bin, kann ich nichts verdienen… Ja!« rief er – »ja wenn…« Ein Gedanke war in ihm aufgetaucht, und dieses ungewöhnliche Ereignis versetzte ihn in fieberhafte Erregung – »wenn ich hierbleiben dürft, sie haben ja eine Wirtschaft, die Klosterfrauen… wenn sie mir etwas zu tun geben möchten in der Wirtschaft…«

»In der Wirtschaft?« fragte Milada und machte große Augen.

»Wenn sie mir einen Dienst gehen möchten«, fuhr er fort, »bei den Ochsen, bei den Pferden, bei den Kühen oder so etwas, daß ich hierbleiben könnt, daß ich nur nicht ins Dorf zurück müßt.«

Er faßte ihre Hände und beschwor sie, seine Fürsprecherin bei den Klosterfrauen zu sein. Nachdem seine träge Phantasie einmal begonnen hatte, ihre Schwingen zu entfalten, flog sie beharrlich fort und trug ihn immer höher empor. Ein so ausgezeichneter Knecht wollte er werden, daß die Beförderung zum Aufseher und dann zum Meier nicht lange auf sich warten lassen könnte. Von dem Geld, das er verdiente, wollte er daheim im Dorf ein Haus für die Mutter bauen. Die sollte nur dort wohnen, er blieb in der Nähe seiner Schwester, und wie er sie heute sah und sprach, so würde er sie dann sehr oft sehen und sprechen, und wenn das sein könnte, dann wäre er glücklich, wäre brav, aus wäre es mit der Schlechtigkeit, mit der Dieberei, aus mit der – Pavel ballte die Faust gegen ein unsichtbares Wesen: mit der Vinska, wollte er sagen, doch überkam es ihn, als dürfe er den Namen in Gegenwart seiner Schwester nicht aussprechen. Das Kind schmiegte sich an ihn, machte keine Einwendung, hörte seiner Erzählung wie der des schönsten Märchens zu und setzte manchmal noch ein Licht auf in dem freundlichen Bilde, das er entwarf.

»Ja, du wirst der Meier sein und ich die Heilige!« hatte die Kleine eben freudig ausgerufen… da ertönte laut und lange fortgesetzt, aus der Ferne erst, dann näher und näher der Schall einer Glocke. Milada seufzte tief auf.

»Das Zeichen«, sagte sie.

»Was für ein Zeichen?«

»Daß du fortgehen mußt.«

»Ich geh aber nicht! Du hast ja selbst gesagt, daß ich hierbleiben kann«, rief Pavel, und die Kleine erwiderte bestürzt: »Was fällt dir ein? Ich darf so etwas nicht sagen.«

Nun begann es dicht vor der Tür zu schellen, sie wurde geöffnet, die Pförtnerin ließ sich blicken, sprach nicht, setzte aber die Glocke, die sie in der Hand hielt, immer heftiger in Bewegung.

Zugleich erschien eiligen Schrittes Schwester Philippine und rief Pavel zu: »Die Sprechstunde ist aus, höchste Zeit, empfiehl dich, vorwärts, vorwärts!«

Er gab keine Antwort und gehorchte auch nicht. Die Klosterdienerin wiederholte ihre Mahnung; Pavel aber, den Kopf gesenkt, mit den Fingern einer Hand die der andern pressend und zerrend, blieb auf seinem Sessel sitzen. Die Pförtnerin rief eine zweite Laienschwester herbei, gab auch ihr Befehl, den zudringlichen Burschen fortzuschaffen, und winkte Milada, das Zimmer zu verlassen. Die Kleine zögerte. Da kam die Nonne auf sie zu und ergriff sie beim Arme: »Sie gehen hinauf in die Klasse«, sprach sie, mit äußerstem Bemühen, das Beben ihrer Stimme zu verbergen und den schüchternen Widerstand des Kindes mit Sanftmut zu besiegen. Doch funkelte Unwillen aus ihren dunklen Augen, und die leisen Worte, die sie dem Klosterzögling zuflüsterte, schienen, nach dem Eindruck, den sie hervorbrachten, zu schließen, nicht eben gütige zu sein. Die Kleine lauschte ihnen mit gespannter, angstvoller Aufmerksamkeit, rief plötzlich: »Leb wohl, Pavel! leb wohl!« und eilte hinweg.

Da sprang er auf, stieß die Laienschwestern, die ihn festhalten wollten, zur Seite und stürmte Milada in die Halle nach. »Bleib!« schrie er- »hast du vergessen, was wir tun wollen, was geschehen muß? Bleib da und sag’s den Klosterfrauen!«

Er wurde immer ungebärdiger und bedrohte die Dienerinnen, die sich anschickten, ihn mit Gewalt fortzuschaffen. Die friedliche Klosterhalle stand in Gefahr, der Schauplatz eines kleinen Handgemenges zu werden, als die aus dem Garten hereinführende Tür geöffnet wurde und einem langen Zuge von Nonnen Einlaß gewährte, an dessen Spitze die Oberin zwischen den zwei nächsten Würdenträgerinnen schritt. Ein mildes Lächeln auf dem schönen Gesichte, die großen klaren Augen mit dem Ausdruck leisen Staunens auf die erregte Pförtnerin gerichtet, kam sie bis zum Eingange des Sprechzimmers und blieb vor demselben stehen. Die Pförtnerin war plötzlich wie versteinert, die Laienschwestern knixten bis zur Hälfte ihrer natürlichen Größe zusammen, Milada neigte sich in tiefer Verbeugung, lehnte das Köpfchen auf die Schulter, errötete und erbleichte.

»Was gibt es denn? was geschieht hier?« fragte die Oberin, und so wohl dem Auge der Anblick ihrer edlen Züge, so wohl tat dem Ohr der reine Metallklang ihrer Stimme: »Warum ist unsere kleine Maria noch nicht in die Klasse zurückgekehrt?«

Die Pförtnerin gab eine etwas verworrene Erklärung dessen, was sich eben zugetragen; sie schonte dabei Pavels nicht, und die hohe Vorgesetzte hörte ihr zu, mit nicht mehr Ungeduld, als ein Engel hätte verraten dürfen, und ließ mit der Teilnahme eines solchen ihren Blick auf dem verklagten Übeltäter ruhen.

»Mit den Klosterfrauen willst du sprechen?« sagte sie zu ihm; »so sprich, mein Kind, da sind die Klosterfrauen.«

Pavel erbebte vor Entzücken und Hoffnungsfreudigkeit bei diesen gütigen Worten; aber zu tun, wie sie ihn geheißen, vermochte er nicht. Zagend blinzelte er zu der Ehrwürdigen empor, die vor ihm stand, so licht und hehr in ihren dunklen Gewändern. Ihm war, als hätte er in das Antlitz der Heiligen Jungfrau geschaut… und als sein Blick im Niedergleiten ihre Hände streifte, da meinte er zwischen den schlanken, über dem Gürtel gefalteten Fingern den Schlüssel zum Himmel blinken zu sehen… Wie gepackt und niedergeworfen von einer gewaltigen Faust lag er mit einemmal auf seinen Knien, und seine Lippen murmelten leise und inbrünstig: »Erlösen! Erlösen!«

Im nächsten Augenblick kniete seine Schwester neben ihm und begann auch zu rufen, nur lauter, nur kühner als er: »Erlösen! … Erlösen! … Ehrwürdige Mutter, erlösen Sie ihn!«

Die Angeflehte machte eine Bewegung der Abwehr. Sie reichte Milada beide Hände, zog sie in die Höhe und sprach: »Ich weiß nicht, was ihr wollt, und so bittet man nicht. Auch du, Bursche, steh auf und sage vernünftig, was du zu sagen hast.«

Pavel erhob sich sogleich; seine Wangen glühten braunrot, Schweißtropfen perlten an den Wurzeln seiner Haare; er wollte sprechen, brachte aber nur ein heiseres und undeutliches Gemurmel hervor.

»Sprich du für ihn, was will er?« wandte die Oberin sich an Milada.

»Er möchte so gern hierbleiben«, erwiderte das Kind bewegt und kleinlaut; »er möchte ein Knecht sein bei den Kühen oder bei den Pferden.«

Die Ehrwürdige lächelte, und ihr Gefolge, die großen und die kleinen Nonnen, die breiten und die schmalen, die freundlichen und die strengen lächelten gleichfalls.

»Wie kommt er auf den Gedanken? hat ihn jemand hergewiesen? … Fräulein Ökonomin, ist eine Stelle frei in der Wirtschaft?«

»Keine«, antwortete die Angeredete.

Pavel bildete sich ein, zwischen den beiden Frauen sei es hin- und hergeflogen wie ein Blick stillen Einverständnisses, als die Oberin von neuem gefragt: »Vielleicht denke aber der Meier daran, einen der Knechte zu entlassen? Der Bursche kann früher davon gehört haben als wir; wäre das nicht möglich?«

»Nein. Ich weiß ganz bestimmt, daß der Meier nicht daran denkt, einen Knecht zu entlassen.«

»So – so«, versetzte die Oberin; »nun denn, mein Kind, da ist nichts zu tun, da waren diejenigen, die dich zu uns geschickt haben, falsch berichtet. Geh denn heim, mein Kind, geh mit Gott, und du, kleine Maria, in die Klasse! – in die Klasse!«

Sie wollte sich abwenden und ihren Weg weiterverfolgen. Pavel warf sich ihr entgegen; ehrfurchtsvolle Scheu hatte bisher seine Zunge gebunden, die Angst der Verzweiflung löste sie.

»Um Gottes willen, gütige, gebenedeite Klosterfrau«, rief er und faßte die Oberin am Kleide, »um Gottes willen, behalten Sie mich! Schicken Sie mich nicht ins Dorf zurück… Meine Milada sagt, daß ich brav werden soll, im Dorf kann ich nicht brav werden… Hier will ich’s sein, behalten Sie mich hier… Im Dorfe bin ich ein Dieb und muß ein Dieb sein…«

»Kind, Kind, was sprichst du?« entgegnete die Ehrwürdige; »niemand muß ein Dieb sein, jeder Mensch kann sich sein Brot redlich verdienen.«

»Ich nicht!« schrie Pavel und wehrte sich mit allen Kräften gegen zwei Nonnen, die vorgetreten waren und das Gewand der Oberin aus seinen Händen zu lösen suchten, »ich nicht! … Was ich verdiene, nimmt der Virgil und versauft’s, und ich muß auch seine ganze Arbeit tun und bekomme nichts… Die Gemeinde sollte mir Kleider geben und gibt mir nichts… und wenn die Virgilova hingeht und sagt: Der Bub hat kein Hemd, der Bub hat keine Jacke, sagen sie: Und wir haben kein Geld… aber wenn sie auf die Jagd gehen wollen und ins Wirtshaus, dann haben sie immer Geld genug…«

Ungläubig schüttelte die Oberin den Kopf und machte Einwände, die Pavel widerlegte. Der wortkarge Junge sprach sich in eine wahre, derb zutreffende Beredsamkeit hinein. Was er vorbrachte, war nicht die Frucht langen Nachdenkens; die Erkenntnis seines ganzen Elends kam ihm zugleich mit derjenigen, daß es eine Rettung gehen könne aus diesem Elend, und jede neue Anklage gegen seine schlechte Adoptivmutter, die Gemeinde, und jeden neuen Ausbruch der Entrüstung und des Jammers schloß er mit dem leidenschaftlichen Beschwören: »Behalten Sie mich! Schicken Sie mich nicht ins Dorf zurück!« Allein – ob seine Augen sich angst- oder hoffnungsvoll auf die hohe Frau richteten, welcher er die Macht zuschrieb, sein trostloses Schicksal in ein glückliches zu verwandeln, immer begegneten sie demselben Ausdruck sanfter Unerbittlichkeit. Und wie sie vor sich hinblickte, unendlich fromm, unendlich teilnahmslos, so tat ihr ganzes Gefolge, und der schwer begreifende Pavel begriff endlich, daß er umsonst gebeten hatte.

»Geh, mein Kind«, sprach die Oberin, »geh mit Gott und bedenke, wo immer du wandelst, wandelst du unter seinen Augen und unter seinem Schutz. Und wenn er mit uns ist, was vermögen die Menschen wider uns? Was vermag ihr böses Beispiel und was die Versuchung, in welche ihr böses Beispiel uns führt? Geh getrost, mein Kind, und der Herr geleite dich.«

Sie gab der Pförtnerin einen Wink; diese eilte, die Tür der Halle zu öffnen. Stumm, ohne Gruß schritt Pavel dem Ausgang entgegen. Da ertönte plötzlich ein durchdringender Schrei. Milada, die bisher regungslos dagestanden, ohne den Blick, ohne das ein wenig heuchlerisch zur Seite geneigte Köpfchen auch nur einmal zu erheben, rannte ihrem Bruder nach: »Warte, ich geh mit dir!« rief sie, hing sich an seinen Hals, küßte ihn und schluchzte: »Armer Pavel! Armer Pavel!« Ganz außer sich schlug sie mit den kleinen Fäusten nach den Nonnen, die an sie herantraten und sie in sanft beschwichtigender Weise zur Ruhe ermahnten. Sie keuchte, sie wimmerte: »Lassen Sie mich! Ich will mit ihm gehen, weil er arm ist, weil er ein Dieb ist… Sehen Sie! sehen Sie! er hat Lumpen, er hat nichts zu essen, ich will auch Lumpen haben, ich will auch nichts zu essen haben, ich will nicht eine Heilige sein und in den Himmel kommen, wenn er in die Hölle kommt!«

Sie schrie, als ob sie sich mit Gewalt die Brust zersprengen wollte, und er, kämpfend zwischen seiner Bestürzung über die Heftigkeit und seiner Freude über diese unerwartete Äußerung ihrer Liebe, starrte sie an, beschämt, beglückt – und völlig ratlos und rührte sich nicht, als die Klosterfrauen einen dichten Kreis um ihn und Milada schlossen, die Arme der Kleinen von seinem Nacken lösten und sie, festgehalten an Händen und Füßen, emporhoben. Es geschah mit größter Schonung, ohne das geringste Zeichen von Ungeduld; ein tiefes Leid, ein inniges Bedauern war alles, was sich in den Mienen der frommen Frauen aussprach, als ihr Zögling auch jetzt noch seinen Widerstand fortsetzte.

»Pavel!« kreischte das Kind, »Pavel, reiß mich los! … Gehen wir fort, weit weg… gehen wir zusammen in die Arbeit, in den Ziegelschlag wie früher, wie damals, wo wir klein waren… ich will achtgeben auf dich, daß du kein Dieb mehr bist… Reiß mich los! … Nimm mich mit… Geh nicht allein… ich seh dich nie mehr, wenn du allein weggehst… Sie lassen dich nie mehr zu mir… Nie mehr!«

Ihr Schreien endete in nicht unterscheidbaren Lauten, in einem heiseren Husten. Pavel stöhnte; der Hilferuf der Kleinen schnitt ihm ins Herz, und doch blieb er unbefangen genug, um zu denken: Was sie verlangt, ist unmöglich, was sie sich zutraut, geht weit über ihre Kräfte. Sie schwieg endlich – gewiß vor Erschöpfung. Pavel konnte sie nicht sehen – drei- und vierfach waren allmählich die Reihen geworden, welche die Klosterfrauen zwischen ihr und ihm bildeten. Statt der überangestrengten Stimme seiner Schwester vernahm der Bursche eine reine, glockenhelle, die ermahnte, zusprach, gleichmäßig, eindringlich und immer leiser… Pavel hielt den Atem an und horchte-die Kleine blieb ruhig. – Nur aufseufzen hörte er sie manchmal aus tiefster, schmerzzerrissener Brust, und scheinen wollte ihm, als nenne sie dabei seinen Namen. Und er hielt sich nicht länger, er stürzte vor, den Kreis zu durchbrechen, der ihm den Anblick seiner Schwester entzog. Er hatte Widerstand erwartet und fand keinen; wie auf ein gegebenes Zeichen wichen die Klosterfrauen zu beiden Seiten aus, und er sah Milada vor sich stehen, an der Hand der Oberin, bleich, zitternd, das Köpfchen wieder schief geneigt, die rotgeweinten Augen gesenkt – die um ihn rotgeweinten Augen! … Eine fast unüberwindliche Lust ergriff ihn, sie in seine Arme zu nehmen und mit ihr zu entfliehen. Die Tür war offen, ein paar Sätze, und er hätte das Freie erreicht, und einmal draußen, sollten sie ihm nur nachlaufen, die Klosterfrauen! … Aber dann? Wohin führst du das Kind? fuhr es ihm durch den Kopf, und die Antwort lautete: Ins Elend! und er überwand die rasch und heiß auflodernde Versuchung.

»Tritt näher«, sprach die Oberin, »sage deiner Schwester Lebewohl.«

Er folgte dem Geheiß und setzte aus eigener Machtvollkommenheit hinzu: »Am nächsten Sonntag komm ich wieder.«

Die Kleine brach von neuem in Tränen aus und flüsterte, ohne aufzublicken: »Darf er?«

»Das kann ich nicht im voraus sagen«, erwiderte die Ehrwürdige: »es hängt ja nicht von mir ab, sondern von dir, von deiner Aufführung. Dein Bruder darf immer kommen, wenn du gut, gehorsam und« – sie legte besonderes Gewicht auf diese Worte – »nicht ungeduldig bist.«

»So schau!« rief Pavel fröhlich aus. Die Bedingnis, an welche sein Wiedersehen mit der Schwester geknüpft worden, enthielt für ihn die trostreiche Verheißung. Er begriff nicht, warum Milada traurig und ungläubig den Kopf schüttelte, als er, sie küssend und umarmend, versprach, sich in acht Tagen gewiß wiedereinzufinden. Und als die Kleine hinweggeführt worden, und als er, dem Befehl der Pförtnerin gehorchend, die Halle verlassen hatte und nun draußen stand auf dem Platz vor dem Kloster, lachte er vor sich hin. Er lachte über das törichte Kind, das die Trennung von ihm jahrelang guten Mutes ertragen und das sich nun, da es einen Abschied für eine Woche galt, so bitter grämte. Die arme Kleine, wie liebte sie ihn! Wann hätte er sich’s träumen lassen, daß sie ihn so sehr liebe! – Alles wäre sie bereit gewesen um ihn aufzugeben, das schöne Haus, in dem sie wohnte, ihre guten Kleider, das gute Essen… ja sogar die sichere Aussicht auf das Himmelreich…

Das will er ihr lohnen, er weiß schon wie; er wird sich ihrer Liebe würdig machen. Wonniger Stolz, die herrlichste Zuversicht erfüllten ihn; etwas Köstliches, Unbegreifliches schwellte sein Herz. Er gab sich keine Rechenschaft davon, er hätte es nicht zu nennen gewußt, es war ihm ja so neu, so fremd, es war ja – Glück. Unter dem Einfluß des Wunders, das sich in ihm vollzog, meinte er auch von außen kommende Wunder erwarten zu müssen. Und wie er so langsam dahinschritt, gestaltete sich aus seinen wehenden Träumen immer deutlicher die Überzeugung, daß er einer großen Veränderung seines Schicksals entgegengehe, dem geheimnisvollen Anfang zu einem schöneren, besseren Leben.

Eine Stunde wanderte er bereits und hatte kaum den vierten Teil des Weges zurückgelegt, da überholte ihn ein Bote, der gleichfalls aus der Stadt kam und nach dem Dorfe ging; ein alter Bekannter, der Nachtwächter Wendelin Much. Der Mann wurde jeden Sonntag am frühen Morgen von der Baronin nach dem Kloster geschickt. Er überbrachte das Taschengeld für Milada, einen Brief für die Oberin und Geschenke für ihre Armen und hatte den Wochenbericht über den Schützling der gnädigen Frau in Empfang zu nehmen. Demjenigen, den die Ehrwürdige heute sandte, waren in Eile folgende Zeilen hinzugefügt worden:

»– Die Zusammenkunft der beiden Kinder hat den erwarteten Erfolg nicht gehabt. Dieselbe gab vielmehr dem Tropfen Vagabundenblut, der leider in den Adern unseres Lieblings rollt, Gelegenheit, sich wieder zu regen. Wir fürchten, es werde langer Zeit bedürfen, bevor es uns gelingt, den üblen Eindruck, den dieses erste und, wenn Frau Baronin unseren Rat befolgen, auch letzte Wiedersehen der Geschwister auf Maria hervorgebracht hat, zu verwischen.«

Kapitel 8


Kapitel 8

 

Als Pavel am späten Nachmittag heimkehrte, sah er schon am Beginn der Dorfstraße die Virgilova wie auf der Lauer stehen. Sie rief ihn von weitem an und begrüßte ihn voll Freundlichkeit und fragte teilnehmend nach seinen Erlebnissen. Er gab einsilbige Antwort, schielte mißtrauisch nach der Alten und dachte: Was will sie mir antun, die Hexe?

Seine Ungewißheit über ihre Absichten dauerte nicht lange, die Hartnäckigkeit, mit der sie sich an seine Fersen heftete, ihre eifrig und ängstlich wiederholten Ermahnungen: »Wart doch! … Renn nicht so!« führten ihn auf die rechte Spur: Von der Hütte wollte die Alte ihn fernhalten, in der Hütte ging etwas vor, dessen Zeuge er nicht sein sollte… Den Verdacht kaum gefaßt, und sofort versetzte er sich in Trab, war bald an Ort und Stelle, stieß heftig die Tür auf und sprang in den Flur. Sein erster Blick richtete sich nach der Stube. Dort saß Vinska auf dem Bette, schön und nett angetan, hielt die Hände vor dem Gesicht und schluchzte. Vor ihr stand der Peter mit einer wahren Armensündermiene, war feuerrot und hatte sein Hütlein, das drei Pfauenfedern schmückten, weit zurück ins Genick geschoben.

Als Pavel auf der Schwelle erschien, erhob Vinska sich rasch: »Bist wieder da? was willst? was suchst?« rief sie.

Er blickte finster und grimmig die Federn auf Peters Hütlein an und fragte: »Hast ihm die geschenkt?«

Eines Atemzugs Dauer war Vinska verwirrt, der Bürgermeisterssohn aber warf sich in die Brust. »Was untersteht sich der Hund? – Geht’s dich an?« sprach er. »Troll dich!«

Pavel spreizte die Beine aus und stemmte sie auf den Boden, als ob er an ihn anwachsen wolle. »Für dich hab ich die Federn nicht gestohlen. Sie gehören der Vinska. Gib sie der Vinska zurück!«

Peter wandte den Kopf, ohne ihn zu erheben, brüllte ein langgedehntes drohendes »Du!« und holte mit der Faust gegen Pavel aus. Im selben Augenblick glitt Vinska ihm in den Arm und lehnte sich an ihn mit der ganzen Wucht ihrer kräftig zierlichen Gestalt. Sie trocknete an seiner Schulter eine Träne ab, die ihr noch auf der Wange stand. »Tu ihm nichts, er weiß ja nichts«, sprach sie, »er ist so dumm!«

»Wer?« stieß Pavel hervor, und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.

»Der fragt!« antwortete das Mädchen, »und jetzt hör an und merk dir: Was mir gehört, gehört auch dem« – sie tippte mit dem Finger auf Peters Brust –, »ich brauch es ihm nicht erst zu schenken, weil ich selbst ihm gehöre mit Haut und Haar. Und solange er mich behalten will, ist’s recht, und wenn er mich einmal nicht mehr will, geh ich in den Brunnen.«

Der Bürgermeisterssohn wiederholte sein früheres »Du!« aber diesmal richtete es sich an die Geliebte. Seine Drohung schloß einen zärtlichen Vorwurf ein, und so stämmig und selbstbewußt er dastand, und so hilflos und voll Hingebung sie an ihm lehnte, die Stärkere – schien sie.

