63. Kapitel


63. Kapitel

Stahl und Eisen

Georges Schießgalerie steht zu vermieten, und die Utensilien werden verkauft, und George selbst ist nach Chesney Wold übergesiedelt, wo er Sir Leicester auf seinen Spazierritten begleiten und dicht neben ihm reiten muß, weil der alte Herr sein Pferd nur mit unsicherer Hand leiten kann.

Aber heute ist George anders beschäftigt. Heute reist er weiter nördlich in die Eisendistrikte, um sich umzusehen.

Und je weiter nördlich in die Eisendistrikte er kommt, desto weniger frische grüne Wälder sind zu sehen, und Kohlengruben und Schlackenberge, hohe Essen und rote Ziegelmauern, verdorrtes Grün, sengende Feuer und eine schwere, unveränderliche Rauchwolke zieren die Landschaft. In einer solchen Umgebung reitet der Kavallerist die Straße entlang und sieht sich häufig um, wie jemand, der etwas sucht.

Endlich, an der berußten Kanalbrücke einer geschäftigen Stadt, in der alles klingt wie Eisen und mehr Feuer und Rauch zu sehen ist, als ihm bis jetzt vor Augen gekommen ist, hält er, geschwärzt von dem Staube der Kohlenstraßen, sein Pferd an und fragt einen Arbeiter, ob ihm der Name Rouncewell bekannt sei.

»Da könnte ich gerade so gut meinen eignen vergessen haben«, meint der Arbeiter.

»So bekannt ist er hier, Kamerad?«

»Rouncewell? Das will ich meinen!«

»Und wo könnte ich ihn wohl finden?« fragt der Kavallerist und blickt suchend umher.

»Das Lager, die Fabrik oder das Haus?« wünscht der Arbeiter zu wissen.

»Hm! Die Rouncewells sind allem Anscheine nach so groß«, brummt der Kavallerist vor sich hin und streicht sich das Kinn, »daß ich fast Lust hätte, wieder umzukehren. Hm, ich weiß eigentlich nicht, wohin ich gehen soll. Meinen Sie wohl, daß ich Mr. Rouncewell in der Fabrik finde?«

»Nicht leicht zu sagen, wo Sie ihn finden. – Um diese Zeit des Tages werden Sie entweder ihn oder seinen Sohn dort finden, wenn er in der Stadt ist; aber er ist oft auf Geschäftsreisen.«

»Und wo ist die Fabrik?«

Ob er die Schornsteine dort, die höchsten, sehe?

Ja, er sieht sie.

Nun, diese Schornsteine soll er im Auge behalten, so geradeaus reiten, wie er kann, und dann werde er sie am Ende einer Straße links, umgeben von einer Mauer von Ziegelsteinen, die die eine Seite der Straße bilde, zu Gesicht bekommen. Das sei Rouncewells Fabrik.

Der Kavallerist dankt dem Manne, reitet langsam weiter und läßt seine Blicke umherschweifen. Er kehrt nicht um, wie er einen Augenblick vorhatte, sondern steigt in einem Wirtshaus ab, wo ein paar von Rouncewells Leuten zu Mittag essen, wie ihm der Hausknecht sagt. Ein Teil von Rouncewells Arbeiterschaft macht eben Mittagspause und scheint die ganze Stadt zu überschwemmen. Sie sind sehr muskulös und stark, auch ein wenig rußig, Mr. Rouncewells Arbeiter.

Er erreicht einen Torweg in der Mauer von Ziegelsteinen, blickt hinein und sieht einen großen Wirrwarr von Eisen in jeder Stufe der Vollendung und in einer unendlichen Verschiedenartigkeit von Formen daliegen; Stangen, Blech, Tafeln, Kessel, Achsen, Räder, Zapfen, Kurbeln, Schienen; – Eisen, in seltsame und wunderliche Formen zu einzelnen Maschinenteilen gedreht, und große Berge von Brucheisen, vor Alter verrostet; Öfen, im Hintergrund, wo es, noch jung, glüht und kocht; helles Feuerwerk von sprühendem Eisen, das unter den Schlägen des Dampfhammers Funken umherspritzt; rotglühendes Eisen, weißglühendes Eisen, schwarzkaltes Eisen; ein Geschmack von Eisen, ein Geruch von Eisen, und ein tausendstimmiger Wirrwarr von Klängen von Eisen.

»Da könnte einem ja der Kopf in Stücke gehen«, brummt der Kavallerist und sieht sich nach einem Kontor um. »Wer kommt da? So ungefähr sah ich auch aus, ehe ich fortlief. Das dürfte mein Neffe sein, wenn sich Ähnlichkeit in den Familien fortpflanzt. – Ihr Diener, Sir.«

»Ihrer, Sir. Suchen Sie jemanden?«

»Entschuldigen Sie, Sie sind der junge Mr. Rouncewell, glaube ich?«

»Ja.«

»Ich suche Ihren Vater, Sir. Ich möchte gern ein paar Worte mit ihm sprechen.«

Der junge Mann sagt Mr. George, daß er die Zeit gut getroffen habe, denn der Vater sei anwesend, und führt ihn nach dem Kontor. »Verdammt ähnlich, wie ich damals war!« denkt der Kavallerist, wie er ihm folgt.

Sie kommen zu einem Hofgebäude, in dessen oberem Stockwerk sich ein Bureau befindet. Mr. George wird sehr rot, als er den Herrn unter dem Fenster erblickt.

»Was für einen Namen soll ich meinem Vater nennen?« fragt der junge Mann.

George, den Kopf voller Eisen, gibt verzweifelt zur Antwort: »Stahl«, und wird unter diesem Namen gemeldet. Er bleibt allein mit dem Herrn im Kontor, der an einem mit Rechnungsbüchern und Plänen bedeckten Tisch sitzt. Es ist ein schmuckloses Zimmer mit kahlem Fenster, und wenn man herunter sieht, erblickt man nichts als Eisen. Auf dem Tische liegen einige Stücke Eisen wirr durcheinander, zu verschiedenen Zeiten ihres Dienstes zertrümmert, um ihre Beschaffenheit zu zeigen. Eisenstaub überall; schwer sieht man den Rauch durch die Fenster aus den hohen Schornsteinen hervorqualmen und sich mit dem eines halb im Dunst versteckten Babylons anderer Schornsteine mischen.

»Ich stehe zu Diensten, Mr. Stahl«, sagt der Herr, als der Besuch einen rostbefleckten Stuhl genommen hat.

»Mr. Rouncewell«, beginnt George, vorgebeugt, den linken Arm aufs Knie gelegt und den Hut in der Hand, und weicht dem Auge seines Bruders aus, »ich fürchte fast, mit meinem gegenwärtigen Besuch eher zudringlich als willkommen zu erscheinen. Ich habe in früheren Jahren bei den Dragonern gedient, und einer meiner Kameraden, den ich ziemlich gern hatte, war, wenn ich nicht irre, ein Bruder von Ihnen. Ich glaube, Sie hatten einen Bruder, der seiner Familie viel Kummer machte und fortlief?…«

»Heißen Sie auch wirklich Stahl?« entgegnet der Eisenwerksbesitzer mit veränderter Stimme.

Der Kavallerist stockt und blickt ihn an. Sein Bruder springt auf, ruft ihn beim Namen und ergreift seine beiden Hände.

»Du bist zu rasch für mich!« ruft der Kavallerist, und Tränen treten ihm in die Augen. »Was machst du, mein lieber alter Junge? Ich hätte nie gedacht, daß du dich auch nur halb so sehr freuen würdest, mich zu sehen. Wie geht dir’s, mein lieber alter Junge, wie geht dir’s?«

Sie schütteln sich die Hände und umarmen einander immer und immer wieder, und der Kavallerist wiederholt immer noch mechanisch seine Frage, wie geht dir’s, mein lieber alter Junge, und beteuert, daß er nie geglaubt hätte, sein Bruder würde sich auch nur halb so freuen, ihn wieder zu sehen!

»Weit entfernt davon, dachte ich natürlich gar nicht daran, mich zu erkennen zu geben«, erklärt er nach einem ausführlichen Bericht, wie es ihm die ganze Zeit über ergangen. »Ich dachte, wenn du meinen Namen nur irgend mit Nachsicht anhörtest, würde ich mich vielleicht allmählich dazu entschließen können, dir einen Brief zu schreiben. Aber ich wäre durchaus nicht überrascht gewesen, wenn du es als eine nichts weniger als angenehme Nachricht aufgenommen hättest, von mir zu hören.«

»Wir werden dir zu Hause schon zeigen, wie wir es aufnehmen, George«, entgegnet der Eisenwerksbesitzer. »Es ist heute ein großer Tag bei uns, und du hättest an keinem besseren ankommen können, du sonnenverbrannter alter Soldat. Ich treffe heute mit meinem Sohn Watt eine Übereinkunft, daß er heute über ein Jahr ein so schönes und gutes Mädchen heiraten darf, wie du je eins auf deinen Reisen gesehen hast. Sie reist morgen mit einer deiner Nichten nach Deutschland ab, um ihre Erziehung zu vollenden. Wir feiern heute die Sache, und du sollst der Held des Festes sein.«

Diese Aussicht überwältigt Mr. George anfangs so vollkommen, daß er die angetragene Ehre mit großer Entschlossenheit zurückweist. Seinem Neffen – dem er seine Beteuerungen wiederholt, daß er sich nie hätte träumen lassen, sie würden sich so freuen, ihn wiederzusehen – und seinem Bruder gelingt es jedoch endlich, ihn zu überreden, und sie bringen ihn nach einem eleganten Hause, in dessen ganzer Einrichtung sich eine angenehme Mischung der ursprünglichen einfachen Bedürfnisse von Vater und Mutter und der Gewohnheiten zeigt, die der veränderten Lebensstellung und der besseren Erziehung der Kinder angepaßt sind.

Mr. George wird sehr bestürzt vor den Reizen und der Bildung seiner gegenwärtigen Nichten und der Schönheit Rosas, seiner zukünftigen Nichte, und den liebreichen Begrüßungen dieser jungen Damen, die er halb im Traum entgegennimmt; arg beschämt ihn auch das ehrerbietige Benehmen seines Neffen, und er fühlt sich so recht als Taugenichts der Familie. Aber es herrscht so großer Jubel, soviel Freude, und alles ist so gemütvoll und ungezwungen, daß er sich als alter gerader Soldat durchhilft. Sein Versprechen, zur Hochzeit zu kommen und die Braut wegzugeben, wird mit allgemeiner Freude aufgenommen.

Es ist ihm noch ganz wirr im Kopf, als er sich in das Staatsbett in seines Bruders Haus legt und über alle diese Sachen nachdenkt und seine Nichten – wie wundervoll sie abends waren in ihren wallenden Musselinkleidern – im Geiste über die Bettdecke deutsche Reigen tanzen sieht.

Die Brüder haben am nächsten Morgen in dem Zimmer des Eisenwerksbesitzers ein Privatgespräch miteinander, und der ältere setzt in seiner klaren verständigen Weise auseinander, wie er George am besten in seinem Geschäft verwenden könne, aber George drückt ihm die Hand und unterbricht ihn.

»Bruder, ich danke dir Millionen Mal für dein mehr als brüderliches Willkommen, und noch Millionen Mal für deine mehr als brüderlichen Absichten, aber ich habe mich bereits entschieden. Ehe ich ein Wort darüber sage, möchte ich dich gerne in einer Familienangelegenheit zu Rate ziehen. – Auf welche Weise«, sagt der Kavallerist, verschränkt die Arme und blickt seinen Bruder, felsenfest entschlossen, sich nicht überreden zu lassen, an, »auf welche Weise wäre meine Mutter zu bewegen, mich auszustreichen?«

»Ich verstehe nicht recht, was du meinst, George«, entgegnet der Eisenwerksbesitzer.

»Ich meine, Bruder, wie meine Mutter zu bewegen wäre, mich auszustreichen? Sie muß irgendwie dazu gebracht werden.«

»Dich aus ihrem Testament zu streichen, glaube ich, meinst du?«

»Natürlich! Mit einem Wort«, sagt der Kavallerist und schlägt seine Arme noch entschlossener übereinander, »ich meine, mich ausstreichen.«

»Lieber George, ist es wirklich so unumgänglich notwendig, daß das geschieht?«

»Unbedingt! Wenn es nicht geschieht, wäre es eine Gemeinheit von mir gewesen, zurückzukommen. Ich würde bestimmt eines Tages wieder ausreißen. Ich habe mich nicht zu Hause wieder eingeschlichen, um deinen Kindern, wenn nicht dir, ihre Rechte zu rauben. Ich, der ich die meinigen längst verwirkt habe! Wenn ich bleiben und offen jedem ins Gesicht sehen soll, muß ich gestrichen werden. Rede doch! Du bist ein Mann von anerkanntem Scharfsinn und kannst mir sagen, wie es anzufangen ist.«

»Ich kann dir sagen, George«, entgegnet der Eisenwerksbesitzer bedächtig, »wie es nicht anzufangen ist, was, hoffe ich, dem Zweck ebensogut entsprechen wird. Sieh unsre Mutter an, denke an sie, rufe dir ihre Ergriffenheit zurück, als sie dich wiederfand. Glaubst du wirklich, irgendeine Rücksicht auf der Welt könne sie dazu bringen, ihrem Lieblingssohne so etwas anzutun ? Glaubst du, es wäre eine Aussicht auf ihre Beistimmung vorhanden, die nur im mindesten den Schmerz aufwiegen könnte, den ihr der Vorschlag verursachen würde? Wenn du das glaubst, so irrst du dich. Nein, George! Du mußt dich damit abfinden, unausgestrichen zu bleiben. Ich glaube« – auf dem Gesicht des Eisenwerksbesitzers zeigt sich ein verschmitztes Lächeln, wie er seinen Bruder beobachtet, der, aufs tiefste enttäuscht, nachsinnt – »ich glaube aber doch, du könntest die Sache fast ebensogut einrichten, als ob es geschehen wäre.«

»Wieso, Bruder?«

»Wenn du schon so darauf erpicht bist, so kannst du ja alles, was du zu erben das Unglück haben wirst, wem du willst, testamentarisch vermachen.«

»Das ist wahr!« sagt der Kavallerist und sinnt wieder nach. Dann fragt er angelegentlich und ergreift seines Bruders Hand, »möchtest du das nicht deiner Frau und deiner Familie sagen?«

»Aber mit Vergnügen.«

»Ich danke dir. Du könntest vielleicht sagen, daß ich zwar zweifellos ein Vagabund, aber ein Vagabund aus Abenteuerlust und nicht aus Gemeinheit bin.«

Der Eisenwerksbesitzer unterdrückt sein verschmitztes Lächeln und nickt ernsthaft.

»Ich danke dir. Danke dir wirklich. Mir fällt damit ein Stein vom Herzen«, sagt der Kavallerist und atmet tief auf. »Aber lieber wär’s mir gewesen, sie hätte mich ausgestrichen.«

Die Brüder sehen sich sehr ähnlich, wie sie so einander gegenübersitzen, aber eine gewisse massive Einfachheit und Weltunkenntnis zeichnen den Kavalleristen aus.

»Nun also zu meinen Plänen«, fährt er fort und schüttelt seine Verstimmung ab. »Du bist so brüderlich gewesen, mir vorzuschlagen, hier zu bleiben und einen Platz unter den Früchten deiner Ausdauer und deines Verstandes einzunehmen. Ich danke dir herzlich. Das ist mehr als brüderlich, und wirklich, ich danke dir von Herzen dafür«, er schüttelt ihm lange und warm die Hand. »Aber, um nur bei der Wahrheit zu bleiben, Bruder, ich – ich bin eine Art Unkraut, und es ist zu spät, mich in einen gepflegten Garten zu verpflanzen.«

»Lieber George«, entgegnet der Eisenwerksbesitzer und wendet ihm lächelnd seine breite feste Stirn zu, »das ist meine Sache. Laß mich nur machen.«

George schüttelt den Kopf. »Du könntest es, wenn überhaupt jemand, daran zweifle ich nicht. Aber es ist unausführbar. Es geht nicht, Bruder! Andrerseits trifft es sich, daß ich Sir Leicester Dedlock seit seiner Krankheit – die ihn infolge seines Unglücks in der Familie befallen hat – ein wenig von Nutzen sein kann. Er nimmt diese Hilfe lieber von dem Sohne unsrer Mutter an als von irgendeinem andern.«

»Allerdings, lieber George«, entgegnet Mr. Rouncewell, während ein leichter Schatten sein offenes Gesicht überfliegt, »wenn du vorziehst, in Sir Leicester Dedlocks Leibgarde zu dienen…«

»So ist’s, Bruder!« unterbricht ihn der Kavallerist und legt die Hand wieder auf die Knie. »So ist’s! Dir gefällt der Gedanke nicht recht, aber für mich ist es das Beste. Du bist nicht gewohnt, dir kommandieren zu lassen; ich bin es. Alles um dich her ist in vollständiger Ordnung und Disziplin; bei mir muß alles in Ordnung und unter Disziplin gehalten werden. Wir betrachten die Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus. Ich sage weiter nichts von meinen Soldatenmanieren, weil ich mich gestern abend wirklich wohl befunden habe, und ich glaube auch nicht, daß man sich hier daran stoßen würde, wenn man sich einmal dran gewöhnt hätte, aber es ist am besten, ich lasse mich in Chesney Wold – wo mehr Platz für ein Stück Unkraut, wie ich bin, ist – nieder, und unsre gute alte Mutter wird es überdies glücklich machen. Deshalb will ich Sir Leicester Dedlocks Anerbieten annehmen. Wenn ich nächstes Jahr wiederkomme, um die Braut wegzugeben, oder wenn ich sonst wiederkomme, werde ich verständig genug sein, um die Leibgardenbrigade im Hintertreffen zu halten und sie nicht auf deinem Terrain manövrieren zu lassen. – Nochmals, ich danke dir herzlich und denke mit Stolz an die Rouncewells, deren Haus du begründen wirst.«

»Du mußt dich am besten kennen, George«, sagt der Eisenwerksbesitzer und erwidert den Händedruck seines Bruders, »und vielleicht kennst du mich besser als ich mich selbst. Tue, was du willst. Schon, damit wir nicht wieder auseinanderkommen.«

»Nun, das ist wohl nicht zu befürchten!« entgegnet der Kavallerist. »Aber ehe ich wieder heim reite, Bruder, möchte ich dich bitten – wenn du so gut sein willst –, einen Brief für mich durchzusehen. Ich habe ihn mit hierher genommen, um ihn von hier aus abzuschicken, da der Name Chesney Wold die Person, an die er geschrieben ist, wahrscheinlich schmerzlich berühren würde. Ich bin nicht sehr ans Korrespondieren gewöhnt, und gerade an diesem Briefe liegt mir sehr viel, da er zugleich offenherzig und zartfühlend sein soll.«

Mit diesen Worten gibt er dem Eisenwerksbesitzer einen Brief, mit etwas blasser Tinte, eng, aber mit einer hübschen runden Hand geschrieben, zu lesen:

»Miß Esther Summerson.

Da mir Inspektor Bucket mitteilte, daß man unter den Papieren einer gewissen Person einen an mich gerichteten Brief gefunden habe, so nehme ich mir die Freiheit, Sie in Kenntnis zu setzen, daß es sich bloß um eine schriftliche Instruktion aus dem Auslande handeln kann, in der stand, wann, wo und wie ich einen beigeschlossenen Brief an eine junge und schöne Dame, die damals unverheiratet in England lebte, abgeben sollte. Ich habe damals alles genau befolgt.

Ich nehme mir außerdem die Freiheit, Sie in Kenntnis zu setzen, daß man mir dieses Papier, nur um eine Handschrift damit zu vergleichen, abverlangte, und daß ich es auch dazu nicht herausgegeben hätte, obgleich es mir unter den in meinem Besitz befindlichen als das harmloseste erschien, wenn man mir nicht die Pistole auf die Brust gesetzt hätte. Ich nehme mir ferner die Freiheit, zu erwähnen, daß, wenn ich hätte vermuten können, ein gewisser unglücklicher Herr sei noch am Leben gewesen, ich nicht eher geruht haben würde, als bis ich ihn entdeckt und meinen letzten Pfennig mit ihm geteilt hätte. Nicht nur aus Pflichtgefühl, sondern, glauben Sie mir, aus alter Anhänglichkeit. Aber er war (dienstlich) als ertrunken gemeldet worden und fiel tatsächlich nachts in einem irischen Hafen von einem eben erst aus Westindien angekommenen Transportschiff über Bord, wie ich sowohl von Offizieren wie von der Mannschaft des Schiffes gehört habe. Der Fall ist übrigens, soviel ich weiß, auch später (dienstlich) bestätigt worden.

Ich nehme mir außerdem die Freiheit, zu versichern, daß ich in meiner bescheidenen Eigenschaft als Gemeiner stets Ihr ergebenster Diener bin und immer bleiben werde und die hohen Eigenschaften, die Sie besitzen, über alles und weit mehr, als es die gegenwärtigen Zeilen ausdrücken können, schätze.

Ich habe die Ehre zu unterzeichnen

George.«

»Etwas förmlich«, bemerkt der ältere Bruder und faltet den Brief mit etwas verwirrter Miene wieder zusammen.

»Enthält aber doch nichts, was man nicht einem Muster von einer jungen Dame schreiben könnte?«

»Durchaus nichts.«

Der Brief wird also versiegelt und mit unter die Eisenkorrespondenz des Tages gelegt, um auf die Post gebracht zu werden.

Sodann nimmt Mr. George herzlichen Abschied von der Familie und macht sich fertig und sattelt sein Pferd. Sein Bruder möchte jedoch noch gern ein wenig mit ihm beisammen sein und schlägt ihm vor, ihn in einem leichten offenen Wagen nach dem Orte zu bringen, wo er zu übernachten gedenkt, und dort bis zum Morgen bei ihm zu bleiben, während ein Bedienter mit dem alten Grauschimmel von Chesney Wold vorausreitet. Der Vorschlag wird bereitwillig angenommen, und es folgt eine gemütliche Fahrt, ein gemütliches Abendessen und ein gemütliches Frühstück in brüderlicher Eintracht. Dann schütteln sie sich noch ein Mal lange und herzlich die Hände und scheiden; der Eisenwerksbesitzer wendet sein Gesicht dem Rauch und den Essen wieder zu und der Kavallerist dem frischgrünen Lande.

Zeitig des Nachmittags hört man den gedämpften Schall seines schweren militärischen Trabes auf dem Rasen in der Allee, wie er, im Geiste mit Säbel und Küraß rasselnd und klirrend, unter den alten Ulmen dahinreitet.

64. Kapitel


64. Kapitel

Esthers Erzählung

Eines Morgens, kurz nach unsrer letzten Unterredung, drückte mir mein Vormund ein versiegeltes Kuvert in die Hand und sagte: »Das ist für nächsten Monat, mein Kind.« Ich fand zweihundert Pfund darin.

In aller Ruhe begann ich alle nötigen Vorbereitungen zu treffen und richtete mich dabei nach dem Geschmack meines Vormundes, den ich natürlich ganz genau kannte. Auch bei Beschaffung meiner Garderobe nahm ich darauf Bedacht und hoffte, daß mir alles gut gelingen sollte. Ich besorgte alles ganz im geheimen, weil ich von meiner alten Befürchtung nicht vollkommen frei war, Ada könne meinetwegen bekümmert sein, und weil mein Vormund ebenfalls nicht weiter davon sprach. Ich nahm an, daß wir jedenfalls in aller Stille getraut werden würden. Vielleicht würde ich nur zu Ada zu sagen haben: Mein Liebling, möchtest du nicht morgen zu unserm Hochzeitsmahl kommen? Vielleicht würde unsre Trauung ebenso bescheiden sein wie die ihrige, und ich brauchte ihr nicht eher etwas zu sagen, als bis alles vorbei war. Ich dachte, wenn ich zu bestimmen hätte, würde ich es so arrangieren.

Nur Mrs. Woodcourt gegenüber machte ich eine Ausnahme. Ich sagte ihr, daß ich in Bälde meinen Vormund heiraten würde und daß wir schon seit einiger Zeit verlobt wären. Sie billigte dies höchlichst. Sie konnte nicht genug um mich sein und war gegen früher, als wir sie zuerst kennen gelernt hatten, merkwürdig sanft geworden. Es gab keine Mühe, der sie sich nicht meinetwegen unterzogen hätte; aber ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich ihr nur soviel zu machen gestattete, als gerade unumgänglich nötig war, sie ihren guten Willen beweisen zu lassen.

Natürlich durfte ich bei all dem meinen Vormund nicht vernachlässigen, und auch mein Herzenskind nicht. Immerhin hatte ich also sehr viel zu tun – was mir ganz angenehm war –, und was Charley betraf, so kam sie vor lauter Näherei gar nicht mehr zum Vorschein. Sich mit großen Haufen von Garderobestücken – Körbe und Tische voll – zu umgeben und ein wenig daran zu arbeiten und sehr viel Zeit darauf zu verwenden, mit großen runden Augen das anzusehen, was noch zu machen war, und sich einzureden, sie habe alle Hände voll zu tun, das waren so Charleys große Würden und Freuden.

Was das Testament anbetraf, muß ich sagen, konnte ich mit meinem Vormund nicht recht derselben Meinung sein und hatte einige sanguinische Hoffnungen auf »Jarndyce kontra Jarndyce« gesetzt. Wer von uns recht hatte, mußte sich bald zeigen. Ich meinesteils war jedenfalls hoffnungsfroh gestimmt. Bei Richard hatte die Entdeckung einen Anfall von Geschäftigkeit und Aufregung zur Folge, der ihn eine Zeitlang aufrecht erhielt, aber die wirkliche Elastizität der Hoffnung schien er verloren zu haben und nur mehr in fieberischer Wartestimmung zu sein. Aus einer Äußerung meines Vormundes, als wir eines Tages von dieser Sache sprachen, schloß ich, daß unsre Vermählung erst nach dem Beginn der angekündigten Session stattfinden sollte, und ich malte mir meine Hochzeitsfeier um so schöner aus, als ich hoffte, dann Richard und Ada bereits in besseren Umständen zu wissen.

Die Tagfahrt stand schon sehr nahe bevor, als mein Vormund eine Reise nach Yorkshire in Mr. Woodcourts Angelegenheiten machte. Er hatte mir schon früher gesagt, daß seine Anwesenheit notwendig sein würde.

Ich war gerade eines Abends von meiner lieben Ada nach Hause gekommen und saß mitten unter allen meinen neuen Kleidern, sah sie mir an und dachte über allerlei nach, als ich einen Brief von ihm erhielt. Er forderte mich darin auf, zu ihm zu kommen, bezeichnete mir die Kutsche, mit der ich fahren und zu welcher Stunde des Morgens ich die Stadt verlassen müßte. Er setzte in einer Nachschrift hinzu, daß ich nur wenige Stunden von Ada weg sein würde.

Ich war damals auf nichts weniger als auf eine Reise gefaßt, aber in kurzer Zeit machte ich mich fertig und fuhr mit dem Schlag der bezeichneten frühen Morgenstunde ab. Ich reiste den ganzen Tag und grübelte wohl ununterbrochen, wozu man mich in Yorkshire brauchen würde; einmal dachte ich mir dies, dann wieder jenes aus, aber nie kam ich der Wahrheit nahe.

Es war Nacht, als ich das Ziel meiner Reise erreichte, und mein Vormund erwartete mich. Das war mir eine große Erleichterung, denn gegen Abend hatte ich zu fürchten angefangen – um so mehr, da sein Brief nur kurz gewesen war –, daß er krank sein könnte. Ich fand ihn jedoch so wohl wie nur möglich, und als ich sein gutmütiges Gesicht wieder vor Freundlichkeit strahlen sah, sagte ich mir, daß er gewiß wieder heimlich eine gute Tat verrichtet haben müßte. Es gehörte kein großer Scharfsinn dazu, denn sein Hiersein war schon an und für sich eine gute Tat.

Das Abendessen stand im Gasthof bereit, und als wir bei der Tafel saßen, sagte er:

»Bist gewiß sehr neugierig, kleines Frauchen, warum ich dich hierher gerufen habe.«

»Nun ja«, gab ich zu, »ich halte mich zwar für keine Fatime und dich für keinen Blaubart, aber neugierig bin ich doch ein wenig.«

»Nun, damit du ruhig schlafen kannst, mein Liebling«, entgegnete er heiter, »wollen wir nicht erst bis morgen warten, um es dir zu sagen. Es hat mir immer sehr auf dem Herzen gelegen, Woodcourt irgendwie meinen Dank für seine Menschlichkeit gegenüber dem armen unglücklichen Jo und für die unschätzbaren Dienste, die er Richard und uns allen geleistet hat, zu beweisen. Als es ausgemacht war, daß er hierher ziehen würde, fiel es mir ein, ihn zu bitten, ein anspruchsloses und passendes Häuschen, worin er wohnen könnte, von mir anzunehmen. Deshalb gab ich den Auftrag, ein solches zu suchen, und es hat sich wirklich eins unter sehr annehmbaren Bedingungen gefunden, und ich habe es für ihn herrichten und bewohnbar machen lassen. Als ich nun vorgestern Nachricht erhielt, daß es fertig sei, und es mir ansehen kam, fand ich, daß ich doch nicht Wirtschaftskenntnisse genug besäße, um zu wissen, ob alles so sei, wie es sein müßte. Ich schickte daher nach der besten kleinen Hausfrau, die nur zu haben ist, damit sie ihr Urteil ausspräche und ihren Rat erteilte. Und da sitzt sie«, sagte mein Vormund, »und lacht und weint schon wieder in einem Atem!«

Weil er so lieb, so gut, so bewunderungswürdig war. Ich versuchte, ihm zu sagen, wie sehr es mich ergriff, konnte aber kein Wort über die Lippen bringen.

»Still, still!« sagte er. »Du machst zu viel Aufhebens davon, kleines Frauchen. Wie du schluchzst, schluchzst, Mütterchen, wie du schluchzst!«

»Vor unaussprechlicher Freude, aus dankerfülltem Herzen.«

»Nun, nun, schon gut, schon gut«, besänftigte er mich. »Es freut mich, daß du es billigst. Ich dachte es mir gleich. Es sollte eine angenehme Überraschung für die kleine Herrin von Bleakhaus sein.«

Ich küßte ihn und trocknete mir die Tränen. »Ich weiß es!« sagte ich. »Ich habe seit langer Zeit auf deinem Gesicht gelesen, daß du so etwas Ähnliches vorhattest.«

»So? Hast das wirklich, mein Liebling?« fragte er. »Nein, wie gut Mütterchen Durden einem etwas vom Gesicht ablesen kann!«

Er lächelte verschmitzt heiter, daß ich bald wieder fröhlich war und mich fast schämte, es nicht gleich von Anfang gewesen zu sein. Als ich zu Bett ging, weinte ich. Ich muß gestehen, ich weinte; aber ich hoffe, es war vor Freude, wenn ich mir auch dessen nicht ganz gewiß bin. Ich wiederholte mir im Geist jedes Wort des Briefes, den er mir damals geschrieben, zwei Mal.

Ein wunderschöner Sommermorgen folgte diesem Abend, und nach dem Frühstück gingen wir Arm in Arm nach dem Hause, über das ich mein gewichtiges Hausfrauenurteil abgeben sollte. Wir traten durch eine Tür in einer Mauer, zu der mein Vormund den Schlüssel hatte, in einen Blumengarten, und das erste, was ich sah, war, daß die Beete und Blumen alle so angeordnet waren wie die in Bleakhaus.

»Du siehst, mein Kind«, bemerkte er und blieb mit erfreutem Gesicht stehen, um mich zu beobachten, »da ich keine bessere Einteilung kannte, habe ich deine nachgemacht.«

Wir gingen durch einen hübschen kleinen Obstgarten, wo die Kirschen aus dem grünen Laube hervorglänzten und der Schatten der Apfelbäume auf dem Rasen zitterte, nach dem Hause – einem Häuschen, einem ganz ländlichen Häuschen mit Zimmern wie für Puppen. Ein so allerliebster Ort, so still und so schön, mit so fruchtbarer und freundlicher Gegend rings umher, mit glänzenden Wassern im Hintergrunde, hier von frischem Sommergrün überschattet, dort eine brausende Mühle drehend, dann wieder in der Nähe glitzernd durch eine Wiese fließend, an der heitern Stadt vorbei, wo Ballspieler sich in munteren Gruppen sammelten und über einem weißen Zelt eine Fahne wehte, mit der der linde Westwind spielte. Und überall, wie wir durch die hübschen Zimmer und zu den kleinen ländlichen Verandatüren hinaus und unter dem niedlichen hölzernen Säulengang, von Waldrebe, Jasmin und Jelängerjelieber umschlungen, gingen, sah ich in den Tapeten, in den Farben des Hausrats und in der Anordnung aller der hübschen Gegenstände meine kleinen Arrangements und Erfindungen, die sie immer so belachten und in den Himmel hoben, kurz, ganz meinen eigenen Geschmack berücksichtigt.

Ich konnte nicht genug meine Bewunderung ausdrücken, wie schön alles war, mich aber eines geheimen inneren Zweifels nicht erwehren, als ich es sah. Ich dachte, wird es Mr. Woodcourt glücklich machen? Würde es nicht für seinen Seelenfrieden besser sein, wenn ihn nicht alles so an mich erinnerte? Wenn ich auch nicht das war, wofür er mich hielt, so liebte er mich doch innig, das wußte ich, und es mußte ihn alles hier schmerzlich an das mahnen, was er verloren zu haben glaubte. Ich wünschte ja nicht, daß er mich vergäße – vielleicht würde er es auch ohne diese Erinnerungen nicht tun –, aber mein Weg war leichter als der seine, und ich hätte mich selbst damit aussöhnen können, wenn es ihn nur glücklicher gemacht hätte.

»Und jetzt, kleines Frauchen«, sagte mein Vormund, den ich nie so stolz und froh gesehen hatte, als wie er mir dies alles zeigte und beobachtete, welchen Eindruck es auf mich machte, »nun kommt das letzte, der Name des Hauses.«

»Und wie heißt es, lieber Vormund?«

»Liebes Kind», sagte er, »sieh selbst nach.«

Er führte mich nach der Eingangspforte, der er bis jetzt ausgewichen war, und fragte mich, indem er stillstand, ehe wir hinausgingen:

»Liebes Kind, du errätst wirklich den Namen nicht?«

»Nein!« sagte ich.

