Bozena Kapitel 22

6.

Heißenstein erschien eines Tages in ungewöhnlich guter Stimmung im Familienzimmer. Er hatte zwei angenehme Nachrichten erhalten. Die erste lautete, das Regiment des Leutnants von Fehse sei im Begriffe, in eine neue Garnison zu marschieren; die zweite hatte ein Brief gebracht, die Antwort auf das Schreiben, das er nach seiner Unterredung mit dem Offizier nach Wien geschickt.

Sie lautete:

Euer Wohledlen zeige ich hiermit an, daß mein Sohn Joseph sich im Verlaufe der nächsten Woche die Ehre geben wird, Euer Wohledlen persönlich aufzuwarten. Derselbe ist vor wenigen Tagen aus England hier eingetroffen, allwo er die ihm aufgetragenen Geschäftsangelegenheiten zu gedeihlichem Abschlusse gebracht hat. Meine angenehme Hoffnung ist es jetzo, daß es ihm auch reussieren möge, sich die Wohlgeneigtheit und die gute Gesinnung Euer Wohledlen und deren werter Familie zu erwerben, und kann keineswegs umhin, zu versichern, daß mein innigster Wunsch befriedigt wäre, wenn mir heut über ein Jahr die Gelegenheit geboten und die Satisfaktion gewährt würde, in großväterlichem Kometenwein (grünes Siegel) die Gesundheit des ersten Frohburg-Heißenstein ausbringen zu dürfen.

Der ich verharre, Euer Wohledlen dienstwilliger

Frohburg.»

Während der Mahlzeit sprach Heißenstein wiederholt von seinem ehemaligen Jugend- und jetzigen Geschäftsfreunde Frohburg. Er lobte dessen wohlgeratene Kinder, er lobte vor allem dessen zweitgeborenen Sohn Joseph, den er zum letztenmal vor fünf Jahren in Wien gesehen hatte. Der Jüngling war damals zwanzig Jahre alt und berechtigte zu den schönsten Hoffnungen. In gut bürgerlichen Verhältnissen erzogen, zur Arbeit und Pflichterfüllung angehalten, hatte er sich zu einem tüchtigen Manne herangebildet. Wohl dem Vater, der sich eines solchen Sohnes rühmen darf, wohl der Frau, die er einst mit seiner Hand beglückt! – Heißenstein kündigte den bevorstehenden Besuch Josephs an und trug Frau Nannette auf, das Gastzimmer zu seinem Empfange auf das beste herstellen zu lassen.

«Ich hoffe und wünsche, daß er sich heimisch fühle bei uns!» setzte er hinzu, und die Drohung: weh euch, wenn er sich nicht heimisch fühlt! klang aus seinem Tone.

Obwohl Frau Nannettens stummes Kopfnicken die einzige Antwort war, die er erhielt, obwohl sich nicht die leiseste Einwendung gegen seine Behauptungen und Befehle erhob, hatte er sich in eine Gereiztheit hineingeredet, die nur hartnäckiger Widerspruch erklärt haben würde.

Oder wurde sie vielleicht durch Rosas bleiches Gesicht hervorgerufen? – Durch den verhaltenen Schmerz, mit dem sie ihre Lippen biß? – Durch die Blicke, die sie ihm aus glühenden Augen zuwarf, die in der letzten Zeit dunkler geworden schienen und in jenem feuchten und feurigen Glanze leuchteten, den vieles Weinen jungen Augen verleiht? … Las er die Gedanken von ihrer Stirn ab? Lag ihr Herz offen vor ihm?

Sie hatte ihn verstanden und schauderte. So wenig kannte sie der alte Mann? Er meinte sie zwingen zu können zu einer ihr widerstrebenden Ehe? Wäre ihr Herz auch frei gewesen, niemals hätte sie sich zwingen lassen. Und jetzt, da sie liebte, da er es wußte, glaubte er für sie wählen zu können? … Welch ein Abgrund klaffte zwischen ihm und ihr, wie fremd stand sie mitten unter den Ihren, wie allein im Vaterhaus! Mit welcher bitteren Qual empfand sie die traurigste von allen Einsamkeiten, die unter Menschen, die uns die nächsten sein sollten.

Unzufrieden mit sich selbst verließ Heißenstein das Gemach. Er hatte sich übereilt. Er hätte noch schweigen, noch nichts verraten sollen von seinen Zukunftsplänen, hätte einen Monat oder zwei ins Land gehen lassen sollen, bevor er den Geschäftsfreund an die längst schon zwischen ihnen genommene Verabredung mahnte. Er machte einen Gang durch die Stadt und besann sich, daß im Kontor die Arbeit seiner warte. Er begab sich in das Kontor und sah bald ein, daß er unfähig war, auch nur zwei zusammenhängende Zeilen niederzuschreiben. Endlich versuchte er, sich mit Mansuet in ein Gespräch einzulassen. Aber der war schweigsam und niedergeschlagen und gab nur einsilbige Antworten.

«Wissen Sie schon? Die Ulanen marschieren?» fragte der Chef unter anderm.

«Weiß», brummte Mansuet und spitzte die Ohren, wie in die Ferne lauschend.

«Sie kommen schon hier vorbei!» rief der zweite Kommis und sprang auf, «man hört die Musik!»

Heißenstein verließ das Kontor und stieg zum Zimmer seiner Tochter empor.

Als er die Tür des weitläufigen Gemaches leise öffnete, sah er Rosa in der Fensternische halb sitzend, halb liegend hingestreckt. Sie hatte die Arme über ihren Arbeitstisch geworfen und das Gesicht in die Linnen vergraben, die ihn bedeckten. Ihr ganzer Körper bebte unter den Erschütterungen eines heftigen Schluchzens, das sich schmerzlich emporrang aus der Tiefe ihrer Brust.

Von einem flüchtigen Mitleid ergriffen, blieb ihr Vater, ohne ein Zeichen seiner Gegenwart zu geben, am Eingange stehen.

Er war gekommen, um sie zu verhindern, dem Geliebten ein letztes Lebewohl zuzuwinken, nun dachte er: «Mag sie doch! – Nachher ist ja ohnehin alles vorbei.»

Das Getrappel der Pferde ertönte auf dem Pflaster, die Klänge eines alten Reiterliedes schallten durch die Luft. «Lebewohl! Lebewohl, mein Lieb!» sprachen sie, riefen sie dem verstehenden, pochenden Herzen zu.

Langsam richtete Rosa sich auf, sie öffnete das Fenster nicht, beugte sich nicht hinaus. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Arme schlaff herabhängend, stand sie regungslos, atemlos und starrte hinunter.

Und jetzt stieg eine dunkle, heiße Blutwelle in ihr Gesicht … Jetzt war er vorbeigekommen. – Und jetzt nickte sie ernsthaft und wiederholt, als hätte ihr jemand fragend zugewinkt und als antwortete sie: «Ja! – ja, gewiß!» Und wie beteuernd preßte sie beide Hände an ihre Brust.

Was soll’s? War das eine Verabredung?…

Geräuschvoll schloß Heißenstein die Türe, deren Klinke er noch in der Hand hielt.

Rosa wandte sich, erblickte ihren Vater und mit einem Schrei, mit ausgebreiteten Armen stürzte sie auf ihn zu. Sie warf sich vor ihm nieder und umklammerte seine Knie, sie drückte ihre Lippen auf seine abwehrenden Hände und beschwor ihn mit Tränen und mit Schluchzen: «Vater, Vater, gib mich ihm!»

Aber das bißchen Mitleid, das er mit einem Geschöpf empfinden konnte, das sich ihm widersetzte, war erloschen. Daß sie noch hoffte, daß sie noch meinte, ihren Willen durchzusetzen, daß sie es noch versuchte, das empörte ihn. Ist er der Mann, der seine Entschlüsse ändert? – Hat er nicht so manchen, den er übereilt gefaßt, zu seinem eigenen Nachteil ausgeführt, bloß deshalb, weil er ihn einmal gefaßt hatte? Und sie traute ihm zu, er werde jetzt nachgeben, da es sich um die Erfüllung eines Lebenswunsches handelte, um das Gelingen sorgsam vorbereiteter und lang gehegter Pläne? Er hatte ihr wohl zu wenig Strenge gezeigt, sie fürchtete ihn nicht genug.

Er ließ sich nicht zu einem Zornesausbruche hinreißen, er blieb nur dabei: sie muß sich fügen. Der Sinn von allem, was er sagte, war: «Mit dem Ungeliebten wirst du leben, den Geliebten wirst du vergessen.»

Auch in ihr waren die weichen und sanften Empfindungen nicht die vorherrschenden. In die Laune, zu bitten, kam sie selten. Heute galt es ihr ganzes Lebensglück, und das alte Wort: Not lehrt beten, bewahrheitete sich an ihr. Sie flehte demütig und inbrünstig; aber so wie er von seinem Entschlusse nicht wich, so blieb auch sie bei dem ihren: ich heirate keinen andern als meinen Geliebten.

«Ich hab ein trauriges Leben», klagte sie. «Du warst niemals gut gegen mich, und die andern sind bös und falsch gewesen. Endlich hab ich mein Herz an einen Fremden angehängt, kann ich dafür? Hat eure Gleichgültigkeit mich nicht dazu gestoßen? Sei du jetzt väterlich – verzeih mir – denke, wenn ich ein Unrecht getan habe, es ist zur Hälfte dein. Verzeih mir, Vater, und laß mich gewähren. Du weißt, ich war zeitlebens ein störrisches Geschöpf. Und den braven Joseph heiße warten; ein paar Jahre nur, dann heiratet er die brave Regula. Die sagt ‹Ja› zu allem, was du befiehlst, die ist nicht widerspenstig wie ich. Belohne sie für ihren Gehorsam mit deinem ganzen Hab und Gut. Ich will nichts, ich verzichte auf alles – nur deinen Segen gib – sag nur: Ziehe hin…»

«Ins Elend!» rief Heißenstein. «Weißt du, was du verlangst? Kennst du den Jammer einer armseligen Militärwirtschaft? Das Herumzigeunern von Dorf zu Dorf … Eine Ehe ohne eigenen Herd, einen Haushalt, den man nicht bestreiten, Kinder, die man nicht erziehen kann? Und er – glaubst du, daß er dich möchte, wenn du ihm kämst ohne einen Heller? Ein Narr wäre er, wenn er dich so nähme, und gewissenlos dazu. Also. nein! Und kein Wort mehr darüber: du gehorchst!»

Sie bewegte noch ihre Lippen, aber sie sprach nicht mehr. Ihre Tränen waren versiegt, finster blickte sie ihren Vater an, der schon an der Türe stand. Da schien ein plötzlich ausbrechendes Gefühl sie zu überwältigen. Sie eilte ihm nach und warf sich an seine Brust. Er fragte: «Bist vernünftig … willst gehorchen?»

Sie gab keine Antwort, sie trat weg von ihm, nachdem sie ihn noch einmal innig geküßt hatte.

Eine Stunde später ließ sie ihn bitten, den Rest des Tages auf ihrem Zimmer zubringen zu dürfen, und die Erlaubnis dazu wurde ihr gewährt.

Frau Nannette lauerte und beobachtete, und schlich mehrmals an Rosas Türe vorbei und sah zufällig – sie wußte wenigstens selbst nicht, wie es geschah – durch das Schlüsselloch. Rosa saß an ihrem kleinen Pulte und ordnete die Gegenstände, die in der Lade aufbewahrt waren.

Im ganzen Hause herrschte einmal wieder dumpfe Gewitterschwüle. Der «Herr» grollte, Bozena ging mit verstörter Miene umher, Mansuet war in bärbeißiger Laune und hatte auf offener Straße einen Streit gehabt mit Bernhard, dem Pfau. Einen Streit, den der kleine Kommis mutwillig heraufbeschwor.

Ohne allen Grund war er im Gespräch mit dem Jäger immer anzüglicher geworden und hatte endlich etwas gemurmelt von einem, «erbärmlichen Wicht». Und Bernhard hatte erwidert: «Führen Sie keine solchen Stichelreden, Sie haben kein savoir-vivre.» Worauf Mansuet rief: «Das ist mir tuttegal! Wenn ich auch nicht sage, was Sie sind, deswegen bleiben Sie’s doch.»

Der Streit würde sicherlich zu Tätlichkeiten geführt haben, wenn der gräfliche Kammerdiener, der demselben beiwohnte, den Jäger nicht fortgezogen und gesagt hätte: «Laß ihn, was kümmerst du dich um den alten Krakeeler!»

Früher als gewöhnlich wurde heute zur Ruhe gegangen. Jeder der Hausbewohner schien Eile zu haben, sich in seine Stube zurückzuziehen.

Frau Nannette schritt in der ihren auf und nieder, seltsame Gedanken und Hoffnungen bewegten sie.

Sie war kurzsichtig, ihr Ehrgeiz zu wenig hochfliegend gewesen. Sie hatte in dem Leutnant Fehse nur einen bildenden Umgang gesehen, nur einen Reformator für Regulas vom Dialekt etwas angehauchte Aussprache. Und nun zeigte sich, daß er sie hätte befreien, erlösen können von dem ewig störenden Einfluß der Stieftochter; er hätte, geschickt unterstützt, diese vielleicht sogar dahin bringen können, sich mit ihm zu verbinden, auch gegen den Willen ihres Vaters.

Ein unversöhnlicher Zwiespalt wäre daraus entstanden. Heißenstein hätte sich losgesagt von der verlorenen Tochter, und in alle Rechte, die Rosa einbüßte, würde Regula getreten sein.

Frau Nannetten schwindelte, als alle diese Gedanken in ihr aufstiegen. So nahe war, so erreichbar die Erfüllung ihrer kühnsten, verwegensten Wünsche gewesen, und sie hatte nichts davon geahnt. Eine kostbare, einzige, nie wiederkehrende Gelegenheit war versäumt, ihrer Tochter die alleinige Herrschaft über das Haus und all seine reichen Güter für die Zukunft zu sichern.

Aufgeregt wie nie in ihrem Leben, bestieg sie ihr Lager und löschte das Licht. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Sie lag sinnend und grübelnd, und ihre Pulse hämmerten fieberhaft.

Im Kamin heulte der Sturm, und draußen umraste er das Haus; warf Sand an die Scheiben, daß sie klirrten, prallte an das Tor, daß es dröhnte; riß Ziegel vom Dach und schleuderte sie mit Gepolter auf die Straße. Frau Nannette hüllte sich in ihre Decke und flüsterte mechanisch ihr Abendgebet.

Wie ist ihr? Wird ihre spröde Phantasie beweglich und gaukelt ihr die Verwirklichung ihrer Träume vor? … Narrt sie die Einbildung, oder hört sie wirklich das Haustor knarren in seinen verrosteten Angeln? – Es ist geöffnet worden, mühsam, langsam – und alsbald schlägt der Sturm es wieder zu und schwer fällt es ins Schloß.

Nannette erhebt sich und eilt ans Fenster. Die Nacht ist dunkel, von keinem Stern erhellt. Die vier Öllampen, welche die Beleuchtung des Platzes zu besorgen haben, verbreiten ein gar spärliches Licht. Sie lauscht, sie späht in die Nacht hinaus, sie wünscht sich die Augen einer Eule, um die Finsternis durchdringen zu können. Jetzt, jetzt sieht sie in die Lichtscheibe, die eine der Lampen auf den Boden wirft, eine Gestalt treten – eine Gestalt im weißen Reitermantel – sie scheint eine zweite zu stützen, zu leiten … Einen Augenblick sind die beiden klar und deutlich sichtbar, dann verschwinden sie im Dunkel. Nannette hat sie erkannt … Und ihr Gewissen ruft ihr zu: Verhindere Unheil – rette das Haus vor Schmach. Auf! auf! Den Mann geweckt – ein Wort, ein Ruf von ihm führt das verirrte Kind zurück. Noch ist es Zeit – tu deine Pflicht!

Was Pflicht! … Ihrer Tochter die Wege bereiten, das ist ihre Pflicht! …

Minuten vergehen, schwerwiegende Minuten. Das Schicksal gönnt ihr noch eine Frist, um ihre Kraft zusammenzuraffen, zu einer guten Tat.

Sie läßt sie ungenützt vergehen.

Ein leichter Wagen fliegt über das Pflaster, Funken sprühen auf unter den Hufen der Rosse. – In den Lüften aber wird es still – still ringsumher – nichts laut als nur der Schall, den jenes Gefährte weckt und sein jagendes Gespann. Von Fieberfrost geschüttelt horcht Nannette. Sie möchte den Sturm beschwören, daß er das Gerassel der Räder übertöne, das den Vater wecken, ihre Hoffnungen noch jetzt vernichten kann…

Grundlose Sorge! Der Sturm hat nur neuen Atem geschöpft; er erhebt sich stärker als zuvor und verschlingt in seinem Toben das ohnmächtige Geräusch, das die Erde ihm zusendet in sein luftiges Reich.

*

Am nächsten Morgen, als Bozena ihm das Frühstück auf sein Zimmer brachte, war Heißensteins erste Frage: «Wie geht es Rosa?»

«Alles still bei ihr, sie schläft wohl noch», antwortete die Magd.

Er zürnte: «Schläft – um acht Uhr? Was für Gewohnheiten! … Hat die Prinzessin so viel Zeit übrig? Wecke sie. Schicke sie hierher.»

Eine Viertelstunde verging. Rosa kam nicht, Bozena brachte keinen Bescheid.

Ist das Kind krank? – Unsinn! Man wird nicht krank wegen einer bekämpften Laune. Das kommt in Romanen vor, nicht im Leben. Oder stellte sie sich vielleicht krank? Das wäre sehenswert!

Mit raschen Schritten geht er über den Gang, kleine Treppen auf und ab. Der Weg von seinem Zimmer zu dem der Tochter scheint ihm endlos. – «Ein rechtes Winkelwerk», denkt er, «dieses Haus.» Er würde den alten Kasten umgebaut haben, wenn ihm der Himmel einen Sohn gelassen hätte. Aber so! – Für einen Schwiegersohn unternimmt er dergleichen nicht. An die Stelle eines Kindes wird der niemals treten, wenn er auch noch so ehrenvoll den Namen der allgeschätzten Firma trägt.

Heißenstein biegt um die Ecke des schmalen Ganges, der zu Rosas Zimmer führt, und staunt, die Tür nur angelehnt zu finden. Er tritt ein; Rosa ist nicht da – das Bett ist unberührt – die Lade des Pultes, in dem sie ihre kleinen Reichtümer aufzubewahren pflegte, geöffnet, doch scheint nichts darin zu fehlen und der Schlüssel steckt. Heißenstein schließt die Lade, und zieht den Schlüssel ab. «Nachlässig und vergeßlich wie immer!» brummte er, dabei jedoch erfaßt ihn eine unerklärliche Angst.

Er eilte zu seiner Frau hinüber; sie saß am Klavier und gab ihrer Tochter Unterricht.

«Hast du Rosa schon gesehen?» fragte er, und bemühte sich, seinem Ausdruck den Anschein der Gleichgültigkeit zu geben.

«Heute noch nicht», antwortete Frau Nannette obenhin, ergrünte wie der Freiherr von Münchhausen, und wandte sich sofort wieder zu Regula, sie beschwörend, dis und es, trotz ihrer scheinbaren Ähnlichkeit, niemals zu verwechseln.

Heißenstein murmelte einen Fluch, und schritt hinaus. Er ist wohl verrückt, sich Gedanken zu machen. Wohin anders sollte Rosa gegangen sein als in die Kirche, die Frühmesse zu hören, zu beten um Ergebung, Sanftmut, Geduld, die ihr not tun, wahrlich! – Das ist’s. Wie kam er nicht gleich darauf? … Daß man doch immer die einfachste, natürlichste Erklärung zuletzt findet.

Jetzt wird sie wohl zurückgekehrt sein, und wenn auch nicht, er will sie erwarten in ihrem Zimmer, und sie ohne Härte empfangen. Er nimmt sich überhaupt vor, in Zukunft milder gegen sie zu sein. Ihr Vorwurf gestern, so ungerecht er war, hat ihm weh getan und fordert zum mindesten eine Widerlegung, eine Zurechtweisung.

Auf dem Gange rennt Bozena ihrem Herrn in den Weg; verstört – bleich wie der Tod.

«Fort!» keucht sie – «Das Kind ist fort!»

«Schweig, Närrin!» – ruft er ihr zu, «Rosa ist daheim – in ihrem Zimmer, muß daheim sein» – und zum zweitenmal tritt er in das Gemach.

Bozena weiß: es ist nicht – er irrt! Und dennoch weckt die Zuversicht, die ihr Herr zur Schau trägt, in ihr einen Schimmer von Hoffnung; er ist trügerisch; wie bald, und er erlischt. Sie stehen in dem Gemache des Kindes und finden es leer.

Von neuem jammert Bozena: «Sie ist fort!» Und den alten Mann überfällt plötzlich und mit Entsetzen die Gewißheit, daß er seine Tochter verloren hat.

Augenblicklich fordert seine Qual ein Opfer, an dem sie sich rächen kann. Schäumend, mit der blinden Wut eines Tieres dringt er auf Bozena ein und schmettert sie zu Boden. Sie fällt hin wie ein Baum, sie wehrt sich nicht.

«So hast du sie gehütet?» schreit er halb von Sinnen, und wiederholt ohne Aufhören: «So hast du sie gehütet?»

Sie zuckt nicht unter seiner ehernen Faust, sie erhebt sich nicht, sie fühlt nichts, sie weiß nichts zu sagen als: «So hab ich sie gehütet!»

Er faßt ihre gerungenen Hände und reißt sie empor auf ihre Knie.

«Sie mußte durch dein Zimmer – mußte sie nicht? … Und du liegst auf dem Ohr – und hörst nichts, siehst nichts – hast geschlafen wie ein Klotz! … Hast geschlafen, während sie davonging – du! du! Die sich ihre Pflegemutter nannte … Eine saubere Pflegemutter! Eine saubere Wärterin! Eine brave Magd!»

Bozena lag gebrochen und ohnmächtig vor ihm auf den Knien. Als er die Worte sprach: «Hast geschlafen …» hatten ihre Augen ihn mit der Scheu des Wahnsinns angeblickt, und sich dann gesenkt in verzweiflungsvoller Scham.

Ein klägliches Wimmern und Stöhnen entrang sich ihrer Brust. – Geschlafen? Das glaubte er? …

O der harte, rauhe Gebieter – der schonungslose Herr, vor dem alle zittern, den sie unbarmherzig nennen, der das geringste Versehen wie einen unverzeihlichen Fehler bestraft … Nicht mit dem leisesten Verdacht streift er ihre Schuld! Was sie getan hat, das traute er ihr nicht zu. Er klagt sie an, doch er verunehrt sie nicht, wie er’s sollte – wie sie es verdient, wie sie selbst sich verunehrt hat!

Was sie getan, er kann es nicht einmal im höchsten Zorn denken – sie ist schlechter, als ein Mensch denken kann! …

Sorglosigkeit wirft er ihr vor. Einen Schlaf, den sie nicht mehr hat – den Schlaf der Unschuld, der Ehrlichkeit und eines ruhigen Gewissens!

Weh über Bozena – sie hat sich selbst gerichtet – den Augenblick verschmerzt sie nie!

Angesichts ihrer maßlosen Verzweiflung gewann Heißenstein einige Fassung. Er öffnete Rosas Pult, er suchte nach einem Briefe, nach einem Abschiedswort, das sie vielleicht für ihn hinterlassen hatte. Er fand nur einen kleinen Zettel, den er vorhin übersehen, und darauf stand:

«Ich gehe zu ihm ohne einen Heller.»

Das war ihre Antwort auf des Vaters: «Glaubst du, er nähme dich ohne einen Heller?»