»Greine nur, ich weiß doch, daß ich in den Brunnen muß«, sprach sie seufzend; »heiraten kann ja mein Liebster mich armes Mädel nicht.«

»Heiraten, der- dich?« Pavel brach in ein plumpes Gelächter aus. »Heiraten? … Das hast dir gedacht?«

»Nie –« entgegnete Vinska schwermütig. »Ich hab mir nie etwas anderes gedacht als: Er ist halt mein erster Schatz, ich werd schon loskommen von ihm, kommen ja so viele los von ihrem ersten Schatz… Jetzt aber merk ich – ich kann’s nicht, und wenn’s heute heißt: der Peter gehorcht dem Vater und heiratet die reiche Miloslava, sag ich kein Wort und geh nur in den Brunnen.«

»Mädel! Mädel!« schrie Peter, stampfte mit dem Fuße, faßte ihr rundes Köpfchen mit seinen beiden Händen und drückte einen leidenschaftlichen Kuß auf ihren Mund.

Pavel stürzte aus der Hütte.

Draußen schüttelte er sich, als ob er in einen Bremsenschwarm geraten wäre und das giftige Getier, das ihn von allen Seiten anfiel, loszuwerden suche. Dann begann er, so müde er war, ein rastloses Wandern durch das Dorf. Daß die Vinska, trotz des Versprechens, das er ihr abgerungen, die Geliebte Peters geblieben war, daran – suchte er sich einzureden – lag ihm nichts mehr. Aber daß sie, die Tochter des Trunkenbolds Virgil und seines verachteten Weibes, es darauf abgesehen hatte, die Frau des Bürgermeistersohnes zu werden, das erschien ihm unverzeihlich und frevelhaft; dafür konnte die Strafe nicht ausbleiben und dafür mußte die Vinska am Ende wirklich in den Brunnen.

Bei dem Gedanken ergriff ihn ein schneidendes, unerträgliches Weh und zugleich eine wütende Lust, den anderen etwas mitzuteilen von seiner Pein. Die Dunkelheit war hereingebrochen, tiefe Ruhe herrschte, und ihr Frieden empörte den Friedlosen, der umherirrte, grollend, mit kochendem Blut. Er hatte das Bereich der Häuslerhütten verlassen, er schritt am hoch eingeplankten Wirtsgarten dahin, dem gegenüber das Haus des Bürgermeisters sich erhob. Die Tür desselben wurde eben geöffnet, zwei Männer traten heraus, Pavel erkannte sie an ihren Stimmen, als sie jetzt über die Straße herüberkamen: es waren die zwei ältesten Geschworenen.

»Steht schlecht mit ihm, wird’s nicht mehr lang machen was meinst?« sagte der eine.

»Kaum mehr lang«, erwiderte der andere.

Wer? – Um Gottes willen, wer wird’s nicht mehr lang machen? … Der Bürgermeister… Pavel besann sich plötzlich, daß er dem Manne jüngst begegnet war und ihn erst nicht erkannt hatte, weil er so verändert ausgesehen… Der Bürgermeister ist krank und wird sterben, und dann ist Peter sein eigener Herr und kann die Vinska heimführen… wenn er will…

Die Bauern schritten dem Wirtshaus zu, Pavel folgte ihnen, ihren Reden lauschend, aber nicht fähig, eine Silbe zu unterscheiden. Ein heftiges Hämmern und Brausen in seinem Kopf übertönte den von außen kommenden Schall. Der Gedanke, der ihn einen Augenblick rasend gemacht, hatte seine Schrecken verloren vor einem anderen, nicht minder peinlichen, aber viel ungeheuerlicheren, weil er das Unmögliche als möglich erscheinen ließ und ihm die Gehaßte, die Geliebte zeigte vor dem Altar, im Brautkranz, der ihr nicht mehr gebührte. Ein unleidlicher Schmerz ergriff ihn, und dem tobenden Kampf in seiner Seele entstieg der zornige Wunsch: Wenn sie doch lieber in den Brunnen müßte!

Den vor ihm langsam herschreitenden Männern schlossen sich andere an, die Gruppe blieb eine Weile im schleppenden, wortkargen Gespräch vor der offenen Wirtshaustür stehen und trat dann in die Gaststube. Pavel schlich nach bis in den Flur, weiter wagte er sich nicht. Das Zimmer war überfüllt, doch gab es heute weder Tanz noch Musik; man spielte Karten, man rauchte, man trank, man zankte. Einige Bursche traktierten ihre Mädchen mit Braten und Wein. An einem Tisch saß Arnost zwischen der Magd und dem Knecht des Herrn Postmeisters bei einem Glase Bier, aus dem die drei abwechselnd tranken. Der schmächtige Häuslerssohn hatte sich in der letzten Zeit tüchtig herausgemacht, sah wohlgenährt aus, war ordentlich gekleidet, befand sich sogar im Besitz einer Tabakspfeife. Vor einem Jahre hatte er das Glück gehabt, seinen liederlichen Vater zu verlieren, seitdem ging es ihm gut; er erhielt sich und die Mutter von seiner Hände Arbeit und erlaubte der Alten nicht mehr, das Diebshandwerk zu treiben. Als sie es unlängst wieder versuchte und er sie dabei betraf, prügelte er sie erbarmungslos durch und schwor, er werde die alte Katze schon lehren, das Mausen aufzugeben. Mit den Genossen seiner Jugendstreiche ließ er sich nicht mehr ein und hätte den Pavel nicht einmal mit einem Hölzchen anrühren mögen; doch erwies er ihm hie und da kleine Wohltaten in Erinnerung der vielen Schläge, die jener einst an seiner Stelle einkassiert hatte.

Als er den Hirtenjungen hereingucken sah, machte er die anderen auf ihn aufmerksam und meinte, dem Buben sähe doch immer der Hunger aus den Augen. Die kleine Gesellschaft erhob sich, Arnost bezahlte, behielt aber von den Kreuzern, die er auf seine Silbermünze herausbekam, einen in der Hand und schleuderte ihn prahlerisch, noch aus der Mitte des Zimmers, dem Pavel zu. Der fing ihn auf, hielt ihn ein Weilchen in der erhobenen, geschlossenen Hand, öffnete sie aber plötzlich und ließ das Geldstück zu Boden gleiten.

Arnost fuhr auf: »Dummer Kerl! such ihn jetzt, such den Kreuzer.« Pavel aber streckte die Hände in die Taschen: »Such selbst, ich brauch dein Geld nicht, ich hab Geld!« antwortete er, zog seinen Beutel hervor und schwenkte ihn triumphierend, daß die Silbergulden klapperten.

– Geld! Der Lump, der Bettler hatte Geld! Da gab’s nur einen Aufschrei, da wurde die Aufmerksamkeit allgemein, viele Leute verließen ihre Sitze, in der Tür entstand ein Gedränge. Der Knecht packte Pavel am Kragen, schüttelte ihn und wetterte: »Woher hast du’s? woher? Dieb!« und nun konnte der Junge sich freuen, daß seine Jacke so morsch war und nachgab, als er den Fuß gegen die Beine des Knechtes stemmte und sich mit einem kräftigen Ruck losriß. Einen Fetzen des alten Kleidungsstücks in den Händen seines Bedrängers zurücklassend, schnellte er davon, sprang zur Tür und über die Stufen hinaus in das bergende Dunkel.

Kaum entronnen, aber die Verfolger auf den Fersen, rief er noch zurück: »Woher ich’s hab? – Gestohlen hab ich’s!« und stob davon mit höhnendem Gelächter und, durch ihn selbst auf die richtige Fährte geleitet, eine Schar junger Bursche, Arnost an der Spitze, fluchend und drohend ihm nach.

Er rannte die Dorfstraße wieder hinauf bis zu dem Gäßchen, das, von zwei Häusern gebildet, auf den Platz führte, auf dem die Schule stand. In das Gäßchen warf er sich, prallte an den friedlich daherschreitenden Nachtwächter an, fegte den Alten so glatt nieder, daß dieser hinfiel wie ein Armvoll Getreide unter einer scharfen Sense, stolperte selbst, schnellte wieder empor und lief weiter, indes der Nachtwächter durch sein Geschrei die hinter Pavel Herjagenden, die seine Spur schon verloren hatten, wieder auf dieselbe lenkte. Dem Gehetzten blieb eben noch Zeit genug, die Schule zu erreichen. Er fand die Tür unverschlossen, trat ein, schlug sie zu, schob den Riegel vor und polterte die Treppe zur Stube des Lehrers hinauf, indes Arnost und seine Gefährten schon an der Haustür pochten und lärmten.

Habrecht saß am Tische mitten im Zimmer, beim Schein einer kleinen hell brennenden Lampe, und las. Er hatte die Ellbogen auf den Tisch und die Wangen auf die geballten Fäuste gestützt, und diese sonst so fahlen Wangen waren gerötet, und die sonst immer so matt und müde blickenden Augen glühten in seltsam schmerzlicher Begeisterung. Wie aus einer höheren, traurig schönen Welt ins irdische Elend zurückgezerrt, sah er, halb zürnend, halb erschrocken, zu dem ungestümen Eindringling hinüber und verbarg dabei mit einer unwillkürlichen Bewegung beider Hände die Blätter des aufgeschlagen vor ihm liegenden Buches.

»Herr Lehrer!« keuchte Pavel atemlos, »Herr Lehrer, heben Sie mir mein Geld auf!« Er hielt ihm sein Beutelchen hin und berichtete in hastigen, abgebrochenen Sätzen, wie er zu dem Reichtum gekommen war und in welchen Verdacht er sich bei den Leuten gesetzt hatte, die nun da unten Spektakel machten.

»Hat dich wieder der Teufel geritten?« fuhr Habrecht ihn an, lief zum Fenster, öffnete es, schrie hinab, so laut er konnte, und befahl der brüllenden Meute, sich zurückzuziehen. Er nehme den Buben in Gewahrsam, er stehe gut für ihn, er werde ihn morgen schon selbst dem Bürgermeister vorführen. Half alles nichts, er mußte seine Warte verlassen und sich hinunter zu den Stürmern begeben, um sie wenigstens daran zu hindern, ihm die Tür einzurennen. Und derweil der Alte auf der Straße parlamentierte, stand Pavel in der Stube, mit brennendem Kopf, die Hände, die seinen durch ihn selbst gefährdeten Schatz festhielten, an die Brust gepreßt. Ich will’s nicht wieder tun, ich will so etwas nicht mehr sagen, dachte er.

Eine ihm endlos dünkende Zeit verstrich, der Lärm nahm allmählich ab, es ward still. Arnost und seine Begleiter traten den Rückzug an, doch hörte man noch lange ihre erregten Stimmen. Der Lehrer betrat die Stube, er war sehr erhitzt, und eine unerhörte Verwirrung herrschte in seinen dünnen, nach allen Richtungen flatternden Haaren.

»Jetzt sind sie fort«, sagte Pavel, und Habrecht brummte: »Wenn sie nur nicht wiederkommen.«

»Sie sollen sich unterstehen!« rief der Junge mit einem bedeutsamen Blick auf den Krug, der im Winkel neben dem Bette stand. »Wenn sie wiederkommen, schütte ich ihnen Wasser auf den Kopf.«

»Das wirst du bleiben lassen, denk erst daran, dein Geld zu verstecken. Schau her!« Der Lehrer rückte den Tisch gegen die Wand und hob ein Stück der Diele, auf welcher derselbe gestanden, in die Höhe. Es zeigte sich ein kleiner hohler Raum, in den der Lehrer das Buch, mit dem Pavel ihn beschäftigt gefunden, und das Geld legte und den er sorgsam verdeckte.

Der Junge hatte ihm mit der größten Aufmerksamkeit zugesehen, und nachdem alles in Ordnung gebracht war und der Tisch wieder auf dem alten Fleck stand, fragte er: »Was ist’s denn mit dem Buch? Ist’s ein Hexenbuch?«

Habrecht geriet in Zorn: »Wie töricht redest du und wie frech; weißt nicht, was mich am meisten verdrießt, willst auch mich zum Feinde haben, hast noch nicht Feinde genug? Manchmal«, fuhr er, immer mehr in Hitze geratend, fort, »habe ich mich gewundert, daß sie alle gegen dich sind, ich hätte mich nicht wundern sollen, es kann nicht anders sein, es ist deine eigene Schuld. Wen magst denn du? Vor wem hast denn du Achtung? … Nicht einmal vor mir! … Ein Hexenbuch!«

Er wiederholte das Wort mit einem neuen Ausbruch der Entrüstung und rang die anklagend erhobenen Hände.

Pavels Gesicht hatte sich gerötet und sah förmlich angeschwollen aus, um seinen Mund zitterte es, als ob er in Tränen ausbrechen wollte. Mit vieler Mühe würgte er das Geständnis hervor, daß er entschlossen sei, von heute an ein neues Leben anzufangen, wie er es am Morgen seiner Schwester Milada habe versprechen müssen. Nun entsetzte sich der Lehrer noch mehr und lachte grimmig. Das war das Rechte, das hatte der Junge gut gemacht – vernünftig gewollt, unsinnig gehandelt, weiß beschlossen, schwarz getan. Plötzlich griff er sich an den Kopf und stöhnte im tiefsten Schmerze auf. »Dummer Kerl, armer Teufel, ich kenn das! ich könnt etwas davon erzählen, ich – aber dir noch nicht«, unterbrach er sich und fuhr mit dem Zeigefinger dicht vor Pavels Nase hin und her, als er sah, wie dieser in hoher Spannung aufhorchte. »Das ist keine Geschichte für dich, jetzt noch nicht, später vielleicht einmal, wenn du gescheiter geworden bist – und wunder. Jetzt kriegst du die Wunden erst, aber du spürst sie noch nicht oder oberflächlich, vorübergehend; warte, bis sie sich werden eingefressen haben dann wirst du an mich denken, dann – im Alter. Dann wirst du wissen: Das ist das Ärgste, im Alter leiden um einer Jugendtorheit willen. Nicht einmal groß, Tausende haben Schlimmeres getan und leben in Frieden mit sich und mit der Welt. Ein Übermut – eine närrische Prahlerei – kaum eine Lüge, und doch just genug, um eine Hölle da drinnen anzufachen.« Er klopfte sich mit der Faust auf die eingedrückte Brust, sank auf den Sessel zurück, warf sich über den Tisch und vergrub den Kopf in die verschränkten Arme. So lag er lange, wie von Fieberfrösten durchrieselt, und Pavel betrachtete ihn mitleidig und wagte nicht, sich zu rühren. Was tat denn der Herr Lehrer? … Schluchzte er? War es der Krampf eines unaufhaltsamen Weinens, was diesen gebrechlichen Körper so erschütterte? Du lieber Gott, worüber kränkte sich der Mann? Worin bestand das Unrecht, was er in seiner Jugend begangen hatte und das ihn im Alter nicht mehr froh werden ließ? … Neugier war sonst Pavels Sache nicht, das Geheimnis des Lehrers aber hätte er gern ergründet. Und geholfen hätte er ihm auch gern, ihm und sich selber mit. In welcher Weise, war ihm bereits eingefallen; es gab ja heute einen solchen Sturm und Sturz von Gedanken in seinem Kopf, daß er sie ordentlich sausen und krachen hörte.

»Herr Lehrer«, begann er, näherte sich ihm und tippte leise mit dem Finger auf seine Schulter. »Herr Lehrer, hören Sie, ich will Ihnen etwas sagen.«

Habrecht richtete sich auf, lächelte trübsinnig und sprach: »Bist noch da, dummer Junge, geh nach Hause. – Geh!« wiederholte er streng, als seine erste Aufforderung ohne Wirkung blieb.

Pavel jedoch stand fest wie ein verkörperter Entschluß, blickte dem Lehrer ruhig in die Augen und beteuerte, nach Hause gehe er nicht, heute müsse er etwas anfangen. Er habe schon im Kloster anfangen wollen, dort sei es aber nichts gewesen, und so bäte er, beim Herrn Lehrer anfangen zu dürfen.

»Was«, fragte der, »was denn anfangen?«

»Das neue Leben«, erwiderte Pavel und wußte erstaunlich gut Bescheid darüber zu gehen, wie er sich dasselbe vorstelle. Im Kloster hatte er demütig gebeten, man möge ihn behalten; dem Lehrer versprach er in beinahe tröstlicher Weise, er werde von nun an immer bei ihm bleiben und dafür sorgen, daß ihm ein rechter Nutzen aus dieser Hausgenossenschaft erwachse. Wie oft habe sich der Lehrer über die Nachlässigkeit ärgern müssen, mit welcher die Gemeinde ihrer Pflicht nachkam, das zur Schule gehörende Feld zu bestellen. Jetzt wolle er dieses Feld in seine Obhut nehmen und den Garten ebenfalls; bald werde man sehen, ob das Feld noch schlecht bestellt, ob der Garten noch eine Wildnis sei. Nicht eben breit, aber sehr langsam setzte Pavel auseinander, wie fleißig er sein und zum Entgelt nichts ansprechen wolle als ein Obdach und die Kost. Geld verdienen könnte er im Spätherbst und im Winter in der Fabrik, wo sie bis zu einem Gulden Taglohn zahlen. Habe er deren hundert beisammen, dann ließe sich an den Ankauf von soviel Grund und Boden denken, als man brauche, um ein Haus darauf zu bauen. Seine Schwester werde ihrerseits weitersparen, und sooft als nur möglich wolle er sie besuchen – er wisse, wie gar sehr böse es für ihn gewesen sei, daß er sie so lange nicht habe sehen dürfen. Am Ende verfiel er wieder in seinen tröstlichen Ton und versprach, sich am Abend regelmäßig beim Lehrer einzufinden: »Damit Sie nicht so allein sind, da können Sie lesen in Ihrem –« schon wollte er sagen: Hexenbuch, verschluckte aber glücklich die zwei ersten Silben und sprach nur die letzte aus –, »und ich zähl indessen mein Geld.«

Habrecht hatte ihn reden lassen und dabei einige Male vor sich hingeseufzt: »Dummer Bub«, aber Pavel konnte dennoch bemerken, daß der Lehrer nicht so abgeneigt war, wie er sich stellte, die Ausführbarkeit des vorgebrachten Planes zuzugeben.

»Alles gut«, sagte er endlich, »oder wenigstens nicht so unvernünftig, wie man’s von dir gewohnt ist; aber doch alles nichts, kann alles nicht sein ohne Erlaubnis der Gemeinde.«

Die werde zu haben sein, der Herr Lehrer solle sich nur recht ansetzen! meinte Pavel und verfocht seine Meinung mit solcher Unerschütterlichkeit, wiederholte, wenn eine neue Antwort auf neue Einwände ihm nicht einfiel, mit so störrischem Gleichmut immer wieder die alte, bis der Lehrer sich überwunden gab und ausrief: »So bleib denn in Gottes Namen, wenn du schon nicht wegzubringen bist, Klette!«

Da machte Pavel einen Freudensprung, unter dessen Wucht der Boden zitterte, und jauchzte: »Ich hab’s ja gewußt, der Herr Lehrer wird mir helfen.«

Der Lehrer verwies ihm seine Plumpheit, seine Wildheit, und immerfort zankend, aber mit einem ungewohnten Ausdruck tiefinnerster Zufriedenheit in seinem armen, grauen Gesicht, traf er Anstalt zur Bewirtung und Aufnahme des Gastes. Pavel erhielt ein Butterbrot, das ihm so ausgezeichnet schmeckte wie noch nie zuvor und wie auch später niemals wieder ein Butterbrot, und wurde in die ans Zimmer stoßende Kammer gewiesen. Der Lehrer breitete einen Kotzen auf dem Boden aus: »Da streck dich aus und schlaf gleich ein«, befahl er, deckte den Jungen mit einem fadenscheinigen Radmantel zu und ging, die Tür hinter sich schließend. Pavel blieb im Dunkeln zurück und hatte den besten Willen, der letzten Weisung des Lehrers nachzukommen, doch gelang es ihm nicht, denn seine Seele war des Jubels zu voll. So hatte es denn angefangen, das neue Leben! so lag er nicht mehr frierend, zusammengekauert im Flur der Hirtenhütte, in dem der Wind eiskalt und messerscharf durch die klaffenden Türspalten drang; er lag unter einem Mantel aus wirklichem Tuch in einer Kammer, wo die Luft fest eingesperrt war und wo es vortrefflich roch, nach allerhand guten Sachen, nach altehrwürdigen Gewändern, nach Schabenkräutern, nach Stiefeln, nach saurer Milch. Wie wohl befand er sich und wie genoß er im vorhinein die Freude, die Milada haben würde an seinem Glück! Im Gedanken an seine Schwester schloß er die Augen, und als er sie wieder öffnete, schimmerte die schlanke Sichel des jungen Mondes durchs Fenster herein. Er grüßte ihn und sagte zu ihm: »Auch du fängst an, wir fangen beide an.« Dabei überkam ihn trotz all des Neuen, das ihn umgab, trotz all des Neuen, das in ihm gärte und keimte, zum erstenmal nach langer, langer Zeit ein Heimatsgefühl. Plötzlich stieg die Erinnerung an die Nächte vor ihm auf, die er einst mit seinen Eltern unter den Dächern der Ziegelschuppen zugebracht, in der Fremde und doch zu Hause, weil ja das ganze häusliche Elend mitgezogen war. Und nun gab es für ihn wieder ein Zuhause und ein besseres als das frühere; er brauchte den Vater nicht mehr zu fürchten, und die Mutter war fern… Die Mutter freilich wird wiederkommen und dann… Es durchrieselte ihn, er hüllte sich dichter in den Mantel und sprach ein kurzes, kräftiges Gebet, dessen Hauptinhalt lautete: »– Lieber Herrgott, du siehst, daß ich den rechten Weg eingeschlagen habe; jetzt, lieber Herrgott, paß auf, daß ich ihn nicht wieder verlassen muß.«

Kapitel 9


Kapitel 9

 

Als der Lehrer am folgenden Tage zum Bürgermeister kam, lag dieser von Schmerz gequält auf dem Bette. Er hatte in seinem jämmerlichen Zustand nicht das geringste Interesse für Wohl oder Weh der Mitmenschen. Sooft Habrecht auch begann, von Pavel zu sprechen, der Kranke kam immer auf sich, auf seine Leiden, auf seine Klagen über den Arzt zurück, der alle Fingerlang daherlaufe, ihm das Geld aus der Tasche stehle und nicht helfe. Um wieviel besser dran als er war seine Magd! Ja, die! Vor ein paar Wochen so krank und so matt, daß sie sich kaum hatte auf den Beinen halten können, jetzt frisch und gesund. Und warum? Weil sie von allem Anfang an vom Arzt nichts hatte wissen wollen, weil sie, ohne erst lange zu fragen, zum Weib des Hirten geschickt um ein Mittel. Das hatte geholfen, gleich nach einer Stunde war sie hergestellt.

Der Lehrer sagte: »Hm, hm!« und brachte von neuem die Angelegenheit Pavels vor, worauf ihm der Patient nochmals die Geschichte der wunderbaren Heilung seiner Magd erzählte.

»Und was beschließt Ihr über den Pavel?« fragte der Schulmeister und erhielt endlich den Bescheid, er solle sich an die Räte wenden.

So machte er denn die Runde bei den Räten. Einer nach dem andern hörte ihn ernsthaft und geduldig an, und jeder sagte: »Da müssen Sie zuerst zum Bürgermeister.«

»Der Bürgermeister schickt mich zu Euch.«

»Ja, dann müssen Sie zu den zwei andern Räten.«

Selbständig einen Entschluß zu fassen oder nur eine Meinung auszusprechen, dahin war durch ruhiges Zureden keiner zu bringen; und in Eifer zu geraten hütete sich Habrecht, um nicht bei den mißtrauischen Dorfvätern in den Verdacht irgendeiner eigennützigen Absicht bei der Sache zu kommen.

Zuletzt ging er ins Schloß, um dort für seinen Schützling zu wirken, kam jedoch übel an. Der Brief aus dem Kloster hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Die Frau Baronin machte sich bittere Vorwürfe, die Zusammenkunft der Geschwister befürwortet zu haben, war sehr aufgebracht gegen Pavel, wollte nicht mehr von ihm sprechen hören und riet dem Schulmeister, den Schlingel ein für allemal seinem Schicksal zu überlassen.