Wir gingen zur Pforte hinaus; und darüber stand geschrieben: »Bleakhaus«

Er führte mich zu einer Laubenbank in der Nähe, setzte sich neben mich, ergriff meine Hand und sprach:

»Mein Herzenskind, bei dem, was zwischen uns bestanden hat, habe ich, wie ich hoffe, wahrhaft dein Glück im Auge gehabt. Als ich dir den Brief schrieb, auf den du selbst die Antwort brachtest«, – er lächelte, wie er davon sprach – »hatte ich mein eignes Glück wohl sehr im Auge, aber das deinige auch. Ob ich unter andern Verhältnissen den alten, von mir so oft, als du fast noch ein Kind warst, geträumten Traum erneuern würde, dich einmal zu meiner Gattin zu machen, brauche ich mich nicht zu fragen. Ich erneuerte ihn und schrieb meinen Brief, und du brachtest die Antwort. Verstehst du, mein Kind, was ich meine?«

Mich fröstelte, und ich zitterte heftig, verlor aber kein Wort von dem, was er sprach. Wie ich dasaß und ihn fest ansah und die Sonnenstrahlen durch das Laub hindurch auf sein Haupt fielen, kam es mir vor, als ob der Glorienschein um ihn wie der Glanz der Engel sein müßte.

»Höre mir zu, mein Liebling, aber sprich jetzt nicht. Die Reihe zu sprechen ist an mir. Wann ich anfing zu zweifeln, ob das, was ich beabsichtigte, dir wirklich zum Glück gereichen würde, tut nichts zur Sache. Woodcourt kam zurück, und ich hatte bald keinen Zweifel mehr.«

Ich schlang meine Arme um ihn, barg mein Haupt an seiner Brust und weinte.

»Bleib hier still und vertrauensvoll ruhen, mein Kind«, sagte er und drückte mich sanft an sich. »Ich bin jetzt dein Vormund und dein Vater wieder. Bleib hier ruhen.«

Besänftigend wie das leise Rauschen der Blätter, ruhig wie die Sommerluft und heiter und strahlend wie der Sonnenschein, fuhr er fort:

»Versteh mich recht, mein liebes Kind. Ich zweifelte nie, daß du zufrieden und glücklich an meiner Seite sein würdest, wo du so voller Pflichttreue und Hingebung bist, aber ich sah auch, mit wem du glücklicher sein müßtest. Daß ich sein Geheimnis durchschaute, als unser Hausmütterchen noch nichts davon ahnte, ist kein Wunder – kannte ich doch alles Gute an ihr, das immer bleiben wird, viel besser als sie selbst. Allan Woodcourt hat mir schon längst sein Vertrauen geschenkt, wenn ich ihn auch erst gestern wenige Stunden vor deiner Ankunft in meine Pläne einweihte. Aber meiner Esther glänzendes Beispiel durfte nicht verloren gehen; es durfte kein Jota ihrer hohen Eigenschaften ungesehen und ungeehrt bleiben; sie durfte in dem Geschlechte der Morgan-ap-Kerrigs nicht bloß geduldet werden, nein, nicht um soviel Gold wie alle Berge von Wales zusammen!«

Er hielt inne, um mich auf die Stirn zu küssen, und ich schluchzte und weinte von neuem. Ich glaubte die schmerzliche Wonne seines Lobes nicht ertragen zu können.

»Still, kleines Frauchen! Weine nicht; heute soll ein Tag der Freude sein. Ich habe mich Monate und Monate darauf gefreut«, sagte er frohlockend. »Nur noch ein paar Worte, Mütterchen, und ich habe gesagt, was ich zu sagen habe. Entschlossen, auch kein Atom des Wertes meiner Esther verloren gehen zu lassen, nahm ich mir Mrs. Woodcourt besonders vor. ‚Hören Sie, Madam‘, sagte ich, ‚ich sehe klar – und weiß es außerdem auch –, daß Ihr Sohn mein Mündel liebt. Ich weiß auch, daß mein Mündel Ihren Sohn liebt, aber ihre Liebe einem Gefühl der Pflicht und der Hingebung opfern will, und zwar so vollständig und so unselbstsüchtig, daß Sie es nie ahnen werden, wenn Sie sie auch Tag und Nacht beobachten.‘ Dann erzählte ich ihr unsre ganze Geschichte –unsre, deine und meine. ‚Nun mache ich Ihnen den Vorschlag, Madam‘, sagte ich, ‚besuchen Sie uns, nachdem Sie dies erfahren haben, und wohnen Sie bei uns. Kommen Sie zu uns und sehen Sie mein Kind zu jeder Stunde; halten Sie das, was Sie sehen, gegen ihren Stammbaum, der so und so ist‘, – ich verschmähte, ihr etwas zu verhehlen – ‚und sagen Sie mir, was echtes, reines Blut ist, wenn Sie sich die Sache recht ordentlich überlegt haben.’« Aber Ehre sei ihrem alten welschen Blute, meine Liebe!« rief mein Vormund voll Begeisterung. »Ich glaube, ihr Herz schlägt nicht weniger warm, nicht weniger bewundernd, nicht weniger liebevoll für Mütterchen Durden als mein eignes!«

Er hob zärtlich meinen Kopf in die Höhe und küßte mich auf seine alte väterliche Weise wieder und wieder. Welch ein Licht ging mir jetzt auf, wenn ich an die Beschützermiene dachte, die mir so oft an ihm aufgefallen war!

»Und noch ein letztes Wort. Als Allan Woodcourt mit dir sprach, meine Liebe, geschah es mit meinem Wissen und meiner Zustimmung – aber ich ermutigte ihn in keiner Weise, durchaus nicht, denn diese kleinen Überraschungen waren meine große Belohnung, und ich war zu geizig, um nur ein Jota davon zu missen. Er sollte mir alles erzählen, was vorgegangen war, und er tat es. Ich habe weiter nichts mehr zu sagen, mein Herzlieb. Allan Woodcourt stand neben der Leiche deines Vaters – stand neben der deiner Mutter. Dies ist Bleakhaus. Heute gebe ich diesem Hause seine kleine Herrin, und ich schwöre es zu Gott, es ist der schönste Tag meines ganzen Lebens!«

Er stand auf und zog mich an seine Brust.

Wir waren nicht länger allein.

Mein Gatte – volle sieben glückliche Jahre sind es jetzt, daß ich ihn so genannt – stand neben mir.

»Allan«, sagte mein Vormund, »nehmen Sie von mir als freiwillige Gabe das beste Weib, das jemals ein Mann gehabt hat. Kann ich Ihnen mehr sagen, als daß ich weiß, daß Sie es verdienen?! Nehmen Sie mit ihr das Häuschen, das sie Ihnen zubringt. Sie wissen, wie glücklich sie es machen wird, Allan; Sie wissen, was sie für das andre Bleakhaus gewesen ist. Erlauben Sie, mich manchmal in sein Glück zu teilen, und was opfere ich dann? Nichts, nichts.« Er küßte mich noch einmal, und Tränen standen ihm im Auge, als er mit gedämpfterer Stimme sagte: »Liebe Esther, nach so vielen Jahren bedeutet dies doch eine Art Trennung. Ich weiß, daß mein Irrtum dir Schmerzen verursacht hat. Verzeihe deinem alten Vormund und räume ihm wieder seinen alten Platz in deinem Herzen ein; und lösche den Irrtum aus deinem Gedächtnis. Allan, hier, nehmen Sie mein liebes Kind hin!«

Er trat unter dem grünen Blätterdach hervor in den Sonnenschein draußen, wendete sich heiter nach uns um und sagte:

»Ich werde hier irgendwo in der Nähe zu finden sein. Es ist Westwind, kleines Frauchen, reiner Westwind! Es darf mir niemand mehr danken; denn ich kehre wieder zu meinen Junggesellengewohnheiten zurück, und wenn jemand auf diese Warnung nicht achtet, laufe ich fort und komme nie wieder!«

Oh, dieser Tag mit seinem Glück, seiner Freude, seinem Frieden, seiner Hoffnung, seiner dankerfüllten Seligkeit!

Wir sollten noch vor Ende dieses Monats getraut werden, aber der Zeitpunkt, wo wir unser Heim beziehen sollten, hing von Richard und Ada ab.

Am nächsten Tage reisten wir alle drei zusammen nach Hause. Sowie wir in der Stadt angekommen waren, begab sich Allan zu Richard, um ihm und meinem Herzenskinde die freudige Botschaft zu überbringen. So spät es war, gedachte ich sie doch vor dem Schlafengehen noch auf ein paar Minuten zu besuchen, ging aber zuerst mit meinem Vormund heim, um ihm seinen Tee zu bereiten und meinen alten Platz an seiner Seite einzunehmen, denn ich wollte nicht daran denken, daß er so bald leer werden sollte.

Als wir zu Hause ankamen, hörten wir, daß ein junger Mann im Laufe des Tages drei Mal nach mir gefragt hatte, und als er bei seinem dritten Besuch erfahren, daß ich nicht vor zehn Uhr abends zurückkehren würde, zurückgelassen habe, er werde um diese Zeit wiederkommen. Er hatte seine Karte drei Mal abgegeben. »Mr. Guppy.«

Da ich mir natürlich über den Zweck seiner Besuche Gedanken machte und in meinen Vorstellungen immer etwas Lächerliches mit seiner Person verband, kam es dazu, daß ich meinem Vormund lachend von Mr. Guppys früherem Heiratsantrag und seinem späteren Rücktritt erzählte.

»Oh, wenn sich die Sache so verhält, müssen wir diesen Helden unbedingt empfangen«, sagte mein Vormund.

So wurde also Befehl gegeben, Mr. Guppy vorzulassen, wenn er wieder erscheinen sollte, und kaum war das geschehen, meldete man ihn auch schon.

Er geriet sehr in Verlegenheit, als er meinen Vormund bei mir fand, faßte sich aber bald und sagte: »Wie geht es Ihnen, Sir?«

»Wie geht es Ihnen, Sir?« entgegnete mein Vormund.

»Ich danke Ihnen, Sir, es macht sich. Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Mutter, Mrs. Guppy von Old-Street-Road und meinen Freund Mr. Weevle vorstelle. Mein Freund hat den Namen Weevle nur angenommen, wirklich und eigentlich heißt er Jobling.«

Mein Vormund bat die Herrschaften, Platz zu nehmen, und alle drei setzten sich.

»Tony«, begann Mr. Guppy zu seinem Freund nach einer Verlegenheitspause. »Willst du den Fall vortragen?«

»Tu es doch selber«, entgegnete der Freund, ein wenig kurz angebunden.

»Sehen Sie, Mr. Jarndyce, – ehüm –«, fing Mr. Guppy nach kurzem Besinnen an, zum großen Entzücken seiner Mutter, was sie dadurch an den Tag legte, daß sie Mr. Jobling einen Stoß mit dem Ellbogen versetzte und mir auf die merkwürdigste Weise mit den Augen zuzwinkerte. »Ich hoffte, Miß Summerson allein zu finden, und war auf Ihre geehrte Gegenwart nicht vorbereitet. Miß Summerson hat Ihnen vielleicht gesagt, daß bei früheren Gelegenheiten etwas zwischen uns vorgefallen ist?«

»Miß Summerson hat mir allerdings eine derartige Mitteilung gemacht«, bestätigte mein Vormund lächelnd.

»Das erleichtert die Sache«, sagte Mr. Guppy. »Sir, ich habe meine Lehrzeit bei Kenge & Carboy absolviert und, wie ich glaube, zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Ich bin jetzt, nach einem Examen in einem Haufen von überflüssigem Unsinn, bei dem der Mensch blau anlaufen könnte, in der Anwaltsliste eingetragen und habe mein Zertifikat bekommen. Wenn Sie irgend wünschen sollten, kann ich es Ihnen zeigen.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Guppy«, wehrte mein Vormund ab. »Ich nehme – ich glaube, so lautet der juristische Ausdruck – die Existenz des Zertifikates als erwiesen an.«

Mr. Guppy ließ also das Papier, das er eben aus der Tasche ziehen wollte, stecken und fuhr fort:

»Ich selbst besitze zwar kein Kapital, aber meine Mutter hat ein kleines Vermögen in Form einer Leibrente«, – Mr. Guppys Mutter wackelte mit dem Kopfe, als ob sie sich über die Bemerkung gar nicht genug freuen könnte, hielt sich das Taschentuch vor den Mund und zwinkerte mir wieder mit den Augen zu – »und an ein paar Pfund für die Barauslagen im Geschäft – unverzinslich natürlich – wird es nie fehlen. Und das ist immerhin etwas, wie Sie wissen«, hob Mr. Guppy mit Gefühl hervor.

»Gewiß, ohne Zweifel«, erwiderte mein Vormund.

»Auch habe ich einige Beziehungen, hauptsächlich in der Gegend von Walcot-Square, Lambeth, und habe daher in jener Gegend ein Haus gemietet, das nach dem Urteil meiner Freunde spottbillig ist (die Abgaben lächerlich gering, und die Benutzung des unbeweglichen Besitzes im Zins mit eingeschlossen), und gedenke mich dort zu etablieren.«

Bei diesen Worten nahm Mrs. Guppys Kopfwackeln geradezu bedenkliche Dimensionen an, und schelmisch lächelnd blickte sie uns der Reihe nach an.

»Das Haus umfaßt sechs Räume, die Küche nicht mitgerechnet, und ist nach dem Urteil meiner Freunde eine bequeme Wohnung. Wenn ich von meinen Freunden spreche, so meine ich damit vor allem Mr. Jobling, der mich, glaube ich«, – Mr. Guppy sah ihn mit sentimentalem Gesicht an – »schon von Kindheit an kennt.«

Mr. Jobling bestätigte dies mit einem Kratzfuß unter dem Stuhle.

»Mein Freund Jobling wird mir seine Unterstützung als Substitut leihen und mit im Hause wohnen. Meine Mutter wird ebenfalls dort wohnen, wenn der Kontrakt ihres gegenwärtigen Quartiers in Old-Street-Road abgelaufen ist. An Gesellschaft wird es daher nicht fehlen. Mein Freund Jobling ist von Natur aristokratisch gesinnt; und außer daß er mit allem, was in den vornehmen Kreisen vorgeht, vertraut ist, teilt er die Ansichten, die ich jetzt entwickle.«

Mr. Jobling bestätigte: »Gewiß«, und zog sich ein wenig aus dem Ellbogenbereich der Mutter Mr. Guppys zurück.

»Da Sie Miß Summerson ins Vertrauen gezogen hat, so habe ich keine Veranlassung, Ihnen nochmals zu wiederholen – Mutter, sei so gut, und sei still –, daß Miß Summersons Bild früher meinem Herzen eingeprägt war und daß ich ihr einen Heiratsantrag machte.«

»Das habe ich gehört«, entgegnete mein Vormund.

»Umstände«, fuhr Mr. Guppy fort, »auf die ich keinen Einfluß hatte – sogar ganz das Gegenteil –, drängten eine Zeitlang dies Bild in den Hintergrund. Damals war Miß Summersons Benehmen höchst gentil, ich darf sogar hinzusetzen, edelmütig.«

Mein Vormund klopfte mir auf die Achsel und schien sich köstlich zu amüsieren.

»Ich bin nun selbst in einen solchen Gemütszustand gelangt«, sagte Mr. Guppy, »so daß ich mich meinerseits nicht weniger edelmütig zu benehmen wünsche. Es liegt mir viel daran, Miß Summerson zu beweisen, daß ich mich zu einer Höhe erheben kann, deren sie mich vielleicht kaum für fähig hält. Ich habe herausgefunden, daß das Bild, das, wie ich glaubte, aus meinem Herzen herausgerissen war, in Wirklichkeit nicht herausgerissen ist. Es übt immer noch einen gewaltigen Einfluß auf mich aus, und indem ich diesem Gefühle nachgebe, bin ich bereit, über die Verhältnisse wegzusehen, über die keiner von uns gebieten kann, und Miß Summerson den Antrag zu wiederholen, den ich die Ehre hatte, ihr früher zu machen. Ich bitte Miß Summerson hiermit um die Erlaubnis, das Haus in Walcot-Square, das Geschäft und mich selbst ihr zu Füßen legen zu dürfen.«

»Ungemein edelmütig. In der Tat, Sir«, bemerkte mein Vormund.

»Nun ja, Sir«, entgegnete Mr. Guppy mit Offenheit, »ich wünsche auch, edelmütig zu sein. Ich bin nicht der Ansicht, daß ich mir durch diesen Antrag bei Miß Summerson nichts vergebe. Durchaus nicht; und auch mein Freund ist dieser Ansicht. Aber doch liegen Verhältnisse vor, die ich gehorsamst bitte, als eine Art Gegenrechnung gegen etwaige kleine Mängel meinerseits in Erwägung zu ziehen, damit wir auf diese Weise zu einem glatten und unparteiischen Abschluß gelangen.«

»Ich übernehme es selbst, Sir, Ihre Miß Summerson gemachten Anträge zu beantworten«, sagte mein Vormund und griff lachend nach der Klingel. »Sie erkennt Ihre großmütige Absicht an und wünscht Ihnen guten Abend und fernerhin Wohlergehen.«

»Oh!« sagte Mr. Guppy mit verblüfftem Gesicht. »Heißt das soviel wie Annahme oder Verwerfung oder eventuelle Inbetrachtnahme?«

»Entschieden Verwerfung, wenn Sie gestatten«, entgegnete mein Vormund.

Mr. Guppy sah ratlos abwechselnd seinen Freund und seine Mutter, die plötzlich sehr zornig wurde, und den Fußboden und die Decke an.

»Wirklich ? – Dann, Jobling, wenn du der Freund bist, für den du dich ausgibst, solltest du eigentlich meine Mutter hinausführen und sie aus dieser Situation befreien.«

Mrs. Guppy weigerte sich jedoch entschieden, hinauszugehen, und wollte nichts davon hören. »Machen Sie doch selbst, daß Sie fortkommen«, sagte sie zu meinem Vormund. »Was soll das heißen? Ist mein Sohn nicht gut genug für Sie? Sie sollten sich schämen. Machen Sie selbst, daß Sie fortkommen.«

»Meine gute Frau«, entgegnete mein Vormund, »es ist doch wohl kaum vernünftig, mich aus meinem eignen Hause zu weisen.«

»Mir ganz wurst«, sagte Mrs. Guppy. »Hinaus mit Ihnen. Wenn wir Ihnen net gut gnug sin, so suchen Sie sich jemand, wo Ihnen gut genug is. Gehen Sie doch und suchen Sie einen.«

– Ich war ganz überrascht von der Plötzlichkeit, mit der Mrs. Guppys Lustigkeit in Angriffsstimmung umschlug. –

»Gehen Sie und suchen Sie sich einen, wo gut genug für Sie is«, wiederholte Mrs. Guppy. »Schauen Sie, daß Sie hinauskommen!« wiederholte sie in einem fort. »Hinaus!« Nichts schien sie so in Erstaunen zu setzen und so sehr zum Zorn zu reizen, als daß mein Vormund absolut nicht gehen wollte. »Warum schauen Sie denn nicht, daß Sie fortkommen? Worauf warten Sie eigentlich noch?«

»Mutter«, mischte sich jetzt ihr Sohn ein, der sich bis dahin immer nur stumm vor sie gestellt und sie mit einer Schulter zurückzuschieben versucht hatte, als sie auf meinen Vormund los wollte, »wirst du denn nicht endlich den Mund halten?«

»Nein, William«, rief sie, »nein! Ich will nicht. Erst muß er machen, daß er fortkommt. Ich will nicht.«

Mr. Guppy und Mr. Jobling nahmen schließlich die alte Dame, als sie gar zu arg zu schelten anfing, in die Mitte und brachten sie sehr gegen ihren Willen die Treppe hinunter. Ihre Stimme wurde mit jeder Stufe, die sie sie hinabschleiften, eine Oktave höher, und sie bestand beharrlich darauf, daß wir sofort gehen und jemand suchen sollten, »wo für uns gut genug wäre«, und vor allem, daß wir schauen sollten, daß wir fortkämen.

56. Kapitel


56. Kapitel

Verfolgung

Leidenschaftslos, wie es sich für vornehm erzogene Leute schickt, starrt das Stadtpalais der Dedlocks die andern Häuser der traurigstolzen Straße an, und kein äußeres Zeichen verrät, daß in seinem Innern etwas nicht in Ordnung ist. Kutschen rasseln, es wird an die Türen gehämmert, die Welt stattet Besuche ab, ältliche Circen mit dürren Hälsen und Pfirsichwangen, die etwas Gespensterhaftes haben in ihrer blühenden Röte, blenden die Augen der Menschheit. Bei Tageslicht erblickt, haben diese faszinierenden Geschöpfe eine fatale Ähnlichkeit mit Zwittergeschöpfen, halb Tod halb Dame. Aus den frostigen Marställen kommen elastisch gefederte Wagen, gelenkt von kurzbeinigen Kutschern mit flachsenen Perücken, die in daunenweichen Bockpolstern eingesunken sitzen, und hintenauf stehen Prunkmerkure, prächtig lange Stöcke in den Händen und dreieckige Hüte quer auf den Köpfen; ein Schauspiel für die Götter.

Unverändert starrt das Stadtpalais der Dedlocks vor sich hin, und Stunden vergehen, ehe die erhabene Schlummerruhe in seinem Innern gestört wird. Indessen leidet die schöne Volumnia an der üblichen allgemeinen Langeweile, und da sich gerade jetzt diese Krankheit zu einem besonders heftigen Anfall zuspitzt, so wagt sie sich endlich nach der Bibliothek, um eine Ortsveränderung vorzunehmen. Da sie auf ihr schüchternes Klopfen an der Tür keine Antwort bekommt, öffnet sie sie und blickt hinein. Sie sieht niemanden darin und nimmt daher Platz.

In dem grasüberwachsenen altertümlichen Bath sagt man der jugendlich munteren Dedlock nach, sie litte beständig unter einer quälenden Neugier, die sie bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten zwinge, mit einem goldeingefaßten Glas vor dem Auge herumzuschweben, um Gegenstände aller Art zu begucken. Tatsache ist, daß sie die gegenwärtige Gelegenheit benützt, wie ein Vogel über den Briefen und Papieren ihres Verwandten zu kreisen, bald dieses Dokument anzupicken, bald mit auf die Seite geneigtem Kopf jenes anzuschielen und, mit dem Glas vor dem Auge, wißbegierig und ruhelos von Tisch zu Tisch zu hüpfen. Im Laufe dieser Untersuchungen stolpert sie über etwas; und wie sie ihr Glas nach dieser Richtung wendet, sieht sie ihren Verwandten auf dem Boden liegen gleich einem gefällten Baum.

Volumnias herziger kleiner Lieblingsschrei bekommt einen ziemlich starken Anstrich von Wirklichkeit bei diesem überraschenden Anblick, und bald ist das ganze Haus in Bewegung.

Bediente stürzen die Treppen auf und ab, Klingeln werden heftig gezogen, Ärzte geholt, und Lady Dedlock wird gesucht, aber nirgends gefunden. Niemand hat sie gesehen oder gehört, seitdem sie zuletzt geklingelt hat. Man findet ihren Brief an Sir Leicester auf dem Tisch; aber es ist noch ungewiß, ob der Baronet nicht eine Botschaft aus einer andern Welt erhalten hat, die persönliche Antwort verlangt, und vorläufig sind ihm alle lebenden Sprachen und alle toten vollkommen gleichgültig.

Man legt den alten Herrn auf sein Bett, frottiert und fächelt ihn, legt ihm Eis auf den Kopf und versucht jedes Mittel, ihn wieder zum Bewußtsein zu bringen; aber der Tag vergeht, und es wird Nacht in seinem Zimmer, ehe das Röcheln seines Atmens aufhört und seine starren Augen auf das Licht reagieren, das man ihnen von Zeit zu Zeit vorhält. Aber als diese Veränderung einmal eingetreten ist, macht sie Fortschritte, und bald nickt er oder bewegt die Augen oder sogar die Hand zum Zeichen, daß er hört und versteht.

Als er diesen Morgen niederstürzte, war er ein schöner, stattlicher alter Herr, ein wenig mitgenommen von den Jahren, aber prächtig konserviert, und die Wangen voll und blühend. Jetzt liegt er auf seinem Bett, ein Greis mit verfallenen Zügen, der Schatten seiner selbst. Seine Stimme war voll und weich, und er fühlte sich seit langer Zeit so vollkommen überzeugt von der Wichtigkeit und hohen Bedeutung jedes seiner Worte für die gesamte Menschheit, daß seinen Reden ein Klang innewohnte, als hätten sie wirklich einen gewissen inneren Wert. Aber jetzt kann er nur flüstern; und was er flüstert, klingt wie das, was es ist – wie bloße Sinnlosigkeit und Kauderwelsch.

Seine treue Haushälterin steht neben seinem Bett. Sie ist die erste, die er bemerkt, und ihr Anblick hellt sein Gesicht auf. Nachdem er vergeblich versucht hat, sich durch Worte verständlich zu machen, verlangt er durch Zeichen einen Bleistift. So undeutlich, daß man ihn anfangs nicht versteht, bis die alte Haushälterin errät, was er haben will, und ihm eine Schiefertafel bringt.

Nachdem seine Hand eine Weile gezaudert hat, malt er langsam in einer Schrift, die nicht die seinige ist: »Chesney Wold?«

Nein, sagt ihm Mrs. Rouncewell, er befände sich in London und sei heute morgen in der Bibliothek plötzlich ohnmächtig geworden. Sie dankt dem Himmel, daß sie zufällig nach London gekommen ist und ihm beistehen kann.

»Es ist keine ernste oder gefährliche Krankheit, Sir Leicester. Sie werden sich morgen wieder besser befinden, Sir Leicester. Alle die Herren sagen es.« So spricht sie, und heiße Tränen laufen ihr über das schöne Matronengesicht.

Nachdem er sich im Zimmer umgesehen und mit besonderer Aufmerksamkeit die Augen rund um das Bett hat schweifen lassen, wo die Ärzte stehen, schreibt er: »Mylady.«

»Mylady ist ausgegangen, Sir Leicester, ehe Sie den Anfall hatten, und weiß noch nichts von Ihrer Krankheit.«

Er deutet abermals mit großer Aufregung auf das Wort. Sie versuchen alle, ihn zu beruhigen, aber er deutet mit steigender Angst darauf. Wie sie einander ansehen und nicht wissen, was sie sagen sollen, nimmt er noch ein Mal die Schiefertafel und schreibt: »Mylady. Um Gottes willen, wo?« Und ein flehentliches Stöhnen dringt aus seiner Kehle.

Man hält es für das Beste, daß die alte Haushälterin ihm Lady Dedlocks Brief gibt, dessen Inhalt allerdings niemand weiß oder ahnen kann. Sie bricht den Brief für ihn auf und faltet ihn auseinander, daß er ihn lesen kann. Er liest ihn zwei Mal mit großer Anstrengung, dann legt er ihn verkehrt auf das Bett, so, daß man den Inhalt nicht sehen kann, und liegt stöhnend da. Er bekommt eine Art Rückfall oder sinkt in Ohnmacht; und es vergeht eine Stunde, ehe er wieder die Augen öffnet, gestützt auf den Arm seiner alten treuen Dienerin. Die Ärzte sehen ein, daß er sich am wohlsten befindet, wenn sie um ihn ist, und halten sich fern, wenn ihre Hilfeleistung nicht unmittelbar erforderlich ist.

Wieder muß die Schiefertafel gebracht werden; aber er kann sich auf das Wort, das er schreiben will, nicht besinnen. Seine Angst, sein fieberhaftes Ringen, sich verständlich zu machen, und seine Qual darüber sind kläglich anzusehen. Eine wahnsinnige Aufregung, etwas nicht ausdrücken zu können, was unverzüglich zu geschehen habe, beherrscht ihn. Er hat den Buchstaben B geschrieben und ist dabei stecken geblieben. Plötzlich, wie seine Herzensqual und sein Jammer ihren Höhepunkt erreicht haben, setzt er ein Mr. davor. Die alte Haushälterin rät »Bucket«. Dem Himmel sei Dank! das meint er.

»Mr. Bucket wartet unten und sagt, er sei bestellt. Ob er heraufkommen soll?«

Es ist nicht möglich, Sir Leicesters brennendes Verlangen, ihn zu sehen, oder seinen Wunsch, daß alle, außer Mrs. Rouncewell, das Zimmer verlassen möchten, mißzuverstehen. Es geschieht sofort, und Mr. Bucket erscheint. Sir Leicester ist von seinem hohen Thron so tief herabgesunken, daß dieser Mann sein letzter Trost, sein einziger Verlaß auf Erden ist.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es tut mir unendlich leid, Sie in diesem Zustande zu sehen. Ich hoffe, Sie werden und müssen sich wieder aufraffen, schon wegen des Ansehens der Familie.«

Sir Leicester drückt ihm den Brief in die Hand und sieht ihm gespannt in das Gesicht. Eine plötzliche Erkenntnis blitzt in Mr. Buckets Auge auf, wie er die Zeilen überfliegt. Mit einem Krümmen seines Fingers, noch während sein Auge die Worte liest, deutet er an: »Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich verstehe, was sie wünschen.«

Sir Leicester schreibt auf die Schiefertafel: »Volle Verzeihung. Finden…« Mr. Bucket hält ihm die Hand auf.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich werde sie finden. Aber die Nachforschung muß auf der Stelle begonnen werden. Keine Minute ist zu verlieren.«

Mit Gedankenschnelle folgt er Sir Leicester Dedlocks Blick nach einem Kästchen auf dem Tisch.

»Herbringen, Sir Leicester Dedlock, Baronet? Gewiß. Es mit einem dieser Schlüssel aufschließen? Gewiß. Mit dem kleinsten Schlüssel? Natürlich. Die Banknoten herausnehmen? Gut. Zählen? Ist bald geschehen. Zwanzig und dreißig macht fünfzig, und zwanzig, siebenzig und fünfzig hundertundzwanzig und vierzig hundertundsechzig. Für die Reisekosten einstecken? Gut. Lege natürlich Rechnung ab. Kein Geld sparen? Nein, gewiß nicht.«

Die Schnelligkeit und Sicherheit, mit der Mr. Bucket alles errät, grenzt ans Wunderbare. Mrs. Rouncewell, die das Licht hält, ist von der Schnelligkeit seiner Augen und Hände noch ganz schwindlig, als er bereits reisefertig aufgestanden ist.

»Sie sind Georges Mutter, alte Dame. Ich irre mich doch nicht, nicht wahr?« wirft Mr. Bucket hin, während er den Hut schon aufhat und seinen Rock zuknöpft.

»Ja, Sir, ich bin seine Mutter und bin so in Angst um ihn.«

»Das dachte ich mir nach dem, was er mir vor kurzem mitgeteilt hat. Nun will ich Ihnen etwas sagen. Sie brauchen sich nicht mehr zu grämen. Mit Ihrem Sohne ist bereits alles in schönster Ordnung. Fangen Sie jetzt nicht an zu weinen, Sie müssen vor allen Dingen Sir Leicester Dedlock, Baronet, behüten und pflegen, und das geht nicht mit Weinen. Was Ihren Sohn betrifft, sage ich Ihnen doch, so ist alles in schönster Ordnung. Er schickt Ihnen seine zärtlichsten Grüße und hofft, daß Sie seiner ebenso gedenken. Er ist in Ehren entlassen. So steht die Sache. Mit einem ebenso unbescholtnen Rufe wie dem Ihrigen, und ich will ein Pfund wetten, der ist ohne Fehl und Makel. Sie können sich auf mich verlassen, denn ich selbst habe Ihren Sohn verhaftet. Und ich sage Ihnen, er hat sich brav und wacker dabei benommen und ist ein schöner, stattlicher Mann, und Sie sind eine schöne stattliche Matrone. Mutter und Sohn sind ein Paar, das man auf der Messe als Muster zeigen könnte. – Sir Leicester Dedlock, Baronet, den Auftrag, den Sie in meine Hände gelegt haben, werde ich ausführen. Fürchten Sie nicht, daß ich mich von meinem Weg auch nur einen Schritt ablenken lasse. Ich will nicht schlafen, mich nicht waschen noch rasieren, bis ich gefunden habe, was ich suche. Ich soll ihr alles Gute von Ihnen ausrichten und ihr sagen, daß Sie ihr verzeihen? Sir Leicester Dedlock, Baronet, machen wir! Und ich wünsche Ihnen gute Besserung, und daß diese Familienangelegenheiten beigelegt werden mögen – wie schon, ach Gott, so viele andre ausgeglichen worden sind und bis zum Ende der Welt werden ausgeglichen werden.«

Mit diesen Worten geht Mr. Bucket, zugeknöpft und ruhig, hinaus und sieht festen Blickes vor sich hin, als durchsuche er schon im Geiste die Nacht nach der Flüchtigen.

Sein erster Gang ist nach Lady Dedlocks Zimmern. Sorgfältig durchforscht er alles mit seinen Blicken nach Anzeichen, die für ihn von Wert sein könnten. Es ist stockfinster darin, und Mr. Bucket, ein Wachslicht über den Kopf emporhaltend, zu sehen, wie er ein ganz genaues Inventar der vielen zierlichen Gegenstände, die so merkwürdig von ihm selbst abstechen, aufzeichnet und seinem Gedächtnis einprägt, ist ein seltsames Bild. Aber niemand sieht es, denn er hat fürsorglich die Türen abgeschlossen.

»Ein schmuckes Boudoir das«, brummt Mr. Bucket, der heute morgen sein Französisch sozusagen aufgefrischt hat. »Muß einen guten Batzen Geld gekostet haben. Seltsam, von solchen Sachen davon zu laufen; der Boden muß ihr unter den Füßen gebrannt haben.«

Er öffnet und schiebt Schubladen zu, späht in Kästchen und Juwelenetuis und sieht dabei sein Bild in den verschiedenen Spiegeln und stellt allerlei Betrachtungen darüber an.

»Man könnte fast auf den Gedanken kommen, ich bewegte mich in den vornehmen Kreisen und putzte mich heraus zum Modeball. Vielleicht bin ich gar ein Offizier von der Garde und weiß es nur nicht.«

Alles durchstöbernd, hat er auch ein zierliches Kästchen in einem geheimen Schubfach geöffnet. Wie seine groben Finger in Handschuhen wühlen, die er kaum fühlen kann, so leicht und weich sind sie, findet er plötzlich ein weißes Taschentuch.

»Hm! Dich wollen wir einmal ansehen«, sagt Mr. Bucket und setzt das Licht hin. »Warum bist du aufgehoben worden? Was hast du mir zu erzählen? Gehörst du der Gnädigen oder sonst jemandem? Du hast doch gewiß irgendein Zeichen, sollte ich meinen?«

Er findet es, während er noch spricht: »Esther Summerson.«

»Aha!« sagt Mr. Bucket und läßt sich von seinem Finger beraten. »Wart einmal, dich nehmen wir mit.«

Er vollendet seine Nachforschungen so ruhig und sorgsam, wie er sie angefangen, läßt alles andre genau so, wie er es gefunden, gleitet hinaus, nachdem er sich im ganzen kaum fünf Minuten aufgehalten hat, und tritt auf die Straße. Mit einem Blick hinauf nach den schwach erhellten Fenstern von Sir Leicesters Zimmern eilt er im vollen Trabe nach dem nächsten Droschkenstand, sucht sich für sein Geld ein Pferd aus und befiehlt, nach der Schießgalerie zu fahren.

Mr. Bucket macht keinen Anspruch darauf, ein wissenschaftlich geschulter Rossekenner zu ein; aber er läßt etwas springen, wenn er einen besonders tüchtigen Repräsentanten dieser Tiergattung mietweise ergattern kann, und drückt gewöhnlich das Um und Auf seines Wissens in diesem Gebiet mit der Bemerkung aus, er könne einem Pferd auf den ersten Blick ansehen, ob es laufen könne.

