Einundzwanzigstes Kapitel.


Einundzwanzigstes Kapitel.

»Baron Münchhausen«. – Wie Ellar, der Harlekin, durch den Mond sprang und dabei sich die Hand verstauchte. – Grimaldi wird Miteigentümer von Sadlers-Wells. – Anekdoten vom Herzog von York, von Sir Godfrey Webster, einer goldenen Tabaksdose, Ihrer hochseligen Majestät, von Newcastle-Lachs und einem Kohlenbergwerk.

Grimaldi hätte nicht so eilig wieder nach London zurückzukehren brauchen, denn in Covent-Garden hatte er erst im November wieder aufzutreten, und auch da nur ein paar Abende in La Perouse. Da es aber leicht möglich war, daß er in ein paar Tagen spielen mußte, trug er Bedenken, sich auf länger als acht Tage zu einem Gastspiele in der Provinz zu verpflichten.

Das Theater in Sadlers-Wells wurde geschlossen, gerade als er in London eintraf. Die letzte Saison war so kläglich gewesen, daß verschiedene Besitzanteile von der Direktion veräußert wurden. Grimaldi hatte dadurch, daß man sein Engagement nicht erneuerte, keinen Schaden gehabt in finanzieller Hinsicht, und dabei bei weitem nicht soviel Mühe und Anstrengung aufwenden müssen, als wenn er dort weitergespielt hätte. Zu seiner im vorigen Kapitel genannten Gastspiel-Einnahme kamen noch die Beträge von 150, 70 und 100 Pfund, die er in Birmingham, Leicester und Chester löste, so daß er im ganzen für 56 Spielabende nahezu 1750 Pfund bekommen hat. In Sadlers-Wells hätte er es aber, einschließlich der Benefiz-Abende, nur auf 660 Pfund in 186 Vorstellungen gebracht, so daß er also 130 Abende weniger hätte zu spielen brauchen und doch um 1075 Pfund annähernd besser wegkam.

Die Weihnachtspantomime in Covent-Garden hieß »Baron Münchhausen« und wurde mit ebenso großem Beifall aufgenommen wie seit einigen Jahren alle vorhergehenden Stücke. Während ihrer Aufführung trug sich ein Vorfall zu, der als ein Beispiel menschlicher Brutalität erwähnt zu werden verdient.

In Sadlers-Wells war ein Tagarbeiter beschäftigt, der unter anderm auch mit verwandt wurde, einen Teppich zu halten, in welchem die Spieler bei den Sprüngen, die sie auszuführen hatten, aufgefangen wurden. Dieser Mensch trat eines Tags zu dem Harlekin Ellar, hielt den Teppich hoch und sagte, ein so knochentrockener Lappen wie das Ding da, sei ihm noch nicht vorgekommen. Diese Redensart des Tagarbeiters bedeutete nichts weiter, als daß ihm ein Trinkgeld gegeben werden möchte. Ob nun Harlekin Ellar gerade mit wichtigeren Dingen beschäftigt war, oder andere Gründe hatte, sich, still zu verhalten, kurz, er ließ den Tagarbeiter stehen und ging seiner Wege, der andere knurrte ihm ein paar grillige Worte hintendrein, und verschiedene, die sie mit angehört hatten, sagten Ellar am andern Morgen, daß er sich vor dem Menschen vorsehen möchte, denn er habe gedroht, an ihm Rache nehmen zu wollen.

Ellar lachte über die Drohung. Bis zum dritten Abend ging alles ganz gut; in der Szene aber, in der Ellar durch den Mond springen muß, kamen ihm am vierten Abend Bedenken, so daß er mit dem Weiterspiele zögerte und Grimaldi zuflüsterte, »ich fürchte, die Kerle werden mich nicht auffangen; dreimal habe ich schon geklopft und gefragt, ob sie fertig seien, aber es hat keiner auch nur mit einem Worte Bescheid getan.«

»Das ist doch ganz ausgeschlossen«, versetzte Grimaldi; »wer wird denn an so etwas denken? Springen Sie dreist, Freund! Vorwärts! Vorwärts! Es passiert Ihnen sicher nichts.«

Aber Ellar zauderte noch immer, bis Grimaldi ihn aufmerksam machte, daß das Publikum unruhig zu werden anfinge.

»Nun gut!« flüsterte Ellar, »ich will den Sprung schon riskieren; aber der Himmel weiß, wie das Ding enden wird!«

Seine Furcht war nicht grundlos gewesen, denn die Arbeiter, die den Sprungteppich zu halten hatten, hielten ihn so, daß er ihn unmöglich erreichen konnte, sondern stürzen mußte. Daß es so kommen werde, hatte er vorausgesehen und wollte lieber eine Hand, als den Hals brechen, richtete es also ein, daß er auf die Hände fiel, nahm aber dabei keinerlei Schaden, sondern konnte, freilich mit sehr großen Schmerzen, seine Rolle weiter spielen.

Natürlich wurde der Vorfall sogleich auf der Direktion gemeldet. Alle Arbeiter wurden im Hofe versammelt und ihnen mit sofortiger Entlassung gedroht, falls nicht sofort festgestellt würde, daß bei dem Vorfalle keinerlei schlimme Absicht vorgelegen habe. Der Obmann erklärte, sich für seine Leute verbürgen zu können, und appellierte an Mr. Ellar, ob er selbst glaube, daß jemand aus der Arbeiterschaft sich derart habe an ihm versündigen wollen; Mr. Ellar antwortete hierauf, er habe im ersten Augenblick wohl dergleichen Gedanken gehabt, sei aber davon abgekommen, und glaube weit eher an einen schlimmen Zufall. Grimaldi aber sagte er beim Nachhausegehen, er habe im letzten Augenblicke noch Mitleid gehabt mit der Familie des Unglücklichen, der – wie ihm zu Ohren gekommen sei – eine Frau mit sechs Kindern zu ernähren habe.

Ellars Verhalten war umso edler, als er nicht den leisesten Zweifel darein setzte, daß jener Mensch, dem er das Trinkgeld verweigert, mit Absicht so gehandelt hatte, und daß er elend ums Leben dabei gekommen wäre, wenn er es nicht so einzurichten gewußt hätte, daß er, statt auf den Kopf, auf die Hände fiel. –

Wenn man bedenkt, welch großen und schweren Gefahren Pantomimiker ausgesetzt sind, so muß man sich wundern, daß Grimaldi in seiner doch ziemlich langen Künstlerlaufbahn so wenig Unglück ausgesetzt gewesen ist. Freilich hat er dem Clown einen neuen, ruhigen Charakter geliehen und sich eigentlich nie auf Gliederverrenkungen gestützt, sondern seine Erfolge nur durch das Mienenspiel erreicht: er brachte sein Publikum zum Lachen dadurch, daß er mit dem Kopfe wohl agierte, aber nicht auf dem Kopfe stand. Grimaldi war eben in seinem Felde ein ausgemachtes Genie und darf als der Schöpfer eines neuen Clown-Genres bezeichnet werden.

Im Februar 1818 wurde ihm wiederholt bedeutet, daß er, falls er sich direkt an die Eigentümer von Sadlers-Wells wenden wollte, sichere Aussicht hätte, auf Bedingungen hin, wie er sie stellen könne, wieder in den Bühnenverband aufgenommen zu werden; aber er hatte keine Lust, darauf einzugehen, zum Teil, weil er noch immer Verdruß empfand über die Behandlung, die ihm zuteil geworden war, zum Teil aber auch, weil ihm durch seine Gastspiele in der Provinz weit bessere Einnahmen zugefallen waren, als während der ganzen Jahre, die er in London gespielt hatte.

Als jedoch Mrs. Hughes, die Witwe seines langjährigen, immer getreuen Freundes, selbst an ihn herantrat mit der Bitte, der Direktion entgegenzukommen, da wurde er in seinem Entschlusse schwankend und erklärte endlich, daß er sein Verhältnis zum Sadlers-Wells-Theater wohl zu erneuern bereit sei, doch nur unter der Bedingung, daß man ihn als Miteigentümer ausnehme. Er rechnete, auf diese Weise jeder etwaigen Wiederholung des Versuches, ihn an die Wand zu drücken, und auch durch den Gewinnanteil allen Alterssorgen überhoben zu werden.

Er sollte sich aber in diesen Erwartungen, wie in mancher anderen, bitter täuschen. Sein Antrag wurde nach mancherlei Beratungen zwischen den Mitgliedern der Direktion, allerdings angenommen; er kaufte eine Anzahl von Aktien von Mrs. Hughes selbst und verpflichtete sich zum Wiedereintritt in den Verband der Bühne, doch mit dem Vorbehalt, daß er in der letzten Julihälfte alljährlich auf sechs Wochen zu Gastspielreisen in der Provinz beurlaubt würde.

In der ersten Saison nach seinem Wiedereintritt war das Ergebnis keineswegs rosig, In den ersten Monaten ging wohl alles gut, sobald er aber in die Provinz gereist war, blieb das Haus leer, und als er im September zurückkehrte, erwartete ihn die Nachricht, daß statt mit Gewinn, mit Verlust gearbeitet worden sei. Er war darüber nicht wenig überrascht, aber auch sehr ärgerlich, denn das Sadlers-Wells-Theater hatte immer in dem Rufe einer sichern Rente gestanden, und er hatte bestimmt darauf gerechnet, durch diesen Schritt eine erkleckliche Höhe seines Einkommens zu erreichen.

Ein paar Tage nach dem Schlusse der Saison fand die erste Versammlung der Geschäftsteilhaber statt; die Rechnungen wurden geprüft, und es stellte sich heraus, daß der Verlust noch bei weitem höher war als zuerst angenommen wurde. Für jeden Aktionär bezifferte er sich auf 330 Pfund.

Grimaldi bezahlte, meinte nun aber gewiß sein zu dürfen, daß er von dem Gewinn aus seinen Gastspielreisen nicht mehr viel übrig behalten werde, und bereute es bitter, sich zu solchem Schritte entschlossen zu haben.

Als er eines Abends in Covent-Garden im »Baron Münchhausen« spielte, sah er den Herzog von York in einer Loge, zusammen mit Sir Godfrey Webster und einem dritten Herrn. Die hohen Herren lachten herzlich über die Komödie, und nach einer Szene mitten im Stücke, winkte Sir Webster Grimaldi zu sich.

»Recht saure Arbeit heute, Grimaldi?« sagte er, »nicht wahr?«

»Nicht bloß sauer, Sir Godfrey, sondern auch heiß!«

»So nehmen Sie eine Prise Zur Erfrischung, Joe«, erwiderte Sir Godfrey kordial und bot ihm die größte Tabaksdose, die Grimaldi je gesehen hatte. Grimaldi betrachtete sie verwundert, Sir Godfrey aber sagte, auf den Pantalon zeigend, der auf der Bühne stand:

»Präsentieren Sie sie dem Herren und sehen Sie einmal zu, ob er Lust zu einem Prischen hat.«

Grimaldi mußte gleich darauf wieder in einer sehr drolligen Szene auftreten, und stolzierte mit seiner Riesendose umher, die ganz wie eine absichtlich geschmiedete Karikatur aussah. Pantalon sah ihn aber mißtrauisch an und fragte:

»Woher haben Sie denn dieses Exemplar von Dose? Doch nicht etwa gemaust?«

Grimaldi beteuerte unter allerhand Grimassen, daß sie, ein Geschenk von hohem Herrn sei. Pantalon fragte, wer der Geber sei, und Grimaldi wies auf die Loge des Herzogs, in die eben Sir Godfrey wieder eingetreten war.

Es wurde wiederum, und noch mehr als vordem, gelacht. Der Herzog mußte sich tatsächlich den Bauch, halten, denn Grimaldi führte seine Rolle mit beispielloser Verve durch.

Im Fortgehen fragte Pantalon:

»Wo wollen Sie denn mit der Dose hin?«

»Dorthin, wo sie schon oft gewesen ist«, antwortete Grimaldi, gen oben zeigend, »zum Onkel Pumpmeyer!«

Unter stürmischem Applaus trat er ab, und nach einigen wenigen Augenblicken war Sir Godfrey wieder bei ihm, mochte er nun seine Dose tatsächlich in Gefahr wähnen, oder nicht.

»Grimaldi, das haben Sie großartig gemacht!« rief er ihm schon von weitem zu. »Sie haben mir eine Wette gewonnen, und sollen nun Ihre Hälfte abhaben.«

Er drückte ihm bei diesen Worten fünf Guineen in die Hand; der Herzog war unbemerkt eingetreten und sagte:

»Ah, teilen sich also die Herren in mein Geld! Aber lassen Sie sich sagen, Sir Godfrey, Mr. Grimaldi ist freilich kein Lastträger, allein ich zweifle nicht im geringsten, daß er Ihnen Ihre Dose unter solchen Bedingungen jeden Abend tragen würde.«

Der Herzog kehrte hierauf in seine Loge zurück, und da er sich nicht oft hinter den Kulissen blicken ließ, sah ihn Grimaldi außer diesem nur noch ein einziges Mal, nämlich im Jahre 1824, wo Seine Königliche Hoheit beim Theater-Hilfsfonds-Diner präsidierte und sich bei einem Tischnachbarn nach Grimaldis Befinden erkundigte, auch den Wunsch aussprach, ihm vorgestellt zu werden.

Grimaldi kam dem Wunsche zuvor, indem er sich in seinem Kostüm, dem eines Steward, sogleich zeigte.

Der Herzog war überaus huldreich gegen ihn, gab seinem Bedauern, daß Grimaldi seiner Körperschwäche wegen sein Fach hätte aufgeben müssen, wie auch der Hoffnung Ausdruck, daß er doch wieder in die Lage gesetzt werden würde, in seinem Fache zu wirken, da »sein Verlust ja ein Nationalunglück wäre«, und setzte hinzu, als Grimaldi sich hierfür bedankt hatte, »daß er sich seines Vaters sehr wohl erinnere, daß derselbe ein sehr drolliger Herr gewesen sei und ihm und einer Schwester von ihm Tanzunterricht gegeben habe.« – Er setzte hinzu, »daß sich Grimaldi, sofern er ihm je einmal gefällig sein könne, sich ohne allen Rückhalt an ihn wenden möge.«

In früheren Jahren hatte Grimaldi häufig Georg den Vierten, und zwar noch, als Prinz von Wales, in Drury Lane gesehen, und König Wilhelm besuchte als Herzog von Clarence ebenso oft Covent-Garden, wo sein schlichtes, anspruchsloses Wesen im Gegensatz zu dem abgeschmackten Geckentum der anderen jungen Herren vom Hochadel allgemein vorteilhaft auffiel, und zu mancherlei Bemerkungen Veranlassung wurde, die für die letzteren nichts weniger als schmeichelhaft ausfielen.

Grimaldi trat einmal hastig in das Garderobenzimmer und war nicht wenig erstaunt, den Herzog von Clarence zu erblicken, im Gespräch mit einigen seiner Knaben, die er oft einmal ins Theater mitnahm.

Grimaldi verbeugte sich nicht ohne Verlegenheit und wollte sich wieder entfernen, der Herzog forderte ihn jedoch auf zu bleiben.

»Ich bitte Ihre Königliche Hoheit um Vergebung«, sagte er; »denn ich muß fürchten zu stören.«

»Stören?« wiederholte er lächelnd; »nicht doch! Ich bin der einzige, der hier stört.«

Bei diesen Worten stand er auf und wollte nicht eher wieder Platz nehmen, als bis sich Grimaldi in seiner Nähe gesetzt hatte.

Die Saison in Covent-Garden schloß am 17. Juli. Zwei Tage später hatte er sein Benefiz in Sadlers-Wells, das ihm beinahe 250 Pfund einbrachte, und am folgenden Morgen reiste er ab, um seine Gastspielreise in die Provinz anzutreten. Zunächst ging es nach Liverpool, wo er vom 27. Juli bis zum 19. August spielte. Seine Einnahme betrug hier 327 Pfund, also mehr, als er im Jahre vorher hier gelöst hatte.

Von Liverpool begab er sich nach Lancaster, dessen Theater ein Gegenstück zu dem in Berwick war. Hier trat er an zwei Abenden auf und machte eine Einnahme von 112 Pfund.

Von Lancaster reiste er nach Newcastle, wo er fünfmal auftrat und als seinen Gewinnanteil 244 Pfund einstrich. Hier bekam er ein Schreiben von Harris, worin ihm angezeigt wurde, daß er am 7. September in Covent-Garden sein müßte, da dort die Saison eröffnet würde. Das zwang ihn, sein Engagement in Edinburg aufzugeben, was ihm höchst verdrießlich war, da er bloß eine Tagereise von Edinburg entfernt war und dort auf eine Einnahme von mindestens 500 Pfund hätte rechnen dürfen. Er kehrte nach London zurück und hatte nach ein paar Tagen eine sehr unangenehme Auseinandersetzung mit Harris.

»Ei, Joe!« rief ihm dieser, sichtlich verwundert, entgegen; »ich habe auf ein Wiedersehen mit Ihnen erst in etwa drei Wochen gerechnet!«

Seinerseits nicht weniger verwundert, rief Grimaldi:

»Was? erst in drei Wochen?«

»Freilich, ich habe gemeint, Sie wollten in Schottland spielen!«

»Freilich war das meine Absicht, Sie schrieben mir aber doch, daß ich in diesen drei Tagen wieder hier sein müßte, und ich habe meine Edinburger Reise und bare fünfhundert Pfund schießen lassen, um Ihrer Aufforderung auf der Stelle nachzukommen.«

»Ah, jetzt sehe ich, wie die Sache steht… Sie sind gleich an dem Tage von Newcastle abgereist, an welchem Ihnen mein Schreiben zukam?«

Grimaldi bejahte.

»Schade! Ich habe mich gleich darauf anders besonnen und Ihnen auch wieder geschrieben, daß Sie bis zur ersten Oktoberwoche bleiben könnten. Da Sie nun aber hier sind, wollen wir schon Arbeit für Sie finden. In der anderen Woche werden wir es ein paar Abende mit »Mutter Gans« versuchen.«

Grimaldi sagte nichts darauf, Harris bemerkte seine trostlose Miene und setzte hinzu:

»Lassen Sie es nur gut sein! Denn was Ihr Edinburger Engagement angeht, so will ich Sie seinerzeit schon auf diese oder jene Weise zu entschädigen suchen.«

Grimaldi bedankte sich bei ihm, und Mr. Harris vergaß auch nicht, was er versprochen hatte.

Während seines Aufenthaltes in Newcastle fiel ihm ein, daß dorther der beste Lachs käme, den man in London kannte, und daß er auch seinen Namen nach der Stadt führte. Darum dachte er, sich ihn wohl schmecken zu lassen an der Stätte, wo er doch sicher am besten sein müßte, und bestellte sich ein Gericht davon zum Abendbrote.

Der Kellner antwortete: »Sehr wohl, Sir!« aber in einem Tone, wie wenn er den Auftrag nicht recht verstanden hätte.

Grimaldi fragte ihn deshalb noch einmal, ob er gehört habe, was er wünsche.

»Allerdings, Sir«, antwortete der Kellner, »Sie sollen auch bekommen, was Sie bestellt haben.«

Grimaldi kam nun am Abend in den Gasthof zurück. Der Appetit auf Lachs hatte ihm schon unterwegs den Mund wässerig gemacht. Er fand den Tisch bereits gedeckt. Der Kellner trug eine verdeckte Schüssel auf, hob die Glocke auf, und Grimaldi erblickte – nicht Lachs, sondern Hammelkoteletten.

»Ich habe ja eingemachten Lachs bestellt«, sagte er.

»Ach, ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte der Kellner, nicht ohne Verlegenheit.

»Sie haben es wohl vergessen, Kellner?« fragte Grimaldi.

»Hm, ja – es kann sein – ich muß es wirklich vergessen haben.«

»Na, ich kann ja auch Koteletten essen; aber vergessen Sie es, bitte, nicht wieder, daß ich morgen abend Lachs haben will.«

»Gewiß nicht, Sir«, antwortete der Kellner, und damit hatte die Sache für diesen Abend ihr Ende.

Am nächsten Abend lud Grimaldi den Direktor ein, mit ihm zu speisen. Der Tisch war gedeckt, sie setzten sich, die Glocke wurde abgehoben, und sie sahen – ein Beefsteak.

»Was ist denn das?« fragte Grimaldi den Kellner; »haben Sie den Lachs wieder vergessen?«

»Ich – ich – glaube wirklich, Sie hätten Beefsteak befohlen, Sir. Ich werde Sorge tragen, daß Sie morgen abend Lachs bekommen.«

»Vergessen Sie es aber ja nicht zum dritten Male! Ich reise übermorgen ab, und es ist mir daran sehr viel gelegen!«

»Verlassen Sie sich darauf, Sir!«

Am folgenden Abende fand Grimaldis Benefiz statt. Das Haus war wieder sogut wie ausverkauft, Grimaldi trat als Acres und als Clown auf, nahm sein Geld in Empfang, sagte dem Direktor Lebewohl und eilte ermüdet, sich noch immer auf den Lachs freuend, nach seinem Gasthofe zurück.

»Nicht vergessen, Kellner?«

»Nein, Sir.«

»Schön! bringen Sie mir noch die Rechnung, denn ich reise morgen in aller Frühe ab.«

Der Kellner entfernte die Glocke. Diesmal hatte man Kalbskoteletten darunter verborgen. Grimaldi wurde unwillig und befahl dem Kellner, den Wirt heraufzurufen, der gleich darauf erschien.

Grimaldi trug ihm seine Beschwerde vor, die der Wirt durchaus nicht verstand, bis es endlich nach vielem Hin- und Herreden zur Sprache kam, daß gepökelter Lachs keinem Menschen in Newcastle bekannt war und nur nach London verschickt werde. Der einfältige Kellner hatte keine Ahnung davon gehabt, was Grimaldi eigentlich hatte haben wollen. Es war ihm aber zuwider gewesen, sich als unwissend zu bekennen, und er hatte es daher für das beste gehalten, die am meisten begehrten Gerichte der Reihe nach zubereiten zu lassen in der Hoffnung, endlich doch das richtige zu finden.

Grimaldi besichtigte auf dieser Reise, jedoch nur sehr oberflächlich, ein Kohlenbergwerk. Durch eine interessante Schilderung, die ihm der Theaterdirektor davon gegeben, war seine Neugier geweckt worden. Er wurde in einem Korbe 2 – 300 Fuß hinuntergelassen, und kaum hatte der Führer, der ihn unten im Stollen in Empfang genommen, ein paar Schritte weiter geführt, als ein Kohlenklumpen von drei Tonnen Gewicht dicht hinter ihm herunterstürzte.

»Jesus! Was ist denn das?« rief Grimaldi in großer Bestürzung.

»Was denn weiter?« wurde ihm geantwortet, »es ist bloß ein bißchen, Kohle heruntergerutscht … das passiert immer ein paarmal tagsüber.«

»So? Na, ich – danke!« rief Grimaldi und lief eilends wieder zum Förderkorbe; »fahren Sie mich lieber gleich wieder hinauf!«

Der Korb kam wieder herunter, und Grimaldi konnte es kaum erwarten, bis er wieder oben war. Er verspürte nicht im geringsten Neigung, sich den Kopf von »einem bißchen« Kohle einschlagen zu lassen.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.


Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Gewinn und Verlust. – Grimaldis Sohn auf dem Covent-Garden-Theater. – Sein letztes Engagement in Sadlers-Wells. – Die Riesen im Dubliner Pavillon. – Beunruhigender Gesundheitszustand. – Sein Engagement beim Koburg-Cheater. – Mr. Harris Liberalität. – Grimaldis letztes Auftreten in Covent-Garden. – Besuch in Cheltenham und Birmingham. – Oberst Berkeley, Mr. Charles Kemble und Mr. Bunn.

Durch seine sechswöchentliche Gastspielreise im Jahre 1818 gewann Grimaldi 680 Pfund, aber die schlechte Saison in Sadlers-Wells verschlang die ganze Summe wieder, und er besaß abermals weiter nichts als sein Salär; indessen hoffte er auf Ersatz in der nächstfolgenden Saison.

Die Weihnachtspantomime in Covent-Garden war »Harlekin Donquichotte«. Sie fand nicht den Beifall, den die früheren Pantomimen auf dieser Bühne gefunden hatten, obwohl Grimaldi darin zuerst als Sancho Pansa und dann als Clown auftrat. Man ließ daher im April eine andere folgen: »Harlekin und Aschenbrödel,« die aber auch keine bessere Aufnahme fand und nicht lange gegeben wurde. Im März war er einige Abende unbeschäftigt und nahm deshalb eine Einladung nach Lynn in Norfolk an, wo er viermal auftrat und eine Einnahme von 160 Pfund machte.

In Sadlers-Wells war die diesjährige Eröffnung von vielen Schwierigkeiten und Verlegenheiten begleitet. Zehn Tage vor dem Beginn der Saison legte Dibdin ganz unerwartet seinen Direktorposten nieder und ließ sich kaum bestimmen, die notwendigen Anordnungen auch nur für die erste Woche zu treffen. Es war niemand ausfindig zu machen, der für ihn hätte eintreten mögen, und so mußte sich Grimaldi dazu bequemen und deshalb seine diesmalige Gastspieltour mit all ihren Vorteilen aufgeben. Er brachte eine neue Pantomime eigener Erfindung »Die Schicksalsgöttinnen« zur Aufführung, die sich während der ganzen Saison hielt und auch immer gutbesetzte Häuser erzielte. Hierdurch besserten sich die finanziellen Verhältnisse für die Eigentümer einigermaßen.

Grimaldi merkte zu seiner nicht geringen Besorgnis in diesem Jahre zum ersten Male, daß seine Kräfte langsam abzunehmen anfingen. Zu spät sah er ein, daß ihn eine rechtzeitige Ruhe von längerer Zeit wahrscheinlich in den Stand gesetzt hätte, in seinem Berufe über die Mitte der vierziger Jahre hinaus zu wirken.

Vom September des Jahres 1819, wo Covent-Garden wieder eröffnet wurde, bis Weihnachten, wo die neue Pantomime »Harlekin und der Mönch« in Szene ging, gab er häufig den Kasrak im »Aladdin.«

In dieser Saison wurde sein Sohn auch ständig im Covent-Garden-Theater beschäftigt. Zuerst trat er als Fribble auf, dann in der Rolle des Liebhabers, die einen der lustigsten Pantomimen-Charaktere bildete. Man sah ihn in der Regel als Gigerl kostümiert; in der Handlung begünstigte ihn der Vater der Kolombine, während Kolombine selbst nichts von ihm wissen mochte. Dagegen nahm er regen Teil an der Jagd nach dem Helden und der Heldin der Pantomime, und Sache des Clowns war es, ihn in eine recht lächerliche Situation zu bringen.

Am 23. April übernahm Mr. Howard Payne das Theater auf eine Saison. Da sich kein anderer Direktor hatte finden wollen, war es ihm gelassen worden. Aber auch er büßte einen sehr bedeutenden Betrag ein, und Grimaldi fing der Spekulation langsam müde zu werden an. Da er jedoch allen Grund hatte, mit dem Ertrage seiner beiden Benefize zufrieden zu sein, reiste er im September in bester Stimmung und ohne jede Ahnung, daß er nur noch einmal, nämlich an seinem Abschiedsabend, in Sadlers-Wells auftreten sollte, nach Dublin ab.

Seine Reisegefährten waren Ellar und sein Sohn. Sie hatten zusammen Urlaub bekommen und waren zusammen von Harris, dem Direktor des Dubliner »Pavillon«-Theaters, engagiert worden. Ehedem Verhandlungssaal gewesen, war es vollkommen rund und für Theateraufführungen höchst ungeeignet, die Bühne selbst so eng, daß man, als die Vorbereitungen zum »Harlekin Gulliver« getroffen wurden, beim besten Willen nicht wußte, wohin die Leute aus Brobdignac gebracht werden sollten, denn sie nahmen soviel Raum ein, daß man sie, ehe der Vorhang aufgezogen wurde, im vollen Kostüm in einen dunklen Winkel postieren mußte, aus dem sie, sobald sie auf der Bühne zu erscheinen hatten, hervorgeholt und, wenn sie abtreten mußten, wieder zurückwandern mußten, um dann bis zum Schlusse der Pantomime dort ruhig auszuhalten.

Es blieb den unglücklichen Riesen weiter nichts übrig als sich in ihr etwas prekäres Schicksal zu schicken. Sie erregten Grimaldis Mitleid in hohem Maße, und nachdem die ersten Vorstellungen vorüber waren, fragte er sie, ob sie sich entschließen könnten, auch für die Folge das gleiche Maß von Hitze und Anstrengung zu ertragen.