Die Woche verfloß; Virgil begab sich täglich nach der Schule, um den Pavel abzuholen, aber der Junge ließ sich entweder nicht finden oder leistete offenen Widerstand. Da wanderten endlich der Hirt und sein Weib zum Bürgermeister und ersuchten ihn, seine Autorität geltend zu machen und den Buben zur Rückkehr zu ihnen zu zwingen. Der kranke Mann versprach alles, was sie verlangten, blickte zwischen jedem mühsam herausgestoßenen Satz die Wunderdoktorin fragend, fast flehend an und ächzte, nach seiner schmerzenden rechten Seite deutend: »Da sitzt’s! Da sitzt der Teufel!«

»Mein Gott, mein Gott!« sprach das Weib. »Rechts, ja rechts, da tut’s weh, das ist die Leber.«

»Die Leber? Nun ja – sie sagt also wenigstens etwas, sie! … sie sagt, die Leber ist’s? Aber der Doktor, der sagt nicht Leber und gar nichts.«

»Sagt nichts und weiß nichts«, sprach das Weib mit überlegener, wegwerfender Miene.

»Weiß nicht einmal eine Linderung, weiß gar nichts.«

Die Virgilova erhob die gefalteten Hände zur Höbe ihrer Lippen und hauchte über die Fingerspitzen: »Ach Gott, ach Gott! und wenn man denkt, wie leicht dem Herrn Bürgermeister zu helfen wäre.«

Der Kranke bäumte sich auf seinem Lager: »Meinst du? … So hilf mir!«

»Wenn ich nur dürft«, entgegnete sie mit einem raschen, lauernden Blick. »Wenn ich nur etwas schicken dürft! … In vierzehn Tagen wären Sie gesund.«

»So schick mir etwas, schick! … Aber – das Maul gehalten… verstehst du? …« Er unterbrach sich, um ängstlich auf Schritte und Stimmen, die sich näherten, zu horchen, und fuhr dann leise fort: »Wenn’s dunkel wird, kommt die Magd und holt’s.«

»Ich schick den Buben, das wird besser sein, da setzen Sie dem auch gleich den Kopf zurecht und sagen ihm: Wo du hing’hörst, da gehst wieder hin. Die Magd soll nur aufpassen bei der Stalltür.«

Der Bürgermeister winkte heftig: »Um neun. Geht fort geht!«

Virgil und sein Weib gehorchten schleunig, trafen aber schon am Ausgang der Stube mit Peter und dem Arzte zusammen. Dieser ließ die unbefugte Kollegin hart an mit der Frage, was sie hier zu suchen habe. Nicht minder mißtrauisch und viel derber wies Peter die beiden Alten hinweg.

Das Ehepaar legte den Heimweg schweigend zurück.

In der Hütte angelangt, begab die Frau sich sogleich zu der Truhe, kramte eine schmutzige, in Lumpen gehüllte Schachtel hervor und entnahm ihr zwei Fläschchen. Das eine trug die Etikette der städtischen Apotheke mit der Aufschrift: »Kamillengeist«. Der Inhalt der zweiten war von gelbgrauer Farbe und hatte einen dicken weißlichen Bodensatz. Aufmerksam prüfend hielt die Frau das Fläschchen gegen das Licht und begann es langsam in ihren Fingern zu drehen.

Virgil hatte sich auf die Bank gesetzt. »Was tust?« fragte er plötzlich. »Was willst ihm helfen? Laß ihn.«

»Dem kann niemand helfen«, antwortete das Weib. »Der muß sterben.«

»Muß sterben? – Was willst also? … Misch dich nicht hinein.«

Sie zuckte die Achseln: »Dreiviertel Jahr oder ein ganzes kann er’s schon noch machen.«

»Oder ein ganzes?« wiederholte Virgil bestürzt, dachte nach und rief auf einmal voll Grimm: »Hast gesehen, wie sein Bursch mit uns war?«

»Aus lauter Angst vorm Vater«, versetzte das Weib. »Er möcht uns prügeln aus lauter Angst… und sie kriegt auch noch Prügel von ihm – dann!« Sie legte ungemeines Gewicht auf dieses Wort und zwinkerte mit ihren blassen Katzenaugen. »Dann – wenn die Verliebtheit verraucht sein wird, und die verraucht bald, wie die Bursche schon sind, die schlechten Kerls. Pack dich, wird’s dann heißen, ich hab nichts mehr mit dir zu tun! Und das Mädel weiß, daß es so kommen kann, und wenn’s so kommt, dann geht das Mädel in den Brunnen.«

Virgil stieß einen heiseren Laut hervor und bekreuzte sich dreimal nacheinander: »Gered! Albernes Mädelgered!«

»Von unserem ist’s kein Gered«, erwiderte das Weib mit innigster Oberzeugung, »die tut’s.«

»Tut’s nicht.«

»Laß nur drauf ankommen.«

»Ich schon. Meinetwegen braucht sich der Racker nicht zu schinieren.«

»So soll sie gehen. ‘s wird halt auf der Welt um ein armes Mädel weniger geben. Mich hätt’s nur g’freut, wenn der Alte früher gestorben wär, jetzt! solang noch der Peter, wenn er dürft, wie er wollt, sie nehmen tät… Und wenn sie ihn nur hätt! wenn nur!« das Weib brach in ein Gelächter aus, »dann wär er’s, der Prügel bekäm.«

Virgil nahm zuerst teil an ihrer lauten Heiterkeit, doch hielt er bald inne, verzog heuchlerisch den Mund und sprach tief aufseufzend: »Gott geb’s, daß der liebe Gott den armen Herrn Bürgermeister bald erlöst.«

»Vielleicht gibt er’s«, versetzte rauheren Tones die Frau; »und jetzt mach fort und hol den Buben.«

»Er geht nicht.«

»Sag, daß der Bürgermeister es befiehlt.«

»Er geht doch nicht.«

»So sag, daß die Vinska um ihn schickt.«

Der Hirt stand auf und schlich dem Ausgang zu. Dort blieb er stehen, wandte sich und sprach: »Du, hörst – helfen sollst ihm just nicht, was Unrechtes geben aber auch nicht.«

Höhnisch blinzelte sie ihn an: »Werden schon sehen.« Um ihre dannen, über das vorstehende, noch gut erhaltene Gebiß fest gespannten Lippen flog ein grünlicher Schatten.

Den Mann überlief’s, er humpelte sachte davon.

Zwei volle Stunden ließ Pavel auf sich warten. Es war beinahe Nacht, als er endlich kam, an die Tür klopfte und nach Vinska fragte. In die Hütte einzutreten, war er nicht zu bewegen.

Der Hirt, der ihn begleitet hatte, lehnte an der Wand und rührte sich nicht. Bei den Nachbarn herrschte Stille, nur unterbrochen durch das kräftige Schnarchen Arnosts, dessen Lagerstätte in der Nähe des Fensters stand.

Virgilova erschien auf der Schwelle: »Die Vinska schlaft schon«, sagte sie, »jetzt kannst sie nicht mehr sehen, warum kommst so spät. Mußt auch gleich zum Bürgermeister.«

»Ich?«

»Sollst ihn selbst bitten, daß er dich beim Lehrer laßt, und –« sie senkte die Stimme zu kaum hörbarem Geflüster, »und mußt ihm auch ein Mittel bringen.«

»Aha!« Pavel begriff sogleich, um was es sich eigentlich handele. Er war oft genug seiner Prinzipalin verschwiegener Bote bei Kranken gewesen und teilte mit dem ganzen Dorfe den Glauben an ihre Kunst und an die Heilkraft ihrer Medikamente. So streckte er die Hand aus und sprach: »Gebt her.«

Sie reichte ihm das Fläschchen mit dem harmlosen Inhalt und schärfte ihm umständlich die Vorsichtsmaßregeln ein, unter denen es »auf dreimal« zu leeren sei. »Geh durch den Garten«, schloß sie, als der Junge ungeduldig zu werden begann und ihr nur noch mit halbem Ohr zuhörte: »Halt dich weit von der Straße, daß dich der Nachtwächter nicht sieht. Die Magd weiß, daß du kommst, und wird dir aufmachen.«

Mit ein paar Sätzen war Pavel auf dem Feldrain, einen Augenblick hob sein dunkler Schatten sich vom bleigrauen Horizont ab, dann war er verschwunden.

Virgilova trat auf ihren Mann zu, faßte ihn am Arm und zog ihn einige Schritte mit sich fort. »Jetzt laufst dem Buben nach und sagst ihm: Bald hätt die Frau vergessen; das da muß er zuerst austrinken und das Flascherl gleich wieder zurückschicken, damit die Frau es im Mörser zerstoßen und das Pulver auf sieben Maulwurfshügel streuen kann, sonst hilft alles nichts. So sagst ihm und das gibst ihm.«

Sie drückte ihm ein kleines kaltes Ding in die Hand, bei dessen Berührung ihn schauderte.

»Um Gottes willen, ist da was Unrechtes drin?«

»’s is was gegen die Schmerzen; die werden gut davon.«

»Wie den Ratzen ihre«, sagte er und fügte, plötzlich in Zorn geratend, hinzu: »Warum hast du’s nicht gleich dem Buben mitgegeben, warum soll ich’s hintragen?«

Sie kicherte: »Daß du nicht sagen kannst, wenn’s aufkommt: Ich weiß nichts davon; daß du mich nicht sitzenlassen kannst, wie du gern möchtest, wenn’s schief geht; darum, du Feigling. Und jetzt lauf.«

Er trat von ihr weg: »Ich geh nicht«, sagte er.

»So laß ihn leiden! … Niemand weiß, was der noch leiden muß. Sein eigener Sohn könnt ihm nichts Besseres tun, als ihn erlösen. Er wird zu seinem Sohn noch sagen: Bring mich um, oder ich fluch dir! … Lauf, lauf! … Willst noch nicht? … So laß ihn leiden wie einen gebissenen Hund, damit er Zeit hat, die Vinska in den Brunnen zu jagen und den Sohn um sein Glück zu fluchen und sich selber ums ewige Leben.«

Sie sprach leise mit heftiger und furchtbarer Beredsamkeit, und Virgil zuckte unter dem Schwall ihrer Worte wie von tausend Nadeln gestochen. »Ein Liebeswerk«, schloß sie, »ein Werk der Barmherzigkeit, den zu erlösen. Was ein rechter Mann wär, tät’s um Gottes willen.«

Er keuchte, es war ihm gräßlich, zu sehen, daß die Augen seines Weibes in der Dunkelheit glimmten von eigenem fahlen, weißlichen Licht.

»Um Gottes willen? … Um Gottes willen also«, wiederholte er, wandte sich und trat seine Wanderung an.

Das Gäßchen, dem er zueilte, wurde von der Rückwand einiger Scheuern und vom Zaun des Bürgermeistergartens gebildet. An der Ecke des letzteren angelangt, blieb Virgil stehen. Hinter dem Zaun regte sich’s… Ein Geflüster drang an des Alten Ohr, ein zärtliches Liebesgeflüster, ein Seufzen, Kosen, Küssen, ein Abschiednehmen für eine Nacht, als wär’s für die Ewigkeit… Es sind die zwei, dachte Virgil, es ist der Racker, der da küßt und herzt – der Racker, für den ich hingehen und töten muß… Muß ich? … War gestern bei der Beicht, und geh aufs Monat wieder… Und das könnt ich nicht beichten, und dafür gibt’s keine Absolution, dafür gibt’s nur die Hölle. – Am vorigen Sonntag hat der Pfarrer von ihr gesprochen und ihre Qualen ausführlich geschildert.

Der Hirt eilt immer noch vorwärts, seine Zähne schlagen zusammen, es pfeift laut in seiner Brust. Heulen und Zähneklappern, das ist schon die Hölle, er trägt sie schon in sich… Außer ihm ist sie aber auch, die Dunkelheit ist Hölle… Und was wandert da vor ihm her, was für ein breiter, schwarzer Strich, noch schwärzer als die Finsternis? – Ei, der Pavel! blitzt es durch das chaotische Durcheinander seiner Vorstellungen. Ruf ihn – so ruf ihn doch, ermahnt er sich selbst… Wozu? Nun, um ihm das Gift… er dachte es nicht mehr aus. Ihm war, als ob sein Kopf wüchse und groß würde wie ein Zehneimerfaß und als ob seine Füße so schwach und dünn würden wie Weidenruten; und diese schwachen Füße sollen den ungeheuren Kopf tragen und die Hölle, die er in der Brust hat? Das geht nicht, das nimmermehr… Was aber geschieht jetzt? Heiliges Erbarmen! … Der schwarze Strich verändert die Form, und es ist nicht Pavel, es ist der leibhaftige Teufel, hinter dem Virgil einhergeht, der Teufel, der sich nicht einmal nach ihm umsieht, so sicher ist er: Der folgt mir gewiß. Dem Hirten schwindelt, und er bricht zusammen. »Nein!« würgt er hervor, »nein, ich tu’s nicht! Herrgott im Himmel, gebenedeite Dreifaltigkeit, verzeih mir meine Sünden!« Und vor dem Namen des Höchsten und Heiligsten verrinnt der Spuk, und es ist Pavel, der sich jetzt über den Alten beugt und fragt: »Was wollt denn Ihr da?«

»Ich, ich?« schluchzt Virgil und klammert sich mit beiden Händen an ihm fest. »Ich – nichts. Gift hab ich bringen sollen, aber ich tu’s nicht…«

Er erhob sich, den Arm Pavels immer festhaltend, zertrat das Fläschchen und stampfte die Scherben in die Erde.

»Schau mir zu«, rief er, »bleib da und schau mir zu.«

»Laßt mich aus, Ihr seid einmal wieder betrunken«, sprach der Junge, machte sich los von Virgils krampfhaftem Umklammern und stieg über den Zaun in den Garten.

Am nächsten Morgen erwachte Pavel aus tiefem Schlafe. Die Tür der kleinen Kammer, die ihm der Lehrer als Wohnstube angewiesen hatte, war aufgerissen worden; im Dämmerschein des grauenden Herbsttages stand der Schulmeister da und rief: »Steh auf! beeil dich – du mußt die Sterbeglocke läuten.«

»Für wen denn?« fragte Pavel und regte die schlummerschweren Glieder.

»Für den Bürgermeister.«

Der Junge sprang empor wie angeschossen.

»Er ist tot, ich gehe hin, besorg du das Läuten«, sprach Habrecht und eilte hinweg.

Pavels erste Empfindung war Schrecken und Staunen. Der Bürgermeister, dem er gestern das Mittel gebracht hat, das ihn gesund machen sollte, nicht genesen? gestorben – nicht genesen? … Das Mittel hat nicht geholfen! Gott hat’s nicht gewollt, darum vielleicht nicht, weil er’s wohlmeint mit Pavel, dieser gute Gott. Er hat vielleicht den Bürgermeister sterben lassen, damit der Pavel nicht zwingen könne, noch länger bei Virgil zu bleiben.

Der Junge flog aus dem Hause und über den Hof, die Treppe zum Glockenturm hinauf und läutete, läutete mit Andacht, mit Inbrunst, mit feierlicher Langsamkeit. Und dabei betete er still und heiß für das Seelenheil des Verstorbenen.

Als er vom Turme herunterkam, traf er den Herrn Pfarrer, der, auf dem Heimweg aus dem Sterbehaus, den verdeckten Kelch in den Händen, eben im Begriff war, in die Kirche zu treten. Pavel sank auf die Knie vor dem heiligen Viatikum, und der Priester ließ im Vorübergehen einen Blick so voll Verdammnis und Verwerfung über ihn hingleiten, daß er erschrocken zusammenfuhr, an die Brust schlug und sich fragte: Ist er bös auf mich, weil er sich vielleicht auch denkt, daß der Bürgermeister meinetwegen hat sterben müssen?

Er ging in die Schule zurück und nach seiner Stube und hatte dieselbe kaum erreicht, als auch schon Vinska hereinstürzte, verstört, ganz außer sich.

Sie hatte die Kleider nur hastig übergeworfen, das Tüchlein fiel ihr vom zerrauften Haar in den Nacken, ihr Gesicht war totenbleich, und mit den Gebärden wilder Verzweiflung warf sie sich vor Pavel hin.

»Erbarm dich!« rief sie, »du bist besser als wir alle. Guter Pavel, weil du so gut bist, erbarm dich unser… Wir waren immer schlecht gegen dich, aber erbarm dich doch, erbarm dich meines alten Vaters, meiner alten Mutter, erbarm dich meiner!«

Sie preßte das Gesicht an seine Knie, die sie umschlungen hatte, und sah flehend zu ihm empor. Er war noch bleicher geworden als sie, eine unheimliche Wonne durchschauerte ihn: »Was willst du?« fragte er.

»Pavel«, antwortete sie und drückte sich fester an ihn, »das Fläschchen, das du gestern gebracht hast, hat der Tote, wie sie ihn gefunden haben, in der Hand gehalten, und die Leute sagen – und der Peter sagt auch, es ist Gift.«

»Gift?« Die nächtliche Szene mit Virgil fiel ihm plötzlich ein; »ja, von Gift hat dein Alter geredet… Otterngezücht! Ihr habt den Bürgermeister vergiften wollen…«

»So wahr Gott lebt«, beteuerte Vinska, »ich hab von nichts gewußt… Und auch, so wahr Gott lebt: Es ist nichts Böses geschehen… Glaub mir – der Bürgermeister ist an seiner Krankheit gestorben, nur früher, als der Doktor gemeint hat, und das Mittel, das du gebracht hast, war ein gutes Mittel… Man wird es schon sehen bei Gericht, denn es kommt vors Gericht, der Peter will’s!«

Keuchend, in namenloser Aufregung, brachte sie diese Worte hervor, und ihr starrer Blick hielt den seinen fest.

»Wenn’s so ist«, entgegnete Pavel, »vor was fürcht’st dich?« »Vor was? Weißt nicht, wie die Leute sind? … Wenn die Mutter vors Gericht kommt und wird zehnmal losgesprochen, deswegen heißt’s doch, losgesprochen ist nicht unschuldig… Die Mutter darf nicht vors Gericht kommen, Pavel – Pavel!«

Sie wiederholte seinen Namen in allen Tonarten des Jammers, ihr zarter Körper schmiegte sich schlangenmäßig an ihm empor, und er, mit widerstrebender Seele, voll Argwohn und Groll, verschlang sie mit den Augen.

»Ich kann nicht helfen«, murmelte er.

»Du kannst! Du brauchst nur zu wollen, du brauchst nur zu sagen… sag es, Pavel, guter, guter Pavel!«

»Was denn? was soll ich sagen?«

»Daß dich niemand geschickt hat«, stammelte sie zagend, »daß du von selbst zu ihm gegangen bist.«

»Von selbst?« brach er aus; »was werd denn ich von selbst zu ihm gehen? was werd denn ich ihm bringen von mir selbst? Ich weiß ja nichts.«

»O Lieber, Allerliebster! ein Hirt weiß immer was. Du hast oft Kräuter gekocht für die kranken Ziegen und Schafe und hast halt gemeint, was für die so gut ist, kann auch für einen kranken Menschen gut sein… Das sag, Pavlicek, wenn sie dich fragen.« Sie küßte ihn, der ihr nicht mehr wehrte, auf seine brennenden Lippen. »Das sag, und dann nur alles, wie es war, wie du dich eingeschlichen hast in seine Stube, und was er gesagt hat, wie er dich gesehen hat.«

»Da hat er ja nichts gesagt.«

»Nichts gesagt?«

»Nichts, aber fürchterlich geglotzt.«

»Und du?«

»Und ich hab ihn gebeten, daß er mich beim Herrn Lehrer lassen soll.«

»Und dann? Weiter, Pavlicek, weiter.«

»Dann hat er mit dem Kopf gemacht: Nein, nein, und noch fürchterlicher nach dem Mittel geglotzt und gewinkt, daß ich ihm davon gehen soll.«

»Und du hast ihm davon gegeben?«

»Ja.«

»Und niemand war dabei?«

»Niemand.«

»Und die Magd? Ist die draußen an der Tür gewesen?«

»Die ist draußen an der Tür gewesen.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Sie hat gesagt: Gott geb’s, daß das Mittel hilft.«

»Und du?«

»Ich hab auch gesagt: Gott geb’s.«

»Und wie du in den Garten hinausgekommen bist, war niemand dort?«

»Der Peter«, sprach Pavel mit Bestimmtheit, »er hat mich gehört und mir nachgeschrien.«

»Das ist gut, alles gut, das mußt du alles aussagen«, flüsterte Vinska und umarmte ihn, als ob sie ihn ersticken wollte; »und es wird dir nichts geschehen, sie sind ja gescheit bei Gericht und wissen gleich, ob ein Mittel giftig ist oder nicht. Dir wird nichts geschehen, und uns wird geholfen sein… ich bitte dich also, erbarm, erbarm dich!«

Sie sah ihn an wie ein in Todesangst Ringender den Retter, von dem er sein ganzes Heil erwartet, und ein wonniges Gefühl der Macht schwellte die Brust des verachteten Jungen.

»Was krieg ich, wenn ich’s tu?« rief er übermütig und packte sie an beiden Armen. »Wirst du dann den Peter stehen lassen und mich nehmen?«

Wilde Verzweiflung flog über ihre Züge; von Zorn übermannt, vergaß sie alle Klugheit. »Dummer Bub – so war’s nicht gemeint!«

Sie schrie es fast und suchte sich von ihm loszumachen.

Er spottete: »Nicht? Warum also gibst mir Küsse und nennst mich Allerliebster? … Soll ich statt euer vor Gericht, damit der Peter dich nehmen kann? Das willst?«

»Das will ich!« sprach sie finster; »das muß ich. Dummer Bub! …« Sie trat einen Schritt zurück und erhob die gerungenen Hände. »Ich muß als Weib ins Bürgermeisterhaus oder in den Brunnen.«

»Du mußt? – mußt? – mußt? …« Er hatte begriffen und stöhnte auf in qualvollem Entsetzen… »Nichtsnutzige!«

Ihre Augen schlossen sich, ein Tränenstrom rann über ihre Wangen. »Ich hab geglaubt, daß du mich liebhast und mir helfen wirst«, sprach sie mit weicher Stimme, »aber du willst nicht.«

Sie schwieg, ihm raubten Grimm und Schmerz den Atem. Eine Weile standen sie wortlos voreinander: er im Begriff, auf sie loszustürzen, um sie zu erwürgen, sie auf das Schlimmste gefaßt und sich darein ergebend.

»Vinska«, begann er endlich, und sie, bei diesem Ton, so trotzig er auch klang, sie faßte wieder Hoffnung.

»Was – guter, guter Pavel?«

»Nichtsnutzige!« wiederholte er mit zusammengebissenen Zähnen.

Sie wollte sich von neuem vor ihm niederwerfen, da hob er sie in seinen Armen auf, trug sie zur Tür und stieß sie hinaus. Noch einmal wandte sie sich vernichtet, zerknirscht: »Was wirst du sagen vor Gericht?«

»Ich werd schon sehen, was ich sagen werd«, antwortete er. »Geh.«

Sie gehorchte.

Kapitel 1

»Tout est l’historie.«

George Sand

Histoire de ma vie I p. 268

 

Kapitel 1

Im Oktober 1860 begann in der Landeshauptstadt B. die Schlußverhandlung im Prozeß des Ziegelschlägers Martin Holub und seines Weibes Barbara Holub.