Auch diesmal hat er sich nicht getäuscht. Er rasselt in einem geradezu gefährlichen Tempo über das Pflaster, faßt aber gedankenvoll und mit scharfem Blick jedes umherschleichende Geschöpf ins Auge, an dem er in den mitternächtlichen Straßen vorüberfährt, und vergißt selbst die Lichter in den oberen Stockwerken, wo die Leute zu Bett gehen oder gegangen sind, und die Straßenecken, um die er rasselt, und den dicken Himmel und die Erde, auf der eine dünne Schneedecke liegt, nicht – denn jede Kleinigkeit kann ihm vielleicht etwas verraten, das ihm irgendwie von Nutzen ist. Die Eile, mit der er auf sein Ziel losstürmt, ist so groß, daß, als er hält, das Pferd wie in eine Dampfwolke gehüllt ist, die ihn fast erstickt.

»Laß es eine halbe Minute rasten, damit’s wieder munter wird. Ich bin gleich zurück.«

Er läuft den langen Plankengang hinein und findet den Kavalleristen, wie er sich gerade seine Pfeife schmecken läßt.

»Recht so, George, nach dem, was Sie durchgemacht haben, mein Junge. Ich habe kein Wort übrig. Drauf und dran, jetzt gilt’s, eine Frau zu retten. Wo wohnt Miß Summerson, die hier war, als Gridley starb – so hieß sie – ich weiß es doch –, schnell, schnell! – Wo wohnt sie?«

Der Kavallerist kommt eben von dort und gibt ihm die Adresse. Nähe von Oxford-Street.

»Sie werden es nicht bereuen, George. Gute Nacht.«

Schon ist er wieder draußen, mit einer dunkeln Ahnung, daß er Phil an dem kärglichen Feuer, mit offnem Munde und ganz verblüfft ob seines Kommens, sitzen gesehen habe, und rasselt in scharfem Trab weiter und steigt, abermals von einer Dampfwolke umgeben, aus.

Mr. Jarndyce, der einzige im Haus, der noch auf ist, will eben zu Bett gehen; er sieht von seinem Buche auf, als er das ungestüme Klingeln hört, und kommt im Schlafrock an das Haustor hinunter.

»Erschrecken Sie nicht, Sir!«

Im Augenblick steht Bucket mit Mr. Jarndyce in vertraulichem Gespräch in der Vorhalle, hat die Tür zugemacht und die Hand auf das Schloß gelegt. »Ich habe schon früher einmal das Vergnügen gehabt. Inspektor Bucket. Sehen Sie dieses Taschentuch an, Sir. Gehört Miß Esther Summerson. Fand es vor einer Viertelstunde in einem Schubkasten bei Lady Dedlock. Kein Augenblick zu verlieren. Handelt sich um Leben oder Tod. Sie kennen Lady Dedlock?«

»Ja.«

»Es ist heute dort etwas vorgefallen. Familiengeschichten sind an den Tag gekommen. Sir Leicester Dedlock, Baronet, hat einen Schlaganfall gehabt und konnte nicht zu sich gebracht werden, und kostbare Zeit ist verloren worden. Lady Dedlock ist diesen Nachmittag verschwunden und hat einen Brief zurückgelassen, der schlimm aussieht. Überfliegen Sie ihn selbst. Hier ist er!«

Nachdem ihn Mr. Jarndyce gelesen hat, fragt er den Inspektor, was er davon halte.

»Weiß es nicht. Sieht aus wie Selbstmord. Jedenfalls wird mit jeder Minute die Gefahr größer, daß es dazu kommt. Ich gebe für jede Stunde, die ich gewinnen kann, hundert Pfund. Mr. Jarndyce, ich bin von Sir Leicester Dedlock, Baronet, beauftragt, Mylady zu folgen und sie zu finden – sie zu retten und ihr seine Verzeihung zu überbringen. Ich habe Geld und unbeschränkte Vollmacht, aber ich brauche noch etwas: Ich brauche Miß Summerson.«

Mr. Jarndyce wiederholt erschrocken: »Miß Summerson?«

»Hören Sie, Mr. Jarndyce!« – Mr. Bucket hat während der ganzen Zeit mit der größten Aufmerksamkeit in dem Gesicht seines Gegenübers gelesen. – »Ich spreche zu Ihnen wie zu einem Mann, der ein menschliches Herz in der Brust hat, und unter so drängenden Verhältnissen, wie sie nicht oft vorkommen. Wenn jemals Gefahr im Verzug war, so ist es jetzt der Fall; und wenn Sie sich später nicht bittere Vorwürfe machen wollen, schuld an einem Unglück zu sein, so willfahren Sie meiner Bitte. Acht oder zehn Stunden, jede wenigstens hundert Pfund wert, sind seit Lady Dedlocks Verschwinden verloren gegangen. Ich muß sie auffinden, koste es, was es wolle. Ich bin Inspektor Bucket. Außer all dem, was sie sonst noch schwer bedrückt, glaubt sie, des Mordes verdächtig zu sein. Wenn ich ihr allein folge, so kann sie, da sie nicht weiß, was Sir Leicester Dedlock, Baronet, mir mitgeteilt hat, zu einem verzweifelten Schritt getrieben werden. Aber wenn ich ihr in Begleitung einer jungen Dame folge, die der Beschreibung einer jungen Dame entspricht, für die sie eine zärtliche Neigung hat – ich stelle keine Fragen und sage weiter nichts –, so wird sie wissen, daß ich als Freund komme. Wenn ich sie einhole und imstande bin, diese junge Dame ein paar Worte vorher mit ihr sprechen zu lassen, so kann ich sie retten und sie überreden, zurückzukehren, wenn sie am Leben ist. Hole ich sie allein ein – was viel schwerer ist –, werde ich wohl mein Bestes tun; aber ich stehe nicht dafür, wie dieses Beste ausfallen wird. Die Zeit verstreicht; es geht stark auf ein Uhr. Wenn es eins schlägt, ist wieder eine Stunde verloren; und sie ist jetzt tausend Pfund wert anstatt hundert.«

Das ist alles sehr einleuchtend, und die Dringlichkeit des Falles steht außer Frage. Mr. Jarndyce bittet den Detektiv, hier zu warten, während er mit Miß Summerson sprechen will. Mr. Bucket verspricht das, hält es aber nicht, sondern handelt wie immer in solchen Fällen, geht mit hinauf und läßt seinen Mann nicht aus dem Auge. So bleibt er lauernd auf der dunkeln Treppe stehen, während die beiden beraten.

Nach ein paar Minuten kommt Mr. Jarndyce herunter und berichtet Mr. Bucket, daß Miß Summerson sogleich bei ihm sein und sich unter seinen Schutz stellen werde, um ihn zu begleiten, wohin er wolle. Sehr befriedigt, spricht Mr. Bucket seine höchste Billigung aus und wartet an der Tür, bis sie kommt.

Im Geiste steigt er auf einen hohen Turm und läßt seine Blicke im weiten Umkreise umherschweifen. Er sieht viele einsame Gestalten durch die Straßen schleichen, viele einsame Gestalten draußen auf der Heide und auf Landwegen und unter Heuschobern die Nacht verbringen. Aber die, die er sucht, ist nicht unter ihnen. Andre einsame Gestalten sieht er in dunkeln Brückennischen in den Fluß hinabschauen und an umschatteten Stellen unten am Strome stehen; und ein dunkler, gestaltloser Gegenstand, der, einsamer als alle andern, mit der Flut stromabwärts treibt, erfaßt mit der Kraft der Vision seine Aufmerksamkeit.

Wo ist sie? Lebendig oder tot, wo ist sie? Wenn das Taschentuch, das er jetzt zusammengelegt hat und sorgsam einsteckt, imstande wäre, ihm mit Zaubermacht den Ort vor Augen zu bringen, wo sie es fand, und die Nachtlandschaft um die Hütte, wo es die kleine Leiche zudeckte, würde er sie dort erblicken?

Auf dem wüsten Fleck, wo die Ringöfen mit blauem Scheine brennen, wo der Wind die Strohdächer der elenden Hütten zerzaust, in denen die Ziegel geformt werden, wo der Lehm und das Wasser hart gefroren sind und die Mühle, in der das magere, blinde Pferd den ganzen Tag lang im Kreise herumgeht, wie ein Folterwerkzeug für Menschen aussieht, –dort, über diese wüste, verlaßne Stelle, geht eine einsame Gestalt, allein in der Welt mit ihrem Schmerz, gepeitscht von Schnee und Regen und ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Menschen. Wohl ist es die Gestalt einer Frau; aber sie ist jämmerlich angezogen, und solche Kleider gingen nie durch die Vorhalle und zur Pforte des Palastes der Dedlocks hinaus.

57. Kapitel


57. Kapitel

Esthers Erzählung

Ich war zu Bett gegangen und lag bereits in tiefem Schlaf, als mein Vormund an die Tür meines Zimmers klopfte und mich bat, auf der Stelle aufzustehen. Als ich rasch aus dem Bett sprang, um mit ihm durch die Türe zu sprechen und zu erfahren, was es denn gäbe, erzählte er mir nach einigen vorbereitenden Worten, daß Sir Leicester Dedlock alles erfahren habe, meine Mutter geflohen sei und eine Person jetzt unten warte, ermächtigt, ihr die umfassendste Versicherung liebevollster Verzeihung zu überbringen, wenn sie die Flüchtige auffinden sollte, und daß ich diesen Mann begleiten sollte, da er hoffe, meine Bitten würden sie bewegen, wenn es ihm nicht gelänge. Irgend etwas dieser Art wurde mir klar; aber Unruhe, Hast, Leid und Überraschung verwirrten mich dermaßen, daß ich trotz aller Anstrengung, mein Entsetzen niederzukämpfen, mich, meinem Empfinden und Erinnern nach, erst vollständig wieder erholte, als Stunden darüber vergangen waren.

Ich zog mich rasch an und hüllte mich ein, ohne Charley oder sonst jemanden zu wecken, und begab mich zu Mr. Bucket hinunter, der beauftragt war, Lady Dedlock zu suchen. Mein Vormund erzählte mir näheres, während er mich hinunterführte, und erklärte mir auch, wieso der Mann auf mich verfallen war. Mr. Bucket las mir bei dem Schein der Kerze meines Vormundes im Hausflur mit leiser Stimme einen Brief vor, den meine Mutter auf ihrem Tisch zurückgelassen hatte; und ich glaube, kaum zehn Minuten waren vergangen, seit ich geweckt worden, da saß ich bereits neben ihm und fuhr rasch durch die Straßen.

Er setzte mir kurz und ohne Umschweife, aber doch voll Rücksicht, auseinander, es hinge sehr viel davon ab, daß ich ohne Verwirrung ein paar Fragen beantwortete, die er mir vorzulegen wünschte. Sie bezogen sich hauptsächlich darauf, ob ich viel mit meiner Mutter (von der er nur als Lady Dedlock sprach) verkehrt, wann und wo ich mit ihr zuletzt gesprochen habe und wie sie zu meinem Taschentuch gekommen sei. Als ich ihn über diese Punkte zufriedengestellt hatte, forderte er mich auf, genau nachzudenken – und mir dabei wohl Zeit zu nehmen –, ob ich jemanden kenne, ganz gleichgültig wo, dem sie möglicherweise in Fällen dringendster Not wohl ihr Vertrauen würde geschenkt haben. Ich konnte mich anfangs auf niemanden besinnen als auf meinen Vormund; aber sodann nannte ich auch Mr. Boythorn. Er kam mir wegen seiner alten ritterlichen Weise, mit der er immer den Namen meiner Mutter nannte, in den Sinn, sowie nach Überlegung alles dessen, was mir mein Vormund von seinem früheren Verhältnis zu ihrer Schwester und dem Zusammenhang der ganzen unglücklichen Geschichte mit der seinigen erzählt hatte.

Mr. Bucket ließ den Kutscher während dieses Gesprächs haltmachen, damit wir einander besser verstehen könnten. Er hieß ihn jetzt weiterfahren und sagte mir, nachdem er einige Augenblicke nachgedacht, daß er sich jetzt über das einzuschlagende Verfahren vollkommen klar sei. Er wollte mir bereitwilligst seinen Plan auseinandersetzen, aber ich fühlte mich zu verwirrt, als daß ich hätte hoffen können, ihn zu verstehen.

Wir waren noch nicht weit gefahren, als wir in einer Nebenstraße vor einem wie ein öffentliches Gebäude aussehenden, mit Gas erleuchteten Hause hielten. Mr. Bucket nahm mich mit hinein und ließ mich in einem Lehnstuhl neben einem hellen Kaminfeuer Platz nehmen. Es war jetzt Eins vorüber, wie ich an der an der Wand angebrachten Uhr erkannte. Zwei Polizeibeamte, die in ihren saubern Uniformen gar nicht aussahen wie Leute, die Nacht für Nacht aufbleiben mußten, schrieben ruhig an einem Pulte. Der Ort schien sehr still zu sein, von dem Zuschlagen ferner Türen unter der Erde, worauf übrigens niemand zu achten schien, vielleicht abgesehen.

Ein dritter Mann in Uniform verließ das Zimmer, nachdem er die Anweisungen, die ihm Mr. Bucket zugeflüstert, entgegengenommen hatte; dann gingen die beiden andern miteinander zu Rate, und einer schrieb nieder, was ihm Mr. Bucket halblaut diktierte. Sie entwarfen eine Beschreibung meiner Mutter; und Mr. Bucket brachte sie mir, als sie fertig waren, und las sie mir leise vor. Sie stimmte wirklich auf das genaueste.

Der zweite Beamte, der aufmerksam zugehört hatte, schrieb sie dann ab und rief einen andern Mann in Uniform aus dem Vorzimmer, der das Papier nahm und damit hinausging. Alles dies geschah mit der größten Schnelligkeit und ohne einen Augenblick zu verlieren, aber trotzdem war nirgends kopflose Hast zu bemerken. Sobald das Papier seine Reise angetreten hatte, wendeten sich die beiden Polizeibeamten wieder ihrer früheren ruhigen Beschäftigung zu und setzten sich an ihre Pulte. Mr. Bucket trat zu mir und wärmte sich gedankenvoll seine Stiefelsohlen abwechselnd am Kaminfeuer.

»Sind Sie warm angezogen, Miß Summerson?« fragte er mich, als sein Blick dem meinen begegnete. »Es ist eine verwünscht kalte Nacht zum Reisen für eine junge Dame.«

Ich sagte ihm, das Wetter sei mir gleichgültig und ich hätte warme Kleider an.

»Es kann eine lange Reise werden«, bemerkte er, »aber machen Sie sich nichts daraus, Miß, wenn nur das Ende gut ist.«

»Gott gebe es.«

Er nickte mir tröstend zu. »Ich sagte Ihnen schon, härmen Sie sich nicht ab, was auch immer geschehen mag. Bleiben Sie kühl und ruhig und seien Sie auf alles gefaßt, und es wird besser für Sie, besser für mich, besser für Lady Dedlock und für Sir Leicester Dedlock, Baronet, sein.«

Er war wirklich sehr freundlich und rücksichtsvoll; und wie er vor dem Feuer seine Stiefel wärmte und sich das Gesicht mit dem Zeigefinger rieb, faßte ich Vertrauen zu seinem Scharfsinn und fühlte mich beruhigter. Es war noch nicht ein Viertel auf Zwei, als ich draußen einen Wagen vorfahren hörte. »Jetzt, Miß Summerson, geht es fort, wenn’s gefällig ist!« sagte er.

Er gab mir seinen Arm, und die beiden Polizeibeamten begleiteten mich höflich bis an die Tür, vor der wir eine Art Phaethon oder Barouche mit einem Postillon und Postpferden fanden. Mr. Bucket hob mich hinein und nahm selbst auf dem Bocke Platz. Der Mann in der Uniform, der nach dem Wagen geschickt hatte, reichte ihm auf sein Verlangen eine Blendlaterne hinauf, und nachdem er dem Kutscher einige Anweisungen gegeben, rollten wir fort.

Mir war zumute, als träumte ich. Wir fuhren mit großer Schnelligkeit durch ein Labyrinth von Straßen, so daß ich bald jede Orientierung verlor; ich wußte nur soviel, daß wir wiederholt den Fluß passierten und dann weiter durch einen niedrig gelegenen, nahe am Wasser befindlichen, dicht zusammengedrängten Stadtteil schmaler Gäßchen fuhren, in denen man überall Docks und Kessel, Warenhausspeicher, Drehbrücken und Schiffsmaste erblickte. Endlich hielten wir an der Ecke einer kleinen schlammigen Gasse, die die vom Flusse aufsteigende Ausdünstung nur noch übler riechen machte, und ich sah, wie sich mein Begleiter beim Schein seiner Laterne mit mehreren Personen, die halb wie Polizeileute und halb wie Matrosen aussahen, beriet. An der moderfeuchten Mauer, an der sie standen, klebte ein Zettel mit der Anzeige: »Ertrunken gefunden«; und dies und ein gedruckter Hinweis auf in der Nähe befindliche Schleppnetze erregten in mir einen grauenhaften Verdacht, weshalb wir diesen Ort aufgesucht hatten.

Ich bezwang mein Herzklopfen, so gut ich konnte, aber was ich an diesem schrecklichen Orte litt, werde ich nie vergessen.

Es war wie ein grauenhafter Traum. Ein schlammbedeckter Mann mit hohen, vom Wasser wie ein Schwamm aufgeweichten Stiefeln und einem ebensolchen Hut wurde aus einem Boote herbeigerufen und sprach mit Mr. Bucket, der sodann mit ihm einige schlüpfrige Stufen hinabstieg, wie um etwas Geheimnisvolles, das dort lag, anzusehen. Sie kamen wieder und wischten sich die Hände an ihren Röcken ab, als ob sie etwas Feuchtes angefaßt hätten; aber Gott sei Dank, es war nicht das, was ich fürchtete!

Nach weitern Beratungen ging Mr. Bucket, den alle zu kennen und als eine Art Vorgesetzten zu betrachten schienen, mit den andern in ein Haus und ließ mich im Wagen zurück, während der Kutscher bei den Pferden auf und ab ging, um sich zu wärmen. Die Flut kam den Fluß herauf, wie mich das Plätschern der Wellen erraten ließ, und ich konnte am Ende des Gäßchens die Strömung an den Mauern anschlagen hören. Das Wasser kam niemals bis zu mir; aber mich durchschauderte wohl hundert Mal in der bangen Viertelstunde der Gedanke, daß die Leiche meiner Mutter plötzlich den Pferden vor die Füße geschwemmt werden könnte.

Mr. Bucket kam wieder heraus, schärfte den andern äußerste Wachsamkeit ein, verfinsterte seine Laterne und nahm seinen Platz auf dem Bock ein. »Beunruhigen Sie sich nicht, Miß Summerson, daß wir hierher gefahren sind«, sagte er, zu mir gewendet. »Ich will nur nichts außer acht lassen und mich selbst überzeugen, daß alles im Zuge ist, indem ich selbst danach sehe. Fahren Sie zu, Kutscher.«

Wir schienen den Weg, den wir gekommen waren, zurückzufahren. Nicht etwa, daß ich mir in meiner Aufregung besondere Gegenstände gemerkt hätte, sondern mehr nach dem allgemeinen Charakter der Straßen zu schließen. Wir sprachen eine Minute lang an einer andern Polizeistation vor und fuhren abermals über den Fluß. Während der ganzen Zeit, und solange das Suchen dauerte, ließ mein Begleiter, der dicht eingehüllt auf dem Bock saß, auch nicht einen Augenblick in seiner Wachsamkeit nach; aber wie wir über die Brücke fuhren, schien sich seine gespannte Aufmerksamkeit womöglich noch zu verdoppeln. Er stand auf, um über die Brustwehr hinunterzusehen; er stieg ab und ging zurück, einer dunkeln weiblichen Gestalt nach, die an uns vorübereilte, oder spähte in den tiefen schwarzen Abgrund da unten, mit einem Gesicht, das mir das Herz erbeben machte. Grauenhaft sah der Strom aus, wie er so nebelbedeckt und geheimnisvoll rasch und still zwischen den flachen Ufern hinfloß, umdüstert von undeutlichen, grauenhaften Formen, halb Wesenheiten, halb Schatten: so totenähnlich und verschwiegen.

Ich habe ihn seitdem oft gesehen, bei Sonnen- und bei Mondenschein, aber niemals mehr konnte ich mich von dem Eindruck dieser Reise wieder befreien. Im Geiste sehe ich die Laternen auf der Brücke trübe brennen, der schneidend kalte Wind fegt an dem obdachlosen Weib vorbei, dem wir begegnen, die Räder rasseln eintönig weiter, und im Schimmer der Wagenlampen sieht mich ein bleiches Gesicht an, das aus den dunkeln Wassern emporzusteigen scheint.

Nachdem wir lange durch die leeren Straßen gefahren waren, kamen wir endlich aus dem Pflaster heraus auf die glatte dunkle Landstraße und ließen allmählich die Häuser hinter uns. Alsbald erkannte ich den mir bekannten Weg nach St. Albans. In Barnet standen frische Pferde für uns bereit, und wir spannten um und fuhren weiter. Es war sehr kalt, und die Gegend lag weit und breit unter einer weißen Schneedecke, wenn es auch jetzt nicht mehr schneite.

»Ein wohlbekannter Weg für Sie, Miß Summerson«, munterte mich Mr. Bucket auf.

»Ja, gewiß«, gab ich zurück. »Haben Sie schon etwas in Erfahrung gebracht?«

»Noch nichts von Belang«, gab er zur Antwort. »Aber das wäre auch zu bald.«

Er trat in jedes noch offen stehende Wirtshaus, wo sich Licht zeigte –die Zahl derselben war damals nicht gering, denn die Straße war sehr von Viehtreibern besucht –, und stieg jedes Mal ab, um mit den Mautwächtern an den Schlagbäumen zu sprechen. Ich hörte ihn immer zu trinken bestellen und mit Geld klimpern. Überall war er bemüht, sich angenehm zu machen und lustig zu sein; aber so oft er seinen Platz auf dem Bocke einnahm, bekam sein Gesicht wieder den Ausdruck gespanntester Wachsamkeit, und er sagte stets zu dem Postillon in demselben Geschäftstone: »Fahren Sie zu, Kutscher!«

Durch dieses häufige Anhalten war es zwischen fünf und sechs Uhr geworden, und immer noch lag St. Albans einige Meilen vor uns, als er aus einem dieser Wirtshäuser am Wege herauskam und mir eine Tasse Tee anbot.

»Trinken Sie, Miß Summerson, es wird Ihnen gut tun. Sie fangen an, mehr zu sich selbst zu kommen, nicht wahr?«

Ich dankte ihm und sagte, ich hoffte es.

»Im Anfang waren Sie, was man so sagt, ein wenig verdattert. Mein Gott, das ist auch schließlich kein Wunder. Sprechen Sie nicht zu laut, Miß. Die Sache geht gut. Wir haben die Fährte.«

Ich weiß nicht, welcher freudige Ausruf mir entschlüpfte oder entschlüpfen wollte, aber er hob den Finger warnend in die Höhe, und ich hielt an mich.

»Sie ist heute abend gegen acht oder neun Uhr zu Fuß hier durchgekommen. Ich hörte zuerst von ihr drüben in Highgate, konnte mir aber noch nicht volle Gewißheit verschaffen. Ich habe ihre Spur bis jetzt mit einigen Unterbrechungen verfolgen können, sie da und dort aufgefunden und dann wieder verloren; aber sie ist jetzt sicher vor uns. Hier, nehmen Sie die Tasse, Hausknecht. Und jetzt, wenn Sie nicht beim Butterfaß aufgewachsen sind, passen Sie mal auf, ob Sie diese halbe Krone mit der andern Hand fangen können. Eins, zwei, drei – na, also! Kutscher, versuchen Sie’s mal mit einem Galopp!«

Wir erreichten bald St. Albans und stiegen kurz vor Tagesanbruch aus, als ich gerade anfing, mir Rechenschaft über die Vorfälle der Nacht abzulegen und wirklich zu glauben, daß ich nicht träumte. Mr. Bucket ließ den Wagen im Posthause stehen, befahl, frische Pferde bereit zu halten, gab mir den Arm, und wir gingen nach unsrer Wohnung.

»Da Sie hier ziemlich zu Hause sind, Miß Summerson«, bemerkte er, »könnten Sie vielleicht erkunden, ob eine der Beschreibung entsprechende Unbekannte nach Ihnen oder nach Mr. Jarndyce gefragt hat. Was meinen Sie? Ich mache mir keine besonderen Hoffnungen, aber immerhin wäre es ja möglich.«

Als wir die Höhe hinaufgingen, spähte er mit scharfem Auge durch die Morgendämmerung und erinnerte mich daran, daß ich eines Abends mit meiner kleinen Zofe und dem armen Jo, den er »Schmier-Ober« nannte, hier herabgegangen sei.

Ich drückte meine Verwunderung aus, daß er das wissen könne.

»Sie begegneten damals einem Mann auf der Straße dort oben, nicht wahr, Miß?«

Ja; auch daran erinnerte ich mich nur zu gut.

»Das war ich. Ich fuhr an jenem Nachmittag in einem Gig hierher, um nach dem Jungen zu sehen. Sie hätten die Räder rollen hören können, als sie herauskamen, um ihn aufzusuchen, denn ich weiß noch, daß Sie und Ihre kleine Zofe hinaufgingen, als ich das Pferd hinunterführte. Durch ein paar Erkundigungen im Städtchen erfuhr ich bald, in welcher Gesellschaft er sich befand, und wollte ihn gerade in den Zieglerhütten aufsuchen, als ich sie mit ihm heraufkommen sah.«

»Hat er denn ein Verbrechen begangen?«

»Angezeigt hat ihn niemand«, sagte Mr. Bucket und lüftete kaltblütig den Hut; »aber ich glaube, es war nicht alles richtig mit ihm. Nein. Ich brauchte ihn nur, um eben diese Sache Lady Dedlocks nicht ruchbar werden zu lassen. Er hatte über kleine Gelegenheitsdienste, für die ihn der selige Mr. Tulkinghorn bezahlte, mehr gesprochen, als nötig war; und es ging durchaus nicht an, daß er das so weiter trieb. Nachdem ich ihm daher bedeutet hatte, London zu verlassen, benutzte ich einen freien Nachmittag, um ihm einen Wink zu geben, auch hübsch von London weg zu bleiben und sich wohl in acht zu nehmen, daß ich ihn nicht noch ein Mal in der Stadt fände.«

»Der Arme!« sagte ich.

»Arm genug«, gab Mr. Bucket zu, »und lästig genug. Besser, er war von London weg und anderswo. Mich hat’s fast umgeworfen, als ich hörte, Sie hätten ihn in Ihr Haus aufgenommen, das versichere ich Ihnen.«

Ich fragte ihn, warum.

»Warum, Miß? Da wäre doch sein Geschwätz erst recht losgegangen und hätte überhaupt nicht mehr aufgehört.«

Obgleich ich mich jetzt dieses Gesprächs noch ganz gut entsinne, war es mir doch damals so wirr im Kopfe, daß meine Aufmerksamkeit gerade nur ausreichte, um zu begreifen, daß Mr. Bucket von diesen Sachen bloß redete, um mich zu zerstreuen. Offenbar mit derselben freundlichen Absicht sprach er mit mir von allen möglichen gleichgültigen Dingen, während sein Gesicht verriet, daß er sich ausschließlich mit dem einen Ziel unsrer Reise beschäftigte. Er sprach immer noch, als wir zum Gartentor hereintraten.

»So! Da wären wir«, sagte er, »ein gar hübsches, stilles Fleckchen. Erinnert einen an das Häuschen von der Knusperhexe, das man schon von weitem durch den Rauch entdeckte, der so schön in die Höhe wirbelte. Das Küchenfeuer brennt zeitig, und das bedeutet eine gute Dienerschaft. Aber worauf Sie immer bei Dienstboten sehen müssen, ist, wer sie besucht. Sie sind nie sicher, was Sie von ihnen zu gewärtigen haben, wenn Sie das nicht wissen. Wenn Sie einen jungen Menschen hinter der Küchentür finden, so lassen Sie ihn immer gleich als verdächtig, sich zu einem unerlaubten Zweck in ein Wohnhaus eingeschlichen zu haben, verhaften.«

Wir standen jetzt vor dem Hause, und er suchte aufmerksam auf dem Sande nach Fußstapfen, ehe er nach den Fenstern hinaufblickte.

»Geben Sie dem alten jugendlichen Herrn immer dasselbe Zimmer, wenn er hier auf Besuch ist, Miß Summerson?« fragte er mit einem Blick nach dem Fenster Mr. Skimpoles.

»Sie kennen Mr. Skimpole?«

»Wie nannten Sie ihn?« entgegnete Mr. Bucket und neigte sein Ohr zu mir. »Skimpole, sagten Sie? Ich habe mir oft den Kopf zerbrochen, wie er wohl heißen möge. Skimpole. Doch nicht John, oder vielleicht Jakob?«

»Harold.«

»Harold. So so. Ein kurioser Bursche, dieser Harold«, sagte Mr. Bucket und sah mich mit sehr ausdrucksvollem Gesichte an.

»Er ist ein sehr merkwürdiger Mensch.«

»Hat keinen Begriff von Geld«, bemerkte Mr. Bucket, »nimmt’s aber doch!«

»Sie kennen ihn also«, gab ich unwillkürlich zur Antwort.

»Nun, ich will Ihnen die Geschichte erzählen, Miß Summerson. Es ist besser für Sie, wenn Sie nicht beständig an dieselbe Sache denken, und ich will es Ihnen der Abwechslung wegen erzählen. Er war’s doch, der mir gesagt hat, wo sich der ‚Schmier-Ober‘ befand. Ich wollte diesen Abend an die Haustür klopfen und direkt nach dem Jungen fragen, wenn mir nichts andres übrig bleiben sollte; aber um erst noch einen Versuch zu machen, fiel es mir ein, eine Handvoll Sand an das Fenster dort zu werfen, hinter dem ich einen Schatten sah. Sowie Harold es aufmacht und ich einen Blick auf ihn werfe, denke ich mir schon, du bist mein Mann. Ich sagte ihm, um ihn ein wenig kirre zu machen, ich möchte nicht erst die Familie aufwecken, und es sei doch sehr zu beklagen, daß junge mitleidige Damen Vagabunden beherbergten; und dann, als ich seine Art recht weg hatte, warf ich so hin, ich würde gern einen Fünfpfundlappen springen lassen, wenn ich den ‚Schmier-Ober‘ ohne Aufsehen von hier fortbringen könnte. Darauf sagte er und zog seine Augenbrauen fidel in die Höhe: ‚Es ist ganz unnütz, mit mir von einer Fünfpfundnote zu sprechen, mein Freund, ich bin in solchen Sachen ein wahres Kind und habe keinen Begriff von Geld.‘

Natürlich wußte ich sofort, woran ich war, wickelte die Banknote um einen Stein und warf sie ihm hinauf. Gut! Er lacht, macht ein freundliches Gesicht und sieht so unschuldig drein, wie man sich’s nur wünschen kann, und sagt:

‚Aber ich kenne den Wert dieser Sache doch nicht. Was soll ich damit machen ?‘

‚Ausgeben, Sir‘, rate ich ihm.

‚Aber man wird mich betrügen‘, meint er; ’sie geben mir nicht genug heraus, und ich habe nichts davon.‘ Gott, Sie haben noch kein so unschuldiges Gesicht gesehen, wie er eins dabei machte! Natürlich sagte er mir, wo der Junge zu finden war, und ich fand ihn.«

Ich mußte in der Handlungsweise Mr. Skimpoles natürlich eine Verräterei gegen meinen Vormund sehen und meinte, daß so etwas denn doch die Grenzen kindlicher Unschuld überschritte.

»Grenzen, Miß Summerson?« entgegnete Mr. Bucket. »Ich will Ihnen bei dieser Gelegenheit einen Rat erteilen, der Ihnen und Ihrem Mann sehr nützlich sein wird, wenn Sie erst einmal glücklich verheiratet sein und Familie haben werden. Wenn Ihnen einer sagt, ich bin unschuldig wie ein Kind in allem, was Geld anbelangt, so nehmen Sie Ihr Portemonnaie in acht, denn Sie können Ihren Kopf darauf wetten, daß er es sich holt, wenn er’s kriegen kann. Wenn jemand ausposaunt, ‚in praktischen Sachen bin ich ein Kind‘, so nehmen Sie nur ruhig an, daß es sich diesem jemand nur darum handelt, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, und daß das liebe ‚Ich‘ bei ihm die Hauptrolle spielt. Ich selber bin kein poetischer Mensch, höchstens hinsichtlich Rundgesängen, aber ich bin ein Praktiker, und das ist meine Erfahrung. Die Regel ist: unzuverlässig in einer Sache, unzuverlässig in allem. Ich habe noch nicht erlebt, daß sie nicht eingetroffen wäre. Und Sie werden es auch nicht erleben. Und mit dieser Warnung für Unvorsichtige, meine Liebe, nehme ich mir die Freiheit, die Klingel zu ziehen, und komme wieder auf unser Geschäft zurück.«

Ich glaube, das war ihm übrigens keinen Augenblick aus dem Kopf gekommen, ebensowenig wie mir, und auch sein Gesicht verriet, daß er sich innerlich ununterbrochen damit beschäftigt hatte.

Das ganze Haus war höchlichst erstaunt, mich ohne vorherige Benachrichtigung so früh am Morgen und in dieser Begleitung zu sehen. Und das Erstaunen unsrer Leute wurde durch meine Erkundigungen nicht vermindert. Es war jedoch niemand dagewesen. An der Richtigkeit dieser Angabe konnten wir nicht zweifeln.

»Dann, Miß Summerson«, sagte mein Begleiter, »können wir nicht rasch genug die Hütte der Ziegelstreicher, die Sie ja kennen, aufsuchen. Wenn Sie so gut sein wollen, sich dort zu erkundigen, so wäre das der natürlichste Weg, und der ist immer der beste.«

Wir brachen unverzüglich auf.

Als wir die Hütte erreichten, war die Tür zu, und allem Anscheine nach niemand daheim; aber einer der Nachbarn, der mich kannte und zu mir trat, als ich versuchte, mich jemandem hörbar zu machen, sagte mir, die beiden Frauen wohnten mit ihren Männern in einem andern Hause aus losen Ziegeln am Rande des Feldes, wo die Ringöfen ständen und die Ziegelsteine in langen Reihen trockneten. Die Stelle war nur ein paar hundert Schritt entfernt; da die Tür nur angelehnt war, stieß ich sie auf.

Es saßen nur drei der Leute beim Frühstück, und das Kind schlief auf einem Bett in der Ecke. Jenny war nicht da. Die andre Frau stand auf, als sie mich erblickte, und beide Männer, obgleich sie wie gewöhnlich finster und stumm dasaßen, nickten mir mürrisch zu. Sie warfen sich einen Blick zu, als Mr. Bucket hinter mir eintrat, und es überraschte mich, zu bemerken, daß die Frau ihn offenbar kannte.

