6.

Heißenstein erschien eines Tages in ungewöhnlich guter Stimmung im Familienzimmer. Er hatte zwei angenehme Nachrichten erhalten. Die erste lautete, das Regiment des Leutnants von Fehse sei im Begriffe, in eine neue Garnison zu marschieren; die zweite hatte ein Brief gebracht, die Antwort auf das Schreiben, das er nach seiner Unterredung mit dem Offizier nach Wien geschickt.

Sie lautete:

Euer Wohledlen zeige ich hiermit an, daß mein Sohn Joseph sich im Verlaufe der nächsten Woche die Ehre geben wird, Euer Wohledlen persönlich aufzuwarten. Derselbe ist vor wenigen Tagen aus England hier eingetroffen, allwo er die ihm aufgetragenen Geschäftsangelegenheiten zu gedeihlichem Abschlusse gebracht hat. Meine angenehme Hoffnung ist es jetzo, daß es ihm auch reussieren möge, sich die Wohlgeneigtheit und die gute Gesinnung Euer Wohledlen und deren werter Familie zu erwerben, und kann keineswegs umhin, zu versichern, daß mein innigster Wunsch befriedigt wäre, wenn mir heut über ein Jahr die Gelegenheit geboten und die Satisfaktion gewährt würde, in großväterlichem Kometenwein (grünes Siegel) die Gesundheit des ersten Frohburg-Heißenstein ausbringen zu dürfen.

Der ich verharre, Euer Wohledlen dienstwilliger

Frohburg.»

Während der Mahlzeit sprach Heißenstein wiederholt von seinem ehemaligen Jugend- und jetzigen Geschäftsfreunde Frohburg. Er lobte dessen wohlgeratene Kinder, er lobte vor allem dessen zweitgeborenen Sohn Joseph, den er zum letztenmal vor fünf Jahren in Wien gesehen hatte. Der Jüngling war damals zwanzig Jahre alt und berechtigte zu den schönsten Hoffnungen. In gut bürgerlichen Verhältnissen erzogen, zur Arbeit und Pflichterfüllung angehalten, hatte er sich zu einem tüchtigen Manne herangebildet. Wohl dem Vater, der sich eines solchen Sohnes rühmen darf, wohl der Frau, die er einst mit seiner Hand beglückt! – Heißenstein kündigte den bevorstehenden Besuch Josephs an und trug Frau Nannette auf, das Gastzimmer zu seinem Empfange auf das beste herstellen zu lassen.

«Ich hoffe und wünsche, daß er sich heimisch fühle bei uns!» setzte er hinzu, und die Drohung: weh euch, wenn er sich nicht heimisch fühlt! klang aus seinem Tone.

Obwohl Frau Nannettens stummes Kopfnicken die einzige Antwort war, die er erhielt, obwohl sich nicht die leiseste Einwendung gegen seine Behauptungen und Befehle erhob, hatte er sich in eine Gereiztheit hineingeredet, die nur hartnäckiger Widerspruch erklärt haben würde.

Oder wurde sie vielleicht durch Rosas bleiches Gesicht hervorgerufen? – Durch den verhaltenen Schmerz, mit dem sie ihre Lippen biß? – Durch die Blicke, die sie ihm aus glühenden Augen zuwarf, die in der letzten Zeit dunkler geworden schienen und in jenem feuchten und feurigen Glanze leuchteten, den vieles Weinen jungen Augen verleiht? … Las er die Gedanken von ihrer Stirn ab? Lag ihr Herz offen vor ihm?

Sie hatte ihn verstanden und schauderte. So wenig kannte sie der alte Mann? Er meinte sie zwingen zu können zu einer ihr widerstrebenden Ehe? Wäre ihr Herz auch frei gewesen, niemals hätte sie sich zwingen lassen. Und jetzt, da sie liebte, da er es wußte, glaubte er für sie wählen zu können? … Welch ein Abgrund klaffte zwischen ihm und ihr, wie fremd stand sie mitten unter den Ihren, wie allein im Vaterhaus! Mit welcher bitteren Qual empfand sie die traurigste von allen Einsamkeiten, die unter Menschen, die uns die nächsten sein sollten.