Die Leute waren gegen Ende Juni desselben Jahres mit zwei Kindern, einem dreizehnjährigen Knaben und einem zehnjährigen Mädchen, aus ihrer Ortschaft Soleschau am Fuße des Hrad, einer der Höhen des Marsgebirges, im Pfarrdorfe Kunovic eingetroffen. Gleich am ersten Tage hatte der Mann seinen Akkord mit der Gutsverwaltung abgeschlossen, seinem Weib, seinem Jungen und einigen gedungenen Taglöhnern ihre Aufgabe zugewiesen und sich dann zum Schnaps ins Wirtshaus begeben. Bei der Einrichtung blieb es während der drei Monate, welche die Familie in Kunovic zubrachte. Das Weib und Pavel, der Junge, arbeiteten; der Mann hatte entweder einen Branntweinrausch oder war im Begriff, sich einen anzutrinken. Manchmal kam er zur gemeinschaftlichen Schlafstelle unter dem Dach des Schuppens getaumelt, und am nächsten Tag erschien dann die Familie zerbleut und hinkend an der Lehmgrube. Die Taglöhner, die nichts hören wollten von der auch ihnen zugemuteten Fügsamkeit unter die Hausordnung des Ziegelschlägers, wurden durch andere ersetzt, die gleichfalls »kehr-um-die-Hand« verschwunden waren. Zuletzt traf man auf der Arbeitsstätte nur noch die Frau und ihre Kinder. Sie groß, kräftig, deutliche Spuren ehemaliger Schönheit auf dem sonnverbrannten Gesicht der Bub plump und kurzhalsig, ein ungeleckter Bär, wie man ihn malt oder besser nicht malt. Das Mädchen nannte sich Milada und war ein feingliedriges, zierliches Geschöpf, aus dessen hellblauen Augen mehr Leben und Klugheit blitzte als aus den dunklen Barbaras und Pavels zusammen. Die Kleine führte eine Art Kontrolle über die beiden und machte sich ihnen zugleich durch allerlei Handreichungen nützlich. Ohne das Kind würde auf der Ziegelstätte nie ein Wort gewechselt worden sein. Mutter und Sohn plagten sich vom grauenden Tag bis in die sinkende Nacht rastlos, finster und stumm. Lang ging es so fort, und zum Ärgernis der Frommen im Dorfe wurde nicht einmal an Sonn- und Feiertagen gerastet. Der Unfug kam dem Pfarrer zu Ohren und bewog ihn, Einsprache dagegen zu tun. Sie blieb unbeachtet. Infolgedessen begab sich der geistliche Herr am Nachmittag des Festes Mariä Himmelfahrt selbst an Ort und Stelle und befahl dem Weibe Holub, sofort von seiner den Feiertag entweihenden Beschäftigung abzulassen. Nun wollte das Unglück, daß Martin, der eben im Schuppen seinen jüngsten Rausch ausschlief, sehr zur Unzeit erwachte, sich erhob und hinzutrat. Gewahr werden, wie Pavel offenbar voll Zustimmung mit aufgesperrtem Mund und hangenden Armen der priesterlichen Vermahnung lauschte, und hinterrücks über ihn herfallen war eins. Der Geistliche zögerte nicht, dem Knaben zu Hilfe zu eilen, entzog ihn auch der Mißhandlung des Vaters, lenkte aber dadurch den Zorn desselben auf sich. Vor allen Zeugen, die das Geschrei Holubs herbeigelockt hatte und deren Anzahl von Minute zu Minute wuchs, überschüttete ihn der Rasende mit Schimpfreden, sprang plötzlich auf ihn zu und hielt ihm die geballte Faust vors Gesicht. Der Pfarrer, keinen Augenblick außer Fassung gebracht, wandte angeekelt den Kopf und gab mit seinem abwehrend in der Rechten erhobenen Stock dem Trunkenbold einen leichten Hieb auf den Scheitel. Martin stieß ein Geheul aus, warf sich nieder, krümmte sich wie ein Wurm und brüllte, er sei tot, mausetot geschlagen durch den geistlichen Herrn. Im Anfang antwortete ihm ein allgemeines Hohngelächter, doch war seine Sache zu schlecht, um nicht wenigstens einige Verteidiger zu finden.

In der Schar der Neugierigen, welche den am Boden Liegenden umdrängte, erhoben sich Stimmen zu seinen Gunsten, erfuhren Widerspruch und gaben ihn in einer Weise zurück, die gar bald Tätlichkeiten wachrief. Die Autorität des Pfarrers genügte gerade noch, um die Krakeeler zu zwingen, den Platz zu räumen. Sie zogen ins Wirtshaus und ließen dort den vom geistlichen Herrn Erschlagenen so lange hochleben, bis ein Trupp Bauernbursche dem wüsten Treiben des Gesindels ein Ende zu machen suchte. Da kam es zu einer Prügelei, wie sie in Kunovic seit der letzten großen Hochzeit nicht mehr stattgefunden hatte. Die Ortspolizei gönnte dem Sturm volle Freiheit, sich auszutoben, und hatte zum Lohn für diese mit Vorsicht gemischte Klugheit am nächsten Morgen das ganze Dorf auf ihrer Seite. Die allgemeine Meinung war, in der Sache gebe es nur einen Schuldigen – den Ziegelschläger –, und man solle keine Umstände mit ihm machen. Zur Lösung des Akkords verstand die Gutsverwaltung sich gern, Martin hätte ihn ohnedies unter keiner Bedingung einhalten können; so fleißig Weib und Kind auch waren, zu hexen vermochten sie doch nicht. Holub wurde abgefertigt und entlassen. Von dem Gelde, das ihm außer den bereits erhobenen Vorschüssen noch zukam, sah er keinen Kreuzer; darauf hatte der Wirt Beschlag gelegt.

Nach einem vergeblichen Versuch, sich sein vermeintliches Recht zu verschaffen, blieb dem Gesellen nichts übrig, als seiner Wege zu gehen. Der Auszug der Ziegelschläger fand statt. An der Spitze schritt das Oberhaupt der Familie in knapp anliegender ausgefranster Leinwandhose, in zerrissener blauer Barchentjacke. Er hatte den durchlöcherten Hut schief aufgesetzt; sein rotes betrunkenes Gesicht war gedunsen; seine Lippen stießen Flüche hervor gegen den Pfaffen und die Pfaffenknechte, die ihn um seinen redlichen Broterwerb gebracht.

Ein paar Schritte hinter ihm kam die Frau. Sie hatte die Stirn verbunden und schien sich selbst kaum schleppen zu können, schleppte aber doch ein Wägelchen, in dem sich Werkzeug und einiger Hausrat befand und Milada in eine Decke eingehüllt lag. Krank? Zerbleut? Man konnte das letztere wohl vermuten, denn vor der Abreise hatte Martin noch entsetzlich gegen die Seinen gewütet. Pavel schloß den Zug. Mit beiden Armen gegen die Rückseite des Wagens gestemmt, schob er ihn kräftig vorwärts und half auch mit dem tief gesenkten Kopfe nach, sooft Leute des Weges kamen, die den Auswandernden entweder mit einem Blick des Mitleids folgten oder einen Trumpf auf Holubs wilde Schimpfreden setzten.

Einige Tage später, an einem stürmischen grauen Septembermorgen, fand der Kirchendiener, als er, sich ins Pfarrhaus begebend, um dort die Kirchenschlüssel zu holen, an der Sakristei vorüberkam, die Tür derselben nur angelehnt. Ganz erstaunt und erst nicht wissend, was er davon denken sollte, trat er ein, sah die Schränke offen, die Meßgewänder auf den Boden zerstreut und der goldenen Borten beraubt. Er griff sich an den Kopf, schritt weiter in die Kirche, fand dort das Tabernakel erbrochen und leer.

Ein Zittern befiel ihn. »Diebe!« stieß er hervor, »Diebe!« und er meinte, es fasse ihn einer am Genick, und wußte nicht, wie er aus der Kirche und über den Weg zur Pfarrei gekommen…

Der Pfarrer pflegte seine Tür nicht zu versperren. »Was sollen die Leute bei mir suchen?« meinte er; so brauchte der Sakristan nur aufzuklinken. Er tat es… Schreck und Grauen! Im Flur lag die greise Magd des Pfarrers ausgestreckt, besinnungslos, voll Blut. Wie der scharfe Luftzug durch die offene Tür über sie hinbläst, regt sie sich, starrt den Kirchendiener an und deutet mit einer schwachen, aber furchtbar ausdrucksvollen Gebärde nach der Stube des geistlichen Herrn.

Der Sakristan, der dem Wahnsinn nahe ist, macht noch ein paar Schritte, schaut, stöhnt – und fällt auf die Knie, aus Entsetzen über das, was er sieht.

Eine Viertelstunde später weiß das ganze Dorf: der geistliche Herr ist heute nacht überfallen und, offenbar im Kampf um die Kirchenschlüssel, ermordet worden, im schweren Kampf, das sieht man, darauf deutet alles hin.

Über den Urheber der gräßlichen Tat ist niemand im Zweifel. Auch wenn die Aussagen der Magd nicht wären, wüßte jeder: der Martin Holub hat’s getan. In Soleschau wird zuerst auf ihn gefahndet. Er war vor kurzem da, hat seine Kinder beim Gemeindehirten in Kost gegeben und ist mit seinem Weibe wieder abgezogen.

Nach kaum einer Woche wurde das Paar in einer Diebsherberge an der Grenze entdeckt, in demselben Moment, in welchem Holub einen Teil der in Stücke gebrochenen Monstranz aus der Kirche von Kunovic an einen Hausierer verhandeln wollte. Der Strolch konnte erst nach heftigem Widerstand festgenommen werden. Die Frau hatte sich mit stumpfer Gleichgültigkeit in ihr Schicksal gefügt. Bald darauf traten beide in B. vor ihre Richter.

Die Amtshandlung, durch keinen Zwischenfall gestört, ging rasch vorwärts. Von Anfang an behauptete Martin Holub, nicht er, sondern sein Weib habe das Verbrechen ausgeheckt und ausgeführt, und sooft die Unwahrscheinlichkeit dieser Behauptung ihm dargetan wurde, sooft kam er auf sie zurück. Dabei verrannte er sich in sein eigenes grob gesponnenes Lügennetz und gab das widrige, hundertmal dagewesene Schauspiel des ruchlosen Wichtes, der zum Selbstankläger wird, indem er sich zu verteidigen sucht.

Merkwürdig hingegen war das Verhalten der Frau.

Die Gleichförmigkeit ihrer Aussagen erinnerte an das bekannte: Non mi ricordo; sie lauteten unveränderlich: »Wie der Mann sagt. Was der Mann sagt.«

In seiner Anwesenheit stand sie regungslos, kaum atmend, den Angstschweiß auf der Stirn, die Augen mit todesbanger Frage auf ihn gerichtet. War er nicht im Saale, konnte sie ihn nicht sehen, so vermutete sie ihn doch in der Nähe; ihr scheuer Blick irrte suchend umher und heftete sich plötzlich mit grauenhafter Starrheit ins Leere. Das Aufklinken einer Türe, das leiseste Geräusch machte sie zittern und beben, und erschaudernd wiederholte sie ihr Sprüchlein: »Wie der Mann sagt. Was der Mann sagt.«

Vergeblich wurde ihr zugerufen: »Du unterschreibst dein Todesurteil!« – es machte keinen Eindruck auf sie, schreckte sie nicht. Sie fürchtete nicht die Richter, nicht den Tod, sie fürchtete »den Mann«.

Und auf diese an Wahnsinn grenzende Angst vor ihrem Herrn und Peiniger berief sich ihr Anwalt und forderte in einer glänzenden Verteidigungsrede, in Anbetracht der zutage liegenden Unzurechnungsfähigkeit seiner Klientin, deren Lossprechung. Die Lossprechung nun konnte ihr nicht erteilt werden, aber verhältnismäßig mild war die Buße, welche der Mitschuldigen an einem schweren Verbrechen auferlegt wurde. Das Verdikt lautete: »Tod durch den Strang für den Mann, zehnjähriger schwerer Kerker für die Frau.«

Barbara Holub trat ihre Strafe sogleich an. An Martin Holub wurde nach der gesetzlich bestimmten Frist das Urteil vollzogen.

Kapitel 2


Kapitel 2

 

An den Vorstand der Gemeinde Soleschau trat nun die Frage heran: Was geschieht mit den Kindern der Verurteilten? Verwandte, die verpflichtet werden könnten, für sie zu sorgen, haben sie nicht, und aus Liebhaberei wird sich niemand dazu verstehen.

In seiner Ratlosigkeit verfügte sich der Bürgermeister mit Pavel und Milada nach dem Schlosse und ließ die Gutsfrau bitten, ihm eine Audienz zu gewähren.

Sobald die alte Dame erfuhr, um was es sich handelte, kam sie in den Hof geeilt, so rasch ihre Beine, von denen eines merklich kürzer als das andere war, es ihr erlaubten. Das scharf geschnittene Gesicht vorgestreckt, die Brille auf der Adlernase, die Ellbogen weit zurückgeschoben, humpelte sie auf die Gruppe zu, die ihrer am Tore wartete. Der Bürgermeister, ein stattlicher Mann in den besten Jahren, zog den Hut und machte einen umfänglichen Kratzfuß.

»Was will Er?« sprach die Schloßfrau, indem sie ihn mit trüben Augen anblinzelte. »Ich weiß, was Er will; aber da wird nichts daraus! Um die Kinder der Strolche, die einen braven Pfarrer erschlagen haben, kümm’r ich mich nicht… Da ist ja der Bub. Wie er ausschaut! Ich kenn ihn: er hat mir Kirschen gestohlen. Hat Er nicht?« wandte sie sich an Pavel, der braunrot wurde und vor Unbehagen zu schielen begann.

»Warum antwortet Er nicht? Warum nimmt Er die Mütze nicht ab?«

»Weil er keine hat«, entschuldigte der Bürgermeister.

»So? Was sitzt ihm denn da auf dem Kopf?«

»Struppiges Haar, freiherrliche Gnaden.«

Ein helles Lachen erscholl, verstummte aber sofort, als die Greisin den dürren Zeigefinger drohend gegen diejenige erhob, die es ausgestoßen hatte.

»Und da ist das Mädel. Komm her.«

Milada näherte sich vertrauensvoll, und der Blick, den die Gutsfrau auf dem freundlichen Gesicht des Kindes ruhen ließ, verlor immer mehr von seiner Strenge. Er glitt über die kleine Gestalt und über die Lumpen, von denen sie umhangen war, und heftete sich auf die schlanken Füßchen, die der Staub grau gefärbt hatte.

Einer der plötzlichen Stimmungswechsel, denen die alte Dame unterworfen war, trat ein.

»Allenfalls das Mädel«, begann sie von neuem, »will ich der Gemeinde abnehmen. Obwohl ich wirklich nicht weiß, wie ich dazu komme, etwas zu tun für die Gemeinde. Aber das weiß ich, das Kind geht zugrunde bei euch, und wie kommt das Kind dazu, bei euch zugrunde zu gehen?«

Der Bürgermeister wollte sich eine bescheidene Erwiderung erlauben.

»Red Er lieber nicht«, fiel die Gutsfrau ihm ins Wort, »ich weiß alles. Die Kinder, für welche die Gemeinde das Schulgeld bezahlen soll, können mit zwölf Jahren das A vom Z nicht unterscheiden.«

Sie schüttelte unwillig den Kopf, sah wieder auf Miladas Füße nieder und setzte hinzu: »Und die Kinder, für welche die Gemeinde das Schuhwerk zu bestreiten hat, laufen alle barfuß. Ich kenn euch«, wies sie die abermalige Einsprache zurück, die der Bürgermeister erheben wollte, »ich hab es lang aufgegeben, an euren Einrichtungen etwas ändern zu wollen. Nehmt den Buben nur mit und sorgt für ihn nach eurer Weise; der verdient’s wohl, ein Gemeindekind zu sein. Das Mädel kann gleich dableiben.«

Der Bürgermeister gehorchte ihrem entlassenden Wink, hocherfreut, die Hälfte der neuen, seinem Dorfe zugefallenen Last losgeworden zu sein. Pavel folgte ihm bis ans Ende des Hofes. Dort blieb er stehen und sah sich nach der Schwester um. Es war schon eine Dienerin herbeigeeilt, welcher die gnädige Frau Anordnungen in bezug auf Milada erteilte.

»Baden«, hieß es, »die Lumpen verbrennen, Kleider aussuchen aus dem Vorrat für Weihnachten.«

Bekommt sie auch etwas zu essen? fuhr es Pavel durch den Sinn. Sie ist gewiß hungrig. Seitdem er dachte, war es seine wichtigste Obliegenheit gewesen, das Kind vor Hunger zu schützen. Kleider haben ist schon gut, baden auch nicht übel, besonders in großer Gesellschaft in der Pferdeschwemme. Wie oft hatte Pavel die Kleine hingetragen und sie im Wasser plätschern lassen mit Händen und Füßen! – Aber die Hauptsache bleibt doch – nicht hungern.

»Sag, daß du hungrig bist!« rief der Junge seiner Schwester ermahnend zu.

»Jetzt ist der Kerl noch da! Wirst dich trollen?« hallte das Echo, das seine Worte weckten, vom Schlosse herüber.

Der Bürgermeister, der schon um die Ecke des Gartenzauns biegen wollte, kehrte um, faßte Pavel am Kragen und zog ihn mit sich fort.

Drei Tage dauerten die Beratungen der Gemeindevorstände über Pavels Schicksal. Endlich kam ihnen ein guter Gedanke, den sie sich beeilten auszuführen. Eine Deputation begab sich ins Schloß und stellte an die Frau Baronin das untertänigste Ansuchen: weil sie schon so dobrotiva (allergütigst) gewesen, sich der Tochter des unglücklichen Holub anzunehmen, möge Sie sich nun auch des Sohnes desselben annehmen.

Der Bescheid, den die Väter des Dorfes erhielten, lautete hoffnungslos verneinend, und die Beratungen wurden wiederaufgenommen.

Was tun?

»Das in solchen Fällen Gewöhnliche«, meinte der Bürgermeister; »der Bub geht von Haus zu Haus und findet jeden Tag bei einem andern Bauern Verköstigung und Unterstand.«

Alle Bauern lehnten ab. Keiner wünschte, den Sprößling der Raubmörder zum Hausgenossen der eigenen Sprößlinge zu machen, wenn auch nur einen Tag lang in vier oder fünf Wochen.

Zuletzt wurde man darüber einig: Der Junge bleibt, wo er ist – wo ja sein eigener Vater ihn hingegeben hat: bei dem Spitzbuben, dem Gemeindehirten.

Freilich, wenn die Gemeinde sich den Luxus eines Gewissens gestatten dürfte, würde es gegen dieses Auskunftsmittel protestieren. Der Hirt (er führte den klassischen Namen Virgil) und sein Weib gehörten samt den Häuslern, bei denen sie wohnten, zu den Verrufensten des Ortes. Er war ein Trunkenbold, sie, katzenfalsch und bösartig, hatte wiederholt wegen Kurpfuscherei vor Gericht gestanden, ohne sich dadurch in der Ausübung ihres dunkeln Gewerbes beirren zu lassen.

Ein anderes Kind diesen Leuten zu überliefern wäre auch niemandem eingefallen; aber der Pavel, der sieht bei ihnen nichts Schlechtes, das er nicht schon zu Hause hundertmal gesehen hat.

So biß man denn in den sauren Apfel und bewilligte jährlich vier Metzen Korn zur Erhaltung Pavels. Der Hirt erhielt das Recht, ihn beim Austreiben und Hüten des Viehes zu verwenden, und versprach, darauf zu sehen, daß der Junge am Sonntag in die Kirche und im Winter sooft als möglich in die Schule komme.

Virgil bewohnte mit den Seinen ein Stübchen in der vorletzten Schaluppe am Ende des Dorfes. Es war eine Klafter lang und breit und hatte ein Fenster mit vier Scheiben, jede so groß wie ein halber Ziegelstein, das nie aufgemacht wurde, weil der morsche Rahmen dabei in Stücke gegangen wäre. Unter dem Fenster stand eine Bank, auf welcher der Hirt schlief, der Bank gegenüber eine mit Stroh gefüllte Bettlade, in der Frau und Tochter schliefen. Den Zugang zur Stube bildete ein schmaler Flur, in dessen Tiefe sich der Herd befand. Er hätte zugleich als Ofen dienen sollen, erfüllte aber nur selten eine von beiden Bestimmungen, weil die Gelegenheiten, Holz zu stehlen, sich immer mehr verminderten. So diente er denn als Aufbewahrungsort für die mageren Vorräte an Getreide und Brot, für Virgils nie gereinigte Stiefel, seine Peitsche, seinen Knüttel, für ein schmutzfarbenes Durcheinander von alten Flaschen, henkellosen Körben, Töpfen und Scherben, würdig des Pinsels eines Realisten.

Zwischen dem Gerümpel hatte Pavel eine Lagerstätte für Milada zurechtgemacht, auf der sie ruhte, zusammengerollt wie ein Kätzlein. Er streckte sich auf dem Boden dicht neben dem Herde aus, und wenn die Kleine im Laufe der Nacht erwachte, griff sie gleich mit den Händen nach ihm, zupfte ihn an den Haaren und fragte: »Bist da, Pavlicek?«

Er brummte sie an: »Bin da, schlaf du nur«, biß sie wohl auch zum Spaß in den Finger, und sie stieß zum Spaß einen Schrei aus, und Virgil wetterte aus der Stube herüber: »Still, ihr Raubgesindel, ihr Galgenvögel!«

Bebend schwieg Milada, und Pavel erhob sich unhörbar auf seine Knie, streichelte das Kind und flüsterte ihm leise zu, bis es wieder einschlief.

Als er zum ersten Male ohne die Schwester zur Ruhe gegangen war, hatte er gedacht: Heut wird’s gut, heut weckt er mich wenigstens nicht auf, der Balg. Am frühesten Morgen aber befand er sich schon auf der Dorfstraße und lief geraden Weges zum Schlosse. Das stand mitten im Garten, der von einem Drahtgitter umgeben war; ein dichtes, immergrünes Fichtengebüsch verwehrte ringsum den Einblick in dieses Heiligtum. Pavel pflanzte sich am Tore auf, das dem des Hauses gegenüberlag, preßte das Gesicht an die eisernen Stäbe und wartete. Sehr lange blieb alles still; plötzlich jedoch meinte Pavel, das Zuschlagen von Fenstern und Türen und verworrenes Geschrei zu hören, meinte auch die Stimme Miladas erkannt zu haben. Zugleich erbrauste ein heftiger Windstoß, schüttelte die toten Zweige von den Bäumen und trieb die dürren Blätter im rauschenden Tanze durch die Luft. Zwei Mägde kamen aus dem Dienertrakte zum Hause gelaufen; eine von ihnen wäre beinah über den alten Pfau gestolpert, der im Hofe auf und ab stelzte. Er sprang mit einem so komischen Satz zur Seite, daß Pavel laut auflachen mußte. Im Schlosse und in seiner Umgebung wurde es nun lebendig; es kamen auch Leute zum Gartentor; wer aber durch dasselbe ein-und ausging, sperrte es langsam hinter sich ab. Es war das eine Einführung, die ihrer Neuheit wegen manchem Vorübergehenden auffiel. Das Gartentor absperren bei hellichtem Tage; was soll denn das heißen? Wird sich schwerlich lange halten, die unbequeme Einrichtung.

Aber sie hielt sich doch zum allgemeinen und mißbilligenden Erstaunen der Dorfbewohner, und nach und nach erfuhr man auch ihren Grund.

Dem Pavel wurde er durch Vinska, des häßlichen Hirten hübsche Tochter, in folgender Weise mitgeteilt: »Du Lump du, deine Schwester ist just so ein Lump wie du! Die Petruschka aus der herrschaftlichen Küche sagt, daß die gnädige Frau es mit deiner Schwester treibt wie mit einem eigenen Kind, und deine Schwester will immer nur auf und davon. Darum wird das Schloß jetzt abgesperrt wie eine Geldtruhe. Wenn ich die gnädige Frau wäre, ich möcht solche Geschichten nicht machen; was ich tät, weiß ich… Deinen Vater hat man am Hals aufgehängt, deine Schwester würde ich an Händen und Füßen binden und an die Wand hängen.«

Dieses Bild schwebte dem Pavel den ganzen Tag vor Augen, und nachts verschwamm es ihm mit einem andern, dessen er sich aus der Kindheit besann.