Ich hatte natürlich um Erlaubnis gebeten, einzutreten. Liz (der einzige Name, unter dem ich sie kannte) stand auf, um mir ihren Stuhl anzubieten, aber ich nahm auf einer Bank neben dem Feuer Platz und Mr. Bucket auf einer Ecke der Bettstelle. Jetzt, wo ich sprechen sollte und mich unter halbfremden Leuten befand, kam mir erst zum Bewußtsein, wie außer Fassung und schwindlig ich war. Ich wußte nicht recht, wie anfangen, und konnte die Tränen nicht zurückhalten.

»Liz«, sagte ich endlich, »ich habe eine weite Reise durch Nacht und Schnee gemacht, um mich nach einer Dame zu erkundigen…«

»Die hier war, wißt ihr«, fiel Mr. Bucket ein und wendete sich mit ruhiger, einschmeichelnder Miene an sämtliche Anwesende. »Die Dame meint das Fräulein. Die Dame, die gestern abend hier war, wißt ihr.«

»Und wer hat Ihnen denn gsagt, das jemand hier gwesen is?« fragte Jennys Mann, hielt mürrisch im Essen inne, um zuzuhören, und maß uns von oben bis unten.

»Ein Mann namens Michael Jackson in einer blauen Manchesterweste mit einer doppelten Reihe Perlmutterknöpfe«, entgegnete Mr. Bucket schlagfertig.

»Er soll ich um seine Sachen kümmern; kenn ihn übrigens nicht«, brummte der Ziegelstreicher mürrisch.

»Er hat grad keine Arbeit, glaub ich«, entschuldigte Mr. Bucket seinen Freund Michael Jackson, »da gewöhnt man sich das Schwatzen an.«

Die Frau hatte sich noch nicht wieder niedergesetzt, griff mit der Hand unsicher auf der zerbrochnen Stuhllehne herum und sah mich an. Ich sah ihr an, daß sie am liebsten mit mir allein gesprochen hätte, aber sie wagte es offenbar nicht. Sie stand immer noch zögernd und unentschlossen da, als ihr Mann, der mit einem Schnappmesser ein Stück Brot und Speck aß, mit dem Griff heftig auf den Tisch schlug und ihr mit einem Fluche befahl, sich um ihre Sachen zu kümmern und sich zu setzen.

»Ich hätte Jenny sehr gern gesehen«, sagte ich. »Ich bin überzeugt, sie würde mir alles sagen, was sie weiß. Es liegt mir so sehr am Herzen, die Dame zu finden. Sie können sich gar nicht denken, wie sehr. Wird Jenny bald hier sein? Wo ist sie?«

In Liz‘ Mienen verriet sich deutlich der Wunsch, mir zu antworten, aber der Ziegelstreicher stieß fluchend mit seinem schweren Stiefel nach ihrem Fuße. Er überließ es Jennys Mann, zu sprechen; und nach einem verstockten Schweigen wendete mir dieser seinen zottigen Kopf zu.

»Ich seh’s nicht bsonders gern, wenn vornehmes Volk zu mir ins Haus kommt, wie ich Ihnen schon ein Mal gsagt hab, glaub ich, Miß. Ich lasse sie in ihren Wohnungen ungeschoren, und es ist doch merkwürdig, daß sie mich nicht in Ruh lassen wollen. Die möchten schön aufbegehrn, wenn ich sie bsuchen kommen möcht. Na, über Sie hab ich mich grad weiter net so zu beklagen wie über die andern; und ich will Ihnen eine höfliche Antwort gebn; aber das sag ich Ihnen gleich, i laß i mir net das Fell über die Ohren ziehen wie am Dachs. Ob Jenny bald hier sein wird, fragen S? Nein. Wo s is? Nach London is gangen.«

»Gestern abend?«

»Gestern abend? Ja, gestern abend«, gab er mit einem mürrischen Zurückwerfen des Kopfes zur Antwort.

»Aber war sie da, als die Dame hier war? Und was hat die Dame zu ihr gesagt? Und wo ist die Dame hingegangen? Ich bitte und flehe Sie an, seien Sie doch so gut, es mir zu sagen. Es liegt mir sehr am Herzen, es zu erfahren«, sagte ich.

»Wenn mein Mann mich sprechen lassen wollt; kein Wort, was an Schaden bringen könnt…« fing die Frau schüchtern an.

»Dein Mann wird dir das Gnack umdrehn, wenn du dich in Sachen mischst, wo dich nix angehn«, unterbrach sie der Ziegelstreicher und zerbiß ingrimmig einen Fluch zwischen den Zähnen.

Nach einer Pause antwortete mir Jennys Mann mit seinem gewohnten widerwilligen Brummen:

»Ob Jenny dagwesen is, als die Dame hier war? Ja, sie is dagwesen. Was die Dame zu ihr gsagt hat? No, ich wills Ihnen sagn, was die Dame zu ihr gsagt hat. ‚Sie erinnern sich doch, daß ich einmal hier war‘, hats gsagt, ‚um mich nach der jungen Dame zu erkundigen, die Sie früher amal bsucht hat. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen Geld für das Taschentuch gab, das sie daglassen hat.‘ Ja, mir ham uns dran erinnert. Und die andern auch. Dann hats gfragt, ob die junge Dame jetzt oben im Hause is. Na, sie is net im Haus, ham mir gsagt. Jetzt hören S weiter. Die Dame is ganz allein unterwegs gwesen, und dös is uns seltsam vorkommen, und hat gfragt, ob s leicht a Stunde dorten auf dem Platz, wo Sie jetzt sitzen, ausruhen könnt. Ja, dös könnt s, ham mir gsagt, und nacher hat s ausgruht. Und nacher is wieder weiter gangen. S hat so zwanzig Minuten nach elf oder zwölf Uhr sein können; wir ham hier ka Taschenuhr net, um nach der Zeit zu sehn, und a Schlaguhr scho gar net. Wo s hingangen is? I weiß net, wo s hingangen is. Sie is den an Weg gangen, und Jenny den andern; die ane is den Weg gradaus nach London gangen, und die andre grade entgegengsetzt. So, dös ist aus. Fragn S den da. Er hat alls mit angehört und a alls gsehn. Er weiß es.«

»Dös is alls«, bestätigte Liz‘ Mann.

»Weinte die Dame?«

»Zum Teufel auch. Ihre Schuhe haben schlimm ausgsehen und ihre Kleider auch, aber gweint hat s net grad. I hab nix gsehn.«

Liz saß mit übereinandergeschlagnen Armen und zu Boden gesenkten Augen da. Ihr Mann hatte seinen Stuhl ein wenig umgedreht, so daß er sie im Auge behalten konnte; und seine hammerähnliche Faust lag auf dem Tisch, als wäre er bereit, jeden Augenblick seine Drohung auszuführen, wenn sie ihm nicht gehorchte.

»Ich hoffe, Sie werden nichts dawider haben, wenn ich Ihre Frau frage, wie die Dame aussah«, sagte ich.

»No, sprich also!« rief er ihr mürrisch zu. »Du hörst, was sie sagt. Mach’s kurz und sag’s ihr.«

»Schlecht«, entgegnete die Frau. »Bleich und erschöpft. Sehr schlecht.«

»Sprach sie viel?«

»Nicht viel; aber ihre Stimme war heiser.«

Die Frau antwortete zwar, fragte aber beständig ihren Mann mit den Augen um Erlaubnis.

»War sie sehr angegriffen? Hat sie hier etwas gegessen oder getrunken?«

»Sprich!« sagte der Mann, Liz‘ Blick beantwortend. »Sag’s ihr und mach’s kurz.«

»Sie hat etwas Wasser getrunken, Miß, und Jenny hat ihr Brot und Tee geholt. Aber sie hat’s kaum angrührt.«

»Und als sie von hier fortging…« fragte ich weiter, aber Jennys Mann unterbrach mich ungeduldig.

»Wie s von hier fortgangen is, is s gradaus vorwärts auf der Landstraße gangen. Fragen S unterwegs, wenn S es mir net glaubn, und Sie werden schon sehen, daß s wahr is. So, und jetzt is aus. Das ist alls, was wir wissen.«

Ich sah Mr. Bucket fragend an, und da ich bemerkte, daß er schon aufgestanden war, bereit, zu gehen, dankte ich den Leuten für die Auskunft, die sie mir gegeben hatten, und nahm Abschied. Die Frau sah Mr. Bucket, als er hinausging, scharf an, und er sie desgleichen.

»Ich will Ihnen was sagen, Miß Summerson«, sagte er zu mir, während wir uns rasch entfernten. »Die Leute dort haben die Uhr von Mylady. Das steht fest.«

»Sie haben sie gesehen?« rief ich aus.

»Es ist ebensogut, als ob ich sie gesehen hätte. Was spricht der Kerl da von ‚zwanzig Minuten nach‘ und gleich darauf, daß er keine Uhr habe? Zwanzig Minuten! Glauben Sie, er teilt sich für gewöhnlich seine Zeit so sorgfältig ein? Wenn er von halben Stunden spricht, ist das schon viel. Folglich hat ihm Mylady die Uhr entweder gegeben, oder er hat sie genommen. Ich glaube, sie hat sie ihm gegeben. Wofür mag sie ihm die Uhr gegeben haben? Wofür mag sie ihm die Uhr gegeben haben?«

– Er murmelte diese Frage mehrere Male vor sich hin, wie wir die Straße entlang eilten, und schien zwischen einer Reihe von Antworten zu schwanken, die sich ihm aufdrängten. –

»Wenn wir Zeit übrig hätten, und das ist gerade das einzige, was wir in dieser Sache nicht übrig haben, so könnte ich es aus dieser Frau schon herauskriegen; aber es hieße, unter den gegebenen Verhältnissen zuviel auf eine Karte setzen. Sie sind ganz die Leute, sie nicht aus den Augen zu lassen, und jeder Narr weiß, daß ein armes Geschöpf wie sie, gestoßen und geschlagen und von Kopf bis zu den Füßen mit Narben und Beulen bedeckt, durch Dick und Dünn zu ihrem Manne hält, wenn er sie auch mißhandelt. Sie verheimlichen etwas. Schade, daß wir nicht haben die andre sprechen können.«

– Auch ich bedauerte es außerordentlich, denn ich wußte, Jenny war sehr dankbar und hätte meinen Bitten gewiß nicht widerstanden. –

»Es ist möglich, Miß Summerson«, sagte Mr. Bucket, immer noch ganz in Grübeln verloren, »daß Mylady sie nach London geschickt hat, um Ihnen eine Botschaft zu überbringen; und es ist möglich, daß der Mann die Uhr bekommen hat, damit er seiner Frau erlaube, zu gehen. Es ist nicht so ganz klar, wie ich es gern haben möchte, aber es liegt mit in meinen Karten. Nun verschwende ich das Geld Sir Leicester Dedlocks, Baronet, nicht gern an solche Rüpel und sehe auch nicht ein, was es nutzen sollte. Nein, vorderhand, Miß Summerson, geht unser Weg geradeaus; und, bitte, kein Wort weiter über die Sache!«

Wir sprachen noch ein Mal zu Hause vor, damit ich in der Eile ein Billett an meinen Vormund schicken könnte, und eilten dann nach dem Posthaus zurück, wo der Wagen auf uns wartete. Man brachte sofort die Pferde heraus, als man uns kommen sah, und in wenigen Minuten waren wir wieder unterwegs.

Es hatte mit Tagesanbruch zu schneien angefangen und schneite jetzt sehr stark. Die Luft war von der Trübe des Wetters und dem dichten Flockentreiben so undurchsichtig, daß wir in keiner Richtung mehr als nur eine sehr kleine Strecke erkennen konnten. Obgleich es sehr kalt war, war der Schnee nur teilweise gefroren, und die Hufe der Pferde zerknirschten ihn – daß es klang, als ob die Straße ein Strand von kleinen Muscheln wäre – zu Schlamm und Wasser. Das Gespann konnte sich oft eine Meile weit, bald ausgleitend, bald in tiefe Löcher stürzend, nur mit Mühe hindurcharbeiten, und wir mußten manchmal haltmachen. Ein Pferd stürzte auf dieser ersten Station drei Mal und war so angegriffen, daß der Kutscher zuletzt vom Bock steigen und es führen mußte.

Ich konnte weder essen noch schlafen – und dieser Aufenthalt, und überhaupt die Langsamkeit, mit der wir vorwärts kamen, machten mich so unruhig, daß ich wider alle Vernunft, aus Ungeduld, aussteigen und zu Fuß gehen wollte. Ich gab jedoch den Vorstellungen meines Begleiters nach und blieb sitzen. Munter erhalten durch die Arbeitsfreude an der Aufgabe, die er übernommen, stieg er die ganze Zeit über bei jedem Hause, an dem wir vorüberkamen, im Nu vom Bock, redete Leute, die er nie gesehen, als alte Bekannte an, lief in die Wirtsstuben hinein, um sich zu wärmen, plauderte, trank, schüttelte den Leuten die Hände, war gut Freund jedes Fuhrmannes, Wagners, Schmieds oder Zolleinnehmers und schien dabei doch niemals Zeit zu verlieren. Jedes Mal, wenn er wieder mit seinem geschäftsmäßigen: »Los, Kutscher!« auf den Bock stieg, zeigte sein Gesicht die alte gespannte Aufmerksamkeit.

Als wir zum zweiten Mal die Pferde wechselten, watete er von den Ställen her knietief durch den Schnee – durchnäßt bis auf die Haut, ohne weiter darauf zu achten, schon seitdem wir St. Albans verlassen hatten – und sprach ein paar Worte mit mir durch das Kutschenfenster.

»Nur immer Kopf hoch, Miß! Sie ist ganz gewiß hier durchgekommen. Nach den Kleidern, die sie anhatte, läßt sich daran nicht mehr zweifeln.«

»Und immer noch zu Fuß?« fragte ich.

»Immer noch zu Fuß. Ich glaube, sie will den Herrn, den Sie nannten, aufsuchen. Nur daß seine Wohnung in so unmittelbarer Nähe von Sir Leicesters Besitzung liegt, will mir nicht in den Kram passen.«

»Ich kann das leider nicht beurteilen«, sagte ich. »Vielleicht wohnt sonst noch jemand in der Umgebung, von dem ich nicht weiß.«

»Sehr richtig. Aber ich bitte Sie, meine Liebe, fangen Sie um Gottes willen nur nicht wieder an zu weinen. Grämen Sie sich nicht überflüssigerweise. Los, Kutscher!«

Es schneite den ganzen Tag über in einem fort, und bald fiel ein dicker Nebel ein, der bis zum Abend keinen Augenblick nachließ. Die Straßen waren in einem geradezu unglaublichen Zustand. Manchmal dachte ich, wir müßten den Weg verloren haben und auf das Ackerfeld oder in die Sümpfe gekommen sein. Wenn ich an die vielen Stunden, die seit unsrer Abreise verflossen waren, dachte, kam mir die Zeit zwischen unsrer Abfahrt und der Gegenwart so lange vor wie ein ganzes Leben, und ich hatte die seltsame Empfindung, nie von der Sorge und der Angst frei gewesen zu sein, die mich damals erfüllten.

Je weiter wir kamen, desto mehr quälte mich eine böse Ahnung, mein Begleiter sei seiner Sache nicht mehr so sicher wie früher. Er benahm sich zwar immer gleich, wenn er Leute unterwegs traf, aber sein Gesicht schien mir ernster zu sein, wenn er wieder auf den Bock stieg. Ich sah, daß er häufig während der langen mühseligen Fahrt den Finger unruhig vor den Lippen hin und her bewegte. Es fiel mir auf, daß er die Kutscher der Landwagen und andrer uns entgegenkommender Fuhrwerke ausfragte, wie die Passagiere in andern Kutschen, denen sie begegnet seien, ausgesehen hätten. Und ihre Antworten schienen ihm durchaus nicht zu gefallen. Er gab mir wohl jedes Mal einen beruhigenden Wink mit dem Finger oder lächelte mir ermutigend zu, wenn er wieder auf den Bock stieg, aber es lag eine gewisse Unentschlossenheit in seinem Ton, wenn er sagte: Los, Kutscher!

Endlich, als wir abermals die Pferde wechseln mußten, gestand er mir, daß er die Spur der Frau, die, nach ihren Kleidern zu schließen, Lady Dedlock sein müßte, seit so langer Zeit schon verloren habe, daß ihm die Sache anfange, befremdlich vorzukommen. Es sei nichts weiter daran, eine solche Spur eine Zeitlang zu verlieren – erfahrungsgemäß tauche sie nach einiger Zeit wieder auf, und so fort –, aber diesmal habe sie plötzlich auf eine unerklärliche Weise aufgehört und sei seitdem nicht wieder zum Vorschein gekommen. Der Umstand, daß er anfing, Wegweiser anzusehen und an Kreuzwegen den Wagen manchmal wohl eine Viertelstunde lang stehen zu lassen, um zu rekognoszieren, bestätigte meine Befürchtungen. Ich solle nur den Mut nicht verlieren, beruhigte er mich immer wieder, denn es sei durchaus nicht ausgeschlossen, daß bereits der Befund auf der nächsten Station alles wieder ins Geleise bringen werde.

Die nächste Haltestelle enttäuschte uns jedoch abermals und gab uns keine neuen Anhaltspunkte. Es war ein alleinstehendes, aber komfortabel eingerichtetes und solides Wirtshaus, und ehe es mir noch recht zum Bewußtsein kam, fuhren wir in einen großen Torweg hinein. Eine saubere Wirtin trat mit ihren hübschen Töchtern an den Wagenschlag und bat mich, auszusteigen und eine Erfrischung zu nehmen, während die Pferde gewechselt würden. Ich konnte es nicht gut abschlagen, und sie führten mich die Treppe hinauf in eine geheizte Stube und ließen mich dort allein.

Es war ein Eckzimmer, wie ich mich noch recht gut entsinne, und man hatte aus seinen Fenstern die Aussicht nach zwei Seiten. Auf der einen in den Hof mit den Stallungen, mit einem Ausgange nach einem Fahrweg, wo die Stallknechte die kotbespritzten und müden Pferde von unserm schlammbedeckten Wagen abspannten, und weiter hinaus auf die Landstraße selbst, über der das Wirtszeichen schwer im Winde schwankte, und durch das andre Fenster auf ein dunkles Fichtengehölz. Die Äste der Bäume waren mit Schnee beladen, und ich sah, wie er von Zeit zu Zeit in dicken Schichten geräuschlos herunter fiel. Die Nacht brach herein; und die Unwirtlichkeit draußen wurde noch fühlbarer durch den Gegensatz zu dem traulichen Kaminfeuer, das auf der Fensterscheibe glühte und glitzerte. Wie ich zwischen den Stämmen der Fichten hindurchblickte und mit dem Auge die mißfarbigen Spuren im Schnee verfolgte, wo es zu tauen anfing und das durchsickernde Wasser das Weiß unterwühlte, dachte ich an das mütterliche Gesicht der Wirtin unten, inmitten ihrer hübschen Töchter; und das Bild meiner Mutter, die sich jetzt vielleicht in einem solchen Gehölz zum Sterben niederlegte, trat wie eine Vision vor meine Augen.

Ich erschrak, als ich sie alle um mich stehen fand, und dunkel kam mir zum Bewußtsein, daß ich mit aller Kraft gegen eine Ohnmacht angekämpft hatte, aber schließlich doch unterlegen war. Sie betteten mich auf ein großes Sofa vor dem Kaminfeuer, und die gutmütige Wirtin redete mir zu, ich dürfe heute nacht unter keinen Umständen weiter reisen und müsse zu Bett gehen. Aber als sie sah, in welche Aufregung mich der Gedanke, hier untätig die Zeit zu versäumen, versetzte, ließ sie bald ab und forderte nur, daß ich wenigstens eine halbe Stunde rastete.

Was für ein gutes, liebes Geschöpf sie war! Wie sie und ihre drei hübschen Töchter sich um mich sorgten! Im Nu stand ein rundes Tischchen weiß gedeckt neben dem Kamin, und ich sollte warme Suppe und gebratenes Huhn essen, während Mr. Bucket seinen Mantel trocknete und unten in der Wirtsstube speiste; aber es war mir nicht möglich, etwas zu genießen, so sehr es mir leid tat, ihnen ihre Bitte abschlagen zu müssen. Ein wenig Glühwein und Röstzwieback war das einzige, was ich zu mir nahm und was mir wirklich schmeckte, und so konnte ich ihnen wenigstens diesen kleinen Gefallen tun.

Pünktlich, nach Ablauf einer halben Stunde, kam der Wagen unter den Torweg gerumpelt, und man brachte mich hinunter, eingewärmt, erquickt und durch die mir erwiesene Liebe und Güte wieder hoffnungsfreudiger gestimmt und, wie ich ihnen versichern konnte, außer Gefahr, wieder in Ohnmacht zu fallen. Als ich einstieg und von allen dankbar Abschied nahm, trat die jüngste Tochter, ein blühendes Mädchen von neunzehn Jahren, die demnächst heiraten sollte, wie sie mir in der Geschwindigkeit anvertraut hatte, auf den Kutschentritt und gab mir einen Kuß. Ich habe sie seit jener Stunde nicht wieder gesehen, aber noch heute gedenke ich ihrer wie einer lieben Freundin.

Die lichterhellten Fenster, die im Gegensatz zu der kalten Nacht so hell und warm aussahen, waren bald verschwunden, und unser Wagen arbeitete sich wieder mit knirschenden Rädern durch den aufgeweichten tiefen Schnee. Es ging schlecht genug voran, aber die Wege waren nicht viel schlimmer als früher, und die nächste Station lag nur neun Meilen entfernt. Mein Begleiter rauchte auf dem Bock – ich hatte ihn gebeten, sich meinetwegen keinen Zwang aufzuerlegen, da ich bemerkt, daß er sich im Wirtshaus vor dem Kamin in der Gaststube in dichte Rauchwolken gehüllt hatte –, und seine Wachsamkeit erlahmte keinen Augenblick; wie immer sprang er hurtig vom Bock, wenn wir eine menschliche Wohnung erreichten oder Leuten begegneten. Er hatte seine kleine Blendlaterne angezündet, deren er sich mit besonderer Vorliebe zu bedienen schien, trotzdem Laternen an unserm Wagen angebracht waren; und von Zeit zu Zeit ließ er ihren Schein auf mich fallen, um sich zu überzeugen, ob ich mich wohl befände. Die Vorderseite der Kutsche hatte ein Schiebfensterchen, aber ich machte es niemals zu, denn es war mir, als ob ich damit die Hoffnung hinaussperrte.

Wir erreichten die Station, und noch immer hatte sich die verlorene Fährte nicht wiedergefunden. Ich sah Mr. Bucket mit angstvoller Erwartung an, als wir haltmachten, um die Pferde zu wechseln, und erriet aus seiner ernsten Miene, mit der er den Stallknechten zusah, daß er nichts Neues in Erfahrung gebracht hatte. Ein paar Minuten später trat er plötzlich an den Wagenschlag, die Blendlaterne in der Hand, und blickte sichtlich aufgeregt und ganz verändert herein.

»Was gibt’s?« rief ich erschreckt und fuhr in die Höhe. »Ist sie hier?«

»Nein, nein. Nur ruhig, Miß, nur ruhig. Niemand ist hier. Aber ich habe es jetzt heraus!«

– Eisnadeln hingen ihm im Haar, und seine Kleider waren über und über mit Schnee bedeckt. Er mußte sich die Flocken aus dem Gesicht schütteln und rang nach Atem, ehe er weiter sprach. –

»Vor allem, Miß Summerson«, sagte er und trommelte mit den Fingern auf dem Spritzleder, »machen Sie sich keine unnötigen Sorgen wegen dessen, was ich jetzt unternehmen werde. Sie kennen mich. Ich bin der Inspektor Bucket, und Sie können sich auf mich verlassen. Wir sind einen langen Weg umsonst gefahren. Tut nichts. – Vier Pferde vor, bis zur nächsten Station zurück! Rasch!«

Es entstand eine Bewegung im Hofe, und ein Mann kam aus dem Stall gelaufen, um noch ein Mal zu fragen, ob er zurück oder vorwärts meine.

»Zurück! sage ich. Zurück! Zurück! Hören Sie denn nicht? Zurück!«

»Zurück?« fragte ich erstaunt. »Wir fahren nach London zurück?«

»Ja, Miß Summerson. Wir kehren um. Geradenwegs zurück, ohne eine Minute zu versäumen. Sie kennen mich. Fürchten Sie nichts. Ich muß die andre verfolgen. Teufel noch einmal!«

»Die andre?« – Ich traute meinen Ohren kaum. – »Wen meinen Sie?«

»Sie nannten sie Jenny, glaube ich. Ich muß sie einholen. Rasch die vier Pferde heraus, jeder Mann kriegt eine Krone. Flott, flott, ihr Leute!«

»Sie werden doch nicht die Dame, die wir suchen, in einer solchen Nacht und in dem verzweifelten Gemütszustand, in dem sie sich befinden muß, ohne Hilfe lassen?« rief ich zu Tode erschrocken und ergriff seine Hand.

»Da haben Sie recht, das werde ich gewiß nicht tun, meine Liebe. Aber ich muß der andern nach. – Schnell, schnell, ihr da mit den Pferden. Schickt einen berittenen Eilboten voraus zur nächsten Station. Auf jeder Haltestelle bis London müssen zwei Paar frische Pferde für uns bereit stehen. Verstanden?! Liebes Kind, Kopf hoch. Nur sich nicht unnötig aufregen!«

Seine Befehle und die Lebhaftigkeit, mit der er im Hofe herumrannte und die Leute antrieb, brachten eine allgemeine Aufregung hervor, die auf mich kaum minder betäubend wirkte als die plötzliche Änderung seines Entschlusses. Mitten im schlimmsten Wirrwarr sprengte ein reitender Bote fort, um die Relais zu bestellen, und unsre Pferde wurden in größter Eile angespannt.

»Meine Liebe«, sagte Mr. Bucket, sprang auf den Bock und sah wieder zu mir herein, »Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich manchmal ein bißchen familiär bin – grämen und ängstigen Sie sich nur nicht. Ich sage jetzt weiter nichts, aber Sie kennen mich, meine Liebe; nun, habe ich nicht recht?«

Ich versicherte ihm, ich zweifelte keinen Augenblick, er müsse am besten wissen, was zu geschehen habe; aber ob er denn auch sicher sei, daß er sich nicht irre? Ob ich nicht vielleicht allein weiter reisen könnte, um – ich ergriff in meinem Schmerze wieder seine Hand und flüsterte es ihm zu – um meine Mutter zu suchen.

»Meine Liebe«, gab er zur Antwort, »ich weiß es ja, ich weiß es ja. Glauben Sie wirklich, daß ich Ihnen zu etwas Falschem raten würde? Inspektor Bucket. Sei kennen mich doch. Oder nicht?«

Was konnte ich anderes sagen als ja!

»Also, dann verlieren Sie den Mut nicht und verlassen Sie sich darauf, daß ich sie nicht im Stich lassen werde, so wenig wie Sir Leicester Dedlock, Baronet. Nun, seid Ihr endlich fertig da vorn?«

»Alles fertig, Sir!«

»Also vorwärts! Los, Kutscher!«

Und wieder fuhren wir die traurige Straße entlang, die wir gekommen waren, und das halbgefrorne Schneewasser spritzte umher, wie von einem Mühlrad gepeitscht.

49. Kapitel


49. Kapitel

Hie Pflicht, hie Freundschaft!

Ein großer Jahrestag ist in der Familie Mr. Matthew Bagnets, alias Lignum vitae, ehemaligen Artilleristen und gegenwärtigen Fagottbläsers. Ein Tag der Lustbarkeit und Freude. Die Feier eines Geburtstags in der Familie.

Natürlich nicht der des Familienoberhaupts, denn Mr. Bagnet ehrt diesen Zeitabschnitt in seinem Instrumentengeschäft immer dadurch, daß er den Kindern vor dem Frühstück einen Extraschmatz gibt, eine Pfeife mehr nach dem Mittagessen raucht und sich gegen Abend Grübeleien hingibt, was jetzt seine alte arme Mutter wohl denken möge – eine ungemein schwierig zu lösende Aufgabe, die dadurch nicht leichter wird, daß die Dame schon vor zwanzig Jahren gestorben ist. Manche Menschen erinnern sich selten an ihre Väter und scheinen in den Bankbüchern ihres Gedächtnisses ihr ganzes Kapital Kindesliebe auf den Namen der Mutter überschrieben zu haben. Mr. Bagnet ist einer von diesen Leuten. Vielleicht bestätigt das Verdienst seiner Gattin ihn in der Ansicht, daß das Hauptwort »Verdienst« eigentlich weiblichen Geschlechts sein solle. Der Geburtstag eines der drei Kinder ist es auch nicht. Derlei Tage erhalten natürlich ihre Auszeichnung, aber sie übersteigt selten die Grenzen herzlicher Glückwünsche und eines Puddings.

Es kann also nur der Geburtstag seiner Alten sein, und das ist der größte Festtag und der am rötesten angestrichne Tag in Mr. Bagnets Kalender. Das glückliche Ereignis wird stets streng nach gewissen Normen gefeiert, die Mr. Bagnet schon vor einigen Jahren ein für alle Mal ausgearbeitet und festgelegt hat. Er ist fest überzeugt, daß ein paar Hühner auf dem Mittagstisch den Gipfelpunkt eines geradezu kaiserlichen Luxus bilden, und geht daher regelmäßig schon sehr zeitig an diesem Tag aus, um ein paar zu kaufen, wird ebenso regelmäßig von dem Geflügelhändler übers Ohr gehauen und ersteht jedes Mal die beiden ältesten Hühner von ganz Europa. Dann bindet er diese Triumphe von Zähigkeit in ein reines, blauweiß gestreiftes Taschentuch, – ein wesentliches Requisit der Feier –, kehrt nach Hause zurück und fordert Mrs. Bagnet beim Frühstück gelegentlich auf, zu sagen, was sie am liebsten zu Mittag essen würde. Durch ein unerklärliches Zusammentreffen, das noch niemals versagt hat, erwidert Mrs. Bagnet prompt: »Geflügel«, worauf das Familienoberhaupt unter allgemeinem Staunen und Händezusammenschlagen das Bündel aus einem Versteck hervorzieht. Er verlangt ferner, daß die Alte den ganzen Tag lang nichts machen darf, als in ihrem Staatskleid zur Parade da zu sitzen und sich von ihm und dem jungen Volk bedienen zu lassen. Da er wegen seiner Kochkunst keinen besondern Ruf genießt, so ist anzunehmen, daß diese Maßregel mehr Sache der Zeremonie ist, als daß sie einen Genuß für die Alte bildet. Aber trotzdem behält Mrs. Bagnet stets unentwegt die Miene großer Fröhlichkeit bei.

An dem heutigen Geburtstag hat Mr. Bagnet die gewohnten Präliminarien schon hinter sich. Er hat zwei Prachtexemplare von Federvieh, die sich, wenn die Anzeichen nicht trügen, mit nicht besondrer Schwierigkeit haben für den Bratspieß fangen lassen, erstanden und durch ihr ganz unerwartetes Erscheinen die Familie in das größte Erstaunen und Entzücken versetzt. Er selbst leitet das Braten des Geflügels, und Mrs. Bagnet, die es in den gesunden braunen Fingern immer juckt, wenn sie etwas falsch machen sieht, sitzt in ihrem Ehrenkleid als Gast da.

Quebec und Malta decken den Tisch, während Woolwich, wie es sich gebührt, im Rang unter seinem Vater dient und den Spieß mit den Hühnern in Gang erhält. Diesen jugendlichen Küchengehilfen verrät Mrs. Bagnet gelegentlich mit einem Augenzwinkern, einem Kopfschütteln oder Stirnrunzeln, wenn sie Fehler machen.

»Um halb zwei!« sagt Mr. Bagnet. »Auf die Minute! Sie werden fertig sein.«

Mit Angstschweiß auf der Stirn sieht Mrs. Bagnet eines der Hühner am Feuer aufhören sich zu drehen und zu brennen anfangen.

»Du sollst ein Essen haben, Alte«, sagt Mr. Bagnet, »wie eine Königin.«

Mrs. Bagnet zeigt heiter ihre weißen Zähne, aber ihr Sohn nimmt eine so große seelische Beunruhigung an ihr wahr, daß ihn die Gebote der Kindesliebe zwingen, mit dem Auge zu fragen, was denn los sei, wobei er natürlich auf die Hühner noch viel weniger acht gibt als früher und auch die letzte Spur von Hoffnung, er könne zur Erkenntnis der Sachlage kommen, im Keime erstickt. Zum Glück entdeckt seine ältere Schwester die Ursache der Aufregung in Mrs. Bagnets Busen und erinnert ihn mit einem Rippenstoß an seine Pflicht. Die Hühner fangen an sich wieder zu drehen, und Mrs. Bagnet schließt, von der Wonne der Erleichterung überwältigt, die Augen.

»George kommt uns besuchen«, sagt Mr. Bagnet. »Um halb fünf. Auf den Glockenschlag. Wieviel Jahre, Alte, hat George uns so besucht, nachmittags?«

»Ach Lignum, Lignum, so viele, als aus einer jungen Frau eine alte machen, glaube ich. So viele werden’s wohl schon gewesen sein«, entgegnet Mrs. Bagnet lachend und schüttelt den Kopf.

»Alte«, sagt Mr. Bagnet. »Gräm dich nicht. Du wärst so jung wie je. Wenn du nicht jünger wärst. Was du bist. Wie jedermann weiß.«

Quebec und Malta rufen hier unter Händeklatschen, daß Bluffy der Mutter gewiß etwas mitbringen werde, und fangen an zu raten, was es wohl sein könne.

»Weißt du, Lignum«, sagt Mrs. Bagnet, wirft einen Blick auf das Tischtuch, winkt mit ihrem rechten Auge Malta »Salz« zu und schüttelt mit dem Kopf Quebec mit dem »Pfeffer« weg. »Es kommt mir so vor, als ob George wieder einmal sein Wanderfieber hätte.«

»George«, entgegnet Mr. Bagnet, »wird nie desertieren. Und seinen alten Kameraden sitzen lassen. Brauchst das nicht zu befürchten.«

»Nein, Lignum, nein, das sag ich auch nicht. Ich weiß, er wird das nie tun. Aber wenn er die Geldgeschichte loswerden könnte, glaube ich, würde er wieder fortmachen.«

Mr. Bagnet fragt: »Warum?«

»Nun, George scheint mir ein wenig ungeduldig und ruhelos zu werden. Ich sage nicht, daß er weniger frei und offen wäre als gewöhnlich. Aber es drückt ihn etwas, und das regt ihn auf.«

»Er muß nachexerzieren«, erklärt Mr. Bagnet. »Bei einem Advokaten. Der den Teufel aufgeregt machen würde.«

»Daran kann etwas Wahres sein«, stimmt die Alte zu.