»Wir haben uns die Geschichte überlegt«, antwortete der Wortführer von ihnen, »und sind für jeden Abend bereit, sofern uns Euer Gnaden einen Whisky nach Schluß der Vorstellung versprechen.«

Das geschah natürlich, und die Riesen betrugen sich fürderhin sehr artig und nett und betranken sich nicht ein einziges Mal.

Sieben Wochen verweilte die Gesellschaft in Dublin. Für Grimaldi war das Gastspiel sehr einträglich, brachte ihm doch sein Benefiz allein 200 Pfund.

Die Pantomime, die in Covent-Garden gespielt wurde, hieß: »Harlekin und Mutter Bunch« – unter welch letzterer Figur eine in Kindermärchen häufig vorkommende Hexe zu verstehen ist – und beide Grimaldis hatten darin Rollen.

Ostern wurde Sadlers-Wells auf drei Saisons an den mit Grimaldi befreundeten Mr. Egerton, einen Schauspieler vom Covent-Garden-Theater, verpachtet; Grimaldi konnte sich aber mit einigen Paragraphen des Vertrags nicht zufrieden geben, sodaß er es vorzog, seine Unterschrift zu verweigern. Dadurch kam es zu einem gespannten Verhältnis zwischen ihm und Egerton. Obgleich dasselbe anhielt, bewahrte Grimaldi dem einstigen Freunde doch immer eine hohe Achtung, die er gewiß auch verdiente.

Im Herbste begaben sich Ellar und Grimaldi Vater und Sohn wieder nach Dublin, verweilten vorher aber noch fünf Wochen in Birmingham, dessen Theater damals in dem Besitze eines Mr. Bunn war. Beide traten hier in der Pantomime »Mönch Baco« auf, die wohl über fünfzigmal gegeben wurde. Mr. Bunn war, wie von ihm bekannt war, höchst liberal und zahlte Grimaldi wöchentlich 20, seinem Sohne 9 Pfund, wozu noch für jeden ein Benefiz aus halben Gewinn an der Einnahme hinzukam.

Grimaldi wurde damals zu seinem unsäglichen Schmerz gewahr, daß es mit seiner Gesundheit immer schlechter wurde, und daß ihm ein frühes und gebrechliches Alter winkte. Am achtzehnten Spielabend wurde ihm im Theater so übel, daß er sich krank melden und einen Arzt zu Rate ziehen mußte. Nach acht Tagen war er wohl wieder so weit, daß er spielen konnte, – er fühlte aber, daß er nicht mehr der alte war, daß seine Kräfte vielmehr zusehends schwächer wurden. Die bösen Ahnungen, die ihn beschlichen, sollten sich auch bald erfüllen, und zwar so plötzlich, daß er selbst, aller früheren Anzeichen ungeachtet, davon überrascht wurde.

Am 6. Dezember reisten sie von Dublin ab nach London zurück, und schon am Tage nach ihrer Rückkehr begannen die Weihnachtsproben in Covent-Garden. Grimaldi hatte die Reise sehr angegriffen; er fühlte sich schwächer denn je vorher.

Die Pantomime, in der er wieder mit seinem Sohne zusammen auftrat, war: »Der gelbe Zwerg«. Sie wurde 44 Mal gegeben, Grimaldi wollte aber trotzdem nicht daran glauben, daß sie beim Publikum in sonderlich großer Gunst stände. Er spielte die Titelrolle, während sein Sohn als Midshipman auftrat.

Sein Gesundheitszustand wurde im Verlauf des Sommers zusehends schlechter. Auf ein paar Tage wurde es wohl dann und wann besser; vielleicht hätte er sich auch jetzt noch, da er in Sadlers-Wells nicht mehr aufzutreten brauchte, den Rest seiner Kräfte erhalten können, wenn er sich hätte entschließen können, während seiner Ferien sich völliger Ruhe hinzugeben. Aber der Pächter des damaligen Koburg- und heutigen Viktoria-Theaters, Mr. Glossop, machte ihm ein so vorteilhaftes Angebot, daß er nicht widerstehen konnte. Er verpflichtete sich zu einem sechswöchentlichen Gastspiele, das ihm eine so bedeutende Summe brachte, daß er es sicher verlängert hätte, wäre ihm nicht so unwohl geworden, daß er der Bühne gänzlich Valet sagen mußte.

Man riet ihm zu einer Brunnenkur in Cheltenham. Im August reiste er dorthin ab, ließ sich aber, als er sich halbwegs besser fühlte, von seinem alten Kollegen Farley, der das dortige Theater gepachtet hatte, zu einem zwölfmaligen Gastspiele bewegen. Er machte eine Einnahme von 150 Pfund und kehrte merkwürdigerweise gesunder und heiterer nach London zurück, als er gerechnet hatte, sodaß er bei Eröffnung der Saison im Covent-Garden-Theater mitwirken konnte.

»Harlekin und Werwolf« mit dem Untertitel »Die schlummernde Schönheit« hieß die Pantomime dieser Saison. Sie fand wiederum die beifälligste Aufnahme. Freilich hatte Mr. Harris es an Fleiß und Kosten nicht fehlen lassen und verstand es auch, seinen Eifer auf die Mitglieder seiner Truppe zu übertragen, für deren Winke und Ratschläge er immer ein williges Ohr hatte. Sämtliche Kostüme wurden auf Direktionskosten angeschafft. Von den Darstellern erhielt jeder ein Maß Wein so oft die Pantomime gegeben wurde, am Tage der ersten Aufführung sogar eine Einladung zu einem splendiden Diner im Piazza-Kaffeehause, wohin sie sich nach beendigter Probe begaben. Farley führte hierbei den Vorsitz, während Brandon sein Stellvertreter war. In dem Stücke wirkte sowohl Grimaldi als sein Sohn. Es hielt sich bis Ostern 1823. Dann wurde das von Farley verfaßte Melodrama »Das Sonnen-Gesicht oder die Peruanische Waise« gegeben. Grimaldi hatte darin eine Hauptrolle, die er aber schon an den ersten Abenden nur mit äußerster Anstrengung durchzuführen vermochte. Es fing ihm an Kraft zu fehlen an; seine Gelenke waren steif, seine Muskeln erschlafften, und heftige Krämpfe waren die stetige Folge der Anstrengungen, die er sich auferlegte. Wenn er von der Bühne abtrat, mußte er von Männern aufgefangen, mußten ihm die Glieder gerieben werden, und zwar solange, bis sein Stichwort fiel.

Die Zuschauer, die sich vor Lachen ausschütten wollten, solange er spielte, hatten keine Ahnung von den gräßlichen Schmerzen, die er zu leiden hatte, während ihm von allen Seiten Beifall geklatscht wurde.

So ging es bis zum vierundzwanzigsten Abend. Da war er nicht mehr imstande, seine Rolle zu Ende zu spielen, und auf den Tod erschöpft, außerstande, ein Glied zu rühren, wurde er in die Garderobe getragen.

Jetzt erinnerte er sich der Entstehung und allmählichen Entwickelung seines Leidens; jetzt fiel ihm wieder ein, daß sich alle Doktoren, die er im Verlaufe der Jahre deshalb konsultiert hatte, vergeblich bemüht hatten, ihm Heilung zu bringen, und die schreckliche Gewißheit, daß er sein Spiel werde einstellen müssen, drängte sich ihm auf. Er schlug die Hände vor das Gesicht und weinte wie ein Kind. Am andern Morgen zeigte er der Direktion an, daß er, schwerer Erkrankung zufolge, seine Rolle aufgeben müsse.

Sein Sohn übernahm die Rolle auf der Stelle und war schon am ersten Abend imstande, sie mit Erfolg zu spielen. Das Stück erlebte 45 Aufführungen; wohl fing Grimaldi’s Zustand sich in der zweiten Woche zu bessern an, zu nochmaligem Auftreten in diesem Stücke ließ er sich aber nicht bestimmen. Die schlimmsten Ahnungen erfüllten ihn; es vergingen aber noch immer ein paar Jahre, ehe er die Hoffnung, sich auf dem Theater noch einmal zu betätigen, gänzlich aufgab.

Im August begab er sich zum zweiten Male nach Cheltenham und erholte sich soweit, daß er wieder ein paarmal auftreten konnte. Das Theater stand auch hier unter Farleys Leitung. Am ersten Abend kam Bunn und erzählte ihm, daß Kemble in Birmingham gastiere und Oberst Berkeley ihm versprochen habe, zu seinem Benefiz aufzutreten – was er öfter einmal tat, schon darum in der Regel mit großem Applaus, weil er ein bildhübscher Mann war und infolgedessen um »Verhältnisse« nicht eben verlegen war – Bunn sagte Grimaldi, in welcher Rolle er zu spielen gedenke. Dann setzte er aber hinzu, daß ihn auch die Absicht hergeführt habe, mit Grimaldi zu sprechen, ob nicht auch er sich bereit finden lassen wolle, ein paarmal in Birmingham mitzuwirken.

Zuerst mochte Grimaldi nichts davon hören; schließlich willigte er aber auf die Bedingungen hin ein, daß er nur zweimal zu spielen gehalten sei und daß ihm die Hälfte der beidesmaligen Einnahme zustehe.

An dem für Kemble festgesetzten Benefiz-Abende traf er mit seinem Sohne in Birmingham ein, hatte aber, da Kemble hier wie überall als bedeutender Künstler Englands außerordentlich beliebt war, nicht unbegründete Besorgnis, daß dieser Umstand ihm selbst von großem Nachteil sein würde, und äußerte noch am selben Abend Kemble gegenüber, in Drury Lane seien seinem Sohne acht Pfund geboten worden; würden ihm die Besitzer von Covent-Garden aber auch nur sechs Pfund bewilligt haben, so hätte er sich darein gefunden, auch unter solcher Bedingung zu spielen, um nicht eine Bühne zu verlassen, wo seinem Vater während so langer Jahre so unsäglich viel Wohltaten zugeflossen seien.

Kemble erwiderte darauf: »Mein lieber Joe, Ihr Anerbieten ist so außerordentlich freundlich, daß ich mich auf der Stelle damit einverstanden erkläre. Ihrem Sohne werden die gleichen Bedingungen bei uns zugestanden, wie sie ihm das Covent-Garden-Theater gewährt hat.«

Grimaldi begab sich in die Garderobe und traf dort den Oberst Berkeley, der ihm sagte, er hätte gar zu gern einmal den Valentin gespielt mit Grimaldi zusammen als Orson. Grimaldi antwortete darauf, daß er es sich selbst zur hohen Ehre anrechne, einmal mit Oberst Berkeley zusammen zu spielen.

»Schön,« sagte der Oberst darauf, »wir wollen die Sache als abgemacht ansehen; sobald Sie hier fertig sind, erwarte ich Sie für einen Abend in Cheltenham. Mit Farley werde ich dann alles notwendige verabreden. Ihr Sohn mag den Grünen Ritter spielen. Ich gebe Ihnen hundert Pfund Renumeration. Wollen mal zusehen, Joe, was wir beide zusammen zur Unterhaltung des Publikums ausrichten können.«

Aber aus diesem Plane sollte nichts werden. Grimaldi gab an Kembles Benefiz-Abend noch eine kleine, von ihm selbst verfaßte Pantomime zum besten: »Puck und die Puddinge,« mit der er einen so stürmischen Applaus erntete, daß er sich um vieles wohler fühlte, als seit langer Zeit, und sich auch bestimmen ließ, noch ein weiteres Mal aufzutreten. Er erntete fast noch mehr Applaus, als an den beiden vorhergegangenen Abenden, und hatte eine Einnahme von 186 Pfund. Bunn gab, als er sie ihm überreichte, der Hoffnung Ausdruck, ihn recht bald, zur Freude ganz Englands, wiederhergestellt und in alter Frische wiederzusehen.

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

Sein Großvater und Vater. – Seine Geburt und erstes Erscheinen auf den Theatern in Drury-Lane und Sadlers-Wells. – Seines Vaters Strenge. – Der Earl von Derby und die Perücke. – Die Vermögensbüchse und der Guttätigkeit Lohn. – Seines Vaters Scheintod, und sein und seines Bruders Benehmen dabei.

Joseph Grimaldi’s Großvater väterlicherseits war sowohl dem französischen als italienischen Publikum als ein ausgezeichneter Ballett-Tänzer bekannt. Er war so gewandt und stark, daß man ihm den Beinamen »Eisen-Bein« gab. Dibbin erzählt in seiner Geschichte der Bühne mehrere hierauf bezügliche Anekdoten von ihm, wie denn auch deren viele im Umlaufe sind; die nachstehende ist vollkommen wahr. Eines Abends tat er auf der Bühne einen ungewöhnlich hohen Sprung, vielleicht in einem, durch die Anwesenheit des türkischen Gesandten, der sich mit seinem Gefolge in der Seiten-Loge befand, veranlagten absonderlichen Enthusiasmus. Er zerbrach dabei einen der Kronleuchter, die in jener Zeit über den Bühnen-Türen hingen, wobei dem Gesandten ein Stück vom Glasgehänge in das Auge oder doch das Gesicht flog. Da die Würde des gewichtigen Mannes verletzt war, wurde eine förmliche Klage bei dem französischen Hofe erhoben, der an Eisen-Bein das ernste Gebot ergehen ließ, um Verzeihung zu bitten, was Eisen-Bein auch in seiner gebührenden Form zu seiner eigenen, des Hofes, des Publikums und mit einem Worte, jedermanns großer Belustigung tat. Die große Angelegenheit endigte mit einem Kuplet.

Der erste Grimaldi in England war Eisenbein’s Sohn und Joseph’s Vater. Er kam im Jahre 1760 als Dentist der Königin Charlotte nach England. Er war in Genua geboren, war ausgezeichnet als Dentist, wendete sich aber mit noch größerer Vorliebe der Tanzkunst zu, bat die Königin bald nach seiner Ankunft in England, ihn zu entlassen, und fing an Tanz- und Fecht-Unterricht zu geben, wobei er seinen Schülern bisweilen kleine Proben seiner vormaligen Kunst gab. In jenen Tagen der Menuetts in Kotillons waren die Tanzübungen eine weit mühsamere und ernsthaftere Angelegenheit, als sie es jetzt sind, und die jüngeren Zweige des Adels und der Reichen beschäftigten Grimaldi fortwährend. Es wurde gesagt, er habe seine Stelle bei Hofe infolge unfeinen Benehmens und einer Respekt-Widrigkeit gegen den König verloren, welche Beschuldigung sein Sohn sich stets sehr zu Herzen nahm, und deren Grundlosigkeit zur Genüge daraus hervorging, daß sich der König und die Königin bei allen möglichen Gelegenheiten stets als seine huldreichen Beschützer erwiesen.

Grimaldi gelangte auf seiner neuen Laufbahn zu einem bedeutenden Rufe, und wurde daher zum Balett-Meister und ersten Buffon beim alten Drury Lane- und Sadlers Wells-Theater ernannt, in welcher Doppeleigenschaft er ein großer Liebling des Publikums und Ihrer Majestäten wurde, die fast wöchentlich die Aufführung einer Pantomime befahlen, deren Held Grimaldi war. Er stand in dem Rufe großer Rechtschaffenheit und Wohltätigkeit. Auch hatte man ihm – ein Umstand, dessen sein Sohn stets mit gerechtem Stolze erwähnte – niemals trunken gesehen; eine ziemlich seltene Tugend der Bühnenkünstler neuerer Zeit, deren sich zu befleißigen berühmtere als er sehr wohl tun würden.

Er scheint ein äußerst wunderlicher und exzentrischer Mann gewesen zu sein, was man bei den von ihm anzuführenden kleinen Charakter-Zügen nicht übergehen darf. Er kaufte einst einen Garten in Lambeth, nahm in einem ungewöhnlich unfreundlichen Winter Besitz davon, und konnte es schier nicht erwarten, wie sich derselbe in voller Blütenzeit ausnehmen würde, so daß er ihn mit einer Ungeheuern Menge künstlicher Blumen schmückte, und die Bäume mit den schönsten grünen Blättern, sowie mit Früchten bis zum Brechen belud, die natürlich gleichfalls künstliche waren.

Zu seinen sonderbaren Charakterzügen gehörte eine unbestimmte und heftige Furcht vor dem vierzehnten Tage jedes Monats. Er war bei dem Herannahen desselben stets reizbar, unruhig und ängstlich; unmittelbar nach ihm aber wieder ein ganz anderer Mann, und rief dann aus: »Ah! Jetzt sein ick wieder sicher auf einen Monat!« Es ist bemerkenswert, daß er wirklich an einem vierzehnten März starb, so wie er auch am vierzehnten dieses Monats geboren und getauft war und sich verheiratet hatte.

Man erzählt ähnliche Anekdoten von Heinrich dem Vierten und anderen; die hier erzählte ist vollkommen verbürgt, und kann dem Verzeichnisse der Ahnungen, oder wie man es nennen will, als ein wahrhaftes Beispiel hinzugefügt werden.

Grimaldi war krankhaft reizbar und trübsinnig im höchsten Grade, und hatte eine fast unbeschreibliche Furcht vor dem Tode. Er wanderte oft stundenlang auf Kirchhöfen oder Begräbnisplätzen umher, grübelte über die Krankheiten, an welchen die in den Gräbern um ihn her Liegenden gestorben sein möchten, malte sich ihre Sterbe-Betten vor, und überrechnete, wie viele von ihnen wohl lebendig begraben wären; eine Möglichkeit, an welche zu denken er schauderte, und die ihn sein Leben lang bis an sein Ende mit peinlicher Angst erfüllte. Er verfügte daher in seinem Testamente, daß man ihm, bevor sein Sarg verschlossen würde, den Kopf abschnitte, was auch in Gegenwart mehrerer Personen geschah.

Sonderbar genug wählte er den Tod, der ihm in seinen unbeschäftigten Augenblicken fast unaufhörlich und unter den düstersten und qualvollsten Gedanken und Empfindungen vor Augen schwebte, zum Gegenstande seiner beliebtesten Szenen in den Pantomimen der damaligen Zeit. Unter vielen andern derselben Art erfand er die wohlbekannte Skelett-Szene für den Clown, welche damals äußerst beliebt war und noch jetzt bisweilen dargestellt wird.1 Die Tatsache ist gleich merkwürdig, gleichviel ob es wahr ist, daß die Hypochondristen am geneigtesten sind, über die Dinge zu lachen, die ihnen insgeheim am meisten Verdruß, oder Bangigkeit erregen, sowie diejenigen, die an Geister-Erscheinungen glauben, sich am ungläubigsten auszusprechen pflegen; oder ob die erwähnten düsteren Vorstellungen das Gemüt des unglücklichen Mannes so unablässig beunruhigten, daß selbst seine Heiterkeit eine schauerlich düstere Färbung annahm, und seine Laune groteske Gegenstände in den Gräbern und Beinhäusern aussuchte.

Zur Zeit der Lord George Gordon-Aufläufe2, als die Londoner, um ihre Häuser vor der Wut des Pöbels zu schützen, an die Türen die Worte schrieben: »Kein Papsttum!« schrieb er, um es mit keiner Partei zu verderben und der Möglichkeit zu begegnen, irgend einen durch sein Glaubens-Bekenntnis zu beleidigen: »Gar keine Religion!« an die seinige, und erreichte seinen Zweck; wir wissen indes nicht zu sagen, ob durch den Humor seines Wahlspruchs, oder die Folge davon, daß der aufrührerische Haufen nicht durch die Straße kam, in welcher er wohnte.

Am 18. Dezember 1779, dem Jahre, in welchem Garrick starb, wurde Joseph Grimaldi, »der alte Joe«, in der Stunhope Straße, Clare Market, in welchem Stadtteile damals, wie jetzt, ein großer Teil des Theaterpersonals wegen der Nähe der Schauspielhäuser wohnt, geboren. Sein Vater war damals über siebenzig Jahre alt, und fünfundzwanzig Monate später wurde demselben noch ein Sohn geboren – Joseph’s einziger Bruder.

Das Knäblein blieb nicht eben lange im Zustande der hilflosen und uneinträglichen Kindheit, denn schon in dem Alter von einem Jahre und elf Monaten wurde es von seinem Vater auf dem alten Drury-Lane-Theater produziert, wo es seine erste Verbeugung machte und seinen ersten Purzelbaum schlug. Das Stück, in welchem es sein frühreifes Talent entfaltete, war die wohlbekannte Pantomime Robinson Crusoe, in welcher der Vater die Rolle des schiffbrüchigen Seemanns, und der Sohn die des kleinen Clown hatte. Des letzteren Erfolg war vollkommen; er wurde sofort engagiert, und erhielt ein wöchentliches Salär von fünfzehn Schillingen, und mit jedem Jahre eine neue und hervorstechende Rolle. Er wurde ein Liebling sowohl, beim Publikum, als hinter den Kulissen, und hieß im Garderobe-Zimmer der »kleine kluge Joe«; Joe wurde er bis an das Ende seiner Tage genannt.

Im Jahre 1782 trat er zuerst in Sadlers Wells in der schwierigen Rolle eines Affen auf, und war glücklich genug, in derselben soviel Beifall zu finden, als er in der eines Clowns in Drury Lane gefunden hatte. Auch in Sadlers Wells wurde er sogleich regelmäßiges Mitglied der Truppe, und blieb es (mit Ausnahme einer einzigen Saison) neunundzwanzig Jahre, bis an das Ende seines Künstler-Lebens.

Seine Mühen nahmen jetzt einen ernsten Anfang, da er zwei Engagements hatte, welche ihn verpflichteten, an demselben Abende und fast zu derselben Zeit auf zwei Theatern aufzutreten. Die Aufgabe, schwer genug schon für einen Mann, war es umsomehr für ein Kind, und man wird sehen, wenn zu irgend einer Periode seines Lebens seine Einnahmen sehr bedeutend waren, auch die Geistes- und Körper-Anstrengungen nicht minder groß genannt werden mußten, durch welche jene errungen wurden. Die schauspiel-närrischen jungen Leute, die unermüdlichen Besucher der öffentlichen und Privattheater, die es so sehnlich verlangt, auf die Bühne zu gehen, weil es »so leicht« sei, Schauspieler zu sein, lassen sich wenig von all den Sorgen, sauren Mühen und Entbehrungen träumen, welche die Summe des Lebens der meisten Schauspieler ausmachen.

Wir bemerkten oben, daß der Vater Grimaldi’s ein exzentrischer Mann gewesen wäre; er scheint es besonders und etwas unangenehm bei Züchtigung seines Sohnes gewesen zu sein. Der Knabe, der zu Possen aller Art auf dem Theater erzogen wurde, war überall ebenso sehr Clown, Affe, oder was sonst possierlich und lächerlich sein mochte, als auf der Bühne; die Damen und Herren im Garderobezimmer munterten ihn dazu auf, und er trieb seine Späßchen fast ebenso sehr zu ihrer, als zu des Publikums Ergötzlichkeit. Dieses alles wurde jedoch sorgfältig vor dem Vater geheim gehalten, der, wenn etwas davon zu seiner Kunde gelangte, Joe regelmäßig derb dafür abprügelte, ihn dann bei den Haaren aufhob und mit der Warnung, sich ja nicht von der Stelle zu, rühren, in einen Winkel trug. Joe rührte sich jedoch trotzdem von der Stelle. Mit dem Vater verschwanden auch seine Tränen, und mit vielen seiner komischen Gebärden und Mienen, welche später so beliebt wurden, begann er seine Possen von neuem und mit verdoppelter Lebhaftigkeit, worin ihn nur der Ruf: »Joe, Joe, Dein Vater kommt!« unterbrechen konnte, worauf er denn in seinen Winkel zurückeilte und wieder zu weinen anfing, als wenn er gar nicht aufgehört hätte.

Dies wurde allmählich eine regelmäßige Belustigung, und man rief: »Joe, Joe, Dein Vater kommt!« wenn der Vater auch nicht kam, um das Vergnügen zu haben, Joe in seinen Winkel zurücklaufen zu sehen. Joe merkte dies bald, verwechselte häufig die ernsthafte mit der scherzhaften Warnung, und empfing mehr Schläge als zuvor von seinem, wie er sich in seiner Handschrift ausdrückt, »strengen aber vortrefflichen Vater«.

Einst war er zu seiner Lieblingsrolle des kleinen Clown in Robinson Crusoe angekleidet, und sein Gesicht gerade so wie das seines Vaters bemalt, worauf zum Teil das Komische seiner Rolle beruhte, als ihn der alte Herr in das Garderobenzimmer brachte, ihn in seinen gewöhnlichen Winkel setzte, ihm streng anbefahl, sich kein Haar breit von der Stelle zu rühren und wieder hinausging. Zufällig trat in demselben Augenblicke, der das Garderobenzimmer zu jener Zeit beständig besuchende Earl von Derby3 herein, und rief den Knaben gutmütig zu sich, dessen trübselige Mienen mit seinem Anzug so wenig übereinstimmten. Joe schnitt ein höchst merkwürdiges Gesicht, blieb aber wo er war. Der Earl lachte und blickte nach einer Erklärung umher.

»Er darf nicht von der Stelle,« nahm Miß Farren das Wort, welcher Dame der Lord damals sehr den Hof machte und die er später ehelichte. »Sein Vater schlägt ihn sonst.«

»Schlägt ihn!« wiederholte der Lord, und Joe schnitt zur Bekräftigung der Aussage Miß Farren’s ein noch weit merkwürdigeres Gesicht.

»Ich glaube,« sagte der Lord abermals lachend, »er hat nicht soviel Furcht vor seinem Vater, als Sie glauben. Komm her, Kleiner!«

Bei diesen Worten hielt er ihm eine halbe Krone entgegen, und Joe, dem der Wert des Geldes sehr wohl bekannt war, sprang aus seinem Winkel hervor und bemächtigte sich mit pantomimischer Raschheit des Geldstücks und war im Begriff zurückzueilen, als ihn der Earl am Arme festhielt.

»Schau hier, Joe!« sagte der Earl. »Nimm Deine Perücke ab, wirf sie in das Feuer, und Du bekommst noch eine halbe Krone.«

Gesagt, getan. Joe schlenderte seine Perücke in das Feuer. Es entstand ein schallendes Gelächter. Der Knabe hüpfte mit einer halben Krone in jeder Hand im Zimmer umher, und der Earl, besorgt wegen der Folgen, war damit beschäftigt, mit Zange und Schüreisen die Perücke den Flammen zu entreißen, als der Vater im vollen schiffbrüchigen Seemanns-Anzug eilig hereintrat. Es war ein Glück für den kleinen Joe, daß Lord Derby kräftige Fürsprache für ihn einlegte, denn sonst hätte es leicht sein können, daß der Kleine lebendig begraben wurde. Vor einer tüchtigen Tracht Schläge war er indes doch nicht zu schützen. Die Tränen liefen ihm über die zolldick bemalten Wangen dermaßen hinab, daß die Farben gänzlich verwischt wurden und daß er fast so wenig einem kleinen Clown als einem menschlichen Wesen mehr ähnlich sah, mit welchen beiden Charakteren er nur noch die entfernteste Ähnlichkeit hatte. Er wurde fast unmittelbar darauf gerufen, und der heftig Erzürnte bemerkte die mit ihm vergangene Veränderung erst, als Joe auf die Bühne kam und ein allgemeines und schallendes Gelächter entstand. Er wurde noch wütender als vorhin, prügelte ihn sogleich noch tüchtiger ab, und das Kind schrie auf das Fürchterlichste. Die Zuschauer nahmen alles für einen höchst vortrefflichen Spaß, ein Gelächter- und Beifalls-Sturm erschütterte das Haus, und die Blätter erklärten am folgenden Morgen, daß es wahrhaft wunderbar gewesen wäre, wie natürlich das Kind gespielt hätte, was den Lehrgaben seines Vaters die größte Ehre machte.

Der Vorfall wirft ein bedeutsames Streiflicht auf die Schauspieler-Leiden. Scherze auf den Lippen und Tränen in den Augen, fröhliche Mienen und Wehe im Herzen haben hundertmal denselben Gelächter- und Beifallssturm hervorgerufen. Halbverhungerte werden fast ohne Ausnahme auf der Bühne belacht – die Zuschauer haben ihr Mittags- oder Abendessen gehabt.4

Die härteste Strafe für den Knaben bestand darin, daß er sich seiner fünf Schillinge beraubt sah, die der vortreffliche Vater in seine eigene Tasche steckte, vielleicht auch weil er Joe’s Salär in Empfang nahm, und mit Goldsmith´s Bärenführer meinte, daß »alles hübsch beieinander sein müßte«.5

Der Earl gab indes Joe eine halbe Krone, so oft er ihn späterhin sah, und Joe hatte große Ursache zum Kummer, als Seine Herrlichkeit Miß Farren heiratete und sich in der Garderobe nicht mehr blicken ließ.