Da hatte er gesehen, wie der Heger ein gefangenes blutjunges Reh aus dem Walde getragen hatte. Die Läufe waren ihm mit einem Strick zusammengeschnürt, und an denen hing es am Stock über des Hegers Rücken. Pavel erinnerte sich, wie es den schlanken Hals gebogen, die Ohren gespitzt und das Haupt emporzuheben gesucht; er erinnerte sich der Verzweiflung, die dem feinen Geschöpf aus den Augen geschaut hatte.

Im Traume kamen ihm diese Augen nun vor – aber wie Miladas Augen.

Einmal rief er laut: »Bist da?« richtete sich im Halbschlafe auf, wiederholte: »Bist da?« tastete suchend umher und erwachte darüber völlig. Mit der Schnelligkeit des Blitzes, mit der Gewalt des Sturmes kam das verwaisende Gefühl der Trennung über ihn und warf ihn nieder. Der harte Junge brach in Tränen, in ein leidenschaftliches Schluchzen aus, weckte die Leute in der Stube, weckte die Häusler, seine Wandnachbarn, mit seinem Geheul. Die ganze Gesellschaft kam herbei, bedrohte ihn, und da er taub blieb für jede, auch die nachdrücklichste Ermahnung, wurde er mit vereinten Kräften zur Tür hinausgeschleudert.

Das war eine tüchtige Abkühlung, selbst für den heißesten Schmerz. Pavel blieb eine Weile ganz ruhig und still auf der fest gefrornen Erde liegen. Die ihm völlig neue und gräßliche Empfindung einer ungeheuren Sehnsucht verminderte sich allmählich, und eine alte wohlbekannte trat an ihre Stelle: Trotz, kalter, wühlender Groll.

Wartet, dachte er, wartet, ich werde euch! …

Der Entschluß, ein Ende zu machen, war gleich da; der Plan zu dessen Ausführung reifte langsam in Pavels schwerfälligem Kopf. Nachdem aber die große Anstrengung, ihn auszudenken, überstanden war, erschien dem Burschen alles übrige nur noch wie Spielerei. Er wollte ins Schloß eindringen, die Schwester entführen, mit ihr über die Berge in die Fremde gehen, sich als Arbeiter verdingen und nie wieder den Vorwurf hören, daß er der Sohn seiner Eltern sei.

Mit dem Bewußtsein eines Siegers erhob Pavel sich vom Boden und ging in weitem Bogen hinter den Häusern des Dorfes dem Schloßgarten zu. Die Pfeife des Nachtwächters warnte freundlich vor den Wegen, die zu vermeiden waren. Auf den Feldern lag harter, hoher Schnee; die Erde schimmerte lichter als der Himmel, an dem die bleiche Mondessichel immer wieder hinter treibendem Gewölk verschwand. Pavel gelangte ans Gartengitter, überkletterte es und ließ sich von oben in die Fichten und dann von Zweig zu Zweig zu Boden fallen. Da befand er sich nun im Garten, wußte auch, in welcher Gegend desselben, in der dem Dorf entgegengesetzten, der besten, die er hätte wählen können, für jetzt sowohl wie später zur Flucht. Von steigender Zuversicht erfüllt, ging er vorwärts… immer geradeaus, und man muß zum Schlosse kommen. Was dann zu geschehen hätte, malte Pavel sich nicht deutlich aus; er ging, Milada zu befreien, das war ihm herrlich klar, und mochte alles übrige Zweifel und Ratlosigkeit sein, der Gedanke erleuchtete ihm die Seele, den hielt er fest. Daß er jämmerlich zu frieren begann in seinen elenden Kleidern, daß ihm die Glieder steif wurden, grämte ihn nicht; aber schlimm war’s, daß immer tiefere Finsternis einbrach und Pavel alle Augenblicke an einen Baum anrannte und hinfiel. Wenn er auch das erstemal gleich wieder auf die Beine sprang, beim zweiten Male schon kam die Versuchung: Bleib ein wenig liegen, raste, schlafe! Trotzdem aber erhob er sich mit starker Willenskraft, tappte weiter und gelangte endlich ans Ziel, das er sich vorgesetzt – ans Schloß. Hochauf schlug ihm das Herz, als er an die alte verwitterte Mauer griff. Weiß Gott, wie nahe er der Schwester ist; weiß Gott, ob sie nicht in dem Zimmer schläft, vor dessen Fenster er jetzt steht, das er zu erreichen vermag mit seinen Händen… Es könnte so gut sein – warum sollte es nicht? und leise, leise fängt er an zu pochen… Da vernimmt er dicht am Boden ein knurrendes Geräusch, auf kurzen Beinen kommt etwas herbeigekrochen, und ehe er sich’s versieht, hat es ihn angesprungen und sucht ihn an der Kehle zu packen. Pavel unterdrückt einen Schrei; er würgt den Köter aus allen seinen Kräften. Aber der Köter ist stärker als er und wohlgeübt in der Kunst, einen Feind zu stellen. Das Geheul, das er dabei ausstieß, tat seine Wirkung, es rief Leute herbei. Sie kamen schlaftrunken und ganz erschrocken; als sie aber sahen, daß sie es nur mit einem Kind zu tun hatten, wuchs ihnen sogleich der Mut. Pavel wurde umringt und überwältigt, obwohl er raste und sich zur Wehr setzte wie ein wildes Tier.

Kapitel 3


Kapitel 3

 

Was Pavel im Schlosse gewollt, erfuhr niemand; aber die Hartnäckigkeit, mit welcher er jede Auskunft verweigerte, bewies deutlich genug, daß er die schlechtesten Absichten gehabt haben mußte. Einbrechen wahrscheinlich oder Feuer anlegen, dem Kerl ist alles zuzutrauen. So sprach die öffentliche Meinung, und die mit Elternrechten ausgestattete Gemeinde beschloß Pavels exemplarische Züchtigung durch den Herrn Lehrer Habrecht in Gegenwart der sämtlichen Schuljugend.

Der Lehrer, ein kränklicher, nervöser Mann, verstand sich äußerst ungern zur Ausübung des ihm zugemuteten Strafgerichts. Seine Ansicht war, daß solche vor einem jugendlichen Publikum vorgenommene Exekution demjenigen, an dem sie vollzogen wird, selten nützt, und denen, die ihr zusehen, immer schadet. »Dieses Vieh wird durch den Anblick ein noch ärgeres Vieh«, äußerte er, viel zu derb für einen Pädagogen. Man hatte, wenn auch nicht ganz überzeugt, seine Einwendung oft gelten lassen, dieses Mal fruchtete sie nichts.

An dem Tage, der zur Bestrafung des nächtlichen Einschleichers bestimmt war, übernahm ihn denn der Lehrer seufzend aus den Händen der Schergen und führte ihn am Schopfe bis zur Tür der Schulstube. Hier blieb er stehen, hob den gesenkten Kopf des Knaben in die Höbe und sagte: »Schau mich an, was schaust denn immer auf den Boden, schlechter Bub!«

Nicht liebreich waren diese Worte! und doch, woran lag es denn, daß sie dem Pavel ordentlich wohltaten und daß sogar die Art, in welcher der Herr Lehrer ihn dabei an den Haaren zauste, etwas Vertraueneinflößendes hatte und wie eine Herzstärkung wirkte?

»Fürcht dich, du Bosnickel, du Trotznickel! Fürcht dich!« fuhr jener fort, machte schreckliche Augen und schwang mit äußerst bezeichnender Gebärde den dürren Arm in der Luft. Und Pavel, aus dem seit drei Tagen kein Wort herauszubringen gewesen, der seit drei Tagen keinem Menschen ins Gesicht geschaut hatte, richtete mit einem Male seinen scheuen Blick blinzelnd auf den Lehrer und sprach mit einem halben Lächeln: »Ich fürcht mich aber doch nicht.«

Aus der Schulstube hatte es früher herausgesummt wie aus einem Bienenkorbe, dann war das Summen in wüsten Lärm übergegangen, und jetzt wurde da drinnen gerauft um die besten Plätze zum bevorstehenden Schauspiel. Der Lehrer brummte unwillig vor sich hin und schüttelte Pavel von neuem: »Wenn du dich schon nicht fürchtest, so schrei, schrei, was du kannst, rat ich dir!« sagte er, öffnete die Tür und trat ein. Sogleich wurde es still in der Stube, nur einzelne unwillkürliche Ausrufe befriedigter Erwartung ließen sich hören; freundschaftlich rückte man aneinander in den Bänken; die rührendste Eintracht herrschte. Der Lehrer stellte Pavel neben das Katheder und sah sich nach der Rute um. Da er sie eine Weile nicht fand oder nicht zu finden schien, rief eine Stimme: »Dort im Fenster steht sie, im Winkel.« Die Stimme kam aus einer der letzten Reihen und gehörte dem Arnost, dem Sohne des Häuslers, bei dem Virgil zur Miete wohnte. Pavel ballte die Faust gegen ihn, was zu einem Gemurmel der Entrüstung Anlaß gab. Mehr als hundert Augen richteten sich schadenfroh und gehässig auf den braunen zerlumpten Jungen. In ihm kochte die Galle, und so klar er zu denken vermochte, so klar dachte er: Was hab ich euch getan? Warum seid ihr meine Feinde?

Habrecht gebot Stille und hielt eine Ansprache, in welcher er die Schuljugend auf eine merkwürdige Enttäuschung vorbereitete. »Ihr seid voll Vergnügen. Warum? wieso? Tun euch die Prügel wohl, die ein anderer kriegt? Paßt auf! Weh tun werden sie euch! Jeder von euch« – seine Stimme senkte sich zu einem geheimnisvollen Geflüster, und er streckte den Zeigefinger langsam gegen das Auditorium aus: »Jeder, der dasitzt und vor Schadenfreude aus der Haut fahren möcht, wird bald vor Schmerz aus der Haut fahren mögen. Jeder, der herglotzt und zuschaut, wie ich meine Schläge austeile, wird sie mitspüren… mitspüren!« wiederholte er seine unheimliche Prophezeiung, bei der ihm selbst zu gruseln schien. »Und jetzt gebt acht, was der Herr Lehrer kann!«

Alle Kinder schauderten vor dem Wunder, das sich an ihnen vollziehen sollte; nur noch von der Seite streiften zage Blicke den gefürchteten Mann, dessen Erscheinung in ihrer Länge und Magerkeit etwas Gespenstisches hatte. Die Buben stierten zu Boden, die Mädchen verdeckten die Augen mit den Schürzen.

Der Lehrer aber ging rasch ans Werk. Mit fabelhafter Geschwindigkeit wirbelte er die Fuchtel um den Kopf des Delinquenten und führte dann eine Anzahl Hiebe, die Pavel für die Einleitung zur eigentlichen Straße hielt. Statt diese jedoch folgen zu lassen, sprach der Lehrer plötzlich: »Herrgott, da fällt mir jetzt die Brille herunter… Heb sie auf… Für die Strafe bedanken kannst du dich nach der Stunde.«

Pavel starrte ihn mit stumpfsinnigem Staunen an; er wartete noch auf die richtige Wichse – da hörte er, daß er sie schon habe, und erhielt Befehl, sich zu setzen; – auf den letzten Platz in die letzte Bank.

Der Lehrer zog das Taschentuch, wischte sich den Schweiß von der Stirn, nahm umständlich eine Prise und begann den Unterricht.

Arnost, der so rot war wie ein Krebs, flüsterte seinem Nachbar zu: »Hast g’schaut?« – »Ein bissel«, antwortete der. »Spürst was?« – »Ich spür’s im Buckel.« – »Mich brennt’s am Ohr.« – Ein neugieriges kleines Ding von einem Mädchen, das zufällig mit einem Auge an einen Riß in der Schürze geraten war und ihn zum Auslugen benützt hatte, gestand einigen Gefährtinnen, daß es meine, auf lauter Erbsen zu sitzen.

Nach beendigter Lehrstunde wollte Pavel sich mit den anderen davonmachen; aber der Schulmeister hielt ihn zurück, betrachtete ihn lange mit stechenden Blicken und fragte ihn endlich, ob er sich schäme.

Pavel antwortete leise: »Nein.«

»Nein? wieso nein? Hast aller Scham den Kopf abgebissen?«

Der Bursche verfiel wieder in das hartnäckige Schweigen, das der Lehrer an dem armseligsten und seltensten Besucher seiner Schule kannte. Bisher hatte er ihn laufen lassen, heute jedoch, als er ihn strafen sollte für eine unbekannte Schuld, Mitleid mit ihm gefühlt. Um diese Regung tat’s ihm nun leid, und er fuhr giftig fort: »Aufgewachsen in Schande, ja wirklich schon aufgewachsen, bald vierzehn Jahre – an die Schande gewöhnt, weiß nicht einmal mehr, wie sie tut!«

Nun sprach Pavel: »Weiß schon«, und den Mund des Kindes verzerrte ein alternder Zug verbissener Bitterkeit. Er hatte nicht verstanden, was der Herr Lehrer früher gewollt mit seinen Schlägen, die beinahe nicht weh taten; daß er ihm jetzt den Jammer seines Lebens vorwarf, verstand er wohl.

»Weiß schon«, wiederholte er in einem Tone, durch dessen erzwungene Keckheit unbewußt der Schmerz einer tiefen Enttäuschung drang.

Der Lehrer betrachtete ihn aufmerksam – er war das verkörperte Elend, der Bub! – Nicht durch die Schuld der Natur. Sie hatte es gut mit ihm gemeint und ihn kräftig und gesund angelegt; das zeigte die breite Brust, das zeigten die roten Lippen, die starken, gelblich schimmernden Zähne. Aber die wohlwollenden Absichten der Natur waren zuschanden gemacht worden durch harte Arbeit, schlechte Nahrung, durch Verwahrlosung jeder Art. Wie der Junge dastand mit dem wilden braunen Haargestrüpp, das den stets gesenkten Kopf unverhältnismäßig groß erscheinen ließ, mit den eingefallenen Wangen, den vortretenden Backenknochen, die magere derbe Gestalt von einem mit Löchern besäten Rock aus grünem Sommerstoff umhangen, die Füße mit Fetzen umwickelt, bot er einen Anblick, abstoßend und furchtbar traurig zugleich, weil das Bewußtsein seines kläglichen Zustandes ihm nicht ganz verlorengegangen schien. Lange schwieg der Lehrer, und auch Pavel schwieg; aber immer verdrossener ließ er die Unterlippe hängen und begann verstohlen nach der Tür zu sehen, wie einer, der eine Gelegenheit zu entwischen wahrzunehmen sucht.

Da sprach der Lehrer endlich: »Sei nicht so dumm. – Wenn du aus der Schule draußen bist, sollst du denken: wie kann ich hinein, und nicht, wenn du drin bist: wie kann ich hinaus?«

Pavel stutzte; das war nun wieder ganz unerklärlich und stimmte mit der weitverbreiteten Meinung überein, der Schulmeister vermöge die Gedanken der Menschen zu erraten.

»Geh jetzt«, fuhr jener fort, »und komm morgen wieder und übermorgen auch, und wenn du acht Tage nacheinander kommst, kriegst du von mir ein Paar ordentliche Stiefel.«

Stiefel? – wie die Kinder der Bauern haben? ordentliche Stiefel mit hohen Schäften? Unaufhörlich während des Heimwegs sprach Pavel die Worte: »Ordentliche Stiefel« vor sich hin, sie klangen märchenhaft. Er vergaß darüber, daß er sich vorgenommen hatte, den Arnost zu prügeln, er stand am nächsten Morgen vor der Tür der Schule, bevor sie noch geöffnet war, und während der Stunde plagte er sich mit heißem Eifer und verachtete die Mühe, die das Lernen ihm machte. Er verachtete auch die drastischen Ermahnungen Virgils und seines Weibes, die ihn zwingen wollten, statt zum Vergnügen in die Schule zur Arbeit in die Fabrik zu gehen. Freilich mußte dies im geheimen geschehen; zu offenen Gewaltmaßregeln zu greifen, um den Buben im Winter vom Schulbesuch abzuhalten, wagten sie nicht; das hätte gar zu auffällig gegen die seinetwegen mit der Gemeinde getroffene Übereinkunft verstoßen.

Sieben Tage vergingen, und am Nachmittage des letzten kam Pavel nach Hause gerannt, in jeder Hand einen neuen Stiefel.

Vinska war allein, als er anlangte; sie beobachtete ihn, wie er das blanke Paar in den Winkel am Herd, sich selbst aber in einiger Entfernung davon aufstellte und in stille Bewunderung versank. Freude vermochten seine vergrämten lüge nicht auszudrücken, aber belebter als sonst erschienen sie, und es malte sich in ihnen ein plumpes Behagen.

Einmal trat er näher, hob einen der Stiefel in die Höhe, rieb ihn mit dem Ärmel, küßte ihn und stellte ihn wieder an seinen Platz.

Aus der Stube erscholl ein Gelächter, Vinska trat auf die Schwelle, lehnte sich mit der Schulter an den Türpfosten (eine Tür gab es zwischen der Stube und dem Eingange nicht) und fragte: »Wo hast die Stiefel gestohlen, du Spitzbub?«

Er sah sich nicht einmal nach ihr um, von antworten war gar keine Rede. Vinska jedoch wiederholte ihre Frage so oft, bis er sie anbellte: »Gestohlen! ja just gestohlen!«

»Du Esel«, murmelte sie, »siehst du? Jetzt sagst du’s selbst.«

Der Blick ihrer begehrlichen grauen Augen wanderte abwechselnd von den Stiefeln zu den eigenen nackten, hübsch geformten Füßen. Pavel hatte sich auf die Erde gekauert neben sein neues köstliches Eigentum; es war ihm, als müsse er es beschützen gegen eine nahende Gefahr, und er machte sich gefaßt, ihr zu begegnen. Vinska neigte den Kopf auf die Seite, lächelte den Burschen, der drohend zu ihr emporsah, plötzlich an und sprach mit einschmeichelnder Stimme: »Geh, sag mir, woher hast sie?«

Er wußte nicht, wie ihm geschah. In dem Ton hatte er die Vinska vor kurzem zum Peter sprechen hören, der ihr Liebhaber war. Heiße Wellen wogten auch in seiner Brust, er verschlang seine reizende Hausgenossin mit den Augen und meinte, was ihn da mit ungeheurer Macht angepackt hatte, sei die Lust, auf sie loszustürzen und sie durchzuprügeln.

Dabei rührte er sich nicht, öffnete nur ganz willenlos die Lippen und sprach: »Der Herr Lehrer hat sie mir gegeben.«

Vinska begann leise zu kichern. »O je – der! Wenn du sie von dem hast, dann hast du nichts.«

»Was – nichts?«

»Nun – nichts! Wenn du morgen aufwachst, sind die Stiefel weg.«

»Weg? … Warum nicht gar!«

»Ja, ja! was der Lehrer schenkt, hält sich nicht über Nacht. Du weißt ja, daß er ein Hexenmeister ist.«

Pavel geriet in Eifer: »Ich weiß, daß er kein Hexenmeister ist.«

Das Mädchen warf verächtlich die Lippe auf. »Du Dummrian! Er war drei Tage tot und im Sarge. War er nicht? Und weiß nicht jedes Kind, daß einer, der drei Tage tot gewesen ist, in die Vorhölle hineingeschaut und dem Teufel eine Menge abgelernt hat?«

Pavel starrte sie sprachlos an, ihm begann zu gruseln. Sie gähnte, drückte die Wange an die emporgezogene Schulter und sagte nach einem Weilchen so nachlässig, als ob sie eine ihr langweilig gewordene, hundertmal erzählte Geschichte wiederhole: »Der alten blinden Marska, die im vorigen Jahr bei uns gestorben ist, hat er auch ein Paar Schuhe geschenkt. Sie hat sie am Abend vors Bett gestellt, und wie sie am Morgen hineinfahren will, tritt sie statt in die Schuh auf eine Kröte, so groß wie eine Schüssel.«

Pavel schrie auf: »Das ist nicht wahr!« Heiß und kalt wurde ihm vor Zorn und Angst, und plötzlich schossen Tränen ihm in die Augen.

Vinska streifte ihn mit einem Blick voll Geringschätzung und kehrte in die Stube zurück.

An dem Abend suchte Pavel sich des Schlafes zu erwehren, er wollte seinen Schatz bewachen, er betete auch ein Vaterunser nach dem andern, um die bösen Geister zu bannen. Trotzdem sank er endlich doch in Schlummer, und als er am nächsten Morgen erwachte, hatte Vinskas Prophezeiung sich erfüllt – die Stiefel waren verschwunden.

Kapitel 4


Kapitel 4

 

Pavel verlor kein Wort über sein Unglück. Als Vinska ihn schelmisch lachend fragte, wo seine Stiefel wären, führte er einen so derben Schlag nach ihr, daß sie schreiend davonlief. Auch die Erkundigungen seiner Schulkameraden fertigte er mit Püffen ab; die ärgsten erhielt Arnost, der ihn dafür beim Lehrer verklagte. Damit war aber nichts getan, denn es gehörte zu den Eigentümlichkeiten des letzteren, daß er gleich stocktaub wurde, wenn einer seiner Zöglinge sich über den andern beschwerte. Eine Woche verfloß, Pavel erschien nicht mehr in der Schule; er ging aus freien Stücken in die Fabrik und arbeitete dort von früh bis abends. Mehrmals schickte der Lehrer nach ihm, und da es vergeblich blieb, begab er sich endlich in eigener Person nach der Wohnung Virgils, um den Buben abzuholen. Das Weib des Hirten empfing ihn und verblüffte ihn, bevor er noch den Mund auftun konnte, durch die lauten Ausbrüche ihres Jammers. Nach fünf Minuten war dem Lehrer, als ob er unter einer Traufe stände, aus der statt Regentropfen Schrotkörner auf ihn niederhagelten. Ihm wurde ganz wirr in seinem müden und schmerzenden Kopf.

Die Frau rief Gott und alle Heiligen zu Zeugen ihrer Leiden an. Nein, sie hatte nicht geahnt, was sie sich aufhalste, als sie dareingewilligt, das Kind des Gehenkten und der Zuchthäuslerin bei sich aufzunehmen. Viel war ihr im Leben schon begegnet, aber etwas so Schlechtes wie der Bub noch nie. Jedes Wort aus seinem Munde ist Trug und Verleumdung. Erzählt er nicht, daß seine Pflegeeltern ihn abhalten, in die Schule zu gehen, und daß sie den Wochenlohn einstecken, den er in der Fabrik verdient?

Von Entrüstung hingerissen, setzte sie hinzu, die bösen Augen weit geöffnet und bedeutungsvoll auf den Alten gerichtet: »Redet er nicht noch ganz anderen als uns armen Leuten, mit Respekt zu melden, grausige Dinge nach?«

Der Lehrer hatte sein Taschentuch gezogen und drückte es an den kahlen Scheitel. Er kannte die Gerüchte, die über ihn im Schwange waren, und es bildete den Zwiespalt in ihm, daß sie ihn manchmal verdrossen und daß er sich ein anderes Mal einen Spaß daraus machte, sie zu nähren. Heute war das erstere der Fall; er winkte abwehrend: »Still still! Halte Sie ihr Maul.«

»O Jesus Maria, ich!« rief das Weib, »ich red nicht! ich möcht mir lieber die Zunge abbeißen… Keinen Pfifferling sollten sich der Herr Lehrer mehr kümmern um den schlechten Buben, sag ich nur… Die schönen Stiefel! Nicht zwei Tage hat er sie gehabt.«

»So, wo sind sie?«

Die Virgilova (wie sie im Ort genannt wurde) ergoß sich in einem neuen Redeschwall: Wo die Stiefel geblieben seien, müsse der Herr Lehrer den Juden fragen, dem der Bub sie vermauschelt habe. Der Jud werde freilich nichts davon wissen wollen, zeterte sie, und Habrecht, völlig betäubt, hielt sich die Ohren zu und trat den Rückzug an. Nach einigen Schritten jedoch blieb er stehen, wandte sich und befahl der Frau, Pavel morgen ganz gewiß in die Schule zu schicken. Sie versprach, den Auftrag zu bestellen, und tat es, indem sie Pavel am Abend mitteilte, der Herr Lehrer sei dagewesen und ließe ihm sagen, nicht mehr unter die Augen solle er ihm kommen.