Eine Fortsetzung des Gesprächs wird vorderhand dadurch verhindert, daß Mr. Bagnet sich in die Zwangslage versetzt sieht, die ganze Kraft seines Geistes dem Mittagsmahl zuzuwenden, das durch den trocknen Humor, mit dem die Hühner sich weigern, auch nur einen Tropfen Brühe herzugeben, sowie durch das Naturspiel, daß die Sauce keinen Geschmack bekommt und nicht von ihrer flachsgelben Farbe läßt, einen bedrohlichen Charakter annimmt. Von ähnlicher Seelenverderbnis befallen, bröckeln die Kartoffeln während des Schälens in Stücken von den Gabeln und platzen, wie von inneren Erdbeben aufgerührt, auseinander. Auch die Beine der Hühner sind länger als gerade wünschenswert und stahlhart gepanzert. Mr. Bagnet überwindet schließlich diese Schwierigkeiten siegreich, trägt das Mahl auf, und alle setzen sich zu Tisch, wobei Mrs. Bagnet den Ehrenplatz zugewiesen bekommt.

Es ist gut für die Alte, daß sie bloß ein Mal im Jahr Geburtstag hat, denn zwei solche Schwelgereien in Geflügel könnten die schwersten Folgen nach sich ziehen. Auch die kleinste Sehne, deren sich das Geflügel erfreut, hat sich in beiden Hühnern übereinstimmend zu der den Gitarresaiten eigentümlichen Form entwickelt. Ihre Flügel und Schenkel haben in Brust und Rumpf knorrig Wurzel geschlagen wie uralte Bäume. Ihre Keulen sind so hart, daß man auf den Gedanken kommen möchte, sie könnten den größten Teil einer langen mühseligen Lebenswanderung mit angestrengten Märschen oder Wettläufen zugebracht haben. Aber für den von diesen kleinen Mängeln nichts ahnenden Mr. Bagnet ist es Herzenssache, daß Mrs. Bagnet eine möglichst große Quantität von den ihr vorgesetzten Leckerbissen ißt, und da ihm die gute Alte um keinen Preis an irgendeinem Tage, geschweige denn an einem solchen, auch nur den geringsten Verdruß bereiten möchte, gefährdet sie ihren Verdauungsapparat auf das bedenklichste. Wie der junge Woolwich imstande ist, die Trommelschlegel auf seinem Teller zu bewältigen, ohne doch von einem Strauß abzustammen, vermag seine besorgte Mutter absolut nicht zu begreifen.

Nach Beendigung des Mahles hat die Alte noch eine weitere Prüfung zu bestehen, denn sie muß in Paradestellung sitzen bleiben, während das Zimmer aufgeräumt, der Herd gekehrt und das Tischgeschirr im Hof gewaschen und poliert wird. Die große Freude und Energie, mit der die beiden jungen Damen diese Pflichten verrichten und nach dem Beispiel der Mutter das Kleid aufschürzen und auf kleinen Schafotten von Holzschuhen herein und hinaus Rollschuh laufen, erwecken die glänzendsten Hoffnungen für die Zukunft, aber eine gewisse Bangigkeit für die Gegenwart. Dieselben Ursachen führen zu einem Stimmengewirr, einem Geklapper von irdenem Geschirr, Rasseln von Zinnkrügen, einem Schwingen von Besen und einer Verschwendung von Wasser in denkbar größtem Maße, wobei der durchnäßte Zustand der jungen Damen selbst ein so rührendes Schauspiel darbietet, daß es Mrs. Bagnet kaum mehr mit der ihrer Stellung angemeßnen Ruhe mit ansehen kann. Endlich sind die verschiednen Reinigungsprozesse siegreich erledigt worden. Quebec und Malta erscheinen lächelnd und trocken in frischen Kleidern, Pfeifen, Tabak und etwas zu trinken kommen auf den Tisch, und auf die Alte senkt sich das erste Morgenrot des Friedens an dem Tage dieses genußreichen Festes nieder.

Als Mr. Bagnet seinen gewohnten Platz einnimmt, stehen die Zeiger der Uhr nahe auf halb fünf, und wie sie genau darauf stehen, ruft er:

»George! Militärische Pünktlichkeit.«

Es ist George, und er überbringt die herzlichsten Glückwünsche für die Alte, die er bei dieser feierlichen Gelegenheit küßt, und für die Kinder und für Mr. Bagnet. »Allen wünsche ich eine viel, vielmalige Wiederkehr dieses Tages.«

»Aber George, alter Junge!« ruft Mrs. Bagnet und sieht den Kavalleristen neugierig an. »Was fehlt Ihnen denn ? Sie sind so blaß, George – verhältnismäßig –, und sehen so angegriffen aus. Nicht wahr, Lignum?«

»George«, nickt Mr. Bagnet. »Sag’s der Alten. Was fehlt dir?«

»So, so, bin ich blaß«, sagt der Kavallerist und fährt sich mit der Hand über die Stirn. »Ich wußte nicht, daß ich angegriffen aussehe, und es tut mir leid. Aber die Sache ist die, daß der Junge, den sie zu mir gebracht haben, gestern nachmittag gestorben ist. Das hat mich ein bißchen hergenommen.«

»Armer Teufel!« sagt Mrs. Bagnet mit mütterlichem Mitleid. »Ist’s aus mit ihm? Gott, Gott!«

»Ich wollte nichts davon erwähnen, denn es ist kein Geburtstagsgespräch. Aber Sie haben es aus mir herausbekommen, noch ehe ich mich niedergesetzt habe. Ich wäre in einem Augenblick schon wieder munter gewesen«, sagt der Kavallerist und zwingt sich zu einem heiteren Ton, »aber Sie haben zu scharfe Augen, Mrs. Bagnet.«

»Da hast du recht! Die Alte«, sagt Mr. Bagnet, »ist schnell. Wie Pulver.«

»Aber was viel wichtiger ist«, fährt George fort, »heute hat sie ihren Tag, und wir wollen ihn feiern. Ich habe Ihnen eine kleine Brosche mitgebracht, ’s ist ein armseliges Ding, aber ein Andenken. Das ist das einzig Gute daran, Mrs. Bagnet.«

Mr. George zieht sein Geschenk aus der Tasche, das mit bewundernden Sprüngen und Händeklatschen von den Kindern und einer Art ehrfurchtsvollen Staunens von Mr. Bagnet begrüßt wird. »Alte«, sagt Mr. Bagnet, »sage ihm meine Meinung darüber.«

»Ach, es ist wunderschön, George!« ruft Mrs. Bagnet aus. »So etwas Herrliches habe ich noch niemals gesehen.«

»Gut«, sagt Mr. Bagnet. »Das ist meine Meinung.«

»Es ist so hübsch, George«, beteuert Mrs. Bagnet, wendet die Brosche nach allen Seiten und hält sie auf Armeslänge vor sich hin, »daß es für mich viel zu vornehm aussieht.«

»Schlecht«, sagt Mr. Bagnet. »Nicht meine Meinung.«

»Aber so oder so, hunderttausend Mal Dank, alter Junge!« Mrs. Bagnet reicht mit vor Freude glänzenden Augen George die Hand. »Und wenn ich auch manchmal eine etwas kratzbürstige Soldatenfrau gegen Sie gewesen bin, George, so sind wir doch in Wirklichkeit so gut Freund miteinander wie nur möglich. Nicht? Sie müssen die Brosche jetzt der guten Vorbedeutung wegen selbst feststecken, George.«

Die Kinder drängen sich heran, um zuzusehen, und Mr. Bagnet schaut über des jungen Woolwich Kopf ebenfalls zu, und mit einem so ausgesprochen hölzernen und doch so vergnügt kindischen Interesse, daß Mrs. Bagnet lachen muß und sagt: »Ach Lignum, Lignum, was für ein kostbarer alter Kerl du doch bist!«

Aber es gelingt dem Kavalleristen nicht, die Brosche zu befestigen. Seine Hände zittern, er ist nervös, und sie fällt herunter. »Sollte man das glauben?« sagt er, indem er sie auffängt und sich umsieht. »Ich bin so hergenommen, daß ich nicht einmal mehr das kann.«

Mrs. Bagnet ist der Meinung, daß es für einen solchen Fall kein besseres Mittel gibt als eine Pfeife, und schiebt dem Kavalleristen, nachdem sie selbst die Brosche in einem Nu festgesteckt hat, seinen gewohnten bequemen Sessel hin und holt die Pfeifen herbei. »Wenn Sie das nicht wieder in Stimmung bringt, George«, sagt sie, »brauchen Sie nur manchmal einen Blick auf Ihr Geschenk hier zu werfen, und das beides zusammen wird dann schon wirken.«

»Sie selbst werden es tun, Mrs. Bagnet«, gibt George zur Antwort. »Die blauen Bohnen sind mir in letzter Zeit ein wenig zu arg um den Kopf geflogen. Da war erstens einmal der arme Bursche. Es war eine schlimme Sache, ihn so sterben zu sehen, ohne ihm helfen zu können.«

»Wieso, George? Sie haben ihm doch geholfen. Sie haben ihn doch bei sich aufgenommen.«

»Insofern schon. Aber das ist ein bißchen wenig. Ich meine, Mrs. Bagnet, ich sah ihn sterben, ohne daß man ihn jemals viel mehr gelehrt hatte, als seine rechte Hand von seiner linken zu unterscheiden. Und dann stand es schon zu schlimm mit ihm, als daß man ihm noch viel hätte helfen können.«

»Armer Teufel«, seufzt Mrs. Bagnet.

»Und dann«, fährt der Kavallerist fort und streicht sich wieder mit seiner schweren Hand über die Stirn, »hab ich dabei an Gridley denken müssen. Ebenfalls ein schlimmer Fall, wenn auch in andrer Art. Überdies trug die Schuld daran in beiden Fällen derselbe steinharte Schuft, und an diesen verrosteten Karabiner denken zu müssen, wie er immer dasteht, teilnahmslos und gleichgültig – da kribbelt’s mir in den Fingern.«

»Mein Rat wäre«, meint Mrs. Bagnet, »zünden Sie sich lieber die Pfeife an und lassen Sie sich den Rauch im Munde kribbeln. Das ist angenehmer und weniger aufregend und wahrscheinlich auch besser für Ihre Gesundheit.«

»Da haben Sie recht. Das will ich tun.«

Der Kavallerist tut es auch, aber mit einer Miene entrüsteter Ernsthaftigkeit, die auf die jungen Familienmitglieder einen großen Eindruck macht und sogar Mr. Bagnet veranlaßt, die Zeremonie, auf Mrs. Bagnets Gesundheit zu trinken, noch ein wenig aufzuschieben.

Erst nachdem die jungen Damen das, was Mr. Bagnet die »Legierung« nennt, bereitet haben und Georges Pfeife in heller Glut brennt, hält es Mr. Bagnet für seine Pflicht, den Trinkspruch des Abends, wie immer bei solchen Gelegenheiten, mit musterhafter Knappheit auszubringen. Er richtet an die versammelte Gesellschaft folgende Worte:

»George. Woolwich. Quebec. Malta. Heute ist ihr Geburtstag. Marschieret den ganzen Tag. Und ihr werdet keine zweite finden. Auf ihre Gesundheit!«

Nachdem dieser Toast mit Begeisterung getrunken worden, dankt Mrs. Bagnet ebenfalls mit einer hübschen Rede von entsprechender Kürze. Ihre Musterstilübung beschränkt sich wie immer auf die paar Worte: »Und die eurige.« Sie nickt dabei allen der Reihe nach zu und nimmt dann einen genau bemeßnen Schluck von der »Legierung«. Heute aber fügt sie außerdem ganz unerwartet den Ausruf hinzu: »Da steht jemand.«

Und wirklich, sehr zum Erstaunen der kleinen Gesellschaft schaut jemand zur Stubentür herein. Es ist ein Mann mit scharfem, durchdringendem Blick. Und jeder muß ihn ansehen und hat dabei das Gefühl: Das ist ein höchst merkwürdiger Mensch.

»George«, sagt der Mann und nickt, »wie befinden Sie sich?«

»Ah, Bucket!« ruft Mr. George.

»Ich ging hier durch die Straße«, erzählt der Mann, kommt jetzt herein und schließt die Tür, »als ich zufällig hier stehen blieb, mir die Musikinstrumente im Ladenfenster betrachtete – ein Freund von mir möchte nämlich ein gebrauchtes Violoncello von gutem Ton kaufen – und eine Gesellschaft sich amüsieren sah. Ich glaubte, Sie in der Ecke zu erkennen, George, und habe mich, wie ich sehe, auch nicht geirrt. Wie geht es Ihnen zur Zeit, George? Ziemlich gut? Und Ihnen, Maam, und Ihnen, Meister? Aber sieh mal einer!« Mr. Bucket breitet die Arme aus. »Da sind ja Kinder. Ihr könnt alles mit mir machen, wenn ihr mir nur Kinder zeigt. Gebt mir einen Kuß, ihr Schätzchen! Brauche nicht erst zu fragen, wer euer Vater und eure Mutter ist. Hab so eine Ähnlichkeit in meinem Leben noch nicht gesehen.«

Freundlich aufgenommen, hat sich Mr. Bucket neben Mr. George gesetzt und Quebec und Malta auf seine Knie genommen.

»Ihr hübschen Kinder«, sagt Mr. Bucket, »gebt mir noch einen Kuß; das ist das einzige, wovon ich nie satt werden kann. Gott segne euch. Wie gesund ihr ausseht. Wie alt mögen die beiden wohl sein, Maam? Möchte sie so etwa auf acht bis zehn Jahre schätzen.«

»Stimmt so ungefähr, Sir«, sagt Mrs. Bagnet.

»Ich errate es fast immer, denn ich habe Kinder so gern. Ein Freund von mir hat neunzehn, Maam. Alle von einer Mutter. Und sie sieht noch so frisch und rosig aus wie der Morgen. Nicht so wie Sie, aber meiner Seel, sie kommt Ihnen nahe.«

»Ja, und was ist denn das da, meine Schätzchen?« fährt Mr. Bucket, wieder zu den Kindern gewendet, fort und kneift Malta in die Wange. »Das sind ja wirkliche Pfirsiche. Meiner Seel. Und was meinst du von Papa? Glaubst du, er könne ein gebrauchtes Violoncello von gutem Ton für Mr. Buckets Freund empfehlen, Kleine? Ich heiße Bucket. Komisch, nicht?«

Diese kleinen Schmeicheleien haben dem Mann die Herzen der Familie im Handumdrehen gewonnen. Mrs. Bagnet vergißt die Feierlichkeiten des Tages soweit, daß sie Mr. Bucket eine Pfeife stopft und ihm eigenhändig ein Glas einschenkt. Sie würde unter allen Umständen, sagt sie, einen so gewinnenden Menschen freundlich aufnehmen, aber als Freund Georges sehe sie ihn heute, wo dieser nicht in seiner gewöhnlichen Laune sei, besonders gerne.

»Nicht in seiner gewöhnlichen Laune!« ruft Mr. Bucket aus. »Na, aber so etwas! Was ist denn los, George? Mir werden Sie doch nicht sagen, Sie wären nicht bei Laune. Sie haben doch nichts auf dem Herzen?«

»Nichts Besonderes«, entgegnet der Kavallerist.

»Na, das sollt ich auch meinen. Was könnten denn Sie auf dem Herzen haben, möchte ich wissen? Haben diese kleinen Schätzchen da vielleicht auch etwas auf dem Herzen, he? Sie selbst nicht, aber manch junger Bursche wird sie später einmal auf dem Herzen haben und schrecklich traurig dabei sein. Ich verstehe mich nicht aufs Prophezeien, aber soviel kann ich mit Bestimmtheit voraussagen, Maam.«

Mrs. Bagnet, ganz entzückt, hofft, daß Mr. Bucket auch Familie hat.

»Das ist es doch eben, Maam, würden Sie das glauben? Nein, ich habe keine. Meine Frau und eine Mieterin sind meine ganze Familie.

Mrs. Bucket hat Kinder ebenso lieb wie ich und wünschte sich auch welche. Aber nein. So geht’s. Irdische Güter sind ungleich verteilt, und der Mensch soll nicht murren. Was für einen hübschen Hof Sie da haben, Maam. Hat er einen Ausgang?«

Der Hof hat keinen Ausgang.

»Wahrhaftig nicht?« sagt Mr. Bucket. »Man sollte doch wirklich glauben, daß so ein Hof einen Ausgang haben müsse. Ich wüßte wirklich nicht, daß mir jemals ein Hof besser gefallen hätte. Sie erlauben doch, daß ich ihn mir näher ansehe. Danke bestens. Er hat wirklich keinen Ausgang, wie ich sehe.«

Nachdem Mr. Bucket mit seinem scharfen Blick sich draußen überall umgesehen hat, kehrt er zu seinem Stuhl zurück und klopft Mr. George freundschaftlich auf die Achsel.

»Wie sind Sie jetzt aufgelegt, George?«

»Schon wieder ganz gut.«

»Sehen Sie, das laß ich mir gefallen. Ein Mann von Ihrer Gestalt und Konstitution hat kein Recht, niedergedrückt zu sein, nicht wahr, Maam? Und Sie haben nichts auf dem Herzen. Verstehen Sie wohl, George! Was könnten Sie denn auf dem Herzen haben!« Mr. Bucket verweilt auffallend lange bei diesen Äußerungen, indem er sie ganz im Widerspruch mit seinem sonstigen Unterhaltungstalent ein paar Mal wiederholt, während er sich die Pfeife anzündet und dabei, wie das so seine Gewohnheit manchmal ist, ein horchendes Gesicht macht. Aber die Sonne seiner Gemütlichkeit erholt sich bald von dieser kurzen Verfinsterung und scheint wieder.

»Und das ist der kleine Bruder, nicht wahr, Kinder?« wendet er sich an Quebec und Malta, um über den jungen Woolwich Näheres zu erfahren. »Ein hübscher kleiner Bruder – Stiefbruder wollte ich sagen, denn er ist zu alt, um Ihr Sohn zu sein, Maam.«

»Von wem sollte er denn sonst sein«, lacht Mrs. Bagnet.

»Was? Ah, da staun ich. Aber er ist Ihnen wahrhaftig ähnlich. Kein Zweifel. Wunderbar ähnlich. Nur um die Stirn herum erkennt man den Vater.« Mr. Bucket vergleicht die Gesichter und schließt dabei ein Auge, während Mr. Bagnet ruhevoll seine Pfeife raucht. Mrs. Bagnet benützt die Gelegenheit, zu sagen, daß der Junge Georges Patenkind ist.

»Georges Patenkind? So, so«, entgegnet Mr. Bucket mit ausnehmender Herzlichkeit. »Da muß ich ihm ja noch ein Mal die Hand schütteln. Die beiden machen einander Ehre. Was wollen Sie ihn denn werden lassen, Maam? Zeigt er Lust zu einem musikalischen Instrument?«

Mr. Bagnet mischt sich plötzlich ins Gespräch: »Spielt die Querpfeife. Wunderschön.«

»Würden Sie glauben, Meister«, sagt Mr. Bucket, über das Zusammentreffen verwundert, »daß ich als Junge selber die Querpfeife gespielt habe? Nicht wissenschaftlich, wie er wahrscheinlich; nur nach dem Gehör. Meiner Seel! – ‚Die britischen Grenadiere‘ das ist eine Melodie, bei der einem Engländer warm ums Herz wird. Könntest du uns ‚die britischen Grenadiere‘ vorspielen, mein Junge?«

Sofort holt der junge Woolwich seine Querpfeife und spielt die wilde erregende Melodie, zu der Mr. Bucket begeistert den Takt schlägt und immer in den Refrain einstimmt: »Die britischen Gre-he-nadiere.«

Kurz, er zeigt soviel musikalischen Geschmack, daß Mr. Bagnet tatsächlich die Pfeife aus dem Mund nimmt, um ihm zu versichern, er müsse unbedingt ein Sänger sein. Mr. Bucket bekennt bescheiden, einmal ein wenig gesungen zu haben, und man fordert ihn auf, zu singen. Um die Gemütlichkeit seinerseits zu fördern, gibt er schließlich nach und singt ihnen »Glaubt mir, wenn all diese zau-berischen Rei-hei-ze« vor. Diese Ballade, verrät er, habe einst Mrs. Buckets jungfräuliches Herz bewegt und sie vermocht, vor den Altar zu treten – oder, wie er sich ausdrückt, pappen zu bleiben.

Der bestrickende Gast ist eine so neue unschätzbare Zugabe für den Festtag, daß Mr. George, der anfangs keine sehr große Freude bei seinem Eintritt an den Tag gelegt hat, anfängt, stolz auf ihn zu werden. Er entpuppt sich als ein so vielseitiger Mann und hat ein so gewinnendes Benehmen, daß es immerhin ein gewisses Verdienst ist, ihn hier eingeführt zu haben. Mr. Bagnet fühlt nach einer zweiten Pfeife den Wert der neuen Bekanntschaft so sehr, daß er den Gast um die Ehre seines Besuchs am nächsten Geburtstag der Alten bittet. Wenn etwas die Achtung, die Mr. Bucket der Familie gegenüber an den Tag legt, noch mehr befestigen kann, so ist es seine Entdeckung des Anlasses der heutigen Festlichkeit. Er trinkt Mrs. Bagnet mit einer an Begeisterung grenzenden Wärme zu, bedankt sich verbindlich für die Einladung, merkt sich den Tag in einer großen schwarzen Brieftasche mit Gummiband an und gibt der Hoffnung Raum, daß inzwischen Mrs. Bucket und Mrs. Bagnet schwesterliche Freundinnen geworden sein möchten. Was sei öffentliches Leben ohne Freundschaftsbande, sagt er. Er sei in seiner bescheidnen Sphäre ein Mann der Öffentlichkeit sozusagen, aber darin fände er sein Glück nicht. Nur in der engen Häuslichkeit könne man es finden.

Unter diesen Umständen ist es nur natürlich, wenn er jetzt auch des Freundes gedenkt, dem er eine so vielversprechende Bekanntschaft verdankt. Und er tut es. Er schließt sich sehr an ihn an. Immer wieder kommt er darauf zurück, von was immer auch gesprochen wird. Er wartet, um mit ihm nach Hause zu gehen. Sogar seine Stiefel interessieren ihn, und er beobachtet sie aufmerksam, während Mr. George mit überschlagnen Beinen am Kamin sitzt und raucht.

Endlich steht der Kavallerist auf, um zu gehen, und im selben Augenblick erhebt sich auch Mr. Bucket. Er kann sich von den Kindern gar nicht trennen und kommt wieder auf den Auftrag, den er für einen abwesenden Freund übernommen hat, zurück.

»Was das gebrauchte Violoncello betrifft, Meister, können Sie mir ein solches empfehlen?«

»Dutzende«, sagt Mr. Bagnet.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, entgegnet Mr. Bucket und drückt ihm die Hand. »Sie sind ein Freund in der Not. Einen guten Ton muß es haben, nicht vergessen! Mein Freund ist kein Stümper. Wahrhaftig, er fiedelt seinen Mozart und seinen Händel und die andern Obermacher herunter wie einer vom Fach, und«, setzt er vertraulich hinzu, »Sie brauchen sich hinsichtlich des Preises nicht zu sehr ins Fleisch zu schneiden, Meister. Ich will nicht gerade einen zu hohen Preis für meinen Freund anlegen, aber andrerseits sollen Sie auch Ihre anständigen Prozente haben und für Ihren Zeitverlust entsprechend entschädigt werden. Das ist recht und billig. Jeder Mensch muß leben und verdienen.«

Mr. Bagnet nickt der Alten zu, um damit auszudrücken, welches Juwel sie in dem Manne gefunden hätten.

»Angenommen, ich fragte morgen um halb elf wieder hier an, könnten Sie mir da schon die Preise von ein paar Violoncellos von gutem Ton sagen?«

Nichts leichter als das. Mr. und Mrs. Bagnet verpflichten sich beide, bis dahin die erforderliche Auskunft verschafft zu haben, und wechseln Blicke, ob es nicht möglich sei, einen kleinen Vorrat zur Besichtigung herbeizuschaffen.

»Ich danke Ihnen«, sagt Mr. Bucket. »Gute Nacht, Maam. Gute Nacht, Meister. Gute Nacht, meine Schätzchen. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für einen der angenehmsten Abende, die ich in meinem Leben gehabt habe.«

Die Bagnets sind dem Herrn sehr verpflichtet für das Vergnügen, und so scheiden sie mit vielen Ausdrücken der Zufriedenheit von einander.

»Nun, George, alter Junge«, sagt Mr. Bucket und nimmt an der Ladentür den Arm des Kavalleristen, »kommen Sie.«

Wie sie die kleine Straße hinabgehen und die Bagnets ihnen eine Weile nachsehen, bemerkt die Alte zu dem würdigen Lignum, »daß Mr. Bucket sehr an George zu hängen und ihn wirklich gern zu haben scheint«.

Da die nächstfolgenden Straßen eng und schlecht gepflastert sind, so ist es sehr unbequem für zwei Leute, nebeneinander Arm in Arm zu gehen, und Mr. George schlägt daher vor, sie sollten lieber einzeln marschieren. Mr. Bucket kann sich durchaus nicht entschließen, den Freund loszulassen, und vertröstet ihn: »Nur noch eine Minute, George! Ich möchte erst mit Ihnen sprechen.« Gleich darauf schiebt er ihn in ein Wirtshaus hinein und in ein Stübchen, stellt sich ihm gegenüber und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür.

»Hören Sie, George«, sagt er. »Pflicht ist Pflicht und Freundschaft ist Freundschaft. Ich will nie, daß die beiden einander in die Haare geraten, wenn ich es verhindern kann. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, die Sache heute abend angenehm zu gestalten, und sagen Sie selbst, ob ich es getan habe oder nicht. Aber jetzt haben Sie sich als verhaftet zu betrachten.«

»Verhaftet? Weshalb?« entgegnet der Kavallerist, wie vom Donner gerührt.

»Hören Sie, George«, sagt Mr. Bucket und hebt bedeutungsvoll und eindringlich seinen dicken Zeigefinger in die Höhe. »Pflicht, das wissen Sie recht gut, und Unterhaltung sind zweierlei. Es ist meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß jede Äußerung, die Sie tun, unter Umständen belastend für Sie sein kann. Also nehmen Sie sich in acht, George, mit dem, was Sie sagen. Also: Haben Sie nicht zufällig von einer Mordtat gehört?«

»Einer Mordtat?«

»George«, sagt Mr. Bucket und macht mit seinem Zeigefinger eine ausdrucksvolle Bewegung, »vergessen Sie nicht. Sie sind diesen Nachmittag in gedrückter Stimmung gewesen. Ich sage, haben Sie zufällig nichts von einem Mord gehört?«

»Nein. Wer ist denn ermordet worden?«

»Passen Sie auf, George. Kompromittieren Sie sich nicht. Ich will Ihnen sagen, weshalb ich Sie verhafte. Es ist jemand in Lincoln’s-Inn-Fields ermordet worden – ein Gentleman namens Tulkinghorn. Er ist gestern nacht erschossen worden.«

Der Kavallerist sinkt auf eine hinter ihm stehende Bank zurück. Große Schweißtropfen perlen auf seiner Stirn, und Totenblässe überzieht sein Gesicht.

»Bucket! Es ist doch nicht möglich, daß Sie mich in Verdacht haben, Mr. Tulkinghorn ermordet zu haben?«

»George«, – Mr. Bucket bewegt immer noch seinen Zeigefinger hin und her – »das ist nicht nur möglich, sondern sogar der Fall. Die Tat geschah gestern abend um zehn Uhr. Nun wissen Sie doch jedenfalls, wo Sie gestern abend um zehn Uhr waren, und können es beweisen.«

»Gestern abend? Gestern abend?« wiederholt der Kavallerist gedankenvoll. Dann geht ihm plötzlich ein Licht auf. »Gott im Himmel, ich war gestern abend dort.«

»Das weiß ich, George«, entgegnet Mr. Bucket mit großer Überlegung. »Ich weiß es. Und Sie sind sehr oft dort gewesen. Man hat Sie häufig in der Gegend gesehen und mehr als ein Mal gehört, daß Sie sich mit ihm herumgezankt haben. Man soll sogar – ich sage nicht, daß es der Fall sein muß, wohl verstanden –, aber man will ihn Sie einen gewalttätigen gefährlichen Kerl haben nennen hören.«

Der Kavallerist schnappt nach Luft, als wolle er alles das zugeben und könne nur nicht sprechen.

»Also, George«, fährt Mr. Bucket fort und legt seinen Hut auf den Tisch mit einer geschäftsmäßigen Miene wie ein Tapezierer. »Mein Wunsch ist, die Sache so glatt und angenehm zu machen, wie sie den ganzen Abend gewesen ist. Ich sage Ihnen offen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, hat eine Belohnung von hundert Guineen ausgesetzt. Wir beide sind immer gut miteinander ausgekommen, und ich sehe nicht ein, weshalb ich die hundert Guineen nicht ebensogut wie irgendein andrer verdienen sollte. Aus allen diesen Gründen wird es Ihnen hoffentlich klar sein, daß ich Sie haben muß und daß ich verdammt sein will, wenn ich Sie jetzt nicht habe. Soll ich Beistand herbeirufen oder geht die Sache glatt?«

Mr. George hat sich erholt und richtet sich auf wie ein Soldat. »Los!« sagt er. »Ich bin bereit.«

»Warten Sie einen Augenblick, George«, fährt Mr. Bucket fort.

Mit seiner Tapezierermiene, als wäre der Kavallerist ein auszubesserndes Möbel, holt er ein Paar Handschellen aus der Tasche.

»Es ist eine peinliche Sache, George, aber die Pflicht schreibt es mir vor…«

Der Kavallerist wird blutrot vor Zorn und zögert einen Augenblick; dann aber hält er seine beiden Hände hin und sagt: »Da! Legen Sie sie an!«

Mr. Bucket hat die Handschellen im Nu befestigt. »Wie passen sie Ihnen? Sind sie bequem? Wenn nicht, so sagen sie’s, denn ich möchte Ihnen alles so angenehm machen, wie es sich nur irgend mit meiner Pflicht verträgt, und ich habe noch ein Paar in der Tasche.« Er sagt das alles wie ein höchst respektabler Kaufmann, dem die sorgfältigste Ausführung eines Auftrags sehr am Herzen liegt.

»Passen sie Ihnen so, wie sie sind? Also gut! Sie sehen, George«, er nimmt einen Mantel aus einer Ecke und hängt ihn dem Kavalleristen um, »ich habe auf Ihre Gefühle Rücksicht genommen und den Mantel zu diesem Zweck mitgebracht. So. Wer weiß jetzt was?«

»Nur ich«, entgegnet der Kavallerist, »aber da ich es weiß, tun Sie mir nur noch den einzigen Gefallen und ziehen Sie mir den Hut über die Augen.«

»Trotzdem? Glauben Sie? Warum eigentlich? Es sieht nicht gut aus.«

»Ich kann niemandem mit diesen Dingern an den Händen ins Gesicht sehen«, antwortet Mr. George hastig. »Um Gottes willen, ziehen Sie mir den Hut ins Gesicht.«

So eindringlich gebeten, gibt Mr. Bucket nach, setzt dann selbst seinen Hut auf und führt seine Beute auf die Straße hinaus. So fest wie immer marschiert der Kavallerist einher, nur den Kopf trägt er weniger aufrecht, und Mr. Bucket steuert ihn über die Straßenübergänge und um die Ecken.

50. Kapitel


50. Kapitel

Esthers Erzählung

Als ich von Deal nach Hause kam, fand ich einen Brief von Caddy Jellyby mit der Nachricht vor, ihr Gesundheitszustand, seit einiger Zeit schon nicht der beste gewesen, habe sich verschlimmert, und sie würde sich mehr, als sie sagen könne, freuen, wenn ich sie besuchen käme. Es waren nur wenige Zeilen, offenbar im Bett geschrieben, und ihnen lag ein Brief von ihrem Gatten bei, der ihre Bitte unterstützte.

Caddy war inzwischen Mutter geworden und ich die Patin eines niedlichen, uralt aussehenden Würmchens mit einem Gesicht, so klein, daß man kaum etwas andres als den Mützenbesatz sehen konnte. Seine kleinen magern langfingerigen Händchen hielt es beständig unter dem Kinn zusammengeballt. In dieser Stellung pflegte es nämlich den ganzen Tag dazuliegen, die hellen Äugelchen weit offen und offenbar ganz verwundert, warum es so klein und schwach war. Nur wenn man es nahm, schrie es, aber zu allen andern Zeiten war es so geduldig, daß es der einzige Wunsch seines Lebens zu sein schien, still zu liegen und nachzudenken. Es hatte seltsame tiefblaue kleine Äderchen im Gesicht und merkwürdige dunkle Flecken unter den Augen, die aussahen wie Erinnerungszeichen an Caddys Tintenklecksepoche, und alles in allem bot es für Fremde oder Unbeteiligte einen recht kläglichen Anblick.

Aber Caddy war offenbar daran gewöhnt. Ihre Pläne und Gedanken über der kleinen Esther Erziehung und deren künftige Heirat, mit denen sie sich die Stunden ihres Krankenlagers verkürzte und sich zuweilen bis in die ferne Zukunft verstieg, wo sie erst Großmutter sein würde, sprachen so hübsch von ihrer Liebe und Hingebung zu diesem Stolz ihres Lebens, daß ich gerne noch mehr davon erzählen würde, wenn ich nicht fürchten müßte, mich dabei allzu sehr aufzuhalten.

Um also wieder auf den Brief zurückzukommen. Caddy frönte in bezug auf mich einem Aberglauben, der sich von jenem längst vergangnen Abend, wo sie mit ihrem Kopf auf meinem Schoß eingeschlummert war, herleitete und im Lauf der Zeit immer stärker geworden war. Sie bildete sich nämlich ein, daß ihr meine Nähe gut täte. Natürlich war das nur eine Grille des guten Kindes, die zu erwähnen ich mich fast schäme, der ich aber, wo sie jetzt wirklich krank war, jedenfalls Rechnung tragen mußte. Deshalb fuhr ich mit meines Vormunds Einwilligung bereits mit der nächsten Post zu ihr, und sie und Prince empfingen mich mit einer Überschwenglichkeit, die wirklich schon jedes Maß überstieg.

Den Tag darauf besuchte ich sie abermals, und den nächsten Tag wieder.

Es war durchaus keine beschwerliche Reise, und ich brauchte nur früh etwas zeitiger aufzustehen, um meine Rechnungen in Ordnung zu bringen und die Wirtschaftsangelegenheiten vorzubereiten, ehe ich mich auf den Weg machte; aber nach dem dritten Besuch sagte mein Vormund zu mir, als ich abends zurückkehrte:

»Nein, kleines Frauchen, das geht so nicht weiter. Steter Tropfen höhlt den Stein, und wenn Mütterchen Spinnweb immer so hin und her fahren wollte, würde sie das schließlich sehr angreifen. Wir müssen auf einige Zeit nach London gehen und unsre alte Wohnung wieder beziehen.«

»Bitte, nicht meinetwegen, lieber Vormund«, sagte ich. »Es ermüdet mich gar nicht« – das war auch wirklich der Fall – »und ich fühle mich so glücklich, daß man meiner bedarf.«

»Also dann meinetwegen und Adas wegen. – Morgen ist übrigens, wenn ich nicht irre, irgend jemandes Geburtstag.«

»Es kommt mir wahrhaftig auch so vor.« – Ich küßte meinen Liebling, der morgen einundzwanzig Jahre alt wurde.