Er knitterte das Blatt zusammen und warf es zur Erde. Bozena stürzte sich darauf – und las – und raffte sich empor, riß den Schrank auf und durchsuchte ihn mit brennender Hast: «Nichts!» rief sie schmerzlich – «o du guter Gott – nichts fehlt als die Kleider, die sie auf dem Leibe trug und ihr leichtes Mäntelchen … So geht sie aus dem Vaterhause – so geht mein Kind, mein Leben, mein alles hinaus in die weite Welt!»

Heißenstein gebot ihr Schweigen. Er hat sich ermannt. Zwei Stunden später saß er im Postwagen und fuhr denselben Weg, den die Ulanen genommen.

«Wenn jemand nach mir fragen sollte», hatte er beim Abschied gesagt – «ich bin mit» – wie schwer brachte er den Namen über die Lippen! – «mit Rosa nach Wien gefahren. Das ist alles, was ihr wißt. Ihr versteht?»

«Ihr versteht», sagte er, aber er sah dabei nur seine Frau an. Der Verschwiegenheit seiner Magd war er gewiß.

Bozena Kapitel 23

An diesem Tage gönnte sich Bozena keinen Augenblick der Ruhe. Kein Raum, vom Keller bis zum Dachboden, in dem sie nicht nachsah mit kundigem Auge, nicht ordnete mit flinker und geschickter Hand. Sie scheuerte und fegte, verfolgte ihren verhaßtesten Feind: den Staub, bis in seine verborgensten Schlupfwinkel, und blickte des Abends zufrieden auf ihr vollendetes Werk.

Es war ihr letztes Vermächtnis an das Haus, dem sie durch achtzehn Jahre treu gedient.

Sodann begab sie sich ins Kontor, zu Mansuet. Er war allein, die jüngeren Herren hatten schon Feierabend gemacht.

«Was steht zu Diensten?» fragte der Kommis mit einer Gespreiztheit, die nach Würde aussehen sollte. Seit jenem Tanze beim «Grünen Baum» zeigte er sich etwas zurückhaltend gegen Bozena.

«Ich habe Sie bitten wollen», antwortete die Magd, ihm ein Päckchen reichend, das in Papier gewickelt und mit einem Wollfaden zugebunden war, «mir mein Sparkassenbuch aufzuheben.»

Er bemühte sich, sein Erstaunen zu verbergen, und sprach nachlässig: «Wie komme ich zu der Ehre? Ist Ihr Geld bei Ihnen nicht mehr sicher?»

«Seien Sie schon so gut und heben Sie mir’s halt auf», erwiderte sie und streckte ihm die Hand entgegen, in die er seine langen Finger zögernd legte.

«Ich danke Ihnen im voraus, Herr Mansuet. Ich danke Ihnen überhaupt für alles.»

Fort war sie. Hatte ihn verlassen, bevor er Zeit fand, sie zurückzuhalten und sich seine Bestürzung über den bewegten Ton ihrer Stimme recht zum Bewußtsein zu bringen. Und jetzt erst besann er sich, jetzt erst fiel es ihm mit banger Besorgnis auf das Herz, daß sie reisemäßig gekleidet war, ein Bündel trug und eine Geldtasche umgeschnallt hatte.

«Will auch die davongehen?» murmelte er mit schmerzlicher Ironie vor sich hin.

Da möchte er zuvor doch ein Wort mit ihr reden.

Er hatte ihre Stube niemals betreten, jetzt begab er sich dahin. Auf sein Pochen erfolgte keine Antwort, dennoch trat er ein. Inmitten des Zimmers stand ein gepackter Koffer; auf den Deckel hatte eine ungeübte Hand den Namen «Bozena Ducha» mit weißer Ölfarbe gepinselt.

Der Kommis stellte sich davor hin und betrachtete ihn mit wehmütigen Blicken.

«Sie geht ihrem Kinde nach. Hat recht – ich versteh’s», – dachte Weberlein. «Und mich freut’s, daß sie’s über das Herz bringt sich loszumachen von dem Hund, dem Bernhard. Mich freut’s sehr.» Und eine heiße Träne stieg ihm ins Auge.

Er sah sich um in der hochgewölbten, weißgetünchten Stube, in der alles Reinlichkeit atmete. Hier also hat sie existiert, die Bozena. Da steht ihr gewaltiges Bett mit seiner schneeigen Decke, daneben die buntbemalte Truhe, die ihr Eigentum war, die sie mitgebracht hatte aus dem heimatlichen Dorfe. Im Fenster ihr Arbeitstisch, auf dem Gesimse der Rosmarinstock, den sie aus einem kleinen Zweige gezogen; über der Tür das geschnitzte Christusbild, auf dessen Haupt sie über die Dornenkrone ein Blumenkränzlein gelegt hat. Oh – die Bozena! – Wenn sie das einem Menschen getan hätte statt einem Gotte … Wenn sie einem Menschen die Dornen des Lebens in Blumen verwandelt hätte … Einen Gott hätte der sich gefühlt.

Mansuet läßt sich auf einen Schemel nieder, stützt den Ellbogen auf den Koffer und den Kopf auf seine Hand und träumt, so wach er ist – so alt er ist!

Wie die Sachen stehen, hätte ihn die Bozena wohl schwerlich genommen. Er ist zu klein für sie, sie ist zu groß für ihn. Wenn er aber länger geraten wäre um einen halben Schuh, oder – einen ganzen –, wenn er überdies schön geworden wäre – und das hätte ja ohne Wunder der Fall sein können, es sind so viele Leute schön! Dann … Wer weiß, was dann geschehen wäre?

Seinen eigentlichen Beruf würde er gewiß ergriffen haben – Soldat wäre er geworden, und ein Reiterstückchen wie jenes, das Fehse, der Sapperlotter, heute nachts ausgeführt, – das hätt er auch getroffen, er traut sich’s zu!

Nur, daß er sich nicht, so lieblich es auch ist, das Fräulein Augentrost mitgenommen hätte … Er weiß eine andre – die hätte er zu seiner Herrin gemacht, der seine Lorbeeren zu Füßen gelegt, die auf starken Armen durch das Leben getragen … An deren Herzen würde er jetzt ruhen, ein seliger Mann!

So schwärmt der kleine Mansuet von Liebe, Ruhm und Wonne und kauert neben Bozenas Habseligkeiten, wie ein armer Köter neben den zurückgelassenen Gewändern seines Herrn.

*

Der schöne Bernhard saß in seiner Stube und war mit der Abfassung eines Briefes beschäftigt, der ihm viel Mühe machte. Er legte die Feder weg, ergriff sie wieder, er schien zu warten, daß sie sich von selbst in Bewegung setze und das Schreiben beende, das an eine angebetete Wilhelmine gerichtet war und von Liebe, von einem feindlichen Geschicke, von Selbstverleugnung und Vertrauen sprach.

Aber die Feder, deren gequälter Bart sich schon jämmerlich sträubte, wollte ihm den Gefallen nicht tun. Sie benahm sich im Gegenteil so widerspenstig, daß er sich bequemen mußte, sie neu zu schneiden. Von dieser Beschäftigung weg warf er wohlgefällige Blicke im Zimmer umher. Es war mit allerlei Kram überladen und hingen nicht die zwei Gewehre, der Hirschfänger und die Saunadel an der Wand, man könnte glauben, anstatt im Zimmer eines jungen Jägers in dem einer alten Kammerjungfer zu sein. Dazu fehlen weder die Gitarre an blauem Bande, noch die Schattenrisse und Neujahrsbildchen in goldpapiernen Rähmchen, noch so mancher andre geschmacklose Tand aus Wachs und Porzellan.

Die Feder war geschnitten, und so gut oder übel, als es ging, wurde der Brief fortgesetzt. Ein elastischer und energischer Schritt, der sich auf der Treppe vernehmen ließ, störte den Jäger auf das angenehmste in seiner verdrießlichen Tätigkeit. Rasch warf er den angefangenen Brief in die Tischlade, sprang auf und begrüßte das hochgewachsene Weib, das jetzt über die Schwelle trat, mit den jubelnden Worten: «Das hätt ich mir nicht getraut zu hoffen, daß du heut wieder kommst!»

«Freu dich nicht», antwortete Bozena, und er erschrak über das düstere Feuer, das aus ihren Augen leuchtete und über die Abscheu verratende Bewegung, mit der sie ihn von sich wies.

Zwei Schritte und sie stand am Tische, legte ein seidenes Tuch, ein Gebetbuch und einen Ring darauf und sagte: «Ich komm nur, dir die Sachen zurückzubringen, die du mir geschenkt hast. Es ist aus zwischen uns. Ich geh.»

«Was ist der durch den Kopf gefahren?» dachte Bernhard, nahm eine gleichgültige Miene an und fragte: «Du gehst? – und warum? – und wohin?»

Sie zuckte schweigend die Achseln; er ertrug den eiskalten Blick nicht, den sie auf ihm ruhen ließ, und wendete sich ab.

Ärger und Verdruß erfüllten ihn. Sie ist ihm hinter irgendeine Liebelei gekommen, gewiß; deshalb zürnt sie und droht, ihn zu verlassen. Daß sie es wirklich tun könnte, das fällt ihm nicht im Traum ein.

Eher löscht die Sonne aus als ihre Liebe zu ihm, eher verliert er den Glauben an sich selbst als den an ihre Treue.

Nur Vorsicht jetzt, nur unbefangen bleiben! – Am besten ist, er fängt sie in ihrem eigenen Netz.

«Warte!» ruft er ihr zu «so kommst du mir nicht fort. Wer bringt, muß nehmen. Nimm auch du alles zurück, was du mir geschenkt hast.»

Er trat an seine Schublade und wollte sie öffnen, da erinnerte er sich des Briefes an die «angebetete Wilhelmine», der darin lag und dessen in großen Lettern prangende Aufschrift dem scharfen Auge Bozenas schwerlich entgangen wäre. Er errötete und ließ den schon ausgestreckten Arm sinken.

«Behalt’s», sagte sie, «ich werde keinen Liebsten mehr haben, dem ich es schenken könnt!»

Wie seltsam hart klang ihre Stimme, welche Entschlossenheit sprach aus ihrem Ton und welche wehmütige Trauer aus ihrem Gesicht, aus ihrer Haltung und ihrem ganzen Wesen! Kann man zugleich so stark sein und so weich, die Seele eines Helden besitzen und das Herz eines Weibes?

Den Schwachen, der geherrscht hatte über so viel Kraft, erfaßte zum erstenmal ein Bangen, daß diese sich gegen ihn erheben könnte.

Und als er Bozena stumm und gelassen dem Ausgange zuschreiten sah, rief er ihr zu: «Bleib! … Was hast du nur? … Was hab ich dir denn getan?»

«Nichts», erwiderte sie. «Laß mich, ich hab Eile.»

«Du bleibst! – Ich will’s – – ich bitte dich!»

Er folgte ihr, umschlang sie und drückte sie heftig an sich.

Er sah, wie sie erbebte und unsäglich litt, aber die Zärtlichkeit der Selbstsüchtigen ist der Grausamkeit verwandt. Stumpf gegen Bozenas widerstrebende Empfindung, drückte er Kuß um Kuß auf ihre Lippen und flüsterte: «Ich hab dich lieb … Bleib bei mir, Bozena! … Warum willst du nicht?»

Sie entrang sich seiner Umarmung; ihre Wangen flammten und ihr Atem flog.

«Verstehst nicht?» sagte sie: «Es ist aus. Ich bin jetzt von dir los und für immer, denn ich hab die Stunde verflucht, wo ich zum ersten- und letztenmal durch dich glücklich war.»

«Verflucht?!»

Durch Mark und Bein drang ihm dieses Wort, es verletzte ihn in seiner Manneseitelkeit; er stieß einen Schrei echten Schmerzes aus, und als sie den vernahm, da wußte sie, daß ihr Herz doch nicht so ganz für ihn gestorben war. Eine sanfte Regung erwachte in ihr, ein bleicher Schimmer ihres einstigen Gefühls. Und so sehr sie’s drängt: nur fort! nur fort – hinweg! – stumm, wie sie gewollt, kann sie doch nicht von ihm gehen.

Sie faßte ihn beim Arme und indem sie den Nacken niederbeugte, um ihm in das trotzig gesenkte Angesicht zu sehen, sprach sie gedämpft und rasch: «Du hast mich gehabt mit jedem Gedanken in meinem Hirn und mit jedem Hauch in meiner Brust. Und was hast du aus mir gemacht? … Weniger wert bin ich worden durch dich – an Lug und Trug hast du mich gewöhnt und meine Schuldigkeit hab ich um dich versäumt … Schweig!» gebot sie, als er sie unterbrechen wollte – «Ich werf dir nichts vor, dir nichts – alles, alles nur mir! Du kannst vielleicht nicht anders … Ich aber hätte anders gekonnt, und ich hab zehnfach gefrevelt, denn ich hab gefrevelt gegen meine Natur. Das geht so eine Weil‘ – man ist ja wie betrunken – aber die Stunde kommt, wo man erwacht … Mir ist sie gekommen – fürchterlich – und darum muß ich jetzt fort: und – darum, Bernhard, sag ich dir jetzt Lebewohl.»

Und wieder wandte sie sich, und wieder stürzte er ihr in den Weg. Alles in ihm, seine Leidenschaft, seine Eitelkeit, sein Trotz empörten sich gegen die Trennung von ihr.

«Ich laß dich nicht!» schrie er. «Ich rufe das ganze Haus zusammen, laufe hinüber zu deinen Herrenleuten und sage ihnen, daß du entfliehen willst!»

«Das tust du nicht», sagte sie und war wieder völlig ruhig und gefaßt. Mit ausgebreiteten Armen stellte sie sich vor die Tür.

«Ich binde und kneble dich, wenn du mir drohst, bei meiner armen Seele: ich tu’s. – Werd ich fertig mit dir oder nicht, wenn ich will! – was meinst? Willst du die Schande erleben, daß sie dich morgen so finden und hören, daß dich ein Weib gebunden hat?»

Zornig und beschämt trat Bernhard zurück. Nein, mit Gewalt war gegen Bozena nichts auszurichten und doch: verlieren konnte er sie nicht! Zu köstlich war ihr Besitz. Ist sie nur durch Güte und Demut wiederzugewinnen – wohlan, er übt Güte und Demut!

Er warf sich vor ihr nieder, er küßte weinend den Saum ihres Kleides und flehte mit gerungenen Händen: «Bleib bei mir, Bozena!»

Aber die Stimme, der sie sonst gefolgt wäre, und hätte sie aus dem Abgrund der Hölle nach ihr gerufen, hatte ihren alten Zauber eingebüßt. Noch bewegte, noch erschütterte ihr Klagen das Herz Bozenas, doch brach es ihren Willen nicht mehr. Sie hatte auf den Schrei der Sehnsucht ihres Geliebten keine Antwort, als ein schmerzliches «Leb wohl!»

Da sah er zum letztenmal zu ihr empor – angstvoll – fragend – erwartungsvoll – – und begriff endlich, daß alles vorüber war.

Er sprang auf; keuchend und stöhnend stürzte er sich auf sein Bett und wühlte seinen Kopf in die Kissen. Bozena warf einen letzten Blick auf ihn und verließ das Gemach.

*

In menschenfeindlichster Stimmung war Herr Heißenstein nach drei Tagen von seiner Fahrt zurückgekehrt. Als Frau Nannette ihm die Entweichung Bozenas mitteilte, äußerte er nicht das geringste Befremden. Er war und blieb schweigsam und undurchdringlich. Nannette mußte die raffiniertesten Künste, auf welche neugierige Frauen sich verstehen, anwenden, um ihm nur eine dürftige Kunde seiner Erlebnisse zu entlocken. Alles, was sie schließlich erfuhr, bestand darin, daß Rosa anständig untergebracht und das Regiment Fehses weiter marschiert sei nach Ungarn.

«Er wird sie jetzt heiraten müssen, es bleibt nichts andres übrig –» sagte Nannette und warf einen lauernden Blick auf ihren Mann.

Dieser war damit beschäftigt, Schriften zu ordnen, die er einem eisernen, in die Wand eingelassenen Schrank entnommen, der zur Aufbewahrung von Wert- und Familienpapieren diente. Aus einer großen Anzahl vergilbter Blätter hatte er den Trauschein seiner ersten Frau und den Taufschein Rosas hervorgesucht und sie auf dem Schreibtische ausgebreitet. Nannette bot sich an, den Rest «in das Archiv», wie sie großartig sagte, zurückzutragen, aber der undankbare Gatte belohnte ihren guten Willen nur durch ein mürrisches: «Laß gut sein!»

Er holte aus dem Schranke ein dünnes Päckchen, auf dessen Umschlag geschrieben stand: «Meiner Tochter Rosa mütterliches Erbe», und begab sich damit zum Schreibtisch zurück. Frau Nannette schlich ihm nach auf Schritt und Tritt, sie gab sich die erdenklichste Mühe, eine sanfte Duldermiene anzunehmen, und wiederholte mit einem tiefen Seufzer, durch den trotz aller Anstrengung, ihn zu unterdrücken, ein Laut des Jubels und Triumphes sich Luft machte: «Er wird sie jetzt heiraten müssen, es bleibt ihm nichts andres übrig.»

Abfertigend, ohne sie anzusehen, erwiderte Heißenstein: «Natürlich.»

Dieses beunruhigte sie. Soll zuletzt noch alles glücklich enden für die ungeratene Tochter? Nannettens Angst vor einem solchen Ausgange überwand einen Augenblick ihre Furcht vor ihrem Manne.

Mit grimmiger und etwas spöttischer Freundlichkeit sagte sie – und dabei zitterte in ihrem linken Mundwinkel ein Nerv wie ein frierendes Küchlein im Neste: «Du verzeihst wohl? … Du gibst wohl deinen Segen?»

Er fuhr auf. «Ich?!» donnerte er sie an und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Zimmer dröhnte und daß Frau Nannette einer Ohnmacht nahe war.

O Himmel! … So wie jetzt hatte er ausgesehen in jenem unvergeßlichen Zornesausbruch, in dem er das zarte Pflänzchen ihres Mutes so unbarmherzig knickte, daß es seitdem nur noch kränkliche Schößlinge trieb …

Nannette empfand plötzlich eine ganz merkwürdige Schwäche in den Knien und glaubte wahrhaftig, sie werde umsinken. Das aber geschah nicht, denn ihr Mann äußerte den Wunsch, allein zu bleiben, durch ein bündiges: «Hinaus!» Und sie trat sofort den Rückzug an, der nichts an Eile, und manches an Hoheit zu wünschen übrigließ.

In der nächsten Zeit hatte Heißenstein häufig Unterredungen mit seinem Rechtsfreunde, Herrn Doktor Paul Wenzel. Stundenlang und bei verschlossenen Türen wurde da verhandelt; und durch niemand, nicht einmal durch die besorgte Hausfrau und unter keinerlei Vorwand, ob er nun in Gestalt eines kleinen Imbisses, eines eben angelangten Briefes oder einer dringenden Nachfrage erschien, durften die Herren in ihrer Arbeit unterbrochen werden.

Da besann sich Nannette plötzlich, daß die Frau des Advokaten eine Jugendbekannte von ihr sei, daß sie einstens «intim liiert» mit ihr gewesen war, und sie empfand die nagendsten Gewissensbisse, die alte Freundin so lange vernachlässigt zu haben. So setzte sie denn eines schönen Nachmittags ihre Herbstkapotte mit den schottischen Bändern auf, – ein Geschenk, das ihre einstigen Zöglinge ihr kürzlich aus Wien zugesendet hatten, eine echte Lannoy! – hüllte sich in ihren schwarzen Seidenmantel und wurde, eine Viertelstunde später, bei der Gattin des Advokaten angemeldet.

Die gute Frau empfing sie in ihrem unbehaglichen und unbewohnten Salon mit allen Zeichen der Ehrfurcht und mit einer Verlegenheit, die zu verbergen sie nicht einmal versuchte, so gut wußte sie, daß es vergeblich sein würde. Sie bezeigte eine überschwengliche, mit einem gewissen Entsetzen vermischte Freude über den unerwarteten Besuch. Sie entschuldigte sich, daß Frau «von» Heißenstein sie im Hauskleide treffe – aber eine Familienmutter – du guter Gott, muß überall zugreifen … Sie entschuldigte sich, daß sie nicht ihr Leben damit zubringe, auf den Besuch Frau «von» Heißensteins zu warten, sie entschuldigte sich, daß sie Kinder habe und daß es heute nachts geregnet. Sie dankte endlich im stillen Gott, als ihr Mann eintrat und sie von dem mühevollen Geschäft erlöste, ganz allein mit der gebildetsten Frau der Stadt ein Gespräch führen zu müssen, bei welchem diese allerdings nicht zu Worte kommen konnte.

Der Advokat war ein schöner Greis mit fein modelliertem Kopfe, blassem Gesichte und vornehmer Haltung. Seine Mitbürger schätzten ihn hoch und die «Herrschaften» auf den umliegenden Gütern sahen ihn als ein Orakel an. «Was hat der Wenzel gesagt?» – «Man muß den Wenzel fragen», sprachen die feudalen Herren, sooft die Weisheit ihrer Verwalter nicht ausreichte, um irgendeinen Konflikt zwischen dem herrschaftlichen Amte und den Untertanen zu lösen.

In seinem Berufe war Wenzel ein Cato, im geselligen Verkehr jedoch und an seinem eigenen Herde liebenswürdig und galant, wie ein Abbé des achtzehnten Jahrhunderts. Weich hatte das Leben ihn gefaßt, er empfand es dankbar und machte auch andern das Leben so leicht als er konnte.

Seine viel jüngere Frau verehrte in ihm einen Halbgott, und den Nimbus eines solchen hatte sie verstanden, ihm an seinem schlichten bürgerlichen Herde zu wahren. Die liebevolle Bewunderung eines demütigen Weibes ist erfinderisch, ihr Gegenstand wandelte in einem Gemüsegarten – unter Palmen.

Bedächtig, als fürchte er durch eine rasche Bewegung die Weihrauchwolke zu zerstreuen, die ihn umfloß, kam Wenzel auf Frau Heißenstein zugeschritten, die sich erhob und «dem lieben, verehrten Freunde» voll Rührung ihr kleines rundes Händchen, das die Gestalt eines Lindenblattes hatte, entgegenstreckte.

«Ich weiß, was Sie hierherführt, gnädige Frau», sagte der Advokat, indem er sie mit bescheidener Verbindlichkeit nötigte, ihren Platz in der Sofaecke wieder einzunehmen. «Ihr edles Herz ist beängstigt durch die harten Maßregeln, die Ihr Herr Gemahl gestern gegen seine unglückliche Tochter ergriffen hat.»

«So ist es!» rief Frau Heißenstein und führte ihr Taschentuch an ihre trockenen Augen. «Sie verstehen mich, verehrter Freund. Raten Sie, helfen Sie. Ich selbst bin machtlos. Mein vortrefflicher, angebeteter Mann gestattet mir auch nicht ein Wort der Entschuldigung für das irregeleitete Kind zu sprechen.»

Der Advokat bedauerte sie sehr, versetzte sich ganz in ihre traurige Lage, und seine Frau vergoß teilnehmende Tränen.

«Dieser gestrige Schritt», nahm Nannette wieder das Wort, «diese … dieses. .. ich will sagen, dieser – Schritt –»

Was hätte sie darum gegeben, fragen zu dürfen, was für ein Schritt das war? Aber so viel will sie sich nicht vergeben. Daß sie keinen Einfluß auf ihren Mann hat, gesteht sie ein; daß sie sein Vertrauen nicht besitzt – nimmermehr. Und Wenzel hilft ihr nicht. Er schüttelt nur den Kopf und wiederholt: «Er ist zu hart, Ihr Herr Gemahl, zu hart.»