Unzufrieden mit sich selbst verließ Heißenstein das Gemach. Er hatte sich übereilt. Er hätte noch schweigen, noch nichts verraten sollen von seinen Zukunftsplänen, hätte einen Monat oder zwei ins Land gehen lassen sollen, bevor er den Geschäftsfreund an die längst schon zwischen ihnen genommene Verabredung mahnte. Er machte einen Gang durch die Stadt und besann sich, daß im Kontor die Arbeit seiner warte. Er begab sich in das Kontor und sah bald ein, daß er unfähig war, auch nur zwei zusammenhängende Zeilen niederzuschreiben. Endlich versuchte er, sich mit Mansuet in ein Gespräch einzulassen. Aber der war schweigsam und niedergeschlagen und gab nur einsilbige Antworten.

«Wissen Sie schon? Die Ulanen marschieren?» fragte der Chef unter anderm.

«Weiß», brummte Mansuet und spitzte die Ohren, wie in die Ferne lauschend.

«Sie kommen schon hier vorbei!» rief der zweite Kommis und sprang auf, «man hört die Musik!»

Heißenstein verließ das Kontor und stieg zum Zimmer seiner Tochter empor.

Als er die Tür des weitläufigen Gemaches leise öffnete, sah er Rosa in der Fensternische halb sitzend, halb liegend hingestreckt. Sie hatte die Arme über ihren Arbeitstisch geworfen und das Gesicht in die Linnen vergraben, die ihn bedeckten. Ihr ganzer Körper bebte unter den Erschütterungen eines heftigen Schluchzens, das sich schmerzlich emporrang aus der Tiefe ihrer Brust.

Von einem flüchtigen Mitleid ergriffen, blieb ihr Vater, ohne ein Zeichen seiner Gegenwart zu geben, am Eingange stehen.

Er war gekommen, um sie zu verhindern, dem Geliebten ein letztes Lebewohl zuzuwinken, nun dachte er: «Mag sie doch! – Nachher ist ja ohnehin alles vorbei.»

Das Getrappel der Pferde ertönte auf dem Pflaster, die Klänge eines alten Reiterliedes schallten durch die Luft. «Lebewohl! Lebewohl, mein Lieb!» sprachen sie, riefen sie dem verstehenden, pochenden Herzen zu.

Langsam richtete Rosa sich auf, sie öffnete das Fenster nicht, beugte sich nicht hinaus. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Arme schlaff herabhängend, stand sie regungslos, atemlos und starrte hinunter.

Und jetzt stieg eine dunkle, heiße Blutwelle in ihr Gesicht … Jetzt war er vorbeigekommen. – Und jetzt nickte sie ernsthaft und wiederholt, als hätte ihr jemand fragend zugewinkt und als antwortete sie: «Ja! – ja, gewiß!» Und wie beteuernd preßte sie beide Hände an ihre Brust.

Was soll’s? War das eine Verabredung?…

Geräuschvoll schloß Heißenstein die Türe, deren Klinke er noch in der Hand hielt.

Rosa wandte sich, erblickte ihren Vater und mit einem Schrei, mit ausgebreiteten Armen stürzte sie auf ihn zu. Sie warf sich vor ihm nieder und umklammerte seine Knie, sie drückte ihre Lippen auf seine abwehrenden Hände und beschwor ihn mit Tränen und mit Schluchzen: «Vater, Vater, gib mich ihm!»

Aber das bißchen Mitleid, das er mit einem Geschöpf empfinden konnte, das sich ihm widersetzte, war erloschen. Daß sie noch hoffte, daß sie noch meinte, ihren Willen durchzusetzen, daß sie es noch versuchte, das empörte ihn. Ist er der Mann, der seine Entschlüsse ändert? – Hat er nicht so manchen, den er übereilt gefaßt, zu seinem eigenen Nachteil ausgeführt, bloß deshalb, weil er ihn einmal gefaßt hatte? Und sie traute ihm zu, er werde jetzt nachgeben, da es sich um die Erfüllung eines Lebenswunsches handelte, um das Gelingen sorgsam vorbereiteter und lang gehegter Pläne? Er hatte ihr wohl zu wenig Strenge gezeigt, sie fürchtete ihn nicht genug.

Er ließ sich nicht zu einem Zornesausbruche hinreißen, er blieb nur dabei: sie muß sich fügen. Der Sinn von allem, was er sagte, war: «Mit dem Ungeliebten wirst du leben, den Geliebten wirst du vergessen.»