Die Ermahnung war überflüssig; Pavel wich ohnehin dem Schulmeister auf hundert Schritte aus. Der Vinska hingegen lief er nach und gehorchte ihr wie ein knurriger Hund, der, unzufrieden mit seinem Herrn, immer zum Aufruhr bereit ist und sich doch immer wieder unterwirft. Was sie wollte, geschah; er besorgte ihre Botengänge; er stahl für sie Holz aus dem Walde, Eier aus den Scheunen der Bauern; er geriet ganz und gar unter ihre Botmäßigkeit.

Indessen, was ihn auch beschäftigte, wohin er auch wanderte – eines vergaß er nicht; einen Umweg scheute er nie und niemals; Tag für Tag kam er ans Tor des Schloßgartens und spähte in den Hof hinein und starrte die Fenster des Hauses an. Anfangs mit sehnsüchtiger Hoffnung im Herzen, später, als ihm diese allmählich erloschen war, aus alter Gewohnheit.

Eines schönen Mainachmittags fand er, als er an seinen Beobachtungsposten trat, zu seiner höchsten Überraschung das Gartentor offen. Unter den Säulen der Einfahrt stand die Equipage der Frau Baronin, eine geschlossene Kalesche, mit dicken Fliegenschimmeln bespannt. Die Dienerschaft drängte sich grüßend und knixend um den Wagen, auf dem ein Koffer aufgebunden war. Nun flog der Schlag lärmend zu, der Lakai sprang zum Kutscher auf den Bock, der schwere Kasten schwankte auf den Schneckenfedern, das Gefährt setzte sich in Bewegung. In kurzem Trabe umkreiste es den Hof, bog ganz langsam um die Ecke am Torpfeiler und rollte der Straße zu. Pavel hatte einen Blick in das Innere des Wagens geworfen und war zurückgefahren wie geblendet. Er preßte das Gesicht an die Mauer; er schloß die Augen und sah dennoch wieder sah mit den geschlossenen klar und deutlich, was er eben mit seinen offenen Augen gesehen; – die Frau Baronin war nicht allein in ihrem wunderbaren Wagen; neben ihr saß ein kleines Fräulein, in schönen Kleidern, mit einem Hütchen auf dem Kopfe, und hatte wohlbekannte, hatte die lüge Miladas, aber so runde und rosige Wangen, wie seine Schwester nie gehabt.

Plötzlich richtete der Bursche sich empor und sprang in tollen Sätzen dem Wagen nach. Der hatte abermals eine Wendung gemacht und glitt mit eingelegtem Radschuh im Schritt der dicken Schimmel den Abhang des Schloßbergs hinab. Pavel lief quer über das grüne Feld, lief der Kalesche voraus und erwartete sie, am Wegrain aufgestellt, pochenden Herzens. Sie kam quietschend und rasselnd heran, und der Junge streckte sich, guckte und erblickte abermals die liebliche Erscheinung von vorhin. Und jetzt war auch er gesehen worden, ein Freudenjauchzen drang an sein Ohr, die Stimme Miladas rief: »Pavel, Pavel!« Mit solchem Ungestüm warf das kleine Mädchen sich ans Fenster, daß die Scheibe klirrte und in Stücke brach. Sogleich hielt die Karosse, und der Bediente schickte sich an, vom Bock zu steigen. Hastig befahl die Baronin: »Sitzenbleiben! Vorwärts, jagt den Buben fort!« Die Peitsche knallte um Pavels Kopf, und drinnen im Wagen erscholl lautes Jammergeschrei… Dazwischen ließ ernster, liebevoller Zuspruch sich vernehmen. Pavel sah, daß die alte Dame das Kind an sich gezogen hatte und daß es in ihren Armen weinte. Dieses Weinen ging ihm durch Mark und Bein; dieses Weinen mußte aufhören, dem mußte er ein Ende machen.

Da stieß er auf einmal einen Jauchzer aus, wie er dem Übermütigsten nicht besser gelungen wäre, und begann in gehöriger Entfernung von der Kutscherpeitsche bärenplump und emsig Räder und Purzelbäume zu schlagen. Wenn der Atem ihm auszugehen drohte, stand er still, lachte zu der Kleinen hinüber, machte Zeichen und schnitt Gesichter, bis sie endlich in ein fröhliches Gelächter ausbrach. Ach, wie hüpfte ihm das Herz im Leibe, als er einmal wieder ihr liebes Lachen vernahm!

Die Entfernung zwischen ihm und dem Wagen wuchs und wuchs.

Pavel lief und sprang nicht mehr; er schritt nur noch, und als er am großen Berge angelangt war, erklommen die Schimmel eben dessen steilen Gipfel. Mühsam keuchte er die Höhe hinan, und oben brach er zusammen, mit hämmernden Schläfen, einen rötlichen Schein vor den glühenden Augen. Zu seinen Füßen breitete die sonnenbeglänzte Ebene sich aus; an der Grenze derselben lag die Stadt; einzelne ihrer Häuser schimmerten schneeweiß herüber; die vergoldeten Spitzen der Kirchtürme glitzerten wie Sterne am blauen Tageshimmel. In der Richtung gegen die Stadt schlängelte sich die Straße durch die grünen Fluren, und auf der Straße glitt ein schwarzer Punkt dahin, und diesen Punkt verfolgte Pavel so inbrünstig mit den Blicken, als ob das Heil seiner Seele davon abhinge, daß er ihm nicht entschwinde. Als es geschah, als die Schatten der Auen den kleinen Punkt aufnahmen und ihn nicht mehr zum Vorschein kommen ließen, streckte sich Pavel flach auf die Erde und blieb so regungslos liegen wie ein Toter… Seine Schwester war ein Fräulein geworden und war fortgefahren in die Stadt. Wenn er jetzt ans Gartentor kam, mochte er nur vorübergehen; mit der Freude, nach der Kleinen auszulugen, war es nun nichts mehr. Herb und trostlos fiel der Gedanke an den Verlust seines einzigen Glückes dem Jungen auf die Seele. Gern hätte er geweint, aber er konnte nicht; er wäre auch gern gestorben, gleich hier auf dem Fleck. Er hatte oft seine Existenz verwünschen gehört, von seinem eigenen Vater wie von fremden Menschen, und nie ohne innerste Entrüstung dabei zu empfinden; jetzt sehnte er sich selbst nach dem Tod: und wenn es einmal so weit gekommen ist mit einem Menschen, kann auch das Ende nicht mehr ferne sein, meinte er. Und steht es einem nicht frei, es zu beschleunigen? Es gibt allerlei Mittel. Man hält zum Beispiel den Atem an, das ist keine Kunst; es handelt sich nur darum, daß es lange genug geschieht. Pavel unternimmt den Versuch mit verzweifelter Entschlossenheit, und wie er dabei den Kopf in die Erde wühlt, regt sich etwas in seiner Nähe, und er vernimmt ein leises Geräusch, wie es durch das Aufspreizen kleiner Flügel hervorgebracht wird. Er schaut…

Wenige Schritte von ihm sitzt ein Rebhuhn auf dem Neste und hält die Augen in unaussprechlicher Angst auf einen Feind gerichtet, der sich schräg durch die jungen Halme anschleicht. Unhörbar, bedrohlich, grau – eine Katze ist’s. Pavel sieht sie jetzt ganz nah dem Neste stehen; sie leckt den lippenlosen Mund, krümmt sich wie ein Bogen und schickt sich an zum Sprung auf ihre Beute. Ein Flügelschlag, und der Vogel wäre der Gefahr entrückt; aber er rührt sich nicht. Pavel hatte über der Besorgnis um das Dasein des kleinen Wesens alle seine Selbstmordgedanken vergessen; – So flieg, du dummes Tier! dachte er. Aber statt zu entfliehen, duckte sich das Rebhuhn, suchte sein Nest noch fester zu umschließen und verfolgte mit den dunklen Äuglein jede Bewegung der Angreiferin. Pavel hatte eine Scholle vom Boden gelöst, sprang plötzlich auf und schleuderte sie so wuchtig der Katze an den Kopf, daß sie sich um ihre eigene Achse drehte und geblendet und niesend davonsprang.

Der Bursche sah ihr nach; ihm war weh und wohl zumute. Er hatte einen großen Schmerz erfahren und eine gute Tat getan. Unmittelbar nachdem er sich elend, verlassen und reif zum Sterben gefühlt, dämmerte etwas wie das Bewußtsein einer Macht in ihm auf… einer anderen, einer höheren als derjenigen, die seine starken Arme und sein finsterer Trotz ihm oft verliehen. Was war das für eine Macht? Unklar tauchte diese Frage aus der lichtlosen Welt seiner Vorstellungen, und er verfiel in ein ihm bisher fremdes, mühevolles und doch süßes Nachsinnen.

Ein lauter Ruf: »Pavel, Pavel, komm her, Pavel!« weckte ihn.

Auf der Straße stand der Herr Lehrer, den einer seiner beliebten Nachmittagsspaziergänge bis hieher geführt hatte und der seit einiger Zeit den Jungen beobachtete. Er trug einen Knotenstock in der Hand und versteckte ihn rasch hinter seinem Rücken, als Pavel sich näherte.

»Du Unglücksbub, was treibst du?« fragte er. »Ich glaube, du nimmst Rebhühnernester aus?«

Pavel schwieg, wie er einem falschen Verdacht gegenüber immer pflegte, und der Schulmeister drohte ihm: »Ärgere mich nicht, antworte… Antworte, rat ich dir!«

Und als der Bursche in seiner Stummheit verharrte, hob der Lehrer plötzlich den Stock und führte einen Schlag nach Pavel, dem dieser nicht auswich und den er ohne Zucken hinnahm.

Im Herzen Habrechts regten sich sofort Mitleid und Reue.

»Pavel«, sagte er sanft und traurig, »um Gottes willen, ich hör nur Schlimmes von dir – du bist auf einem schlechten Weg; was soll aus dir werden?«

Diese Anrufung rührte den Buben nicht, im Gegenteil: eine tüchtige Dosis Geringschätzung mischte sich seinem Hasse gegen den alten Hexenmeister bei, der ihn betrogen hatte.

»Was soll aus dir werden?« wiederholte der Lehrer.

Pavel streckte sich, stemmte die Hände in die Seiten und sagte: »Ein Dieb.«

Bozena Kapitel 19

Den Befürchtungen der Arzte und den Hoffnungen Bozenas zum Trotz, erholte sich Frau Heißenstein; und ihr Sprößling, dem bei seinem Erscheinen die Möglichkeit abgesprochen wurde, die Nacht zu überdauern, blieb am Leben. Ja, er bekundete bei Überwindung der Fährlichkeiten, die jede Säuglingsexistenz bedrohen, eine Zähigkeit und Kraft, die alle Sachverständigen in Erstaunen setzte. Die Neugeborene erhielt in der Taufe den Namen Regula, und während ihre Mutter wochenlang hilflos und ohnmächtig danieder lag, und ihr Vater sich grollend von ihrer Wiege abwendete, fand sie ein Herz am Eingang ihres Lebensweges, das sich ihr hingab mit stürmischem Entzücken. Die kleine Rosa begrüßte in dem plötzlich erschienenen Schwesterchen ein Geschenk, das der gute Storch für sie, und ganz allein für sie gebracht hatte. Sie faßte Posto an der Seite des gelben, winzigen Geschöpfes, das jämmerlich kreischend in seinen Kissen lag, und so erbärmliche Gesichter schnitt, und die mageren Händchen so sonderbar ballte und ausstreckte.

«Es stirbt! es stirbt!» rief sie, wenn sich die kleinen alten Züge veränderten und verzerrten. Und wenn es die Augen aufschlug, sang sie ihm vor und bewunderte es, und wollte ihm beständig etwas zu essen geben.

Als Frau Heißenstein wieder auf die Beine kam, war es ihre erste Sorge, ihre Tochter in Schutz zu nehmen vor Rosas aufdringlicher und äußerungsbedürftiger Liebe. «Durch die wird ihr nichts Gutes» , meinte sie, und blieb immer darauf bedacht, die beiden Kinder voneinander fernzuhalten.

Stets hinweggewiesen und fortgedrängt, kam Rosa dennoch wieder. Das wilde, ungestüme Ding saß oft stundenlang an der Tür des Zimmers, in dem Regula zunahm an Häßlichkeit und Wohlbefinden vor Gott und den Menschen, still wartend, bis ihr endlich gestattet wurde, einzutreten. «Aber nur für einen Augenblick – du hörst? Und nur, um sie zu sehen – du verstehst? Zum Sehen sind uns die Augen gegeben, nicht die Hände. Keine Umarmung!» – Derlei ganz unnötige Kundgebungen waren Frau Nannetten besonders verhaßt.

Das gelbe Töchterchen hingegen wuchs unter dringenden Warnungen vor der Schwester heran: «Mache es nicht wie die! Danke Gott, daß du nicht bist wie die!» Das Entgegengesetzte von allem, was Rosa tat, das war das Rechte.

Der Glaube Nannettens an sich selbst konnte von jeher zu den starken Dingen gezählt werden, seitdem sie aber ein Kind geboren, kam sie sich so merkwürdig und wichtig vor, als ob sie die erste gewesen sei, der eine solche Tat überhaupt gelungen war. Früher gehörte zu ihren stehenden Redensarten auch der Satz: «Kinder in die Welt setzen ist leicht, sie erziehen ist schwer.» Jetzt geriet sie in Zweifel, welcher von beiden Wirksamkeiten die Palme zu reichen sei. Abwechselnd beugte sich die Gouvernante vor der Mutter, die ihr ein solches Erziehungsmaterial geliefert wie dieses Wunder: Regula, und die Mutter vor der Gouvernante, die es so glänzend auszunützen verstand. Schon in der Wiege hatte das Kind die ersten dunklen Begriffe von Schicklichkeit in sich aufgenommen. Mit drei Jahren gab es bereits Beweise von ernstem Wissensdrang. Einer Strafe bedurfte es nie, mit Lob und Bewunderung wurde es geführt; diese beständig hervorzurufen war sein unablässiges .Bemühen. Kein Kind war jemals so bestrebt, seinen eigenen Willen durchzusetzen, wie Regula einen mütterlichen Befehl zu erfüllen; keines haschte jemals so gierig nach guten Bissen, wie sie nach guten Lehren, und die Resultate derselben blühten als ausgesucht feine Manieren, überraschend höfliche Redewendungen aus ihrem wohlgeschulten Benehmen hervor.

Im fünften Jahre trug sie schon einen Schnürleib, und sagte mit echtem Pariser Akzente: «Oui monsieur» und «non madame». Mit dem Widerspiel ihrer eigenen Vollkommenheit, der unartigen Rosa, wollte sie natürlich nichts zu tun haben, und diese gab es endlich auf, sich um ihre Liebe zu bewerben; sie kehrte wieder zu ihrer schönen Bozena zurück, die sie mit offenen Armen aufnahm.

So war das Gleichgewicht von neuem hergestellt, und die beiden Parteien standen einander im offenen und verdeckten Kampfe gegenüber. Einen scheinbaren Mittelpunkt bildete der Hausvater. Nur einen scheinbaren; in der Tat vereinsamte er immer mehr, die ganze «Weiberwirtschaft» war ihm im Grunde gleichgültig. Empfand er überhaupt eine sympathische Regung für eines seiner Kinder, so war es für die stille Regula. Wenn ihm ein oder das andere Mal das Lob, das ihre Mutter ihrer Musterhaftigkeit spendete, gar zu übertrieben schien, so sagte er nur: «Brav – zu brav! Was nicht gegoren hat, ist, solange die Welt steht, noch nicht Wein geworden.» Worauf Frau Nannette die Ellbogen fest an die Rippen drückte, sich steif aufrichtete und dem Blicke des immer noch gefürchteten Mannes ausweichend, erwiderte, sie sei bisher des Glaubens gewesen, «des Rebensaftes Klärung» vollziehe sich nach andern Gesetzen als diejenigen, welche der Erziehung einer jungen Dame vorstünden.

Herr Heißenstein war sehr alt geworden seit seiner letzten Enttäuschung, und Regula wurde die Vermittlerin des Einflusses, den Nannette allmählich auf ihren Gatten zu üben begann. Einen gewissen Grad von Bewunderung vermochte er seinem wohlerzogenen Kind nicht zu versagen. Sie verneigte sich so ehrerbietig vor ihm, brachte ihm fortwährend stumme Ovationen dar; ihre Haare waren immer so glatt gekämmt, ihre Kleider immer so nett; sie saß und stand immer so gerade, fiel niemals einem andern ins Wort, widersprach nie. Und dann – ihre Kenntnisse! Ihr Wissen! Die Gelehrsamkeit seiner Frau hatte Herrn Leopolds Eitelkeit oft verletzt, die Gelehrsamkeit seiner Tochter schmeichelte ihm. Es war doch hübsch, wenn sie sich an seinem Geburtstage vor ihn hinpflanzte, als Esther gekleidet; eine Verbeugung machte, so tief, daß man im Zweifel sein konnte, ob sie sich auf den Estrich niederlassen oder wieder aufrichten werde, und dann begann.

«Peut-être on t’a conté la fameuse disgrâce
De l’altière Vasthi dont j’occupe la place…»

Oder wenn sie als Schwester der Pallantiden erschien, und ohne auch nur einen Augenblick zu stocken, die famose Tirade deklamierte:

«Que mon coeur, chère Ismène, écoute avidement
Un discours qui peut-être a peu de fondement…»

– Und so weiter!

Mußte Herr Heißenstein da nicht sagen: «Bravo, meine Regel! Bravo!» Und mußte sein Blick sich nicht fragend und mißbilligend auf die große Tochter richten, die von der Sprache, in der die Kleine sich so geläufig ausdrückte, nicht mehr verstand als eine Kuh vom Spanischen, das heißt soviel wie ihr eigener Vater? Mußte da nicht Frau Nannettens heuchlerisch bekümmertes: «An der erlebst du keine Freude» Eindruck auf ihn machen?

Freilich bewahrte Rosa ihre Unabhängigkeit, aber dies geschah auf Kosten der Familiengemeinschaft und der Zusammengehörigkeit. Sie war gleichsam außerhalb des Gesetzes erklärt, und man ließ ihr diejenige Nachsicht zuteil werden, welche aus dem Verzweifeln an einem Menschen entspringt. Und Rosa, die bisher lachend getrotzt und die indirekten Ermahnungen der Stiefmutter, die heftigen Rügen des Vaters mit einem Scherzworte erwidert hatte, begann nachdenklich zu werden. Ihre Heiterkeit verschwand, ihr froher Gesang erscholl nicht mehr in den Gängen des düsteren alten Hauses, man sah die liebliche Gestalt des Fräuleins Augentrost, wie der Kommis sie nannte, nicht mehr treppauf treppab hüpfen zur Wette mit Hündchen und Kätzlein. Sie saß eingeschlossen in ihrer Stube, pflegte die Blumen und Vögel, die sonst ohne Bozenas Beihilfe verdurstet und verhungert wären, oder las Romane aus der Leihbibliothek des Städtchens, in der sie sich im geheimen abonniert hatte.

Und gerade damals, wo sie einer Stütze am bedürftigsten gewesen wäre, wurde ihr von ihrer einzigen Beschützerin keine geboten.

Die schöne Bozena war um diese Zeit, in der ihr Herzensliebling in die Mädchenjahre, sie selbst aber in die Jahre der reiferen Weiblichkeit trat, eine lahmgelegte Kraft. Sie verbrauchte all ihre Seelenstärke für sich, konnte an andre nichts davon abgeben. Mit gewohnter Pünklichkeit verrichtete sie zwar ihren Dienst, sie hatte ihn ja im kleinen Finger, aber das Herz war nicht mehr dabei. Ihr Feuereifer brannte hell wie je, aber als eine stille Flamme, nicht mehr Funken sprühend nach allen Richtungen. Man sah sie jetzt nach beendeter Arbeit müßig dasitzen, die Hände im Schoß. Plötzlich angerufen, fuhr sie auf, wie aus einem Traume. Das seltsamste war, daß sie begann ihrer äußeren Erscheinung mehr Aufmerksamkeit zu widmen und sogar Freude am Putz zu finden. Die haushälterische Bozena verwendete so manchen Gulden für Schmuck und Tand. Ihr lebhaftes Interesse für die Ereignisse in Haus und Stadt war erloschen. Etwas Großes ging vor in ihrem Innern, und auf die ganz erfüllte Seele besaßen von außen kommende Eindrücke keine Macht.

Worin die Ursache der merkwürdigen Umwandlung in Bozenas Wesen zu suchen war, das ahnte nur ein Mensch: Mansuet Weberlein, der Kommis. Ein stummes Verständnis, das allezeit tiefer ist als eines, das Worte braucht, um sich zu offenbaren, herrschte zwischen den beiden. Bozena wußte dem Alten Dank für sein einsichtsvolles Begreifen und für sein rücksichtsvolles Schweigen; die Gesellschaft des einzigen, der sie durchblickte, tat ihr wohl und wurde von ihr aufgesucht. Dem Alten hingegen war Bozena viel lieber, als sie und er selbst es ahnte.

Die Woche hindurch war Herr Mansuet außerhalb seines Glasverschlages in den ebenerdigen Geschäftslokalitäten nicht zu erblicken, aber «am Namenstage der Faulenzer», wie er den Sonntag nannte, gönnte auch er sich eine kleine Erholung. Da kam er gegen Abend staubig, wie eine Ofenfigur, aus seiner Höhle hervorgekrochen und nahm Platz in einer der Mauernischen des Torweges, die wohl ursprünglich zur Aufnahme einer Statue oder einer Blumenvase bestimmt sein mochte. Er zündete seine Pfeife an und meinte nun, er schmauche im Freien. Regelmäßig stellte sich Bozena bei ihm ein, er nickte ihr zu und sagte: «Muß mir ein bißchen die Bummler ansehen.» – «Muß Ihnen ein bißchen helfen», erwiderte sie. In Wahrheit aber machten sich beide aus den Bummlern nichts.

Gewöhnlich erschien Bozena in ihren Hauskleidern, die Festgewänder legte sie nach dem Kirchenbesuch ab, und sich nach beendetem Tagewerk noch einmal in Staat zu werfen, war ihr nicht der Mühe wert. Auch in ihrer Einfachheit gefiel sie ihren zahlreichen Anbetern nur zu wohl und hatte ohnedies genug zu tun, die Zudringlichen in respektvoller Entfernung zu halten.

Herr Weberlein war nicht wenig erstaunt, als sich Bozena eines Sonntags prächtig angetan zum Nachmittagsgeplauder einfand. Sie kam langsam, in Gedanken versunken die Treppe herab. Ihre rechte Hand glitt das Geländer entlang, den Rücken der linken hielt sie fest an den Mund gedrückt. Das runde Häubchen mit den flatternden Bändern saß wundergut auf dem reichen Haar mit seinem schwarzblauen Glanze. Eine Korallenschnur umfaßte den kräftigen und geschmeidigen Hals, über die Brust war ein schneeweißes Tuch gekreuzt. Kurze, bauschige Ärmel ließen die wohlgeformten Arme frei. Ein Rock von broschiertem, dunkelgrünem Damast fiel in schweren Falten bis zu den Knöcheln nieder, eine seidene Schürze, bunt gestickte Strümpfe und glänzende Schnallenschuhe vervollständigten den halb städtischen, halb ländlichen, nagelneuen Anzug.

Der Tausend! Sie war schön und majestätisch anzusehen in dieser Pracht, die mächtige Gestalt. Weberlein betrachtete sie vergnügt, kauerte sich tiefer in seine Nische und murmelte: «Sauber! Sauber!»

Bozena stand nun vor ihm und grüßte mit einem Anfluge von Verlegenheit. «Sapperlot» , sprach der Alte, «das ist ja schön von Ihnen, daß Sie sich auch einmal mir zu Ehren in Parade versetzt haben.»

«Ihnen zu Ehren doch nicht» , antwortete sie.