Nannette beschwört ihn, sein möglichstes zu tun, um ihren, durch seine unbegreifliche Tochter so schwer gekränkten Gatten zur Milde zu stimmen, und rüstet sich zum Aufbruche. Sie bittet, Nachsicht mit ihr zu haben, sie ist nur gekommen, um sich auszusprechen, sie hofft, der Advokat und seine teuere Frau werden ihr verzeihen, daß sie es so unumwunden getan; eine Mißdeutung besorgt sie «von solchen Seelen» nicht. Sie bedauert ihren über alles geliebten Mann, ihn zu tadeln erkühnt sie sich nicht. Sie geht, von dem Ehepaare bis zur Treppe geleitet.

«Wie gut und lieb sie ist!» sagt die Doktorin.

«Eine kluge Frau!» sagte lächelnd der Doktor.

Obwohl Nannette den Zweck ihres Besuches nicht vollkommen erreicht hatte, und die Maßregeln, die Heißenstein gegen seine Tochter ergriffen, ihr nach wie vor ein Geheimnis blieben, war sie doch mit dem erreichten Resultat recht zufrieden. Sie hatte erfahren, daß ihr Mann unversöhnlich ist, und sie hatte eine einflußreiche und hochachtbare Persönlichkeit überzeugt, daß die Stiefmutter keine Schuld daran trägt.

Am Abend brachte der Postbote einige Briefe für Herrn Heißenstein, die Nannette übernahm. Darunter befand sich einer von Rosa. Diesen behielt sie zurück – aus Vorsicht. Er konnte auf den Gemütszustand ihres Mannes schädlich wirken. Sie fühlte die Verpflichtung, sich mit seinem Inhalt bekannt zu machen. Der Brief war mit dem Herzblut des Kindes geschrieben und manche Träne war auf ihn gefallen. Nannette ist so ergriffen und erschüttert, findet das leidenschaftliche Einstürmen auf den beleidigten Vater so unpassend, daß sie nicht daran denkt, den Brief abzugeben, ja – ihn verbrennt.

Bozena Kapitel 24

Der Groll Heißensteins gegen seine Tochter wurde durch die Zeit nicht vermindert, eher sogar erhöht. Er hatte Rosa nicht aufgegeben und aus seinem Herzen gestrichen, nein, sie beschäftigte ihn immer, er führte in Gedanken fortwährend Krieg mit ihr. Mit der vom Verstande nicht mehr streng gezügelten Phantasie des Greises malte er sich ihr Vergehen in den dunkelsten Farben aus und verwünschte sie, der Schmerzen wegen, die sie nicht aufhörte ihm zu bereiten. An der Ansicht, die er sich einmal von der Sache gebildet hatte, hielt er hartnäckig fest. – Rosa trug Schuld am Untergange des Hauses, sie hatte Schande auf seinen Namen und auf sein graues Haupt gehäuft, er durfte ihr niemals vergeben – auch wenn er so schwach wäre, es tun zu wollen.

«Ihre Schuld kann niemals gut gemacht, und demnach auch nie vergeben werden», war der Sinn der Antwort, die er Mansuet zurief, sooft dieser ein gutes Wort für seinen Liebling einlegte. Damit war in den Augen des alten Herrn jede weitere Verhandlung abgeschnitten. Gegen dieses Argument, dessen schlagende Wirkung ihn, sooft er es aussprach, mit der Gewalt einer eben erst entdeckten Wahrheit ergriff, gab es keine Einwendung.

Mansuet beobachtete mit tiefem Bedauern die sichtliche Veränderung, die mit seinem Herrn vorging, und sagte zu Schimmelreiter, dem zweiten Kommis: «Der Prinzipal ist wie ein Herbsttag, nimmt ab an beiden Enden.»

Schimmelreiter besaß ein schwaches Begriffsvermögen, aber ein starkes Streben, die hohen und witzigen Gedanken des gescheiten Weberleins nachzudenken.

«An beiden Enden?» wiederholte er; «das heißt, von unten und von oben?»

Mansuet sprach etwas wegwerfend: «Das heißt: physisch und moralisch.»

«Sehen Sie, sehen Sie», rief Schimmelreiter, «so hab ich’s aufgefaßt!»

Fast noch weher, als Heißensteins ohnmächtiger Trübsinn, tat Mansuet Frau Nannettens kaum noch verhüllter Triumph. Sie sah jetzt mit Ruhe der Zukunft entgegen; die Gefahr, daß ihre Stieftochter jemals wieder in ihre Kindsrechte eingesetzt werden könnte, schien so gut wie überwunden. Rosas Flucht wurde für Nannette ein Abschnitt in der Zeitrechnung, nicht mehr noch weniger. Sie sagte: «Das war vor oder nach unserm Familienunglück», wie die Mohammedaner sagen: «vor oder nach der Hedschra» .

Etwa anderthalb Jahre, nachdem Rosa und Bozena das alte Haus verlassen hatten, in der Lichtmeßwoche, erhielt Mansuet einen Brief von seiner Freundin, aus einem Dorfe in der Nähe von Arad. Sie schrieb, daß Rosa ein zartes Mädchen zur Welt gebracht, das in der Taufe die Namen Leopoldine Rosa erhalten, das sein Vater jedoch nie anders als Röschen nenne. Der Herr Oberleutnant sei herzensgut, die junge Frau liebe ihn auch, wie sich’s gehört und wie er’s verdient. «Aber», hieß es in Bozenas Schreiben, «sie hat sich gar verändert, und wenn der Herr Heißenstein nicht doch zuletzt ein Einsehen hat und ihr verzeiht, so drückt es ihr das Herz ab und es nimmt wahrhaftig und Gott kein gutes End‘ mit ihr.»

Dieser Brief enthielt einen Einschluß von Rosas Hand, und in dem lag ein Zettelchen. Die junge Frau bat den lieben, getreuen Herrn Weberlein – den auch ihr Mann unbekannterweise herzlich grüßen ließ – auf das innigste, dasselbe in einer guten Stunde ihrem Vater zu übergeben.

Mansuet wartete einen Tag, zwei Tage. Das dünne Blättchen brannte wie Feuer auf seiner Brust. Er verbiß den Schmerz und benahm sich gegen seinen Prinzipal wie ein Liebhaber, der eine zürnende Schöne um jeden Preis in eine bessere Laune zu versetzen wünscht. Er hätte sich auf seine Knie vor ihm niederwerfen mögen – seine Stimme bebte, wenn er das Wort an seinen mürrischen Chef richtete, ein Wink von diesem verlieh dem kleinen Kommis Flügel. Von seinen Gefühlen überwältigt, erfaßte er plötzlich Heißensteins Hand, küßte sie und preßte sie dann mit einer Gebärde voll unwillkürlicher Komik an seine Brust.

Heißenstein konnte sich eines Lächelns nicht erwehren und fragte: «Was haben Sie denn?»

«Einen Brief!» platzte Mansuet heraus, «einen Brief von unserer Rosa!» wiederholte er, fast weinend – und hielt seinem Herrn das Zettelchen hin.

Heißenstein war bleich geworden bis an die Lippen, vergeblich rang er nach Worten; röchelnd, als läge eine Faust an seiner Gurgel und würge ihn, trat er auf Mansuet zu, riß das Papier aus seinen zitternden Fingern und warf es vor seinen Augen in das Feuer.

Minuten vergingen, bis der völlig außer Fassung geratene Mann zu sprechen vermochte, und dann brachte er mit wuterstickter Stimme die Drohung hervor: «Wagen Sie’s noch einmal, sich zum Boten jener – Frau zu machen, und mit Schimpf und Schande jag ich Sie aus dem Hause!»

Mansuet sah ihn mit einem sonderbaren Blicke an, und nach einer Pause, in welcher er ruhig zu überlegen schien, sagte er: «Gut.»

Ein Jahr danach um dieselbe Zeit erschien wieder ein Brief Bozenas und enthielt abermals einen Einschluß Rosas. Bozena hatte sich dieses Mal sehr kurz gefaßt; ihre Zeilen enthielten nur einen Gruß an Herrn Weberlein und die dringende Bitte, ihr mit umgehender Post einen Teil ihrer Ersparnisse zuzusenden. Mansuet besorgte diesen Auftrag sofort, obwohl die Ausführung desselben mehrere Morgenstunden in Anspruch nahm. Herr Heißenstein hatte voll Ungeduld soeben zum zehnten Mal nach ihm gefragt, als er endlich eintrat, ganz erhitzt, den Hut und den Oberrock mit Schnee bedeckt.

«Wo waren Sie?» herrschte sein Chef ihn an, «was fällt Ihnen ein, davonzulaufen um die Mittagszeit, vor Expedition der Post?»

Mansuet begab sich schweigend in seinen Glasverschlag, warf dort einige Zeilen auf einen Stempelbogen, den er mitgebracht hatte, trat dann zu Herrn Heißenstein, breitete das Blatt vor ihm auf dem Tische aus und sprach: «Hier meine schriftliche Kündigung. Will Sie nicht in die Notwendigkeit versetzen, mich mit Schimpf und Schande aus dem Hause zu jagen. Und hier» – er legte einen Brief auf den Stempelbogen – «ein heut morgens eingelangtes, an meinen Herrn Prinzipal durch mich zu übermittelndes Schreiben.»

Heißenstein sah abwechselnd den Kommis und das zusammengefaltete Blatt an, auf dem er die Schrift seiner Tochter erkannt hatte. Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es ihn, doch behielt er Ruhe genug, um erwidern zu können. «Ich verweigere die von Ihnen erbetene Entlassung. Sie befinden sich in meinem Dienste und haben zu gehorchen.»

Er stand auf und wies dem Kommis seinen Platz an: «Setzen Sie sich! … Setzen Sie sich! …» wiederholte er, und Mansuet folgte seinem Befehle. «Schreiben Sie!» Mansuet nahm eine Feder zur Hand – «Schreiben Sie: Der Unterzeichnete verbittet sich in Zukunft jede weitere Belästigung …»

Mansuet bebte am ganzen Körper, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, aber er schrieb, und Heißenstein fuhr fort zu diktieren: «Belästigung – durch Übersendung von Zuschriften, die an ihren Adressaten zu befördern ihm die Pflicht verbietet. Mansuet Weberlein, Kommis.»

«Mansuet?» rief dieser und sprang auf – «Ich soll das unterschreiben? – Eine haarsträubende Lüge?!»

Er faßte sich mit beiden Händen an den Kopf; sein Gesicht war kreideweiß.

«Mit Wonne und Entzücken», schrie er so laut, daß jedes seiner Worte deutlich vernommen werden konnte in der nebenanliegenden Stube, in welcher Herr Schimmelreiter arbeitete – «mit Wonne und Entzücken erfüllt mich jeder Beweis der Erinnerung und des Vertrauens, den ich von ihr erhalte, von der armen Rosa. Das ist die Wahrheit – die schreib ich – wenn Sie’s erlauben», setzte er leiser hinzu, «sonst – auch das nicht; denn das zu verbieten haben Sie ein Recht. Nämlich heute noch. Da liegt meine Kündigung.» Er deutete auf die Schrift und stürzte wie ein Rasender hinaus und in sein Zimmer, wo er eifrig seinen Kleiderschrank auszuräumen begann.

Eine Stunde lang herrschte im Kontor so tiefe Stille, daß Schimmelreiter angst und bange wurde. «Was tut der alte Herr? – Ist er eingeschlafen? – Ist er ohnmächtig geworden?» Schimmelreiter hätte gern nachgesehen, doch fehlte ihm der Mut dazu. Endlich hörte er seinen Namen rufen und stand im nächsten Augenblicke vor seinem Chef.

Dieser hatte gerötete Augen und sah merkwürdig alt und kummervoll aus. Er reichte dem Kommis ein Bögelchen Papier und ersuchte ihn, darauf zu schreiben:

Wird retourniert

Im Auftrage meines Prinzipals.
Schimmelreiter.

Heißenstein faltete und kuvertierte das Blatt selbst über Rosas unerbrochenen Brief und sprach: «Die Adresse nun!»

Schimmelreiter setzte die Feder an und wartete. «Wird’s?» rief jener, «worauf warten Sie?»

«Auf die Angabe der Adresse», erwiderte kleinlaut der Kommis.

«– Ja – so. Frau von Fehse – k. k. Oberleutnants-Gattin, zu Sega bei Arad in Ungarn, Haben Sie’s?»

«Zu dienen.»

Heißenstein erhob sich: «Auf die Post damit und sogleich!»

Aber der Befehl reute ihn, sobald er gegeben war. Mit einem mißtrauischen Blick nahm er seinem Untergebenen den Brief aus der Hand und steckte ihn zu sich: «Lassen Sie’s», sprach er, «ich gehe ohnehin aus – komme wohl an der Post vorbei …»

Schimmelreiter brachte Hut und Oberrock und blickte seinem Herrn nach, der langsam und gebeugt im Schneegestöber über den Platz schritt.

«Dahin seine stolze Haltung … Was ist aus dem Manne geworden?» dachte er.

*

Als sich Mansuet nachmittags nach dem Kontor begab, um seine Filzschuhe zu holen, die er dort stehengelassen hatte, und einige ihm gehörende Kostbarkeiten aus seiner Lade zu sich zu nehmen: ein Federmesser, das Bozena ihm einst verehrt – ein Beutelchen, das Rosa für ihn gestrickt – endlich auch den neuesten Militärschematismus – sah er seine Kündigung auf seinem Pulte liegen.

Auf dem unteren Rande des Schriftstücks standen, ganz klein und verschämt, von Heißensteins Hand geschrieben, die Worte: «Kann nicht angenommen werden. Bitte vielmehr den getreuesten Diener, geduldig in Gutem und Üblem bei mir auszuharren. H.»

Mansuet brach in ein krampfhaftes Weinen aus und schluchzte: «Mir verzeiht er, mir altem Esel! – Seinem armen Kinde nicht! … O Menschenherz!»

Der nächste Brief, den Mansuet von Bozena erhielt, brachte keinen Einschluß mehr von Rosa. Die junge Frau war krank. Sie hatte vor der Zeit ein Knäblein geboren, das nur wenige Stunden lebte, und konnte sich seitdem nicht recht erholen. Bozena ließ sich zu keinem Worte der Klage herbei, sie zeigte dem alten Gönner das letzte Ereignis in der kleinen Familie an und bat ihn, ihr auch den Rest ihrer Ersparnisse zuzusenden.

Bozena Kapitel 25

Der Sommer des Jahres 1847 kam heran. Im Hause Heißensteins wurde ein schönes Fest: der sechzehnte Geburtstag Regulas, feierlich begangen. «Die ganze Stadt» nahm daran teil, mit alleiniger Ausnahme des Kommis Weberlein, der, von heftigen Kopfschmerzen ergriffen, sich im Augenblicke, wo er zur Tafel gerufen wurde, zu Bett legte. So mancher schöne Toast ward ausgebracht, auf das edle Elternpaar der Gefeierten und auf die Gefeierte selbst. Den schönsten jedoch sprach Advokat Wenzel, der Regula als «die junge Hoffnung des alten Hauses» und ihre Eltern als «den Stolz der Stadt» so hoch und lange, als es auf Erden nur denkbar möglich, leben ließ.

Man ging spät und äußerst erhoben und gerührt, in später Nachtstunde, nämlich um zehn Uhr, auseinander.

Am folgenden Tag trat Heißenstein eine Reise nach Wien an, und kehrte von dort nach dem Verlaufe einer Woche in ganz ungewöhnlich munterer Stimmung und in Begleitung Joseph Frohburgs zurück.

Frau Nannette empfing den jungen Mann, als er nach sorgfältig gemachter Toilette im Gesellschaftszimmer erschien, wo die Familie ihn erwartete, mit jener aus Haß und Liebe, Neid und Wohlwollen gemischten Empfindung, die überzärtliche Mütter dem zukünftigen Schwiegersohn entgegenbringen.

Der also wird in den Besitz ihres teuersten Gutes treten, für den hat sie das vorzüglichste der Geschöpfe geboren und erzogen!

Die gescheite Frau war zum erstenmal in ihrem Leben um eine Ansprache verlegen, als Joseph Frohburg sich tief und ehrfurchtsvoll vor ihr verbeugte, und Heißenstein gewann Zeit, die Vorstellung und Bewillkommnung auf das schlichteste zu besorgen, indem er sprach: «Das hier ist meine Frau, und das dort ist meine Tochter. Laß dir’s bei uns gefallen, mein Junge.»

Gefallen!

Joseph hatte den Blick zu Regula erhoben und sogleich wieder gesenkt. Der erste Eindruck, den sie auf ihn hervorbrachte, war ein ungünstiger, Nannette konnte sich das nicht verhehlen; aber sie tröstete sich mit der Hoffnung, ihr Geist werde ihn bezwingen.

«Zum Abendessen!» rief Heißenstein; «ich habe wahrhaftig Appetit!»

Man begab sich in das Speisezimmer, und Joseph erhielt seinen Platz neben Regula.

Nannette selbst, die ihrer Tochter doch alles mögliche Gute zutraute, war erstaunt über die feine Weise, mit der sie auf den Ideengang des Gastes einzugehen und dabei ihr Licht auf den Scheffel zu stellen verstand.

Er sprach von Nestroys letzter Posse. Sie wußte in seinen Bemerkungen darüber Anknüpfungspunkte zu finden, die sachte hinüberführten auf die Orestie des Äschylus, ihre philosophische Bedeutung und ihren politischen Zweck. Er sprach von der Lieblichkeit der Donauauen – sie schwebte von diesen nach den Sozietätsinseln und nannte den Namen jeder einzelnen. Er sprach von dem Tode seiner Mutter, sie – von der Nadowessischen Totenklage. Er erzählte von dem «Putsch» der Schweizer Radikalen, sie ließ ein Wort über Huitzilopochtli, den Kriegsgott der Azteken, fallen.

Zuletzt wurde das Verständnis zwischen dem jungen Pärchen ein so vollständiges, daß Rede und Gegenrede überflüssig schien. Dem Gaste zum mindesten, der von nun an schwieg.

Beim Beginne des Abendessens hatte sein Blick noch manchmal scheu und prüfend auf der eckigen Gestalt Regulas geruht, auf ihrem gelben Gesichte und den gleichfarbigen, an die Schläfe angeklebten Scheiteln, von denen auch nicht ein Haar abstand; jetzt blieb er hartnäckig auf das Tischtuch geheftet. Joseph wurde bleicher und bleicher, und mußte endlich gestehen, daß er sich unwohl fühle.

Heißenstein hob sofort die Tafel auf und geleitete seinen Gast, der aufzuatmen schien, als er das Speisezimmer im Rücken hatte, auf die für ihn bereit gehaltene Stube.

Am frühen Morgen schon stand ein Postwagen vor dem Hause, und Joseph in Reisekleidern vor Heißenstein.

«Verzeihen Sie mir, mein väterlicher Freund», sprach der junge Mann treuherzig, «aber – ich habe mir’s überlegt, ich fühle noch keinen Beruf, mich zu verheiraten. Ich glaube am ehrlichsten zu handeln, wenn ich es Ihnen gleich eingestehe.»

«Wozu die Eile?» fragte Heißenstein betroffen, «lerne meine Regel besser kennen. Sie gehört zu der Sorte von Weibern, denen jeder Mann ohne Sorge sein Lebensglück anvertrauen kann.»

«Ich bin davon überzeugt», erwiderte Joseph, «allein ob das ihre in meinen Händen gesichert wäre, daran zweifle ich.»

Heißenstein sah ihn an und schüttelte den Kopf: «Sei aufrichtig – sie gefällt dir nicht», sagte er mit einem Ausdruck von so hoffnungsloser Trauer in Stimme und Gebärde, daß Joseph, davon ergriffen, die Hand des alten Mannes faßte und drückte. Dieser klopfte ihm auf die Schulter: «Nun ja, ich habe Besseres für dich im Sinne gehabt. – Es hat aber nicht sein sollen.»

So endete Heißensteins letzter Versuch, den Traum seines Lebens zu verwirklichen. Mansuet suchte vergebens ihn darüber zu trösten, indem er ihn versicherte, er fände zehn für einen Freier für das Fräulein Tochter, und zwanzig für einen, die bereit wären, seinen Namen anzunehmen.

«Keinen mehr, dem ich ihn anbieten möchte!» entgegnete Heißenstein. «Glauben Sie, dazu sei mir leicht einer gut genug? – So mag er denn erlöschen. Ich seh es ein, der Mann, der mir recht wäre, nimmt die Regel nicht!»

Er verfiel in einen dumpfen Trübsinn, aus dem ihn nur noch selten ein Ausbruch des Zornes gegen die Zerstörerin alles dessen weckte, was er noch als Glück zu empfinden vermocht hätte. Mansuet wagte längere Zeit hindurch nicht Rosas zu erwähnen. Er hatte zwar auf seine dringende Nachfrage, wie die junge Frau sich befinde, beruhigende Antwort erhalten, aber Bozena hatte ihm zugleich mitgeteilt, sie habe es ihrem jungen Herrn in die Hand geloben müssen, keine Briefe mehr in das Heißensteinsche Haus zu schicken. Es sei genug gebettelt worden, er selbst wolle nun von einer Versöhnung nichts mehr hören.

«Das habe ich längst gefürchtet», dachte Mansuet. «Er ist k. k. Offizier, er kann sich die fortgesetzten Demütigungen nicht gefallen lassen. Was jetzt beginnen, du guter, lieber Gott? … Wenn von hier aus keine Schritte geschehen, dann ist’s für immer mit der Hoffnung auf eine Aussöhnung vorbei. Wir sind so weit gekommen, daß uns nur mehr eine Person Hilfe schaffen könnte: – Frau Nannette. Sie müßte sich zur Vermittlerin machen zwischen Vater und Tochter. Sie ist jetzt die Herrin des Hauses und ihres alternden Gatten. Er hat aufgehört, ihr Widerstand zu leisten, anfangs aus Gleichgültigkeit, später aus Ohnmacht.»

Die Folge dieser Betrachtungen war, daß sich Mansuet seiner Rosa zuliebe bis zu einer Art demonstrativer Höflichkeit erniedrigte, der verhaßten Gebieterin gegenüber. Er lief nicht mehr davon, wenn er sie von weitem erblickte, er wandte sich nicht ab, wenn er ihr begegnete. Er blieb stehen, machte Front und grüßte sie feierlich. Er brachte es sogar einmal dahin, mit einem Grinsen, das um alles in der Welt freundlich sein sollte, aber einfach – gräßlich war, zu sagen: «Sehr kalt heute? … Belieben zu frieren? …»

Weiter ging es nicht! – Nicht um den Maria-Theresia-Orden! Nicht um die ewige Glückseligkeit!

So versuchte er’s denn doch, sich an Heißenstein zu wenden, und erfuhr keine heftige Abweisung mehr. Der alte Mann antwortete mit schmerzlichen Klagen, mit tiefem Selbstbedauern, daß er nicht verzeihen dürfe – daß seine Pflicht es ihm verbiete.

Mit unerschöpflicher Geduld, mit einem Eifer, der sich nie verleugnete, begann Mansuet immer von neuem Vorstellungen zu machen, um Mitleid zu bitten – es war und blieb vergeblich.

Der alte Mann wurde nur ängstlich, versank nur tiefer in seine Grübeleien und wiederholte melancholisch: «Ich darf nicht, guter Mansuet. Seien Sie mir nicht böse, aber – ich darf nicht.»

In solchem Zustande fand das Revolutionsjahr 1848 den einst so kräftigen Heißenstein. Die Ereignisse der Märztage rüttelten ihn auf aus dem Traumleben, das er seit einiger Zeit führte. Ein neues Interesse ergriff ihn. Zwei Monate lang zählte ihn die liberale Partei zu ihren Anhängern, vom 15. Mai an wurde er ihr erbitterter Gegner.