Auch in ihr waren die weichen und sanften Empfindungen nicht die vorherrschenden. In die Laune, zu bitten, kam sie selten. Heute galt es ihr ganzes Lebensglück, und das alte Wort: Not lehrt beten, bewahrheitete sich an ihr. Sie flehte demütig und inbrünstig; aber so wie er von seinem Entschlusse nicht wich, so blieb auch sie bei dem ihren: ich heirate keinen andern als meinen Geliebten.

«Ich hab ein trauriges Leben», klagte sie. «Du warst niemals gut gegen mich, und die andern sind bös und falsch gewesen. Endlich hab ich mein Herz an einen Fremden angehängt, kann ich dafür? Hat eure Gleichgültigkeit mich nicht dazu gestoßen? Sei du jetzt väterlich – verzeih mir – denke, wenn ich ein Unrecht getan habe, es ist zur Hälfte dein. Verzeih mir, Vater, und laß mich gewähren. Du weißt, ich war zeitlebens ein störrisches Geschöpf. Und den braven Joseph heiße warten; ein paar Jahre nur, dann heiratet er die brave Regula. Die sagt ‹Ja› zu allem, was du befiehlst, die ist nicht widerspenstig wie ich. Belohne sie für ihren Gehorsam mit deinem ganzen Hab und Gut. Ich will nichts, ich verzichte auf alles – nur deinen Segen gib – sag nur: Ziehe hin…»

«Ins Elend!» rief Heißenstein. «Weißt du, was du verlangst? Kennst du den Jammer einer armseligen Militärwirtschaft? Das Herumzigeunern von Dorf zu Dorf … Eine Ehe ohne eigenen Herd, einen Haushalt, den man nicht bestreiten, Kinder, die man nicht erziehen kann? Und er – glaubst du, daß er dich möchte, wenn du ihm kämst ohne einen Heller? Ein Narr wäre er, wenn er dich so nähme, und gewissenlos dazu. Also. nein! Und kein Wort mehr darüber: du gehorchst!»

Sie bewegte noch ihre Lippen, aber sie sprach nicht mehr. Ihre Tränen waren versiegt, finster blickte sie ihren Vater an, der schon an der Türe stand. Da schien ein plötzlich ausbrechendes Gefühl sie zu überwältigen. Sie eilte ihm nach und warf sich an seine Brust. Er fragte: «Bist vernünftig … willst gehorchen?»

Sie gab keine Antwort, sie trat weg von ihm, nachdem sie ihn noch einmal innig geküßt hatte.

Eine Stunde später ließ sie ihn bitten, den Rest des Tages auf ihrem Zimmer zubringen zu dürfen, und die Erlaubnis dazu wurde ihr gewährt.

Frau Nannette lauerte und beobachtete, und schlich mehrmals an Rosas Türe vorbei und sah zufällig – sie wußte wenigstens selbst nicht, wie es geschah – durch das Schlüsselloch. Rosa saß an ihrem kleinen Pulte und ordnete die Gegenstände, die in der Lade aufbewahrt waren.

Im ganzen Hause herrschte einmal wieder dumpfe Gewitterschwüle. Der «Herr» grollte, Bozena ging mit verstörter Miene umher, Mansuet war in bärbeißiger Laune und hatte auf offener Straße einen Streit gehabt mit Bernhard, dem Pfau. Einen Streit, den der kleine Kommis mutwillig heraufbeschwor.

Ohne allen Grund war er im Gespräch mit dem Jäger immer anzüglicher geworden und hatte endlich etwas gemurmelt von einem, «erbärmlichen Wicht». Und Bernhard hatte erwidert: «Führen Sie keine solchen Stichelreden, Sie haben kein savoir-vivre.» Worauf Mansuet rief: «Das ist mir tuttegal! Wenn ich auch nicht sage, was Sie sind, deswegen bleiben Sie’s doch.»

Der Streit würde sicherlich zu Tätlichkeiten geführt haben, wenn der gräfliche Kammerdiener, der demselben beiwohnte, den Jäger nicht fortgezogen und gesagt hätte: «Laß ihn, was kümmerst du dich um den alten Krakeeler!»