Auf dem Sadlers Wells wurde er fast eben so schnell beliebt, als im Drury Lane-Theater. Der Schauspieler King, der Haupteigentümer des ersteren und Direktor des letzteren war, hielt nicht wenig von ihm, und schenkte ihm bisweilen eine Guinee, um sich ein Schaukelpferd, einen Wagen, oder anderes Spielzeug, das er sich eben wünschte, dafür zu kaufen. Bei einer der Vorstellungen des ersten Stückes, in welchem der kleine Joe in Sadlers Wells auftrat, machte er zum ersten Male ernstlich Effekt, wobei ihn jedoch nur das Glück, das ihn in solchen Fällen stets begleitet zu haben scheint, vor dem Schicksal bewahrte, unfähig zu werden, jemals wieder auftreten zu können. Er stellte einen Affen vor, und mußte in dem ganzen Stück um den Clown (seinen Vater) sein. In einer Szene hatte ihn der letztere an der Kette, und wirbelte ihn auf Armeslänge mit der größten Schnelligkeit in der Luft herum. Eines Abends zerriß die Kette, und Joe flog weit in das Parterre hinein, jedoch glücklicherweise ohne den mindesten Schaden zu nehmen, da er wie durch ein Wunder einem, mit gespannter Aufmerksamkeit zuschauenden Herrn in die Arme geschleudert wurde.

Zu den vielen Personen, die sich ihm in dieser frühen Periode seiner Laufbahn freundlich geneigt erwiesen, gehörte das berühmte Seiltänzerpaar, Mr. und Mrs. Ridge, zu jener Zeit der kleine Teufel und die schöne Spanierin genannt. Sie gaben ihm häufig eine Guinee, die ihm sein Vater regelmäßig wegnahm, in eine Büchse, auf welche des kleinen Joe’s Name geschrieben stand, hineinsteckte, und dieselbe sorgfältig verschloß, worauf er dann dem Knaben den Schlüssel gab und zu ihm sagte: »Merk, Joe, das sein Dein Vermögen, wenn ick tot sein.« Joe kam indes um die Büchse wie um sein ganzes Vermögen, wie wir bald sehen werden.

Da er beinahe vier Monate im Jahre Theaterferien hatte, indem die Weihnachtspantomime im Drury Lane selten länger als vier Wochen gegeben wurde, und die Vorstellungen in Sadlers Wells erst Ostern ihren Anfang nahmen, so schickte ihn sein Vater auf die genannte Zeit in eine Kostschule in Putney zu einem Mr. Ford, von dessen Herzensgüte und Zuneigung zu ihm er noch als ein alter Mann mit der gerührtesten Dankbarkeit sprach. Viele seiner damaligen Schulkameraden widmeten sich später auf die eine oder andere Weise gleichfalls dem Theaterfache, – unter ihnen z. B. Mr. Henry Harris6 vom Covent-Gardentheater – keiner derselben aber der Pantomime, und wir müssen uns, wenn wir der Laune und Lebhaftigkeit Joe’s gedenken, nur wundern, daß seine Schulkameraden nicht sämtlich Clowns geworden sind.

Weihnachten 1782 trat er in seiner zweiten Rolle in Drury Lane im »Harlequin dem Jüngeren oder dem Zaubergürtel« auf. Er stellte darin einen Dämon vor, der von einem feindlichen Zauberer abgeschickt war, der Macht Harlequins entgegenzuwirken. Er erwarb sich auch diesesmal großen Beifall, und sein Ruf stand von dieser Zeit an fest, nur daß er mit seinen Jahren an Kräften und Fortschritten natürlich zunahm.

Zu Ostern gab er abermals den Affen in Sadlers Wells, doch ohne daß ihm ein ähnliches Unglück, wie das erzählte, widerfahren wäre, und ging wieder nach Putney, als das Stück am Schlusse des Monats zurückgezogen wurde, und während der Saison nichts mehr für ihn zu tun war.

Weihnacht 1783 trat er abermals in Drury Lane in einer Pantomime, dem »Wirrwarr«, auf, und zwar nicht bloß in seiner alten Rolle als Affe, sondern außerdem noch in der einer Katze. In der letzteren betraf ihn ein Unfall, bei dem er so wenig bleibenden Schaden nahm, daß man fast glauben sollte, er hätte sich mit dem Charakter, den er darstellte, so vollkommen identifiziert, daß er ein wahres Katzenleben besessen. Sein Kostüm hatte den bedeutenden Mangel, daß er, wenn er in dasselbe hineingenäht war, nicht sehen konnte. So geschah es, daß er in eine gewöhnlich durch eine Falltür verschlossene Öffnung hineinfiel, welche offen gelassen war, um einen Brunnen vorzustellen. Er stürzte vierzig Fuß tief hinunter, zerbrach sich das Schlüsselbein und trug mehrere Kontusionen davon. Er wurde sogleich nach Hause geschafft und der Behandlung eines Wundarztes übergeben, war freilich erst nach Beendigung der Saison in Drury Lane wiederhergestellt, spielte aber Ostern in Sadlers Wells wie gewöhnlich. Im Sommer dieses Jahres erhielt er, als einen Beweis hoher und besonderer Gunst, die Erlaubnis, einen Sonntag um den anderen im Hause seines Großvaters von mütterlicher Seite zuzubringen, der, wie er selbst sagt,7 »in der Newtonstraße, Holborn, wohnte, ein Metzger en gros, und außerdem Inhaber des Schlachthauses in Bloomsbury war, das er bei seinem Tode einige sechszig Jahre inne gehabt hatte«. Joe war ein großer Liebling desselben, und da ihm im Hause des Großvaters viel nachgesehen und zu gut getan wurde, so sah er jedem seiner dortigen Besuche mit großer Sehnsucht entgegen. Sein Vater wünschte seinerseits ebenso lebhaft, daß Joe die Ehre seiner Familie bei diesen Gelegenheiten aufrecht erhalten möchte, und nach großer und langer Überlegung und Beratung mit Schneidern, wurde der »kleine Clown« für einen seiner Sonntagsausflüge folgendermaßen kostümiert; er trug einen grünen, mit fast so vielen künstlichen Blumen, als sein Vater in seinem Lambether Garten angebracht hatte, besetzten Leibrock; unter selbigem glänzte ein seidenes, blendend weißes Westchen, wozu noch weiter unten grüne tuchene Kniehosen (das Wort existierte zu jener Zeit) mit reichem Besatze und weißseidene Strümpfe und Schuhe mit blanken Schnallen kamen. Ebenso wenig fehlten ein Spitzenhemde, Halstuch und Manschetten, ein dreieckiger Hut, eine kleine Uhr mit Diamanten – mutmaßlich Theaterjuwelen – und ein Spazierrohr, das er so kecklich handhabte, wie es gegenwärtig unsere großen Clowns nur tun mögen.

Der Vater hielt Generalinspektion vor seinem Abmarsche, drückte die vollkommenste Billigung aus, küßte ihn, forderte ihm den Schlüssel zu seiner »Vermögensbüchse ab, gab ihm aus selbiger eine Guinee, sagte: »Sieh – jetzt sein Du ein Gentleman oder noch mehr – hast einen Guinee in der Tasche,« schärfte ihm ein, um acht Uhr wieder zu Hause zu sein, und entließ ihn, ohne zu gestatten, daß ihn jemand begleitete, und zwar weil er ein Gentleman, und demnach vollkommen imstande wäre, für sich selber zu sorgen.

Die Erscheinung Joe’s in den Straßen erregte ein beträchtliches Aufsehen, zumal da er ein öffentlicher Charakter war. Ein Gassenbube rief: »Hussa, da ist der kleine Joe!« ein zweiter: »Geht doch, ’s ist der Affe!« Ein dritter meinte, es wäre »der Bär, angekleidet zum Tanze«, und ein vierter behauptete, »es möchte die Katze sein, die in Gesellschaft ginge«; während größere und gesetztere Begegnende nicht umhin konnten, herzlich zu lachen und zu bemerken, daß es doch gar zu lächerlich wäre, ein Kind in einem solchen Anzuge allein durch die Straßen gehen zu lassen. Joe schritt indes unter jeweiligen verwunderlichen Grimassen unbekümmert weiter, bis ihm eine auf dem Straßenpflaster liegende Frau auffiel, deren elendes Aussehen bereits die Veranlassung gewesen war, daß sich ein Haufen gesammelt hatte. Der Knabe stand gleich anderen still, und wurde, als er die Leidensgeschichte der Verlassenen hörte, so gerührt, daß er in die Tasche griff, und ihr die Guinee, sein einziges Stück Geld, in die Hand drückte, worauf er sich noch mit feierlichen Schritten entfernte. Nunmehr sammelte sich ein Haufen um ihn und schrie und starrte ihn unendlich verwundert an, wodurch er sich jedoch nicht im mindesten aus der Fassung bringen ließ, sondern kecklich an der Spitze eines zwei Straßen langen Gefolges weiter schritt, bis ein Freund seines Vaters daherkam, ihn trotz seines Sträubens aufhob und auf den Armen nach des Großvaters Hause trug, wo er den Tag zu seiner und jedermanns Befriedigung hinbrachte.

Als er abends wieder anlangte, sah der Vater auf die Uhr, küßte und belobte ihn wegen seiner Pünktlichkeit, untersuchte seinen Anzug, war erfreut, keine Beschädigung daran zu finden, und forderte ihm zuletzt den Schlüssel zur »Vermögensbüchse« und die Guinee wieder ab. Der Knabe dachte zuerst an den Vorfall des Morgens nicht, durchsuchte seine Taschen, entsann sich endlich dessen, was er getan, fiel auf die Knie nieder, bekannte alles und flehte um Vergebung.

Der Vater wußte anfangs nicht, was er tun oder sagen sollte, da er selbst soviel Geld aus Guttätigkeit wegschenkte. Er blickte den Knaben ein paar Augenblicke ungewiß an, sagte darauf bloß: »Du bekommst eine Tracht Schläge,« und schickte ihn zu Bett.

Zu den Eigenheiten des alten Sonderlings – es war allerdings nicht die liebenswürdigste – gehörte die, daß er stets hielt, was er versprach, und wenn auch vielleicht in Fällen, wie diesem, Monate vergingen, bevor es geschah, wodurch denn die Strafe verdoppelt, verdrei- oder vervierfacht wurde, indem die verlängerte Furcht vor ihr, bei der Gewißheit, daß sie nicht ausbleiben würde, hinzukam. Es waren vier oder fünf Monate vergangen, und der Knabe hatte keine Veranlassung zum Unwillen gegeben, als ihn sein Vater eines Tages sehr unerwartet rief, und ihm ankündigte, daß er ihn sofort abzupeitschen dächte. Der Knabe fing an erbärmlich zu weinen, und stammelte die Frage hervor: »O Vater, wofür denn?« – »Denk an die Guinee!« sagte der alte Herr und prügelte ihn dermaßen, daß Joe sein Leben lang daran dachte.

Die Hausgenossenschaft bestand zu dieser Zeit aus den beiden Eltern, Joe, dessen einzigem Bruder John Baptist, drei oder vier weiblichen Domestiken, und einem Neger, der als Bedienter fungierte und durch die Benennung des »schwarzen Sam« honoriert wurde.

Der Vater war äußerst gastlich und sah ausnehmend gern Freunde bei sich. Er aß selten allein, und gab an gewissen Gala-Tagen und namentlich auch am Christabend, große Gesellschaften, bei welchen Gelegenheiten sein wirklich glänzendes Silberservice nebst verschiedenen Bijouterieartikeln zur Bewunderung der Gäste zur Schau gestellt wurde. An einem Christabend, als das Speisezimmer so glänzend als möglich geschmückt und ausgestattet war, stahlen sich die beiden Knaben in des schwarzen Sam Begleitung hinein, und drückten einander ihre Bewunderung all des Glanzes aus.

»Ah,« sagte Sam, »wenn alt Massa sterben, gehören allen die schönen Sachen Euch.«

Sam’s Bemerkung erregte in hohem Maße die Aufmerksamkeit der beiden Knaben, besonders aber John’s, des jüngeren, der noch sehr jung, wahrscheinlich weit weniger grauenvoll an den Tod dachte, als sein Vater und daher ohne den mindesten Rückhalt oder eine Spur von Zartgefühl ausrief, daß er außerordentlich froh sein würde, wenn ihm alle die schönen Sachen zufielen.

Es wurde nicht weiter darüber gesprochen. Der schwarze Sam ging an seine Geschäfte, die Knaben fingen an zu spielen, und niemand dachte mehr an den Vorfall, den Vater selbst ausgenommen, der zufällig ein unsichtbarer Hörer gewesen war. Er überlegte einige Tage, und faßte endlich, um die Sinnesart seiner beiden Knaben zu erforschen, den sonderbaren, doch bei dem ihn stets vornehmlich beschäftigenden Gedanken natürlichen Beschluß, sich tot zu stellen. Er ließ sich im verdunkelten Besuch-Zimmer als Leiche ankleiden, die Dienstboten erhielten ihre Verhaltungsmaßregeln, und den Kindern wurde vorsichtig angekündigt, daß ihr Vater plötzlich verstorben wäre, worauf man sie in das angebliche Totengemach führte.8

Joe war anfangs verwirrt, gewann aber bald die feste Überzeugung, daß sein Vater nicht tot wäre. Er hatte ihn noch vor kurzem vollkommen gesund gesehen, der schwarze Sam ließ es an heimlichen Winken und Andeutungen nicht fehlen und als er genau hinsah, bemerkte er, daß der Verstorbene atmete. Er gewahrte sogleich, was er zu tun hatte, begann auf das trübseligste zu ächzen und zu schluchzen, warf sich zu Boden und wälzte sich wie im schrecklichen Kummer umher.

John, der vom öffentlichen Leben noch nicht soviel gesehen hatte, als sein Brüder, war nicht so verschlagen, sah in des Vaters Absterben nur eine Befreiung von Schlägen und Büchern (vor welchen beiden er einen gleich großen Widerwillen hegte), freute sich des so bald erlangten Besitzes der schönen Silbersachen, sprang im Zimmer umher, sang und schlug Schnippchen, und erklärte, daß er froh wäre, den Vater tot zu sehen.

»O Du abscheulicher Junge,« sagte Joe unter einer Tränenflut. »Hast Du denn gar keine Liebe zu Deinem guten Vater? Ach, was würde ich darum geben, wenn ich ihn wieder lebendig sähe!«

»Papperlappapp!« sagte John; »sei doch nicht so ein Narr, zu weinen; jetzt gehört uns die Kuckucks-Uhr ganz allein.«

Dies war mehr, als der Abgeschiedene zu ertragen vermochte. Er sprang von seiner Totenbahre, öffnete die Fensterläden und bläuete den jüngeren Sohn unbarmherzig ab; während Joe, über sein eigenes Schicksal zweifelhaft, hinauslief und sich im Kohlenkeller versteckte, wo ihn der schwarze Sam ein paar Stunden darauf fest eingeschlafen fand, und ihn zu seinem Vater trug, der ihn ängstlich gesucht hatte und ihn als den zärtlich und wahrhaft liebenden Sohn auf das liebevollste empfing.

Joe war von dieser Zeit an bis zum Jahre 1788 für dieselben Saläre engagiert, die er von Anfang an sowohl in Drury Lane, als Sadlers Wells erhalten hatte.

  1. Wahrscheinlich ist das Harlequin-Gerippe gemeint, dessen in Humphrey Clinker Erwähnung geschieht.
  2. Sie entstanden auf Veranlassung der im Jahre 1780 vor geschlagenen Toleranz-Bill, gegen welche der Lord Gordon besonders heftig eiferte und daher Anführer des erwähnten gefährlichen Aufruhrs wurde.
  3. Lord Derby war der Großvater des jetzigen Lord Stanley. Seine erste Frau war die Schwester des berühmten Herzogs von Hamilton und die Halbschwester der jetzigen Lady Charlotte Bury, der Schriftstellerin, die sich durch einige Romane, und neuerdings durch ein Buch über die Königin Caroline berüchtigt gemacht hat.
  4. Man wolle sich erinnern, welch‘ eine vortreffliche Akquisition Smike im »Nickleby« dem Schauspiel-Direktor deuchte.
  5. In dem berühmten Lustspiele She stoops to conquer, in Szene, wo Tony Lumkin sein Lied singt.
  6. Dem Verfasser scheint es nicht bekannt gewesen zu sein (vielleicht trog auch Grimaldi sein Gedächtnis), daß dieser Mr. Henry Harris nie Schauspieler war. Er war der Sohn eines anderen sehr bekannten Mr. Harris, des Eigentümers des Covent-Gardentheaters Mr. Harris der Jüngere machte sich dadurch berüchtigt, daß er mit einer Schauspielerin, einer Mrs. Johnson lebte, die verheiratet war und mehrere Kinder hatte, und ferner dadurch, daß er derselben, dem Publikum zum Trotz, hervorstehende Rollen verschaffte, was er auch durchzusetzen wußte. – Mrs. Johnson’s Lebensgeschichte war sehr merkwürdig. Sie war die Tochter eines Kunstreiters und einer italienischen Dame, wie man sagte, von hohem Range; das Kind wurde dem Vater mit einer Summe Geldes zugeschickt, darauf nach England gebracht, und lernte seine Mutter niemals kennen.
  7. Es möchte nämlich nicht ohne Bedeutung für ihn sein. So häufig es in England verhältnismäßig, daß vornehme und reiche Herren Schauspielerinnen ehelichen, so ist es doch selten genug, daß Töchter wohlhabender und angesehener Eltern auf das Theater gehen, oder gar Tänzerinnen werden. Ein Londoner Metzger en gros ist aber schon eine bedeutende Person, Ich entsinne mich, daß die Tochter eines solchen 10 000 Pfund im Vermögen hatte, und sich mit dem jetzigen Lord Montford, einem Sprößlinge einer der ältesten Adelsfamilien des Landes, verheiratete.
  8. Auf der Bühne ist häufig eine ähnliche Szene dargestellt wurden, woher dem alten Grimaldi wahrscheinlich sein Einfall gekommen war.

Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

1788 bis 1795

Des Vaters wirklicher Tod. – Sein Testament und des Testamentsvollstreckers Bankerott. – Edelmütiges Benehmen des Lehrers Grimaldi’s und des Schauspielers Wrougthon. – Sheridan’s Wohlwollen. – Grimaldi’s Mühen und Erholungen. – Insekten-Fangen. – Exkursion nach den »Dartford-Bläulingen.« – Mrs. Jordan. – Abenteuer aus Clapham Common; der blecherne Sixpence. – Grimaldis erste Liebe.

Nach verschiedenen öffentlichen Angaben starb Grimaldis Vater im Jahre 1787; aus mehreren Stellen der von dem Sohne diktierten Memoiren geht aber hervor, daß er am 14. März 1788 an der Wassersucht im siebenundachtzigsten Lebensjahre gestorben und auf dem Begräbnisplatze der Exmouthstraßen-Kapelle begraben ist, wo er – wenn der Platz zu jener Zeit nicht etwa größer als jetzt gewesen – bei seiner Lebzeit sehr wenig Raum zum grübelnden Umherwandeln gehabt hat. Er hinterließ ein Testament, und verordnete darin, daß seine sämtlichen Effekten und Juwelen in öffentlicher Versteigerung verkauft werden sollten; die daraus zu lösende Summe habe man seinem baren Vermögen, das sich auf mehr als 15 000 Pfund belief, hinzuzufügen, und das ganze zwischen den beiden Brüdern gleich zu verteilen, sobald sie zur Mündigkeit gelangten. Er hatte den schon genannten Mr. King zum Mit-Testamentsvollstrecker neben einem gewissen Mr. Joseph Hopwood ernannt, einen Spitzenfabrikanten in Long Acre, der in dem Rufe stand, nicht bloß Inhaber eins großen Geschäfts, sondern auch Besitzer eines beträchtlichen unabhängigen Vermögens zu sein. Mr. King lehnte die Mitwirkung ab, Mr. Hopwood legte das ganze Kapital der Brüder in seinem Geschäfte an, machte binnen Jahresfrist Bankerott, entfloh aus dem Lande, und man hat niemals wieder etwas von ihm gehört. So verloren die Brüder ihr Vermögen und waren wegen ihres Unterhalts auf ihre eigenen Hilfsquellen und Anstrengungen verwiesen.

Es ehrt sowohl die Freunde der Witwe und ihre Söhne, als es für den Charakter und das Benehmen der Familie Grimaldi zeugt, daß ihr sogleich von allen Seiten Beistand zuteil wurde. Mr. Ford, Grimaldi’s Lehrer, erbot sich, Joseph in seine Pensions-Anstalt aufzunehmen und ihn zu adoptieren. Die Mutter wies dieses Anerbieten zurück, und nun erhöhte Sheridan, der damals Eigentümer des Drury Lane Theaters war, des Knaben Gehalt aus freien Stücken auf ein Pfund wöchentlich und erlaubte der Mutter, die bei demselben Theater von Kindheit an Tänzerin gewesen war und noch war, ein ähnliches Engagement in Sadlers Wells anzunehmen, was der Tat nach einem doppelten Saläre gleichkam, da beide Schauspielhäuser während eines beträchtlichen Teils des Jahres zugleich geöffnet waren.

In Sadlers Wells, wo Joseph im Jahre 1788 kurz nach seines Vaters Tode wie gewöhnlich auftrat, war man weniger großmütig. Sein Gehalt wurde ohne alle Umstände von fünfzehn Schillingen wöchentlich auf drei heruntergesetzt, und der Mutter auf ihre Gegenvorstellungen erwidert, wenn die Änderung ihren Beifall nicht habe, so stehe es ihrem Sohne vollkommen frei, seine schätzbaren Dienste jedem beliebigen anderen Hause zu widmen. So gering indes das angebotene Gehalt war, sie konnte es nicht entbehren, und Joe blieb daher beim Sadlers Wellstheater drei Jahre lang für drei Schillinge wöchentlich, beaufsichtigte das Requisitenzimmer, leistete bald dem Zimmermanne, bald dem Maler Beistand und half, mit einem Worte, wo oder wie es gerade erforderlich war.

Als die Familie ihr Vermögen verloren hatte, mußte sie eine bescheidene Wohnung suchen, und fand sie im Hause eines Bekannten, Mr. Bailey’s in der Great-Wildstraße, wo sie mehrere Fahre wohnte. John war nicht zu bewegen, ein regelmäßiges Engagement anzunehmen, denn alle seine Gedanken und Träume drehten sich um den Plan, zur See zu gehen, und obenein hegte er den ausgemachtesten Widerwillen gegen die Bühne. Man ließ ihn bisweilen holen, wenn man in Drury Lane bei einer Vorstellung Knaben bedurfte, er erschien und erhielt einen Schilling für den Abend; allein seine Unlust und Abneigung war so offenbar, daß der Schauspieler Wroughton, der um diese Zeit nach Mr. King durch Kauf Eigentümer des Sadlers Wells-Theaters wurde, zu seinen Gunsten einschritt, und ihm eine Stelle an Bord eines Ostindien-Fahrers verschaffte, der soeben absegeln sollte.

John war fast außer sich vor Freude, die jedoch durch die Entdeckung getrübt wurde, daß eine Equipierung notwendig sei und über 13 Pfund kosten würde, eine Summe, welche die Mutter herbeizuschaffen außerstande war. Doch derselbe gutherzige Herr entfernte das Hindernis, gab mit einer Bereitwilligkeit, welche den Wert der Wohltat hundertfach erhöhte, ohne Sicherheit oder Handschrift die ganze erforderliche Summe her, und sagte nur: »Hör‘, John, wenn Du Kapitän wirst, mußt Du mir das Geld zurückzahlen.«

Nach zwei Tagen nahm John von den Seinigen Abschied und wurde an Bord gebracht, wo er, nachdem er gehört, daß das Schiff erst in acht bis zehn Tagen absegeln würde, ungeduldig und seine ganze Ausstattung zurücklassend, nach einem in der Nähe liegenden königlichen Flottenschiffe schwamm, das im Begriff war, die Anker zu lichten, sich unter einem angenommenen, den Seinigen nie bekannt gewordenen Namen als Matrose oder Kajütenjunge einschreiben ließ, verschwand, und vierzehn Jahre lang nichts von sich weder sehen noch hören ließ.

Joe war zu dieser Zeit weit entfernt, müßig zu sein. Er mußte jeden Morgen von Drury Lane nach Sadlers Wells wandern, um den Proben beizuwohnen, welche damals um zehn Uhr ihren Anfang nahmen; um zwei Uhr zum Mittagessen wieder in Drury Lane sein, wenn er nicht gar verhungern wollte; durfte abends sechs Uhr den Anfang der Vorstellungen in Sadlers Wells nicht versäumen, und war dann bis elf Uhr oder noch später so unablässig beschäftigt, daß er sich wohl zwanzigmal umzukleiden hatte.

So vergingen ihm einige Jahre im gewöhnlichen Gleise, nur daß er immer größere Fortschritte in seinem Fache und der Gunst beim Publikum machte, was denn auch Einfluß auf seine Einnahme hatte. Im Jahre 1794 wurde sein Gehalt in Drury Lane verdreifacht, während er in Sadlers Wells von drei Schillingen wöchentlich bis zu vier Pfunden gestiegen war. Er wohnte während dieser ganzen Zeit mit seiner Mutter in der Great-Wildstraße. Der Hauswirt war gestorben, und die Tochter der Witwe desselben hatte, indem sie Mrs. Grimaldi häufig nach Sadlers Wells begleitet, Mr. Robert Fairbrother, der sowohl dort als in Drury Lane engagiert war, kennen gelernt und geheiratet, worauf ihn Mrs. Bailey in ihr Kürschnergeschäft mit aufnahm, das er mit außerordentlichem Glück betrieb.

Grimaldi verdiente sich manche Guinee von Mr. Fairbrother, indem er demselben in seinen Mußestunden beim Rauchhandelgeschäft half und sich nebenher belehren ließ, ebenso wie er häufig, wenn in jenem nichts zu tun war, nach der Newtonstraße ging, und seinen Verwandten beim Schlachtgeschäfte umsonst Hilfe leistete: so groß war sein Widerwillen gegen das Müßig-Sein. Er sagt uns nicht, ob es praktischer Geschäftskenntnis bedurft, um jenes Geschick und die Gewandtheit zu zeigen, womit er späterhin in seiner Glanzperiode die Braten seiner Kunden als Bäcker verkürzte, oder das Gewicht des Fleisches als Fleischer künstlich vergrößerte, hoffen aber zur Ehre des Bäcker- und Metzger-Geschäfts, daß seine Moral in dieser Beziehung lediglich eine imaginäre gewesen ist.9

So stand es mit seinen Beschäftigungen, wobei es indes auch an Vergnügungen nicht fehlte. Er hatte Tauben, sammelte Insekten und brachte eine Sammlung von 4000 Fliegen zusammen, die ihn, wie er sagt, »viel Zeit, Geld und Mühe gekostet«, wofür ihn jedoch der Entomologist hinreichend belohnt erachten wird. Er erinnerte sich noch in seinem Alter mit Lust dieser Bestrebungen und rief sich gern eine Gegend in Surrey und eine andere in Kent zurück, wo sich zwei berühmte Fliegen fanden. Eine derselben hieß »die Schönheit von Camberwell« (sie war äußerst häßlich, wie er sagt) und die andere »Datford-Bläuling«, wovon er einen großen Vorrat sammelte und deren Fang er sich, als sie sich zeigten, im Juni nämlich, große Anstrengungen kosten ließ.

Da er jeden Abend in Sadlers Wells spielen mußte, war er genötigt, sich zu gedulden, bis seine Geschäfte auf dem Theater beendet waren. Er begab sich darauf nach Hause, aß zu Abend und machte sich um Mitternacht nach dem fünfzehn Meilen von London entfernten Dartford auf den Weg, wo er um fünf Uhr morgens bei einem Freunde, namens Brooks, anlangte, ausruhte und frühstückte, um dann auf den Feldern umherzustreifen. Er war nicht eben glücklich, denn er hatte nach einigen Stunden nur einen einzigen Dartford Bläuling gefunden, mit welchem er jedoch, vorläufig vollkommen befriedigt, zu dem Freunde zurückkehrte. Um ein Uhr nahm er von dem letzteren Abschied, langte in London um fünf an, kleidete sich um, trank seinen Tee und eilte nach Sadlers Wells. Es war keine Zeit zu verlieren (denn die Erscheinung der Dartford Bläulinge stand fest), wenn er noch mehr Exemplare erlangen wollte; sobald daher Pantomime und Abendessen beendet waren, marschierte er abermals nach Dartford ab, fing diesesmal vier Dutzend Bläulinge, spießte sie kunstgerecht auf, war um vier Uhr nachmittags wieder zu Hause und zur gehörigen Zeit auf dem Theater. Allein die notwendige Anzahl Bläulinge war noch nicht gefangen; er freute sich zu hören, daß die Pantomime zuerst gespielt werden sollte, konnte daher London schon um neun verlassen, erreichte Dartford um ein Uhr, aß, und legte sich ermüdet zu Bett. Der folgende Tag war ein Sonntag, er brauchte daher nicht nach der Stadt zurückzukehren, fing im Laufe des Morgens mehr Bläulinge, als er bedurfte, und brachte den Mittag und Nachmittag vergnüglich bei dem Freunde zu. Am Montag-Morgen stand er früh auf und hatte um Mittag seine Rolle, nachdem er der Probe beigewohnt, vollkommen inne.