Mansuet hatte natürlich keinen Augenblick von etwas anderm gesprochen, als von Dreinschlagen, Einhauen und Niederreiten. Wie man dem «Bäckenrummel» in Wien unter weiland Kaiser Franz ein Ende gemacht, so hätte man dieser «Lumperei von einer Revolution» ein Ende machen sollen, die ganz allein durch ein paar Landstände und durch ein halbes Dutzend Studenten «aus purem, verfluchtem Übermut» angerichtet worden war.

Schimmelreiter hingegen erklärte sich für einen konstituierenden Reichstag, mit einer Kammer als Übergangsstadium zur europäischen Republik. Er abonnierte auf die «Konstitution» und schwor, erst seitdem er dieses Blatt halte, wisse er, was es heiße: ein politisches Bewußtsein haben.

Eines Tages las er im Gasthause einigen andächtigen Zuhörern aus seiner Zeitung vor, wie man «auf dem Leichname des Weltkinderspieles ‹Nationalität› zuletzt siegend die Fahne des alles vereinenden Weltbürgertums aufpflanzen müsse,» da riß ihm Mansuet, der von ihm unbemerkt eingetreten war, das Blatt aus der Hand, und forderte ihn auf Degen – und auf Pistolen.

Schimmelreiter erklärte, dieser Forderung nicht entsprechen zu können, und durch volle vierzehn Tage hatte Mansuet für ihn nur das Schweigen der Verachtung. Es herrschte bittere Feindschaft zwischen den beiden, bis die glorreichen Nachrichten aus Italien ihre Gemüter besänftigten. Als Radetzky siegreich in Mailand eingezogen war, zog auch die Versöhnung in das Kontor ein, und die zwei Säulen des Heißensteinschen Hauses ragten wieder in herzerhebender Eintracht ruhig und friedlich nebeneinander.

Im September dieses ereignisvollen Jahres kamen Bekannte Nannettens nach Weinberg: Graf und Gräfin Rondsperg, die Eltern ihrer ehemaligen Zöglinge. Der Graf hatte sein Gut verlassen infolge ziemlich ernster Konflikte, in die er mit seinen Bauern geraten war.

Diese Leute ließen sich’s nicht nehmen, daß eine Änderung eingetreten sei in dem Verhältnisse zwischen «der Herrschaft» und ihnen; nicht nur scheinbar, nicht für kurze Zeit, wie der alte Graf meinte, sondern in Wirklichkeit und für immer. Er aber, dessen Vermögen seit Jahren schon zerrüttet war, wollte nicht an den Bestand einer Neuerung glauben, die seinen völligen Ruin herbeiführen mußte. Doch wurde er es endlich müde, ihnen Vernunft zu predigen, diesen störrischen Dummköpfen, die immer wieder auf die Behauptung zurückkamen: die Patrimonialrechte seien aufgehoben. Zum erstenmal seit der Verheiratung seiner Töchter – seit vollen vierzehn Jahren – verließ der Greis sein Schloß Rondsperg und das undankbare «Gesindel», seine Bauern.

Fern von ihnen wollte er die Wiederkehr der alten Zeiten und die Wiedereinführung der alten, einzig gesetzlichen Gesetze erwarten. Bis dahin sollten die Leute nur sehen, wie sie fertig würden ohne ihn.

Gleich nach der Ankunft des Grafen und seiner Gemahlin in Weinberg begaben sich Heißenstein und Nannette nach dem «Grünen Baum», in dem die Herrschaften abgestiegen waren, und luden sie dringend ein, das unbehagliche Quartier im Gasthofe mit einer Wohnung zu vertauschen, die ihnen Heißenstein in seinem Hause zur Verfügung stellte.

Der Antrag wurde mit liebenswürdiger Freundlichkeit angenommen. Schon am folgenden Tage zog das gräfliche Ehepaar, begleitet von einem einäugigen Kammerdiener und einer gichtbrüchigen Kammerjungfer, in die zu seinem Empfange auf das beste geschmückten Räume ein. Und gewiß betrat Karl V. das Haus Anton Fuggers auf dem Weinmarkte zu Augsburg mit nicht geringerem Bewußtsein einer von ihm erwiesenen Gnade, als Rondsperg des Haus des Kaufmanns Leopold Heißenstein. In seiner Art auch nicht minder gastfrei als der Nachkomme des Webermeisters zu Graben gegen den Beherrscher der Hälfte der damals bekannten Welt, bezeigte sich der Weinhändler gegen den herabgekommenen Edelmann. Während dessen Anwesenheit wurde das Haus von Besuchern nicht leer, und Heißenstein empfing die Gäste seiner Gäste mit derselben Zuvorkommenheit, die er diesen erwies. Frau Nannette drückte abwechselnd ihre einstigen Zöglinge: die Baronin von Waffenau und die Präsidentin von Horsky an ihr bewegtes Herz. Die erste kam von ihrem Gute Haluschka, die zweite kam aus Wien, die erste brachte vier unglaublich wilde Jungen im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren mit, die zweite nur ihren steifen, wortkargen Mann. Alle kamen, um die alten Leute zu sehen und der teuren Ex-Erzieherin und ihrem edlen Gatten Dank- und Lobpreisungen darzubringen. Frau Nannette war manchmal zumute, als ob ihr Flügel wüchsen.

Heißenstein hingegen hatte wahre, wenn auch nicht ungetrübte Herzensfreude nur an einem Gaste, an Ronald, dem Sohn des Grafen, dem die Aufgabe zugefallen war, seinem Vater die Wege zur Rückkehr zu ebnen und die guten Beziehungen zwischen Schloß und Dorf Rondsperg wiederherzustellen. Er fuhr ab und zu, und seine Anwesenheit war für Heißenstein jedesmal ein schmerzliches Fest. Mit einer Mischung von Neid und Wohlgefallen betrachtete er den schönen, ernsten Jüngling und dachte: «Wärst du mein Sohn!»

Während im Reichstage zu Wien und im Parlamente zu Frankfurt die Abschaffung des Adels beantragt wurde, genossen so einige seiner Mitglieder, nur, weil sie diesem Stande angehörten, an den Flammen eines gut bürgerlichen Herdes ein daheim längst entbehrtes Behagen.

Die Gräfin nahm die Gastfreundschaft Heißensteins und die Ergebenheitsbezeigungen Nannettens dankbar und demütig mit der Empfindung hin, mehr zu empfangen, als sie je erwidern könnte. Der Graf ließ sich alle Ehrenbezeigungen huldvoll gefallen, und belohnte sie – wie er überzeugt war, reichlich – durch ein gelegentlich hingeworfenes Wort der Anerkennung.

Im Frühjahr kam Ronald, um seine Eltern wieder nach Rondsperg abzuholen. Der Graf ließ sich überreden, «seine Untertanen» seien durch seine Abwesenheit den ganzen Winter hindurch genug bestraft, und entschloß sich um so leichter in ihre Mitte zurückzukehren, da ihm der Bauernrichter durch Ronald hatte sagen lassen, das leere Schloß käme ihm und der getreuen Gemeinde vor wie eine große Laterne ohne Licht.

Als man Abschied genommen hatte, wandte sich Ronald noch einmal zu Heißenstein, erfaßte seine beiden Hände und sprach: «Ich kann Ihnen niemals vergelten, was Sie für uns getan haben – doch gäbe ich alles darum, es wenigstens versuchen zu dürfen.»

Nannette und Regula vernahmen diese Worte. Ihre Blicke begegneten einander wie zwei Blitze. – Was meinst du? fragte der eine. – Es wäre mein innigster Wunsch, antwortete der andere. Ronald dreiundzwanzig Jahre – du siebzehn. Er vornehm, aber arm – du bürgerlich, aber reich … Sehr reich durch meine Fürsorge, mein Kind …

Ehrgeizige Gedanken stiegen in der Weinhändlerstochter auf. Ihre Mutter jedoch übte sich, in unbelauschten Stunden, in allen möglichen Betonungen der halblaut hingehauchten Worte: «Meine Tochter, die Gräfin von Rondsperg.»

Bozena Kapitel 1

1.

Leopold Heißenstein war der reichste und einer der geachtetsten Bürger des mährischen Landstädtchens Weinberg. Ob auch einer der beliebtesten, das stand dahin und machte die geringste seiner Sorgen aus. Witzbolde unter den Eingeborenen meinten, ein Mann von Geist und Geschmack sei er jedenfalls, das bringe schon sein Geschäft mit sich – das ansehnliche Weingeschäft nämlich, das sich seit Generationen in seiner Familie forterbte, und das er zu unerhörter Blüte gebracht hatte.

Wie Leopold der einzige Sohn seines Vaters gewesen war, so wurde auch ihm nur ein männlicher Sprosse, aber ein prächtiger Junge beschert, der den Ruhm des alten Hauses glorreich fortzusetzen versprach.

Ein Töchterchen, das seine Frau ihm in den späteren Jahren der Ehe gebar, betrachtete Heißenstein als ziemlich unwillkommene Zugabe zu seinem Glücke: «Denn», pflegte er zu sagen, «der Sohn trägt Geld in das Haus, die Tochter trägt Geld aus dem Haus.»

Auf eine Mitgift übrigens, wenn auch auf eine sehr anständige, kommt es einem Manne wie Heißenstein nicht an, und damit fertigt er dereinst das Mädchen ab.

Die Existenz dieses Kindes, dem Vater so gleichgültig, wurde für die Mutter eine Quelle unsäglicher Freude; der letzten, welche die kränkliche Frau auf Erden genießen sollte. Der Sohn war ihrer Sorgfalt, sobald dies nur halbwegs anging, entzogen und nach Wien in eine Erziehungsanstalt gebracht worden. Heißenstein, hatte geglaubt, ihn nicht früh genug aus der Kinderstube und den Händen der «Weibsleute»befreien zu können. Wie recht er daran getan, das wurde ihm täglich durch den unheilvollen Einfluß bestätigt, den die abgöttische Liebe der Mutter auf die kleine Rosa ausübte. Die Unarten des Kindes erfüllten ihn mit einer Art von spöttischer Befriedigung. Ihm selbst war die Unerbittlichkeit, mit welcher er Mutter und Sohn einander entfremdete, manchmal grausam erschienen – jetzt fand er sie auf das glänzendste gerechtfertigt.

Daß die arme Frau sich eben mit allen Kräften ihres entschwindenden Lebens an das einzige klammerte, das man ihr ließ, daran dachte er nicht. Er war nicht gewohnt, auf die Empfindungen andrer Rücksicht zu nehmen, am wenigsten auf die seiner stillen Lebensgefährtin. Was er tat, war wohlgetan, und der Eindruck, den es hervorbrachte, gleichgültig. In sicherer Ruhe schritt er dahin, seiner selbst gewiß, nichts fürchtend, nichts bereuend. Und so, in der Fülle der Zufriedenheit, traf ihn der schwerste Schlag, der ihn treffen konnte: er verlor seinen Sohn. Der Knabe wurde so rasch hinweggerafft, daß seine Eltern, die bei der ersten Nachricht seiner Erkrankung herbeigeeilt kamen, ihn nicht mehr am Leben trafen.

Es dauerte lange, bis Heißenstein an seinen Verlust glauben lernte. Die Wirkung des ersten großen Unglücks, das der zuversichtliche Mann erfuhr, war vernichtend.

«Für wen habe ich gearbeitet? – Ich habe keinen Erben!» – in dieser Klage gipfelte sein Schmerz. Seine Hoffnungen waren zerstört, seine Erinnerungen vergällt. Wer blickt gern auf ein Leben voll Mühen zurück, wenn ihm die Früchte derselben geraubt worden sind? Heißenstein konnte, was sein Fleiß erworben, nicht einem Namensträger hinterlassen, demnach war der Lohn seines Fleißes dahin.

Mit wunderbarer Standhaftigkeit hingegen benahm sich die Mutter bei dem Tode ihres Erstgeborenen. Keiner hatte es gehörte, wie sie mit dem letzten Kusse auf seine Lippen ihm die Worte zugehaucht: «Ich komme bald zu dir!»

Und von dem bleichen Toten hinweg wandte sie sich mit verdoppelter Zärtlichkeit ihrem rosigen, lebensfreudigen Liebling zu. Beständig von der Ahnung naher Trennung erfüllt, geizte sie mit jedem Augenblicke, den sie bei dem Kinde zubringen, frohlockte über jedes Lächeln, das sie ihm abgewinnen konnte, warb um seine Liebkosungen, und zagte und zitterte vor seinen Tränen.

Röschen war schon zu dem vollen Bewußtsein ihrer Wichtigkeit und der Unverletzlichkeit ihres Willens gelangt, als sich plötzlich die Augen schlossen, die mit verwöhnender Liebe über ihr gewacht hatten. Frau Heißenstein entschwand eines Morgens wie ein Schatten von der Wand; ohne vorhergegangene sichtbare Krankheit, ohne die geringste Pflege in Anspruch, ohne Abschied genommen zu haben von dem gefürchteten Mann und von dem geliebten Kinde. Bevor Herr Leopold ahnte, daß auch dieser Verlust ihn bedrohe, erfuhr er ihn.

Und seltsam! Die demütige Frau, welcher er, solange sie lebte, nur eine sehr oberflächliche Beachtung gegönnt hatte, wurde von ihm jetzt so bitter vermißt, als ob sie der Mittelpunkt all seiner Interessen gewesen wäre. Das Gefühl des Verlassenseins ergriff ihn, das keinen Menschen mit solcher Trostlosigkeit überfällt wie den Egoisten, wenn die von ihm scheiden, deren Existenz er zu seinen Gunsten ausbeutete. Nun machte er den Versuch, das einzige Geschöpf, das er auf Erden noch sein nannte, an sich heranzuziehen. Allein zwischen dem an Widerspruch nicht gewöhnten Vater und seinem eigensinnigen Töchterlein wollte kein Band sich knüpfen lassen. Der Trotz und der Ungehorsam des Kindes setzten die Geduld Herrn Leopolds gar bald auf harte Proben. Er bestand sie nicht. Nach einigen stürmischen Auftritten, aus denen Rosa zwar hart mißhandelt, aber als Siegerin hervorging, erschrak ihr Vater vor seiner eigenen Heftigkeit und überließ die fernere Erziehung des Wildfangs der Magd des Hauses, einer derben und verläßlichen Person von zweiundzwanzig Jahren, mit Namen Bozena. Für diese äußerte das Kind schon zu Lebzeiten seiner Mutter eine zärtliche Liebe, welche die arme Verstorbene oft eifersüchtig gemacht hatte. Rosa nannte die Dienerin, wie sie es wohl von andern gehört hatte, «die schöne Bozena» und ertrug die rauhe Behandlung, die sie zeitweise von ihr erfuhr, mit fröhlicher Standhaftigkeit.

Die schöne Bozena hätte sich an Größe und Stärke kühnlich mit einem Flügelmanne des Garderegiments Friedrich Wilhelms I. messen können. Dabei besaß sie ein ausdrucksvolles und gescheites Gesicht, in dem ein Paar rabenschwarze Augen funkelten, die auch der mutigste Mann nicht ohne leises Grauen in Ungnaden auf sich gerichtet sah. Das Schönste jedoch an der schönen Bozena war die Röte ihrer Wangen und das blendende Weiß ihrer Zähne. Allerdings konnten die Lippen, hinter denen das prächtige Gebiß zum Vorschein kam, etwas schwellend genannt werden, und was die Nase betraf, so geschah ihr kein Unrecht, wenn man sie – wie ein launiges Mitglied der Paßbehörde «ex officio» getan – «landesüblich» nannte. Gegen alles Schmucke und Zierliche empfand Bozena Verachtung, aber mit der Reinlichkeit nahm sie es genau; die Arbeit flog unter ihren Händen, und so blitzblankes Hausgerät, einen so nett gedeckten Tisch, so sauber gehaltene Stuben wie im Hause Heißenstein fand man auf Meilen in der Runde nicht wieder.

Mit dem Kinde, das ihr nun ausschließlich anvertraut war, ging sie um, wie eine Bärin mit einem jungen Hündchen umgegangen wäre, für das sie eine mütterliche Zuneigung gefaßt hätte. Wenn sie ihre Riesenfaust gegen die Kleine ballte und sie mit einer Stimme anschrie, die aus der Brust eines Ogers zu kommen schien, dann lachte das verwegene Ding, aber es gehorchte.

Bozena war sich wohl bewußt, das Kind und der Haushalt ihres Herrn könnten schwerlich besser betreut werden, als es durch sie geschah, und lebte in tätiger Ruhe dahin; sehr zufrieden mit ihrem Lose, ohne Furcht, daß jemals eine Veränderung eintreten könnte.

Indessen wurde sie, noch vor Verlauf eines Jahres nach dem Tode der Frau, welche sie so vollständig ersetzen zu können meinte, aus ihrer Sicherheit aufgeschreckt. Das Gerücht, Herr Heißenstein stehe im Begriffe, sich zum zweitenmal zu verheiraten, verbreitete sich, und Neugierige, die durch Bozena Bestimmteres darüber zu erfahren hofften, trugen es ihr zu. Sie wurden zwar mit ihrer Nachricht nicht viel besser empfangen, als ein Zündfaden von einer Rakete, aber so fest überzeugt, als Bozena zu sein vorgab, ihr Herr werde «keine solche Dummheit» begehen, war sie doch nicht.

Von Stunde an begann sie den Gebieter unter scharfer Aufsicht zu halten. Trotz der größten Aufmerksamkeit vermochte sie jedoch nicht die geringste Veränderung, weder in seiner Lebensweise noch in seiner Stimmung wahrzunehmen. Höchstens daß sich die letztere in der jüngsten Zeit noch um etwas verschlechtert hatte. Und Bozena, deren Weise es sonst war, wenn sich eine Wolke auf dem Gesichte ihrer Herrschaft zeigte, auf dem ihren sofort ein ganzes Gewitter aufsteigen zu lassen, lächelte jetzt um so freundlicher, je finsterer der Kaufmann erschien. Als dieser eines Abends mit ganz besonders verdrossener Miene heimkam und, nachdem er Befehl gegeben, das für ihn bereitstehende Abendessen wieder abzutragen, sich in sein Zimmer begab, hatte Bozena Mühe, ihren Jubel zu unterdrücken.

«Gute Nacht!» rief sie Herrn Leopold mit ihrer süßesten Stimme nach und setzte für sich triumphierend hinzu: «Er hat ihn, den Korb!»

Sie schlief sehr gut in dieser Nacht und begab sich mit ausgezeichnetem Frohmut am nächsten Morgen an die Arbeit. Es war Sonntag, und da gestern besonders gründlich gescheuert worden war, genügte heute eine leichte Nachhilfe. Bozena beschäftigte sich eben mit Besen und Wischtüchern im Speisezimmer, da trat ihr Herr Heißenstein entgegen, glatt rasiert und stattlich, das Gebetbuch in der Hand.

«Mach fertig» , sprach er, «kleide Rosa an. Ich werde nach der Messe meine Braut hierherbringen, damit sie das Haus und das Kind kennenlerne.»

Nur ein König, dem Krone und Zepter plötzlich entrissen wurden, weiß, was Bozena bei diesen Worten empfand. Ihr Blick zuckte an Heißenstein wie ein Blitz vom Wirbel bis zur Sohle hinab, und unter der Fülle von Geringschätzung, die sich auf ihre Lippen gelagert hatte, erschienen dieselben noch dicker als sonst.

«Braut?» rief sie. «Sie wollen wieder heiraten? … Wozu denn?»

Herr Heißenstein richtete sich, so hoch er konnte, der Riesin gegenüber auf, knöpfte mit stolzer Entschlossenheit seinen neuen dunkelbraunen Winterrock zusammen und erwiderte: «Meine Tochter braucht eine Mutter und ich brauche einen Sohn.»

Damit verließ er wuchtigen Schrittes das Zimmer.

Bozena Kapitel 12

Die Braut, die der angehende Greis sich erkoren hatte, war die Tochter eines Professors am städtischen Gymnasium. Nach dem Tode ihres Vaters hatte sie sich in die Landeshauptstadt begeben, um dort eine Stelle als Erzieherin des Grafen Karl von Rondsperg anzutreten. Zehn Jahre hindurch wurde diese Position unter mancherlei Kämpfen siegreich von ihr behauptet. Nach dem Verlaufe jener Zeit war – wie die Gouvernante auf das bestimmteste erklärte – die Erziehung der Zöglinge vollendet. Aller Schmuck der Bildung setzte die angeborenen Vorzüge der jungen Komtessen in das hellste Lichte.

Fräulein Nannette hielt in Gegenwart der gräflichen Eltern und einiger hochgeborener Angehörigen eine kleine Rede, in der sie den Satz verfocht, daß: sagen zu sollen, was hier noch zu lehren sei, ihr die größte Verlegenheit bereiten würde. Helle Freudentränen, welche über die männlichen Wangen des Vaters und über die zarten Wangen der Mutter liefen, belohnten die Spenderin einer so ehrenhaften Anerkennung. Durch den Anblick der hervorgebrachten Wirkung berauscht, ließ sich die Rednerin zu einem uneingeschränkten Lobe der opferfreudigen Unterstützung, welche ihren pädagogischen Bestrebungen von seiten des edlen Elternhauses stets zuteil geworden sei, hinreißen. Die Erschütterung aller Gemüter wurde dadurch noch erhöht; und als Fräulein Nannette mit den Worten schloß, es bleibe ihr nun nichts mehr zu tun übrig, als zu scheiden und die Erinnerung an all das genossene Gute mit sich zu nehmen, baten der Graf und die Gräfin, sie möge ihnen das Herz nicht zerreißen.

O schöne Stunde! Unvergeßlicher Anblick! Alle Anwesenden umschlangen Fräulein Nannette in einer Umarmung und küßten sie auf ihren Mausmund.

Der Herr Graf aber begab sich stracks in sein Zimmer und ließ aus der Kanzlei Tinte und Papier holen. Er setzte unter dem Beistande seiner Gemahlin und des Gutsverwalters ein Diplom in die Welt, das ein Wunder war an Auffassung, Stil und pompöser Sprache. Es ließ sich kein einziger Schlußpunkt darin erblicken, die Sätze flossen ineinander und auseinander, ein Redestrom so breit, wie die Aufzählung der Tugenden, Verdienste, Vorzüge und Talente Fräulein Nannettens ihn erforderte.

Und so gestaltete sich die Abreise der plötzlich allen teuer gewordenen Hausgenossin zu einem wahren Familienfeste. Die heiligsten Schwüre ewiger Liebe und Dankbarkeit wurden ausgetauscht, und Vater, Mutter und Töchter einerseits, Fräulein Nannette andrerseits brachten es im Taumel ihrer Gefühle so weit, nicht nur zu sagen, nein, auch zu glauben, die Zeit ihres Zusammenlebens sei eine schöne und glückliche gewesen.

Die Erzieherin hatte beschlossen, ehe sie daran ging sich einen neuen Wirkungskreis zu schaffen, einige alte Verwandte zu besuchen, die ihr im heimatlichen Städtchen noch lebten. Sie kehrte denn nach Weinberg zurück an der Spitze ihres großen Ruhmes, ihrer kleinen Pension und einiger Ersparnisse. Der Nimbus, den der jahrelang gepflogene Umgang mit vornehmen Leuten ihr verlieh, umstrahlte sie mit schier unheimlichem Glanze, und imponierte besonders denen unter ihren Mitbürgern, die sich für eingefleischte Demokraten hielten.

Schon einige Tage nach Nannettens Ankunft – und etwa drei Vierteljahre nach Frau Heißensteins Tode – begegneten einander auf der Promenade der reichste Sohn und die gebildetste Tochter der Stadt.