»Ja, das ist ein wichtiger Tag«, sagte mein Vormund halb scherzend, halb ernst, »und meine schöne Kusine wird allerhand Wege haben, weil sie volljährig wird. Schon deswegen müssen wir nach London. Das wäre also abgemacht. Sag mal, wie geht es übrigens Caddy?«

»Nicht besonders, Vormund. Ich fürchte, es wird immerhin einige Zeit dauern, ehe sie wieder zu Kräften kommt.«

»Was nennst du einige Zeit?« fragte mein Vormund nachdenklich.

»Einige Wochen, fürchte ich.«

»So, so!« Er schien sich dasselbe gedacht zu haben. »Was meinst du über ihren Arzt? Ist er gut und verläßlich, mein Kind?«

Ich sagte, daß man sich in keiner Hinsicht über ihn beklagen könne, aber Prince und ich hätten heute abend davon gesprochen, sein Urteil noch von einem andern bestätigen zu lassen.

»Da wäre doch Woodcourt am besten«, entgegnete mein Vormund rasch.

Ich hatte gar nicht an ihn gedacht und war daher ein wenig überrascht. Einen Augenblick schienen alle Gedanken, die ich mir je über Mr. Woodcourt gemacht hatte, in meiner Erinnerung aufzuwachen und mich zu verwirren.

»Hast du vielleicht etwas gegen ihn einzuwenden, kleines Frauchen?«

»Etwas gegen ihn einzuwenden? Gewiß nicht.«

»Und du glaubst nicht, daß die Kranke dagegen wäre?«

Ich bezweifelte nicht im geringsten, daß sie großes Vertrauen zu ihm haben und er ihr sehr gut gefallen würde. Sie kenne ihn übrigens persönlich und habe ihn oft bei Miß Flite gesehen.

»Ausgezeichnet«, sagte mein Vormund. »Er war heute hier, und ich werde ihn gleich morgen wegen der Sache aufsuchen.«

Während dieses kurzen Gesprächs hielt mich mein Herzenskind fröhlich umschlungen, und mich beschlich die deutliche Empfindung, trotzdem sie kein Wort sagte oder auch nur mit einem Blick darauf anspielte, daß sie daran dachte, wie mir Caddy damals den kleinen Abschiedsstrauß Mr. Woodcourts übergab. Das brachte mich auf den Gedanken, ich müsse ihr und auch Caddy anvertrauen, daß ich Mr. Jarndyces Gattin werden sollte, und diese Enthüllung schon um meiner selbst willen nicht weiter hinausschieben dürfe. Nachdem wir hinaufgegangen waren und ich gewartet hatte, bis es zwölf Uhr schlug, um als erste meinem Liebling zu ihrem Geburtstag Glück zu wünschen und sie an mein Herz zu schließen, vertraute ich ihr an, welch glückliches Leben mir bestimmt sei, und sie fiel mir um den Hals und war so zärtlich zu mir wie vielleicht nie vorher. Ich freute mich so sehr darüber, und das Gefühl, richtig gehandelt zu haben, war mir eine solche Erleichterung, daß ich mich noch zehnmal glücklicher fühlte als zuvor.

Den Tag darauf fuhren wir nach London. Unsre alte Wohnung stand leer, und in einer halben Stunde fühlten wir uns wieder so gemütlich darin, als hätten wir sie nie verlassen. Zur Feier des Geburtstags meines Lieblings hatte mein Vormund Mr. Woodcourt zu Mittag geladen, und es war so gemütlich, wie es bei der großen Lücke, die Richards Abwesenheit bei einem solchen Feste natürlich bedeuten mußte, nur sein konnte.

Von da an war ich acht oder neun Wochen lang meistens bei Caddy, und so kam es, daß ich Ada viel seltner sah als früher. Sie kam zwar oft zu Besuch, aber wir bemühten uns dann, die Kranke zu zerstreuen oder aufzuheitern, und plauderten daher nicht wie sonst in unsrer gewohnten vertraulichen Weise. So oft ich über die Nacht nach Hause ging, waren wir wohl beisammen, aber das war nicht häufig der Fall, denn ich blieb meistens bei Caddy, die oft vor Schmerzen schlaflos war, um sie zu pflegen.

Was für ein gutes Geschöpf Caddy doch war! Sie liebte ihren Gatten und ihr armes kleines Würmchen von einem Kind so zärtlich und mußte sich doch für ihre Häuslichkeit so abrackern! So voller Selbstverleugnung, so ohne die leiseste Klage, so bestrebt, der andern wegen gesund zu werden, und besorgt, jemand beschwerlich zu fallen, machte sie sich immerwährend Vorwürfe, ihrem Gatten jetzt in seinem Unterricht nicht beistehen und die Bequemlichkeiten des alten Mr. Turveydrop nicht unterstützen zu können, daß ich mir gestehen mußte, ich lernte sie erst jetzt von ihrer besten Seite kennen. Und es war so seltsam, daß sie blaß und hilflos Tag für Tag daliegen mußte, wo doch das Tanzen ihr Lebensberuf war und schon frühzeitig jeden Morgen die Fiedel den Schülern im Ballsaal aufspielte und der melancholische kleine Junge den ganzen Nachmittag allein in der Küche Walzer tanzte.

Auf ihren Wunsch übernahm ich die Oberaufsicht über ihr Zimmer, räumte es auf und schob sie samt ihrem Bett in eine helle, luftigere und freundlichere Ecke, und jeden Tag, wenn alles sauber aufgeräumt worden war, legte ich ihr mein kleines Namensschwesterchen in die Arme und setzte mich neben sie, um zu arbeiten, zu plaudern oder ihr vorzulesen. Bei einer solchen Gelegenheit erzählte ich ihr auch von der bevorstehenden Änderung in meinem Schicksal.

Außer Ada bekamen wir noch mancherlei Besuch. In erste Linie natürlich von Prince, der oft in den ihm so kärglich zugemeßnen freien Minuten zwischen den Lehrstunden vorsichtig hereinkam und sich leise hinsetzte, zärtlich um Caddy und das winzige Kind bekümmert. Mochte sich Caddy gut oder schlecht befinden, immer versicherte sie Prince, sie sei fast schon gesund, und ich versäumte natürlich nicht, ihm das zu bestätigen.

Das pflegte ihn immer sehr aufzuheitern. Er nahm dann zuweilen die Violine aus der Tasche und spielte ein paar Noten, um das Baby in Erstaunen zu versetzen, aber es wollte ihm niemals gelingen, denn mein kleines Namensschwesterchen nahm nicht die geringste Notiz davon.

Zuweilen kam auch Mrs. Jellyby. Sie saß dann in ihrer gewohnten zerstreuten Art ruhig da und blickte über ihr Enkelkind hinaus in unendliche Fernen, als wäre ihre Aufmerksamkeit ganz und gar von irgendeinem jungen Borriobulaner an seinem heimischen Strand in Anspruch genommen. So klaräugig, heiter, ruhig und unsauber wie immer pflegte sie dann stets zerstreut zu fragen: »Nun, Caddy, mein Kind, wie geht es dir heute?« Und dann saß sie wieder liebenswürdig lächelnd da, überhörte die Antwort und schien im Geiste die Zahl der Briefe, die sie empfangen oder noch zu beantworten hatte, zu überschlagen oder über die Ertragsfähigkeit der Kaffeebäume in Borriobula-Gha Berechnungen anzustellen. Ein gewisse fröhliche Geringschätzung der Beschränktheit unsres Wirkungskreises, aus der sie kein Hehl machte, lag dabei stets in ihren Mienen.

Auch der alte Mr. Turveydrop kam zuweilen.

Von Morgen bis Abend und von Abend bis Morgen war er ununterbrochen der Mittelpunkt umfassender Vorsichtsmaßregeln. Schrie zum Beispiel das Wickelkind, so erstickte man es fast, damit der Lärm ihn nicht störe. Mußte das Feuer in der Nacht geschürt werden, tat man es heimlich und so geräuschlos wie möglich.

Zum Dank für solche Rücksicht kam er gewöhnlich ein Mal des Tages mit seinem Segen in das Krankenzimmer und legte dabei eine Herablassung, eine Gönnermiene und ein so huldreiches Wesen an den Tag, wenn er das Licht seiner hochschultrigen Anwesenheit leuchten ließ, daß man hätte meinen sollen, er wäre Caddys Wohltäter von ihrer Kindheit an gewesen.

»Liebe Caroline«, pflegte er zu sagen und sich, soweit ihm das sein Schnürleib erlaubte, über sie zu beugen, »sagen Sie mir, daß Sie sich heute viel besser befinden.«

»Oh, viel besser, ich danke Ihnen, Mr. Turveydrop«, gab dann stets Caddy zur Antwort.

»Entzückend! Bezaubernd! Und Sie, liebe Miß Summerson, brechen Sie nicht vor Ermüdung zusammen ?« Er blinzelte mich dabei immer an und warf mir einen Kußfinger zu, aber glücklicherweise war er in seinen Aufmerksamkeiten bei weitem nicht mehr so übertrieben, seit mein Gesicht entstellt war.

»Oh, durchaus nicht, Mr. Turveydrop!«

»Entzückend! Wir müssen unsre liebe Caroline sehr in acht nehmen, Miß Summerson! Wir dürfen es ihr an nichts fehlen lassen, was zu ihrer Genesung beitragen kann. Wir müssen sie kräftig nähren. Meine liebe Caroline«, pflegte er sich dann jedes Mal mit Gönnermiene und unendlicher Großmut an seine Schwiegertochter zu wenden, »lassen Sie es sich nur ja an nichts fehlen, meine Liebe. Alles im Hause, alles hier im Zimmer steht zu Ihrer Verfügung, meine Tochter. Und nehmen Sie nicht die mindeste Rücksicht«, setzte er manchmal in einem Anfall von Edelmut hinzu, »auf meine einfachen Bedürfnisse, wenn Sie zufällig einmal mit den meinigen in Konflikt geraten sollten, liebe Caroline. Ihre gehen selbstverständlich den meinigen stets vor.«

– Der Glorienschein, der sein Haupt umwob, bildete sein schon von altersher – schon von seiner verstorbnen Gattin her – so angestammtes Recht, daß niemand auch nur auf den Gedanken kam, daran zu rütteln. Ich habe sogar mehrere Male gesehen, wie Caddy und Prince durch seine Opferwilligkeit bis zu Tränen gerührt waren. –

Wenn Caddy in solchen Fällen ihren abgemagerten Arm um seinen fetten Hals schlang, remonstrierte er gewöhnlich: »Nein, nein, ich habe gelobt, euch nie zu verlassen. Erfüllet eure Pflicht gegen mich, meine Kinder, und habt mich lieb, weiter verlange ich nichts. Und jetzt, Gott segne euch! Ich gehe in den Park.«

Wie Caddys Augen standen dann auch immer meine voll Tränen, wenn auch aus ganz andern Gründen.

Er schöpfte im Park frische Luft, natürlich nur, um Appetit zu seinem Mittagessen im Hotel zu bekommen.

Hoffentlich tue ich dem alten Mr. Turveydrop kein Unrecht, aber bessere Züge als die hier getreulich berichteten habe ich wirklich niemals an ihm bemerkt. Höchstens vielleicht, daß er zu dem kleinen Peepy eine Neigung faßte und ihn zuweilen in großem Staat spazieren führte. Bei solchen Gelegenheiten schickte er ihn aber stets nach Hause, wenn er zu Tisch ging, und schenkte ihm hie und da einen halben Penny. Aber auch diese guten Seiten Mr. Turveydrops verursachten mancherlei Kosten und Zeitverlust, denn ehe Peepy genügend geschmückt war, um Hand in Hand mit dem Meister des Anstandes spazieren gehen zu können, mußte er natürlich auf Kosten Caddys und ihres Gatten von Kopf bis zu Fuß neu gekleidet werden.

Der letzte in der Reihe der Besucher war Mr. Jellyby. Ich muß sagen, wenn er des Abends kam und Caddy mit leiser Stimme fragte, wie es ihr gehe, und sich dann hinsetzte, den Kopf an die Wand gelehnt, und niemals auch nur den Versuch machte, ein Wort zu sprechen, hatte ich ihn wirklich gern. Wenn er mich herumschäftern oder irgend etwas aufräumen sah, zog er manchmal seinen Rock halb aus, als beabsichtigte er, mir beizuspringen, aber weiter kam es nie. Seine einzige Beschäftigung war, dazusitzen und den versonnenen Säugling fest anzusehen. Und ich hatte beim Anblick dieses Idylls immer die komische Empfindung, daß sie einander verstünden.

Unter unsern Besuchern habe ich Mr. Woodcourt nicht angeführt, da er ja als Arzt selbstverständlich regelmäßig zu Caddy kam. Unter seiner Behandlung besserte sich ihr Zustand bald; aber er war so sanft, geschickt und unermüdlich, daß das kein Wunder war.

Ich sah Mr. Woodcourt damals sehr oft, trotzdem ich häufig während der Stunden, wo er erwartet wurde und ich Caddy in seinen Händen gut aufgehoben wußte, auf einen Sprung nach Hause eilte. Trotzdem trafen wir uns recht häufig. Ich hatte ihm gegenüber mein Gleichgewicht vollständig wiedergefunden, aber es war mir immer noch ein wohltuendes Gefühl, zu denken, daß er meinetwegen bekümmert war. Er war jetzt Assistent bei Mr. Badger und hatte für die Zukunft noch keine bestimmten Pläne gefaßt.

Um die Zeit, als Caddy sich zu erholen begann, fing ich an, eine Veränderung an meinem Liebling zu bemerken. Ich kann nicht sagen, wann das zuerst geschah, und es war auch eigentlich das Zusammenwirken vieler Kleinigkeiten, das mich darauf aufmerksam machte. Es kam mir so vor, als sei Ada nicht mehr so heiter und offen gegen mich wie früher. Daß sie in ihrer Liebe zu mir so zärtlich und treu wie immer war, daran konnte ich keinen Augenblick zweifeln, aber es bedrückte sie ein stiller Kummer, den sie vor mir verbarg und der von einer heimlichen Wunde herrühren mußte.

Das machte mir oft Sorgen, und das Glück meines Lieblings lag mir so am Herzen, daß ich viel darüber nachdenken mußte. Endlich, als ich wirklich fest überzeugt war, daß Ada mir etwas verberge, kam ich auf die Vermutung, sie sei vielleicht meinetwegen unglücklich, und zwar dessentwegen, was ich ihr hinsichtlich meines zukünftigen Schicksals gesagt hatte. Wieso ich daraufkam, weiß ich nicht, aber keinesfalls war eine selbstsüchtige Ansicht von der Sache meinerseits der Grund, denn ich fühlte mich durchaus nicht unglücklich und war im Gegenteil vollständig zufrieden. Dennoch schien es mir glaubhaft, Ada könne innerlich darüber betrübt sein und vielleicht mit Schmerz daran zurückdenken, was einmal gewesen.

Was könnte ich nur tun, überlegte ich mir, um sie von solchen Gedanken abzubringen und sie eines Bessern zu belehren? Wohl kaum etwas Richtigeres, als so fröhlich und geschäftig zu sein wie möglich. Und so gab ich mir denn die größte Mühe in dieser Hinsicht.

Da Caddys Pflege mehr oder weniger mit meinen sonstigen häuslichen Pflichten kollidiert hatte, wenn ich auch stets morgens meinem Vormund das Frühstück bereitet und er hundert Mal lachend gesagt hatte, es müsse wahrscheinlich zwei kleine Frauchen auf der Welt geben, denn immer sei eine an zwei ganz verschiednen Orten, so beschloß ich doch jetzt, alles nachzuholen und doppelt fleißig zu sein, lief im Hause herum, summte alle Melodien, die ich kannte, und arbeitete von früh bis Abend und schwatzte und plauderte den ganzen langen Tag hindurch.

Aber trotz alledem wollte der Schatten zwischen mir und meinem Herzenskind nicht weichen.

»Also, Mütterchen«, bemerkte mein Vormund eines Abends, als wir alle drei beisammen saßen, und machte sein Buch zu, »also Woodcourt hat Caddy Jellyby wieder zum Vollgenuß ihrer Gesundheit verholfen ?«

»Ja«, sagte ich. »Und solche Dankbarkeit erwecken, wie sie sie für ihn empfindet, heißt Reichtümer sammeln, Vormund.«

»Ich wünschte, ich könnte ihn auch in andrer Hinsicht reich machen«, nickte Mr. Jarndyce gedankenvoll. »Wirklich, von ganzem Herzen.«

Ich stimmte ihm bei und sprach es aus.

»Jawohl. Wir würden ihn so reich machen wie einen Juden, wenn wir nur wüßten, wie, nicht wahr, kleines Frauchen?«

Ich arbeitete an meiner Stickerei weiter und lachte und meinte, daß ich das doch nicht so genau wüßte, denn vielleicht würde es ihn verderben, und so mancher würde dann seine Hilfe entbehren müssen. Wie Miß Flite und Caddy und viele andere.

»Du hast recht, Mütterchen. Das habe ich nicht bedacht. Aber ihn so reich zu machen, daß er davon bequem leben könnte, dagegen hättest du doch nichts? Reich genug, um mit Ruhe arbeiten zu können. Reich genug, um sein eignes glückliches Heim und seine eignen Hausgötter haben zu können – und vielleicht auch seine Hausgöttin?«

»Das wäre natürlich etwas andres«, gab ich zu. Darin wären wir gewiß alle einig.

»Ja, ja«, sagte mein Vormund, »wir alle. Ich habe eine hohe Meinung von Woodcourt und schätze ihn sehr. Übrigens habe ich ihn, ohne es ihn merken zu lassen, über seine Zukunftspläne ausgeholt. Es ist schwer, einem unabhängigen Mann, der so berechtigterweise auf sich stolz sein kann wie er, Hilfe anzubieten, und dennoch täte ich es gern, wenn ich nur wüßte, wie. Er scheint so halb und halb wieder zu einer neuen Seereise entschlossen zu sein, und das bedeutet für einen Menschen wie ihn ungefähr so viel, wie alle seine Talente zu begraben.

»Es könnte ihm doch vielleicht eine neue Welt eröffnen«, sagte ich.

»Ja, ja, vielleicht, kleines Frauchen, und ich zweifle, daß er sich von der alten Welt noch besondre Hoffnungen macht. Ich glaube immer, es hat ihn irgendein Schicksalsschlag oder eine besondre Enttäuschung betroffen. Hast du niemals etwas dieser Art von ihm gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Hm. Dann muß ich mich wohl geirrt haben.«

Es trat eine kleine Pause ein, und ich summte, da ich das für das Beste hielt, meinen Liebling aufzuheitern, eine Melodie, die mein Vormund gern hatte, und arbeitete dabei ruhig an meiner Handarbeit weiter.

»Und glaubst du, es wird dazu kommen, daß Mr. Woodcourt abermals auf Reisen gehen wird, Vormund?«

»Ich weiß nicht recht, was ich darüber denken soll, meine Liebe, aber es macht mir den Eindruck, als wolle er in einem andern Lande sein Glück versuchen.«

»Er nimmt unsre allerbesten und herzlichsten Wünsche mit, wohin er auch gehen mag«, sagte ich, »und wenn das auch keine Reichtümer sind, wird es ihn darum doch nicht ärmer machen, Vormund.«

»Nein, sicher nicht, kleines Frauchen.«

Ich saß auf meinem gewohnten Platz neben meinem Vormund, und als ich Ada mir gegenüber anblickte, sah ich, daß ihre Augen voller Tränen standen. Ich fühlte, daß ich bloß gefaßt und heiter zu sein brauchte, um sie zu beruhigen, und da mir wirklich so zumute war, fiel es mir nicht schwer.

So ließ ich denn meinen Liebling sich an meine Schulter lehnen und sagte ihr, sie sei nicht ganz wohl, schlang meinen Arm um ihre Taille und führte sie hinauf.

Wie wenig ahnte ich, was ihr so schwer auf dem Herzen lag.

Als wir in unserm Zimmer waren und sie, wie ich ihr ansah, mit sich kämpfte, mir etwas anzuvertrauen, was ich nicht zu hören erwartete, verredete ich die Gelegenheit und munterte sie nicht auf, mir ihr Herz auszuschütten, nicht ahnend, wie sehr sie dessen bedurfte.

»Ach, meine liebe gute Esther«, sagte sie, »wenn ich mich nur entschließen könnte, mit dir und meinem Vetter John zu sprechen, wenn ihr beisammen seid.«

»Aber warum tust du es denn nicht, meine Liebe?« fragte ich ganz erstaunt. »Ada?«

Sie ließ nur den Kopf sinken und drückte mich fester ans Herz.

»Du darfst nicht vergessen, liebes Kind«, sagte ich lächelnd, »was für ruhige altmodische Leute wir sind und was für eine gesetzte Matrone ich geworden bin. Du darfst nicht vergessen, welch glückliches friedvolles Leben meiner wartet, und an wessen Seite. Du mußt dir immer vor Augen führen, an der Seite welches hochherzigen Menschen, Ada!«

»Ja, immer, Esther.«

»Aber dann ist ja alles in Ordnung, Liebling. Warum kannst du dann nicht mit uns sprechen?«

»Alles in Ordnung, Esther? Ach, wenn ich an alle diese Jahre, an seine väterliche Sorgfalt und Güte und unsre alten freundschaftlichen Beziehungen und an dich denke, was soll ich da tun, was soll ich da tun?«

Ich sah meinen Liebling ein wenig verwundert an, hielt es aber für das Beste, das Gespräch auf allerlei kleine gemeinsame Erinnerungen zu lenken, um sie zu verhindern, mehr zu sagen.

Als sie sich niedergelegt und eingeschlafen war, kehrte ich noch einmal zu meinem Vormund zurück, um ihm gute Nacht zu sagen, ging dann wieder zu ihr und setzte mich eine kleine Weile an ihr Bett.

Sie schlief bereits fest, und wie ich sie ansah, kam sie mir ein wenig verändert vor. Mehr als ein Mal schon hatte mir das in der letzten Zeit so geschienen, aber auch jetzt konnte ich mir nicht darüber klar werden, woran es lag. Irgend etwas in der mir so vertrauten Schönheit ihres Gesichtes war anders geworden. Traurig gedachte ich der Hoffnungen, die einstmals mein Vormund auf sie und Richard gesetzt hatte, und sagte mir, daß sie sich um ihren Geliebten gegrämt haben müsse. Sorgenvoll fragte ich mich, welches Ende diese Liebe wohl noch nehmen werde.

So oft ich während Caddys Krankheit nach Hause gekommen war, immer hatte Ada bei einer Handarbeit gesessen, sie stets weggelegt, wenn ich eintrat, so daß ich nie erfuhr, was es war. Ein Zipfel davon guckte jetzt aus dem halboffnen Schubkasten neben ihrem Bett hervor. Ich zog den Kasten natürlich nicht auf, aber es wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, welcher Art die Arbeit wohl sein möge, denn für sie selbst war sie gewiß nicht bestimmt.

Auch bemerkte ich, als ich meinen Liebling küßte, daß sie eine Hand unter dem Kopfpolster verborgen hielt.

Wie viel selbstsüchtiger muß ich damals gewesen sein, als ich von mir glaubte, und wie ganz und gar von Selbstzufriedenheit ausgefüllt, daß ich wähnen konnte, es läge nur in meiner Hand, Ada zu trösten und ihrem Herzen den Frieden wiederzugeben.

So in Selbsttäuschung befangen, legte ich mich nieder, und als ich am nächsten Tag erwachte, da lag der alte Schatten immer noch zwischen mir und meinem Herzenskind.

51. Kapitel


51. Kapitel

Mir geht plötzlich ein Licht auf

Als Mr. Woodcourt in London ankam, ging er noch am selben Tag, wie er mir später erzählte, zu Mr. Vholes in Symond’s-Inn. Von dem Augenblick an, wo ich ihn bat, Richards Freund zu sein, vergaß er niemals sein Versprechen. Er hatte mir gesagt, daß er den Auftrag als ein ihm heiliges Vertrauensamt übernähme, und war dem keine Minute untreu geworden.

Er fand Mr. Vholes in seiner Kanzlei und setzte ihn von seiner Übereinkunft mit Richard, sich hier nach seiner Adresse zu erkundigen, in Kenntnis.

»Schon richtig, Sir«, sagte Mr. Vholes. »Mr. C. wohnt keine hundert Meilen von hier, Sir. Wollen Sie gefälligst Platz nehmen, Sir.«

Mr. Woodcourt lehnte dankend ab, denn er hatte weiter nichts mit Mr. Vholes zu besprechen.

»Schon richtig, Sir«, sagte Mr. Vholes, abermals durch Nichtnennen der Adresse stillschweigend auf seiner Aufforderung, sein Besuch möge sich doch niedersetzen, beharrend. »Ich glaube, Sir, Sie haben einen gewissen Einfluß auf Mr. C. – Besser gesagt, ich weiß es.«

»Da wissen Sie mehr als ich, Mr. Vholes.«

»Sir«, entgegnete der Advokat mit seiner gewohnten Zurückhaltung in seiner Stimme und seinem Benehmen, »es gehört sozusagen zu meinen Berufspflichten, solche Dinge besser zu wissen. Es ist ein Teil meiner Pflicht als Anwalt, einen Herrn, der mir seine Interessen anvertraut, zu studieren und von Grund auf zu verstehen. Und meine Pflicht als Advokat werde ich nie versäumen, Sir, wenn ich mir einmal darüber klar bin. Es kann vorkommen, wenn ich sie nicht kenne, aber andernfalls sicher nicht, Sir.«

Mr. Woodcourt bemerkte wiederum, daß er lediglich wegen der Adresse gekommen sei.

»Gestatten Sie mir nur noch einen Augenblick, Sir! Mr. C. spielt um einen beträchtlichen Einsatz, und er kann nicht spielen, ohne… Brauche ich zu sagen, ohne was?«

»Ohne Geld, vermutlich?«

»So ist es. Um ganz offen mit Ihnen zu reden – Offenheit und Ehrlichkeit sind meine Grundprinzipien, ob ich jetzt dabei gewinne oder verliere, und gewöhnlich verliere ich dabei –, so ist es: Geld! Über die Chancen Mr. C.s gebe ich keine Meinung ab – keine Meinung. Es könnte sehr unpolitisch von Mr. C. sein, aufzuhören, nachdem er so lang und so hoch gespielt hat. Es könnte ganz das Gegenteil sein. Ich sage nichts. Nein, Sir.« – Mr. Vholes legte mit großem Nachdruck die Hand flach auf seinen Schreibtisch. – »Nichts!«

»Sie scheinen zu vergessen«, unterbrach Mr. Woodcourt, »daß ich Sie nach nichts frage und auch nicht das mindeste Interesse an dem, was Sie mir da erzählen, habe.«

»Verzeihen Sie, Sir«, entgegnete Mr. Vholes, »Sie fügen sich selbst ein Unrecht zu. Jawohl, Sir. Entschuldigen Sie! Sie sollen nicht in meiner Kanzlei, wenn ich Sie daran hindern kann, ungerecht gegen sich selbst sein. Sie haben ein Interesse für alles und jedes, was sich auf Ihren Freund bezieht. Ich kenne die menschliche Natur viel zu gut, Sir, um auch nur einen Augenblick annehmen zu können, daß ein Herr von Ihrem Aussehen nicht an allem, was seinen Freund betrifft, Interesse haben sollte.«

»Mag sein«, gab Mr. Woodcourt zu. »Aber ein ganz besondres Interesse hab ich an seiner Adresse.«

(»Die Nummer, Sir?«) warf Mr. Vholes so in Parenthese hin (»glaube ich schon erwähnt zu haben)… Wenn Mr. C. fortfahren will, um diesen beträchtlichen Einsatz zu spielen, muß er Fundus haben. Wohl verstanden ! Es sind zur Zeit Kapitalien da, ich sage es also nicht deswegen. Ja, es sind Kapitalien da. Aber um weiter zu spielen, muß man sich nach einem größeren Fundus umsehen, wenn Mr. C. nicht verloren geben will, was er schon gewagt hat… Das allein ist zu erwägen. Ihnen dies als dem Freund Mr. C.s offen zu sagen, ergreife ich jetzt die Gelegenheit, Sir. Ohne Fundus werde ich mich immer glücklich schätzen, Mr. C.s Rechte in dem Maß zu vertreten, als die erforderlichen Kosten von dem Gericht aus dem strittigen Vermögen bewilligt werden, aber nicht einen Schritt weiter. Ich kann und darf es nicht, ohne nicht irgend jemandem ein Unrecht zuzufügen. Entweder muß ich meinen drei lieben Töchtern ein Unrecht zufügen oder meinem verehrten Vater, der ganz von mir abhängt – im Tale von Taunton –, oder irgendeiner andern Person. Es ist aber nun mein Grundsatz, nennen Sie es nun Schwäche oder Torheit, niemandem ein Unrecht zuzufügen.«

Mr. Woodcourt erwiderte etwas scharf, es freue ihn, das zu hören.

»Ich wünsche einen guten Namen zu hinterlassen; deshalb nehme ich jede Gelegenheit wahr, einem Freunde Mr. C.s offen den Stand seiner Angelegenheiten zu unterbreiten. Ich sage, Sir, in bezug auf mich: der Arbeiter ist seines Lohnes wert, und wenn ich versprochen habe, mich mit der Schulter gegen das Rad zu stemmen, so tue ich es und beziehe daraus, was ich verdiene. Zu diesem Zwecke lebe ich hier. Aus diesem Grund steht mein Name draußen an der Tür geschrieben.«

»Und Mr. Carstones Adresse, Mr. Vholes?«

»Sir, wie ich schon erwähnt zu haben glaube, wohnt er gleich daneben. Im zweiten Stock finden Sie seine Wohnung. Mr. C. wünscht in der Nähe seines Rechtsbeistandes zu sein, und ich habe nicht nur nichts dagegen, sondern es im Gegenteil gern, wenn man mich kontrolliert.«

Mr. Woodcourt wünschte Mr. Vholes kurz und kühl guten Tag und suchte Richard auf, dessen verändertes Aussehen er sich jetzt nur zu gut erklären konnte.

Er fand ihn in einem ungemütlichen Zimmer, das mit fadenscheinigen und verschossenen Möbeln ausgestattet war, ziemlich so, wie ich ihn vor gar nicht langer Zeit in seiner Stube in der Kaserne gefunden hatte, nur daß er nicht schrieb, sondern mit einem Buch in der Hand dasaß, mit seinen Gedanken und seiner Aufmerksamkeit sichtlich ganz woanders. Da die Türe zufällig offen stand, konnte Mr. Woodcourt ihn eine Weile betrachten, ohne von ihm bemerkt zu werden, und er sagte mir, daß er das angegriffne Aussehen und die Niedergeschlagenheit Richards, wie er so vor sich hinträumte, nie vergessen könne.

»Mein lieber Woodcourt«, rief Richard aus, sprang auf und streckte dem jungen Arzt die Hände entgegen. »Sie erscheinen ja wie ein Geist.«

»Wie ein guter, Richard«, war die Antwort, »der nur wartet, wie es Geister tun, bis man ihn anredet. Wie geht’s auf dieser Erdenwelt?«

– Sie setzten sich nebeneinander nieder. –

»Schlimm und langsam genug, wenigstens was meine Rolle in diesem Leben betrifft.«

»Was ist das für eine Rolle?«

»Eine, die auf der Kanzleigerichtsbühne gespielt wird.«

»Diese Sorte soll nicht besonders vergnüglich sein, habe ich mir sagen lassen«, bemerkte Mr. Woodcourt mit Kopfschütteln.

»Ich mir auch«, sagte Richard trübe.

Im nächsten Augenblick war er wieder heiterer und begann mit seiner natürlichen Offenheit:

»Woodcourt, ich möchte nicht gern von Ihnen mißverstanden werden, selbst wenn ich dadurch in Ihrer Achtung stiege. Sie müssen nämlich wissen, daß ich jetzt schon lange Zeit nicht besonders gut getan habe. Nicht etwa, daß ich beabsichtigt hätte, Schaden anzurichten, aber ich scheine zu nichts anderm fähig gewesen zu sein. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte mich von dem Netz fern gehalten, in dem ich jetzt hänge, aber ich kann es nicht recht glauben, obgleich ich wetten möchte, daß Sie darüber gar bald andre Meinungen zu hören bekommen werden, wenn das nicht schon der Fall gewesen ist. Der langen Rede kurzer Sinn ist: Ich fürchte, es hat mir an einem Ziel gefehlt, aber jetzt habe ich eins – oder es hat mich. Es ist jetzt zu spät, darüber zu streiten. Sie müssen mich eben so nehmen, wie ich bin, und so gut Sie können.«

»Abgemacht«, sagte Mr. Woodcourt. »Tun Sie dasselbe mit mir.«

»Ach, Sie! Sie können Ihren Beruf um seiner selbst willen betreiben und Hand an den Pflug legen, ohne ein einziges Mal zurückzublicken und in jeder Sache auf ein Ziel loszusteuern. Ja, Sie und ich, wir sind eben ganz verschiedne Menschen.«

Sein Ton war kummervoll, und er versank einen Augenblick wieder in seine müde Abspannung.

»Aber alles muß ein Ende haben«, rief er und schüttelte seine niedergedrückte Stimmung ab. »Wir werden sehen! Sie nehmen mich also, wie ich bin?«

»Ja, das will ich.«

Sie schüttelten einander die Hände, lachend, aber in tiefstem Ernst. Für einen von ihnen wenigstens kann ich mich aus meinem innersten Herzen verbürgen.

»Sie kommen wie von Gott gesandt«, sagte Richard, »denn ich habe hier niemanden zu Gesicht bekommen außer Vholes. – Woodcourt, eine Sache möchte ich ein für alle Mal gleich zu Anfang unsres Vertrages zur Sprache bringen. Sie könnten sonst kaum gut von mir denken, wenn ich es unterließe. Sie wissen wahrscheinlich von meinen Beziehungen zu meiner Kusine Ada?«

Mr. Woodcourt antwortete, ich hätte sie ihm angedeutet.

»Ich bitte Sie also, halten Sie mich nicht für einen berechnenden Egoisten. Glauben Sie nicht, daß ich mir bloß meinetwegen über diesen miserablen Kanzleigerichtsprozeß den Kopf zerbreche und halb und halb auch das Herz. Adas Interessen sind mit den meinen verflochten, und sie können nicht voneinander getrennt werden; Vholes arbeitet also für beide. Bedenken Sie das!«

Die Sache schien ihm so am Herzen zu liegen, daß Mr. Woodcourt ihm wiederholt versicherte, er denke das Beste von ihm.