Er schlug ein Schnippchen, als wollt er sagen: Sie haben gut leugnen, ich weiß, was ich weiß. Bozenas Gesicht bedeckte sich mit hoher Röte, und sie sprach leise, aber resolut: «Es ist heut Tanz beim ‹Grünen Baum›, da geh ich hin.»

Der Blick, den Weberlein jetzt auf sie warf, bewies, daß es möglich sei, zugleich Mitleid und Verachtung auszudrücken. Sein unproportioniert großes Kinn bewegte sich ein paarmal hin und her in der hohen, halbmilitärischen Krawatte, in der es endlich zur Hälfte verschwand, und er rief: «Sie sind, scheint mir – närrisch!»

Bozena erwiderte nichts. Sie hatte die Arme gekreuzt, lehnte sich an die Wand und blickte stumm und trotzig vor sich nieder.

Auf dem Platze wurde es immer lebendiger. Dem heißen Sommertage war ein erquickender Abend gefolgt; ihn zu genießen strömte die schöne Welt der Stadt der Promenade zu. Unter denen, die am Hause vorüberkamen, dünkten sich nur wenige zu vornehm, um dem Vertrauensmanne Herrn Heißensteins einen Gruß zuzurufen; so mancher blieb stehen und wechselte mit ihm einige Worte. Auch Bekannte Bozenas kamen – stille Verehrer, die es nicht auszusprechen wagten, wie begehrenswert ihnen die rüstige Jungfrau mit ihrem Fleiß und Geschick und mit ihren, wie man wußte, ansehnlichen Sparpfennigen erschien; kühne Bewerber, die sie heimzuführen hofften, wenn nicht gleich, so doch sicherlich dann, wenn einmal Fräulein Rosa wegheiraten würde aus dem väterlichen Hause. Auch einige hübsche Mädchen, bestens geschmückt zum heutigen Tanze, fanden sich ein und vergrößerten den Halbkreis, der sich um Bozena gebildet hatte, wie um eine Audienz erteilende Königin.

So war schon eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft im Torwege versammelt. Und jetzt trat aus dem gegenüberliegenden, vom Kreishauptmann Grafen Kühnwald bewohnten Hause ein junger Mann, auf den sich sofort die allgemeine Aufmerksamkeit richtete. Die Mädchen stießen einander an und kicherten, die Männer zuckten die Achseln; ein Schreiberlein in einem schäbigen Rock, den nur der Umstand zum Sonntagsrocke stempelte, daß er einst schwarz gewesen war, sagte mit einem Ausdruck von schlecht verhehltem Neide: «Da kommt Bernhard der Pfau!»

«Dann wird auch die ‹Gräfin› nicht weit sein», ließ eine Mädchenstimme sich vernehmen.

Und wirklich, die sogenannte Gräfin schritt eben über den Platz. Sie war eine stattliche Bauerntochter, die reichste und umworbenste aus dem nahen Dorfe, das gleichsam die Vorstadt Weinbergs bildete. Begleitet von ihrer Sippe begab sie sich zum Tanze. Der junge Mann näherte sich ihr und schien eine Frage an sie zu stellen. Die Dorfgräfin nickte gnädig und setzte ihren Weg fort, indessen er auf das Haus Heißenstein zuschritt.

Ein schlanker Bursche war’s, in der kleidsamen Montur eines herrschaftlichen Büchsenspanners, im dunkelgrünen Rock mit Aufschlägen von Samt, silbernen Wappenknöpfen und Achselschnüren, ein schmuckes Mützchen auf den braunen, dichten, kurzgehaltenen Locken. Seine Haltung war vornehm und frei, das Gesicht fein geschnitten; Siegesgewißheit in jeder Miene und Bewegung, kam der Bursche heran und kindische Freude an sich selbst leuchtete ihm aus den Augen. Er grüßte die Gesellschaft mit der herablassenden Freundlichkeit eines gutsituierten Mannes gegen geringe Leute. Dem Kommis gegenüber äußerte er einigen Respekt, die übrigen neckte er, wußte aber auch jedem etwas Angenehmes zu sagen und jeden in das Gespräch zu ziehen. Nur eine Person in dem Kreise sah er nicht, bemerkte er nicht – die ansehnlichste und auffallendste von allen: Bozena.

Und die war plötzlich verstummt. Sie hatte den Kopf an die Wand zurückgelehnt und die Augen halb geschlossen. Von ihren Schläfen herab, die Wangen entlang zog sich ein weißer Streifen – das Erbleichen sehr rot gefärbter Menschen. Verstohlen warf der Jäger manchmal einen Blick nach ihr hin, und je gequälter ihm der Ausdruck ihres Gesichtes erschien, desto lustiger wurde er, desto übermütiger seine Laune. Mansuet Weberlein kämpfte mit einem nervösen Zucken im Arme, verdrehte die Beine so, daß seine einwärts gebogenen Fußspitzen einander auf dem vorspringenden Mauersockel begegneten, und schoß gegen Bernhard den Pfau eine bissige Bemerkung nach der andern ab. Endlich rief er giftig: «Schad‘ um Sie! Indessen Sie uns hier Späße vormachen, tanzt Ihnen ein Tölpelpeter oder ein Lümmelhans Ihre Gräfin weg!»

Der Jäger wollte antworten, aber ein stämmiger Bursche kam ihm zuvor: «Seine Gräfin?» spöttelte er – «dem Büchsenspanner seine? … Warum nicht gar?»

Ein hochmütiges Lächeln kräuselte Bernhards Lippen. «Oho, du Gescheiter, nicht mehr lange Büchsenspanner. Im Herbst gibt mir mein Graf ein Revier», sprach er.

«Die Bäuerin schiert sich was um dein Revier», entgegnete der Bursche; und zu einem der Mädchen gewendet, fügte er rasch hinzu: «Wollen wir sie fragen, Toni?» – Und Toni antwortete eiligst «Ja», und dem sich entfernenden Pärchen folgten andere Tanzlustige nach, und bald war die ganze Versammlung auseinander gestoben. Auch der Jäger empfahl sich jetzt auf das höflichste bei Weberlein, nach einigen Schritten aber blieb er, als besänne er sich plötzlich, stehen, wandte sich gegen Bozena und fragte wie jemand, der innerlich widerstrebend eine Pflicht der Artigkeit erfüllt: «Kommen Sie nicht auch?» Dann eilte er den übrigen nach mit großen Schritten und schlecht verhehlter Besorgnis, daß sie sich ihm vielleicht anschließen könnte.

«Prosit!» zischelte der Kommis zwischen den Zähnen, «sonst haben Sie keine Schmerzen?»

Aber wie ward ihm, als Bozena nun vor ihm stand, und mit gepreßtem Tone und niedergeschlagenen Augen sagte: «Alsdann Adje, Herr Weberlein.»

Nein! das kann nicht sein … Das ist ja die bare Unmöglichkeit! – In Scharen waren sie oft gekommen, die allerbesten Tänzer der Stadt und des Dorfes und hatten gesagt: «Erweisen Sie mir die Ehre» und «Machen Sie mir die Freude» … Und sie hatte geantwortet: «Ich geh zu keinem Tanz.» Und jetzt warf ihr ein Laffe, ein Geck von oben herab eine Aufforderung hin, so leer, so gar nichtssagend als höchstens: Ein ganzer Bengel will ich doch nicht sein; und sie lachte ihm nicht ins Gesicht, sie schwieg – sie folgte ihm, dem Laffen, dem Gecken, demütig wie ein Hund seinem Herrn?! Donner und Wetter! Wenn der liebe Gott vom Himmel gestiegen wäre und es dem Kommis Weberlein erzählt hätte, dieser würde geantwortet haben: «Verzeih mir’s – Gott! Aber das kann ich nicht glauben.» … Und nun sah er’s, nun mußte er es sehen mit seinen eigenen Augen und konnte seine eigenen Finger legen in die Wunden, die dem Stolze Bozenas geschlagen worden. Er blickte völlig verstört zu ihr empor und brachte nur ein Wort heraus, nur das einzige Wort: «Was?»

Sie schien ein Weilchen zu zögern, dann sprach sie mühsam und mit trockenen Lippen: «Ich muß wissen, wie es steht mit ihm und der Eva», und wandte sich, und von weitem, in wohlberechneter Entfernung, folgte sie dem Jäger.

Herr Weberlein nahm eine boshafte und wegwerfende Miene an, mit abscheulich menschenfeindlichen Blicken stierte er auf den Platz hinaus und kehrte ihm und dem Treiben da draußen endlich ganz und gar den Rücken. Wie ein Alräunchen hockte er in seiner Nische und zog in kurzen, raschen Zügen den Rauch aus seiner Pfeife. Er schmauchte nicht mehr, er tobakelte und umgab sich mit kleinen dichten Wolken, die ihn dräuend und unheilverkündend, als Zeichen seiner großen inneren Erregtheit, umflogen.

Bozena Kapitel 20

Beim «Grünen Baum» hatte die Unterhaltung schon begonnen, aber noch war wenig Wein getrunken worden, noch gab es keine ausgelassene Lustigkeit, noch hatte kein Streit stattgefunden. Die Paare drehten sich langsam und mit bewunderungswürdiger Ausdauer. Von Zeit zu Zeit ertönte ein lauter Jubelruf, ein Bursche klatschte in die Hände, hob seine Tänzerin hoch empor, ließ sie dann sich ein Weilchen allein neben ihm herschwenken, umfaßte sie von neuem und ruhig tanzten sie weiter mit denselben schläfrigen Gesichtern, mit denen sie ihre Fronarbeit verrichteten.

Bernhard trat oft in die Mitte der Stube, sah mit Wohlgefallen, wie viele Mädchenaugen sich erwartungsvoll auf ihn richteten, winkte jedoch keine der Anwesenden nach Bauernsitte zu sich herbei. Eva war für diesen Walzer versagt und mit einer Geringeren trat er nicht in den Reigen.

Bozena stand, alle Frauen und die meisten Männer, die sie umgaben, überragend, finster und grollend in einer Ecke und wies alle Aufforderungen, sich an dem Tanze zu beteiligen, kurz ab. Sie sei nur gekommen, ein wenig zuzusehen, müsse gleich wieder heim. Die Musik schwieg, ein Tanz war zu Ende, nach kurzer Pause wurde wieder aufgespielt, und jetzt hatte Bernhard die «Gräfin» erfaßt und wirbelte mit ihr durch die Stube. Nicht langsam und mattherzig, wie ihr früherer Partner, frisch, mit fröhlicher Anmut und Leichtigkeit schwenkte er sie im Takte. Wie zwei Vögel schwebten sie, flogen sie, als ob die Lüfte sie trügen, jetzt im engen Kreise wie die Lerchen, jetzt wie die Schwalben – dahingleitend in weitem Bogen. Er flüsterte ihr etwas zu und die kokette Dorfschöne blinzelte ihn herausfordernd an; fester drückte er sie an sich, warf den Kopf zurück und schien zu fragen: wer widerstände mir? Sie, nicht minder selbstbewußt, aber weniger naiv, schlug die Augen nieder und schien zu antworten: Ich – vielleicht!

Bozena verwandte von den beiden keinen Blick, ihr Herz klopfte zum Zerspringen, schmerzliche Eifersucht zerschnitt ihr die Brust. Oh, jung sein und begehrenswert wie jene dort! Im Angesichte aller mit Stolz von ihm umfangen werden wie sie, nur einmal, nur einen einzigen seligen Augenblick! Tu ein Wunder, Gott, der du alles kannst! Befriedige diese dürstende Sehnsucht, erlöse diese arme, ringende Seele, lasse sie einmal unschuldig sein ohne Reue und Scham!…

Zu so unerfüllbaren Wünschen hatte Bozena sich verstiegen, als eine Stimme sie anrief: «Grüß Gott!» Evas Vater, ein alter schöner Mann, war zu ihr getreten, er deutete mit dem Mundstück seiner Pfeife auf seine Tochter und fuhr fort: «Das tanzt! Das tanzt!» Wohlgefällig betrachtete er sein Kind und sah dann wieder die Angeredete an, als wollte er sie zur Bewunderung auffordern. Schon drängte sich ein hartes Wort auf Bozenas Lippen, aber sie sprach es nicht aus, vielmehr sprach sie, den Greis forschend ins Auge fassend: «Ein schönes Paar!» Der Bauer verzog den Mund: «Paar?» wiederholte er «Paar? die zwei? – Je nun, auf dem Tanzboden – ja.» Und Bozena atmete auf. Derselbe Ausdruck des engherzigen Hochmuts, der in den welken Zügen des Alten wie versteinert lag – das blühende Gesicht seiner Eva trug ihn auch. Die wird ihr nicht im Ernste eine Nebenbuhlerin, der ist der Jäger trotz aller seiner Vorzüge zu gering! – Bozena verließ die Wirtsstube, sie schritt über den Hof einem kleinen Obstgarten zu, von dem aus der Fußsteig, der bis an die Stadtmauer führte, leicht zu erreichen war. Auf eine Bank unter einem Apfelbaum ließ sie sich nieder und versank in ihre düsteren Gedanken. Eine kurze Zeit nur, und lebhafte, eilende Schritte näherten sich. Sie blickte nicht zurück, sie wußte, er ist es, er sucht sie auf. Im nächsten Augenblick war er bei ihr, setzte sich neben sie auf die Bank und sprach schmeichelnd: «Bozena! Läßt sich die Böse endlich finden?»

Sie antwortet ihm nicht. Er suchte, jedoch vergeblich, ihre Hand zu fassen. «Was hast du wieder? So sag doch ein Wort! – Was ist dir?» sagte Bernhard mit dem leicht erregten Unwillen verwöhnter Menschen.

Nun fuhr sie auf: «Er fragt! Er fragt noch! … Wie? Jetzt kann er kommen, weil ich allein bin! Vor den Leuten kennt er mich nicht! … Weißt du was? Wie du mit mir spielst, so spielt die Eva mit dir!»

Das hatte sie nicht sagen wollen, nicht gleich, nicht so, aber der Ingrimm, der in ihr kochte, sprudelte die Worte heraus. Keuchend lehnte sie sich zurück an den Stamm des Baumes, biß die Zähne übereinander und kreuzte die Arme über der gequälten Brust.

Bernhard lachte gezwungen.

«Mit mir spielt niemand», entgegnete er. «Die Eva weiß recht gut, daß mir’s nicht im Ernst zu tun ist um sie. – Und du solltest wissen, daß ich dich lieb habe!» rief er mit plötzlich ausbrechender Zärtlichkeit und wollte sie umfassen.

Sie stieß ihn zurück und sprach, an allen Gliedern bebend: «Seit einem Jahr vergällt er mir mein Leben. Küßt mich im geheimen und verleugnet mich vor den Leuten … Fort von mir!» herrschte sie, als er statt aller Antwort die Zürnende an sein Herz zu ziehen strebte: «Es muß sein – hörst du? – ich verstelle und verstecke mich nicht mehr. Laß mich in Frieden, wenn du dich meiner schämst!»

Bozena stemmte die Hand gegen seine Brust und hielt ihn von sich mit ausgestrecktem Arme. Und mit diesem stählernen Arme, das wußte Bernhard wohl, hätte er vergeblich gerungen. So senkte er den Kopf auf ihn nieder, lehnte seine Wange daran und sprach: «Ich mag das Gerede der Klatschmäuler nicht – es könnte meinem Grafen zugetragen werden. Und der, du weißt ja, meint, am besten wär’s für mich, wenn ich die Kammerjungfer der Frau Gräfin nähme. Aber ich mag sie nicht!» rief er, sich aufrichtend. «Sie ist mir zuwider – ich hab nur eine gern … Laß mich nur einmal Förster sein, – und die ganze Welt soll schon sehen – wen?!» Es war ein Klang von warmer, überzeugender Empfindung in seinen Worten. Er hatte sie lieb, die Bozena, gewiß; er war stolz auf den uneingeschränkten Besitz dieses bisher unbesiegten Herzens. Er freute sich der Gewalt, die ihm über die Gewaltige gegeben war. Sein unsicheres Wesen wurde von ihrem starken, sein schwankender Wille von ihrem festen mächtig angezogen. Im Bewußtsein ihrer unbegrenzten Liebe ruhte er wie in einer goldenen Wolke, er fühlte sich durch ihre Hingebung gehoben und verklärt. Schützend umhüllte sie ihn, ohne ihn je gedemütigt zu haben, denn immer war sie bereit, sich ihm zu unterwerfen, und alle Lust und alles Weh kam ihr von ihm. Ein Wort, und die Unbezwingliche lag zu seinen Füßen, die größere Seele beugte sich vor seiner Kleinheit, denn kraft ihrer Liebe war er ihr Herr.

Bozena hatte den Arm sinken lassen, der Jäger schlang den seinen um ihren Hals und preßte seine Lippen auf die ihren. Ihr Zorn zerschmolz unter seinen Küssen. Heiße Tränen traten ihr ins Auge und sie sprach wehmütig: «Ich werde niemals deine Frau! Du wirst dich niemals zu mir bekennen. Schweig!» fiel sie ihm ins Wort, da er widersprechen wollte. «Dazu hast du nie den Mut! … Ich bin nur eine arme Magd, und du willst höher hinaus – wir sind nicht füreinander …»

«Ich will dich», beteuerte Bernhard mit Ungestüm, «keine andere, weil sich keine mit dir vergleichen kann. Meinst du, ich bin blind und seh das nicht? … Hab Geduld! … Wirf mir nichts vor … Wir kommen doch zusammen, aber jetzt will ich nichts wissen, nichts hören, nichts fragen als nur: hast mich lieb?»

Bozena legte die gerungenen Hände in ihren Schoß und seufzte schmerzlich auf: «Fragst nicht auch, ob Gott im Himmel lebt? … O Jesus, ob ich ihn lieb habe? Ich wollt, ich könnte sagen, nein, oder ich wollt, ich könnte sagen, warum?»

Trotzig richtete sie sich auf und sprach, als trachte sie sich selbst zu beruhigen über die Natur ihrer Liebe: «In dein hübsches Gesicht habe ich mich nicht vergafft!»

Der Jäger lachte und küßte sie, und Bozena erduldete seine Liebkosungen, aber sie erwiderte sie nicht.

«So bist du heute», grollte sie, «und morgen ist alles wieder wie früher, und morgen trittst du mir wieder aufs Herz. O könnt ich frei sein! … Könnt ich mich losmachen von dir!»

Er erschrak über die Verzweiflung, die aus ihrer Stimme klang; zum erstenmale tauchte die Möglichkeit, sie zu verlieren, vor ihm auf und erfüllte ihn mit tiefster Besorgnis, mit bitterstem Weh: «Dich losmachen von mir?» fragte er vorwurfsvoll, «das möchtest du?»

«Wohl möcht ich’s!» antwortete sie, «aber was hilft mir das? … Bin ich nicht wie verfangen im Dorngestrüpp, es zerfleischt mich, – und läßt mich nicht los … Bernhard! Bernhard!» Sie beugte sich vor, mit beiden Händen griff sie in sein Haar, zog seinen Kopf an ihre Brust und schaute in die Augen, die sich bittend und voll heißer Zärtlichkeit zu ihr erhoben. «Bist mir denn treu?» schrie sie plötzlich auf.

Das rief wieder die alte Bozena! Das war wieder die echte alte Leidenschaft! – Sie zitterte um ihn, er hatte sie wieder! Der funkelnde Blick des Jägers ruhte fest in dem ihren und seine Seele frohlockte. Übermütig strich er mit Daumen und Zeigefinger den Schnurrbart in die Höhe und sprach schmollend, wie ein berechnender, kluger, vollendeter Don Juan:

«Bist du denn mein?»

«Schäm dich!» erwiderte sie, und barg ihr Gesicht in ihre Schürze und schluchzte laut.

Er aber flehte, tröstete, beteuerte. Kein Liebesschwur, den er nicht tat, kein Schmeichelwort, das er nicht sagte. Und Bozena lauschte seiner süßen Rede, von neuem überwunden, von neuem überzeugt. Er wolle ein Ende machen! Das gelobte er, und sollt es ihn die Stelle kosten und seines Grafen Gnade! Von der Bozena läßt er nicht, er kennt ihren Wert, ihr gehört er an in Glück und Not, im Leben und im Tode. Nur sie vermag – – da fährt er zusammen, hält inne … hinter den Büschen des Zauns hat sich’s geregt. Der Teufel! haben seine Worte einen Zeugen gehabt? War ein Lauscher da? Bernhard springt empor und auf die Stelle los, von der aus das Geräusch gekommen. Er ruft laut: «Wer da?» – keine Antwort und ringsum niemand zu erblicken. Sie sind allein.

Etwas verlegen über die Bestürzung, die er unwillkürlich hatte erblicken lassen, kehrt der Jäger zurück. In einen andern Menschen verwandelt, gleichgültig und kalt stand er vor seiner Geliebten und sagte: «Es ist spät – ich muß fort.»

Sie biß die Zähne übereinander und maß ihn mit verachtungsvollen Blicken.

«O du!» rief sie «wenn einer dort gestanden hätt, und wär’s der Stallbub gewesen aus eurem Hause … Und hätte der gespaßt: Unser Jäger geht mit der Magd des Weinhändlers – vor dem Stallbuben hättest du mich verleugnet! Jetzt hättest du’s getan! … Und wenn dich heut abends beim Tische der Hausoffiziere jemand nach mir fragt, wirst du antworten: Ich kenne sie nicht! Gelt?» schrie Bozena mit vernichtendem Hohne und richtete sich hoch auf vor ihm, der mit finsterem Gesichte zur Erde starrte und – schwieg.

«Ich Narr! Ich Narr!» stöhnte sie und wandte sich und rannte davon. Sie schaute nicht – er rief sie nicht zurück, und dennoch hemmte sie bald die Raschheit ihrer Schritte. Sie blieb stehen – sie lauschte – sie wartete und setzte dann immer langsamer ihren Weg fort. Wie oft hatten sie sich schon getrennt, aber niemals hatte ein Abschied ihr das Herz zerrissen wie dieser. Hatte sie doch noch nie so harte Worte zu ihm gesprochen, war ihm doch niemals so weh durch sie geschehen. Wird er ihr je verzeihen? – Schon denkt sie nichts andres mehr als: wird er mir je verzeihen?…

Das macht: sie ist gefangen, ein Spielball in eines Knaben Hand – die große Bozena!

Bozena Kapitel 21

5.

Während Bozena in so schweren Herzenskämpfen rang, wurde auch ihr Schützling von seinem Schicksal ereilt. Zugleich glücklicher und unglücklicher als ihre Getreue, hatte Rosa eine Neigung eingeflößt, die sich nicht verbarg, die nur allzu eifrig zur Schau getragen wurde, die aber so gut wie keine Hoffnung bot, zu ihrem Ziele, dem Frieden einer erwünschten Ehe zu gelangen.

Seit einigen Monaten war in der Umgebung Weinbergs ein Ulanenregiment einquartiert, dessen hübschester Leutnant den großen, sehr mittelmäßig gepflasterten Platz des Städtchens für den geeignetsten Ort zu halten schien, wo seinen Pferden die letzte, höchste Dressur beizubringen wäre. Er kam heut auf dem Mohrenkopf und morgen auf dem Schwarzbraun; er umkreiste den steinernen Marktbrunnen im Jagdgalopp, im spanischen Schritt, im kurzen und im langen Trabe. Er jagte, die Hand am Schirme seines Käppchens, im Fluge wie ein Kosak, oder er ritt feierlich und langsam wie der Cid unter Ximenens Altan, an dem alten Hause vorüber. Und am Fenster stand Rosa voll Bewunderung und lächelte ihm zu. Seit dem Augenblicke, da sie ihn zum erstenmale gesehen, hatte ein neues Leben für sie begonnen. Seltsam, seltsam war ihr’s damals ergangen. So, meinte sie, so rasch, so plötzlich und unwiederbringlich hätte noch keine ihr Herz verloren, nein, verschenkt – gern, glückselig verschenkt.