Sie drückte ihm ihre Teilnahme an seinem Verluste in Worten aus, die man, so geschmackvoll gewählt, noch nie vernommen hatte unter den Kastanienbäumen der städtischen Anlagen. Sie gedachte auch mit Wehmut der freundschaftlichen Beziehungen, in welchen sie in schönen Jugendtagen zu der edlen Verklärten gestanden. Ihr größtes Mitgefühl jedoch erregte die Sorge, die dem «alleinstehenden Witwer» aus dem Dasein einer Tochter erwuchs.

«O Herr Heißenstein, welche Aufgabe für Sie, dieses Dasein! Eine Aufgabe, deshalb so groß für einen Mann, weil sie eigentlich zu klein für ihn ist. Wie soll er dem erziehlichen Momente gerecht werden, das alles ist, Herr Heißenstein, al-les

Sie legte auf dieses letzte Wort ein Gewicht, das zusammengeballt schien aus der Überzeugungskraft von tausend fanatischen Seelen, empfahl sich mit bescheidener Würde und enteilte mit so gleichmäßigen kleinen Schritten, daß es war, als rolle sie auf unsichtbaren Rädern über den Kies des Weges dahin.

Herr Heißenstein blickte ihr eine geraume Weile nach und dachte: «Das erziehliche Moment, ja ja – das erziehliche Moment!» Er wußte freilich nicht, was sie darunter gemeint hatte, aber die Worte prägten sich seinem Gedächtnis ein, und zugleich erwachte in ihm ein gewisser Respekt vor dem erstaunlichen Frauenzimmer, das solche Ausdrücke mir nichts, dir nichts gebrauchte, wie gewöhnliche Menschen Wasser oder Brot sagen.

Er sah sie wieder, er besuchte sie ab und zu bei ihren alten Verwandten. Die Ehrfurcht, welche von diesen dem Fräulein gezollt wurde, und die demütige Liebenswürdigkeit, mit der die Verehrte ihn behandelte, taten seinem stolzen Herzen wohl. Er gewann die Überzeugung, daß er sich im Notfalle an Nannettens spitzes Gesicht würde gewöhnen können. Leicht wurde ihm der Entschluß, sich ein zweites Mal zu verheiraten, nicht, aber er faßte ihn doch, dem Hause, dem anzuhoffenden Erben zu Ehren, dessen Mutter zu werden die über alles Lob erhabene Dame Nannette ihm gerade gut genug schien.

Feierlich trug er ihr denn eines Tages seine breite Rechte an, und sie legte ihr Pfötchen mit einer Eile hinein, die ihn fast bestürzt machte ob seines raschen Glückes. Sein Wort war kaum verpfändet, als er sich von der Ahnung ergriffen fühlte, er habe der Erhaltung seines Stammes ein schweres Opfer gebracht. Die nächste Zukunft rechtfertigte diese Befürchtung; es war ein unseliger Ehebund, den Herr Leopold mit Frau Heißenstein II. schloß. Der Mann, starr, unbeugsam, von dem Glauben an sich selbst durchdrungen; die Frau, von dem Teufel der Hofmeisterei besessen, hätte leichter auf das Atemholen als auf das Spenden guter Lehren verzichtet. Sie unterzog das Benehmen ihres Gatten, seine Art zu gehen, zu grüßen, zu sprechen, zu essen, einer beständigen Kritik, und suchte ihn in allen diesen Beziehungen durch ihre Ratschläge auf das gründlichste zu reformieren.

Der erstaunte Herr Heißenstein ließ sich dies alles eine Zeitlang ruhig gefallen, er begriff nach und nach, was sie damals gemeint haben mochte, als sie von dem «erziehlichen Momente» sprach, das «alles» sei.

Er schwieg lange, plötzlich jedoch fuhr er empor, und war im Zorne so fürchterlich, daß Frau Nannette sich von dem Schrecken, den er ihr in diesem Augenblicke einflößte, nie mehr ganz erholte. Er erklärte, er sei, ohne jemals «erzogen» worden zu sein, zu Vermögen, Ansehen und hohen Jahren gekommen. Er denke nicht daran, jetzt nachzuholen, was er, ohne den geringsten Schaden davon zu verspüren, in seiner Jugend versäumt habe. Der Mensch lebe nicht, dem zuliebe er auch nur eine seiner Gewohnheiten, möge sie gut oder übel sein, aufgeben wolle. Er wies sie übrigens an, ihre Erziehungskünste an seiner Tochter zu üben, dazu habe er die Gouvernante geheiratet, dazu sei sie da.

Dieser Befehl gehörte freilich zu der großen Menge derer, die leichter gegeben als befolgt werden. In ihrer Art war Rosa ebensowenig danach angetan wie ihr Herr Papa, sich einem fremden Willen zu unterwerfen. Das Kind, heimlich von Bozena unterstützt, leistete Unglaubliches an Widerstand gegen die stiefmütterliche Autorität und brachte es wirklich dahin, daß Frau Nannette gestand, es sei doch etwas an der Behauptung gewisser Materialisten und Nihilisten, die sie bisher auf Tod und Leben bekämpft hatte, es gäbe Kinder, deren unbändigem Naturell gegenüber selbst die bewährtesten, von pädagogischen Autoritäten ersten Ranges als unübertrefflich anerkannten Erziehungsmethoden sich ohnmächtig erwiesen.

Am kläglichsten jedoch scheiterten Frau Heißensteins Bemühungen, doch wenigstens in den Augen der Magd Bozena einiges Ansehen zu gewinnen. Waren Herr Leopold und seine Tochter naive Gegner, die sich nur kräftig wehrten, wenn sie angegriffen wurden, so galt es bei Bozena auf der Hut zu sein vor einer stets kampfbereiten, hartnäckigen Plänklerin, die auf jede Gelegenheit lauerte, die Feindseligkeiten selbst zu eröffnen. Frau Nannette war in allem, was die Leitung eines Hauswesens betrifft, unerfahren wie ein Säugling, und es gab für Bozena Veranlassungen genug, ihre Überlegenheit fühlen zu lassen, ob sie nun genau das Gegenteil einer erhaltenen Weisung mit Erfolg ins Werk setzte, oder eine ungeschickte Anordnung wörtlich befolgte und dadurch die Gebieterin grausam bloßstellte.

So hatte sich die Existenz Frau Heißensteins II. recht bedauerlich gestaltet, und nicht wenig moralischer Mut gehörte dazu, um doch, wie sie es tat, vor Verwandten und Nachbarn den Schein der Zufriedenheit zu retten und an ihre ehemaligen Zöglinge regelmäßig alle Vierteljahre Briefe zu entsenden, in denen nur von Liebe zu Mann und Kind und von «Gesang der Sphären in Haus und Gemüt» die Rede war.

Endlich jedoch trat ein Umstand ein, der die Stellung Dame Nannettens in dem alten Heißensteinschen Familienneste völlig und günstig veränderte.

Bozena bemerkte mit schwer gebändigter Entrüstung, daß Herr Leopold seine Gemahlin mit Rücksicht und Aufmerksamkeit zu behandeln begann. Dinge, die bisher für ihn zu den gleichgültigsten gehört hatten, ihre Stimmung und ihr Befinden schienen ihm wichtig geworden. «Wie geht’s der Frau?» fragte er beim Kommen: «Gebt acht auf die Frau» , sagte er beim Gehen. Nur an seinem Arme durfte sie das Haus verlassen. Der mürrische Kaufmann fand Koseworte für seine Nannette, er nannte sie «seine liebwerte Oberhofmeisterin» und «seine alte graue Maus» ; er empfahl Bozena und Rosa die unbedingteste Unterwerfung der geringsten Laune der Gebieterin und Mutter gegenüber, und drohte, jeden Widerstandsversuch auf das unbarmherzigste zu bestrafen.

Bozena rang mit der Verzweiflung; sie verlor den Schlaf und einen Teil ihres Appetits und fegte in ihrer Küche herum wie ein Wirbelwind. Die Anzahl der Koch- und Speisegeschirre, die damals im Heißensteinschen Hause in Trümmer verwandelt wurden, erreichte eine erstaunliche Höhe. Es versteht sich von selbst, daß ein rauchender Vulkan leichter dahin zu bringen gewesen wäre, seine glühende Lava still hinabzuschlucken anstatt sie auszuwerfen, als Bozena, den Ausbruch ihres gärenden Grolls zu unterdrücken.

Nicht lange und Herr Leopold fand eines Morgens seine Gattin und seine Magd, die erste zornesblaß, die zweite zornesrot, in einem Wortwechsel begriffen, der nur seines Sängers bedurft hätte, um unsterblich zu werden wie jener der Königinnen vor dem Dome zu Worms, oder wie jener der gekrönten Schwestern im Parke zu Fotheringhay.

Der Kaufherr warf einen Blick voll Besorgnis auf seine Frau und einen ingrimmigen auf die kecke Dienerin.

«Was unterstehst du dich?!» rief er dieser zu und stürzte ihr mit erhobener Hand entgegen. Sie aber, hochaufgerichtet, den Kopf zurückgeworfen, die Arme in die Seiten gestemmt, stand wie ein Fels. Herausfordernd blickte sie ihren Herrn an, dessen stattliche Gestalt sich neben ihrer hünenhaften fast klein ausnahm, und schleuderte der Gebieterin über seinen Kopf hinweg eine niederschmetternde, in kurze Sätze zusammengefaßte und mit Kraftworten gewürzte Kritik ihrer Tätigkeit als Stiefmutter und Hausfrau zu.

Jeder Versuch, den der Kaufmann machte, Bozenas derber Beredsamkeit Einhalt zu tun, verlieh derselben nur einen höheren Schwung, der Zorn der Riesin wuchs, indem er tobte wie die flammende Lohe vom selbsterzeugten Sturme angefacht.

Endlich raffte Heißenstein alle seine Kraft zusammen: «Hinaus, Kanaille! Aus dem Zimmer – aus dem Hause – du bist entlassen! » schrie er, bei jedem Satze neu Atem holend.

Ein wildes Gelächter antwortete ihm.

«Entlassen?!» wiederholte Bozena mit grimmigem Hohne: «Nicht entlassen! … Oh – ich gehe selbst! Und gehe heut und gehe gleich!»

Der ungebändigte Hochmut der echten Plebejerin brach aus diesen Worten hervor und verkündigte jubelnd, was sie nicht aussprachen: ich gehe, und das Behagen, die Ordnung, die Wohlfahrt des Hauses nehm ich mit!

Von vorahnender Wollust der Rache berauscht, stürmte Bozena dem Ausgange zu. Sie hatte schon die Schwelle betreten, schon die Klinke erfaßt, als sie sich plötzlich am Kleide ergriffen und zurückgehalten fühlte. Ohne sich umzusehen, versuchte sie von sich zu schieben, was sie hinderte in ihrer triumphierenden Flucht. Da berührten ihre Finger seidenweiche Locken, da lag ihre Hand auf dem Haupt eines Kindes. Schmerzdurchzuckt, als hätte sie ein glühendes Eisen berührt, fuhr sie zusammen. Ein Laut, nicht Schrei, nicht Schluchzen, ein qualerpreßtes Stöhnen entrang sich den halbgeöffneten Lippen der Riesin.

«Fort du Range!» rief sie dann, und die mächtig erwachte, zornig bekämpfte Rührung gab ihrer Stimme einen heiseren, unheimlichen Klang. Aber der hartgewöhnte Zögling Bozenas ließ sich so leicht nicht einschüchtern. Nur heftiger zerrte Rosa ihre rauhe Freundin am Gewande und wiederholte ohne Aufhören und in allen Tonarten: «Bleib! Bleib doch! Bleib bei mir!»

Und Bozena, wie ein plötzlich ohnmächtig gewordener Simson, biß die Lippen und rang die Hände. Doch gärte in ihr die aufrichtigste Wut gegen den Unband, der sich zwischen sie und ihren Sieg drängte; gegen das undankbare Geschöpf, das sich an ihr Kleid hängte und sagte: «Bleib!» anstatt zu sagen: «Geh, befreie dich!» Oh, sie gibt nicht nach, die Rosa. Aber die Bozena noch weniger, das ist gewiß; sie reißt sich los, sie geht, ohne einen Blick auf das eigensinnige Ding zu werfen. – Täte sie’s, – wer weiß, was noch geschähe? Sie tut es nicht! Sie will nicht! … Und indem sie sagt: ich will nicht – ist es geschehen.

Du grundgütiger Gott! Da steht das Kind vor ihr im Nachthemdchen mit ganz zerzausten Haaren, in denen noch ein Flaum aus dem Kissen wie eine Schneeflocke liegt, und sieht dem Bilde des Christkindleins so ähnlich, das Bozena auf dem letzten Jahrmarkte gekauft hat. – Aus dem Bette ist die Kleine gesprungen, um ihr nachzueilen, und stampft jetzt völlig ungeduldig den Boden mit ihren kleinen nackten Füßen und fragt zugleich schmollend und schmeichelnd: «Wer gibt mir heut mein Frühstück? Wer kleidet mich heut an?»

Nun war’s vorbei mit Bozenas Herrlichkeit.

«Wer heut? Wer morgen? Wer je?» ruft sie mit einem Ausbruch leidenschaftlicher Klage, – ihr Zorn, ihr Trotz, ihre Stärke – alles dahin! Sie hebt den Schützling empor und preßt ihn mit inbrünstiger Liebe an ihre Brust. Ein letzter Kampf und die Gewaltige beugte sich, das Kind immer in den Armen, vor der Herrin, die sie verabscheute, beinahe bis zur Erde. Zum erstenmal im Leben kam ein Wort der Versöhnung aus ihrem Munde: «Verzeihen Sie mir, Frau, verzeihen Sie mir, Herr! – Behalten Sie mich!» bettelte demütig, die sich unentbehrlich und unersetzlich wußte.

Und man behielt sie. Aber Bozena mußte das Eingeständnis, daß sie sich vom Hause Heißenstein nicht trennen konnte, teuer bezahlen. «Macht besitzen, und nicht mißbrauchen ist Tugend.» – Frau Nannette besaß diese Tugend nicht. Sie ersparte der überwundenen Löwin keinen Fußtritt und keinen Nadelstich. Ihre kleinlichen Nörgeleien wurden von Bozena mit Größe ertragen. Einmal zum Bewußtsein gekommen, daß sie in unzerreißbaren Fesseln lag, nahm sie die Konsequenzen ihrer Schwäche mit hochherziger Ergebung hin. Nur sehr scharfsichtige Augen merkten, daß sie leide. Ein alter Kommis des Kaufherrn, der Bozena immer mit Auszeichnung behandelte und zum Lohne dafür ein Wohlwollen genoß, welches die Schöne sonst nicht an das Männervolk verschwendete, fragte sie um diese Zeit: «Wie leben Sie?» Und sie antwortete ohne Anmut, aber mit Kraft: «Wie soll ich leben? Ich fresse Galle und saufe Tränen.»

Es kam der Tag, an dem Herr Heißenstein der Magd befahl, die Wiege vom Bodenraum herabzuholen. Bozena gehorchte schweigend, aber nachts stand sie auf, trat an das Bettchen, in dem ihr Liebling schlief und jammerte: «O du armer Wurm! Du armer Wurm du!»

Und ein andrer Tag kam, an dem Herr Heißenstein, steif wie eine Bildsäule, im Fenster des dunkel getäfelten Speisezimmers lehnte und mit rotunterlaufenen Augen auf den großen Platz hinausstarrte. Trotz der äußeren Bewegungslosigkeit war sein ganzes Wesen im Aufruhr, er murmelte unverständliche Worte vor sich hin, und sein fahles Angesicht trug den Ausdruck der größten Spannung. Zusammengekauert auf einem der hochlehnigen Holzstühle saß Rosa. Sie hatte mehrmals versucht, sich leise aus dem Zimmer zu schleichen, und war daran ebenso oft durch ein gebieterisches «Du bleibst!», das ihr der Vater zurief, verhindert worden. Sie begann sich zu fürchten vor ihm, vor der Stille, vor der hereinbrechenden Dunkelheit; sie regte sich nicht mehr, sie zählte, um sich die Angst zu vertreiben, die Gläser und Tassen auf dem altertümlichen Kredenzkasten, erst stumm, dann halbflüsternd, endlich halblaut singend nach einer selbsterfundenen Melodie.

Da wurde ein Geräusch vernehmbar, die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle stand Bozena, ein Licht in der Hand, das ihre Züge grell beleuchtete. Ein sonderbares Gemisch von Empfindungen, von Freude und Sorge drückte sich in ihnen aus. Heißenstein war aus der Fenstervertiefung hervorgetreten an den großen Speisetisch, auf den er seine beiden flachen Hände legte. Die Knie zitterten ihm und pfeifend entrang der Atem sich seiner Brust.

Bozena rief: «Kommen Sie, Herr! kommen Sie!»

Er sah die Botin unverwandt und mit fragenden, erwartungsvollen Blicken an, und keuchte endlich, ohne seine Stellung zu verändern: «Es ist ein Sohn – rede! – Es ist ein Sohn!»

«Was – Sohn!» erwiderte Bozena – «Sie sollen kommen, der Frau geht es schlecht.»

Heißenstein richtete sich mit Gewalt empor und ging mit heftigen und doch müden Schritten auf die Magd zu.

«Aber das Kind…» , rief er, «das Kind ist da – lebt?»

«Ist da – – lebt» , wiederholte sie.

«Ist ein Knabe?!» setzte er hinzu, fast schreiend in bangender Qual.

«Ist ein Mädchen», sagte Bozena. Sie sagte es ruhig und beschwichtigend. Er jedoch außer sich, sinnverwirrt, meinte Hohn und Schadenfreude aus ihrer Stimme klingen zu hören. Mit einer Verwünschung stürzte er auf die Verkünderin der unwillkommenen Botschaft los, stieß sie vor die Brust, daß sie taumelte, und ging – nicht zu seiner schwer kranken Frau, nicht zu dem neugeborenen Kinde, sondern zurück in sein Gemach, dessen Tür er hinter sich zuwarf und verriegelte.

Bozena war von dem unerwartet erhaltenen Schlage einen Augenblick wie betäubt; der Leuchter entsank ihr. Aber schon in der nächsten Minute hatte sie sich aufgerafft. Sie sandte ihrem Herrn ein boshaftes Gelächter nach und streckte ihrer kleinen Rosa, die auf sie zuflog, die Arme entgegen. Sie hob ihren Liebling hoch empor auf ihren mächtigen Händen und rief jauchzend: «Er hat keinen Sohn – er wird keine Tochter haben als dich – du bleibst die einzige … Die dort – sterben!» – flüsterte sie liebkosend in des Kindes Ohr, – «du lebst, du wirst leben – und schön und reich und glücklich sein!»

Bozena Kapitel 19

Den Befürchtungen der Arzte und den Hoffnungen Bozenas zum Trotz, erholte sich Frau Heißenstein; und ihr Sprößling, dem bei seinem Erscheinen die Möglichkeit abgesprochen wurde, die Nacht zu überdauern, blieb am Leben. Ja, er bekundete bei Überwindung der Fährlichkeiten, die jede Säuglingsexistenz bedrohen, eine Zähigkeit und Kraft, die alle Sachverständigen in Erstaunen setzte. Die Neugeborene erhielt in der Taufe den Namen Regula, und während ihre Mutter wochenlang hilflos und ohnmächtig danieder lag, und ihr Vater sich grollend von ihrer Wiege abwendete, fand sie ein Herz am Eingang ihres Lebensweges, das sich ihr hingab mit stürmischem Entzücken. Die kleine Rosa begrüßte in dem plötzlich erschienenen Schwesterchen ein Geschenk, das der gute Storch für sie, und ganz allein für sie gebracht hatte. Sie faßte Posto an der Seite des gelben, winzigen Geschöpfes, das jämmerlich kreischend in seinen Kissen lag, und so erbärmliche Gesichter schnitt, und die mageren Händchen so sonderbar ballte und ausstreckte.

«Es stirbt! es stirbt!» rief sie, wenn sich die kleinen alten Züge veränderten und verzerrten. Und wenn es die Augen aufschlug, sang sie ihm vor und bewunderte es, und wollte ihm beständig etwas zu essen geben.

Als Frau Heißenstein wieder auf die Beine kam, war es ihre erste Sorge, ihre Tochter in Schutz zu nehmen vor Rosas aufdringlicher und äußerungsbedürftiger Liebe. «Durch die wird ihr nichts Gutes» , meinte sie, und blieb immer darauf bedacht, die beiden Kinder voneinander fernzuhalten.

Stets hinweggewiesen und fortgedrängt, kam Rosa dennoch wieder. Das wilde, ungestüme Ding saß oft stundenlang an der Tür des Zimmers, in dem Regula zunahm an Häßlichkeit und Wohlbefinden vor Gott und den Menschen, still wartend, bis ihr endlich gestattet wurde, einzutreten. «Aber nur für einen Augenblick – du hörst? Und nur, um sie zu sehen – du verstehst? Zum Sehen sind uns die Augen gegeben, nicht die Hände. Keine Umarmung!» – Derlei ganz unnötige Kundgebungen waren Frau Nannetten besonders verhaßt.

Das gelbe Töchterchen hingegen wuchs unter dringenden Warnungen vor der Schwester heran: «Mache es nicht wie die! Danke Gott, daß du nicht bist wie die!» Das Entgegengesetzte von allem, was Rosa tat, das war das Rechte.

Der Glaube Nannettens an sich selbst konnte von jeher zu den starken Dingen gezählt werden, seitdem sie aber ein Kind geboren, kam sie sich so merkwürdig und wichtig vor, als ob sie die erste gewesen sei, der eine solche Tat überhaupt gelungen war. Früher gehörte zu ihren stehenden Redensarten auch der Satz: «Kinder in die Welt setzen ist leicht, sie erziehen ist schwer.» Jetzt geriet sie in Zweifel, welcher von beiden Wirksamkeiten die Palme zu reichen sei. Abwechselnd beugte sich die Gouvernante vor der Mutter, die ihr ein solches Erziehungsmaterial geliefert wie dieses Wunder: Regula, und die Mutter vor der Gouvernante, die es so glänzend auszunützen verstand. Schon in der Wiege hatte das Kind die ersten dunklen Begriffe von Schicklichkeit in sich aufgenommen. Mit drei Jahren gab es bereits Beweise von ernstem Wissensdrang. Einer Strafe bedurfte es nie, mit Lob und Bewunderung wurde es geführt; diese beständig hervorzurufen war sein unablässiges .Bemühen. Kein Kind war jemals so bestrebt, seinen eigenen Willen durchzusetzen, wie Regula einen mütterlichen Befehl zu erfüllen; keines haschte jemals so gierig nach guten Bissen, wie sie nach guten Lehren, und die Resultate derselben blühten als ausgesucht feine Manieren, überraschend höfliche Redewendungen aus ihrem wohlgeschulten Benehmen hervor.

Im fünften Jahre trug sie schon einen Schnürleib, und sagte mit echtem Pariser Akzente: «Oui monsieur» und «non madame». Mit dem Widerspiel ihrer eigenen Vollkommenheit, der unartigen Rosa, wollte sie natürlich nichts zu tun haben, und diese gab es endlich auf, sich um ihre Liebe zu bewerben; sie kehrte wieder zu ihrer schönen Bozena zurück, die sie mit offenen Armen aufnahm.

So war das Gleichgewicht von neuem hergestellt, und die beiden Parteien standen einander im offenen und verdeckten Kampfe gegenüber. Einen scheinbaren Mittelpunkt bildete der Hausvater. Nur einen scheinbaren; in der Tat vereinsamte er immer mehr, die ganze «Weiberwirtschaft» war ihm im Grunde gleichgültig. Empfand er überhaupt eine sympathische Regung für eines seiner Kinder, so war es für die stille Regula. Wenn ihm ein oder das andere Mal das Lob, das ihre Mutter ihrer Musterhaftigkeit spendete, gar zu übertrieben schien, so sagte er nur: «Brav – zu brav! Was nicht gegoren hat, ist, solange die Welt steht, noch nicht Wein geworden.» Worauf Frau Nannette die Ellbogen fest an die Rippen drückte, sich steif aufrichtete und dem Blicke des immer noch gefürchteten Mannes ausweichend, erwiderte, sie sei bisher des Glaubens gewesen, «des Rebensaftes Klärung» vollziehe sich nach andern Gesetzen als diejenigen, welche der Erziehung einer jungen Dame vorstünden.