»Sehen Sie, ich kann es nicht über mich bringen«, sagte Richard, mit ein wenig mehr Pathos – wenn er sich dessen auch nicht bewußt war –auf diesem Punkt verweilend, als gerade nötig gewesen wäre, »ich kann es nicht über mich bringen, einem aufrichtigen ehrlichen Menschen wie Ihnen, der mit einem so freundlichen Gesicht hierherkommt, selbstsüchtig und niedrig zu erscheinen. Ich wünsche, daß Ada zu ihrem Recht kommt, Woodcourt, so gut wie ich. Ich wünsche mein Äußerstes zu tun, um ihr dazu zu verhelfen, so gut wie mir selbst; ich setze aufs Spiel, was ich zusammenscharren kann, um sie und mich aus diesem Netz herauszuwickeln. Ich bitte Sie, bedenken Sie das!«

Später, als Mr. Woodcourt über das damals Geschehene nachdachte, war der Eindruck, den die Leidenschaftlichkeit Richards in diesem Punkte auf ihn gemacht hatte, so stark, daß er ganz besonders lang dabei verweilte, als er mir in großen Zügen von seinem ersten Besuch in Symond’s-Inn erzählte. Es machte die schon früher gehegte Besorgnis in mir wieder lebendig, Mr. Vholes könne auch das kleine Vermögen meines Lieblings heraussaugen und Richard habe sich, weil die Sache vielleicht schon ihren Anfang genommen, deswegen so ängstlich rechtfertigen wollen.

Die Zusammenkunft fand um die Zeit statt, wo ich angefangen hatte, Caddy zu pflegen, und ich kehre jetzt zu dem Zeitpunkt wieder zurück, wo sie genesen war und immer noch der Schatten zwischen mir und meinem Liebling schwebte. Ich schlug Ada eines Morgens vor, Richard zu besuchen, und es setzte mich ein wenig in Erstaunen, daß sie zögerte und nicht so freudig bereit war, als ich erwartet hatte.

»Aber Liebste«, sagte ich, »du hast dich doch nicht am Ende während der langen Zeit meiner Abwesenheit mit Richard gezankt?«

»Nein, Esther.«

»Oder keine Nachrichten von ihm bekommen?«

»Nein, nein.«

– Die Tränen in ihren Augen und dabei so viel Liebe in ihrem Gesicht? Ich konnte aus meinem Liebling nicht klug werden. –

»Soll ich vielleicht allein zu Richard gehen?« fragte ich. Nein, Ada wollte mich begleiten. Ob sie jetzt gehen möchte? »Ja, gehen wir.«

– Wahrhaftig, ich konnte aus meinem Liebling nicht klug werden. Tränen in den Augen!? –

Wir waren bald angezogen und gingen aus. Es war trübes Wetter, und mit Unterbrechungen fielen kalte Regenschauer. Es war einer jener farblosen Tage, wo alles finster und traurig aussieht. Die Häuser blickten uns zürnend an, der Ruß fiel auf uns nieder, und die ganze Natur war schlecht aufgelegt und zeigte ein böses Gesicht. Es kam mir vor, als passe mein hübscher Liebling gar nicht in diese düstern Straßen, und mehr Leichenbegängnisse, als ich je früher gesehen, schienen mir über das unheimliche feuchte Pflaster zu ziehen.

Es galt vor allem, die Lage von Symond’s-Inn zu erfragen. Ich stand eben im Begriff, mich in einem Laden danach zu erkundigen, da sagte Ada, sie glaube, es sei in der Nähe von Chancery-Lane.

»Dann können wir nicht mehr fehlgehen, Liebste, wenn wir diese Richtung einschlagen«, sagte ich.

So gingen wir denn nach Chancery-Lane, und wirklich, dort las ich: Symond’s-Inn.

Wir mußten jetzt die Hausnummer suchen. Oder Mr. Vholes‘ Kanzlei, besann ich mich. Denn Mr. Vholes‘ Kanzlei sollte gleich daneben sein. Vielleicht sei Mr. Vholes‘ Kanzlei an der Ecke dort, meinte Ada. Und richtig war sie dort.

Nun kam die Frage, welches Haustor daneben das richtige sei. Ich stimmte für das eine und mein Herzenskind für das andre, und abermals hatte sie recht. So gingen wir denn in den zweiten Stock hinauf, wo wir Richards Namen in großen weißen Buchstaben auf einer grabsteinähnlichen Platte lasen.

Ich wollte klopfen, aber Ada meinte, wir sollten den Türgriff aufklinken und hineingehen. So überraschten wir Richard, an einem Tisch mit bestaubten Aktenbündeln brütend, die mir wie blind gewordne Spiegel, in denen sich das Abbild seiner Seele malte, erschienen. Wo ich hinsah, las ich die unseligen Worte: »Jarndyce kontra Jarndyce«.

Er empfing uns sehr liebreich, und wir setzten uns.

»Wären sie ein wenig früher gekommen, hätten Sie Woodcourt hier gefunden«, sagte er. »Er ist wirklich ein guter Kerl. Er findet Zeit, mich manchmal zu besuchen, wo ein andrer mit nur der Hälfte seiner Arbeit kaum abkommen könnte. Und er ist so munter und frisch, so verständig, so ernst dabei –, kurz, so ganz das Gegenteil von mir, daß die Wohnung ordentlich freundlicher wird, wenn er kommt, und wieder düster, wenn er geht.«

»Gott segne ihn«, dachte ich, »daß er so Wort hält!«

»Er ist nicht so sanguinisch, Ada«, fuhr Richard fort und warf einen trüben Blick auf die Akten, »wie Vholes und ich gewöhnlich sind, aber er ist nur ein Laie und kennt die Geheimnisse nicht. Wir sind in sie eingedrungen und er eben nicht. Da kann man von ihm natürlich nicht erwarten, daß er sich in einem solchen Labyrinth besonders auskennt.«

– Wie sein Blick wieder über die Papiere hinschweifte und er sich mit beiden Händen über die Stirne strich, bemerkte ich, wie hohläugig er aussah und – wie trocken seine Lippen waren; auch hatte er alle Nägel an den Fingern abgenagt. –

»Glauben Sie, daß es sich hier gesund wohnt, Richard?« fragte ich.

»Nun, meine liebe Minerva«, gab Richard mit seinem alten fröhlichen Lachen zur Antwort, »die Umgebung ist hier freilich weder ländlich noch heiter, und wenn es hier ein wenig heller wird, können Sie mit ziemlicher Sicherheit wetten, daß die Sonne im Freien wolkenlos am Himmel steht. Aber vorläufig ist die Lage nicht schlecht. Es ist nicht weit zum Gericht und ganz in der Nähe von Vholes.«

»Vielleicht würde eine Trennung von beiden –«

»– mir guttun? Meinen Sie?« Richard zwang sich zu einem Lachen. »Leicht möglich! Aber das kann nur auf eine Weise geschehen; entweder muß es mit dem Prozeß aus sein, Esther, oder mit den Parteien. Aber wir werden dem Prozeß schon ein Ende machen, meine Liebe.«

– Die letzten Worte sagte er zu Ada, die ihm zunächst saß. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, da sie es von mir weggewendet hatte. –

»Wir machen gute Fortschritte«, fuhr Richard wieder zu mir gewendet fort. »Fragen Sie nur Vholes. Wir lassen die Sache nicht ruhen. Vholes kennt alle ihre Schliche und Abwege, und wir sind ihr überall auf den Fersen. Wir haben die Siebenschläfer schon oft in Erstaunen versetzt und werden das ganze Nest eines Tages schon aufwecken. Denken Sie an meine Worte.«

– Seine Hoffnungsfreudigkeit hatte mich seit langem schon schmerzlicher berührt als seine Niedergeschlagenheit. Sie hatte so gar nichts von wirklichem Hoffen an sich, war so hungrig und ruhelos, daß es mir lange schon ins Herz schnitt, aber der jetzt unauslöschlich auf sein hübsches Gesicht geschriebne Kommentar machte den Eindruck noch viel peinlicher. Ich sage »unauslöschlich«, denn ich fühlte im tiefsten Innersten, die Spuren frühzeitiger Sorgen, Selbstvorwürfe und Täuschungen würden bis zur Stunde seines Todes ihren Stempel auf sein Gesicht gedrückt haben, selbst wenn der unselige Prozeß in dieser Stunde seine glänzendsten Hoffnungen erfüllt hätte.

»Der Anblick unsres lieben kleinen Mütterchens«, sagte Richard, während Ada immer noch still und ruhig dasaß, »ist mir so liebgewohnt, und ihr Gesicht, so voll Teilnahme, dem Gesicht entschwundner Tage so ähnlich –«

»Ach nein, nein.« Ich lächelte und schüttelte den Kopf.

»– so ganz und gar das Gesicht der entschwundnen Tage« – Richard hatte einen Augenblick seinen alten herzlichen Ton wiedergefunden und ergriff meine Hände mit dem brüderlichen Gefühl, das nichts wanken machen konnte – »daß ich mich vor ihr nicht verstellen kann. Ich schwanke ein wenig, es ist ja wahr. Manchmal hoffe ich, liebe Esther, und manchmal – bin ich ganz verzweifelt. Aber nur scheinbar. Ich werde so müde…« Er ließ sanft meine Hand fallen und ging im Zimmer auf und nieder… Dann warf er sich auf das Sofa.

»Ich werde so müde«, wiederholte er trüb. »Es ist eine aufreibende, aufreibende Arbeit.«

Er stützte sich auf seinen Arm, seine Augen suchten den Boden, und er sagte diese Worte in einem so nachdenklichen Ton, daß mein Liebling aufstand, den Hut abband, neben ihm niederkniete, daß ihr goldblondes Haar wie Sonnenlicht auf sein Haupt herniederfiel, ihn mit ihren beiden Armen umschlang und mir ihr Gesicht zuwendete. – Welche Liebe und Hingebung lag in diesem Antlitz! –

»Liebe Esther«, sagte sie sehr ruhig, »ich gehe nicht wieder nach Hause.«

Mir ging plötzlich ein Licht auf.

»Nein, niemals wieder. Ich bleibe bei meinem lieben Gatten. Wir sind jetzt zwei Monate verheiratet. Geh nach Hause ohne mich, meine liebe Esther. Ich werde nie mehr wieder zurückkommen.«

Mit diesen Worten zog sie sein Haupt an ihre Brust und ließ es dort ruhen. Und wenn ich jemals in meinem Leben eine Liebe gesehen habe, die nur der Tod trennen kann, sah ich sie jetzt in ihrem Gesicht.

»Sprich mit Esther, meine liebe Ada«, unterbrach Richard das Schweigen. »Erzähle ihr, wie alles gekommen ist.«

Ich hob sie auf und schloß sie in meine Arme. Keins von uns sprach; ihre Wange ruhte an der meinen, und ich wollte nichts hören.

»Mein Herz«, sagte ich. »Mein Liebling. Mein armes, armes Kind!«

Ich bedauerte sie so sehr. Ich hatte Richard sehr gern, aber es drängte mich innerlich, sie tief zu bemitleiden.

»Esther, kannst du mir verzeihen ? Wird mir Vetter John verzeihen?«

»Liebes Kind, daran auch nur einen Augenblick zu zweifeln, hieße ihm ein schweres Unrecht tun. Und was mich betrifft…«

Was mich betraf, was hatte ich zu verzeihen?

Ich trocknete meinem schluchzenden Liebling die Tränen und setzte mich neben sie auf das Sofa, und Richard saß auf meiner andern Seite. Ganz so wie damals an jenem denkwürdigen Abend, wo sie mich ins Vertrauen gezogen und mir in ihrer jungen Begeisterung von ihrer Liebe geschwärmt hatten, erzählten sie mir, wie es gekommen war.

»Alles, was ich hatte, gehörte doch Richard«, sagte Ada, »aber er wollte es nicht annehmen, und was konnte ich da anderes tun, als seine Frau werden, wo ich ihn so innig liebte?«

»Und Sie waren so vollkommen von guten Werken in Anspruch genommen, Mütterchen«, erklärte Richard, »daß wir uns nicht entschließen konnten, Ihnen damals etwas davon zu sagen. Und überdies hatten wir nicht lange Zeit zur Überlegung. Wir gingen eines Morgens aus und ließen uns trauen.«

»Und als es geschehen war, Esther«, fiel mein Liebling ein, »sann ich beständig darüber nach, wie ich es dir am besten mitteilen sollte. Manchmal glaubte ich, du müßtest es auf der Stelle erfahren, und manchmal wieder, es dürfte nie sein und ich müßte es vor meinem Vetter John verheimlichen, und so schwankte ich unentschlossen hin und her, und es quälte mich sehr.«

– Wie selbstsüchtig mußte ich gewesen sein, daß ich nicht vorher daran gedacht hatte! –

Ich wußte nicht, was ich jetzt dazu sagen sollte. Es tat mir so leid, und doch hatte ich sie beide so lieb und freute mich, daß sie so aneinander hingen; ich bedauerte sie so sehr und empfand es doch wie Stolz, daß sie sich liebten. Noch nie haben in mir so schmerzliche und milde Empfindungen zu gleicher Zeit gekämpft, und ich wußte nicht, welches Gefühl das stärkere war. Aber eins war sicher, ich durfte ihren Lebensweg nicht verfinstern.

Als ich gefaßter geworden war, nahm mein Herzenskind ihren Trauring aus dem Busen, küßte ihn und steckte ihn an den Finger. Ich erinnerte mich an den gestrigen Abend und sagte Richard, sie habe ihn seit ihrer Verheiratung beständig im Schlafe getragen, und als Ada mich errötend fragte, woher ich das wisse, erzählte ich ihr, wie ich gesehen, und ohne zu ahnen, warum, daß sie die Hand unter dem Kissen versteckt gehalten hatte.

Dann fingen sie mir wieder an zu erzählen, wie alles gekommen war, und ich wurde wieder betrübt und erfreut und wieder ganz kindisch und mußte mein Gesicht verbergen, so gut es ging, um ihnen nicht allen Mut zu nehmen.

So verrann die Zeit, bis ich endlich an das Nachhausegehen denken mußte. Da wurde es am allerschlimmsten, und mein Herzenskind verlor alle Fassung. Sie warf sich an meine Brust, gab mir alle erdenklichen zärtlichen Namen und jammerte, was sie denn ohne mich anfangen solle. Richard ging es nicht viel besser, und ich selbst mußte mich zusammennehmen, um mich nicht am wenigsten gefaßt von uns allen dreien zu zeigen. Nur daß ich mir sagte: »Esther, wenn du dich nicht besser benimmst, spreche ich nie ein Wort mehr mit dir«, half mir ein wenig.

»Wirklich, ich erkläre«, sagte ich, »so eine junge Ehefrau ist mir noch nicht vorgekommen. Man sollte denken, daß sie ihren Mann überhaupt nicht lieb hat. Hier, Richard, nehmen Sie um Himmels willen mein Herzenskind!« Aber ich hielt Ada die ganze Zeit über fest an mich gedrückt und hätte, ich weiß nicht wie lange, an ihrer Wange weinen können.

»Ich gebe hiermit diesem lieben jungen Ehepaar kund und zu wissen«, sagte ich endlich, »daß ich nur gehe, um morgen wieder zu kommen, und das so Tag für Tag, bis Symond’s-Inn meinen Anblick satt hat. Deshalb sage ich ihnen auch nicht Lebewohl, Richard. Was haue das für einen Zweck, wo ich so bald wiederkomme.«

Ich hatte ihm meinen Liebling jetzt übergeben und wollte gehen. Aber ich konnte nicht fort, ohne nicht noch einen letzten Blick auf das liebe Gesicht zu werfen, von dem ich mich nicht trennen konnte, ohne daß es mir das Herz zerriß.

So sagte ich denn in erkünstelter Lustigkeit, wenn sie mich nicht aufforderten, wiederzukommen, wüßte ich nicht, ob ich mir »die Freiheit nehmen« dürfe? Mein Liebling blickte auf, lächelte unter Tränen, und ich nahm ihr liebes Gesicht zwischen meine beiden Hände, gab ihm einen letzten Kuß und lachte und lief fort.

Aber als ich die Treppe unten war, wie weinte ich da! Es war mir fast, als hätte ich Ada auf ewig verloren. Ich fühlte mich so einsam und verlassen ohne sie, und es war so unendlich traurig, nach Hause zu gehen, ohne Hoffnung, sie dort zu finden, daß ich mich eine Weile lang gar nicht trösten konnte und in einer dunkeln Ecke schluchzend und weinend auf und ab ging.

Nach und nach faßte ich mich wieder, nahm eine Droschke und fuhr nach Hause.

Mein Vormund war ausgegangen, um sich nach dem armen Jungen, den ich in St. Albans gefunden und der, wie ich hörte, jetzt im Sterben lag, zu erkundigen, und wollte erst nach dem Mittagessen zurückkehren. So war ich also ganz allein, weinte wieder ein wenig, wenn ich auch, wie ich hoffe, mich nicht mehr so gänzlich fassungslos benahm.

Es war nur natürlich, daß ich mich nicht so leicht an den Verlust meines Lieblings gewöhnen konnte, und es war erst drei oder vier Stunden her, daß ich alles erfahren hatte. Aber die ungemütliche Umgebung, in der ich sie verlassen, ging mir nicht aus dem Sinn, und immer noch sah ich den düstern versteinerten Ort vor mir und sehnte mich so sehr, in Adas Nähe zu sein und mich wenigstens einigermaßen um sie zu sorgen, daß ich mich entschloß, abends wieder hinzugehen, wenn auch nur, um zu ihrem Fenster hinaufzusehen.

Es war kindisch, ich gebe es zu, aber es erschien mir damals gar nicht so, und auch heute denke ich nicht anders darüber. Ich zog Charley ins Vertrauen, und wir gingen bei Dunkelwerden miteinander hin. Es war finster, als wir die neue seltsame Wohnung meines Lieblings erreichten, und Licht schimmerte hinter den gelben Vorhängen. Wir gingen vorsichtig ein paar Mal vorbei und wären mit einem Haar Mr. Vholes in die Arme gelaufen, als er gerade aus seiner Kanzlei kam und ebenfalls vor dem Nachhausegehen einen Blick hinaufwarf. Der Anblick seiner hagern schwarzen Gestalt und das einsame trübe Aussehen dieses Winkelwerks bei Nacht paßten gut zu meiner Gemütsverfassung. Ich dachte an die Jugend, die Liebe und Schönheit meines lieben Mädchens, das in diesem grausamen finstern Gebäude jetzt eingeschlossen war.

Es war jetzt einsam und still, und ich glaubte mich ungesehen die Treppe hinaufschleichen zu können. Ich ließ Charley unten warten und ging auf den Fußspitzen hinauf im Schein der düster brennenden Öllaterne. Ich lauschte einen Augenblick und glaubte in der staubigen verfallenen Einsamkeit des alten stillen Hauses das Gemurmel ihrer jungen Stimmen zu hören. Ich drückte einen Kuß für mein Herzenskind auf das grabsteinartige Türschild und ging still wieder hinunter, mit dem Vorsatz, ihnen diesen Besuch an einem der nächsten Tage einzugestehen.

Ich fühlte mich erleichtert. Obgleich niemand als Charley und ich davon wußte, kam es mir doch vor, als habe der Schmerz der Trennung zwischen Ada und mir sich gesänftigt und als seien wir für einen Augenblick wieder beisammen gewesen. Dann ging ich nach Hause, noch nicht ganz gewöhnt an die Veränderung, aber durch den heimlichen Versuch immerhin ein wenig in besserer Stimmung.

Mein Vormund war inzwischen nach Hause gekommen und stand gedankenvoll am Fenster. Als ich eintrat, erhellte sich sein Gesicht, und er ging zu seinem Stuhle. Als ich mich setzte, fiel das Licht auf mein Gesicht.

»Kleines Frauchen«, sagte er, »du hast geweint?«

»Nun ja, Vormund, ich fürchte, ich habe ein wenig geweint«, gestand ich. »Ada war so betrübt und ist so voller Kummer, Vormund.«

Ich legte meinen Arm auf seine Stuhllehne und sah ihm an, daß meine Worte und mein Blick auf ihren leeren Sessel ihm bereits alles verraten hatten.

»Ist sie verheiratet, Esther?«

Ich erzählte ihm alles, und auch, daß ihr erstes Wort die Bitte gewesen sei, er möge ihr verzeihen.

»Sie braucht darum nicht zu bitten«, sagte er. »Gott segne sie und ihren Gatten!«

Aber wie es auch bei mir die erste Regung gewesen war, sie tief zu bemitleiden, so auch jetzt bei ihm.

»Armes, armes Mädchen! Armer Rick! Arme Ada!«

Wir beiden schwiegen lange, dann seufzte er nach einer Weile: »Ja, ja, es wird wieder einsam in Bleakhaus.«

»Aber seine Herrin bleibt, Vormund.« Obgleich es mir widerstrebte, das zu sagen, tat ich es doch wegen des bekümmerten Tones, mit dem er sprach. »Sie wird ihr möglichstes tun, es glücklich zu machen.«

»Es wird ihr gelingen, Esther!«

Er sah mich mit seinem alten klaren väterlichen Blick an, legte in seiner freundlichen Weise seine Hand auf die meinige und sagte wieder: »Es wird ihr gelingen, mein Kind. Dennoch wird Bleakhaus wieder einsam sein, kleines Frauchen.«

Es tat mir innerlich leid, daß wir weiter nichts darüber sprachen. Ich fühlte mich fast enttäuscht und fürchtete schon, ich sei seit dem Vorfall mit dem Brief vielleicht doch nicht immer so gewesen, wie ich hätte sein sollen.

52. Kapitel


52. Kapitel

Halsstarrigkeit

Nur ein Tag war vergangen, da kam zeitig morgens, eben als wir uns an den Frühstückstisch setzen wollten, Mr. Woodcourt in Eile herein mit der überraschenden Nachricht, ein schrecklicher Mord sei begangen und als mutmaßlicher Täter Mr. George verhaftet worden. Als er uns erzählte, Sir Leicester Dedlock habe eine hohe Belohnung auf die Entdeckung des Mörders gesetzt, konnte ich mir in meiner ersten Bestürzung nicht erklären, warum. Aber ein paar Worte riefen in mir die Erinnerung zurück, daß der Ermordete Sir Leicesters Advokat war, und plötzlich fiel mir ein, wie sehr sich meine Mutter vor ihm gefürchtet hatte.

Die unerwartete und gewaltsame Beseitigung eines Mannes, den sie so lange mit Furcht und Argwohn beobachtet hatte, eines Mannes, dessen sie unmöglich freundlich gedacht haben konnte und den sie stets als einen gefährlichen und versteckten Feind fürchtete, erschien mir in einem doppelt grauenerregenden Lichte. Wie schrecklich, die Nachricht von einem solchen Todesfall zu hören und nicht imstande zu sein, Mitleid zu empfinden! Wie grauenhaft, denken zu müssen, sie könne manchmal dem alten Mann, der jetzt so plötzlich dem Leben entrissen war, den Tod gewünscht haben! Solche Gedanken stürmten auf mich ein, vermehrten noch das Unbehagen und die Furcht, die der Name Tulkinghorn schon immer in mir geweckt hatte, und versetzten mich in so große Aufregung, daß ich es kaum bei Tisch auszuhalten vermochte. Ich konnte dem Gespräch nicht mehr folgen und brauchte erst eine kleine Weile Zeit, um mich zu erholen. Als ich dann sah, wie erschüttert mein Vormund war, und sie in tiefem Ernst von dem Verhafteten sprechen hörte und wir den günstigen Eindruck, den er auf uns alle gemacht hatte, dagegen hielten, erwachte meine Teilnahme für den Kavalleristen so lebhaft in mir, daß ich mich schon allein dadurch wieder erholte.

»Vormund, nicht wahr, du hältst es für unmöglich, daß man ihn mit Grund beschuldigt?«

»Meine Liebe, ich kann es mir nicht denken. Dieser Mann, der immer so offenherzig und mitleidig gewesen ist und neben der Kraft eines Riesen die Sanftmut eines Kindes besitzt und wie der bravste Kerl von der Welt aussieht und so einfach und schlicht ist, kann unmöglich ein Mörder sein. Ich kann es nicht glauben.«

»Und ich auch nicht«, sagte Mr. Woodcourt. »Aber was wir auch von ihm glauben oder wissen, wir dürfen nicht vergessen, daß der Schein gegen ihn spricht. Er war dem Ermordeten durchaus nicht wohlgesinnt und hat das offen bei allen möglichen Gelegenheiten geäußert. Er soll ihn heftig angefahren haben und sprach sich auch einmal mir gegenüber haßerfüllt über ihn aus. Er gibt zu, fast in der Minute an dem Ort, wo der Mord vorgefallen ist, das heißt, begangen worden sein muß, allein gewesen zu sein. Aber trotz alledem möchte ich darauf schwören, daß er an dem Mord so unschuldig ist wie ich. Leider jedoch sind die erwähnten Gründe danach angetan, den Verdacht auf ihn fallen zu lassen.«

»Sehr wahr«, sagte mein Vormund und wendete sich an mich. »Und wir würden ihm einen sehr schlechten Dienst leisten, meine Liebe, wenn wir auch nur hinsichtlich eines dieser Punkte unsre Augen der Wahrheit verschließen wollten.«

Ich fühlte natürlich die Richtigkeit dieser Worte vollkommen. Dennoch wüßte ich – konnte ich mich nicht enthalten zu sagen –, daß alle diese Verdachtsmomente uns nicht bewegen dürften, ihn in seiner Not im Stiche zu lassen.

»Gott sei vor«, entgegnete mein Vormund. »Wir wollen bei ihm aushalten, wie er selbst bei den beiden armen Geschöpfen, die jetzt tot sind, es getan hat.« – Er meinte Mr. Gridley und Jo. –

Mr. Woodcourt erzählte uns dann, daß der Gehilfe des Kavalleristen vor Tagesanbruch bei ihm gewesen war, nachdem er die ganze Nacht wie ein Wahnsinniger in den Straßen umher geirrt sei. Wie eine Last habe Mr. George die Sorge auf der Seele gelegen, daß wir ihn für schuldig halten könnten. Deshalb habe er seinen Gehilfen beauftragt, uns seiner vollkommensten Unschuld mit den feierlichsten Beteuerungen zu versichern. Und Mr. Woodcourt habe den Mann nur durch das feste Versprechen beruhigen können, uns diese Botschaft schon zeitig am Morgen überbringen zu wollen. Er sei soeben im Begriff, setzte er hinzu, den Gefangnen zu besuchen.

Mein Vormund erklärte, sofort mitgehen zu wollen. Und was mich betraf, hatte ich außer einer herzlichen Sympathie für den ehemaligen Soldaten, die auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien, das geheime Interesse, das nur mein Vormund kannte, an dem Geschehnis. Ich hatte das Gefühl, daß es mich nahe angehe, und es schien mir eine Sache von großer Wichtigkeit für meine Person zu sein, daß die Wahrheit entdeckt werde und kein Unschuldiger in Verdacht komme; denn verwirrten sich einmal die Pfade der Wahrheit, wer weiß, –wie weit dann noch alles führen konnte.

Mit einem Wort, mein Pflichtgefühl sagte mir, daß ich sie begleiten müßte, und da mein Vormund es mir nicht ausredete, ging ich mit.

Es war ein großes Gefängnis mit vielen Höfen und Gängen, einander so ähnlich und so ermüdend gleichförmig gepflastert, daß ich zu begreifen anfing, wie einsame Gefangene, wenn sie viele Jahre lang immer in denselben kahlen Wänden eingekerkert vertrauern, ein Pflänzchen oder einen einzelnen Grashalm, wie ich oft gelesen, lieb gewinnen konnten.

Allein in einem gewölbten Raum, der einem Keller über der Erde glich, mit so grellweißen Wänden, daß das starke eiserne Gitter vordem Fenster und die schwere Eisentür dadurch noch tiefer schwarz aussahen, fanden wir den Kavalleristen in einer Ecke stehen. Er hatte dort auf einer Bank gesessen und war aufgesprungen, als er die Schlösser und Riegel hatte rasseln hören.

Als er uns sah, kam er uns mit seinem gewohnten, wuchtigen Gang zwei Schritte entgegen, blieb dann stehen und machte eine zögernde Verbeugung. Aber als ich auf ihn zukam und ihm meine Hand entgegenstreckte, erhellte sich sogleich seine Miene.

»Es fällt mir ein Stein vom Herzen, versichere ich Ihnen, Miß, und Ihnen, meine Herren«, sagte er, holte tief Atem und begrüßte uns mit großer Herzlichkeit. »Und jetzt ist es mir einerlei, wie die Sache endet.«

– In seiner Ruhe und mit seiner soldatischen Haltung sah er viel eher wie ein Kerkermeister als wie ein Gefangener aus. –

»Das ist womöglich ein noch unfreundlicherer Ort als meine Schießgalerie, um den Besuch einer Dame zu empfangen, aber ich weiß, Miß Summerson wird sich daran nicht stoßen.« Er führte mich zu der Bank, auf der er gesessen hatte, und daß ich Platz nahm, schien ihn sehr zu freuen und zu befriedigen.

»Ich danke Ihnen, Miß«, sagte er.

»Nun, George«, bemerkte mein Vormund, »da wir keiner neuen Beteuerung Ihrerseits bedürfen, so glaube ich, brauchen wir unsrerseits Ihnen auch keine zu machen.«

»Gewiß nicht, Sir. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Wäre ich nicht unschuldig an dem Verbrechen, könnte ich Ihnen nicht ins Gesicht sehen und mein Geheimnis vor Ihnen verbergen. Ich empfinde es sehr tief, daß Sie mich hier besuchen. Ich bin keiner von der beredten Sorte, aber ich fühle es tief, Miß Summerson, und Sie, meine Herren.«

Er legte seine Hand einen Augenblick auf seine breite Brust und verbeugte sich leicht gegen uns. Obgleich er sich sofort wieder aufrichtete, verriet sein Gesicht doch die Rührung, die ihn eine Sekunde überwältigt hatte.

»Erstens«, begann mein Vormund, »können wir irgend etwas zur Verbesserung Ihrer Lage tun, Mr. George?«

»Inwiefern, Sir?«

»Wünschen Sie vielleicht irgend etwas, daß Sie Ihre Lage weniger drückend empfinden ließe?«

»Nein, Sir, nichts«, entgegnete Mr. George nach kurzem Nachdenken. »Ich bin Ihnen sehr verbunden; da aber Rauchen nicht erlaubt ist, wüßte ich wirklich nichts.«

»Es wird Ihnen vielleicht nach und nach manches einfallen, und dann, bitte, lassen Sie es uns wissen, George.«

»Besten Dank, Sir. Ein Mann, der sich so lange in der Welt herumgeschlagen hat wie ich«, bemerkte Mr. George mit einem Lächeln auf seinem sonnenverbrannten Gesicht, »kann es auch, wenn es darauf ankommt, an einem Ort wie dem gegenwärtigen aushalten.«

»Und zweitens, was Ihre Sache betrifft«, fuhr mein Vormund fort.

– Mr. George verschränkte die Arme, und etwas wie Neugierde malte sich auf seinem Gesicht. –

»Wie steht es jetzt damit?«

»Nun, Sir, sie ist bis auf ein weiteres Verhör verschoben. Bucket ließ mich wissen, daß er wahrscheinlich von Zeit zu Zeit ein neues Verhör beantragen wolle, bis der Fall vervollständigt sein werde. Wie er vollständiger werden soll, kann ich nicht recht einsehen, aber Bucket wird das schon irgendwie deichseln.«

»Aber Gott bewahre, Mensch!« rief mein Vormund ungeduldig aus. »Sie sprechen ja von sich, als seien Sie dabei gar nicht beteiligt.«

»Nichts für ungut, Sir. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Güte, aber ich verstehe nicht, wie ein Unschuldiger solche Anklagen überhaupt ertragen kann, ohne mit dem Kopf an die Wand zu rennen, wenn er die Sache nicht auf diese Weise auffaßt.«

»Bis zu einem gewissen Grade wahr genug«, gab mein Vormund ein wenig besänftigt zu. »Aber, mein Lieber, selbst ein Unschuldiger muß die notwendigen Maßregeln zu seiner Verteidigung ergreifen.«

»Sicherlich, Sir. Und das habe ich auch getan. Ich habe vor den Beamten erklärt: ‚Meine Herren, ich bin in dieser Sache so unschuldig wie Sie selbst. Die Tatsachen, die Sie mir entgegengehalten haben, sind vollständig wahr, aber weiter weiß ich nichts von der Sache‘. Bei dieser Erklärung gedenke ich zu bleiben, Sir. Was kann ich mehr tun. Es ist die Wahrheit.«

»Aber die Wahrheit allein reicht nicht aus«, wendete mein Vormund ein.

»Reicht nicht aus, Sir? Das ist ja eine schlechte Aussicht für mich«, bemerkte Mr. George gutgelaunt.

»Sie müssen einen Rechtsbeistand haben«, fuhr mein Vormund fort. »Wir müssen Ihnen einen guten Advokaten verschaffen.«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, – Mr. George wich einen Schritt zurück – »ich bin Ihnen wirklich außerordentlich verbunden, aber ich muß Sie entschieden bitten, mich zu entschuldigen…«

»Sie wollen keinen Advokaten haben?«

»Nein, Sir.« Mr. George schüttelte den Kopf mit großer Entschlossenheit. »Ich danke Ihnen nochmals, Sir, aber, bitte, keinen Advokaten.«

»Warum denn nicht?«

»Ich kann diese Sorte nicht besonders ausstehen. Auch Gridley konnte es nicht und… Sie entschuldigen schon, aber ich hätte gedacht, Sie selbst könnten es auch nicht, Sir.«

»Ja, das betrifft Zivilsachen«, erklärte mein Vormund, nach Worten suchend. »Hm, ja, Zivilsachen, George.«

»So, so, Sir«, entgegnete der Kavallerist leichthin. »Ich kenne mich in diesen Unterschieden nicht aus, aber trotzdem kann ich die Sorte nicht ausstehen.«

Er wechselte seine Stellung und stand, seine schwere Hand auf den Tisch gelegt und die andre in die Hüfte gestemmt, wie das Urbild eines Mannes da, den nichts von einem ein Mal gefaßten Entschluß abbringen könne. Vergebens redeten wir ihm alle drei zu und bemühten uns, ihn andern Sinnes zu machen. Er hörte uns mit der Freundlichkeit, die so gut zu seinem derben geraden Wesen stand, aufmerksam zu, aber unsre Vorstellungen machten offenbar auf ihn nicht mehr Eindruck als auf die Kerkermauern.