Früher als gewöhnlich wurde heute zur Ruhe gegangen. Jeder der Hausbewohner schien Eile zu haben, sich in seine Stube zurückzuziehen.

Frau Nannette schritt in der ihren auf und nieder, seltsame Gedanken und Hoffnungen bewegten sie.

Sie war kurzsichtig, ihr Ehrgeiz zu wenig hochfliegend gewesen. Sie hatte in dem Leutnant Fehse nur einen bildenden Umgang gesehen, nur einen Reformator für Regulas vom Dialekt etwas angehauchte Aussprache. Und nun zeigte sich, daß er sie hätte befreien, erlösen können von dem ewig störenden Einfluß der Stieftochter; er hätte, geschickt unterstützt, diese vielleicht sogar dahin bringen können, sich mit ihm zu verbinden, auch gegen den Willen ihres Vaters.

Ein unversöhnlicher Zwiespalt wäre daraus entstanden. Heißenstein hätte sich losgesagt von der verlorenen Tochter, und in alle Rechte, die Rosa einbüßte, würde Regula getreten sein.

Frau Nannetten schwindelte, als alle diese Gedanken in ihr aufstiegen. So nahe war, so erreichbar die Erfüllung ihrer kühnsten, verwegensten Wünsche gewesen, und sie hatte nichts davon geahnt. Eine kostbare, einzige, nie wiederkehrende Gelegenheit war versäumt, ihrer Tochter die alleinige Herrschaft über das Haus und all seine reichen Güter für die Zukunft zu sichern.

Aufgeregt wie nie in ihrem Leben, bestieg sie ihr Lager und löschte das Licht. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Sie lag sinnend und grübelnd, und ihre Pulse hämmerten fieberhaft.

Im Kamin heulte der Sturm, und draußen umraste er das Haus; warf Sand an die Scheiben, daß sie klirrten, prallte an das Tor, daß es dröhnte; riß Ziegel vom Dach und schleuderte sie mit Gepolter auf die Straße. Frau Nannette hüllte sich in ihre Decke und flüsterte mechanisch ihr Abendgebet.

Wie ist ihr? Wird ihre spröde Phantasie beweglich und gaukelt ihr die Verwirklichung ihrer Träume vor? … Narrt sie die Einbildung, oder hört sie wirklich das Haustor knarren in seinen verrosteten Angeln? – Es ist geöffnet worden, mühsam, langsam – und alsbald schlägt der Sturm es wieder zu und schwer fällt es ins Schloß.

Nannette erhebt sich und eilt ans Fenster. Die Nacht ist dunkel, von keinem Stern erhellt. Die vier Öllampen, welche die Beleuchtung des Platzes zu besorgen haben, verbreiten ein gar spärliches Licht. Sie lauscht, sie späht in die Nacht hinaus, sie wünscht sich die Augen einer Eule, um die Finsternis durchdringen zu können. Jetzt, jetzt sieht sie in die Lichtscheibe, die eine der Lampen auf den Boden wirft, eine Gestalt treten – eine Gestalt im weißen Reitermantel – sie scheint eine zweite zu stützen, zu leiten … Einen Augenblick sind die beiden klar und deutlich sichtbar, dann verschwinden sie im Dunkel. Nannette hat sie erkannt … Und ihr Gewissen ruft ihr zu: Verhindere Unheil – rette das Haus vor Schmach. Auf! auf! Den Mann geweckt – ein Wort, ein Ruf von ihm führt das verirrte Kind zurück. Noch ist es Zeit – tu deine Pflicht!

Was Pflicht! … Ihrer Tochter die Wege bereiten, das ist ihre Pflicht! …

Minuten vergehen, schwerwiegende Minuten. Das Schicksal gönnt ihr noch eine Frist, um ihre Kraft zusammenzuraffen, zu einer guten Tat.

Sie läßt sie ungenützt vergehen.

Ein leichter Wagen fliegt über das Pflaster, Funken sprühen auf unter den Hufen der Rosse. – In den Lüften aber wird es still – still ringsumher – nichts laut als nur der Schall, den jenes Gefährte weckt und sein jagendes Gespann. Von Fieberfrost geschüttelt horcht Nannette. Sie möchte den Sturm beschwören, daß er das Gerassel der Räder übertöne, das den Vater wecken, ihre Hoffnungen noch jetzt vernichten kann…

Grundlose Sorge! Der Sturm hat nur neuen Atem geschöpft; er erhebt sich stärker als zuvor und verschlingt in seinem Toben das ohnmächtige Geräusch, das die Erde ihm zusendet in sein luftiges Reich.