Wir können annehmen, daß Grimaldi durch diese und ähnliche Bestrebungen, bei Mäßigkeit und Nüchternheit, einen großen Teil jener Körperkraft und Gewandtheit erlangte, ohne welche er es in seiner Kunst nicht so weit gebracht haben würde. Indes war seine Liebe zur Entomologie nicht der einzige Beweggrund bei seinen Ausflügen nach Dartford; ein anderer, stark wirkender war der, daß er »einer der liebenswürdigsten Frauen ihrer Zeit« – der unglücklichen Mrs. Jordan,10 welche damals beim Drury Lane-Theater engagiert war, eine kleine Insekten-Sammlung versprochen hatte.

Einst trug er während einer Vormittags-Probe eine Schachtel mit Insekten unter dem Arme. Mrs. Jordan neugierig zu wissen, was darin wäre, verlor sie nicht aus den Augen, fragte endlich, was sie Artiges enthielte, und seine Antwort bestand darin, daß er die Schachtel öffnete und ihr die Insekten zeigte. Er sagte nicht, ob es Dartford-Bläulinge gewesen, wohl aber, daß er große Geschicklichkeit, sie wohl zu erhalten und zu ordnen, besessen, und daß er die ganze Mühe aus ehrerbietiger Galanterie gegen die einnehmendste Dame ihrer Zeit übernommen und derselben, nach zuvor erhaltener Erlaubnis, am ersten Tage der neuen Saison und nachdem sie die Probe der Rosalinde in »Wie es Euch gefällt« beendigt, zwei Rahmen mit Insekten überreicht habe; daß Mrs. Jordan (und er selbst wenigstens ebenso sehr) entzückt gewesen, die Rahmen in ihrem Wagen mit nach Hause genommen und sein Herz durch die Mitteilung erfreut habe, daß seine Königliche Hoheit, der Herzog von Clarence, die Insekten so schön, wo nicht schöner gefunden, als irgend etwas der Art, das er jemals gesehen.

Sein einziger Begleiter, außer dem Dartforder Freunde, bei diesen Ausflügen war Nobert Gomery, oder »Freund Bob«, wie er von seinen näheren Bekannten genannt wurde, zu jener Zeit Schauspieler beim Sadlers Wells-Theater, und später während vieler Jahre ein Liebling des Publikums in den kleineren Theatern der Hauptstadt. Er lebt oder lebte wenigstens bis vor kurzem von seinem Gelde in Bath. Grimaldi hatte ein kleines Abenteuer mit ihm, das er mit großem Vergnügen zu erzählen pflegte.

Er war eines Tages mit Freund Bob vom frühen Morgen bis an den Abend auf der Insektenjagd gewesen, und sie hatten an nichts anderes gedacht.

»Bob,« sagte Grimaldi endlich, »ich bin sehr hungrig.«

»Ich auch,« erwiderte Bob.

»Da ist ein Wirtshaus,« bemerkte Grimaldi.

»Kommt uns gerade recht,« sagte Nobert Gomery.

Grimaldi war dessen minder gewiß. Es war ein sehr gutes Gasthaus, allein er hatte kein Geld, und zweifelte auch stark, ob sein Freund damit versehen wäre.

»Laß uns hineingehen,« fuhr Bob fort. »Es wird spät – Du bezahlst.«

»Nein, nein; Du!«

»Ich würde es gern tun, habe aber kein Geld bei mir.«

Grimaldi griff mit einem seiner lächerlichsten Gesichter erst in die rechte, dann in die linke, dann in die Rock- und die Westen-Taschen, nahm zuletzt den Hut ab und schaute hinein, allein nirgend wollte sich Geld finden.

Sie näherten sich inzwischen dem Gasthause, und berieten äußerst niedergeschlagen mit sich selbst, als Grimaldi plötzlich unter einem Baume ein Geldstück erspähte, es aufhob und unter vielen pantomimischen Freuden-Bezeugungen ausrief: »Ein Sixpence, ein Sixpence!«

Die Mienen des hungrigen Freundes erheiterten sich, nahmen jedoch bald wieder ihren trübseligen Ausdruck an. »Es ist ein Stück Blech,« sagte er.

Grimaldi rieb und beschaute den Fund um und um, und behauptete das Gegenteil. Der Freund drückte kopfschüttelnd fortwährend Zweifel aus.

»Ich will Dir etwas sagen,« entgegnete Grimaldi, »wir wollen hineingehen und den Wirt fragen. Diese Leute wissen dergleichen am besten.«

Bob stimmte bei; sie eilten weiter, und hörten nicht auf zu streiten, ob der Fund ein Stück Geld, oder ein Stück Blech wäre. Das Geld war zu jener Zeit so abgegriffen, daß über eine Frage dieser Art allerdings Zweifel obwalten konnten.

Der Wirt, ein munterer beleibter Mann, stand vor der Tür und sprach mit jemand. Das Haus sah so einladend aus, daß sich Gomery, als sie bis auf wenige Schritte herangekommen waren, nicht enthalten konnte, Grimaldi zuzuflüstern, es möchte das beste sein, daß sie sich vor allen Dingen Brot und Käse geben ließen und dann erst die große Frage an den Wirt richteten.

Grimaldi nickte ihm Billigung zu, sie gingen hinein und forderten Brot, Käse und einen Trunk Bier. Sobald sie die ungestümsten Forderungen ihres Hungers befriedigt hatten, bedienten sie sich eines Hellers, den Grimaldi noch in einer seiner Taschen entdeckt, um nach »Schrift oder Bild« entscheiden zu lassen, wer den Sixpence vorzeigen sollte. Das Los traf Grimaldi; er trat gravitätisch zu dem Wirte, legte die zweifelhafte Münze mit seiner ganzen eigentümlichen Würde vor ihm auf den Tisch und forderte ihn auf, sich davon bezahlt zu machen.

»Ganz recht, Sir,« sagte der Wirt, nach der wunderbaren Miene, die Grimaldi angenommen, statt nach dem Sixpence zu sehen.

»Ist es auch recht, Sir?« fragte Grimaldi.

»Allerdings, ich danke Ihnen, meine Herren,« erwiderte der Wirt und steckte die Münze, oder was es sonst war, in die Tasche.

Gomery sah Grimaldi an, und Grimaldi ging mit einer Miene und einem schlechterdings unbeschreiblichen Wesen, gefolgt von seinem Freunde, aus dem Hause hinaus.

»Solch ein Glück ist mir noch niemals begegnet,« sagte er. »Der Sixpence war eine wahrhaftige Gottesgabe.«

»Das Blechstück willst Du sagen,« bemerkte Gomery.

Ob der Fund das eine oder andere war, ist ungewiß, allein Grimaldi besuchte dasselbe Gasthaus späterhin noch öfter, und da der Sache nicht wieder erwähnt wurde, so hielt er sich vollkommen überzeugt, daß es ein guter wirklicher Sixpence gewesen sei.

Anfangs 1794 bezog er mit seiner Mutter ein sechs Zimmer enthaltendes Haus in Penton Place, Pentonville, mit einem Garten. Sie überließen einige der Zimmer einem Mr. Lewis und dessen Frau, welche in Sadlers Wells engagiert waren, lebten so drei Jahre. Da Grimaldi’s Gehalt eine Steigerung erfahren hatte, so fing er an, sich als vollkommen unabhängig zu betrachten. Zu Ostern nahmen die Vorstellungen in Sadlers Wells wie gewöhnlich ihren Anfang. Er machte Furore in einer neuen Rolle, und sein Ruf nahm rasch bedeutend zu. Er knüpfte zu dieser Zeit eine neue Bekanntschaft an, die für viele Jahre einen wesentlichen Einfluß auf sein Lebensglück gewann. Es ging damit folgendermaßen zu.

Wenn Probe in Sadlers Wells war, pflegte seine, bei dem dortigen Theater gleich ihm selbst engagierte Mutter den ganzen Tag im Schauspielhause zuzubringen, im Ankleidezimmer zu essen und sich mit Nähtereien zu beschäftigen. Sie hatte dies angefangen, weil die Great-Wildstraße von Sadlers Wells sehr weit entfernt war, und als sie in Penton Place dem Schauspielhause so viel näher wohnte, setzte sie es fort, weil sie sich einmal daran gewöhnt hatte. Mr. Hughes, der zu dieser Zeit Haupteigentümer des Theaters geworden war und ein anstoßendes Haus bewohnte, hatte mehrere Kinder. Das älteste derselben war eine Tochter. Miß Maria Hughes war eine ausgezeichnete junge Dame. Sie hatte immer sehr viel von Grimaldi’s Mutter gehalten und benutzte jede Gelegenheit, in ihrer Gesellschaft zu sein; sie pflegte bei ihr von drei oder vier bis sechs Uhr, mit einer weiblichen Arbeit beschäftigt, im Ankleidezimmer zu verweilen, und ging, wenn die anderen beim Theater engagierten Frauenzimmer sich einstellten. Grimaldi pflegte sich zwischen vier und fünf Uhr einzufinden, trank zur letztgenannten Stunde den Tee mit seiner Mutter und blieb ebenso lange wie sie. So entstand zwischen ihm und Miß Hughes eine genauere Bekanntschaft, die allmählich wärmere Gefühle erweckte.

Den folgenden Tag, nachdem er in seiner neuen Rolle so großen Beifall geerntet, begab er sich wie gewöhnlich in das Ankleidezimmer, wo ihn seine Hausbewohnerin, Mrs. Lewis, die Garderobemeisterin, die zufällig anwesend war, mit Lobsprüchen überhäufte. Miß Hughes war gleichfalls zugegen, sagte aber lange Zeit nichts, und Grimaldi hörte so ungeduldig, als er konnte, Mrs. Lewis zu. Er hätte Miß Hughes lieber eine Minute, als die letztere eine Stunde reden hören. Endlich schwieg sie, um Atem zu schöpfen, wie die besten Redner von Zeit zu Zeit nicht umhin können, und nun blickte Miß Hughes auf und sagte mit einigem Stocken, Mr. Grimaldi hätte ihrer Meinung nach die Rolle außerordentlich gut gespielt, so gut, daß es ihm sicher niemand gleich tun könnte.

Grimaldi hatte auf dem Wege nach Sadlers Wells die Sache überlegt und beschlossen, wenn Miß Hughes sein Spiel loben würde, mit einer feinen und wohlgesetzten Schmeichelei zu erwidern, die eine Andeutung auf den Zustand seiner Gefühle enthielte. Er hatte mehrere ausgesonnen, vermochte aber, sobald ihm Miß Hughes ihr Lob ausgesprochen, kein Wort hervorzubringen, errötete stark, nahm eine sehr spaßhafte Miene an, fühlte sich äußerst verlegen, machte endlich eine ungeschickte Verbeugung und ging nach der Tür, um sich zu entfernen.

Es war sechs Uhr, und die Damen traten eben herein. Er war stets eine Art Liebling derselben gewesen, und ein paar der lebhaftesten und mutwilligsten – deren einige es in fast allen Schauspielerinnen – wie anderen Gesellschaften gibt – lobten zuerst sein Spiel und zogen ihn sodann mit einem anderen Gegenstande auf.

»Joe ist so unendlich beliebt geworden,« sagte die eine, »daß er sich nach einem Liebchen umsehen sollte.«

Hier blickte Joe nach Miß Hughes, und errötete noch weit stärker. »Sehr wahr,« fiel die zweite ein. »Was sagen Sie zu einer von uns, Joe?«

Joe wurde so betreten, daß sein Aussehen ein allgemeines Gelächter erregte.

»Wenn ich nicht sehr irre, meine Damen,« nahm Mrs. Lewis das Wort, »so hat Joe bereits ein Liebchen.«

Eine andere Dame sagte, sie wisse bestimmt, daß er deren zwei, noch eine andere, daß er deren drei hätte, und so fort. Er stand unterdessen mit gesenkten Blicken fast außer sich vor Unruhe und Verdruß da, zu denken, daß Miß Hughes diese Anklagen hörte und ihnen vielleicht gar Glauben schenkte.

Er eilte endlich hinaus, überlegte noch reiflicher, und gelangte bald zu dem Schlusse, daß Mr. Hughes‘ schöne Tochter einen unauslöschlichen Eindruck auf sein Herz gemacht habe und daß er gar nicht heiraten möchte, wenn sie ihn nicht erhörte, in welchem Falle er für immer unglücklich sein würde; anderer ähnlichen Folgerungen nicht zu gedenken, wie sie von jungen Leuten aus gleichen Vorsätzen gezogen zu werden pflegen. Mehrfache Sorgen und Befürchtungen begleiteten jedoch die Entdeckung. Der gewünschten Verbindung schien sich in seinen und der Dame so verschiedenen Verhältnissen ein fast unüberwindliches Hindernis entgegenzustellen; er hatte keinen Grund zu glauben, daß Miß Hughes andere Gefühle für ihn hege, als solche, die sie gegen den Sohn einer Freundin, welche sie schon lange gekannt hatte, zu unterhalten geneigt sein möchte. Diese Betrachtungen machten ihn so unglücklich, als der leidenschaftliche Liebhaber zu sein wünschen konnte. Er aß wenig, trank wenig, schlief noch weniger, verlor seine heitere Laune und ließ mit einem Worte eine große Menge von Krankheitsanzeichen blicken, dergleichen unter allen Umständen bedenklich gewesen sein würden, es aber besonders bei einem Patienten waren, bei welchem die Erfüllung seiner schwachen Hoffnungen hauptsächlich davon abhing, daß er sich seine humoristische heitere Laune bewahrte.

  1. In den Pantomimen treten Harlequin und der Clown bisweilen zuerst als Handwerker oder Geschäftsleute irgend einer Art auf, z. B. als Bäcker und Bäckergesell. In dieser Rolle war Grimaldi äußerst komisch, wenn die Pasteten und Puddinge zum Backen gebracht wurden, und er dann von allen ein wenig stipitzte, wie es den Bäckern nachgesagt wird.
  2. Sehr bekanntgeworden besonders durch ihre merkwürdigen, nicht eben geheim gebliebenen Verhältnisse zu einer hohen Person. Die war eine unnachahmliche komische Schauspielerin, hatte eine wohlklingende Stimme und anmutvolle Manieren, obwohl ihre Redeweise bisweilen unfein war. Sie hatte dreizehn erwachsene Kinder, wohnte kurz vor ihrem Tode in Cadogan-Place (s. Nicklebys Schicksale – Mr. und Mrs. Wititterly), und sah sich genötigt, das Land zu meiden, um Gläubigern zu entfliehen. Sie starb in nichts weniger als glänzenden Umständen in St. Omers. Die Kosten ihrer Beerdigung mußten durch Subskription gedeckt werden.

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Theaterfragen und Differenzen. – Mr. Graham als Friedensrichter. – Mr. Peake. – Grimaldi wird durch John Kemble dem Mr. Harris vorgestellt. – Grimaldi nimmt ein Engagement im Covent-Garden an. – Aerger der Direktion »des andern Hauses.« – Grimaldi mit Dibdins Gesellschaft in Dublin. – Das »nasse« Theater. – Fehlschlag der Spekulation, aber großer Erfolg seines Benefizes. – Bemerkungen über den Unterschied zwischen Punsch aus Whisky und solchem aus Punsch, nebst einigen interessanten Experimenten.

Im Drury-Lane-Theater war Tobins Lustspiel »Die Flitterwochen« für den zweiten Abend der Saison angekündigt worden. Es war aber dabei nicht bedacht worden, daß der Ballettmeister Mr. Byrne abgegangen und noch nicht Ersatz für ihn beschafft worden war, daß es also an einer Kraft fehlte, die Tänze zu arrangieren. In dieser Verlegenheit wurde zu Grimaldi geschickt, der in der Regel diese Arrangements im Sadlers Wells besorgt hatte. Sobald nun Lodoiska gespielt war, fand die am Schlusse des vorigen Kapitels erwähnte Unterredung zwischen Grimaldi und dem Direktor statt.

Mr. Wroughton setzte Grimaldi die Situation auseinander und machte ihm das Angebot von zwei Pfund wöchentlicher Zulage, wenn er es übernehmen wolle, die Tänze in den »Flitterwochen« zu arrangieren und sich mit anderen kleinen Verrichtungen ähnlicher Art zu befassen. Grimaldi ging bereitwillig darauf ein unter der Bedingung, daß ihm diese Zulage während der ganzen Saison gezahlt würde und nicht bloß für die Zeit der Aushilfe, bis ein anderer Ballettmeister engagiert worden sei.

Mr. Wroughton erklärte, sein Anerbieten nicht anders so gemeint zu haben, und erteilte Grimaldi sogar die Vollmacht, die Zahl der Tänzer, die bei den Balletts mitwirken sollten, selbständig zu bestimmen.

Grimaldi ging sogleich mit voller Kraft ins Zeug, engagierte Personal, hielt Proben ab und brachte alles zur rechten Zeit in Gang. Die von ihm arrangierten Tänze wurden mit so großem Beifall aufgenommen, daß sie da capo verlangt wurden. Am Ende der Woche händigte ihm Mr. Peake, der Kassierer, ein sehr geachteter Herr, seine Gage aus und gratulierte ihm zu seinem verbesserten Einkommen. Ehe Grimaldi das Geld nahm, sagte er zu Mr. Peake:

»Lieber Herr Peake! – Ich möchte nach keiner Seite hin Zweifel bestehen lassen. Es steht doch ein für allemal fest, daß mir die Zulage für die ganze Saison ausbezahlt wird?«

»Gewiß, gewiß«, antwortete Mr. Peake, »lesen Sie doch die Anweisung, die mir Mr. Graham geschickt hat.«

Grimaldi war durch den Inhalt derselben zufriedengestellt. Damals war Mr. Graham Friedensrichter in Bow-Street und besorgte zugleich die Direktionsgeschäfte im Drury-Lane-Theater.

Eine Zeitlang ging alles gut. Kurze Zeit nachher wurde Mr. James D’Egville als Ballettmeister angestellt. In Grimaldis Verhältnis wurde hierdurch nichts geändert; ihm blieb nach wie vor das Arrangement der kleineren Tänze und Aufzüge. Mr. D’Egville war mit allen Anordnungen, die Grimaldi traf, einverstanden und zollte ihnen wiederholt das eifrigste Lob.

Der neue Ballettmeister war noch nicht lange da, so wurde ein neues großes Ballett engagiert: »Terpsichore«, worin Grimaldi den Pan spielte, eine Rolle, die er immer für eine der besten erklärte, die er je gespielt. In dem Ballette sollte Madame Parisot zum ersten Male auftreten. Sie war für die Dauer der ganzen Saison engagiert mit tausend Guineen und sollte in dem Ballett debütieren. Nach einem Dutzend Proben folgte die Aufführung. Es fand beim Publikum die günstigste Aufnahme und mußte sehr oft wiederholt werden.

Als Grimaldi sich am folgenden Sonnabend seine Gage auszahlen ließ, war er nicht wenig verwundert, zu hören, daß ihm die wöchentliche Zulage von zwei Pfund nicht länger mehr ausbezahlt werden könne. Der Kassierer erklärte, daß er selbst höchst erstaunt darüber sei und sich ganz ebenso viel darüber schon geärgert habe, wie Grimaldi sich darüber ärgern werde, und daß dieser Versuch, ihm sein vertragsmäßiges Einkommen zu kürzen, mehr denn kleinlich sei.

Grimaldi begab sich sogleich zu Mr. Wroughton, der ganz ebenso entrüstet war über diese Anordnung der Direktion, aber für sich allein keine Zahlungen anweisen durfte. Grimaldi begab sich nun höchst entrüstet nach Hause und erzählte seiner Frau, wie es ihm ging. Die Frau meinte indessen, sie könnten doch schließlich die zwei Pfund wöchentlich missen, und machte ihrem Manne den Vorschlag, einen kurzen Spaziergang nach Covent-Garden hinüber zu machen, da in Drury-Lane doch gerade nichts zu tun sei.

Grimaldi erklärte sich damit einverstanden. In der Bow-Street sprachen sie bei Mr. Dibdin vor, um eine Freikarte für den Abend zu erbitten. Grimaldi erzählte Dibdin, wie es ihm ging, und Dibdin unterzog dieses Verfahren der Direktion des Drury-Lane-Theaters einer sehr herben Kritik, Zum Schlusse gab er Grimaldi den Rat, sich nach einem andern Engagement umzusehen.

Es wurde zwischen Dibdin und Grimaldi lange über den Fall gesprochen. Man kam zuletzt überein, durch Dibdin bei Mr. Harris vorzufragen, ob er bereit sei, Grimaldi für die nächste Saison zu engagieren.

Noch am nämlichen Abend erhielt nun Grimaldi Bescheid, sich am andern Montag in der Mittagszeit in Covent-Garden einzufinden. In dem Zimmer, wohin er geführt wurde, waren Mr. Harris und John Kemble anwesend. Kemble sagte ihm sehr freundlich guten Tag.

»Ei, Joe, Sie wollen es also noch einmal mit mir versuchen?« sagte er.

»Gewiß, Herr Kollege«, antwortete Grimaldi, schlagfertig wie immer, »sind Sie doch ein lebendiger Magnet!«

Mr. Harris mußte lachen und gratulierte dem berühmten Tragöden zu solch artigem Komplimente. Kemble stellte nun Grimaldi dem Mr. Harris vor, sagte, er habe schon Grimaldis Vater gekannt, und schon dieser sei ein erster Stern am englischen Bühnenhimmel gewesen.

Hierauf sagte Mr. Harris seinem Gaste ein paar schmeichelhafte Worte und bat ihn, mit ihm in das anstoßende Zimmer zu treten. Nach etwa einer Viertelstunde war der Vertrag zwischen Harris und Grimaldi über die nächsten fünf Spielsaisons unterzeichnet. Grimaldi war in der ersten Saison ein Spielhonorar von sechs Pfund, von sieben Pfund für die zweite und dritte, und von acht Pfund für die vierte und fünfte Saison zugestanden. Außerdem wurden ihm noch andere Konzessionen eingeräumt, wie zum Beispiel die, – und das war wohl die wichtigste von allen – daß er auch nach wie vor im Sadlers Wells auftreten dürfe.

Aufs höchste erfreut kehrte Grimaldi nach Hause zurück, denn im Drury-Lane-Theater hatte er nur vier Pfund wöchentlich bekommen.

Abends mußte er dort als Pan auftreten. Als er sein Kostüm angelegt hatte, begab er sich in die Garderobe, die von Herren und Damen stark besetzt war. Auch Mr. Graham war zugegen und fragte Grimaldi, sobald er eingetreten war, ob es wahr sei, daß er mit dem Covent-Garden-Theater ein Engagement eingegangen sei. Grimaldi bejahte und fügte bei, daß sich das Engagement auf die nächsten fünf Saisons erstrecke.

Da wurde Mr. Graham sehr aufgeregt und hielt eine lange Ansprache an die Versammelten, in der er sich, in sehr kräftigen Ausdrücken über Grimaldis »Undankbarkeit« ausließ. Grimaldi wartete ruhig das Ende der Rede des Herrn ab und trug darauf den Fall von seinem Standpunkte vor, setzte auch die Gründe auseinander, die ihn dazu bewogen hatten, sich auf ein solches Engagement bei »dem andern Theater« einzulassen.

Als er dabei jenes Schreibens erwähnte, das damals Mr. Graham an Mr. Peake gerichtet hatte, fiel ihm Graham ins Wort und fragte, was für ein Schreiben dies sei?

»Kein anderes als dieses hier«, antwortete Grimaldi, »und darin beauftragten Sie Mr. Peake, die Zulage für die ganze Saison auszuzahlen.«

»Wenn Ihnen Mr. Peake dies Schreiben gezeigt hat«, rief Graham heftig, »so kann ich nur sagen, daß er ein richtiger Esel gewesen ist.«

»Sir«, versetzte Grimaldi, »Mr. Peake ist ein Gentleman, ein Ehrenmann, und, wie ich fest überzeugt bin, außer sich darüber, daß Sie ihm zumuten, ebenso unlauter gegen mich zu handeln, wie Sie es von Ihrem Standpunkte aus für angemessen erachten.«

Hierauf folgte nun ein sehr stürmischer Auftritt, den aber Grimaldi siegreich bestand. Barrymore und andere ergriffen seine Partei mit solcher Energie, daß Graham sich zu der Erklärung herbeilassen mußte, die Sache momentan nicht weiter verfolgen zu wollen, und das Theater verließ.

Grimaldi aber konnte aus dem Vorgange nur eins folgern, nämlich, daß er nur Verdruß haben würde, wenn er sein Engagement beim Drury-Lane-Theater nicht fallen ließe, und schrieb deshalb am andern Morgen an Mr. Graham, daß er infolge seiner letzten Unterredung mit ihm in Gegenwart des gesamten Theaterpersonals zu dem Entschlusse gelangt sei, sein Spiel mit dem nächsten Sonnabend einzustellen.

Das setzte nun einen neuen Sturm. Graham machte geltend, ohne Grimaldi kein Ballett aufführen zu können, und drohte ihm mit einer Klage, sobald er sich zu keinem andern Entschlusse bequemen wolle. Grimaldi erklärte, hierzu außerstande zu sein, und stützte sich dabei auf den Rat des Mr. Harris, nicht klein beizugeben.

Nun betrachtete Grimaldi sich völlig frei bis zum Osterfest und akzeptierte infolgedessen ein Engagement in Dublin, in Astleys Theater, das auf kurze Zeit von Dibdin Vater und Sohn gepachtet worden war. Die meisten Mitglieder des Sadlers Wells-Theaters, auch Bologna mit seiner Frau, waren von ihnen für Dublin engagiert worden. Grimaldi wurden vierzehn, seiner Frau zwei Pfund wöchentlich zugestanden, außerdem ein halbes Benefiz am Schlusse der Saison und Entschädigung sämtlicher Reisekosten.

Am 5. November trat Grimaldi zum letzten Male im Drury-Lane-Theater auf, fuhr am andern Morgen mit seiner Frau nach Dublin, ließ aber sein Söhnchen, wegen Kränklichkeit, in London.

Die Reise bis Holyhead war sehr langweilig, die Überfahrt nach Dublin sehr stürmisch. Sie kamen infolgedessen sehr angegriffen in Dublin an. Dibdins bereiteten ihnen einen sehr freundlichen Empfang und führten sie in eine für sie bei einem gewissen Davis gemietete Wohnung, in der sie allen Komfort vorfanden.

Am 18. November, Montags, nahmen die Vorstellungen ihren Anfang. So lange sich das Wetter hielt, ging alles recht gut. Als der Regen kam, machte der Direktor zu seinem nicht geringen Schrecken die Wahrnehmung, daß das Dach des Theatergebäudes nicht wasserdicht war. Anfangs Dezember wütete ein solches Unwetter, daß das Wasser fußhoch im Hause stand, und fast alle Zuschauer genötigt wurden, sich nach Hause zu begeben.

In Strömen drang der Regen in das Parterre und in die Logen. Manche versuchten wohl auszuhalten, indem sie die Schirme aufspannten und sich in Schals und Überröcke hüllten; nachher kam das Wasser aber auch auf die Bühne und nötigte die Schauspieler, sie zu verlassen.

Von da ab blieb das Theater, einen einzigen Abend ausgenommen, leer. Kein Mittel hielt das Wasser draußen, und nichts war imstande, Zuschauer herbeizuziehen. Um das Dach zu reparieren, war Geld nötig, und zu der Ausgabe, die wenigstens 200 Pfund betragen hätte, konnten sich Dibdins nicht verstehen, da im März ihr Pachtvertrag schon wieder ablief.

Infolge der ausbleibenden Einnahmen sahen sich nun Dibdins genötigt, wegen Kasse nach London zu schreiben, denn wie sollten sie ihre Truppe sonst bezahlen? Grimaldi erklärte sich freiwillig bereit, auf seine Dubliner Gage so lange zu verzichten, bis sich die Lage für Dibdins wieder gebessert habe; sein Anerbieten wurde mit Dank angenommen.