Herr Heißenstein war sehr alt geworden seit seiner letzten Enttäuschung, und Regula wurde die Vermittlerin des Einflusses, den Nannette allmählich auf ihren Gatten zu üben begann. Einen gewissen Grad von Bewunderung vermochte er seinem wohlerzogenen Kind nicht zu versagen. Sie verneigte sich so ehrerbietig vor ihm, brachte ihm fortwährend stumme Ovationen dar; ihre Haare waren immer so glatt gekämmt, ihre Kleider immer so nett; sie saß und stand immer so gerade, fiel niemals einem andern ins Wort, widersprach nie. Und dann – ihre Kenntnisse! Ihr Wissen! Die Gelehrsamkeit seiner Frau hatte Herrn Leopolds Eitelkeit oft verletzt, die Gelehrsamkeit seiner Tochter schmeichelte ihm. Es war doch hübsch, wenn sie sich an seinem Geburtstage vor ihn hinpflanzte, als Esther gekleidet; eine Verbeugung machte, so tief, daß man im Zweifel sein konnte, ob sie sich auf den Estrich niederlassen oder wieder aufrichten werde, und dann begann.

«Peut-être on t’a conté la fameuse disgrâce
De l’altière Vasthi dont j’occupe la place…»

Oder wenn sie als Schwester der Pallantiden erschien, und ohne auch nur einen Augenblick zu stocken, die famose Tirade deklamierte:

«Que mon coeur, chère Ismène, écoute avidement
Un discours qui peut-être a peu de fondement…»

– Und so weiter!

Mußte Herr Heißenstein da nicht sagen: «Bravo, meine Regel! Bravo!» Und mußte sein Blick sich nicht fragend und mißbilligend auf die große Tochter richten, die von der Sprache, in der die Kleine sich so geläufig ausdrückte, nicht mehr verstand als eine Kuh vom Spanischen, das heißt soviel wie ihr eigener Vater? Mußte da nicht Frau Nannettens heuchlerisch bekümmertes: «An der erlebst du keine Freude» Eindruck auf ihn machen?

Freilich bewahrte Rosa ihre Unabhängigkeit, aber dies geschah auf Kosten der Familiengemeinschaft und der Zusammengehörigkeit. Sie war gleichsam außerhalb des Gesetzes erklärt, und man ließ ihr diejenige Nachsicht zuteil werden, welche aus dem Verzweifeln an einem Menschen entspringt. Und Rosa, die bisher lachend getrotzt und die indirekten Ermahnungen der Stiefmutter, die heftigen Rügen des Vaters mit einem Scherzworte erwidert hatte, begann nachdenklich zu werden. Ihre Heiterkeit verschwand, ihr froher Gesang erscholl nicht mehr in den Gängen des düsteren alten Hauses, man sah die liebliche Gestalt des Fräuleins Augentrost, wie der Kommis sie nannte, nicht mehr treppauf treppab hüpfen zur Wette mit Hündchen und Kätzlein. Sie saß eingeschlossen in ihrer Stube, pflegte die Blumen und Vögel, die sonst ohne Bozenas Beihilfe verdurstet und verhungert wären, oder las Romane aus der Leihbibliothek des Städtchens, in der sie sich im geheimen abonniert hatte.

Und gerade damals, wo sie einer Stütze am bedürftigsten gewesen wäre, wurde ihr von ihrer einzigen Beschützerin keine geboten.

Die schöne Bozena war um diese Zeit, in der ihr Herzensliebling in die Mädchenjahre, sie selbst aber in die Jahre der reiferen Weiblichkeit trat, eine lahmgelegte Kraft. Sie verbrauchte all ihre Seelenstärke für sich, konnte an andre nichts davon abgeben. Mit gewohnter Pünklichkeit verrichtete sie zwar ihren Dienst, sie hatte ihn ja im kleinen Finger, aber das Herz war nicht mehr dabei. Ihr Feuereifer brannte hell wie je, aber als eine stille Flamme, nicht mehr Funken sprühend nach allen Richtungen. Man sah sie jetzt nach beendeter Arbeit müßig dasitzen, die Hände im Schoß. Plötzlich angerufen, fuhr sie auf, wie aus einem Traume. Das seltsamste war, daß sie begann ihrer äußeren Erscheinung mehr Aufmerksamkeit zu widmen und sogar Freude am Putz zu finden. Die haushälterische Bozena verwendete so manchen Gulden für Schmuck und Tand. Ihr lebhaftes Interesse für die Ereignisse in Haus und Stadt war erloschen. Etwas Großes ging vor in ihrem Innern, und auf die ganz erfüllte Seele besaßen von außen kommende Eindrücke keine Macht.

Worin die Ursache der merkwürdigen Umwandlung in Bozenas Wesen zu suchen war, das ahnte nur ein Mensch: Mansuet Weberlein, der Kommis. Ein stummes Verständnis, das allezeit tiefer ist als eines, das Worte braucht, um sich zu offenbaren, herrschte zwischen den beiden. Bozena wußte dem Alten Dank für sein einsichtsvolles Begreifen und für sein rücksichtsvolles Schweigen; die Gesellschaft des einzigen, der sie durchblickte, tat ihr wohl und wurde von ihr aufgesucht. Dem Alten hingegen war Bozena viel lieber, als sie und er selbst es ahnte.

Die Woche hindurch war Herr Mansuet außerhalb seines Glasverschlages in den ebenerdigen Geschäftslokalitäten nicht zu erblicken, aber «am Namenstage der Faulenzer», wie er den Sonntag nannte, gönnte auch er sich eine kleine Erholung. Da kam er gegen Abend staubig, wie eine Ofenfigur, aus seiner Höhle hervorgekrochen und nahm Platz in einer der Mauernischen des Torweges, die wohl ursprünglich zur Aufnahme einer Statue oder einer Blumenvase bestimmt sein mochte. Er zündete seine Pfeife an und meinte nun, er schmauche im Freien. Regelmäßig stellte sich Bozena bei ihm ein, er nickte ihr zu und sagte: «Muß mir ein bißchen die Bummler ansehen.» – «Muß Ihnen ein bißchen helfen», erwiderte sie. In Wahrheit aber machten sich beide aus den Bummlern nichts.

Gewöhnlich erschien Bozena in ihren Hauskleidern, die Festgewänder legte sie nach dem Kirchenbesuch ab, und sich nach beendetem Tagewerk noch einmal in Staat zu werfen, war ihr nicht der Mühe wert. Auch in ihrer Einfachheit gefiel sie ihren zahlreichen Anbetern nur zu wohl und hatte ohnedies genug zu tun, die Zudringlichen in respektvoller Entfernung zu halten.

Herr Weberlein war nicht wenig erstaunt, als sich Bozena eines Sonntags prächtig angetan zum Nachmittagsgeplauder einfand. Sie kam langsam, in Gedanken versunken die Treppe herab. Ihre rechte Hand glitt das Geländer entlang, den Rücken der linken hielt sie fest an den Mund gedrückt. Das runde Häubchen mit den flatternden Bändern saß wundergut auf dem reichen Haar mit seinem schwarzblauen Glanze. Eine Korallenschnur umfaßte den kräftigen und geschmeidigen Hals, über die Brust war ein schneeweißes Tuch gekreuzt. Kurze, bauschige Ärmel ließen die wohlgeformten Arme frei. Ein Rock von broschiertem, dunkelgrünem Damast fiel in schweren Falten bis zu den Knöcheln nieder, eine seidene Schürze, bunt gestickte Strümpfe und glänzende Schnallenschuhe vervollständigten den halb städtischen, halb ländlichen, nagelneuen Anzug.

Der Tausend! Sie war schön und majestätisch anzusehen in dieser Pracht, die mächtige Gestalt. Weberlein betrachtete sie vergnügt, kauerte sich tiefer in seine Nische und murmelte: «Sauber! Sauber!»

Bozena stand nun vor ihm und grüßte mit einem Anfluge von Verlegenheit. «Sapperlot» , sprach der Alte, «das ist ja schön von Ihnen, daß Sie sich auch einmal mir zu Ehren in Parade versetzt haben.»

«Ihnen zu Ehren doch nicht» , antwortete sie.

Er schlug ein Schnippchen, als wollt er sagen: Sie haben gut leugnen, ich weiß, was ich weiß. Bozenas Gesicht bedeckte sich mit hoher Röte, und sie sprach leise, aber resolut: «Es ist heut Tanz beim ‹Grünen Baum›, da geh ich hin.»

Der Blick, den Weberlein jetzt auf sie warf, bewies, daß es möglich sei, zugleich Mitleid und Verachtung auszudrücken. Sein unproportioniert großes Kinn bewegte sich ein paarmal hin und her in der hohen, halbmilitärischen Krawatte, in der es endlich zur Hälfte verschwand, und er rief: «Sie sind, scheint mir – närrisch!»

Bozena erwiderte nichts. Sie hatte die Arme gekreuzt, lehnte sich an die Wand und blickte stumm und trotzig vor sich nieder.

Auf dem Platze wurde es immer lebendiger. Dem heißen Sommertage war ein erquickender Abend gefolgt; ihn zu genießen strömte die schöne Welt der Stadt der Promenade zu. Unter denen, die am Hause vorüberkamen, dünkten sich nur wenige zu vornehm, um dem Vertrauensmanne Herrn Heißensteins einen Gruß zuzurufen; so mancher blieb stehen und wechselte mit ihm einige Worte. Auch Bekannte Bozenas kamen – stille Verehrer, die es nicht auszusprechen wagten, wie begehrenswert ihnen die rüstige Jungfrau mit ihrem Fleiß und Geschick und mit ihren, wie man wußte, ansehnlichen Sparpfennigen erschien; kühne Bewerber, die sie heimzuführen hofften, wenn nicht gleich, so doch sicherlich dann, wenn einmal Fräulein Rosa wegheiraten würde aus dem väterlichen Hause. Auch einige hübsche Mädchen, bestens geschmückt zum heutigen Tanze, fanden sich ein und vergrößerten den Halbkreis, der sich um Bozena gebildet hatte, wie um eine Audienz erteilende Königin.

So war schon eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft im Torwege versammelt. Und jetzt trat aus dem gegenüberliegenden, vom Kreishauptmann Grafen Kühnwald bewohnten Hause ein junger Mann, auf den sich sofort die allgemeine Aufmerksamkeit richtete. Die Mädchen stießen einander an und kicherten, die Männer zuckten die Achseln; ein Schreiberlein in einem schäbigen Rock, den nur der Umstand zum Sonntagsrocke stempelte, daß er einst schwarz gewesen war, sagte mit einem Ausdruck von schlecht verhehltem Neide: «Da kommt Bernhard der Pfau!»

«Dann wird auch die ‹Gräfin› nicht weit sein», ließ eine Mädchenstimme sich vernehmen.

Und wirklich, die sogenannte Gräfin schritt eben über den Platz. Sie war eine stattliche Bauerntochter, die reichste und umworbenste aus dem nahen Dorfe, das gleichsam die Vorstadt Weinbergs bildete. Begleitet von ihrer Sippe begab sie sich zum Tanze. Der junge Mann näherte sich ihr und schien eine Frage an sie zu stellen. Die Dorfgräfin nickte gnädig und setzte ihren Weg fort, indessen er auf das Haus Heißenstein zuschritt.

Ein schlanker Bursche war’s, in der kleidsamen Montur eines herrschaftlichen Büchsenspanners, im dunkelgrünen Rock mit Aufschlägen von Samt, silbernen Wappenknöpfen und Achselschnüren, ein schmuckes Mützchen auf den braunen, dichten, kurzgehaltenen Locken. Seine Haltung war vornehm und frei, das Gesicht fein geschnitten; Siegesgewißheit in jeder Miene und Bewegung, kam der Bursche heran und kindische Freude an sich selbst leuchtete ihm aus den Augen. Er grüßte die Gesellschaft mit der herablassenden Freundlichkeit eines gutsituierten Mannes gegen geringe Leute. Dem Kommis gegenüber äußerte er einigen Respekt, die übrigen neckte er, wußte aber auch jedem etwas Angenehmes zu sagen und jeden in das Gespräch zu ziehen. Nur eine Person in dem Kreise sah er nicht, bemerkte er nicht – die ansehnlichste und auffallendste von allen: Bozena.

Und die war plötzlich verstummt. Sie hatte den Kopf an die Wand zurückgelehnt und die Augen halb geschlossen. Von ihren Schläfen herab, die Wangen entlang zog sich ein weißer Streifen – das Erbleichen sehr rot gefärbter Menschen. Verstohlen warf der Jäger manchmal einen Blick nach ihr hin, und je gequälter ihm der Ausdruck ihres Gesichtes erschien, desto lustiger wurde er, desto übermütiger seine Laune. Mansuet Weberlein kämpfte mit einem nervösen Zucken im Arme, verdrehte die Beine so, daß seine einwärts gebogenen Fußspitzen einander auf dem vorspringenden Mauersockel begegneten, und schoß gegen Bernhard den Pfau eine bissige Bemerkung nach der andern ab. Endlich rief er giftig: «Schad‘ um Sie! Indessen Sie uns hier Späße vormachen, tanzt Ihnen ein Tölpelpeter oder ein Lümmelhans Ihre Gräfin weg!»

Der Jäger wollte antworten, aber ein stämmiger Bursche kam ihm zuvor: «Seine Gräfin?» spöttelte er – «dem Büchsenspanner seine? … Warum nicht gar?»

Ein hochmütiges Lächeln kräuselte Bernhards Lippen. «Oho, du Gescheiter, nicht mehr lange Büchsenspanner. Im Herbst gibt mir mein Graf ein Revier», sprach er.

«Die Bäuerin schiert sich was um dein Revier», entgegnete der Bursche; und zu einem der Mädchen gewendet, fügte er rasch hinzu: «Wollen wir sie fragen, Toni?» – Und Toni antwortete eiligst «Ja», und dem sich entfernenden Pärchen folgten andere Tanzlustige nach, und bald war die ganze Versammlung auseinander gestoben. Auch der Jäger empfahl sich jetzt auf das höflichste bei Weberlein, nach einigen Schritten aber blieb er, als besänne er sich plötzlich, stehen, wandte sich gegen Bozena und fragte wie jemand, der innerlich widerstrebend eine Pflicht der Artigkeit erfüllt: «Kommen Sie nicht auch?» Dann eilte er den übrigen nach mit großen Schritten und schlecht verhehlter Besorgnis, daß sie sich ihm vielleicht anschließen könnte.

«Prosit!» zischelte der Kommis zwischen den Zähnen, «sonst haben Sie keine Schmerzen?»

Aber wie ward ihm, als Bozena nun vor ihm stand, und mit gepreßtem Tone und niedergeschlagenen Augen sagte: «Alsdann Adje, Herr Weberlein.»

Nein! das kann nicht sein … Das ist ja die bare Unmöglichkeit! – In Scharen waren sie oft gekommen, die allerbesten Tänzer der Stadt und des Dorfes und hatten gesagt: «Erweisen Sie mir die Ehre» und «Machen Sie mir die Freude» … Und sie hatte geantwortet: «Ich geh zu keinem Tanz.» Und jetzt warf ihr ein Laffe, ein Geck von oben herab eine Aufforderung hin, so leer, so gar nichtssagend als höchstens: Ein ganzer Bengel will ich doch nicht sein; und sie lachte ihm nicht ins Gesicht, sie schwieg – sie folgte ihm, dem Laffen, dem Gecken, demütig wie ein Hund seinem Herrn?! Donner und Wetter! Wenn der liebe Gott vom Himmel gestiegen wäre und es dem Kommis Weberlein erzählt hätte, dieser würde geantwortet haben: «Verzeih mir’s – Gott! Aber das kann ich nicht glauben.» … Und nun sah er’s, nun mußte er es sehen mit seinen eigenen Augen und konnte seine eigenen Finger legen in die Wunden, die dem Stolze Bozenas geschlagen worden. Er blickte völlig verstört zu ihr empor und brachte nur ein Wort heraus, nur das einzige Wort: «Was?»

Sie schien ein Weilchen zu zögern, dann sprach sie mühsam und mit trockenen Lippen: «Ich muß wissen, wie es steht mit ihm und der Eva», und wandte sich, und von weitem, in wohlberechneter Entfernung, folgte sie dem Jäger.

Herr Weberlein nahm eine boshafte und wegwerfende Miene an, mit abscheulich menschenfeindlichen Blicken stierte er auf den Platz hinaus und kehrte ihm und dem Treiben da draußen endlich ganz und gar den Rücken. Wie ein Alräunchen hockte er in seiner Nische und zog in kurzen, raschen Zügen den Rauch aus seiner Pfeife. Er schmauchte nicht mehr, er tobakelte und umgab sich mit kleinen dichten Wolken, die ihn dräuend und unheilverkündend, als Zeichen seiner großen inneren Erregtheit, umflogen.

Bozena Kapitel 20

Beim «Grünen Baum» hatte die Unterhaltung schon begonnen, aber noch war wenig Wein getrunken worden, noch gab es keine ausgelassene Lustigkeit, noch hatte kein Streit stattgefunden. Die Paare drehten sich langsam und mit bewunderungswürdiger Ausdauer. Von Zeit zu Zeit ertönte ein lauter Jubelruf, ein Bursche klatschte in die Hände, hob seine Tänzerin hoch empor, ließ sie dann sich ein Weilchen allein neben ihm herschwenken, umfaßte sie von neuem und ruhig tanzten sie weiter mit denselben schläfrigen Gesichtern, mit denen sie ihre Fronarbeit verrichteten.

Bernhard trat oft in die Mitte der Stube, sah mit Wohlgefallen, wie viele Mädchenaugen sich erwartungsvoll auf ihn richteten, winkte jedoch keine der Anwesenden nach Bauernsitte zu sich herbei. Eva war für diesen Walzer versagt und mit einer Geringeren trat er nicht in den Reigen.

Bozena stand, alle Frauen und die meisten Männer, die sie umgaben, überragend, finster und grollend in einer Ecke und wies alle Aufforderungen, sich an dem Tanze zu beteiligen, kurz ab. Sie sei nur gekommen, ein wenig zuzusehen, müsse gleich wieder heim. Die Musik schwieg, ein Tanz war zu Ende, nach kurzer Pause wurde wieder aufgespielt, und jetzt hatte Bernhard die «Gräfin» erfaßt und wirbelte mit ihr durch die Stube. Nicht langsam und mattherzig, wie ihr früherer Partner, frisch, mit fröhlicher Anmut und Leichtigkeit schwenkte er sie im Takte. Wie zwei Vögel schwebten sie, flogen sie, als ob die Lüfte sie trügen, jetzt im engen Kreise wie die Lerchen, jetzt wie die Schwalben – dahingleitend in weitem Bogen. Er flüsterte ihr etwas zu und die kokette Dorfschöne blinzelte ihn herausfordernd an; fester drückte er sie an sich, warf den Kopf zurück und schien zu fragen: wer widerstände mir? Sie, nicht minder selbstbewußt, aber weniger naiv, schlug die Augen nieder und schien zu antworten: Ich – vielleicht!

Bozena verwandte von den beiden keinen Blick, ihr Herz klopfte zum Zerspringen, schmerzliche Eifersucht zerschnitt ihr die Brust. Oh, jung sein und begehrenswert wie jene dort! Im Angesichte aller mit Stolz von ihm umfangen werden wie sie, nur einmal, nur einen einzigen seligen Augenblick! Tu ein Wunder, Gott, der du alles kannst! Befriedige diese dürstende Sehnsucht, erlöse diese arme, ringende Seele, lasse sie einmal unschuldig sein ohne Reue und Scham!…

Zu so unerfüllbaren Wünschen hatte Bozena sich verstiegen, als eine Stimme sie anrief: «Grüß Gott!» Evas Vater, ein alter schöner Mann, war zu ihr getreten, er deutete mit dem Mundstück seiner Pfeife auf seine Tochter und fuhr fort: «Das tanzt! Das tanzt!» Wohlgefällig betrachtete er sein Kind und sah dann wieder die Angeredete an, als wollte er sie zur Bewunderung auffordern. Schon drängte sich ein hartes Wort auf Bozenas Lippen, aber sie sprach es nicht aus, vielmehr sprach sie, den Greis forschend ins Auge fassend: «Ein schönes Paar!» Der Bauer verzog den Mund: «Paar?» wiederholte er «Paar? die zwei? – Je nun, auf dem Tanzboden – ja.» Und Bozena atmete auf. Derselbe Ausdruck des engherzigen Hochmuts, der in den welken Zügen des Alten wie versteinert lag – das blühende Gesicht seiner Eva trug ihn auch. Die wird ihr nicht im Ernste eine Nebenbuhlerin, der ist der Jäger trotz aller seiner Vorzüge zu gering! – Bozena verließ die Wirtsstube, sie schritt über den Hof einem kleinen Obstgarten zu, von dem aus der Fußsteig, der bis an die Stadtmauer führte, leicht zu erreichen war. Auf eine Bank unter einem Apfelbaum ließ sie sich nieder und versank in ihre düsteren Gedanken. Eine kurze Zeit nur, und lebhafte, eilende Schritte näherten sich. Sie blickte nicht zurück, sie wußte, er ist es, er sucht sie auf. Im nächsten Augenblick war er bei ihr, setzte sich neben sie auf die Bank und sprach schmeichelnd: «Bozena! Läßt sich die Böse endlich finden?»

Sie antwortet ihm nicht. Er suchte, jedoch vergeblich, ihre Hand zu fassen. «Was hast du wieder? So sag doch ein Wort! – Was ist dir?» sagte Bernhard mit dem leicht erregten Unwillen verwöhnter Menschen.

Nun fuhr sie auf: «Er fragt! Er fragt noch! … Wie? Jetzt kann er kommen, weil ich allein bin! Vor den Leuten kennt er mich nicht! … Weißt du was? Wie du mit mir spielst, so spielt die Eva mit dir!»

Das hatte sie nicht sagen wollen, nicht gleich, nicht so, aber der Ingrimm, der in ihr kochte, sprudelte die Worte heraus. Keuchend lehnte sie sich zurück an den Stamm des Baumes, biß die Zähne übereinander und kreuzte die Arme über der gequälten Brust.

Bernhard lachte gezwungen.

«Mit mir spielt niemand», entgegnete er. «Die Eva weiß recht gut, daß mir’s nicht im Ernst zu tun ist um sie. – Und du solltest wissen, daß ich dich lieb habe!» rief er mit plötzlich ausbrechender Zärtlichkeit und wollte sie umfassen.

Sie stieß ihn zurück und sprach, an allen Gliedern bebend: «Seit einem Jahr vergällt er mir mein Leben. Küßt mich im geheimen und verleugnet mich vor den Leuten … Fort von mir!» herrschte sie, als er statt aller Antwort die Zürnende an sein Herz zu ziehen strebte: «Es muß sein – hörst du? – ich verstelle und verstecke mich nicht mehr. Laß mich in Frieden, wenn du dich meiner schämst!»