Mit klingendem Spiele und flatternden Fähnlein war das Regiment auf einem Marsche nach der neuen Garnison durch die Stadt geritten. Und Rosa, von dem Schalle der lustigen Musik an das Fenster gelockt, hatte sich ergötzt an dem bunten Schauspiel zu ihren Füßen; Zug um Zug marschierte vorüber und manches Auge richtete sich mit Wohlgefallen auf das Mädchen, das so übermütig auf die staubbedeckten Reiter herabsah, als defilierten sie nur ihr zu Ehren und zum Spaße da vorbei.

Endlich kam er herangeritten, nachlässig, mit schlaffen Zügeln, und träumte vor sich hin. Nun schien das alte Haus seine Aufmerksamkeit zu erregen. Wie ein verwitterter Aristokrat inmitten geschniegelter Emporkömmlinge nahm es sich mit seinen etwas abgebröckelten Stukkaturen, seinen schweren Strebepfeilern und tiefen Fensterbogen aus, neben den blanken, charakterlosen Nachbarn. Der Offizier sah an dem grauen Gemäuer empor, wie überrascht von seiner altertümlichen Schönheit. Als wecke es in ihm eine wehmütige Erinnerung, betrachtete er es ernsthaft, ja traurig und doch fast liebevoll. Und jetzt begegnete sein Blick dem der Rose am Fenster, dieser holden, trotzigen Rose, so schön, so frisch in ihrer düsteren Umrahmung. Vier junge Augen ruhten ineinander mit unschuldigem Erstaunen, mit selbstvergessenem Entzücken. Und das alte, ewig neue Wunder vollzog sich; in zwei von Schmerz und Glück noch unberührten Seelen erwachte die Sehnsucht und mit Bangen die Ahnung all der Wonnen und all des Wehs, die sie bestimmt waren einander zu bereiten, die Ahnung des großen Lebensgeheimnisses, das Aufgehen des eigenen in einem fremden Dasein.

Unwillkürlich hielt der Jüngling sein Pferd an, und stand regungslos mit emporgewandtem Haupte, mit dem Ausdruck der seligsten Bewunderung auf seinem Gesichte. Eine Hand, die sich auf seine Schulter legte, eine Stimme, die ihn anrief: «Schläfst du, Fehse?» weckte ihn aus seiner Versunkenheit. Er errötete über und über und setzte sich wieder in Bewegung. Der Kamerad aber war der Richtung, welche die Augen des Freundes genommen, mit den seinen gefolgt, er lächelte und machte eine Bewegung, als wollte er sagen: «Ja so – jetzt verstehe ich!»

Und Rosa, bestürzt, beschämt, eilte vom Fenster hinweg, mit dem Gefühl einer ertappten Sünderin. Wie peinlich war der Augenblick! Und doch – sie hätte ihn nicht tauschen mögen gegen alle frohe Stunden, die sie bisher erlebt.

Das kindische Pärchen flog in sein erstes Liebesabenteuer hinein wie junge Vögel in das Feuer. Damals hatte ein österreichischer Offizier alle mögliche Zeit, seine Privatangelegenheiten zu besorgen. Wenn er, wie Fehse es tat, auch täglich drei Meilen weit ritt, um an der Wand den Schatten seiner Angebeteten oder am Fenster den Schimmer ihres Nachtlämpchens zu erblicken, der Dienst, der ihm oblag, brauchte nicht darunter zu leiden.

Später wurde der Leutnant in ein dem Städtchen näher gelegenes Dorf versetzt, und nun begannen jene Fensterparaden auf dem Platze, die sehr bald Rosas Freude ausmachten und Herrn Heißenstein ein Ärgernis gaben.

Frau Nannette nahm von alledem keine Notiz.

Eine Sache, von der man sich nur Kenntnis verschaffen konnte, indem man aus dem Fenster sah, fand sie für angemessen zu ignorieren. Sie predigte nicht etwa mit Worten allein, sie predigte durch ihr Beispiel. Sie pflegte zu unterlassen, was Regula bleiben lassen sollte.

Jawohl, bleiben lassen! Oder hat man jemals gehört, daß ein wohlerzogenes Mädchen Lust und Zeit hätte, aus dem Fenster zu sehen? Wenn dies der Fall, dann muß Frau Nannette sich schämen und ihre Unwissenheit bekennen. Denn wahrlich, ihr ist dergleichen niemals zur Kenntnis gekommen.

Einen stillen, aber heißen Bewunderer fanden die equestrischen Übungen des Leutnants an Mansuet Weberlein. Von seinem Kasten aus, in dem er hockte wie der Frosch im Wetterglase, begleitete der Kommis die Versuche des Ulanen, Fräulein Augentrosts Aufmerksamkeit zu erwecken, mit seinen innigsten Sympathien. Er war ein so begeisterter Anhänger des Militärs, daß er jedem Unternehmen, gleichviel ob es von dem ganzen Stande oder von einem einzelnen seiner Mitglieder in das Werk gesetzt wurde, das beste Gedeihen wünschte.

Wie es kam, daß sich in Weberleins Seele kriegerische Neigungen entwickelten, ist unerklärt geblieben. Er stammte aus einem friedfertigen Geschlechte. Seine Ahnherren hatten als Kommis im Geschäfte Heißenstein gedient, solange dasselbe überhaupt bestand, und sein Vater hatte ihn auferzogen in der Furcht Gottes und der Militärpflicht. Und trotzdem! Als er achtzehn Jahre alt und noch nicht viel über drei Schuh in der vertikalen, aber schon bedenklich in der schrägen Richtung gewachsen war, da kamen Werber aus Ungarn herüber in die Stadt. Mansuet entlief seinem väterlichen Hause und stellte sich.

Er wurde ausgelacht und heimgeschickt. Aber von diesem Tage an galt er in seiner Familie für einen Haudegen, und fühlte sich in einem gewissen Grade mit dem Soldatenwesen verbunden.

In gemütlichen Stunden sagte er zu seinen Vertrauten: «Sehen Sie, jetzt wäre ich Hauptmann, wenn ich nämlich gedient, ich wäre sogar Major, wenn man mich nämlich dazu gemacht hätte.»

Er wußte den Militärschematismus auswendig und avancierte mit seinen eingebildeten Kameraden, in seinem eingebildeten Range. Wenn der hübsche Leutnant Fehse am Hause vorüberritt, da verfehlte Mansuet niemals, dem zweiten Kommis zuzuflüstern: «Sehen Sie, der wäre jetzt mein Subordinierter, wenn ich nämlich gedient hätte, bei den Ulanen nämlich, und zwar im zweiten Regimente.»

Die unschwer zu erratenden Absichten seines «Subordinierten» aus allen Kräften zu fördern, empfand Weberlein den lebhaftesten Drang. Und eines schönen Morgens, als Fehse wieder sein Pferd auf dem Platze tummelte, bemerkte sein stiller Gönner, mit einer Hand auf den Schützling deutend und mit der andern dem Prinzipal einen Brief zur Unterschrift vorlegend: «Ansprechendes Exterieur, das des Herrn Leutnants. Scheinen hier einen Punkt der Anziehung gefunden zu haben.»

Und als Heißenstein schwieg, fuhr der Kommis mit einem diplomatischen Lächeln fort: «So frei gewesen, über den Herrn Leutnant Erkundigungen einzuziehen. Bei Großhändler Heller. Sind dort täglicher Gast. Gute Referenzen. Sehr estimiert im Regimente, höchst anständig.»

«Kümmert das Sie?» fragte Herr Heißenstein in wegwerfendem Tone und schob dem Kommis den unterzeichneten Brief hin.

Weberlein legte einen zweiten vor und erwiderte: «Sehr viel. Die Anständigkeit des Nebenmenschen kümmert mich immer sehr viel.»

«Sie wollen sich vermutlich mit ihm in Verbindung setzen», bemerkte der Prinzipal spöttisch. Weberlein war einmal entschlossen kühn zu sein; er ließ sich nicht irremachen durch die majestätische Ironie Heißensteins. Er dachte: «Wetter! man muß etwas tun für seine Freunde. Ein gutes Wort kann Wunder wirken; es kann Möglichkeiten ins Auge fassen lassen, die sonst nicht erwogen worden wären.»

Und so sprach er: «In Verbindung – ich? – Nur insofern, als ich vermöchte, eine Verbindung mit anderen Personen zu vermitteln, die ihm wahrscheinlich erwünschter wäre.»

Während dieser letzten Rede hatte der Haudegen seine Augen recht fest auf das Blatt in seiner Hand gerichtet. Jetzt wandte er sie seinem Chef zu. Der saß kerzengerade aufgerichtet und machte eine so eisige Miene, daß Mansuet sich von ihrem Anblick durch und durch erkältet fühlte und hüstelnd, als fröre ihn, seinen Rock zuknöpfte. Heißenstein sah den Kommis von der Seite an, und jede Falte auf seinem Gesichte, jedes Haar seiner emporgezogenen Augenbrauen schien zu sagen. «Dieser Mensch wird mich niemals verstehen!»

Der Tag verging. Herr Heißenstein ging auffallend früh und in auffallend schlechter Laune zum Abendessen. Die letztere wurde noch vermehrt, als er Rosas Platz am Tische unbesetzt fand. Ein unerquickliches Gespräch entspann sich zwischen dem Herrn und der Frau vom Hause.

«Wo ist Rosa?»

«Wie allabendlich bei Heller.»

«Wer gab ihr die Erlaubnis…»

«Die nimmt sie wohl selbst. Wer hätte der etwas zu erlauben?»

«Ich!» schrie Heißenstein.

«Du hast doch bis jetzt gegen diese Besuche nichts einzuwenden gehabt», meinte Frau Nannette.

«Von nun an hab ich dagegen einzuwenden», war des Hausvaters kategorische Antwort, und Bozena erhielt den Befehl, Rosa sofort abzuholen und nach Hause zu bringen. Die Magd gehorchte, und Regel, die inzwischen ihre Suppe ausgelöffelt und ohne das leiseste Geräusch geschluckt hatte, küßte ihren Eltern die Hände, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und verließ das Zimmer.

Das Ehepaar war allein.

Er hatte die «Brünner Zeitung», sie ihren Strickstrumpf zur Hand genommen. Vor ihm stand eine Flasche Weines, vor ihr ein kleiner Arbeitskorb, in dem das Knäuelchen, infolge der unglaublichen Geschwindigkeit, mit der sie strickte, ruhelos umherhüpfte. Die Bewegung dieses Knäuelchens schien Herrn Heißenstein unangenehm zu sein, denn er sah es manchmal über die Zeitung hinweg grimmig an.

Eine Atmosphäre des Unbehagens umgab die beiden alten Leute, und Frau Nannette bemühte sich vergeblich, sie zu zerstreuen. Sie lächelte, nickte mit dem Kopfe, sagte von Zeit zu Zeit: «Ja, ja» und: «Du lieber Gott, schon ein Viertel nach neun!» Oder: «Wie doch ein Tag so rasch vergeht!» Sie versuchte sogar durch ein kleines, gemütliches Gähnen die gezwungene Stimmung in eine bequeme zu verwandeln. Alles umsonst!

Endlich hielt sie im Stricken inne, und indem sie mit der Nadel einige Brotkrümchen auf dem Tische in eine gerade Linie schob, teilte sie ihrem Manne mit, als besänne sie sich dessen plötzlich – daß sich ihr heute vormittags auf der Promenade Leutnant von Fehse habe vorstellen lassen.

Herr Heißenstein äußerte den Anteil, den er an dieser Nachricht nahm, dadurch, daß er halblaut zu lesen begann: «Versteigerung der kärntnerischen Kammerfondsherrschaft Friesach, samt der Fronleichnamsbruderschaft Metnitz…»

Frau Nannette fuhr fort: «Ein sehr gebildeter, sehr wohlerzogener junger Mann…»

«An Gebäuden, an Grundstücken, an Untertanen, an Zehenten», murmelte Heißenstein.

«Du hörst nicht, Lieber», sprach seine Gemahlin, und setzte mit größerem Nachdrucke hinzu: «von altem Adel, aus Hannover.»

In einem Tone, der deutlich sagte: «Ich will auch nicht hören», und mit, wie es schien, gesteigertem Interesse an seiner Zeitung, las Heißenstein: «An Untertansgiebigkeit, an unsteigerlichem Gelddienste 609 Gulden 23¾ Kreuzer…»

«Die Fehse sind so alt wie die Montmorency», rief nun Frau Nannette etwas gereizt dazwischen, und vergaß in der Aufregung, ihrer Rede die logische Gliederung zu geben, die sie ihr sonst so gern verlieh. – «So alt wie die Montmorency, und er spricht das schönste Deutsch, das ich jemals hörte.»

«An Kleinrechten», las Heißenstein weiter: «Ein Paar Filzstiefel, ein Stück Hechten, siebenundzwanzig Hendeln, zwei Faschingshühner – – einhundertundfünf Pfund Harreisten…»

Jetzt riß der Faden von Frau Nannettens Geduld. Mühsam, mit großer Selbstüberwindung knüpfte sie ihn wieder zusammen.

Sie beugte sich vor, tippte mit der Stricknadel auf den Ärmel ihres Mannes und sprach: «Es wäre mir angenehm, wenn meine Regula öfters Gelegenheit hätte, dieses ganz vortreffliche Deutsch sprechen zu hören. Das Kind ist so bildungsfähig! Man sollte es nicht glauben, aber heute vormittags wechselte Herr von Fehse einige Worte mit ihr, und schon nachmittags überraschte sie mich mit der Anwendung einiger Imparfaits und Subjonctifs, und mit einer weichen Aussprache der Zischlaute, die mich entzückte. Gestatte demnach, lieber Mann…»

Die Stricknadel fuhr schmeichelnd über den Rockärmel, und bittende Augen ruhten auf dem hartnäckigen Leser. Dieser erhob den Kopf und lächelte seine Ehehälfte an, spöttisch, geringschätzig, herausfordernd.

Frau Nannette fühlte augenblicklich ihre Lippen trocken werden und ihren Hals sich zusammenschnüren. Sie dachte, nicht ohne einen kleinen Schauder, daß es möglich sei, einen Menschen inständigst zu hassen durch ein ganzes Leben hindurch, wegen eines einzigen Lächelns, wenn es so viel Verachtung, so viel Hohn ausdrücke wie dieses.

«Du wünschest also», sprach Herr Heißenstein, «wenn ich recht verstehe, einen Montmorency – Gott, wie sprach der Mann diesen edlen Namen aus! – als Sprachlehrer für unsere Regel. Ich zweifle, ob diese Art in solcher Eigenschaft zu fungieren pflegt, bei Weinhändlerstöchtern.»

Jetzt wurde die Türe des Vorzimmers geöffnet; die Stimme Rosas ließ sich vernehmen. Herr Leopold stand auf: «Genug gescherzt!» rief er, während seine Tochter eintrat. Er wandte sich gegen sie und schleuderte ihr in drohendem Tone die Worte zu: «Herr Leutnant Fehse wird mein Haus niemals betreten!»

Das Mädchen erbleichte und fragte ganz verwirrt über diesen sonderbaren Empfang: «Warum, Vater? – Warum? – Was hast du gegen ihn?»

«Nichts gegen ihn, nichts für ihn», erwiderte Heißenstein, «und dabei soll’s sein Bewenden haben.»

«Warum?» wiederholte sie, «er ist brav und gut, alle Welt liebt ihn.»

«Du wohl auch?» fuhr er sie mit grausamem Spotte an.

«Ja!» antwortete Rosa hochaufatmend.

Er sah sie an und eine leise Regung des Erbarmens mit dem Kinde wurde lebendig in seiner Seele. Streng, aber ohne Härte sprach er: «Schlag dir die Löffelei aus dem Kopfe! Ich will nichts wissen von einem Herrn von Fehse. Du hast gehört, mein Haus betritt er nie.»

«Doch Vater!» war die kühne Antwort des Mädchens, «er kommt morgen. Er will bei dir um mich werben.»

«Werben?!» schrie Heißenstein in aufloderndem Zorne. «Werben?!» Mit flammendem Gesicht schritt er auf seine Tochter zu…

Frau Nannette lief es kalt über den Rücken und mit einem kleinen Schrei sprang sie auf, floh in die Fensterecke und wünschte zu sein, was ihr Mann sie einst genannt: eine Maus – um sich verkriechen zu können.

Anders empfand die Tochter, die Schuldige, auf deren Haupt das Ungewitter sich zu entladen drohte, das die funkelnden Augen des Vaters, seine zuckenden Lippen, sein röchelnder Atem verkündeten. Furchtlos kreuzte sie die Arme und sah ihn mit trotziger Entschlossenheit an. Sie war schön, und Bozena hatte doch recht: sie glich ihrer Mutter. Selbst jetzt noch, in ihrem Zorne mahnte sie an die sanfte Frau. – Jene hätte das Haupt gebeugt, sie erhob’s – jene hätte den Kampf vermieden, sie nahm ihn auf – und dennoch! und dennoch!…

Mitten in seiner Wut, in seiner Empörung über den Widerstand, den sie zu leisten wagte, kam es ihm: Ich hab das Mädchen lieb! – Und wie Ekel an all der Kriecherei und Heuchelei um ihn her, erfaßte es ihn und zog ihn mit Macht zu der einzigen, die seinem Willen ihren Willen entgegensetzte.

Es war totenstill im Zimmer. Frau Nannette zitterte unhörbar, und Vater und Tochter standen einander lautlos gegenüber. Endlich sprach Heißenstein: «Er will kommen? Gut denn.»

«Vater!» rief Rosa, jubelnd über diese unerwartete Antwort. Sie ergriff seine Hand und wollte sie küssen. Er entzog sie ihr mit den Worten: «Mache dir keine Hoffnung, du Törin.»

*

Heißenstein empfing den Herrn Leutnant von Fehse mit aller möglichen Steifheit. Als der Offizier von Bozena geleitet eintrat, erhob sich der Herr des Hauses, ging ihm aber nicht entgegen. Er ließ ihn herankommen, erwiderte seinen militärischen Gruß mit einem Kopfnicken, und als Fehse sich nannte, wies er ihm schweigend einen großen Lehnstuhl an, der neben dem Schreibtische stand. Er selbst setzte sich wieder auf seinen kleinen unbehaglichen Strohsessel. Gerade aufgerichtet vor seinem Gaste, die Hände auf die Knie gelegt, jede einleitende Phrase verschmähend, erklärte er dem jungen Manne, er wisse, welch einen ehrenvollen Antrag zu stellen der Herr Leutnant gekommen sei und bedauere lebhaft, daß die obwaltenden Verhältnisse ihn zwängen, denselben abzulehnen.

Fehse wurde abwechselnd blaß und rot, richtete seine sanften blauen Augen voll Treuherzigkeit auf den Kaufmann und erklärte seinerseits, daß er Fräulein Rosa innigst liebe.

Herr Heißenstein schenkte dieser Versicherung unbedingten Glauben und der Offizier fühlte seine Hoffnung, daß der Vater seiner Geliebten nicht unerbittlich sein könne, wachsen. Er rief, er sei zwar noch sehr jung, bekleide noch keine hohe Charge, habe kein Vermögen, aber er stamme aus einer geachteten Familie, trage einen ehrenwerten Namen, besitze leidliche Fähigkeiten und hoffe Karriere zu machen. Über seinen Ruf bei Vorgesetzten und Kameraden möge Heißenstein Erkundigungen einziehen, sein Oberst sei bereit, sie zu erteilen.

Während er sprach, beobachtete der Geschäftsmann ihn scharf. – Eines großen Geistes Kind bist du nicht, dachte er, aber ein hübscher anständiger Bursche. Fehses offenes Wesen machte einen günstigen Eindruck auf den mißtrauischen und zurückhaltenden Kaufherrn, und der Gedanke an die Möglichkeit einer Vereinbarung flog ihm durch den Sinn. Aus Liebe hat schon mancher größere Opfer gebracht, als das wäre, das der junge Edelmann um Rosas willen bringen müßte, sagte sich Heißenstein.

Er begann umständlich und mit Bedacht dem Offizier zu erzählen, seit wie vielen Generationen das Geschäft, an dessen Spitze er stehe, sich in seiner Familie vom Vater auf den Sohn fortgeerbt habe. Ihm hätte der Himmel seinen Sohn genommen, aber seine ehrenwerte Firma müsse doch fortbestehen, und so sei es denn sein unabänderlicher Entschluß, die Hand seiner älteren Tochter nur demjenigen Manne zu gewähren, der sich herbeiließe, den Namen Heißenstein anzunehmen und dereinst das Handlungshaus weiterzuführen.

Das Gesicht Fehses verfinsterte sich, und als Heißenstein mit den Worten schloß: «Wollen Sie auf diese Bedingung eingehen?» antwortete er bebend vor Entrüstung: «Was berechtigt Sie zu glauben, daß ich meinen Namen weniger hochhalte, als Sie den Ihren? … Ich bin übrigens Soldat mit Leib und Seele und will es bleiben mein Leben lang.»

Herr Heißenstein zollte der klaren und männlichen Sprache des Offiziers, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ und ihre Unterredung beendete, seine Anerkennung. Er fügte, sich erhebend, hinzu, daß er von einem Mann von so korrekter Gesinnung auch ein korrektes Benehmen erwarte. Er äußerte seine, aus seiner Hochachtung für Herrn von Fehse entspringende Überzeugung, daß dieser künftighin jede Gelegenheit, Rosa zu begegnen, meiden werde, und unter der soeben ausgesprochenen Verzichtleistung auf ihre Hand auch die Verzichtleistung auf ihre Neigung verstehe.

«Keine von beiden!» entgegnete der junge Offizier flammend und glühend. «Ich liebe Ihre Tochter und werde von ihr geliebt, ich werde alles daran setzen, sie zu erringen!»

Und gleich darauf, seine Heftigkeit bereuend, flehte er: «Machen Sie uns nicht unglücklich!»

«Verlieren Sie keine Worte», sprach Heißenstein. «Es dürfte Sie später verdrießen, wenn Sie sich erinnern würden, Herr Leutnant von Fehse, daß Sie sich vor einem Weinhändler umsonst gedemütigt haben.» Er machte einige Schritte gegen die Tür.

«Ich werde», rief Fehse außer sich, «nie von Ihrer Tochter lassen! – Und seien Sie überzeugt: sie auch nicht von mir! … Sie sollen bereuen, was Sie heute tun. Merken Sie wohl: Ich habe Ihnen nichts versprochen. Ich habe kein Wort zu halten als das Wort, das ich ihrer Tochter gab!» Heißenstein stand eine Weile in Gedanken versunken und blickte dem Enteilenden nach. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und verfaßte einen langen Brief, den er noch am selben Tage eigenhändig der Post übergab.

Rosa wurde fortan unter strenger Aufsicht gehalten. Zwei traurige Monate hindurch durfte sie das Haus nicht verlassen, und außer in Gegenwart Frau Nannettens keinen Besuch empfangen. Dennoch gelang es Fehse einmal, ihr Nachricht zu geben, und Bozena, die im Zimmer neben dem ihren schlief, und der es war, als habe sie ihren Liebling schluchzen gehört, fand Rosa, als sie an ihr Bett trat, im Schlafe weinend, wie sie es als Kind oft getan. Und dabei hielt sie ein beschriebenes, von Tränen durchnäßtes Blättchen an ihre hochgerötete Wange gedrückt.

Am nächsten Morgen fragte Bozena wohl: «Was war das für ein Brief?» Aber sie bekam eine ausweichende Antwort, und begnügte sich damit.

«Wie mögen Sie Rosa quälen?» sagte sie zu ihrem Herrn. «So eine erste Liebelei, das ist wie Märzenschnee…»

So rein, meinte sie, und so vergänglich.

Von Ahnungen und Träumen nährt sich die junge Liebe, ist fern von ihrem Gegenstand glücklich durch den Gedanken an ihn; wenn sie weint, so freut sie sich ihrer Tränen, und wenn sie leidet, ist sie stolz auf ihren Schmerz … Was bedeutet die unschuldige Schwärmerei eines Kindes gegen die lodernde Höllenglut im Herzen Bozenas.