Um Mitte Januar machte Mr. Jones, der Direktor des Crow-Street-Theaters, Mr. Dibdin den Vorschlag, zu den von ihm eingegangenen Engagementsbedingungen seine Gesellschaft mit zu übernehmen und ihn selbst, da er soviel Pech gehabt, eine entsprechende Entschädigung zu zahlen. Einigen Abbruch hatte Dibdin mit seiner Truppe dem andern Theater schließlich doch auch getan. Mr. Dibdin rief seine Mitglieder zu einer Besprechung zusammen und legte ihnen die Verhältnisse noch einmal klar. Zum Schlusse bat er sie, auf den Vorschlag, der ihm von Mr. Jones gemacht worden, einzugehen.

Grimaldi erklärte sich hierzu sogleich bereit, bot auch alle Überredungsgabe auf, seine Kollegen auf seine Seite zu bringen. Bis auf zwei, die sich auf nichts einlassen mochten, gelang es ihm auch. Daraufhin erklärte nun Mr. Dibdin, sein Theater am nächsten Sonnabend, dem ersten Januar, zu schließen. Bei diesem Anlasse fragte Grimaldi, wie es sich mit dem ihm zugestandenen halben Benefiz verhalte. Mit einem traurigen Lächeln antwortete Mr. Dibdin, er wolle sich mit allem einverstanden erklären, was Grimaldi ihm für seine Hälfte zu geben gedächte, und wenn es auch nur zwanzig Pfund seien – dann wolle er auf seinen vollen Anteil am Benefiz verzichten.

Grimaldi zahlte ihm die zwanzig Pfund sogleich bar auf den Tisch und traf am andern Morgen sogleich alle notwendigen Vorkehrungen für den Spielabend, trotzdem ihm knapp vier Tage für die Ankündigungen und den Verkauf der Einlaßkarten bloß blieben.

Er war im Besitz eines Empfehlungsschreibens an einen Kapitän Trench, der sich bei jeder Gelegenheit äußerst gefällig gegen ihn zeigte. Mit ihm und seinem Hauswirte Mr. Davis unterhielt er sich zuerst von dem ihm zugestandenen Benefiz-Abend. Die Antworten, die er von den beiden Herren erhielt, waren bezeichnend für den wirklich vornehmen Charakter derselben.

»Ich nehme hundert Logenkarten«, sagte Kapitän Trench, »belege auch die beiden Mittellogen. Sollte ich noch weitere Karten brauchen, so lasse ich sie abholen. Zunächst wollen Sie den Betrag für die hundert Karten mitnehmen.«

»Mir wollen Sie hundert Parterrekarten schicken«, sagte Mr. Davis, sein Hauswirt, »nehmen Sie, bitte, den Betrag dafür sogleich mit. Kann ich noch weitere unterbringen, soll es gern geschehen. Sie bekommen bis zum Abend Bescheid.«

Das Glück war Grimaldi tatsächlich günstig. Am Sonnabend trat schönes Wetter ein. Mittags war bereits das ganze Theater ausverkauft, und sechzehn Gutsbesitzer und Pächter, die erst abends vom Lande hereingefahren kamen, in der Hoffnung, noch Karten zu bekommen, mußten, ohne Eintritt finden zu können, wieder heimkehren.

Die Einnahme an diesem Abend belief sich auf zweihundert Pfund. Außerdem wurde Grimaldi mit vielen Geschenken bedacht, zum Beispiel einer goldnen Tabaksdose, die ihre dreißig Pfund unter Brüdern wert war. Grimaldi wurde auf diese Weise in den Stand gesetzt, Mr. Dibdin mit einem Darlehen unter die Arme zu greifen, das von demselben mit dem größten Danke angenommen wurde.

Am nächsten Montage trat die Londoner Truppe im Crow-Street-Theater auf und spielte daselbst bis zum 29. März. Grimaldi trat nun in zwei Stücken auf, dem »Harlekin Äsop« und »Coa und Zoa«, die so sehr viel Beifall fanden, daß sie gar nicht vom Repertoir schwinden wollten.

Am 30. März reiste die Gesellschaft, nachdem sie von allen Seiten Beweise der größten Gastfreundschaft eingeheimst hatte, wieder nach London. Besonders um Grimaldi rissen sich alle Leute in Dublin. Eine Einladung jagte die andere: hier sollte er zum Mittag-, dort zum Abendessen erscheinen, und keine Stunde war er ohne Wagen. Soviel er auch von irischer Gastfreundschaft gehört und gelesen, die Wirklichkeit übertraf all seine Vorstellungen und Erwartungen.

Es ging ihm wie den meisten Engländern, die den Fuß einmal nach Irland setzen. Der gewaltige Konsum von Whiskey-Punsch setzte ihn in Erstaunen, und er wollte nicht begreifen, wie ein Mensch – und in Dublin galt das von allen Menschen – imstande sein könne, ein Glas nach dem andern hinunterzuschütten, ohne einen Rausch zu bekommen. In der Meinung, daß die Musikanten wohl anders pfeifen möchten, wenn er ihnen ein gleich starkes Getränk von anderm Gebräu vorsetzte, an das sie nicht gewöhnt seien, lud er eine kleine Gesellschaft zum Dreikönigsabend ein und kredenzte ihr einen kräftigen Punsch nach englischem Ritus, aus Rum gebraut, mit reichlichem Zusatze von Zimt und anderem Gewürz.

Seine Meinung sollte ihn nicht täuschen, denn nicht den vierten Teil der von jedem einigermaßen standfesten Engländer trinkbaren Menge hatten die Irländer genossen, so hatten sie auch schon ihren Rausch weg. –

Mr. Davis zum Beispiel, der von irischem Whiskey-Punsch seine sieben bis acht Schoppen vertrug, ohne daß es ihn rührte, höchstens dann über die verwünschte Mäßigkeit wetterte, die er sich nicht abgewöhnen könnte, wurde nach dem ersten Schoppen englischen Rumpunsches sternhagelvoll aus der Stube geschleift.

Grimaldi hatte das sehr oft zum besten gegeben. Sicher erblickte er hierin einen Beweis für die von ihm aufgestellte Theorie, daß irischer Punsch bei weitem stärker sei als englischer; wir aber möchten meinen, daß Mr. Davis jedenfalls schon vorher diverse irische Punsche vorgesetzt haben mag.

Zwölftes Kapitel.


Zwölftes Kapitel.

Grimaldi kehrt nach London zurück, erkältet sich und zahlt seine Miete daheim doppelt. – Mr. Charles Farley. – Grimaldis erstes Auftreten im Covent Garden. – Valentin und Orson. – Mutter Gans. – Das geheimnisvolle halbe Dutzend Herren und Damen.

Auf der Rückfahrt nach London hatte Grimaldi sehr schlechtes Wetter und kam durch ein Versehen im Holyheader Postbureau zu dem besonderen Vergnügen, sich mit einem Sitze auf Deck abfinden zu müssen. In Red Landford war er schon so steif gefroren, daß man ihn herunterheben mußte und erst am andern Morgen die Fahrt fortsetzen konnte. Indessen langte er ohne weitere Unfälle in London an. Dort sollte er bald nach seiner Ankunft von neuem inne werden, daß er wohl öfter recht viel Geld im Leben besessen, es aber immer und immer durch irgend einen ganz unvermuteten Zwischenfall auch wieder eingebüßt habe.

Als er nämlich am zweiten oder dritten Morgen nach seiner Heimkehr von einem Gange nach der Altstadt den Fuß in seine Wohnung setzte, fand er dort zur nicht geringen Verwunderung in seiner besten Stube einen Gerichtsvollzieher mit einem Gehilfen flott dabei, ein Inventar seines sämtlichen Mobiliars aufzunehmen. Auf seine erregte Frage, was denn solches Verfahren bedeuten solle, da er doch keinem Menschen etwas schuldig sei, wurde ihm der Bescheid, er sei mit der Miete im Rückstande und deshalb sei der Antrag auf Auspfändung gestellt und vom Gericht auch genehmigt worden.

Er zeigte seine Mietsquittung vor; der Gerichtsvollzieher besah sich dieselbe mit vergnügtem Lächeln, erklärte jedoch, der Mann, von dem Grimaldi gemietet habe, sei selbst nur Mietspartei und habe nicht gezahlt, daraufhin mache der eigentliche Hauseigentümer von seinem Rechte, alles, was sich im Hause vorfände, mit Beschlag zu belegen, Gebrauch.

Grimaldi lief schnell zu seinem treuen Berater, Mr. Hughes, hörte aber von diesem, daß ihm nichts anderes übrig bleibe, als den Mietsbetrag – beiläufig achtzig Pfund – noch einmal zu bezahlen, falls er nicht sein Mobiliar einbüßen wolle. Er rannte daraufhin nach Hause zurück und bezahlte den Mietsbetrag zum zweiten Male. Am andern Morgen fand sich der Hauswirt bei ihm ein und wußte ihn zu einem Abkommen zu bestimmen, Grimaldi hoffte dadurch wenigstens zu einem gewissen Teile Entschädigung zu erhalten, mußte zuletzt einsehen lernen, daß er der Betrogene war, und sich in eine ziemlich erkleckliche Einbuße finden.

Sein altes Engagement in Sadlers Wells ging in diesem Jahre zu Ende. Er verpflichtete sich auf weitere drei Jahre und bekam von nun an wöchentlich zwölf Pfund und zwei volle Benefize. Die Pantomime, die zum Osterfest gespielt wurde, betitelte sich »Harlekin und die vierzig Jungfrauen«. Sie hielt sich die ganze Saison hindurch. Grimaldi hatte ein Couplet darin zu singen: »Ich und mein Ede – Ede – Esel«, das sich außerordentlicher Beliebtheit erfreute und bald in jedermanns Munde war. Mehrere seiner Verehrer machten ihm wertvolle Präsente, unter anderm eine prächtige Uhr, deren Zifferblatt sein Porträt, von der ersten Couplet-Zeile umschlungen, zeigte.

In dieser Saison wurde immer zuerst die Pantomime gegeben, so daß er in den ihm bisher nie vergönnt gewesenen Genuß trat, von halb neun Uhr sein freier Herr zu sein. Von Kindesbeinen an hatte er es nie anders gekannt, als von sechs Uhr abends bis zwölf Uhr nachts ununterbrochen im Sadlers Wells-Theater zuzubringen. Es kam ihm ordentlich wunderbar vor, die schönen Frühlings- und Sommerabende in der schönen frischen Luft verleben zu können.

Im Oktober, bei der Eröffnung des Covent-Garden-Theaters, machte er die Bekanntschaft Farleys, des damals berühmten Pantomimen-Dichters und Darstellers, der aber immer nur in ersten und ernsten Rollen auftrat und lange Zeit das Publikum dadurch förmlich faszinierte, daß er während seines Spiels kein anderes Glied als seine Gesichtsmuskeln zu rühren pflegte.

Farley fragte Grimaldi, in welcher Rolle er zuerst aufzutreten gedächte. Grimaldi meinte, er habe immer am meisten Glück gehabt als Skaramuz im Don Juan. Aber Farley riet ihm davon ab und zu der Rolle des Orson in »Valentin und Orson«, einem Stücke, das mehrere Jahre lang nicht mehr gespielt worden, aber ehedem sehr beliebt gewesen sei. Er riet ihm um so mehr zu diesem Rollenwechsel, als der Orson ihm ohne Frage äußerst günstig läge und seinen Fähigkeiten höchst angemessen sei.

Grimaldi erklärte sich ohne weiteres damit einverstanden, den Orson zu geben, ersuchte indes Farley, ihm beim Einstudieren behilflich zu sein, da er das Stück noch gar nicht kenne. Dazu erklärte Farley sich von Herzen gern bereit und hielt auch getreulich Wort.

Es ist viel behauptet worden, Grimaldi sei ein Schüler von Dubois gewesen, was aber keineswegs zutrifft. Wenn man von irgend einem Lehrmeister Grimaldis sprechen will, so kann einzig und allein Farley in Betracht kommen, der ihm tatsächlich beim Studium von verschiedenen größeren Rollen mit Rat und Tat an die Hand gegangen ist.

Grimaldi studierte den Orson mit großem Eifer und gab ihn zum ersten Male am 10. Oktober 1806. Farley spielte den Valentin. Das Stück behauptete sich auf dem Repertoir bis Weihnachten, wo es der Weihnachts-Pantomime das Feld räumen mußte.

Der Orson war nach Grimaldis Meinung seine allerschwierigste Rolle. Es kamen in ihr die mannigfachsten Leidenschaften zum Ausdruck und zwar mit so raschem Wechsel, daß ein ungewöhnlicher Aufwand körperlicher und geistiger Anstrengung dabei notwendig war. Er gab den Orson oft, in London sowohl als in den Provinzstädten, allein die Folgen der Überanstrengung, die sie mit sich brachte, blieben immer die gleichen. Kaum war der Vorhang gefallen, so wankte er von der Bühne in einen kleinen Raum hinter der Souffleurloge, sank in einen Sessel und konnte kaum seiner Empfindungen Herr werden. Er weinte und schluchzte wie ein Kind und verfiel in der Regel in so heftige Krämpfe, daß er selbst diejenigen, die ihn schon öfter in solchem Zustande hochgradiger Nervosität gesehen, ihre Zweifel hatten, ob er auch im zweiten Aufzuge würde spielen können. Indessen fand er immer die notwendige Kraft dazu wieder. Immer wußte er sich, sobald sein Stichwort fiel, ganz zu bezwingen, immer siegte die Macht der Routine über die körperliche Schwäche.

Mit seinem Orson erzielte er großen und nachhaltigen Effekt. In dieser Rolle zeigte er sich dem Publikum von einer ganz neuen Seite. Sein Künstlerruf steigerte sich durch sie ganz bedeutend. Daß er wirklich bedeutend darin war, bezeugen die Urteile und Gratulationen, die ihm von berühmten Darstellern, Kritikern und Kennern zuteil wurden.

In diese Zeit fallen die Proben zu der Pantomime »Die Gans«, die eine ganz unerhörte Berühmtheit erlangen sollte.

Der Direktion des Drury-Lane-Theaters war es bekannt geworden, daß in Covent-Garden am 26. Dezember eine neue Harlekinade auf die Bühne gebracht werden sollte; sie fürchtete den Vorteil, den das andere Theater durch das Engagement Grimaldis gewonnen, und betrieb daher die Vorbereitungen zu ihrer Pantomime mit großem Eifer. Sie engagierte Montgomery, der es durch Vorstellungen im Zirkus zu einigem Renommee gebracht, für ein hohes Salär als Clown und erreichte es, daß ihre Pantomime schon am 23. zur erstmaligen Aufführung kam. Sie war jedoch mehr Spektakelstück, und so gut auch die Dekorationen sein mochten, so war doch die Handlung selbst so unbedeutend, so erbärmlich, daß das Auditorium gar bald zu zischen anfing und endlich solchen Lärm machte, daß die Regie es für geraten hielt, noch lange vor dem Schlusse des Stückes den Vorhang fallen zu lassen.

Grimaldi war mit seinem Freunde Bologna im Theater, und keiner von beiden war über diese Vorgänge sonderlich mißgestimmt. Das Drury-Lane-Theater war mit seinen Vorstellungen bislang immer glücklicher gewesen als Covent-Garden, und es dürfte nicht unwahrscheinlich sein, daß die Direktion von der Absicht geleitet wurde, sowohl die Pantomime selbst im andern Theater unmöglich zu machen, als auch Grimaldi selbst außer Kurs zu setzen.

Am 25. wurde in Covent-Garden eine Nachtprobe abgehalten. Die Darsteller waren in großer Ungewißheit über das Schicksal der »Mutter Gans«. Es war immer Brauch gewesen, bei Pantomimen den größten Glanz aufzubieten, und so hatten es sich Direktion wie Darsteller besonders in dem letzten Akte immer angelegen sein lassen, das beste zu bieten und die besten Kräfte einzusetzen, weil es die ganze Bevölkerung der Hauptstadt sich angewöhnt hatte, wochenlang darüber zu diskutieren, welche Pantomime mit dem schönsten Schlusse ausgestattet gewesen. Nun war aber »Mutter Gans« sehr nüchtern gehalten, von Prunk so gut wie nichts aufgewandt, auch im letzten Akte nicht, und darum war man über die Aufnahme der Pantomime in recht großer Sorge. Sogar der Harlekin hatte sich alles Flitterstaats enthalten sollen, wovon jedoch Grimaldi so entschieden abgeraten hatte, daß man ihn bezüglich des Kostüms letzter Stunde noch freie Hand gelassen hatte.

Man hatte jedoch geirrt. »Mutter Gans« wurde mit seltenem Jubel aufgenommen, auch bis zum Schlusse der Saison ohne Unterbrechung zweiundneunzig Abende unter ständig wachsendem Beifall und bei fast immer überfülltem Hause gegeben. Dies war ein abermaliges Beispiel für das unrichtige Urteil von Schauspielern in derartigen Fragen. Um nur einige Beispiele anzuführen, wurde dem Lustspiele »She stoops to conquer« von Oliver Goldsmith bis zur ersten Aufführung von Schauspielern sowohl wie von Kritikern und Literatoren ein unvermeidlicher Mißerfolg prophezeit. Ebenso lagen die »Flitterwochen« viele Jahre lang im Pulte des Theaterdirektors, weil man es für unmöglich hielt, einem Londoner Publikum ein solches Machwerk anzubieten, und als das Stück endlich auf die Bühne gebracht und mit höchstem Beifall aufgenommen worden war, hatte sein armer Dichter den Hungertod im Schuldgefängnisse erlitten.

An Grimaldis Meinung über die »Mutter Gans« konnten aber auch alle Erfolge nichts ändern. Er wollte dem Stücke nicht den geringsten Wert beimessen. Wie dem nun sein mag, jedenfalls trugen seine und Bolognas Leistungen als Harlekin und Clown in hervorragendem Maße zu der günstigen Aufnahme bei, die die Pantomime fand, denn sie wurde jedesmal vom Publikum abgelehnt, wenn die beiden Rollen von anderen Darstellern gegeben wurden.

Am 9. Juni erlebte sie die zweiundachtzigste Aufführung. Es war zugleich der Benefiz-Abend für Grimaldi und Bologna. Die Einnahme belief sich auf 680 Pfund.

Um diese Zeit herum machte Grimaldi eine neue und ziemlich mysteriöse Bekanntschaft. Damit verhielt es sich folgendermaßen:

An einem Januarmorgen des Jahres 1807 ließ sich ein Herr bei Grimaldi anmelden, und als ihn Grimaldi in seiner Wohnung empfing, war er nicht wenig verwundert, den ihm durch Bologna bekannt gewordenen Kenter Herbergssohn Mackintosh wiederzusehen, der sich wegen des kleinen Jagdscherzes, den er sich seinerzeit erlaubt hatte, mit ein paar höflichen Worten entschuldigte. Grimaldi bat ihn ebenso höflich, die Angelegenheit nicht weiter zu berühren. Mackintosh erzählte darauf, seine Mutter habe ihr Gasthaus verkauft und sei anderswohin gezogen, er selbst habe in London sich ein Geschäft gekauft und wohne jetzt in der Throgmorton-Straße.

Er war sehr manierlich gekleidet, hatte sich auch ein besseres Wesen angeeignet als damals, wo er im Barchentwamse auf dem Karren fuhr. Jedenfalls ließ sich nicht in Abrede stellen, daß er seine Gäste sehr gastfreundlich aufgenommen und anständig bewirtet hatte. Grimaldi lud ihn demnach am nächstfolgenden Sonntag zum Mittagessen ein. Er kam, unterhielt sich sehr manierlich und gewann die Freundschaft der ganzen Familie Grimaldi. Seine Einladung, ihn wieder zu besuchen, wurde angenommen. Seine Wohnung war einfach, aber geschmackvoll eingerichtet, und in seinem Hause schien alles darauf hinzudeuten, daß sein Geschäft sich eines recht flotten Ganges erfreute.

Ein paar Wochen nach seinem ersten Besuche kam er eines Morgens zu Grimaldi und sagte ihm, daß Freunde von ihm, die in der Charlottenstraße, Fitzroy-Square wohnten, sich außerordentlich freuen würden, Grimaldis Bekanntschaft zu machen, und ihn ersuchen ließen, sie eines Abends einmal nach Schluß des Theaters bei sich zu sehen.

Zuerst mochte Grimaldi nichts davon wissen, weil er damals mit Einladungen förmlich überlaufen wurde. Da aber Mackintosh ihn immer und immer wieder damit in den Ohren lag, ihm auch sagte, seine Bekannten wären sehr wohlsituierte Leute, deren Umgang ihm vielleicht in anderer Hinsicht noch von Nutzen werden könnte, auch allerhand andere Gründe noch zur Unterstützung seines Anliegens in das Gefecht führte, ließ sich Grimaldi schließlich doch bewegen, den Besuch bei den Leuten zu machen.

Es wurde also ein Abend vereinbart, an welchem die Leute Grimaldi erwarten sollten, und gleich nach Schluß des Theaters warf Grimaldi sich in eine Kutsche und ließ sich nach der Charlottenstraße fahren.

Der Kutscher hielt vor einem gar stattlichen, glänzend erleuchteten Hause. Grimaldi meinte im ersten Augenblicke, der Kutscher müsse vor einem falschen Hause vorgefahren sein. Aber während er sich darüber noch mit dem Kutscher hin und her stritt, erschien Mackintosh in höchst elegantem Anzuge, ersuchte ihn auszusteigen und führte ihn in ein glänzend möbliertes Zimmer, das mit einer Reihe anderer Gemächer im Zusammenhange stand, von denen eins noch immer vornehmer und eleganter als das andere aussah.

Überall, wohin Grimaldi den Blick lenkte, zeigten sich ihm die kostbarsten Geräte und Bilder, und auf der Tafel im Speisesaale standen die ausgesuchtesten Delikatessen und seltensten, teuersten Weine.

Außer Mackintosh und Grimaldi war ein volles Dutzend Leute in dem Saale, sechs Damen und sechs Herren, die ihm als Ehepaare vorgestellt wurden. Der Wirt und die Wirtin, die ihm unter dem Namen Farmer vorgestellt wurden, bewillkommneten ihn mit einer entzückenden Artigkeit und Herablassung. Alle anwesenden Herrschaften waren auf das beste gekleidet, die Damen trugen kostbare Geschmeide, von Lakaien in glänzender Livree wimmelte es förmlich – kurz, alles erwies sich so ganz anders als Grimaldi erwartet hatte, und übertraf seine Erwartungen in einem so hohen Maße, daß er ganz verwirrt wurde und seinen Sinnen nicht trauen mochte, ja die größten Zweifel zu fassen anfing, ob es auch wirklich Wirklichkeit sei, was seinen Augen sich zeigte.

Die Herren waren jedoch so überaus höflich und die Damen von so anmutigem Wesen und so gewandtem Benehmen, daß Grimaldi sich bald in die Situation fand und seine gewöhnliche Stimmung wiederfand, gaben ihm doch die köstlich duftenden Weine und Delikatessen auf der Tafel zum wenigsten die Überzeugung, sich in dieser Hinsicht in keiner Täuschung zu befinden.

Es wurde gegessen, getrunken, gesungen, gescherzt, gelacht bis zum grauenden Morgen, und erst in der fünften Stunde ließ man ihn gehen.

Als er seiner Frau erzählte, was er gesehen, geriet auch sie in nicht geringe Verwunderung und wollte kaum seinen Worten glauben. Nach ein paar Tagen fand sich Mackintosh aber wieder ein und bat Grimaldi auf den nächsten Abend um die abermalige Ehre seines Besuches.

Grimaldi wollte zuerst nichts davon wissen; aber Mackintosh hatte seine Einwendungen vorausgesehen, hatte schon Mr. Farmer davon unterrichtet, daß Grimaldi seine Frau nicht gern allein lasse, erklärte, daß Mr. Farmer sich danach sehne, die Bekanntschaft auch von Frau Grimaldi zu machen, und dringend bitten lasse, von der Förmlichkeit eines vorhergehenden Besuches Abstand zu nehmen etc. etc.

Solcher Liebenswürdigkeit ließ sich tatsächlich nicht widerstehen. Grimaldi begab sich also abends mit seiner Frau nach der Charlottenstraße, und dort fanden sie alles genau so wieder, wie Grimaldi es gesehen und seiner Frau geschildert hatte: die sechs Damen, die sechs Herren, die galonnierten Lakaien, die Kronleuchter usw.

Es folgten noch weitere Einladungen, und die sechs Herren und Damen ließen es sich nicht nehmen, ihren Besuch bei Grimaldis zu machen, was ihm und seiner Frau insofern nicht ganz erwünscht war, als sie nicht den zehnten Teil der Löffel wie Mr. und Mrs. Farmer, und Kronleuchter überhaupt nicht besaßen.

Nichtsdestoweniger gaben sie sich alle Mühe, ihren Pflichten als Wirt und Wirtin so gut wie möglich, nachzukommen, und die Gesellschaft ermangelte nicht, ihnen die Versicherung zu geben, daß sie einen schöneren Abend noch nie verlebt hätten. Es wurde viel geschwatzt und gelacht, und dann ging man auf das herzlichste auseinander.

Indessen konnten sich Grimaldi und seine Frau nicht verhehlen, daß sich um ihre vornehmen Freunde und Gönner ein Geheimnis wob, hinter das sie nicht zu gelangen vermochten. Die sechs Damen sowohl als die sechs Herren waren nicht etwa zusammen verwandt, aber immer beisammen, und hatten, außer Grimaldi und seiner Frau, niemals andere Gesellschaft bei sich. Sie blieben sich auch immer völlig gleich, bis auf den Umstand, daß sie nur dann und wann einmal in anderer Garderobe erschienen, die aber immer gleich kostbar und elegant war.

Die Herren schienen Leute zu sein, die kein Geschäft hatten, ihre Höflichkeit hatte einen seltsamen Anstrich, und die Redseligkeit der Damen fiel Grimaldi und seiner Frau nicht minder auf. Aber sich klar darüber zu werden, worin dieses seinen Grund haben möchte, wollte weder ihm noch ihr gelingen. Grimaldi merkte recht wohl, daß zwischen den Manieren der vornehmen Herren, die er in der Theatergarderobe traf, und jener anderen, mit denen er durch Mackintosh bekannt geworden war, ein merklicher Unterschied bestand; er wußte sich aber, soviel Mühe er sich auch gab, nicht darüber klar zu werden. Seiner Frau ging es genau so. Er unterhielt sich häufig mit ihr darüber, aber ohne irgend welchen Erfolg, und die Beziehungen wurden den Januar und Februar hindurch unterhalten.

Am 13. März hatte Grimaldi sich verpflichtet, in Woolwich aufzutreten, und zwar zum Benefiz eines ihm befreundeten Mr. Laud. Ein paar Tage vorher hatte er bei Mr. Farmer davon gesprochen, und dieser hatte die anderen fünf Herren sogleich aufgefordert, mit dem lieben Freunde zusammen nach Woolwich zu fahren, dort mit ihm zur Nacht zu speisen und erst am andern Tage nach London zurückzukehren.

Den Vorschlag hatten alle angenommen, einen einzigen Herren ausgenommen, der den bei einem so vornehmen Herrn etwas alltäglichen Namen Jones führte, und deshalb der Partie fern bleiben mußte, weil er, wie er sagte, sich mit einem Herrn vom Hochadel zu treffen versprochen hatte.

Die fünf anderen Herren waren pünktlich zur Stelle und fuhren zusammen mit Mackintosh und Grimaldi nach Woolwich, Dort aßen sie zusammen zu Mittag und begaben sich ins Theater. Dort unterhielten sich die Herren sehr laut, applaudierten sehr stark, und ihre glänzende Erscheinung erregte nicht bloß beim Publikum, sondern auch bei den Schauspielern großes Aufsehen.

Abends wurde zusammen gespeist, dann gemeinsam übernachtet, und erst am andern Tage die Rückfahrt nach London bewirkt.

Mr. Farmer und die anderen vier Herren nahmen einen Wagen. Mackintosh und Grimaldi zogen es vor, in Gesellschaft einiger anderer Herren vom Theater zu Fuße zu gehen.

Grimaldi nahm die Gelegenheit wahr, Mackintosh unterwegs über die Verhältnisse seiner Freunde auszufragen. Mackintosh wich aber allen Fragen aus und beschränkte sich auf seine ständige Rede, daß es sehr wohlsituierte Herren seien, die im Golde zu wühlen pflegten usw.

Nach ein paar Tagen ließ er sich wieder bei Grimaldi sehen, und auch diesmal bemühte sich Grimaldi zusammen mit seiner Frau, den Schleier des Geheimnisses zu lüften, doch auch diesmal wollte es nicht gelingen. Die Aufklärung sollte indessen nicht mehr lange auf sich warten lassen. Darüber im nächsten Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Wie sich das Geheimnis mit den sechs Damen und sechs Herren aufklärte.