*

Am nächsten Morgen, als Bozena ihm das Frühstück auf sein Zimmer brachte, war Heißensteins erste Frage: «Wie geht es Rosa?»

«Alles still bei ihr, sie schläft wohl noch», antwortete die Magd.

Er zürnte: «Schläft – um acht Uhr? Was für Gewohnheiten! … Hat die Prinzessin so viel Zeit übrig? Wecke sie. Schicke sie hierher.»

Eine Viertelstunde verging. Rosa kam nicht, Bozena brachte keinen Bescheid.

Ist das Kind krank? – Unsinn! Man wird nicht krank wegen einer bekämpften Laune. Das kommt in Romanen vor, nicht im Leben. Oder stellte sie sich vielleicht krank? Das wäre sehenswert!

Mit raschen Schritten geht er über den Gang, kleine Treppen auf und ab. Der Weg von seinem Zimmer zu dem der Tochter scheint ihm endlos. – «Ein rechtes Winkelwerk», denkt er, «dieses Haus.» Er würde den alten Kasten umgebaut haben, wenn ihm der Himmel einen Sohn gelassen hätte. Aber so! – Für einen Schwiegersohn unternimmt er dergleichen nicht. An die Stelle eines Kindes wird der niemals treten, wenn er auch noch so ehrenvoll den Namen der allgeschätzten Firma trägt.

Heißenstein biegt um die Ecke des schmalen Ganges, der zu Rosas Zimmer führt, und staunt, die Tür nur angelehnt zu finden. Er tritt ein; Rosa ist nicht da – das Bett ist unberührt – die Lade des Pultes, in dem sie ihre kleinen Reichtümer aufzubewahren pflegte, geöffnet, doch scheint nichts darin zu fehlen und der Schlüssel steckt. Heißenstein schließt die Lade, und zieht den Schlüssel ab. «Nachlässig und vergeßlich wie immer!» brummte er, dabei jedoch erfaßt ihn eine unerklärliche Angst.

Er eilte zu seiner Frau hinüber; sie saß am Klavier und gab ihrer Tochter Unterricht.

«Hast du Rosa schon gesehen?» fragte er, und bemühte sich, seinem Ausdruck den Anschein der Gleichgültigkeit zu geben.

«Heute noch nicht», antwortete Frau Nannette obenhin, ergrünte wie der Freiherr von Münchhausen, und wandte sich sofort wieder zu Regula, sie beschwörend, dis und es, trotz ihrer scheinbaren Ähnlichkeit, niemals zu verwechseln.

Heißenstein murmelte einen Fluch, und schritt hinaus. Er ist wohl verrückt, sich Gedanken zu machen. Wohin anders sollte Rosa gegangen sein als in die Kirche, die Frühmesse zu hören, zu beten um Ergebung, Sanftmut, Geduld, die ihr not tun, wahrlich! – Das ist’s. Wie kam er nicht gleich darauf? … Daß man doch immer die einfachste, natürlichste Erklärung zuletzt findet.

Jetzt wird sie wohl zurückgekehrt sein, und wenn auch nicht, er will sie erwarten in ihrem Zimmer, und sie ohne Härte empfangen. Er nimmt sich überhaupt vor, in Zukunft milder gegen sie zu sein. Ihr Vorwurf gestern, so ungerecht er war, hat ihm weh getan und fordert zum mindesten eine Widerlegung, eine Zurechtweisung.

Auf dem Gange rennt Bozena ihrem Herrn in den Weg; verstört – bleich wie der Tod.

«Fort!» keucht sie – «Das Kind ist fort!»

«Schweig, Närrin!» – ruft er ihr zu, «Rosa ist daheim – in ihrem Zimmer, muß daheim sein» – und zum zweitenmal tritt er in das Gemach.

Bozena weiß: es ist nicht – er irrt! Und dennoch weckt die Zuversicht, die ihr Herr zur Schau trägt, in ihr einen Schimmer von Hoffnung; er ist trügerisch; wie bald, und er erlischt. Sie stehen in dem Gemache des Kindes und finden es leer.