Bozena stemmte die Hand gegen seine Brust und hielt ihn von sich mit ausgestrecktem Arme. Und mit diesem stählernen Arme, das wußte Bernhard wohl, hätte er vergeblich gerungen. So senkte er den Kopf auf ihn nieder, lehnte seine Wange daran und sprach: «Ich mag das Gerede der Klatschmäuler nicht – es könnte meinem Grafen zugetragen werden. Und der, du weißt ja, meint, am besten wär’s für mich, wenn ich die Kammerjungfer der Frau Gräfin nähme. Aber ich mag sie nicht!» rief er, sich aufrichtend. «Sie ist mir zuwider – ich hab nur eine gern … Laß mich nur einmal Förster sein, – und die ganze Welt soll schon sehen – wen?!» Es war ein Klang von warmer, überzeugender Empfindung in seinen Worten. Er hatte sie lieb, die Bozena, gewiß; er war stolz auf den uneingeschränkten Besitz dieses bisher unbesiegten Herzens. Er freute sich der Gewalt, die ihm über die Gewaltige gegeben war. Sein unsicheres Wesen wurde von ihrem starken, sein schwankender Wille von ihrem festen mächtig angezogen. Im Bewußtsein ihrer unbegrenzten Liebe ruhte er wie in einer goldenen Wolke, er fühlte sich durch ihre Hingebung gehoben und verklärt. Schützend umhüllte sie ihn, ohne ihn je gedemütigt zu haben, denn immer war sie bereit, sich ihm zu unterwerfen, und alle Lust und alles Weh kam ihr von ihm. Ein Wort, und die Unbezwingliche lag zu seinen Füßen, die größere Seele beugte sich vor seiner Kleinheit, denn kraft ihrer Liebe war er ihr Herr.

Bozena hatte den Arm sinken lassen, der Jäger schlang den seinen um ihren Hals und preßte seine Lippen auf die ihren. Ihr Zorn zerschmolz unter seinen Küssen. Heiße Tränen traten ihr ins Auge und sie sprach wehmütig: «Ich werde niemals deine Frau! Du wirst dich niemals zu mir bekennen. Schweig!» fiel sie ihm ins Wort, da er widersprechen wollte. «Dazu hast du nie den Mut! … Ich bin nur eine arme Magd, und du willst höher hinaus – wir sind nicht füreinander …»

«Ich will dich», beteuerte Bernhard mit Ungestüm, «keine andere, weil sich keine mit dir vergleichen kann. Meinst du, ich bin blind und seh das nicht? … Hab Geduld! … Wirf mir nichts vor … Wir kommen doch zusammen, aber jetzt will ich nichts wissen, nichts hören, nichts fragen als nur: hast mich lieb?»

Bozena legte die gerungenen Hände in ihren Schoß und seufzte schmerzlich auf: «Fragst nicht auch, ob Gott im Himmel lebt? … O Jesus, ob ich ihn lieb habe? Ich wollt, ich könnte sagen, nein, oder ich wollt, ich könnte sagen, warum?»

Trotzig richtete sie sich auf und sprach, als trachte sie sich selbst zu beruhigen über die Natur ihrer Liebe: «In dein hübsches Gesicht habe ich mich nicht vergafft!»

Der Jäger lachte und küßte sie, und Bozena erduldete seine Liebkosungen, aber sie erwiderte sie nicht.

«So bist du heute», grollte sie, «und morgen ist alles wieder wie früher, und morgen trittst du mir wieder aufs Herz. O könnt ich frei sein! … Könnt ich mich losmachen von dir!»

Er erschrak über die Verzweiflung, die aus ihrer Stimme klang; zum erstenmale tauchte die Möglichkeit, sie zu verlieren, vor ihm auf und erfüllte ihn mit tiefster Besorgnis, mit bitterstem Weh: «Dich losmachen von mir?» fragte er vorwurfsvoll, «das möchtest du?»

«Wohl möcht ich’s!» antwortete sie, «aber was hilft mir das? … Bin ich nicht wie verfangen im Dorngestrüpp, es zerfleischt mich, – und läßt mich nicht los … Bernhard! Bernhard!» Sie beugte sich vor, mit beiden Händen griff sie in sein Haar, zog seinen Kopf an ihre Brust und schaute in die Augen, die sich bittend und voll heißer Zärtlichkeit zu ihr erhoben. «Bist mir denn treu?» schrie sie plötzlich auf.

Das rief wieder die alte Bozena! Das war wieder die echte alte Leidenschaft! – Sie zitterte um ihn, er hatte sie wieder! Der funkelnde Blick des Jägers ruhte fest in dem ihren und seine Seele frohlockte. Übermütig strich er mit Daumen und Zeigefinger den Schnurrbart in die Höhe und sprach schmollend, wie ein berechnender, kluger, vollendeter Don Juan:

«Bist du denn mein?»

«Schäm dich!» erwiderte sie, und barg ihr Gesicht in ihre Schürze und schluchzte laut.

Er aber flehte, tröstete, beteuerte. Kein Liebesschwur, den er nicht tat, kein Schmeichelwort, das er nicht sagte. Und Bozena lauschte seiner süßen Rede, von neuem überwunden, von neuem überzeugt. Er wolle ein Ende machen! Das gelobte er, und sollt es ihn die Stelle kosten und seines Grafen Gnade! Von der Bozena läßt er nicht, er kennt ihren Wert, ihr gehört er an in Glück und Not, im Leben und im Tode. Nur sie vermag – – da fährt er zusammen, hält inne … hinter den Büschen des Zauns hat sich’s geregt. Der Teufel! haben seine Worte einen Zeugen gehabt? War ein Lauscher da? Bernhard springt empor und auf die Stelle los, von der aus das Geräusch gekommen. Er ruft laut: «Wer da?» – keine Antwort und ringsum niemand zu erblicken. Sie sind allein.

Etwas verlegen über die Bestürzung, die er unwillkürlich hatte erblicken lassen, kehrt der Jäger zurück. In einen andern Menschen verwandelt, gleichgültig und kalt stand er vor seiner Geliebten und sagte: «Es ist spät – ich muß fort.»

Sie biß die Zähne übereinander und maß ihn mit verachtungsvollen Blicken.

«O du!» rief sie «wenn einer dort gestanden hätt, und wär’s der Stallbub gewesen aus eurem Hause … Und hätte der gespaßt: Unser Jäger geht mit der Magd des Weinhändlers – vor dem Stallbuben hättest du mich verleugnet! Jetzt hättest du’s getan! … Und wenn dich heut abends beim Tische der Hausoffiziere jemand nach mir fragt, wirst du antworten: Ich kenne sie nicht! Gelt?» schrie Bozena mit vernichtendem Hohne und richtete sich hoch auf vor ihm, der mit finsterem Gesichte zur Erde starrte und – schwieg.

«Ich Narr! Ich Narr!» stöhnte sie und wandte sich und rannte davon. Sie schaute nicht – er rief sie nicht zurück, und dennoch hemmte sie bald die Raschheit ihrer Schritte. Sie blieb stehen – sie lauschte – sie wartete und setzte dann immer langsamer ihren Weg fort. Wie oft hatten sie sich schon getrennt, aber niemals hatte ein Abschied ihr das Herz zerrissen wie dieser. Hatte sie doch noch nie so harte Worte zu ihm gesprochen, war ihm doch niemals so weh durch sie geschehen. Wird er ihr je verzeihen? – Schon denkt sie nichts andres mehr als: wird er mir je verzeihen?…

Das macht: sie ist gefangen, ein Spielball in eines Knaben Hand – die große Bozena!

Bozena Kapitel 21

5.

Während Bozena in so schweren Herzenskämpfen rang, wurde auch ihr Schützling von seinem Schicksal ereilt. Zugleich glücklicher und unglücklicher als ihre Getreue, hatte Rosa eine Neigung eingeflößt, die sich nicht verbarg, die nur allzu eifrig zur Schau getragen wurde, die aber so gut wie keine Hoffnung bot, zu ihrem Ziele, dem Frieden einer erwünschten Ehe zu gelangen.

Seit einigen Monaten war in der Umgebung Weinbergs ein Ulanenregiment einquartiert, dessen hübschester Leutnant den großen, sehr mittelmäßig gepflasterten Platz des Städtchens für den geeignetsten Ort zu halten schien, wo seinen Pferden die letzte, höchste Dressur beizubringen wäre. Er kam heut auf dem Mohrenkopf und morgen auf dem Schwarzbraun; er umkreiste den steinernen Marktbrunnen im Jagdgalopp, im spanischen Schritt, im kurzen und im langen Trabe. Er jagte, die Hand am Schirme seines Käppchens, im Fluge wie ein Kosak, oder er ritt feierlich und langsam wie der Cid unter Ximenens Altan, an dem alten Hause vorüber. Und am Fenster stand Rosa voll Bewunderung und lächelte ihm zu. Seit dem Augenblicke, da sie ihn zum erstenmale gesehen, hatte ein neues Leben für sie begonnen. Seltsam, seltsam war ihr’s damals ergangen. So, meinte sie, so rasch, so plötzlich und unwiederbringlich hätte noch keine ihr Herz verloren, nein, verschenkt – gern, glückselig verschenkt.

Mit klingendem Spiele und flatternden Fähnlein war das Regiment auf einem Marsche nach der neuen Garnison durch die Stadt geritten. Und Rosa, von dem Schalle der lustigen Musik an das Fenster gelockt, hatte sich ergötzt an dem bunten Schauspiel zu ihren Füßen; Zug um Zug marschierte vorüber und manches Auge richtete sich mit Wohlgefallen auf das Mädchen, das so übermütig auf die staubbedeckten Reiter herabsah, als defilierten sie nur ihr zu Ehren und zum Spaße da vorbei.

Endlich kam er herangeritten, nachlässig, mit schlaffen Zügeln, und träumte vor sich hin. Nun schien das alte Haus seine Aufmerksamkeit zu erregen. Wie ein verwitterter Aristokrat inmitten geschniegelter Emporkömmlinge nahm es sich mit seinen etwas abgebröckelten Stukkaturen, seinen schweren Strebepfeilern und tiefen Fensterbogen aus, neben den blanken, charakterlosen Nachbarn. Der Offizier sah an dem grauen Gemäuer empor, wie überrascht von seiner altertümlichen Schönheit. Als wecke es in ihm eine wehmütige Erinnerung, betrachtete er es ernsthaft, ja traurig und doch fast liebevoll. Und jetzt begegnete sein Blick dem der Rose am Fenster, dieser holden, trotzigen Rose, so schön, so frisch in ihrer düsteren Umrahmung. Vier junge Augen ruhten ineinander mit unschuldigem Erstaunen, mit selbstvergessenem Entzücken. Und das alte, ewig neue Wunder vollzog sich; in zwei von Schmerz und Glück noch unberührten Seelen erwachte die Sehnsucht und mit Bangen die Ahnung all der Wonnen und all des Wehs, die sie bestimmt waren einander zu bereiten, die Ahnung des großen Lebensgeheimnisses, das Aufgehen des eigenen in einem fremden Dasein.

Unwillkürlich hielt der Jüngling sein Pferd an, und stand regungslos mit emporgewandtem Haupte, mit dem Ausdruck der seligsten Bewunderung auf seinem Gesichte. Eine Hand, die sich auf seine Schulter legte, eine Stimme, die ihn anrief: «Schläfst du, Fehse?» weckte ihn aus seiner Versunkenheit. Er errötete über und über und setzte sich wieder in Bewegung. Der Kamerad aber war der Richtung, welche die Augen des Freundes genommen, mit den seinen gefolgt, er lächelte und machte eine Bewegung, als wollte er sagen: «Ja so – jetzt verstehe ich!»

Und Rosa, bestürzt, beschämt, eilte vom Fenster hinweg, mit dem Gefühl einer ertappten Sünderin. Wie peinlich war der Augenblick! Und doch – sie hätte ihn nicht tauschen mögen gegen alle frohe Stunden, die sie bisher erlebt.

Das kindische Pärchen flog in sein erstes Liebesabenteuer hinein wie junge Vögel in das Feuer. Damals hatte ein österreichischer Offizier alle mögliche Zeit, seine Privatangelegenheiten zu besorgen. Wenn er, wie Fehse es tat, auch täglich drei Meilen weit ritt, um an der Wand den Schatten seiner Angebeteten oder am Fenster den Schimmer ihres Nachtlämpchens zu erblicken, der Dienst, der ihm oblag, brauchte nicht darunter zu leiden.

Später wurde der Leutnant in ein dem Städtchen näher gelegenes Dorf versetzt, und nun begannen jene Fensterparaden auf dem Platze, die sehr bald Rosas Freude ausmachten und Herrn Heißenstein ein Ärgernis gaben.

Frau Nannette nahm von alledem keine Notiz.

Eine Sache, von der man sich nur Kenntnis verschaffen konnte, indem man aus dem Fenster sah, fand sie für angemessen zu ignorieren. Sie predigte nicht etwa mit Worten allein, sie predigte durch ihr Beispiel. Sie pflegte zu unterlassen, was Regula bleiben lassen sollte.

Jawohl, bleiben lassen! Oder hat man jemals gehört, daß ein wohlerzogenes Mädchen Lust und Zeit hätte, aus dem Fenster zu sehen? Wenn dies der Fall, dann muß Frau Nannette sich schämen und ihre Unwissenheit bekennen. Denn wahrlich, ihr ist dergleichen niemals zur Kenntnis gekommen.

Einen stillen, aber heißen Bewunderer fanden die equestrischen Übungen des Leutnants an Mansuet Weberlein. Von seinem Kasten aus, in dem er hockte wie der Frosch im Wetterglase, begleitete der Kommis die Versuche des Ulanen, Fräulein Augentrosts Aufmerksamkeit zu erwecken, mit seinen innigsten Sympathien. Er war ein so begeisterter Anhänger des Militärs, daß er jedem Unternehmen, gleichviel ob es von dem ganzen Stande oder von einem einzelnen seiner Mitglieder in das Werk gesetzt wurde, das beste Gedeihen wünschte.

Wie es kam, daß sich in Weberleins Seele kriegerische Neigungen entwickelten, ist unerklärt geblieben. Er stammte aus einem friedfertigen Geschlechte. Seine Ahnherren hatten als Kommis im Geschäfte Heißenstein gedient, solange dasselbe überhaupt bestand, und sein Vater hatte ihn auferzogen in der Furcht Gottes und der Militärpflicht. Und trotzdem! Als er achtzehn Jahre alt und noch nicht viel über drei Schuh in der vertikalen, aber schon bedenklich in der schrägen Richtung gewachsen war, da kamen Werber aus Ungarn herüber in die Stadt. Mansuet entlief seinem väterlichen Hause und stellte sich.

Er wurde ausgelacht und heimgeschickt. Aber von diesem Tage an galt er in seiner Familie für einen Haudegen, und fühlte sich in einem gewissen Grade mit dem Soldatenwesen verbunden.

In gemütlichen Stunden sagte er zu seinen Vertrauten: «Sehen Sie, jetzt wäre ich Hauptmann, wenn ich nämlich gedient, ich wäre sogar Major, wenn man mich nämlich dazu gemacht hätte.»

Er wußte den Militärschematismus auswendig und avancierte mit seinen eingebildeten Kameraden, in seinem eingebildeten Range. Wenn der hübsche Leutnant Fehse am Hause vorüberritt, da verfehlte Mansuet niemals, dem zweiten Kommis zuzuflüstern: «Sehen Sie, der wäre jetzt mein Subordinierter, wenn ich nämlich gedient hätte, bei den Ulanen nämlich, und zwar im zweiten Regimente.»

Die unschwer zu erratenden Absichten seines «Subordinierten» aus allen Kräften zu fördern, empfand Weberlein den lebhaftesten Drang. Und eines schönen Morgens, als Fehse wieder sein Pferd auf dem Platze tummelte, bemerkte sein stiller Gönner, mit einer Hand auf den Schützling deutend und mit der andern dem Prinzipal einen Brief zur Unterschrift vorlegend: «Ansprechendes Exterieur, das des Herrn Leutnants. Scheinen hier einen Punkt der Anziehung gefunden zu haben.»

Und als Heißenstein schwieg, fuhr der Kommis mit einem diplomatischen Lächeln fort: «So frei gewesen, über den Herrn Leutnant Erkundigungen einzuziehen. Bei Großhändler Heller. Sind dort täglicher Gast. Gute Referenzen. Sehr estimiert im Regimente, höchst anständig.»

«Kümmert das Sie?» fragte Herr Heißenstein in wegwerfendem Tone und schob dem Kommis den unterzeichneten Brief hin.

Weberlein legte einen zweiten vor und erwiderte: «Sehr viel. Die Anständigkeit des Nebenmenschen kümmert mich immer sehr viel.»

«Sie wollen sich vermutlich mit ihm in Verbindung setzen», bemerkte der Prinzipal spöttisch. Weberlein war einmal entschlossen kühn zu sein; er ließ sich nicht irremachen durch die majestätische Ironie Heißensteins. Er dachte: «Wetter! man muß etwas tun für seine Freunde. Ein gutes Wort kann Wunder wirken; es kann Möglichkeiten ins Auge fassen lassen, die sonst nicht erwogen worden wären.»

Und so sprach er: «In Verbindung – ich? – Nur insofern, als ich vermöchte, eine Verbindung mit anderen Personen zu vermitteln, die ihm wahrscheinlich erwünschter wäre.»

Während dieser letzten Rede hatte der Haudegen seine Augen recht fest auf das Blatt in seiner Hand gerichtet. Jetzt wandte er sie seinem Chef zu. Der saß kerzengerade aufgerichtet und machte eine so eisige Miene, daß Mansuet sich von ihrem Anblick durch und durch erkältet fühlte und hüstelnd, als fröre ihn, seinen Rock zuknöpfte. Heißenstein sah den Kommis von der Seite an, und jede Falte auf seinem Gesichte, jedes Haar seiner emporgezogenen Augenbrauen schien zu sagen. «Dieser Mensch wird mich niemals verstehen!»

Der Tag verging. Herr Heißenstein ging auffallend früh und in auffallend schlechter Laune zum Abendessen. Die letztere wurde noch vermehrt, als er Rosas Platz am Tische unbesetzt fand. Ein unerquickliches Gespräch entspann sich zwischen dem Herrn und der Frau vom Hause.

«Wo ist Rosa?»

«Wie allabendlich bei Heller.»

«Wer gab ihr die Erlaubnis…»

«Die nimmt sie wohl selbst. Wer hätte der etwas zu erlauben?»

«Ich!» schrie Heißenstein.

«Du hast doch bis jetzt gegen diese Besuche nichts einzuwenden gehabt», meinte Frau Nannette.

«Von nun an hab ich dagegen einzuwenden», war des Hausvaters kategorische Antwort, und Bozena erhielt den Befehl, Rosa sofort abzuholen und nach Hause zu bringen. Die Magd gehorchte, und Regel, die inzwischen ihre Suppe ausgelöffelt und ohne das leiseste Geräusch geschluckt hatte, küßte ihren Eltern die Hände, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und verließ das Zimmer.

Das Ehepaar war allein.

Er hatte die «Brünner Zeitung», sie ihren Strickstrumpf zur Hand genommen. Vor ihm stand eine Flasche Weines, vor ihr ein kleiner Arbeitskorb, in dem das Knäuelchen, infolge der unglaublichen Geschwindigkeit, mit der sie strickte, ruhelos umherhüpfte. Die Bewegung dieses Knäuelchens schien Herrn Heißenstein unangenehm zu sein, denn er sah es manchmal über die Zeitung hinweg grimmig an.

Eine Atmosphäre des Unbehagens umgab die beiden alten Leute, und Frau Nannette bemühte sich vergeblich, sie zu zerstreuen. Sie lächelte, nickte mit dem Kopfe, sagte von Zeit zu Zeit: «Ja, ja» und: «Du lieber Gott, schon ein Viertel nach neun!» Oder: «Wie doch ein Tag so rasch vergeht!» Sie versuchte sogar durch ein kleines, gemütliches Gähnen die gezwungene Stimmung in eine bequeme zu verwandeln. Alles umsonst!

Endlich hielt sie im Stricken inne, und indem sie mit der Nadel einige Brotkrümchen auf dem Tische in eine gerade Linie schob, teilte sie ihrem Manne mit, als besänne sie sich dessen plötzlich – daß sich ihr heute vormittags auf der Promenade Leutnant von Fehse habe vorstellen lassen.

Herr Heißenstein äußerte den Anteil, den er an dieser Nachricht nahm, dadurch, daß er halblaut zu lesen begann: «Versteigerung der kärntnerischen Kammerfondsherrschaft Friesach, samt der Fronleichnamsbruderschaft Metnitz…»

Frau Nannette fuhr fort: «Ein sehr gebildeter, sehr wohlerzogener junger Mann…»

«An Gebäuden, an Grundstücken, an Untertanen, an Zehenten», murmelte Heißenstein.

«Du hörst nicht, Lieber», sprach seine Gemahlin, und setzte mit größerem Nachdrucke hinzu: «von altem Adel, aus Hannover.»

In einem Tone, der deutlich sagte: «Ich will auch nicht hören», und mit, wie es schien, gesteigertem Interesse an seiner Zeitung, las Heißenstein: «An Untertansgiebigkeit, an unsteigerlichem Gelddienste 609 Gulden 23¾ Kreuzer…»

«Die Fehse sind so alt wie die Montmorency», rief nun Frau Nannette etwas gereizt dazwischen, und vergaß in der Aufregung, ihrer Rede die logische Gliederung zu geben, die sie ihr sonst so gern verlieh. – «So alt wie die Montmorency, und er spricht das schönste Deutsch, das ich jemals hörte.»

«An Kleinrechten», las Heißenstein weiter: «Ein Paar Filzstiefel, ein Stück Hechten, siebenundzwanzig Hendeln, zwei Faschingshühner – – einhundertundfünf Pfund Harreisten…»

Jetzt riß der Faden von Frau Nannettens Geduld. Mühsam, mit großer Selbstüberwindung knüpfte sie ihn wieder zusammen.

Sie beugte sich vor, tippte mit der Stricknadel auf den Ärmel ihres Mannes und sprach: «Es wäre mir angenehm, wenn meine Regula öfters Gelegenheit hätte, dieses ganz vortreffliche Deutsch sprechen zu hören. Das Kind ist so bildungsfähig! Man sollte es nicht glauben, aber heute vormittags wechselte Herr von Fehse einige Worte mit ihr, und schon nachmittags überraschte sie mich mit der Anwendung einiger Imparfaits und Subjonctifs, und mit einer weichen Aussprache der Zischlaute, die mich entzückte. Gestatte demnach, lieber Mann…»

Die Stricknadel fuhr schmeichelnd über den Rockärmel, und bittende Augen ruhten auf dem hartnäckigen Leser. Dieser erhob den Kopf und lächelte seine Ehehälfte an, spöttisch, geringschätzig, herausfordernd.

Frau Nannette fühlte augenblicklich ihre Lippen trocken werden und ihren Hals sich zusammenschnüren. Sie dachte, nicht ohne einen kleinen Schauder, daß es möglich sei, einen Menschen inständigst zu hassen durch ein ganzes Leben hindurch, wegen eines einzigen Lächelns, wenn es so viel Verachtung, so viel Hohn ausdrücke wie dieses.

«Du wünschest also», sprach Herr Heißenstein, «wenn ich recht verstehe, einen Montmorency – Gott, wie sprach der Mann diesen edlen Namen aus! – als Sprachlehrer für unsere Regel. Ich zweifle, ob diese Art in solcher Eigenschaft zu fungieren pflegt, bei Weinhändlerstöchtern.»

Jetzt wurde die Türe des Vorzimmers geöffnet; die Stimme Rosas ließ sich vernehmen. Herr Leopold stand auf: «Genug gescherzt!» rief er, während seine Tochter eintrat. Er wandte sich gegen sie und schleuderte ihr in drohendem Tone die Worte zu: «Herr Leutnant Fehse wird mein Haus niemals betreten!»

Das Mädchen erbleichte und fragte ganz verwirrt über diesen sonderbaren Empfang: «Warum, Vater? – Warum? – Was hast du gegen ihn?»