Ungefähr drei Wochen waren vergangen, ohne daß die sechs Damen und sechs Herren etwas von sich hatten hören oder sehen lassen. Da ließ sich eines Morgens ein Herr bei Grimaldi melden, dessen Namen er noch nie vorher gehört hatte. Aber es kamen öfter einmal Leute zu ihm, mit denen er noch nie im Leben etwas zu tun gehabt hatte, und so bat er den Unbekannten, Platz zu nehmen, machte ein paar allgemeine Bemerkungen über Wetter und Tagesneuigkeiten und fragte dann, was ihm die Ehre dieses unverhofften Besuches verschaffe.

Der unbekannte Herr legte den Hut aus der Hand, augenscheinlich ein Zeichen, daß er nicht so bald wieder zu gehen gedächte, und erwiderte, nachdem er eine Weile nach Worten gesucht hatte:

»Hm, der Grund ist etwas eigentümlicher Art. Vielleicht ist es am besten, ich sage Ihnen zuerst, wer ich bin. Mein Name ist Harmer.«

»Harmer, Harmer?« wiederholte Grimaldi, sich besinnend, ob er etwa schon einmal im Theater den Namen gehört habe.

»James Harmer«, sagte der Unbekannte wieder, »aus Hatton Garden. Ich muß Sie leider in einer recht unangenehmen Angelegenheit belästigen.«

Grimaldi wurde verlegen, denn der unbekannte Herr sprach die Worte in einem merkwürdig feierlichen, wenn auch höflichen und ruhigen Tone; er ersuchte den Herrn, sich doch ohne Umstände erklären zu wollen.

»Ich will gleich zur Sache kommen«, sagte Mr. Harmer; »Sie sind wohl mit einem gewissen Mackintosh bekannt?«

»Jawohl, Herr«, antwortete Grimaldi, dessen Gedanken sogleich von dem genannten Herrn zu den sechs Damen und den sechs Herren wanderten.

»Besagter Mackintosh schwebt in ernstlicher Lebensgefahr«, sagte Mr. Harmer weiter, und zwar in einem Tone, der zwischen Ernst und Feierlichkeit die Wage hielt.

Grimaldi dachte nun nichts anderes, als daß er in dem Herrn einen Arzt vor sich habe, und erkundigte sich, seinem Bedauern über solch trübe Nachricht Ausdruck gebend, wie lange Mr. Mackintosh schon krank sei und was ihm fehle.

»Seine Gesundheit läßt wohl kaum zu wünschen«, erwiderte der Herr, und über sein Gesicht huschte ein eigentümliches Lächeln, »ich habe in meiner amtlichen Wirksamkeit gar viele Menschen kennen gelernt, die in Gefahr schwebten, um ihr Leben zu kommen, und sich doch der besten Gesundheit zu erfreuen hatten.«

Grimaldi meinte, Mr. Harmer beziehe sich mit diesen Worten ohne Frage auf Patienten, die ihm unter der Hand gestorben seien. Mr. Harmer versetzte, er habe allen Grund zu besorgen, daß Mackintosh einmal sehr jäh dieses irdische Jammertal werde verlassen müssen.

»Das ist mir recht schmerzlich zu hören«, sagte Grimaldi, »ich möchte Sie nun aber recht sehr bitten, mir über seinen Zustand reinen Wein einzuschenken. An was für einer Krankheit leidet er? Wie benennt sich seine Krankheit?«

»Klepto- oder, wohl richtiger, Ruptomanie«, antwortete Mr. Harmer.

»Kleptomanie?« rief Grimaldi, während er am ganzen Leibe zitterte.

»Die Geschichte liegt sehr einfach«, nahm Mr. Harmer wieder das Wort, »Mackintosh ist angeklagt, in Congleton einen Einbruch verübt zu haben. Ich bin Verteidiger in Strafsachen. Mackintosh hat sich an mich gewendet. Ich habe ja so manchem armen Teufel vom Galgen gerettet. Mills versuchen, ob es mir auch bei ihm gelingt. Die Aussagen belasten ihn freilich sehr stark, und wenn er – was mir vorderhand höchst wahrscheinlich dünkt – für schuldig erklärt wird, dann ist ihm der Galgen ohne Frage sicher.«

Grimaldi war wie vom Donner gerührt. Es brauchte Zeit und Weile, bis er die Unterhaltung weiterführen konnte. Als er wieder Herr über sich geworden war, beeilte er sich zu erklären, daß er Mackintosh immer für einen rechtschaffenen Menschen gehalten habe, sonst dürfe es ihm doch wahrlich nicht eingefallen sein, sich mit ihm zu befassen.

»Auf den Namen eines rechtschaffenen Menschen hat er wohl schon geraume Zeit nicht mehr Anspruch«, sagte Mr. Harmer, »er scheint sich aber ernstlich vorgenommen zu haben, sich zu bessern, und daß er zum wenigsten gerade diesen Einbruch, nicht begangen hat, davon meine ich fest überzeugt zu sein.«

»Barmherziger Gott!« rief Grimaldi, »und doch halten Sie es für wahrscheinlich, daß er deshalb gehangen werden wird?«

»Falls er sein Alibi nicht nachweisen kann«, antwortete Mr. Harmer, »jedenfalls. Das kann aber nur durch einen einzigen Menschen geschehen, und der sind Sie, Mr. Grimaldi.«

»Dann gebieten Sie über mich, Mr. Harmer«, rief Grimaldi.

Mr. Harmer teilte nun Grimaldi mit, daß der Einbruch am 13. März verübt worden sei, an welchem Abend Grimaldi in Woolwich aufgetreten sei und zusammen mit Mackintosh zur Nacht gespeist habe. Dieser Zufall war nun für Mackintosh begreiflicherweise von außerordentlicher Wichtigkeit, Grimaldi versprach Mr. Harmer, das erforderliche Zeugnis abzulegen, und dieser verabschiedete sich.

Nach einigen Tagen wurde Mackintosh, da sich ein Bürge für ihn fand, aus der Untersuchungshaft entlassen. Er begab sich sofort zu Grimaldi, ihm für seine Bereitwilligkeit als Zeuge aufzutreten, von Herzen zu danken. Grimaldi hatte begreiflicherweise nur einen Wunsch: allen Umgang mit einem solchen Menschen abzubrechen, war aber einerseits zu gutmütig, ihm harte Worte zu sagen, anderseits zu neugierig, um ihn ohne weiteres wegzuschicken. Er forderte ihn also auf, sich zu setzen, und sagte:

»Mr. Mackintosh, ich kann mir unmöglich einreden, daß Sie ein gemeines Verbrechen begangen haben könnten oder begehen würden. Dazu spricht doch zu vielerlei zu Ihren Gunsten. Ich meine aber, daß Sie sich, um Ihr Alibi zu erweisen, nicht auf mich armen Teufel, der doch für seinen Lebensunterhalt arbeiten muß, zu verlassen nötig, sondern ganz andere, und vornehmere Leute dazu verfügbar haben, beispielsweise doch den Mr. Farmer, und die anderen fünf feinen Herren aus Ihrer engeren Bekanntschaft, die doch vor Gericht von ganz anderer Bedeutung als ich sein dürften.«

Mackintosh wurde bleich, schüttelte heftig den Kopf und schien das Gesicht zu einem Lachen verziehen zu wollen. Grimaldi war zu harmlos, um schnell Unrat zu wittern, wartete auf Antwort, fügte aber, als Mackintosh damit zögerte, hinzu:

»Und nun gar die feinen Damen! Ich sollte meinen, die brauchten doch bloß vor Gericht zu erscheinen, um Sie augenblicklich zu entlasten, und vor jeder strafrechtlichen Verfolgung zu sichern.«

»Mr. Grimaldi«, nahm Mackintosh endlich das Wort, aber mit einer Stimme, der man ein gewisses Zittern anmerkte, und mit einem Gesicht, dem es immer schwerer zu werden schien, das Lachen fern zu halten, »die Damen, von denen Sie sprechen, sind ja gar nicht verheiratet.«

Grimaldi starrte ihn wie entgeistert an, Mackintosh aber fuhr fort:

»Im Ernste, nicht eine einzige davon ist verheiratet; ausgegeben für Frauen haben sie sich wohl, sinds aber nicht, sondern nur – Dirnen.«

Da fuhr Grimaldi zornig auf … »Und Sie konnten es wagen, meine Frau in die Gesellschaft solcher – Personen zu zitieren? Sie konnten mich dazu bereden, meine Frau mit dieser – Farmer bekannt zu machen?«

»Mir tut die Geschichte ja von Herzen leid«, sagte Macintosh kleinlaut. »Dann verlange ich, daß Sie mir die Wahrheit nicht länger vorenthalten! Ich will wissen, wer und was die Damen und Herren sind, und weshalb Sie den Kopf schüttelten, als ich davon sprach, daß Sie sich auf Ihr Zeugnis berufen könnten.«

»Mr. Grimaldi«, erwiderte Mackintosh, wenigstens dem Anschein nach sehr demütig, »auch wenn sie als Zeugen geladen würden, so würden sie doch nicht an Gerichtsstelle erscheinen, und täten sie es, dann hätte ich doch bloß mehr Schaden davon als Nutzen, denn sie sind der Polizei sämtlich sehr gut bekannt.«

»Der Polizei?« fragte Grimaldi.

»Was ich Ihnen sage, ist nur allzu wahr, Sir … es sind arge Bösewichter, einer wie alle.«

»Wie! Auch Farmer?« –

»Farmer ist unterm Galgen begnadigt worden.«

»Und Williams?«

»Williams ist ein Fälscher.«

»Und Jesson?«

»Jesson und Barber sind Räuber und Einbrecher.«

»Und der jüdisch aussehende Mensch? der Kellys Lieder singt? … Wie heißt er doch gleich?«

»Wir wissen selbst nicht, wie er heißt. Aber er hat schon dreimal am Schandpfahle gestanden. Für uns bringt er die nachgemachten Banknoten an den Mann.«

»Und Jones – was ist er? Wohl der Mörder unter der Sippe?«

»Nein. Jones ist Einbrecher. Besinnen Sie sich nicht, daß er die Fahrt nach Woolwich nicht mitmachen wollte? An dem Tage, da sie verabredet worden, begab er sich nach Cheshire, und dort in Congleton verübte er den Einbruch, dessen man mich anklagte. Erst heute bin ich dahinter gekommen, daß er es gewesen ist, kann aber den Beweis nicht erbringen, daß ich damals in Woolwich war, trotzdem alle Zerren und Damen aus der Charlottenstraße sich nach Kräften bemühen, mich an den Galgen zu bringen, weil ihnen an Jones mehr gelegen ist, als an mir.«

Durch diese fürchterlichen Mitteilungen, durch den Gedanken, mit dergleichen verruchten Gliedern der menschlichen Gesellschaft Umgang gepflogen zu haben, durch die Sorge endlich, daß auch auf ihn Verdacht fallen könnte, ganz überwältigt, blieb Grimaldi ein paar Minuten sprachlos, sprang dann wütend auf, packte Mackintosh an der Kehle und schrie ihm zu, wie er es sich hätte unterstehen können, ihn unter dem Bordwände, sein Freund zu sein, unter solche Verbrecherrotte zu bringen.

Mackintosh fiel, nicht minder außer sich vor Schrecken, vor Grimaldi auf die Knie nieder, flehte um Erbarmen und beteuerte, die schmerzlichste Neue zu empfinden.

»Beantworten Sie mir eine Frage«, sagte Grimaldi, von ihm ablassend, »und geben Sie eine offene, rückhaltlose Antwort, denn nur, wenn Sie mir die Wahrheit, die volle Wahrheit sagen, können Sie auf Nachsicht von meiner Seite hoffen. Was für einen Grund haben Sie gehabt, und welchen Zweck haben Sie damit verfolgt, mich in die Gesellschaft dieser schändlichen Subjekte einzuführen?«

»Bei Gott, Sir, ich will Ihnen die Wahrheit sagen«, erwiderte Mackintosh, »und nicht im mindesten versuchen, Ihnen etwas zu verhehlen. Die sechs Damen und sechs Herren meinten, Sie müßten doch einen ausgezeichneten Gesellschafter abgeben und wären so recht der Mann, Ihnen die Zeit zu verkürzen, da sie doch einmal sich in der Gesellschaft sehen lassen dürften. Als ich nun zufällig einmal im Gespräch die Bemerkung fallen ließ, daß ich bekannt mit Ihnen sei, gaben sie mir keine Ruhe, bis ich mich dazu bereit erklärte, Sie mit Ihnen bekannt zu machen. Aber, bei meiner Seele, ich tat es erst, nachdem sie mir ihr Wort verpfändet hatten, daß Ihnen nichts Böses widerfahren solle, und daß es Ihnen unbedingt verborgen bleiben solle, wer sie in Wahrheit seien, und was sie in Wahrheit seien. Mr. Grimaldi, die Leute waren enthusiasmiert von Ihnen und konnten sich an Ihren Anekdoten und Liedern nicht satt hören. Ich mußte versprechen, Sie noch öfter mitzubringen. Da haben Sie die volle Wahrheit!«

Obgleich Grimaldi sich durch diese Auseinandersetzung von einer schrecklichen Besorgnis befreit sah, diese Diebsbande möchte seine Gesellschaft aus ganz anderen Beweggründen gesucht haben, so war doch der Gedanke, Einbrechern und Landstreichern als Spaßmacher gedient zu haben, noch immer gallebitter. Er war fast außer sich vor Ärger und Zorn, und je seltener er in Zorn geriet, desto länger dauerte es, bis er seine Ruhe wiederfinden konnte.

Mackintosh ergriff offenbar den besten Entschluß, indem er sich, gleich nach seinem Geständnis entfernte.

Etwa acht Tage nach diesem gräßlichen Ereignis saß Grimaldi eines Vormittags bei seinem Frühstück, als eine Dame sich, bei ihm melden ließ. Zu seinem maßlosen Erstaunen trat »Mrs. Farmer« bei ihm ein, setzte sich, ohne auf die Einladung dazu zu warten, unverfroren nieder und fragte:

»Nun, Mr. Grimaldi, steckt nicht der arme Jack Mackintosh in einer gar schlimmen Klemme?«

»Allerdings«, antwortete Grimaldi, noch immer außerstande, sich zu fassen, »solche Dinge müssen fürchterlich sein für einen Menschen. So schlecht er sein mag, so kann er mich doch leid tun.«

»Wirklich? Ist das Ihr Ernst? Nun, ich bin nicht weiter aufgeregt darüber, könnte auch nicht sagen, daß er mir sonderlich leid täte. Es ist nun einmal so in der Welt. Einmal kommt jeder an die Reihe, und Jack kann sagen, daß er recht lange verschont geblieben ist.«

Grimaldi meinte nicht anders, als daß die Diebsbande jetzt keine Hoffnung mehr hegen könne, unentdeckt zu bleiben, und deshalb darauf ausginge, ihn zu einem der ihrigen zu stempeln und die Sache so zu drehen, als sei er schon lange mit ihrem schändlichen Treiben vertraut. Deshalb nahm er sich vor, kein Blatt vor den Mund zu nehmen …

»Ich bin blind oder einfältig genug gewesen«, rief er, »mich zum Umgang mit Ihnen und Ihresgleichen verleiten zu lassen, Frauenzimmer. Ich beklage das tief, und zwar aus verschiedenen Gründen, vor allem aber, weil es mir höchst widerwärtig ist, mit Menschen seines Schlages bekannt zu sein, und weil ich mich hierdurch gezwungen sehe, gegen ein Weib die uns vorgeschriebenen Rücksichten außer acht zu setzen. Allein ich kann mich nicht anders verhalten, und deshalb verlange ich von Ihnen, daß Sie Ihren Bekannten, mit denen mein unglücklicher Stern mich zusammengeführt hat, bestellen, ich lasse mir jeden weiteren Versuch, mich in meiner Häuslichkeit zu belästigen, auf das ernsteste verbitten. Erdreisten sie sich, hiergegen zu verstoßen, so haben sie sich die weiteren Folgen selbst beizumessen. Jedenfalls dürfen sie sicher sein, daß ich mir Ruhe vor ihnen zu verschaffen wissen werde.«

Er hatte inzwischen geklingelt. Die Hausdienerin erschien auf der Schwelle, und Grimaldi fuhr fort:

»Sobald sich das Frauenzimmer drin ausgeruht hat, bringen Sie es vor die Tür und lassen es künftighin nicht mehr über die Schwelle! Auch keine von den Personen, die bisher von Zeit zu Zeit mit dem Frauenzimmer sich hier haben sehen lassen!«

Die Person ging, und Grimaldi war sehr froh, sie so schnell losgeworden zu sein. Ein paar Monate lang sah und hörte er nun nichts mehr von ihr und der Diebesbande. Seine ganze Zeit wurde von den beiden Theatern in Sadlers Wells und Covent Garden in Anspruch genommen, denn er war damals von beiden engagiert.

Im Juli gab sein Auftreten zu einem eigentümlichen Vorfalle Veranlassung.

Ein großer Teil der Mannschaft eines soeben von seiner Fahrt zurückgekehrten Schiffes hatte sich im Theater zu Sadlers Wells eingefunden, und es befand sich unter der Schar ein Matrose, der schon seit vielen Jahren taubstumm war. Grimaldis Spiel ließ die Leute nicht aus dem Lachen herauskommen, und niemand schien sich besser zu unterhalten als jener Taubstumme. Ein Kamerad von ihm fragte durch die bei Taubstummen üblichen Gebärden, wie ihm Grimaldi gefiele. Er antwortete auf die nämliche Weise, daß ihm so etwas Spaßiges noch nicht vorgekommen sei. Grimaldi überbot sich an diesem Abend, und der Taubstumme lachte und klatschte länger und stärker als alle anderen. Plötzlich drehte er sich um, packte den hinter ihm sitzenden Kameraden beim Schopfe und rief:

»Ist das ein Kerl! Ist das ein Kerl!«

»Aber, Jack«, rief drauf der Kamerad, vor Staunen schier außer sich: »Kannst Du denn sprechen?«

»O, nicht bloß sprechen«, antwortete der, der bisher taubstumm gewesen war, »sondern auch hören!«

Die ganze Matrosenschar brach in lautes Hurra-Geschrei aus und trug ihren Kameraden, als die Vorstellung zu Ende war, auf den Schultern hinaus; draußen lief das Volk zusammen, und von Mund zu Munde lief die Rede, Joe Grimaldi habe durch sein Spiel ein Wunder bewirkt, einem Taubstummen Gehör und Sprache wiedergegeben. Im Gasthause zum »Sir Middleton«, wohin ihn seine Kameraden getragen, erzählte er, daß er in den Tropen infolge der dort herrschenden Hitze Gehör und Sprache eingebüßt hätte, daß ihn aber Grimaldis Possenreißerei in solchen Taumel von Freude versetzt habe, daß er alle Sehnen habe anspannen müssen, es seinen Kameraden zu sagen, daß hierdurch zu seiner eigenen maßlosen Überraschung das Zungenband, das so lange gelähmt gewesen, wieder in Funktion gesetzt worden sei, und auch sein Gehör sich wieder eingefunden habe.

Sir Middleton war, nebenbei gesagt, ein Goldschmiedemeister, der sich um das Londoner Gemeinwesen sehr verdient gemacht hat, unter anderm die Stadt, was vor ihm als unmöglich galt, mit frischem Wasser durch große, von einem Hügel hergeleitete Röhren versah. Nach ihm sind mehrere Gasthäuser benannt. Dasjenige, in welchem sich der obige Vorgang mit dem Matrosen abspielte, findet sich auf einem Hogarthschen Stiche »Der Abend« dargestellt.

Im August bekam Grimaldi eine Vorladung auf das Bezirksgericht nach Stafford, zu der öffentlichen Verhandlung, die über Mackintoshs Schicksal entscheiden sollte. Mit Mr. Harmer fuhr er hinaus, tags vor der Verhandlung. Der öffentliche Ankläger gab sich alle Mühe, Grimaldis Zeugnis zu verdächtigen, wie auch ihn selbst außer Fassung zu bringen und einzuschüchtern.

Das Gesicht des Angeklagten verriet die größte Angst, daß sich sein Entlastungszeuge doch vielleicht ins Boxhorn jagen lassen oder ihm, um sich an ihm sein Mütchen zu kühlen, an den Galgen bringen möchte, statt zu seiner Lossprechung zu wirken. Aber Grimaldi hielt sich für verpflichtet, alle persönliche Rücksicht hintanzusetzen und seinem gegebenen Versprechen, ein ehrliches Zeugnis abzulegen, gewissenhaft nachzukommen, und lieferte hierdurch den Beweis, daß er sich ebenso pünktlich und angemessen als Mensch und Bürger im gewöhnlichen Leben zu benehmen wußte, wie er es verstand, als Clown auf der Bühne zu wirken.

Es waren nicht weniger als neun Belastungszeugen geladen, und alle beschworen zu Grimaldis Erstaunen die Identität des Angeklagten mit dem Einbrecher. Grimaldi legte sein Zeugnis mit einer Klarheit und Ruhe ab, die den ungeteiltesten Beifall fand, und das Alibi des Angeklagten völlig außer Frage stellte. Ohne im geringsten wider die Wahrheit zu verstoßen, vermied er jedes Wort und jede Anspielung, die dem Angeklagten hätte zum Schaden gereichen können. Seine Frau erhärtete das von ihm abgelegte Zeugnis durch ihr eigenes, und so erklärte der Staatsanwalt selbst, daß hier ein Irrtum in der Persönlichkeit obwalten müsse, und plädierte selbst auf Freispruch, worauf das Urteil auch nicht anders als »Nichtschuldig« lauten konnte.

Der Gerichtspräsident sprach sich über Grimaldis Verhalten als Zeuge auch privatim sehr lobend aus, und wer jemals Gelegenheit gehabt hat, sagt hierzu ein Zeitgenosse, Grimaldi öffentlich sprechen zu hören, wird gern glauben, daß ihm damit nicht bloß eine Schmeichelei erwiesen werden sollte. Er zeigte sich, wie überhaupt im Leben, auch als öffentlicher Redner als ein Mensch, der jedem sein Recht zuteil werden ließ, und jeden mit der ihm zukommenden Achtung behandelte. So war er auch, unter seinen Bühnenkollegen als Sprecher bekannt, und wurde immer herangezogen, wenn es galt, die Erkrankung eines Bühnenmitgliedes oder ein Bühnenunglück dem Publikum bekannt zu geben. Er trat dann immer mit so großer Würde und so echt leutseligem Anstande vor die Rampe, und sprach immer mit solcher Schlichtheit, ohne irgend welche Überhebung, oder gar Prahlsucht, daß jedermann, trotzdem er immer als Clown dabei erschien, nicht an seine Eigenschaft eines solchen, sondern nur an den Gentleman dachte.

Ehe Grimaldi nach London zurückreiste, hatte er noch eine kurze Zusammenkunft mit Mackintosh, in welcher er ihm die eindringlichsten Vorstellungen machte. Mackintosh dankte ihm tiefgerührt und versprach ihm aufs ernstlichste Besserung.

Grimaldi erwiderte ihm, daß von irgend welchen ferneren Beziehungen zwischen ihnen freilich keine Rede mehr sein könne, wolle ihm jedoch erlauben, hin und wieder einen Brief an ihn zu richten, worin er ihn von seinen weiteren Schicksalen unterrichten möge, versprach ihm auch Rat und Beistand, sobald er einmal solchen benötigen sollte, damit er sich nicht etwa, durch Hilflosigkeit oder Verzweiflung getrieben, abermals zu Verbrechen hinreißen ließe.

Grimaldi hörte aber nie wieder etwas von ihm, noch von den sechs Damen und Herren, in deren Gesellschaft er sich unbedachterweise nicht bloß selbst begeben, sondern sogar seine Frau mitgenommen hatte.

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Clown Bradbury. – Dessen freiwillige Einsperrung in einem Irrenhause. – Dessen Befreiung, seltsames Benehmen, späteres Leben und Hinscheiden. – Schreckliches Unglück im Sadlers-Wells-Theater. – Die nächtlichen Fahrten nach Finchley. – Reise nach Birmingham. – Schauspieldirektor Macready und dessen kuriose Theater-Utensilien. – Plötzliche Rückkehr nach London.

Kaum in London wieder eingetroffen, begab er sich sogleich nach Sadlers-Wells, wo ihm jedoch Mr. Dibdin zu seiner nicht geringen Überraschung die Mitteilung machte, daß man seiner für den Augenblick nicht bedürfe, da man den Kollegen Bradbury auf vierzehn Tage engagiert habe und hiervon noch nicht die Hälfte abgelaufen sei. Es müsse Grimaldi hierbei auch bemerkt werden, daß Bradbury sich beim Publikum in sehr große Gunst gesetzt und auch Furore gemacht habe.

Das verdroß Grimaldi lebhaft, denn er fürchtete natürlich, daß Bradbury ihn am Ende gar in der Gunst des Publikums ausstechen möchte. Sein Unmut wuchs aber noch mehr, als ihm die Direktion den Wunsch nahelegte, an Bradburys Benefiz-Abende in der nämlichen Pantomime mit diesem zusammen aufzutreten.

Nur mit großem Widerstreben erklärte er sich schließlich dazu bereit, denn er konnte sich der Befürchtung nicht verschließen, daß ihm die Gunst des Publikums durch den neuen Stern entzogen werden möchte.

Auch Bradbury war mit diesem Wunsche der Direktion gar nicht zufrieden, obgleich ihm vorgestellt wurde, daß die vereinigten Leistungen der beiden Clowns doch unbedingt ein volles Haus erzielen müßten, was ihm doch nur recht sein könne, da er doch Anspruch auf die Hälfte der Einnahme habe.

Die Pantomime sollte am Abend zur Aufführung kommen, der Clown durch Bradbury im ersten, durch Grimaldi im zweiten und durch Bradbury wieder im dritten Aufzuge gegeben werden. Den ganzen Tag über konnte Grimaldi den Gedanken nicht los werden, daß es mit ihm und seinen Leistungen vorbei, daß sein Stern nicht bloß im Niedergange begriffen, sondern überhaupt schon untergegangen sei.

Der Verlauf des Abends bestätigte seine Befürchtungen indessen nicht, denn schon sein erstes Auftreten wurde mit stürmischem Beifall begrüßt. Grimaldi setzte seine besten Kräfte ein, und der Beifall des Publikums wollte tatsächlich kein Ende nehmen.

Hierüber geriet nun Bradbury außer sich, wollte seinen Rivalen partout ausstechen, scheiterte aber gerade dadurch und wurde schließlich, trotzdem Freunde von ihm in Menge bei der Vorstellung anwesend waren, ausgepfiffen, so daß ihm nichts übrig blieb, als schleunigst von der Bühne zu verschwinden. Grimaldi mußte an seiner Stelle den letzten Akt übernehmen und gewann dabei erst recht die Überzeugung davon, daß seine Befürchtungen völlig grundlos gewesen. Bradbury gab selbst zu, daß gegen Grimaldi als Clown niemand aufkommen könne, daß Grimaldi der beste Clown sei, der jemals aufgetreten sei, und daß er, hätte er sein Spiel und sein Genie gekannt, sich unter keiner Bedingung dazu verstanden hätte, neben ihm in dem gleichen Stücke aufzutreten.

Dabei war Bradbury ein ausgezeichneter Darsteller und ein ganz vorzüglicher Clown, jedoch so durchaus verschiedenen Genres, daß im Grunde ein Vergleich zwischen ihm und Grimaldi ganz ausgeschlossen war. Seine Komik war von geringer Bedeutung, dagegen zeichnete er sich durch halsbrechende Sprünge und dergleichen Kraftstückchen aus. So sprang er beispielsweise einmal von dem obersten Range auf die Bühne hinunter. Um solche Manöver ohne Gefahr für sein Leben ausführen zu können, widmete er immer seinem Anzuge die peinlichste Sorgfalt und wattierte Kopf und Schultern, Hüften, Ellbogen und Knie, auch wohl Sohlen und Fersen. Wer ihn dann bei solch einem Exerzitium sah, ohne von diesen Vorbereitungen Kenntnis zu haben, konnte sich der Meinung unmöglich verschließen, daß er auf ernstliches Unglück mit Absicht ausginge.

Grimaldi machte auf dergleichen künstlerische Betätigung keine Ansprüche, verzichtete auf Wattierung und ähnliche Beihilfen, und suchte auf andere, ohne Frage genialere Weise, als Clown zu wirken. Er erreichte durch seine Ruhe weit größeren Eindruck, und elektrisierte das Publikum gemeinhin im Spielen.