Von neuem jammert Bozena: «Sie ist fort!» Und den alten Mann überfällt plötzlich und mit Entsetzen die Gewißheit, daß er seine Tochter verloren hat.

Augenblicklich fordert seine Qual ein Opfer, an dem sie sich rächen kann. Schäumend, mit der blinden Wut eines Tieres dringt er auf Bozena ein und schmettert sie zu Boden. Sie fällt hin wie ein Baum, sie wehrt sich nicht.

«So hast du sie gehütet?» schreit er halb von Sinnen, und wiederholt ohne Aufhören: «So hast du sie gehütet?»

Sie zuckt nicht unter seiner ehernen Faust, sie erhebt sich nicht, sie fühlt nichts, sie weiß nichts zu sagen als: «So hab ich sie gehütet!»

Er faßt ihre gerungenen Hände und reißt sie empor auf ihre Knie.

«Sie mußte durch dein Zimmer – mußte sie nicht? … Und du liegst auf dem Ohr – und hörst nichts, siehst nichts – hast geschlafen wie ein Klotz! … Hast geschlafen, während sie davonging – du! du! Die sich ihre Pflegemutter nannte … Eine saubere Pflegemutter! Eine saubere Wärterin! Eine brave Magd!»

Bozena lag gebrochen und ohnmächtig vor ihm auf den Knien. Als er die Worte sprach: «Hast geschlafen …» hatten ihre Augen ihn mit der Scheu des Wahnsinns angeblickt, und sich dann gesenkt in verzweiflungsvoller Scham.

Ein klägliches Wimmern und Stöhnen entrang sich ihrer Brust. – Geschlafen? Das glaubte er? …

O der harte, rauhe Gebieter – der schonungslose Herr, vor dem alle zittern, den sie unbarmherzig nennen, der das geringste Versehen wie einen unverzeihlichen Fehler bestraft … Nicht mit dem leisesten Verdacht streift er ihre Schuld! Was sie getan hat, das traute er ihr nicht zu. Er klagt sie an, doch er verunehrt sie nicht, wie er’s sollte – wie sie es verdient, wie sie selbst sich verunehrt hat!

Was sie getan, er kann es nicht einmal im höchsten Zorn denken – sie ist schlechter, als ein Mensch denken kann! …

Sorglosigkeit wirft er ihr vor. Einen Schlaf, den sie nicht mehr hat – den Schlaf der Unschuld, der Ehrlichkeit und eines ruhigen Gewissens!

Weh über Bozena – sie hat sich selbst gerichtet – den Augenblick verschmerzt sie nie!

Angesichts ihrer maßlosen Verzweiflung gewann Heißenstein einige Fassung. Er öffnete Rosas Pult, er suchte nach einem Briefe, nach einem Abschiedswort, das sie vielleicht für ihn hinterlassen hatte. Er fand nur einen kleinen Zettel, den er vorhin übersehen, und darauf stand:

«Ich gehe zu ihm ohne einen Heller.»

Das war ihre Antwort auf des Vaters: «Glaubst du, er nähme dich ohne einen Heller?»

Er knitterte das Blatt zusammen und warf es zur Erde. Bozena stürzte sich darauf – und las – und raffte sich empor, riß den Schrank auf und durchsuchte ihn mit brennender Hast: «Nichts!» rief sie schmerzlich – «o du guter Gott – nichts fehlt als die Kleider, die sie auf dem Leibe trug und ihr leichtes Mäntelchen … So geht sie aus dem Vaterhause – so geht mein Kind, mein Leben, mein alles hinaus in die weite Welt!»

Heißenstein gebot ihr Schweigen. Er hat sich ermannt. Zwei Stunden später saß er im Postwagen und fuhr denselben Weg, den die Ulanen genommen.

«Wenn jemand nach mir fragen sollte», hatte er beim Abschied gesagt – «ich bin mit» – wie schwer brachte er den Namen über die Lippen! – «mit Rosa nach Wien gefahren. Das ist alles, was ihr wißt. Ihr versteht?»

«Ihr versteht», sagte er, aber er sah dabei nur seine Frau an. Der Verschwiegenheit seiner Magd war er gewiß.