«Nichts gegen ihn, nichts für ihn», erwiderte Heißenstein, «und dabei soll’s sein Bewenden haben.»

«Warum?» wiederholte sie, «er ist brav und gut, alle Welt liebt ihn.»

«Du wohl auch?» fuhr er sie mit grausamem Spotte an.

«Ja!» antwortete Rosa hochaufatmend.

Er sah sie an und eine leise Regung des Erbarmens mit dem Kinde wurde lebendig in seiner Seele. Streng, aber ohne Härte sprach er: «Schlag dir die Löffelei aus dem Kopfe! Ich will nichts wissen von einem Herrn von Fehse. Du hast gehört, mein Haus betritt er nie.»

«Doch Vater!» war die kühne Antwort des Mädchens, «er kommt morgen. Er will bei dir um mich werben.»

«Werben?!» schrie Heißenstein in aufloderndem Zorne. «Werben?!» Mit flammendem Gesicht schritt er auf seine Tochter zu…

Frau Nannette lief es kalt über den Rücken und mit einem kleinen Schrei sprang sie auf, floh in die Fensterecke und wünschte zu sein, was ihr Mann sie einst genannt: eine Maus – um sich verkriechen zu können.

Anders empfand die Tochter, die Schuldige, auf deren Haupt das Ungewitter sich zu entladen drohte, das die funkelnden Augen des Vaters, seine zuckenden Lippen, sein röchelnder Atem verkündeten. Furchtlos kreuzte sie die Arme und sah ihn mit trotziger Entschlossenheit an. Sie war schön, und Bozena hatte doch recht: sie glich ihrer Mutter. Selbst jetzt noch, in ihrem Zorne mahnte sie an die sanfte Frau. – Jene hätte das Haupt gebeugt, sie erhob’s – jene hätte den Kampf vermieden, sie nahm ihn auf – und dennoch! und dennoch!…

Mitten in seiner Wut, in seiner Empörung über den Widerstand, den sie zu leisten wagte, kam es ihm: Ich hab das Mädchen lieb! – Und wie Ekel an all der Kriecherei und Heuchelei um ihn her, erfaßte es ihn und zog ihn mit Macht zu der einzigen, die seinem Willen ihren Willen entgegensetzte.

Es war totenstill im Zimmer. Frau Nannette zitterte unhörbar, und Vater und Tochter standen einander lautlos gegenüber. Endlich sprach Heißenstein: «Er will kommen? Gut denn.»

«Vater!» rief Rosa, jubelnd über diese unerwartete Antwort. Sie ergriff seine Hand und wollte sie küssen. Er entzog sie ihr mit den Worten: «Mache dir keine Hoffnung, du Törin.»

*

Heißenstein empfing den Herrn Leutnant von Fehse mit aller möglichen Steifheit. Als der Offizier von Bozena geleitet eintrat, erhob sich der Herr des Hauses, ging ihm aber nicht entgegen. Er ließ ihn herankommen, erwiderte seinen militärischen Gruß mit einem Kopfnicken, und als Fehse sich nannte, wies er ihm schweigend einen großen Lehnstuhl an, der neben dem Schreibtische stand. Er selbst setzte sich wieder auf seinen kleinen unbehaglichen Strohsessel. Gerade aufgerichtet vor seinem Gaste, die Hände auf die Knie gelegt, jede einleitende Phrase verschmähend, erklärte er dem jungen Manne, er wisse, welch einen ehrenvollen Antrag zu stellen der Herr Leutnant gekommen sei und bedauere lebhaft, daß die obwaltenden Verhältnisse ihn zwängen, denselben abzulehnen.

Fehse wurde abwechselnd blaß und rot, richtete seine sanften blauen Augen voll Treuherzigkeit auf den Kaufmann und erklärte seinerseits, daß er Fräulein Rosa innigst liebe.

Herr Heißenstein schenkte dieser Versicherung unbedingten Glauben und der Offizier fühlte seine Hoffnung, daß der Vater seiner Geliebten nicht unerbittlich sein könne, wachsen. Er rief, er sei zwar noch sehr jung, bekleide noch keine hohe Charge, habe kein Vermögen, aber er stamme aus einer geachteten Familie, trage einen ehrenwerten Namen, besitze leidliche Fähigkeiten und hoffe Karriere zu machen. Über seinen Ruf bei Vorgesetzten und Kameraden möge Heißenstein Erkundigungen einziehen, sein Oberst sei bereit, sie zu erteilen.

Während er sprach, beobachtete der Geschäftsmann ihn scharf. – Eines großen Geistes Kind bist du nicht, dachte er, aber ein hübscher anständiger Bursche. Fehses offenes Wesen machte einen günstigen Eindruck auf den mißtrauischen und zurückhaltenden Kaufherrn, und der Gedanke an die Möglichkeit einer Vereinbarung flog ihm durch den Sinn. Aus Liebe hat schon mancher größere Opfer gebracht, als das wäre, das der junge Edelmann um Rosas willen bringen müßte, sagte sich Heißenstein.

Er begann umständlich und mit Bedacht dem Offizier zu erzählen, seit wie vielen Generationen das Geschäft, an dessen Spitze er stehe, sich in seiner Familie vom Vater auf den Sohn fortgeerbt habe. Ihm hätte der Himmel seinen Sohn genommen, aber seine ehrenwerte Firma müsse doch fortbestehen, und so sei es denn sein unabänderlicher Entschluß, die Hand seiner älteren Tochter nur demjenigen Manne zu gewähren, der sich herbeiließe, den Namen Heißenstein anzunehmen und dereinst das Handlungshaus weiterzuführen.

Das Gesicht Fehses verfinsterte sich, und als Heißenstein mit den Worten schloß: «Wollen Sie auf diese Bedingung eingehen?» antwortete er bebend vor Entrüstung: «Was berechtigt Sie zu glauben, daß ich meinen Namen weniger hochhalte, als Sie den Ihren? … Ich bin übrigens Soldat mit Leib und Seele und will es bleiben mein Leben lang.»

Herr Heißenstein zollte der klaren und männlichen Sprache des Offiziers, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ und ihre Unterredung beendete, seine Anerkennung. Er fügte, sich erhebend, hinzu, daß er von einem Mann von so korrekter Gesinnung auch ein korrektes Benehmen erwarte. Er äußerte seine, aus seiner Hochachtung für Herrn von Fehse entspringende Überzeugung, daß dieser künftighin jede Gelegenheit, Rosa zu begegnen, meiden werde, und unter der soeben ausgesprochenen Verzichtleistung auf ihre Hand auch die Verzichtleistung auf ihre Neigung verstehe.

«Keine von beiden!» entgegnete der junge Offizier flammend und glühend. «Ich liebe Ihre Tochter und werde von ihr geliebt, ich werde alles daran setzen, sie zu erringen!»

Und gleich darauf, seine Heftigkeit bereuend, flehte er: «Machen Sie uns nicht unglücklich!»

«Verlieren Sie keine Worte», sprach Heißenstein. «Es dürfte Sie später verdrießen, wenn Sie sich erinnern würden, Herr Leutnant von Fehse, daß Sie sich vor einem Weinhändler umsonst gedemütigt haben.» Er machte einige Schritte gegen die Tür.

«Ich werde», rief Fehse außer sich, «nie von Ihrer Tochter lassen! – Und seien Sie überzeugt: sie auch nicht von mir! … Sie sollen bereuen, was Sie heute tun. Merken Sie wohl: Ich habe Ihnen nichts versprochen. Ich habe kein Wort zu halten als das Wort, das ich ihrer Tochter gab!» Heißenstein stand eine Weile in Gedanken versunken und blickte dem Enteilenden nach. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und verfaßte einen langen Brief, den er noch am selben Tage eigenhändig der Post übergab.

Rosa wurde fortan unter strenger Aufsicht gehalten. Zwei traurige Monate hindurch durfte sie das Haus nicht verlassen, und außer in Gegenwart Frau Nannettens keinen Besuch empfangen. Dennoch gelang es Fehse einmal, ihr Nachricht zu geben, und Bozena, die im Zimmer neben dem ihren schlief, und der es war, als habe sie ihren Liebling schluchzen gehört, fand Rosa, als sie an ihr Bett trat, im Schlafe weinend, wie sie es als Kind oft getan. Und dabei hielt sie ein beschriebenes, von Tränen durchnäßtes Blättchen an ihre hochgerötete Wange gedrückt.

Am nächsten Morgen fragte Bozena wohl: «Was war das für ein Brief?» Aber sie bekam eine ausweichende Antwort, und begnügte sich damit.

«Wie mögen Sie Rosa quälen?» sagte sie zu ihrem Herrn. «So eine erste Liebelei, das ist wie Märzenschnee…»

So rein, meinte sie, und so vergänglich.

Von Ahnungen und Träumen nährt sich die junge Liebe, ist fern von ihrem Gegenstand glücklich durch den Gedanken an ihn; wenn sie weint, so freut sie sich ihrer Tränen, und wenn sie leidet, ist sie stolz auf ihren Schmerz … Was bedeutet die unschuldige Schwärmerei eines Kindes gegen die lodernde Höllenglut im Herzen Bozenas.

Bozena Kapitel 16

19.

Am nächsten Tage, um zehn Uhr morgens, stand der alte Graf vor dem Spiegel und warf einen letzten Blick auf sein Ebenbild, das ihm daraus wohlgefällig entgegenlächelte. Die Gräfin hielt sich auf einige Schritte Entfernung und betrachtete ihn mit wehmütiger Freude.

Der Frack mit dem hohen Kragen und den Schwalbenschwänzen, den er trug, stammte aus den dreißiger Jahren und hätte besser in ein Museum als in eine Garderobe gepaßt. Nicht viel größerer Jugend durften sich das schwarze Beinkleid, die weiße Weste und Krawatte rühmen, die der Greis angetan hatte.

«Etwas gelblich meine Atours!» sagte er, indem er die Falten seiner Krawatte zurechtstrich, «aber es schadet nicht. Fräulein Heißenstein wird das als eine zarte Rücksicht ansehen – auf ihren Teint, den ich nicht in Schatten stellen will. Nun mein Amtszeichen!» rief er und trat vor seine Gemahlin hin. Die Gräfin steckte ihm ein Sträußchen mit winziger Masche in das Knopfloch des alten Fracks, aus dem ein farblos gewordenes Band des Leopoldordens hervorragte. Ihre Finger zitterten dabei, und fast wäre er ärgerlich geworden über ihre Ungeschicklichkeit. Doch er nahm sich zusammen, zog die Luft durch seine geschlossenen Zähne und sagte nur: «Kommt der Peter noch nicht?»

Er ging wieder an den Spiegel und glättete sein dichtes, wie Silber schimmerndes Haar.

Trotz der abgetragenen, ja ärmlichen Kleider, die seine abgemagerte Gestalt in scharfen Falten umschlotterten, hatte er ein gar adeliges Aussehen.

Seine alte Frau folgte ihm mit ihren Blicken, wie er so rasch und aufrecht, Ungeduld in jeder Miene, im Zimmer hin und her schritt. Sie dachte an die Zeiten zurück, da ihr dieser Mann als der höchste aller Menschen erschienen war, an das lange Leben, das sie an der Seite des einzig und ewig Geliebten – vertrauert. Sie dachte, wie sich am Ende doch alles habe ertragen lassen, weil er, wenn auch selbst oft lieblos, doch auf ihre Liebe immer vertraut hatte. In dieser Stunde aber flammte ihre ganze Seele in einer Empfindung des Dankes gegen ihn auf; ging er doch hin um die lieblichste Braut für seinen Sohn zu werben! Konnte, wenn er es tat, der Erfolg zweifelhaft sein? Das Glück, nach dem der bescheidene Ronald die Hand nicht auszustrecken wagt, sein Vater wird es ihm erringen. Und dann – dann hilft Gott weiter! denkt die fromme alte Frau.

Peter erschien und meldete: «Die Freile» ließe bitten.

Die Gräfin sagte: «Ich warte hier auf dich» – ihr Gemahl nickte beistimmend, ergriff seinen Hut und seine Handschuhe und trat mit wichtiger Miene seinen Weg an.

Regula war, als der Besuch des Grafen ihr angekündigt worden, mit einem Briefe an Bauer beschäftigt gewesen. Derselbe begann also:

«Sie wissen, lieber Freund, wie tief ich Houwald immer bewundert habe:

«Und Segen floß auf ihre Tritte,
Wie Himmelstau auf Blumen drauf.»

dasso – sollte mein Leben sein … Aber –

«Begrüßt der Mensch nicht weinend seine Welt?»  –

Gibt es etwas, das uns bestimmt, Bester – wenn nicht – die Verhältnisse? … Die lieben mich gewiß, die mich verstehen!! Verstehen Sie die Opfer, die man seinem besseren Selbst bringt? … Achten Sie mich!! … O Freund! – Bleiben Sie es! …»

Da meldete Peter seinen Herrn, und im Taumel ihres Triumphes wollte Regula mit den Worten schließen: Ich bin die Braut des Grafen Ronald von Rondsperg. Als sie aber: «Ich bin» niedergeschrieben hatte, legte sie die Feder hin. Abergläubische Besorgnisse hielten sie zurück von der Verkündigung einer noch nicht vollzogenen Tatsache.

Sie erhob sich von dem Sessel in der Fensternische, nahm Platz auf dem Kanapee, und gab sich der angenehmsten Erwartung hin. Ihr Herz hüpfte wie ein junges Lämmlein.

Als angehende Gräfin von Rondsperg wird sie also nach Weinberg, der getreuen Stadt, zurückkehren. Sie wird mit namenlosem Jubel empfangen werden, sie wird keine Neider haben; vielmehr wird sich in ihr jeder geehrt fühlen, und ein Fest wird es geben, als ob die gesamte Bevölkerung in den Grafenstand erhoben worden wäre. Sie nimmt sich vor, huldvoll und herablassend zu sein, und so leutselig, als ob sich nichts verändert hätte in ihrem Verhältnisse zu ihren Bekannten. Diese werden entzückt, und ihre Anbeter verliebter sein als je. Wenn sie in die Stadt gefahren kommt mit vier Pferden, feurig und schnaubend wie Drachen, werden die Hüte der Männer fliegen, und die Frauen werden knixen, und jeder wird fragen: «Haben Sie unsere Gräfin gesehen?» Einmal kommt es noch zu einer öffentlichen Ovation …

Da pocht es an der Tür. Sie ruft: «Herein!» Der Graf steht auf der Schwelle.

«O – Herr Graf», stammelte Regula sich erhebend, «in pontificalibus? … Was bedeutet …?»

Der Greis verneigt sich und weist schmunzelnd auf das Sträußchen in seinem Knopfloch.

«Beinahe wie ein Freiwerber», spricht das Fräulein leise, erschrickt aber sofort über diese unpassende Äußerung. Wirklich, sie weiß nicht mehr, was sie sagt, sie muß sich zusammennehmen.

Der alte Herr stellte sich in Positur, drückte die Absätze aneinander, hielt mit beiden an die Brust gepreßten Händen seinen Hut vor sich, neigte das Haupt und sprach mit heiterer Feierlichkeit: «Ich komme, Fräulein Heißenstein, im Namen meines Sohnes, um bei Ihnen, in aller Form und schuldigen Ehrfurcht, anzuhalten um die Hand ihrer Nichte, des Fräuleins Rosa von Fehse.»

Hölle und Tod, was ist das?! – Regula hatte sich lächelnd vorgebeugt, um die lieblichste Botschaft zu vernehmen, und erhielt einen Schlag ins Gesicht. Sie fuhr zusammen und trat keines Wortes mächtig, einen Schritt zurück.

Der Graf war kein Menschenkenner; er hielt ihr stummes Entsetzen für sprachlose Überraschung, und dachte nur: «Diese alte Jungfer sieht sogar in der Freude widerwärtig aus.» Er gönnte ihr einige Augenblicke, um sich zu erholen von dem unerwarteten Glück, das er ihr verkündigt hatte, und hub dann mit herzlicher Selbstzufriedenheit wieder an: «Nun, mein Fräulein? Wird es mir gestattet sein, meinem Sohne eine gute Botschaft zu bringen?»

In einem Tone, der ihn durch seinen gereizten und feindlichen Klang befremdete, erwiderte Regula: «Darf ich fragen, ob Sie als Bevollmächtigter Ihres Sohnes, mit seinem Wissen und Willen kommen, Herr Graf?»

Ohne sich zu besinnen, mit der größten Unbefangenheit, rief der Greis: «Jawohl, mein Fräulein! Und ich kann nicht glauben, daß es Sie in Erstaunen setzt. Ihrem Scharfsinn ist nicht entgangen, was mein guter Ronald so wenig zu verbergen vermag. Seine Liebe zu Fräulein Rosa.»

Regula stieß ein: «Oh!» hervor, das dem Greis trotz all seiner Zuversicht bedenklich erschien. Sollte die «Weinhändlerin» Ronalds Bewerbung um ihre Nichte doch nicht mit unbedingtem Entzücken aufnehmen?

Augenblicklich, beim ersten Zweifel empörte sich sein Stolz.

«Ich hätte nicht gedacht, mein Fräulein, so lange als Bittsteller vor Ihnen stehen zu müssen», sprach er.

Das Fräulein wies ihm einen Stuhl an und nahm Platz auf dem Kanapee. Sie hatte allmählich die Herrschaft über sich wiedererlangt, und sagte so ruhig sie konnte: «Ich gestehe Ihnen, Herr Graf, daß mich diese Bewerbung um die Hand eines Kindes befremdet.» Er wollte Einsprache tun, sie ließ ihn nicht zu Worte kommen, «und daß ich bisher noch nicht daran gedacht habe, Rosa zu verheiraten.»

«Um so mehr Grund, jetzt daran zu denken!» rief der Graf. «Die Gelegenheit, die sich bietet, ist nicht zu verschmähen. Einen brillanteren Mann als meinen Ronald können Sie für Ihre Nichte finden, aber keinen braveren. – Übrigens kommt es mir nicht zu, meinen Sohn zu loben.»

«Mir gegenüber», sprach Regula scharf und spöttisch, «hieße das wohl Eulen nach Athen tragen. Ich kenne seinen Wert.»

«Nun, dann zögern Sie nicht länger», sagte der Greis munter. «Legen Sie die Hände der jungen Leute ineinander, die nur gar zu gern sich in die Arme fallen möchten.»

«So?» hauchte Regula.

Nein! – Daß eine solche Schmach ihr widerfahren könne, hätte sie niemals für möglich gehalten. Man hat sie unter falschen Vorspielungen hierher gelockt und überfällt sie nun mit der Zumutung, ihre Ansprüche aufzugeben, zurückzutreten vor einer andern – und vor wem? Vor einem Geschöpf, das von ihrer Gnade lebt, das betteln ginge ohne sie!

Der Graf denkt: «Sie schweigt lange. Sie meint vermutlich, es sei anständig, nicht merken zu lassen, wie geehrt sie sich fühlt. Gönnen wir ihr dieses unschuldige Vergnügen!» Nach einer kleinen Weile hebt er wieder an: «Fassen Sie einen für uns günstigen Entschluß, verehrtes Fräulein! Tun Sie’s in einer Weise, die Ihrer würdig ist, und würdig des Rufes Ihrer Großmut und Freigebigkeit.»

«Freilich – auf diese war es abgesehen!» sagte Regula zu sich selbst. «Mein Geld wollt ihr, nicht mich.»

Ihr unruhig umherschweifender Blick fällt auf den Brief, den sie eben geschrieben hat, und wie ein Blitz durchzuckt es sie … Das ist’s – da liegt die Lösung. Geschehe, was wolle, strafe sich’s, wie’s mag – was liegt an der Zukunft? Der große Augenblick fordert sein Recht!

«Verständigen wir uns, Herr Graf», spricht Regula; «handelt es sich nur um meine Einwilligung zu der Verbindung der jungen Rosa mit Ihrem Sohne, oder erwarten Sie, daß meine ‹Großmut und Freigebigkeit› dieselbe ermögliche?»

«Mein Fräulein!» rief der Greis auffahrend.

Regula setzte mit erzwungener Gleichgültigkeit hinzu: «Wenn das letztere der Fall wäre, müßte ich Ihnen zu meinem Bedauern erklären, daß ich nichts für meine Nichte tun kann. Ich habe nähere Verpflichtungen, ich bin – verlobt.»

Er war unfähig, die unangenehme Überraschung, in die diese Nachricht ihn versetzte, zu verbergen, und hätte jedes Wort, mit dem er an die Freigebigkeit des Fräuleins appelliert hatte, mit einem Tropfen seines Herzblutes zurückerkaufen mögen.

«Ich wünsche Ihnen und Ihrem Herrn Bräutigam Glück!» sagte er sarkastisch lächelnd, «wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie mir die Erlaubnis geben wollten, auch meinem Sohne Glück wünschen zu dürfen – zu Ihrer Einwilligung …»

Regula unterbrach ihn: «Ich versage sie nicht, Herr Graf. Es kann mir nur lieb sein, meine Nichte in eine Familie treten zu sehen, in welcher auf irdische Güter ein so geringer Wert gelegt wird, denn diese – sind ihr nicht zuteil geworden.»

«Verlieren Sie darüber kein Wort, mein Fräulein!» rief der Graf. «Geldheiraten zu schließen war in unserm Hause niemals Brauch, und heute noch darf, trotz der Ungunst der Zeiten, der Eigentümer von Rondsperg eine Braut nach seinem Herzen wählen.»

Regula erbebte vom Wirbel bis zur Sohle. Der Gegner selbst hatte ihr den vergifteten Pfeil in die Hand gedrückt, den sie nur abzuschnellen brauchte, um tödlich zu treffen und sich zu befreien von dem lechzenden Durst nach Rache, der in ihrem Innern so qualvoll brannte und Befriedigung heischte. Eine Sekunde lang zögerte sie … Ihr Wort war verpfändet, aber ein Narr, der Betrügern Wort hält, Regula ist nicht gewillt, das Unrecht zu beschützen, sondern – es zu entlarven!

«Ihr Sohn ist nicht mehr Eigentümer von Rondsperg», sagte sie gepreßt und stammelnd: «Er hat es mir verkauft.»

Der alte Mann sprang auf, starrte sie an – stumm, verständnislos.

Regula erhob sich gleichfalls und wiederholte jetzt bestimmter, mit fester Stimme: «Er hat es mir verkauft. Rondsperg ist mein – seit gestern.»

Er taumelte zurück unter diesem Schlage – er war totenbleich, der Atem stockte in seiner Brust.

Erschrocken, aber nicht gerührt, betrachtete ihn Regula. «Fassung, Herr Graf», sprach sie kalt.

«So bin ich Ihr Gast? … In Rondsperg Ihr Gast?!» schrie der Greis, und schmerzlich verband sich die Heftigkeit des Zornes, der Entrüstung, der Beschämung, die in ihm rangen, mit dem Bewußtsein seiner Hilflosigkeit. Plötzlich raffte er alle Kraft zusammen, richtete sich auf und stürzte aus dem Zimmer.

Regula war von einem nervösen Zittern ergriffen worden, das ihre Glieder kläglich schüttelte. Es dauerte lange, bis sie vermochte, an den Tisch im Fenster zu treten und den begonnenen Satz: «Ich bin …» zu Ende zu schreiben. Er schloß jetzt anders, als sie es vor einer Weile im Sinne gehabt, und zwar: «Ich bin die Ihre. Regula Heißenstein.»

Sie rief Bozena und trug ihr auf, den Brief sofort durch einen Boten nach der Bahnhofstation zu befördern. Er konnte um fünf Uhr nachmittags in Bauers Händen sein.

«Frau Professor also? … Dies das Ende … Frau Professor Bauer!» Regula brach in unaufhaltsames Weinen aus.