Bradbury war jedoch ebenfalls sehr originell, und suchte eine besondere Stärke in dem Rufe, niemand zu kopieren; auch er hatte sich seine besondere Manier gebildet, von der er nie abwich.

Eine Zeitlang hörte Grimaldi nichts von seinem einstigen Nebenbuhler, bis er eines Tages zu seinem nicht geringen Erstaunen ein Schreiben aus einem Irrenhause in Hoxton bekam und dringend um einen recht baldigen Besuch angegangen wurde. Das Schreiben war von Bradbury. Eine engere Bekanntschaft hatte unter ihnen zu keiner Zeit stattgefunden. Unschlüssig zeigte er das Schreiben dem mit ihm befreundeten Kassenführer beim Surrey-Theater namens Lawrence, der ihm aber riet, die Aufforderung nicht beiseite zu schieben, sich auch zur Begleitung erbot.

Grimaldi machte sich zufolgedessen mit Lawrence auf den Weg nach Hoxton. In dem Irrenhause angelangt, wurden sie zu Bradbury geführt, der ganz dieselbe Behandlung genoß wie alle übrigen dort internierten Kranken. Auch ihm hatte man den Kopf ratzekahl geschoren. Auch ihn hielt man hinter Schloß und Riegel.

Grimaldi fing die Unterredung in der Weise an, wie man Irren gegenüber zu tun pflegt; worauf jedoch Bradbury in ein schallendes Gelächter ausbrach.

»Aber, liebster Grimaldi«, rief er, »reden Sie doch vernünftig mit mir, und nicht auf solch abgeschmackte Weise … Ich bin doch ganz ebensowenig närrisch wie Sie!« –

Grimaldi hegte indessen Zweifel, wußte er doch, daß der Wahn, nicht verrückt zu sein, bei Verrückten sich sehr häufig vorfindet. Er hielt sich infolgedessen in gemessenem Abstande von seinem Kollegen, mußte sich jedoch alsbald überzeugen, daß es sich um Bradbury tatsächlich so verhielt, wie dieser gesagt hatte.

In Kürze erzählt, waren die Umstände, die Bradbury ins Irrenhaus geführt hatten, die folgenden:

Bradbury lebte auf ziemlich großartigem Fuße, hatte sehr vornehmen Umgang, hielt sich ein Tandem, usw. Als er einst in Plymouth aufgetreten war, war von Portsmouth ein Kriegsschiff angekommen, unter dessen Offizieren er verschiedene zu Freunden hatte, die ihn mit sich an Bord nahmen. Man hatte verabredet, in Portsmouth zusammen zu soupieren, und verlebte den größten Teil der Nacht in ungebundener Heiterkeit.

Als Bradbury aufstand, um sich zu verabschieden, vermißte er seine wertvolle goldene Schnupftabakdose, die er aus Jux, oder um den anderen Tischgästen das Nehmen einer Prise recht bequem zu machen, auf den Tisch gestellt hatte. Er fragte, wo sie geblieben sei, aber niemand wußte um ihren Verbleib, und alles Suchen danach blieb vergeblich.

Es wurden alle möglichen Vermutungen angestellt. Endlich besann man sich, daß sich ein Tischkamerad, ein junger Mann, mit Anwartschaft auf die Grafenkrone, kurz nach dem Essen entfernt hatte, und meinte nun, er möge die Dose, um ihrem Besitzer, dem Clown Bradbury, einen heilsamen Schrecken einzujagen, aus Jux eingesteckt und mitgenommen haben.

Mit ein paar guten Bekannten begab sich nun Bradbury in die Wohnung des dereinstigen Herrn Grafen, der es aber schlechtweg in Abrede stellte, von der Dose auch nur das geringste zu wissen, Bradbury im Gegenteil die bittersten Vorwürfe machte und sie bat, ihn in solcher Angelegenheit lieber nicht mehr aufzusuchen.

Am andern Morgen ließ er seinen Bekannten in Pourtsmouth sagen, daß ihn ihr Verdacht, auch nur aus Jux eine Dose mitgenommen zu haben, dermaßen alteriere, daß er auf weiteren Verkehr mit ihnen verzichte und es vorzöge, ohne besondere Verabschiedung sich wieder nach London zurück zu begeben.

Bradbury schöpfte nun erst recht Verdacht gegen ihn und erwirkte einen Haftbefehl gegen ihn. Gerade in dem Augenblick, als der junge Mann in die Postkutsche steigen wollte, ließ er denselben vollstrecken. Als der Sheriff den Mantelsack durchsuchen ließ, kamen allerhand, den Portsmouther Bekannten des Jünglings gehörige, Gegenstände zum Vorschein, zuletzt auch Bradburys Dose. Bradbury zeigte ihn nun ohne weiteres beim Friedensrichter des Diebstahls an, denn er sah den adeligen Ursprung des jungen Leichtfußes keineswegs als Entschuldigung für den von ihm begangenen Diebstahl an.

Sobald die böse Affäre bei den Verwandten des Leichtfußes ruchbar wurde, bekam Bradbury ein hohes Schweigegeld angeboten. Aber er blieb solange unzugänglich, bis man ihm ein Jahresgehalt in beträchtlicher Höhe zusicherte, das ihn auf Lebenszeit aller Sorgen und Mühen enthob. Da erklärte er sich bereit, von der strafgerichtlichen Verfolgung Abstand zu nehmen.

Nun verfällt aber nach englischem Gesetz derjenige in Strafe, der, ohne vom Gerichtshofe hierzu die Vollmacht zu besitzen, um zeitlicher Vorteile willen die Anzeige eines Verbrechens unterläßt. Um nun dieser Gefahr aus dem Wege zu gehen, kam Bradbury auf den kuriosen Einfall, sich so wunderlich zu benehmen, daß ein Gerücht, das er über sich ausstreute: daß er nämlich durch Überanstrengung in seinem Berufe sich um seinen Verstand gebracht habe, allgemeinen Glauben fand und er auf Antrag verschiedener Mitbewohner seines Hauses dingfest gemacht und in ein Narrenhaus abgeschoben wurde. –

Natürlich konnte er sich dann bei der Gerichtsverhandlung wider den spitzbübischen Grafen in spe nicht einstellen – und wegen Mangels an einem öffentlichen Ankläger mußte das Verfahren gegen denselben eingestellt werden. Nun setzte aber Bradbury Himmel und Hölle in Bewegung, aus dem Narrenhause wieder herauszukommen. Es gelang ihm auch, die ärztliche Bewilligung zu seiner Entlassung zu erwirken, und Grimaldis Besuch fiel gerade auf den hierfür festgesetzten Tag. Da er weder lesen noch schreiben konnte, hatte er Grimaldi nur deshalb um seinen Besuch bitten lassen, weil er ihm den Gefallen tun sollte, an dem für sein Benefiz gewählten Abend statt seiner im Surrey-Theater aufzutreten.

Grimaldi sagte es ihm ohne weiteres zu, gab der Hoffnung Ausdruck, daß sich seiner Entlassung nicht letzterhand noch Schwierigkeiten entgegenstellen möchten, und verabschiedete sich wieder von ihm. Er spielte und sang nicht nur für Bradbury die ganze Woche über, sondern kassierte auch Gelder für ihn ein.

Bradbury war an dem auf Grimaldis Besuch folgenden Tage wirklich entlassen worden. Im Theater war alles mittlerweile gut gegangen; Grimaldi konnte Bradbury, da er immer volle Häuser erzielte, ein sehr hübsches Stück Geld übergeben, und so wäre dort alles auch weiterhin gut gegangen, hätte sich Bradbury nicht durch einen wunderlichen Einfall bestimmen lassen, wieder an dem einen Abend mit Grimaldi zusammen aufzutreten. Künstler-Ambition trieb ihn nun, seinen Kollegen zu überbieten, und dabei verfiel er in ein Extrem solch edler Dreistigkeit gegenüber dem Publikum, daß diesem die Geduld riß, und er kläglich ausgepfiffen und ausgezischt, ja sogar mit faulen Äpfeln und Eiern beworfen wurde.

Das bedeutete das Ende seiner Künstlerlaufbahn. Jahrelang trat er in London nicht wieder auf, sondern beschränkte sich auf vereinzeltes Mitwirken bei Provinzbühnen, erlangte aber niemals seinen früheren Ruf wieder. Das ihm von der Familie jenes jugendlichen Leichtfußes, der ihm die Tabakdose entwandt hatte, zugesicherte Jahresgehalt überhob ihn aber der Notwendigkeit, seinem Berufe nachzugehen, indessen scheint es ihm aber in späteren Jahren entzogen worden zu sein, oder er müßte allzu verschwenderisch gelebt haben; fest steht, daß er im Jahre 1828 in wenig erfreulichen Umständen, wenn nicht gar in wirklicher Dürftigkeit, gestorben ist.

Im Oktober eröffnete das Covent-Garden-Theater die Saison wiederum mit der »Mutter Gans«, und bis zu Weihnachten wurde diese Pantomime 29mal wiederholt.

Am 15. Oktober ereignete sich in Sadlers-Wells ein entsetzlicher Vorfall. Die Pantomime wurde zuerst von den anderen Stücken, die diesen Abend füllen sollten, gegeben, und da Grimaldi an diesem Abend in Covent-Garden nichts weiter zu verrichten hatte, konnte er beizeiten heimgehen, was er auch tat. Um Mitternacht wurde er durch lautes Klopfen an der Haustür aus dem Schlafe geschreckt.

Zuerst hatte er gemeint, es hätten sich lose Burschen auf der Heimkehr von einem Zechgelage im Übermut erfrecht, ihn des Juxes halber mit solchem Lärm zu behelligen; als das Klopfen aber gar nicht aufhören wollte, hatte er sich den Schlafrock angezogen, und war an die Tür hinunter geeilt, um nachzusehen, wer ihn denn eigentlich störe.

Die meisten der Leute, die vor seiner Tür standen, waren gute Bekannte vom Theater, die ihm sagten,, sie seien nur gekommen, sich von seinem Wohlbefinden zu vergewissern, und ihrer Freude Ausdruck zu geben, daß er der Gefahr so glücklich entronnen sei.

Als er sich erkundigte, was solche Reden denn eigentlich zu bedeuten hätten, wurde ihm erzählt, daß während des letzten Stückes nichtsnutziges Volk im Theater »Feuer, Feuer!« geschrien habe, wodurch unter dem Publikum eine Panik hervorgerufen worden sei. In dem wilden Gedränge, die wenigen Ausgänge zu gewinnen, hätten verschiedene Menschen ihr Leben eingebüßt.

Grimaldi eilte auf der Stelle nach dem Theater. Dort staute sich noch immer eine so dichte Menschenmenge, daß er nicht bis zum Eingange gelangen konnte. Da warf er sich kurz entschlossen in den Kanal, durchschwamm ihn und sprang durch das erste beste Fenster, das er offen fand, in einen der Räume hinein.

Wer beschreibt sein Entsetzen, als er sich zwischen einem Dutzend von Leichen sah? Ja, da lagen sie, die Überreste von einem Dutzend menschlicher Wesen, ohne Leben und doch fast noch warm, die er vor nur wenigen Stunden noch zu schallendem Gelächter gestimmt hatte!

Eine Zeitlang stand er wie gelähmt. Dann wankte er nach der Tür, um sich von dem schrecklichen Anblicke zu befreien. Die Tür war von außen verschlossen, und vergeblich bemühte er sich, sie zu öffnen. Es wollte ihm nicht gelingen, so kräftig er sich auch dagegen stemmte. Nun versuchte er es mit lautem und anhaltendem Klopfen. Die Hausangehörigen, und Mr. Hughes nicht zum wenigsten, gerieten erst in heftigen Schrecken, bis sie nach einiger Zeit Grimaldis Stimme erkannten. Nun sah er sich endlich zu seiner lebhaften Freude aus dem schrecklichen Räume erlöst.

Erst am andern Tage ließ sich feststellen, wieviel Menschen bei der schrecklichen Katastrophe ihr Leben eingebüßt hatten: es waren ihrer dreiunddreißig! Zahllose andere waren, viele davon lebensgefährlich, verletzt worden. In der Hauptsache war das Unglück auf den Unbedacht von Leuten zurückzuführen, die zuerst die Türen gewonnen hatten und, als sie gesehen, daß es sich bloß um blinden Lärm handelte, wieder auf ihre Plätze zurückzugelangen gesucht hatten. Die hinter ihnen herdrangen, hatten gemeint, die Ausgänge seien versperrt, und nun gesucht, sich um so gewaltsamer Bahn zu brechen. Mehrere hatten sich von der Galerie hinunter ins Parterre gestürzt und waren erstickt oder zertrampelt worden. Daher die schreckliche Katastrophe.

Sie hatte sich am vierten Abend vor dem Schlusse der Saison ereignet, und so hielt die Direktion es für geraten, das Theater überhaupt zu schließen. Wer von den Darstellern noch Anspruch auf ein Benefiz hatte, wurde durch ein solches im Zirkus entschädigt, und so nahm die Saison des Jahres 1807 ein so trübseliges Ende, wie man es in Sadlers-Wells noch gar nicht erlebt hatte.

Am 26. Dezember wurde zum ersten Male »Harlekin in seinem Elemente, oder Feuer, Wasser, Erde, Luft« gegeben. Bologna und Grimaldi traten darin als Harlekin und als Clown auf. Die Pantomime fand großen und, wie Grimaldi meinte, verdienten Erfolg. Grimaldi hielt sie für eins der besten Stücke, in denen er je aufgetreten war. Er spielte während dieser Saison auch in einem Melodrama »Bonifazio und Bridgetino« – das sich keines Beifalls zu erfreuen hatte – und in einem Pantomimenballett von Farley, aus Lewis‘ »Mönch« entlehnt, »Raymond und Agnes« – das mehrere Wiederholungen erlebte – die Rolle des Baptist.

Zu dieser Zeit bewohnte er ein kleines Landhaus in Finchley, wohin er sich nach dem Schlusse des Theaters in einem Gig zu begeben pflegte. Fand keine Probe statt, so verweilte er bis zum nächsten Nachmittage dort. War eine solche angesetzt, so kehrte er unmittelbar nach eingenommenem Frühstück in die Stadt zurück. Er hatte das Landhaus gemietet, um seinem Söhnchen, das er aufs zärtlichste liebte, den Genuß der Landluft zu verschaffen; er verlängerte aber seinen Mietsvertrag freiwillig um mehrere Jahre, weil ihm und seiner Frau der Landaufenthalt sehr behagte und sehr gut bekam.

Auf seinen nächtlichen Fahrten nach Finchley erlebte er mancherlei Abenteuer: so schlief er zuweilen ein, wenn er die Stadt hinter sich hatte, und erwachte aus seinem Schlummer erst wieder vor seinem Gartentore.

Eines Abends war er von dem angestrengten Spiel so erschöpft, daß er noch weiter schlummerte, als sein Pferd vor dem Tore schon etwa zehn Minuten gehalten hatte. Das Possierlichste aber war, daß der auf ihn wartende Bediente, etwa sechs Schritte von ihm entfernt, hinter dem Tore gleichfalls eingeschlafen war und auch erst wieder zu sich kam, als das Pferd laut zu schnauben anfing.

Ein anderes Abenteuer, das ihm auf der Finchleyer Chaussee passierte, soll weiter unten erzählt werden.

Im März 1808 passierte es ihm, daß er, ohne es im geringsten zu beabsichtigen, Mr. Fawcett zu nahe trat. Fawcett sprach eines Nachmittags auf dem Wege von seinem Wohnhause in Totteridge, das nur etwa anderthalb Stunden von Grimaldis Domizil entfernt war, bei ihm vor und bat ihn, zu seinem Benefiz mitzuwirken, das in kurzer Zeit stattfinden sollte. Grimaldi versprach es ihm ohne weiteres.

»Aber wohlverstanden«, sagte Fawcett, »ich will nicht, daß Sie den Clown oder solch eine Rolle, sondern den Brocket in O’Keefes »Schwiegersohne« darstellen.«

Darauf einzugehen, nahm Grimaldi Abstand, denn er sagte sich sehr richtig, daß es unvorsichtig sei, den hohen Ruf, den er im Clown-Fache errungen, dadurch zu gefährden, daß er sich auf seine alten Tage noch in einem andern Fache versuchen wollte, um vielleicht ein Fiasko zu erleben, das ihm seine ganze Existenz gefährden könnte. Er mochte aber anderseits Fawcett nicht vor den Kopf stoßen, sondern beschränkte sich auf den Bescheid, daß er ihm nur augenblicklich noch keine feste Zusage machen könne, ihm aber in einigen Tagen schreiben werde.

Er nahm mit einigen Kollegen Rücksprache über den Fall, die ihm aber sämtlich dringend davon abrieten, sich auf eine solche Rolle einzulassen, wie Fawcett sie von ihm wünschte.

Unter Geltendmachung aller Gründe, die ihn zu ablehnendem Verhalten bestimmten, schrieb er nach einigen Tagen an Fawcett, den aber – so seltsam es erscheinen mag, diese Weigerung Grimaldis so wider ihn aufbrachte, daß er allen Umgang mit ihm abbrach und ihm, wenn ihn der Zufall mit ihm zusammenführte, in den ersten drei Jahren nicht einmal einen Gruß vergönnte.

Am 14. erteilte ihm Kemble die Erlaubnis, zum Benefiz seiner Schwägerin auf dem Birminghamer Theater mitzuwirken, dessen Direktion damals Macready, der Vater des großen Tragöden, führte. Mr. Macready empfing Grimaldi äußerst zuvorkommend und machte ihm, und zwar unter sehr annehmbaren Bedingungen, den Vorschlag, nach dem Benefiz-Abende noch ein paarmal aufzutreten.

Grimaldi hatte ein solches Ansinnen geahnt und sich deshalb in London befragt, wie man sich dort dazu stellen wolle, und ob in Covent-Garden an den nächsten Abenden etwas für ihn vorläge – was jedoch, sofern es bei den erstgetroffenen Anordnungen blieb, nicht der Fall sein konnte.

Er einigte sich, da er auf Bescheid warten mußte, nun ohne weitere Rücksichten auf London, mit Macready, begab sich, sobald er sein Frühstück eingenommen, zur Probe, fand aber im Birminghamer Schauspielhause unter allen Requisiten, mit denen es hier überhaupt traurig bestellt war, kaum eine, die er für seine Pantomime hätte brauchen können. Umsonst sann er auf ein Auskunftsmittel, das ihn über diese Schwierigkeiten hinweghälfe, konnte aber keines ausfindig machen.

»Ach was, Theater-Requisiten!« rief Macready unwillig, als Grimaldi ihm seine Bedenken dieserhalb mitteilte; »ihr Londoner habt immer allerhand Wünsche bei Euren Auftritten, auf die wir Provinzmenschen im ganzen Leben nicht kommen. Sie sollen aber haben, was Ihnen am Herzen liegt, Mr. Grimaldi! Heda, Willi!« rief er seinem Theaterdiener zu, »gehen Sie doch auf den Markt und kaufen Sie dort ein Ferkelchen, eine Gans und zwei Enten. Mr. Grimaldi besteht darauf, daß er ohne diese Viecher nicht spielen könne, und da müssen wir sie schon anschaffen.«

Grimaldi meinte nicht anders, als Macready hätte sich nur einiger Theaterworte bedient, als er seinem Diener den Auftrag gegeben hatte, ein Ferkel, eine Gans und ein Paar Enten zu besorgen, war deshalb nicht wenig erstaunt, als er den Diener mit diesen Tieren in natura auf die Bühne kommen sah, begrüßt von dem schallenden Gelächter des Publikums. Es blieb ihm nun nichts weiter übrig, als ein paar Solonummern einzulegen, die er natürlich extemporieren mußte und deren eine auf die Mitteilung fußte, die ihm Macready durch seinen Diener machen ließ, es tat ihm leid, ihm mit weiteren Requisiten nicht dienen zu können, da er selbst keine anderen hätte.

Das Publikum kam an diesem Abend aus dem Lachen wieder einmal nicht heraus, und Grimaldi hatte von neuem seinen Ruhm als unerreichter Clown begründet, der ihm hinfort auch ungeschmälert bleiben sollte. –

Am zündendsten wirkte die Art, wie er sein »exit« mit diesen lebendigen Requisiten bewirkte. »Der alte Mann« in der Pantomime kehrte mit seiner Tochter vom Markte heim, und Clown Grimaldi, ihr Diener, einen alten Livreerock mit mächtigen Taschen über seinem Clown-Kostüm, und einen mächtigen Dreimaster auf dem Kopfe, trug ihnen die auf dem Markte gemachten Einkäufe hinterher. Auf dem Rücken schleppte er einen Korb mit Möhren, die lang über den Rand herüberhingen; in den beiden Seitentaschen steckten die Enten, so daß sie mit den Köpfen herausguckten; unter dem einen Arme schleppte er das Spanferkel, unter dem andern die Gans. Immer und immer wieder wurden die Lieder da capo verlangt, die er dabei sang, darunter das damals sehr beliebte, allerdings etwas zotige »Tippitewitchet«, und für keine Pantomime hätte man sich einen bessern Erfolg denken können.

Das Haus war alle vier Abende, an denen er als Scaramuz auftrat, bis auf den letzten Platz gefüllt. Als er sich am letzten Abend anschickte, mit seinen lebendigen Requisiten auf die Bühne zu gehen, wurde ihm eine expresse Botschaft aus London, vom selbigen Tage datiert, behändigt. Sie stammte von einem seiner besten Freunde und hatte folgenden Inhalt:

»Mein lieber Joe! – Es ist angezeigt worden, daß Sie morgen abend in Covent-Garden als Clown auftreten würden. Ich fürchte aber, daß dies in feindseliger Absicht wieder Sie inszeniert ist, denn man weiß doch, daß Sie noch nicht von Birmingham zurückgekehrt sind. Verlieren Sie also keinen Augenblick!«

Grimaldi eilte auf der Stelle zum Direktor Macready, zeigte ihm den Eilbrief und erklärte, so leid es ihm täte, seinen Birminghamer Freunden und Gönnern einen weiteren Abend nicht widmen zu können.

»Was?« rief Macready, »das wäre mir recht! Das gibt’s nicht! Ich könnte ja riskieren, daß man mir das Haus demolierte! Auftreten müssen Sie heute noch, das läßt sich nicht ändern, aber ich will eine Postchaise mit Vieren für Sie bestellen, die gleich nach Schluß der Vorstellung für Sie bereit stehen soll.«

Grimaldi ließ sich bestimmen zu bleiben und spielte wieder mit ganz ungeheurem Beifall. Der Abend brachte ihm eine Einnahme von 294 Pfund, und mit weit über 800 Pfund Gesamterlös aus seinem Birminghamer Spiel warf er sich nach Schluß der Vorstellung in die Postchaise, die vorm Schauspielhause bereit stand, und befand sich um zwölf Uhr, wenige Minuten, nachdem er die Bühne verlassen, auf der Rückfahrt nach London.

Das Wetter war stürmisch, die Straße befand sich im schlechtesten Zustande, Grimaldi geizte nicht mit Trinkgeldern an die Postillone, um sie zu schnellem Fahren anzuspornen, und die Folge davon war, daß die Burschen schließlich so sternhagel betrunken wurden, daß sie auf dem Bocke einschliefen. So kam es, daß sie verkehrt fuhren, einen Umweg von fünfzehn bis achtzehn Stunden machten und Salt Hill erst am andern Abend in der siebenten Stunde erreichten.

Grimaldi nahm sich in Salt-Hill sofort Extrapost und erreichte nun das Theater in London gerade in dem Augenblicke, als die Musiker mit der Ouvertüre begannen. Sein Freund erwartete ihn in tausend Ängsten. Grimaldi gab ihm seinen aus Birmingham mitgebrachten Schatz in Verwahrung und eilte in die Garderobe, wo er Farley schon bei den Vorbereitungen traf, für ihn einzuspringen.

Rechtzeitig und zum nicht geringen Erstaunen seiner Freunde, wie auch gewisser, in der Direktion vertretenen Herren, die ein ganz anderes Ergebnis von Grimaldis Auftreten in Birmingham erwartet hatten, erschien er noch auf der Bühne.

65. Kapitel


65. Kapitel

Ein neues Leben

Die Session hatte begonnen, und mein Vormund erhielt die Meldung von Mr. Kenge, daß sein Prozeß übermorgen zur Verhandlung kommen würde. Da ich sehr gespannt war, wie die Sache ausfallen würde, kamen Allan und ich überein, an dem bestimmten Vormittag hinzugehen. Richard war außerordentlich aufgeregt und so schwach und matt, obgleich sich immer noch keine körperliche Krankheit an ihm nachweisen ließ, daß meine gute Ada der Unterstützung gar sehr bedurfte. Aber sie hoffte auf die Hilfe, die ihr jetzt binnen so kurzem in Aussicht stand, und ließ nie den Mut sinken.

Die Tagfahrt sollte in Westminster abgehalten werden. Der Prozeß war dort wohl schon hundert Mal verhandelt worden, aber ich konnte mich nicht von dem Gedanken befreien, daß es dies Mal zu einem Resultat kommen müßte. Wir eilten gleich nach dem Frühstück fort, um rechtzeitig nach der Westminsterhall zu gelangen, und gingen Arm in Arm – wie glücklich und seltsam es doch war! – durch die lebhaften Straßen dorthin.

Wir besprachen gerade, was wir für Richard und Ada tun könnten, da hörte ich jemanden rufen: »Esther! liebe Esther! Esther!« Und ich sah Caddy Jellyby, wie sie mir mit dem Kopf so lebhaft aus dem kleinen Wagen winkte, den sie in letzter Zeit gemietet hatte, um damit zu ihren Schülern zu fahren, deren sie jetzt eine große Anzahl hatte, als ob sie mich aus hundert Schritt Entfernung umarmen wollte.

Ich hatte ihr in einem Briefe alles erzählt, was mein Vormund getan, aber keinen Augenblick Zeit gefunden, sie zu besuchen. Natürlich kehrten wir um, und das herzensgute Kind war so entzückt und freute sich so sehr, von dem Abend sprechen zu können, wo sie mir die Blumen brachte, und war so sehr darauf erpicht, mein Gesicht – samt dem Hute – zwischen ihren Händen zu drücken und sich ganz wie außer sich zu benehmen und mir allerlei Kosenamen zu geben und Allan zu sagen, ich hätte, ich wisse gar nicht, was alles, für sie getan, daß ich mich durchaus einen Augenblick in den Wagen hineinsetzen und sie beruhigen mußte, indem ich ihre Zärtlichkeit über mich ergehen ließ. Endlich mußten wir aber doch gehen – die Zeit drängte –, und Caddy blickte uns aus dem Kutschenfenster nach, solange sie uns sehen konnte.

Dadurch verspäteten wir uns etwa eine Viertelstunde, und als wir die Westminsterhall erreichten, hatte die Verhandlung schon angefangen. Überdies war im Kanzleigericht ein so ungewöhnliches Gedränge, daß die Menschen bis an der Tür standen und wir weder hören noch sehen konnten, was drin vorging. Es schien etwas Komisches zu sein, denn dann und wann hörte man ein Lachen und den Ruf: Ruhe! Auch etwas Interessanteres als gewöhnlich, denn alles stieß sich und drängte vorwärts. Daß es etwas sein mußte, was den Herren vom Fach sehr spaßhaft vorkam, ersahen wir daraus, daß verschiedne junge Advokaten mit Perücken und Backenbärten, die abseits vom Gedränge standen, sich, während einer von ihnen die Sache erzählte, mit den Händen in die Taschen fuhren und sich geradezu vor Lachen krümmten und, mit den Füßen stampfend, in der Halle herumliefen.

Wir fragten einen Herrn in unsrer Nähe, ob er wisse, was für ein Prozeß verhandelt werde? Er sagte uns: »Jarndyce kontra Jarndyce.« Und ob er wüßte, wie die Sache stehe? Er sagte nein, das habe noch niemand gewußt, aber soviel er aus allem entnehmen könne, sei es vorbei damit.

»Vorbei für heute?« fragten wir.

»Nein«, sagte er, »vorbei für immer.«

Vorbei für immer!

Als wir diese überraschende Antwort hörten, sahen wir uns sprachlos vor Erstaunen an. Konnte es wirklich möglich sein, daß das neuaufgefundene Testament alles in Ordnung gebracht haben sollte und daß Richard und Ada jetzt reich seien? Es schien zu gut, um wahr zu sein. Und doch mußte es so sein.

Wir hatten nicht lange zu warten, denn das Gedränge geriet bald in Bewegung, und die Leute kamen mit roten erhitzten Gesichtern, mit einer förmlichen Wolke verdorbener Luft umgeben, herausgeströmt. Sie waren immer noch sehr lustig, wie Leute, die aus eine Komödie oder von einem Taschenspieler kommen, und nicht aus einem Gerichtshof. Wir traten beiseite und warteten, ob nicht ein Bekannter darunter wäre, und sahen, wie große Pakete Akten herausgetragen wurden, Pakete in Beuteln – Bündel, zu groß, um sie in Beutel zu stecken –, unermeßliche Papiermassen, zusammengeschnürt oder lose, unter deren Gewicht die Diener wankten und die sie vorläufig aufs Geratewohl aufs Pflaster der Halle warfen, wenn sie wieder hineingingen, um immer noch neue zu holen. Auch die Diener lachten. Wir warfen einen Blick auf die Bündel, und da wir überall »Jarndyce kontra Jarndyce« lasen, fragten wir einen wie eine Amtsperson aussehenden Mann, der mitten unter ihnen stand, ob der Prozeß aus sei. »Ja«, sagte er, »endlich hat er ein Ende gefunden!« und fing auch an zu lachen.

Endlich sahen wir Mr. Kenge, leutselig und würdevoll, aus dem Gericht kommen und Mr. Vholes zuhören, der sehr ehrerbietig auf ihn einsprach und seine Aktenmappe unter dem Arm trug. Mr. Vholes erblickte uns zuerst. »Hier ist Miß Summerson, Sir«, sagte er. »Und Mr. Woodcourt.«

»Was seh ich! Ja. Wahrhaftig!« rief Mr. Kenge und zog vor mir mit der größten Höflichkeit den Hut. »Wie steht das werte Befinden? Freut mich außerordentlich, Sie zu sehen. Mr. Jarndyce ist nicht hier?«

»Nein. Er kommt nie hierher«, erinnerte ich ihn.

»Nun«, sagte Mr. Kenge, »es ist vielleicht gut, daß er heute nicht hier ist, denn seine – soll ich in meines werten Freundes Abwesenheit sagen, seine hartnäckig verfochtene Ansicht? – wäre – wenn auch nicht mit Recht – heute bestärkt worden.«

»Bitte, was ist denn eigentlich geschehen?« fragte Allan.

»Ich bitte um Verzeihung, wie meinen?« fragte Mr. Kenge mit ausnehmender Höflichkeit.

»Was heute geschehen ist?«

»Was geschehen ist?« wiederholte Mr. Kenge. »Ja so. Hm. Nun, nichts Besonderes; hm, nichts Besonderes. Wir sind zu einem Stillstand gekommen – zu einem plötzlichen Stillstand auf der – wie soll ich sagen – auf der… Soll ich es – Schwelle nennen?«

»Ist das Testament als echt anerkannt, Sir?« fragte Allan. »Möchten Sie uns nicht wenigstens das sagen?«

»Gewiß würde ich das tun, wenn ich könnte«, sagte Mr. Kenge, »aber wir sind der Sache nicht weiter nachgegangen, nicht weiter nachgegangen.«

»Nicht weiter nachgegangen«, wiederholte Mr. Vholes mit seiner gedämpften Bauchrednerstimme wie ein fernes Echo.

»Sie müssen bedenken, Mr. Woodcourt«, bemerkte Mr. Kenge und schwenkte überredend und besänftigend seine silberne Kelle, »daß dies ein großer Prozeß, ein langer Prozeß, ein verwickelter Prozeß gewesen ist. Man hat ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ nicht mit Unrecht ein Denkmal der Kanzleigerichtspraxis genannt.«

»Und die Geduld hat lange darauf als Statue gesessen«, sagte Allan.

»Wahrhaftig, sehr gut, Sir«, entgegnete Mr. Kenge mit dem herablassenden Lächeln, das ihm eigen war. »Sehr gut! – Sie müssen ferner bedenken, Mr. Woodcourt«, – er wurde würdevoll bis zur Strenge – »daß auf die zahlreichen Schwierigkeiten, Zwischenfälle, meisterhaften Fiktionen und Einzelstadien in diesem großen Prozeß Studium, Geschicklichkeit, Beredsamkeit, Kenntnis und Geist, viel Geist, Mr. Woodcourt, verwendet worden sind. Viele Jahre lang hat ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ die – äh –, ich möchte sagen, die Blüte des Advokatenstandes – und die –äh –, ich möchte mir hinzuzusetzen erlauben, die gereiften herbstlichen Früchte des richterlichen Oberhauses in Anspruch genommen. Wenn die Allgemeinheit daraus Nutzen zieht und der Staat den Ruhm dieses großartigen Zusammenwirkens von geistigen Eigenschaften, so muß dafür bezahlt werden, Sir, in Geld oder Geldeswert.«

»Mr. Kenge«, sagte Allan, dem jetzt auf einmal ein Licht aufzugehen schien, »entschuldigen Sie mich, aber unsre Zeit ist gemessen. Wollen Sie damit sagen, daß die ganze Hinterlassenschaft in Kosten aufgeht?«

»Hm! Ich glaube«, entgegnete Mr. Kenge. – »Mr. Vholes, was meinen Sie?«

»Ich glaube auch«, bestätigte Mr. Vholes.

»Und daß auf diese Weise der Prozeß sozusagen in Rauch aufgeht?«

»Wahrscheinlich«, entgegnete Mr. Kenge. – »Mr. Vholes?«

»Wahrscheinlich«, sagte Mr. Vholes.

»Liebste Esther«, flüsterte mir Allan zu, »das bricht Richard das Herz.«

In seinem Gesicht drückte sich ein so plötzlicher Schrecken aus, und er kannte Richard so durch und durch, und auch ich hatte seinen allmählichen geistigen Verfall so deutlich bemerkt, daß mir die Worte, die meine Ada mit dem vorausahnenden Blick der Liebe zu mir gesprochen hatte, wie ein Totengeläute in den Ohren klangen.

»Im Falle Sie Mr. C. zu sehen wünschen sollten, Sir«, sagte Mr. Vholes, der hinter uns herkam, »so finden Sie ihn im Gerichtssaal. Ich ließ ihn dort, weil er ein wenig ruhen wollte. Guten Tag, Sir; guten Tag, Miß Summerson.« Wie er mich mit seinem langsam verzehrenden Blick ansah und dabei die Schnüre seines Aktenbeutels zusammendrehte, bevor er Mr. Kenge nacheilte, von dessen wohlwollendem Schatten er sich nicht gern zu trennen schien, schnappte er ein Mal, als schlänge er damit den letzten Bissen dieses Klienten hinunter. Dann glitt seine schwarze, zugeknöpfte, widerwärtige Gestalt hinweg nach der niedrigen Tür am Ende der Halle.

»Liebes Herz«, sagte Allan, »überlaß mir auf eine kleine Weile den, den du mir so lange anvertraut hast. Geh und melde alles zu Hause und komm dann zu Ada!«

Ich ließ ihn nicht erst einen Wagen holen, sondern bat ihn, ohne einen Augenblick Verzug Richard aufzusuchen und mich allein gehen zu lassen. Zu Hause angekommen, fand ich meinen Vormund vor und berichtete ihm schonend, was vorgefallen war.

»Kleines Frauchen«, sagte er, seinetwegen nicht im geringsten bekümmert, »den Prozeß endlich vom Halse zu haben, ist ein segensreicheres Resultat, als ich erwartet hätte. Aber das arme, arme junge Paar!«

Wir sprachen den ganzen Vormittag von Ada und Richard und berieten, was wir für sie tun könnten. Dann begleitete mich mein Vormund nach Symond’s-Inn und verließ mich an der Haustür. Ich ging hinauf. Als mein Liebling mich kommen hörte, kam sie auf den schmalen Gang heraus und warf sich an meine Brust; aber gleich faßte sie sich wieder und sagte mir, daß Richard mehrmals nach mir gefragt hätte. Wie sie mir erzählte, hatte ihn Allan in einer Ecke des Gerichtssaales sitzen gefunden, starr wie ein Steinbild. Als er ihn aus seinem Grübeln weckte, war er aufgesprungen und hatte eine Bewegung gemacht, als wollte er voll Zorn sich gegen die Richter wenden, aber ein Blutsturz hatte ihn daran gehindert, und er mußte nach Hause gebracht werden.

Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa, als ich eintrat. Medizinflaschen standen auf dem Tisch, das Zimmer war so luftig wie möglich gemacht und verdunkelt, sauber aufgeräumt und still. Allan stand hinter dem Kranken und beobachtete ernst sein Gesicht, in dem keine Spur von Farbe mehr war. Jetzt erst erkannte ich genau, wie hinfällig er war. Aber sein Gesicht war friedlicher, schöner, als ich es seit langem gesehen.

Ich setzte mich stumm neben ihn. Bald darauf schlug er die Augen auf und sagte mit schwacher Stimme und seinem alten Lächeln: »Mütterchen Durden, küssen Sie mich!«

Es war mir ein großer Trost, ihn in seinem geschwächten Zustande heiter und hoffnungsvoll zu sehen. Er sagte, unsre bevorstehende Heirat mache ihn glücklicher, als er mit Worten ausdrücken könne. Mein Bräutigam sei für ihn und für Ada ein Schutzengel gewesen, und er segne uns beide und wünsche uns alles Glück, das das Leben nur gewähren könnte.

Es war mir, als müsse mir das Herz brechen, als ich ihn Allans Hand ergreifen und an seine Brust drücken sah.

Wir sprachen so viel wie möglich von der Zukunft, und er sagte mehrere Male, daß er bei unsrer Hochzeit sein müsse, wenn er sich auf den Füßen halten könnte. Ada würde ihn schon irgendwie hinbringen, hoffte er. »Aber selbstverständlich, liebster Richard!« tröstete sie ihn. Aber wie sie ihm so hoffnungsvoll, so heiter und innig antwortete, aufrecht erhalten von der Hoffnung auf die Hilfe, von der sie zu mir gesprochen, da wußte ich, wie alles kommen werde.

Er durfte nicht zuviel sprechen; und wenn er schwieg, schwiegen wir ebenfalls. Wie ich neben ihm saß, tat ich, als ob ich etwas für mein Herzenskind arbeitete, da es ihm immer Spaß gemacht hatte, mich wegen meines Fleißes zu necken. Ada beugte sich über sein Kissen und hielt sein Haupt in ihrem Arme. Er fiel von Zeit zu Zeit in einen Halbschlummer; und so oft er aufwachte, war seine erste Frage: »Wo ist Woodcourt«, wenn er ihn nicht gleich sah.

Es war Abend geworden, als ich aufblickte und meinen Vormund in dem kleinen Vorzimmer stehen sah. »Wer ist da, Mütterchen Durden?« fragte mich Richard. Die Tür befand sich hinter ihm, aber er hatte es in meinem Gesicht gelesen, daß jemand da war.

Ich fragte Allan mit den Augen, und da er ein Ja nickte, beugte ich mich über Richard und sagte es ihm. Mein Vormund sah, was vorging, trat leise an mich heran und legte seine Hand auf Richards Hand.

»Ach, Vetter«, flüsterte Richard, »du bist so gut, so gut!« und brach zum ersten Mal in Tränen aus.

Mein Vormund, das Bild eines guten Menschen, nahm auf meinem Stuhle Platz und ließ seine Hand in Richards Hand ruhen.

»Lieber Rick«, sagte er, »die Wolken haben sich verzogen und es ist heller Tag geworden. Wir gingen alle irre, Rick, mehr oder weniger. Was liegt daran!… Und wie geht es dir, lieber Richard?«

»Ich bin sehr schwach, Vetter, aber ich hoffe, ich werde bald wieder zu Kräften kommen. Jetzt heißt es ein neues Leben beginnen.«

»Recht so, Rick.«

»Diesmal werde ich es nicht in der alten Weise anfangen«, sagte Richard mit einem trüben Lächeln. »Ich habe jetzt eine Lehre erhalten, Vetter. Es war eine harte Lehre, aber du kannst versichert sein, daß ich sie nicht vergessen werde.«

»Schon gut«, tröstete ihn mein Vormund. »Schon gut, lieber Junge!«

»Ich dachte mir eben, Vetter«, fing Richard wieder an, »daß ich nichts auf Erden so gern sehen würde als – Mütterchen Durdens und Woodcourts Haus. Wenn ich dorthin gebracht werden könnte, sobald ich wieder mehr Kraft habe, glaube ich, ich würde dort früher genesen als anderswo.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, Rick!« sagte mein Vormund. »Und unser kleines Frauchen auch; sie und ich haben erst heute darüber gesprochen. Ich glaube nicht, daß ihr Bräutigam etwas dawider haben wird. Was meinen Sie, Woodcourt?«

Richard lächelte und erhob den Arm und tastete nach Allan, der hinter ihm zu Häupten seines Bettes stand.

»Ich sage nichts von Ada, aber ich denke an sie und habe sehr viel an sie gedacht. Sieh her! Sieh her, wie sie sich so sorgsam über das Kissen beugt, wo sie doch selbst der Ruhe so dringend bedarf! Meine heißgeliebte, meine arme Ada!« Er schloß sie in seine Arme, und keines von uns sprach ein Wort. Allmählich ließ er sie los, und sie sah uns an, blickte hinauf zum Himmel und bewegte die Lippen.

»Wenn ich nach Bleakhaus komme«, flüsterte Richard, »werde ich dir viel zu erzählen haben, und wir müssen vieles besprechen. Du kommst, nicht wahr, Vetter?«

»Sei überzeugt, lieber Rick.«

»Ich danke dir. So bist du immer. Immer. Sie haben mir erzählt, was du alles für sie getan, und daß du nicht die kleinste ihrer Lieblingsgewohnheiten außer acht gelassen hast. Es wird mir sein, als ob ich wieder das alte Bleakhaus besuchte.«

»Und auch dorthin wirst du kommen, hoffe ich, lieber Rick. Ich bin jetzt ein alleinstehender Mann, wie du weißt, und ein Besuch wird mir eine Wohltat sein. Eine Wohltat, meine Liebe«, wiederholte er, zu Ada gewendet, streichelte sanft ihr goldenes Haar und drückte eine Locke davon an seine Lippen. Ich ahnte, daß er innerlich gelobte, sich ihrer anzunehmen, wenn sie allein zurückblieb.

»Nicht wahr, es war nur ein böser Traum?« sagte Richard und faßte bittend meines Vormundes beide Hände.

»Nichts sonst, Rick; nichts sonst.«

»Und du kannst in deiner Güte dem Träumer wirklich verzeihen, ihn bemitleiden und nachsichtig zu ihm sein und ihm Mut zusprechen, jetzt, wo er erwacht ist?«

»Gewiß, mein lieber Junge. Bin ich denn nicht selbst nur ein Träumer, Rick?«

»Ich will ein neues Leben anfangen«, sagte Richard, und seine Augen leuchteten.

Allan trat näher an Ada heran, und ich sah, wie er feierlich die Hand erhob, um meinen Vormund vorzubereiten.

»Wann werde ich diesen Ort hier mit dem schönen Lande vertauschen und die alten Zeiten wieder vor mir sehen und Kraft genug haben, zu sagen, was Ada mir gewesen ist, und imstande sein, meine vielen Fehler und meine Verblendung wieder gut zu machen und mich vorbereiten können, meinem Kind ein Führer zu sein?« sagte Richard. »Wann glaubst du, kann ich reisen?«

»Lieber Rick, sowie wir wieder ein wenig bei Kräften sind«, entgegnete mein Vormund.

»Ada, meine Herzens-Ada.« Er versuchte sich ein wenig zu erheben. Allan kam seinem Wunsch zuvor und hob ihn so, daß er seinen Kopf an ihre Brust legen konnte.

»Ich habe dir viel Leid zugefügt, mein Alles. Ich bin wie ein armer verirrter Schatten auf deinen Lebenspfad gefallen. Ich habe dich mit Armut und Sorgen vermählt und dein Vermögen vergeudet. Vergibst du mir, meine Ada, ehe ich ein neues Leben beginne?«

Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, als sie sich niederbeugte, um ihn zu küssen.

Er ließ langsam sein Gesicht an ihre Brust sinken, schlang seine Arme fest um ihren Nacken und fing mit einem Abschiedsseufzer das neue Leben an. Das Leben, das über das Grab hinausreicht und alles irdische verwischt.

Abends spät, als alles still war, kam die arme verrückte Miß Flite weinend zu mir und sagte, daß sie allen ihren Vögeln die Freiheit geschenkt habe.

66. Kapitel


66. Kapitel

Unten in Lincolnshire

Ein Schweigen herrscht in diesen so anders gewordenen Tagen über Chesney Wold wie über einem Teil der Familiengeschichte. Das Gerücht geht, Sir Leicester habe sich die Verschwiegenheit der Leute erkauft, die sprechen könnten, wenn sie wollten, aber es ist eine flügellahme Geschichte, die nicht flügge werden kann, und ihr Lebensfunke ist bald erstorben. Nur soviel weiß man gewiß, daß die stolze Lady Dedlock im Mausoleum im Park ruht, wo sich dunkel die Bäume wölben und nachts die Eule durch den Wald schreit; aber von wo sie nach Hause gebracht worden, um unter den Echos dieses einsamen Ortes bestattet zu werden, und wie sie gestorben, das ist ein Geheimnis.

Einige von ihren alten Freundinnen, vorzüglich unter den Jungfrauen mit den Pfirsichwangen und den dürren Hälsen, sagten einmal, wie sie scherzend gespensterhaft mit großen Fächern spielten – wie Jungfrauen, die mit dem grimmen Tod kokettieren müssen, weil ihnen kein andrer Liebhaber treu geblieben –, gelegentlich, als die vornehme Welt sich versammelte, sie wunderten sich, daß die Asche der Dedlocks im Mausoleum sich niemals gegen die Entweihung durch Myladys Gesellschaft erhöbe. Aber die abgeschiedenen Dedlocks nehmen es sehr ruhig hin, und man hat nie von einem Protest von ihnen gehört.

Durch das Farnkraut in den Wegmulden und den Reitweg unter den Bäumen herauf nähert sich manchmal dieser einsamen Stelle der Schall von Hufschlägen. Dann erscheint Sir Leicester – gelähmt, gebeugt und fast blind, aber noch immer eine würdige achtunggebietende Erscheinung – im Sattel, und neben ihm reitet ein Mann mit Sehnen von Stahl dicht an seiner linken Hand. Und wenn sie eine gewisse Stelle vor der Tür des Mausoleums erreichen, bleibt Sir Leicesters Leibpferd von selbst stehen, und Sir Leicester entblößt schweigend das Haupt und wartet still einige Augenblicke, ehe sie weiter reiten.

Der Kampf mit dem kühnen Boythorn tobt immer noch, wenn auch mit Intervallen, und bald heiß und bald schläfrig, aufflackernd wie ein unstetes Feuer. Die Wahrheit ist, daß, als Sir Leicester krank nach Lincolnshire kam, Mr. Boythorn offen den Wunsch zeigte, sein Wegerecht aufzugeben und alles zu tun, was Sir Leicester wünschte; aber Sir Leicester, der dies für Mitleid mit seiner Krankheit oder seinem Unglück hielt, nahm es so übel auf und fühlte sich in seinem Stolz so verletzt, daß Mr. Boythorn sich in die Notwendigkeit versetzt sah, das nachbarliche Gebiet offen zu verletzen, um ihn wieder zu sich selbst zu bringen. So fährt daher Mr. Boythorn fort, furchtbare Drohungen an dem umstrittenen Wege anzuschlagen und, während der Vogel auf seinem Kopf sitzt, sich in dem Heiligtum seines Hauses in leidenschaftlichen Wutausbrüchen gegen Sir Leicester zu ergehen. Auch trotzt er ihm wie vor alters in der kleinen Kirche, indem er eine vollständige Unkenntnis der Anwesenheit seines Feindes zur Schau trägt. Aber man flüstert sich zu, daß er, wenn er sich gegen seinen Gegner am wildesten ausspricht, in Wirklichkeit am rücksichtsvollsten gegen ihn ist und daß Sir Leicester in seiner Würde als unversöhnlicher Feind wenig ahnt, wie sehr man ihm zu Gefallen lebt. Ebensowenig ahnt er, in wie enger Verbindung er und Mr. Boythorn durch die Schicksale zweier Schwestern gelitten haben; und sein Gegner, der es jetzt weiß, ist der letzte, der es ihm verraten würde. So wird also der Streit zur Befriedigung beider fortgesetzt.

In einem der Portiershäuser des Parks, in dem Häuschen, das man vom Fenster des Herrenhauses erblickt, wo zu jener Zeit, als das Wasser in Lincolnshire so hoch stand, Mylady das Kind des Parkwärters sah, wohnt jetzt der sehnige, stahlharte Mann, der ehemalige Kavallerist. Einige Reliquien von seinem alten Berufe her hängen an den Wänden; und sie hellpoliert zu erhalten, ist die Lieblingserholung eines kleinen, lahmen Mannes, den man immer bei den Ställen findet. Rastlos ist er vor Geschirrkammern tätig mit dem Polieren von Steigbügeln, Gebissen, Kinnketten, Geschirrteilen und allen andern irgendwie zu den Ställen gehörigen Sachen, die sich polieren lassen – und sein Leben ist ein fortwährendes Reiben und Putzen. Es ist ein kleiner, zottiger, mehrfach beschädigter Mann, nicht unähnlich einem alten schlechtrassigen Bastardhund, der sich viel in der Welt herumgeschlagen hat und auf den Namen Phil hört.

Ein erfreulicher Anblick ist es, die würdige alte Haushälterin, die jetzt noch schwerhöriger ist, am Arme ihres Sohnes in die Kirche gehen zu sehen und das Verhältnis zwischen ihnen und Sir Leicester zu beobachten. Allerdings haben nur wenige Gelegenheit dazu, denn das Haus sieht jetzt selten Gäste. In den heißen Sommertagen zuweilen kommt Besuch mit einem Regenschirm und einem grauen Mantel, der früher in Chesney Wold unbekannt war. Dann sieht man manchmal in abgelegenen Sägegruben und ähnlichen versteckten Winkeln des Parks zwei junge Damen herumspringen, und vor des Kavalleristen Tür kräuselt sich der Rauch zweier Pfeifen in die duftende Abendluft hinauf. Dann hört man von einer Querpfeife im Portierhäuschen die wilden begeisternden Klänge von Englands Grenadieren spielen; und wenn der Abend anbricht, sagt eine tiefe Baßstimme, während zwei Männer miteinander auf und abschreiten:

»Aber ich gebe es vor der Alten nie zu. Disziplin muß sein.«

Der Haupttrakt des Hauses ist zugeschlossen, und es wird nicht länger Fremden gezeigt, aber Sir Leicester hält auch jetzt noch Hof in dem langen Salon und ruht auf seinem alten Platze vor dem Bilde Myladys. Des Abends, von breiten Schirmen eingeschränkt und nur in diesem Teile des Hauses brennend, scheint das Licht des Salons immer mehr zusammenzuschrumpfen, bis es eines Tages ganz aufhören wird. Ja, binnen sehr kurzem wird es für Sir Leicester ganz verlöschen; und die dumpfige Pforte des Mausoleums, die so fest schließt und so hartherzig aussieht, wird sich auftun und ihn aufnehmen. – – –

Volumnia, die immer rosiger wird, je mehr die Zeit verrauscht, liest Sir Leicester an den langen Abenden vor und muß, um ihr Gähnen zu verbergen, ihre Zuflucht zu verschiedenen Kunstgriffen nehmen, deren vornehmster und wirksamster darin besteht, daß sie das Perlenhalsband zwischen ihre Blütenlippen nimmt. Hauptsächlich liest sie langatmige Abhandlungen über die Buffy- und Boodlefrage, die zeigen, daß Buffy ein unbefleckter Patriot und Boodle ein Schurke ist, und wie das Vaterland zugrunde gehen muß, wenn es nur für Boodle und nicht für Buffy stimmt, oder wie es gerettet werden kann, wenn es nur für Buffy und nicht für Boodle ist, denn einer von den beiden muß es sein, und andre kommen nicht in Betracht. Sir Leicester ist es ziemlich gleich, was sie vorliest, und er scheint ihr nicht sehr aufmerksam zu folgen, aber doch wird er auf der Stelle munter, sowie sie wagt, aufzuhören, und fragt, jedes Mal mit sonorer Stimme ihr letztes Wort wiederholend, verdrießlich, ob sie müde sei. Volumnia ist nun aber bei Gelegenheit ihres vogelartigen Herumhüpfens und Anpickens von Papieren auf die Notiz einer sie betreffenden Testamentsklausel gestoßen (im Fall ihrem Verwandten »etwas passieren sollte«), und solche Chancen vor Augen als Entschädigung für einen langen Vorlesekursus, nimmt sie sogar den Kampf mit dem Drachen Langeweile auf.

Die Vettern im allgemeinen fürchten sich ein wenig vor Chesney Wold in der stillen Zeit, wagen sich aber in der Jagdsaison heran, wo man dann Schüsse im Park hört und ein paar Treiber und Jagdgehilfen auf den alten Sammelplätzen auf zwei oder drei schwermütige Cousins warten. Der hinfällige Vetter, den die Eintönigkeit des Ortes immer gräßlicher mitnimmt, verfällt dann in eine schrecklich niedergedrückte Stimmung, stöhnt in seinen jagdfreien Stunden unter Sofakissen und beteuert, daß so ein –ah – höllischer oller Kerker – äh – Menschenleben kosten könne.

Die einzigen großen Lichtblicke für Volumnia in diesen veränderten Verhältnissen des Schlosses in Lincolnshire sind die seltenen Gelegenheiten, wo durch den Besuch eines öffentlichen Balles etwas für die Grafschaft oder das Vaterland getan werden muß. Dann zeigt sich die abgehetzte Sylphe in Feengestalt der Menschheit und fährt voller Freude unter vetterlicher Eskorte vierzehn lange Meilen weit nach dem alten Festlokale, das an dreihundertvierundsechzig Tagen und Nächten jedes Normaljahres eine Art antipodische Rumpelkammer voll auf den Kopf gestellter alter Tische und Stühle ist. Hier gewinnt sie alle Herzen durch ihre Leutseligkeit, ihre mädchenhafte Munterkeit und durch ihr Herumspringen, wie in den Tagen, wo der garstige alte General mit dem Prachtgebiß im Munde noch nicht einen einzigen der vierundsechzig falschen Zähne zu zwei Guineen das Stück sich hat einsetzen lassen müssen. Dann dreht und wirbelt sie als Hirtennymphe aus guter Familie durch das Gewühl der Tänzer, und die Schäfer nahen sich ihr mit Tee, Limonade, Sandwiches und Huldigungen. Dann kann sie freundlich und hartherzig sein, stolz und anspruchslos, veränderlich, reizend und jugendlich launenhaft, und eine auffallende Ähnlichkeit herrscht zwischen ihr und den kleinen gläsernen Armleuchtern aus einem vergangenen Zeitalter, die das Festlokal zieren und mit ihren dünnen Stengeln, ihren spärlichen Knöspchen, ihren kahlen Verästelungen und ihrem schwachen prismatischen Schillern wie lauter Volumnias erscheinen.

Im übrigen ist das Leben in Lincolnshire für Volumnia wie die ungeheure Leere des übergroßen Hauses, mit Bäumen davor, die seufzend die Hände ringen, die Köpfe senken und in eintöniger Trauer ihre Tränen gegen die Fensterscheiben werfen. Ein feierliches Labyrinth, das nicht mehr den letzten Repräsentanten einer alten Familie von menschlichen Wesen und ihren gespensterhaften Ebenbildern zu gehören scheint, sondern bewohnt wird von hallenden Klängen, die bei jedem Ton aus ihren Gräbern hervorkommen und durch das ganze Gebäude schallen. Eine Einöde von unbenutzten Korridoren und Treppen, wo, wenn man nachts einen Kamm auf den Boden des Schlafzimmers fallen läßt, es wie ein verstohlener Tritt erkundend durch das Haus geht. Ein Haus, wo es nicht jedermanns Sache ist, allein herumzugehen, wo das Dienstmädchen aufschreit, wenn eine Schlacke durch den Rost schlurrt, sich angewöhnt, zu allen Zeiten und bei allen Gelegenheiten zu weinen, schließlich das Opfer einer krankhaften Schwermut wird, kündigt und den Dienst verläßt.

So ist Chesney Wold.

Fast ganz der Nacht und der Leere überlassen, unverändert im strahlenden Sommer und im trüben Winter; immer düster und still. Kein Banner weht mehr bei Tage; und keine Lichterreihen glänzen mehr bei Nacht; keine Familie kommt oder geht mehr, keine Besucher sind mehr die Seelen der blassen kalten Zimmer, und kein Leben regt sich mehr in ihm. – Leidenschaft und Stolz sind selbst für das Auge des Fremden in dem Herrensitz in Lincolnshire erstorben und haben toter Ruhe Platz gemacht.