»Bitte, überlegen Sie sich’s noch ein Mal, Mr. George«, mischte ich mich ein. »Können wir denn gar nichts in Ihrer Angelegenheit tun?«

»Am liebsten wäre mir, ich käme vor ein Kriegsgericht, Miß. Aber das ist leider ausgeschlossen, wie ich recht gut weiß. Wenn Sie so gut sein wollen, Miß, mir nur ein paar Minuten Ihre Aufmerksamkeit zu schenken, so will ich mich bemühen, Ihnen so klar, wie ich kann, auseinanderzusetzen, was ich meine.«

Er sah uns drei der Reihe nach an, schüttelte den Kopf ein wenig, als ob er ihn in der engen Halsbinde einer Uniform zurechtrücke, und fing nach kurzer Überlegung an:

»Miß, man hat mir Handschellen angelegt, mich verhaftet und dann hierher gebracht. Ich bin ein gezeichneter und entehrter Mensch und sitze jetzt hier im Gefängnis. Bucket hat meine Schießgalerie von oben bis unten durchstöbert. Was ich besitze – es ist wenig genug –, ist um und um gewendet worden, bis sich kein Mensch mehr darin auskennt, und ich muß hier sitzen. Ich beklage mich nicht weiter darüber. Ich bin gewiß nicht schuld daran, daß ich mich gegenwärtig hier befinde, aber ich kann recht gut einsehen, daß das nicht geschehen wäre, wenn ich nicht schon von Jugend auf dieses Vagabunden leben geführt hätte. Aber es ist nun einmal geschehen. Jetzt kommt die Frage, wie soll man sich dabei benehmen.«

Er rieb seine gebräunte Stirn einen Augenblick mit einem gut gelaunten Lächeln und entschuldigte sich: »Ich bin ein so kurzatmiger Redner, daß ich immer erst ein wenig zum Nachdenken ‚einnehmen‘ muß.« Nachdem er das offenbar getan, blickte er wieder auf und fuhr fort:

»Also, wie sich benehmen? Der Ermordete war Advokat und hatte mich ziemlich fest an der Gurgel. Ich möchte einem Toten nichts Böses nachsagen, aber er hatte mich, wie ich’s nennen würde, wenn er noch am Leben wäre, höllisch an der Gurgel zu fassen gekriegt, und sein Beruf kommt mir dadurch nicht anziehender vor. Hätte ich mich von seinesgleichen ferngehalten, wäre ich jetzt nicht hier. Aber ich wollte etwas andres sagen. Nehmen wir an, ich hätte ihn wirklich getötet. Nehmen wir an, ich hätte ihn mit einer der vor kurzem abgefeuerten Pistolen, die Bucket in meiner Galerie gefunden hat – und, Herrgott im Himmel, jeden Tag, seit ich dort bin, hätte finden können –, niedergeschossen. Was würde ich getan haben, kaum daß man mich hierher gebracht hätte? Einen Advokaten genommen!«

Er hielt inne, weil man draußen die Schlösser und Riegel klirren hörte, und fing nicht eher wieder an, als bis die Tür aufgegangen und wieder zugemacht worden war. Zu welchem Zweck sie geöffnet wurde, werde ich gleich erwähnen.

»Ich hätte einen Advokaten genommen, und er würde gesagt haben, wie man es so oft in den Zeitungen liest: Mein Klient sagt nichts – mein Klient behält sich seine Verteidigung vor –, mein Klient hin, mein Klient her, mein Klient tut dies, das oder jenes. Es ist meiner Meinung nach dieser Sorte Menschen einfach unmöglich, einen graden Schritt zu tun oder so zu denken, wie es andre Leute tun. Nehmen wir an, ich bin unschuldig und lasse mir einen Advokaten kommen. Er würde mich wahrscheinlich auch für schuldig halten, oder aber es wäre ihm gleichgültig. Was würde er nun tun in diesem oder jenem Falle? Er würde so handeln, als ob ich schuldig wäre, würde mir den Mund verbieten, mir raten, mich nicht zu kompromittieren, manche Umstände zu verschweigen, andre zu verschleiern, würde allerlei Fuchssprünge machen und mich vielleicht auf die Art frei kriegen.

Aber, Miß Summerson, was ist besser, auf diese Art loskommen oder lieber auf seine eigne Manier gehenkt werden? – Sie entschuldigen schon, daß ich vor einer Dame eine so unangenehme Sache beim Namen nenne.«

Er war jetzt warm geworden und brauchte nicht erst wieder »zum Nachdenken einzunehmen«.

»Da würde ich schon vorziehen, mich lieber auf meine eigne Art henken zu lassen. Und das will ich auch. Ich will damit durchaus nicht etwa sagen« – er sah uns der Reihe nach an, seine kräftigen Arme in die Seite gestemmt und die dunkeln Augenbrauen in die Höhe gezogen – »daß ich dem Hängen größeren Geschmack abgewinnen könnte als irgendein andrer. Was ich sage, ist nur, ich muß freikommen, rein und ohne Makel, oder gar nicht. Daher, wenn ich höre, daß man etwas gegen mich vorbringt, das wahr ist, so sage ich: das ist wahr. Und wenn sie mir vorhalten: was Sie da sagen, kann gegen Sie belastend aufgefaßt werden, so sage ich ihnen, das ist mir gleich, soll es das nur. Wenn sie mich nicht mit der ganzen Wahrheit reinwaschen können, so wird es mit der halben erst recht nicht gehen. Und wenn sie es doch können, so hat es keinen Wert für mich.«

Er ging ein paar Mal auf dem steinernen Fußboden auf und ab, trat dann wieder an den Tisch und vollendete, was er noch zu sagen hatte.

»Ich danke Ihnen, Miß, und Ihnen, Gentlemen, vielmals für ihre Aufmerksamkeit, und noch vielmals mehr für Ihre Teilnahme. Aber so liegt die Sache, wie sie sich darstellt vor einem einfachen Soldatenverstand. Ich habe niemals im Leben gut getan außer im Dienst, und sollte es zum Schlimmsten kommen, werde ich eben ernten, was ich gesät habe. Als ich mich von dem ersten Ruck, als Mörder verhaftet zu werden, erholt hatte – bei einem, der sich so viel und unter so mancherlei Schicksal in der Welt herumgeschlagen hat, dauert so etwas nicht besonders lang –, kam ich allmählich zu der Ansicht, die ich Ihnen soeben auseinandergesetzt habe, und bei dieser werde ich bleiben. Ich bringe über keinen Verwandten Schande und breche niemandem das Herz, und – und weiter habe ich nichts zu sagen.«

Die Tür war vorhin aufgemacht worden, um einen andern ebenso soldatenmäßig aussehenden Mann von einem auf den ersten Blick weniger einnehmenden Äußern und eine wettergebräunte, blitzäugige, gesunde Frau mit einem Korb einzulassen, die von ihrem Eintritt an allem, was George gesagt, sehr aufmerksam zugehört hatten.

George hatte sie mit einem Lächeln und einem freundlichen Nicken flüchtig begrüßt, ohne seine Rede zu unterbrechen. Er schüttelte ihnen jetzt herzlich die Hand und sagte: »Miß Summerson und meine Herren, das hier ist ein alter Kamerad von mir, Matthew Bagnet. Und das hier seine Frau, Mrs. Bagnet.«

Mr. Bagnet machte uns eine steife militärische Verbeugung, und Mrs. Bagnet knickste.

»Es sind treue gute Freunde von mir. In ihrem Hause war es, wo ich verhaftet wurde.«

»Mit einem gebrauchten Violoncello. Als Vorwand«, schaltete Mr. Bagnet ein und schüttelte empört den Kopf. »Von gutem Ton. Für einen Freund. Kostenpunkt Nebensache.«

»Mat«, sagte Mr. George, »du hast jetzt so ziemlich alles mit angehört, was ich der Dame und den beiden Herren gesagt habe. Ich setze voraus, daß du es billigst.«

Mr. Bagnet dachte eine Weile nach, dann verwies er die Sache zur Entscheidung an seine Frau. »Alte, sag ihm, ob es meine Billigung findet. Oder nicht.«

»Wahrhaftig, George«, rief Mrs. Bagnet aus, die inzwischen aus ihrem Korb ein Stück kaltes Schweinspökelfleisch, ein wenig Tee und Zucker und einen Laib Brot ausgepackt hatte, »Sie sollten wissen, daß es nicht seinen Beifall findet. Sie sollten wissen, daß es einen ganz wild machen kann, so etwas mit anzuhören. Sie wollen nicht auf diese Weise loskommen und dann wieder nicht auf jene! Gar so wählerisch zu sein! Dummes Zeug. Unsinn, George.«

»Seien Sie nicht so hart gegen mich in meinem Unglück, Mrs. Bagnet«, sagte der Kavallerist mutwillig.

»Zum Kuckuck mit Ihrem Unglück«, rief Mrs. Bagnet, »wenn es Sie nicht verständiger macht, als Sie sich bisher gezeigt haben.

Ich habe mich noch nie so geschämt in meinem Leben, einen Menschen solchen Unsinn sprechen zu hören, wie Sie vorhin vor den anwesenden Herrschaften. Advokaten! Mein Gott, was, außer daß vielleicht viel Köche den Brei verderben, könnte Sie abhalten, ein Dutzend Advokaten anzunehmen, wenn der Herr hier sie Ihnen anbietet?«

»Sie sind eine höchst verständige Frau«, fiel mein Vormund ein. »Ich hoffe, Sie werden ihn überreden, Mrs. Bagnet.«

»Ihn überreden, Sir? Gott segne Sie! Da kennen Sie George schlecht. Da, schauen Sie ihn nur an« – Mrs. Bagnet stellte ihren Korb hin, um mit ihren beiden gebräunten Händen auf den Kavalleristen deuten zu können – »schauen Sie nur, wie er dort steht. So eigensinnig und zu Dummheiten entschlossen, wie nur je einer ein menschliches Geschöpf unter der Sonne hat die Geduld verlieren machen. Sie könnten ebensogut einen Achtundvierzigpfünder aufheben und schultern, wie diesen Menschen andern Sinnes machen, wenn er sich mal etwas in den Kopf gesetzt hat. O Gott, den kenne ich! Oder vielleicht nicht, George? Sie wollen doch nicht etwa nach soviel Jahren neue Eigenschaften vor mir entfalten, will ich hoffen.«

Ihre freundschaftliche Entrüstung wirkte als Beispiel auf ihren Mann, und mehrmals während ihrer Rede setzte er dem Kavalleristen mit einem Kopfnicken zu, als empfehle er ihm stumm, aber dringend, nachzugeben. Mrs. Bagnet hatte mich auch dabei manchmal angesehen, und ich glaubte in ihren Augen zu lesen, daß sie wünschte, ich sollte irgend etwas tun, aber ich konnte nur nicht begreifen, was.

»Ich hab es schon längst aufgegeben, mich mit Ihnen herumzustreiten, alter Junge«, fuhr Mrs. Bagnet fort, blies dabei ein wenig Staub von dem Pökelfleisch weg und sah mich dabei wieder an, »und wenn diese Herrschaften hier Sie erst einmal so gut kennen wie ich, werden sie es auch aufgeben, Ihnen zuzureden. Wenn Sie nicht zu dickschädlig sind, ein paar Bissen als Mittagessen anzunehmen, so steht es hier.«

»Ich nehme es mit vielem Dank an«, entgegnete der Kavallerist.

»Wahrhaftig?« rief Mrs. Bagnet, die immer noch gutmütig fortbrummte. »Nein, da bin ich wirklich höchlichst erstaunt. Es wundert mich nur, daß Sie nicht auch noch auf Ihre eigne Manier verhungern wollen. Es sähe Ihnen ganz ähnlich. Vielleicht setzen Sie sich das nächstens auch noch in den Kopf.«

Sie sah mich abermals an, und jetzt erriet ich aus ihren Blicken, die sie abwechselnd auf die Tür und auf mich richtete, daß sie wünschte, wir möchten gehen und draußen vor dem Gefängnis auf sie warten. Ich teilte dies auf ähnliche Art meinem Vormund und Mr. Woodcourt mit und stand auf.

»Ich hoffe, Sie werden sich eines Bessern besinnen, Mr. George«, sagte ich zum Abschied, »und wenn wir Sie wieder besuchen kommen, werden wir Sie hoffentlich vernünftiger finden.«

»Dankbarer können Sie mich jedenfalls gewiß nicht finden, Miß Summerson.«

»Aber Ratschlägen zugänglicher, hoffe ich. Und ich bitte Sie zu bedenken, daß die Aufklärung dieses Geheimnisses und die Entdeckung des wirklichen Mörders auch noch für andre Personen außer Ihnen von höchster Wichtigkeit sein kann.«

Er hörte mich ehrerbietig an, aber ohne meinen Worten eine größere Beachtung zu schenken – ich sprach sie bereits auf dem Wege nach der Tür, ein wenig abgewendet von ihm, und betrachtete – wie man mir später sagte – mit plötzlich rege gewordner Aufmerksamkeit meine Figur.

»Es ist doch merkwürdig«, sagte er, »schon damals kam es mir so vor!«

Mein Vormund fragte, was er meine.

»Ja, sehen Sie, Sir, als mich damals mein Geschick in der Nacht, als der Mord geschah, an die Treppe des Toten führte, sah ich im Dunkeln eine Gestalt an mir vorübergehen, die Miß Summerson so ähnlich war, daß ich sie beinah angesprochen hätte.«

– Einen Augenblick fühlte ich einen Schauder, wie ich ihn nie vorher gekannt und hoffentlich nie mehr wieder fühlen werde. –

»Sie kam die Treppen herab, gerade als ich hinaufging, und schritt an dem mondbeschienenen Fenster, in einen weiten schwarzen Mantel, mit langen Fransen daran, gehüllt, vorüber. Das hat natürlich mit meiner Angelegenheit nichts weiter zu tun, ausgenommen, daß Miß Summerson der Gestalt gerade jetzt in diesem Augenblick so ähnlich sah, daß es mir wieder einfiel.«

– Ich kann die Gefühle, die in mir aufstiegen, nicht klar definieren und auseinander halten und nur soviel sagen, daß das unbestimmte Pflichtgefühl, das mich schon anfangs bewogen hatte, herzukommen und der Sache nachzugehen, jetzt noch stärker wurde. Warum, wagte ich mich eigentlich nicht zu fragen, trotzdem ich mir gleichzeitig innerlich voll Entrüstung vorhielt, ich könne in keiner Weise Ursache zu Befürchtungen haben.

Wir verließen alle drei das Gefängnis und gingen vor dem Tor, das auf einen einsamen Platz mündete, ein Stückchen auf und ab. Wir hatten nicht lange zu warten, denn Mr. und Mrs. Bagnet kamen bald heraus und eilten auf uns zu. Mrs. Bagnets Augen standen voller Tränen, und ihr Gesicht war gerötet und aufgeregt. »Ich hab es George nicht merken lassen, was ich davon denke, Miß«, waren ihre ersten Worte, als sie uns erreichte. »Aber es steht schlimm mit dem armen alten Burschen.«

»Nicht bei der nötigen Vorsicht und Klugheit und gutem Rechtsbeistand«, beruhigte sie mein Vormund.

»Ein Herr wie Sie muß das natürlich besser wissen, Sir« – Mrs. Bagnet wischte sich mit dem Saum ihres grauen Mantels die Augen – »aber ich habe große Angst um ihn. Er ist viel zu sorglos gewesen und hat so viel gesagt, was er nie hätte sagen sollen. Die Herren vom Schwurgericht können ihn doch nicht so verstehen wie Lignum und ich. Und dann sprechen so viele Verdachtsmomente gegen ihn, und so viele Leute werden gegen ihn als Zeugen antreten, und Bucket ist so schlau.«

»Mit einem gebrauchten Violoncello. Und sagte, er spielte die Querflöte. Als Knabe«, ergänzte Mr. Bagnet mit großer Feierlichkeit.

»Ich will Ihnen was sagen, Miß. Und wenn ich Miß sage, so meine ich Sie alle. Kommen Sie mal hier in die Ecke, und ich will es Ihnen sagen.«

– Mrs. Bagnet eilte mit uns in einen am Ende der Mauer liegenden Winkel und konnte anfangs vor Atemlosigkeit gar kein Wort herausbringen, was ihren Gatten veranlaßte, sie aufzumuntern: »Alte. Sprich.«

– »Also, Miß«, fuhr die Alte fort und band sich, um mehr Luft zu haben, die Hutbänder auf, »Sie könnten ebensogut die Schanzen von Dover vom Fleck rücken als George, wenn Sie nicht ein andres Mittel wissen, um auf ihn einzuwirken. Und ein solches habe ich jetzt in Händen.«

»Sie sind ein Juwel von einer Frau!« rief mein Vormund aus.

»Ich sage Ihnen, Miß« – Mrs. Bagnet schlug vor Aufregung bei jedem ihrer Sätze wohl ein Dutzend Mal die Hände zusammen – »alles, was er da daherredet, er habe keine Verwandten und dergleichen, ist lauter dummes Zeug; sie wissen allerdings nichts von ihm, aber er weiß von ihnen. Er hat mit mir verschiedentliche Male offner gesprochen als mit andern, und nicht umsonst einmal zu meinem Woolwich so etwas von weißem Haar und Gramesfurchen greiser Mütter gesagt. Fünfzig Pfund möchte ich wetten, daß er an jenem Tag seine Mutter gesehen hat. Sie lebt und muß sogleich hierhergebracht werden.«

Ohne eine Sekunde Zeit zu verlieren, nahm Mrs. Bagnet einige Stecknadeln in den Mund und fing an, ihr Kleid ringsherum aufzustecken, so daß es ganz von dem grauen Mantel bedeckt war, womit sie mit überraschender Gewandtheit und Schnelligkeit zu Rande kam.

»Lignum«, sagte sie dann, »daß du mir ein Auge auf die Kinder hast, Alter! Und jetzt gib mir den Schirm! Ich mach jetzt fort nach Lincolnshire, um die alte Dame herzubringen.«

»Du lieber Himmel, was will die Frau?« rief mein Vormund und wühlte in seinen Taschen. »Wo will sie hin? Wieviel Geld hat sie denn?«

Mrs. Bagnet griff wieder unter ihren Mantel und brachte einen ledernen Geldbeutel hervor, in dem sie hastig ein paar Schillinge überzählte, und ihn dann wieder mit größter Befriedigung zuzog.

»Haben Sie keine Sorge um mich, Miß. Ich bin eine Soldatenfrau und gewohnt, auf meine Weise zu reisen. Lignum, mein Alter, da einen Kuß für dich und drei für die Kinder. Ich mache jetzt fort nach Lincolnshire zu Georges Mutter.«

Und sie trabte wirklich fort, während wir drei einander in grenzenlosem Erstaunen ansahen. Mit kräftigem Schritt marschierte sie in ihrem grauen Mantel von dannen und verschwand um die Ecke.

»Und so wollen Sie sie fortlassen, Mr. Bagnet?« fragte mein Vormund.

»Kann’s nicht verhindern. Ist schon ein Mal nach Hause gereist. Aus einem andern Weltteil. Mit demselben grauen Mantel. Und demselben Regenschirm. Wenn die Alte sagt, tue das, soll man’s tun. Wenn die Alte sagt, das tue ich, tut sie’s.«

»Dann ist sie so echt und treu, wie sie aussieht«, entgegnete mein Vormund. »Und es ist unmöglich, mehr zu ihrem Lobe zu sagen.«

»Sie ist Fahnenjunker beim Nonpareil-Bataillon«, rief uns Mr. Bagnet noch über die Schulter zu, als er sich von uns verabschiedet hatte. »Es gibt keine zweite der Art. Aber ich gestehe es vor ihr nicht ein. Disziplin muß sein.«

53. Kapitel


53. Kapitel

Die Spur

Mr. Bucket und sein dicker Zeigefinger halten unter den gegenwärtigen Umständen sehr häufig Beratung miteinander. Wenn Mr. Bucket eine Sache von so großer Wichtigkeit in Händen hat, so scheint sich sein dicker Zeigefinger zur Würde eines Daimonions zu erheben. Ans Ohr gehalten, flüstert er ihm Ratschläge zu. Sein Herr hält ihn an seine Lippen, und er befiehlt ihm Schweigen; reibt seine Nase damit, und ihre Witterung wird schärfer; droht dem Schuldigen mit ihm, bezaubert ihn und stürzt ihn ins Verderben. Die Auguren der Geheimpolizei prophezeien stets, wenn sie Mr. Bucket mit seinem Finger Beratung pflegen sehen, daß man in kurzem von einer schrecklichen Vergeltung hören werde.

Ein sanfter sinniger Beobachter der menschlichen Natur, im großen ganzen ein wohlwollender Philosoph, dem es fern liegt, streng über die Torheiten der Menschen zu urteilen, läßt sich Mr. Bucket in einer Anzahl von Häusern blicken und schlendert in einer Menge von Straßen herum, anscheinend gelangweilt und ohne ein besonderes Ziel im Auge zu haben. Er ist in der freundlichsten Stimmung gegen seine Mitmenschen und pflegt mit den meisten von ihnen einen Schoppen zu trinken. Er ist freigebig mit Geld, leutselig in seinen Manieren, unschuldig in seiner Haltung. Aber durch den Frieden seines Lebens zieht sich eine verborgne Zeigefinger-Unterströmung.

Zeit und Raum können Mr. Bucket nichts anhaben. Wie der Mensch im allgemeinen, so kann er von heute auf morgen verschwunden sein. Aber darin ist er dem Menschen sehr unähnlich, daß er am nächsten Tag wieder aufzutauchen imstande ist. Heute abend wirft er im Vorbeigehen einen Blick auf die Fackelauslöscher vor der Tür von Sir Leicester Dedlocks Haus in der Stadt, und morgen früh sieht man ihn auf den Bleidächern von Chesney Wold umherwandern, wo früher der alte Mann herumging, dessen Geist jetzt mit einem Sühnopfer von hundert Guineen zur Ruhe gebracht werden soll. Schubladenpulte, Taschen, kurz, alles, was Mr. Tulkinghorn gehörte, untersucht Mr. Bucket. Ein paar Stunden später sind dann immer er und der Römer allein beisammen und vergleichen, was ihre Zeigefinger wissen.

Wahrscheinlich vertragen sich diese Beschäftigungen nicht mit häuslichen Freuden, jedenfalls ist es sicher, daß Mr. Bucket gegenwärtig nie nach Hause geht. Obgleich er im allgemeinen das Beisammensein mit Mrs. Bucket sehr hoch schätzt – die Dame erfreut sich eines gewissen angebornen Detektivgenies, das bei weiterer Ausbildung und praktischer Übung Großes hätte leisten können, leider aber auf der Stufe eines geschickten Dilettantismus stehen geblieben ist –, entsagt er doch gegenwärtig ihren zärtlichen Tröstungen. Mrs. Bucket ist daher, wenn sie nicht ganz auf Gesellschaft und Unterhaltung verzichten will, auf ihre Mieterin angewiesen, glücklicherweise eine liebenswürdige Dame, an der sie großes Interesse nimmt.

Eine große Menschenmenge versammelt sich in Lincoln’s-Inn-Fields am Tage des Leichenbegängnisses. Sir Leicester Dedlock allerdings wohnt der Feierlichkeit persönlich bei; aber streng genommen sind außer ihm nur noch drei andre menschliche Leidtragende da, nämlich Lord Doodle, William Buffy und als Zugabe der hinfällige Vetter; aber die Zahl der leeren untröstlichen Equipagen ist unendlich. Der Hochadel stellt mehr vierrädrige Beileidsbezeugungen bei, als jemals in dieser Gegend der Stadt gesehen worden sind. Die Versammlung von Wappen auf Kutschenschlägen ist so groß, daß man fast auf die Vermutung kommen könnte, das Heroldsamt habe Vater und Mutter in einer Nacht verloren. Der Herzog von Woodle schickt einen Trauerprachtbau mit silbernen Beschlägen, Patentachsen und den allerneuesten Verbesserungen, nebst drei Waisenknaben, jeder sechs Fuß hoch, die sich als »letzter Gruß« hinten anklammern. Alle Staatskutscher in London stecken bis über die Ohren in Trauer, und wenn der tote alte Mann mit dem rostigen Anzug nicht bereits hoch über Rosseprunk erhaben ist, so muß er sich an diesem Tag von Herzen freuen.

Ganz still, mitten unter den Leichenbesorgern und den Equipagen und den Waden so vieler gramumflorter Beine, sitzt Mr. Bucket verborgen in einer der untröstlichen Kutschen und überschaut durch die Vorhänge in aller Muße die versammelte Menge. Er hat ein scharfes Auge für das Gewimmel – und für was sonst nicht noch alles –, und wie er umherblickt, bald aus dem linken, bald aus dem rechten Wagenfenster, bald hinauf zu den Fenstern der Häuser und über die Köpfe der Leute hinweg, entgeht ihm nichts.

»Aha, da sind Sie ja, werte Ehehälfte«, sagt Mr. Bucket zu sich selbst und meint damit Mrs. Bucket, die durch seine hohe Verwendung einen Platz auf den Stufen des Trauerhauses bekommen hat. »Da bist du ja. Und recht hübsch siehst du aus, Mrs. Bucket.«

Der Zug hat sich noch nicht in Bewegung gesetzt und man wartet, bis die Leiche herausgebracht wird. Mr. Bucket, in dem vordersten mit Wappen geschmückten Wagen, hält mit seinen beiden dicken Zeigefingern die Vorhänge ein Haarbreit auseinander, um hindurch zu spähen.

Es spricht wirklich sehr für seine Zärtlichkeit als Gatte, daß er sich immer noch mit Mrs. Bucket beschäftigt. »Also da sind Sie ja, werte Ehehälfte«, wiederholt er halblaut. »Und unsre Mieterin auch. Ich sehe Sie ganz gut, Mrs. Bucket, und hoffe, wir sind wohlauf.«

Mr. Bucket spricht kein Wort weiter, sondern sitzt nur mit Augen, denen nichts entgeht, wartend da, bis das eingesargte Depositorium der adligen Geheimnisse heruntergetragen wird.

Wo sind sie jetzt alle, diese Geheimnisse? Bewahrt sie Mr. Tulkinghorn immer noch? Begleiten sie ihn vielleicht auch auf dieser unvorhergesehnen Reise?

Der Zug setzt sich in Bewegung, und Mr. Buckets Gesichtskreis bekommt Abwechslung. Er macht sich’s für eine längere Spazierfahrt bequem und besichtigt die innere Ausstattung der Kutsche, für den Fall ihm einmal eine solche Kenntnis von Nutzen sein könnte.

Kontrast genug zwischen Mr. Tulkinghorn in seiner dunkeln Kutsche und Mr. Bucket in der seinigen. Zwischen der kleinen Wunde, die den einen in ewigen Schlaf versetzt hat, der jetzt so dumpf über das Straßenpflaster rumpelt, und der schmalen Blutspur, die den andern in Wachsamkeit erhält und sich dennoch auch nicht in einem Haar seines Hauptes verrät! Aber eins ist beiden gemeinsam, daß sich keiner von ihnen stören läßt.

Mr. Bucket macht die Prozession mit und schlüpft aus dem Wagen, als die Gelegenheit gekommen ist, die er sich ausersehen hat. Er macht sich auf nach Sir Leicesters Wohnung, wo er zurzeit ganz zu Hause ist, nach Belieben zu allen Stunden kommt und geht, stets willkommen ist und mit Aufmerksamkeit behandelt wird, den ganzen Haushalt kennt und, mit einer Atmosphäre von Geheimnis umgeben, umherwandelt.

Er braucht weder zu klopfen noch zu klingeln. Er hat sich einen Schlüssel geben lassen und kann nach Belieben eintreten. Als er durch die Vorhalle geht, benachrichtigt ihn der Merkur: »Die Post hat wieder einen Brief für Sie gebracht, Mr. Bucket«, und übergibt ihm das Schreiben.

»Wieder einen, so?« sagt Mr. Bucket.

Sollte der Merkur zufällig von Neugierde hinsichtlich Mr. Buckets Briefen gequält werden, so ist der Detektiv der letzte, der sie befriedigen würde. Er blickt in das Gesicht des Mannes wie in eine Aussicht in weiter Ferne, die er sich in aller Muße betrachtet.

»Haben Sie vielleicht eine Tabaksdose bei sich?« fragt Mr. Bucket.

Unglücklicherweise ist der Merkur kein Schnupfer.

»Könnten Sie mir vielleicht irgendwoher eine Prise verschaffen. Ja? Danke schön. Es ist mir gleich, was es für Tabak ist. Ich bin nicht wählerisch. Danke schön.«

Nachdem er mit Muße aus einer unten im Portierstübchen entliehenen Dose eine Prise genommen und sie mit großer Wichtigkeit erst mit einem Nasenloch und dann mit dem andern geprüft hat, erklärt er die Sorte für die richtige und geht mit dem Brief in der Hand hinauf.

Obgleich nun Mr. Bucket die Treppe hinauf nach der kleinen Bibliothek, die an die größere anstößt, mit der Miene eines Mannes geht, der täglich Dutzende Briefe bekommt, ist dennoch ein lebhafter Briefwechsel durchaus nichts Gewöhnliches bei ihm. Er ist kein Mann der Feder und führt sie etwa wie den Amtsstab, den er beständig bei sich trägt, und es ist nicht seine Gewohnheit, Leute aufzufordern, mit ihm Briefe zu wechseln, da es eine zu kunstlose und unmittelbare Art ist, delikate Geschäfte zu erledigen. Außerdem hat er zu oft erlebt, wie häufig kompromittierende Briefe zur Entdeckung führten, und hat daher alle Veranlassung, zu bedenken, wie wenig schlau es gewesen, sie zu schreiben. Aus allen diesen Gründen hat er sehr wenig mit Briefen, weder als Absender noch als Empfänger, zu tun, und um so auffallender ist es, daß er innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden genau ein halbes Dutzend erhielt.

»Und dieser hier«, sagt Mr. Bucket und breitet den eben empfangnen auf dem Tische aus, »enthält dieselben zwei Worte.«

Was für zwei Worte?

Er sperrt die Tür ab, öffnet seine schwarze Brieftasche, die schon für so viele verhängnisvoll geworden ist, legt einen andern Brief daneben und liest in beiden die mit festen Zügen geschriebnen Worte:

»Lady Dedlock.«

»Ja, ja«, sagt Mr. Bucket., »Aber ich hätte das Geld auch ohne diesen anonymen Wink verdienen können.«

Nachdem er die Briefe wieder eingesteckt hat, schließt er die Tür gerade zur rechten Zeit auf, um sein Mittagessen hereinzulassen, das auf einem gedeckten Servierbrett nebst einer Karaffe Sherry gebracht wird.

Mr. Bucket erwähnt häufig im Kreise vertrauter Freunde, ein hohler Zahn voll schönem braunem altem ostindischem Sherry sei ihm das Liebste, was man ihm anbieten könne. Daher füllt und leert er jetzt sein Glas mit schmatzenden Lippen und schlürft seinen Wein. Aber plötzlich fällt ihm etwas ein.

Er öffnet vorsichtig die in das anstoßende Zimmer führende Tür und späht hinein. Die Bibliothek ist leer, und die Glut im Kamin sinkt zusammen. Nach einem raschen Blick durch das ganze Zimmer fällt sein Auge auf einen Tisch, wo man Briefe hinzulegen pflegt, wenn sie ankommen. Die für Sir Leicester angekommene Post liegt jetzt dort. Mr. Bucket tritt näher und liest die Aufschriften. »Nein«, sagt er, »von dieser Hand ist keiner darunter. Man hat also bloß an mich geschrieben. Ich kann es morgen Sir Leicester Dedlock, Baronet, mitteilen.«

Darauf kehrt er wieder zu seinem Essen zurück, verzehrt es mit gutem Appetit und wird nach einem kurzen Schläfchen in den Salon befohlen.

Sir Leicester hat ihn dort die letzten Abende wiederholt empfangen, um zu erfahren, zu welchem Resultat die Nachforschungen bisher geführt haben. Der hinfällige Vetter, von dem Leichenbegängnis stark mitgenommen, und Volumnia sind anwesend.

Mr. Bucket macht jeder der drei Personen eine besondere Verbeugung: Sir Leicester eine huldigungsvolle, Volumnia eine galante und dem ausgemergelten Vetter eine wissende, die ungefähr soviel sagt wie: Sie sind ein etwas anrüchiges Gigerl, werter Herr, und wir kennen uns.

Nachdem er diese kleinen Proben seines Taktgefühls gewissenhaft verteilt hat, reibt er sich die Hände.

»Können Sie mir bereits etwas mitteilen, Inspektor?« fragt Sir Leicester. »Wünschen Sie vielleicht mit mir unter vier Augen zu sprechen?«

»Nein –, heute abend nicht, Sir Leicester Dedlock, Baronet.«

»Sie wissen, meine Zeit steht Ihnen ganz zur Verfügung, wenn es gilt, die Übertretungen des Gesetzes zu ahnden, Inspektor.«

Mr. Bucket hustet und blickt die in Schminke und Halsband prangende Volumnia an, als wolle er ehrerbietig sagen: Ich versichere Ihnen, Sie sind ein entzückendes Geschöpf. Ich habe Hunderte gesehen, die in Ihrem Alter sich zehnmal schlimmer ausnahmen. – Ehrenwort!

Die schöne Volumnia, sich der Wirkung ihrer Reize nicht so ganz unbewußt, hält im Schreiben eines Stoßes dreieckiger Briefchen inne und rückt versonnen das Perlenhalsband zurecht. Mr. Bucket überschlägt im Geiste den Wert des Schmuckes und hält es nicht für ausgeschlossen, daß Volumnia Verse schreibe.

»Wenn ich Sie nicht schon auf das nachdrücklichste beschworen haben sollte, Inspektor«, fährt Sir Leicester majestätisch fort, »all Ihre Geschicklichkeit zur Entdeckung dieser schrecklichen Tat aufzubieten, so möchte ich eine solche Unterlassungssünde jetzt wieder gut machen. Sie dürfen auf Geld keine Rücksicht nehmen, hören Sie? Sie können sich bei Verfolgung der Sache, die Sie in die Hand genommen haben, keine Kosten machen, mit deren Bezahlung ich nur einen Augenblick zögern würde.«

Mr. Bucket verbeugt sich tief, solcher Freigebigkeit seine Anerkennung zu zollen.

»Ich habe mich noch immer nicht«, fährt Sir Leicester mit edler Wärme fort, »seit dieser teuflischen Tat erholen können; wie sich leicht denken läßt. Es wird mir auch fürder nicht so leicht fallen, aber heute abend, nachdem ich die schwere Pflicht vollzogen, einen treuen, eifrigen und ergebenen Diener bestattet zu haben, bin ich geradezu von Entrüstung erfüllt.«

Sir Leicesters Stimme zittert, und sein graues Haar sträubt sich. Tränen treten ihm in die Augen, und die beste Saite seines Wesens vibriert.

»Ich erkläre«, sagt er, »ich erkläre feierlich, daß, solange das Verbrechen nicht entdeckt und der Täter den Händen der Gerechtigkeit überliefert ist, ich fast so darunter leide, als ob ein Schandfleck auf meinem Namen ruhte. Ein Mann, der einen so großen Teil seines Lebens mir gewidmet hat, und zwar bis zum letzten Tage, der beständig an meiner Tafel gesessen und unter meinem Dach geschlafen hat, geht von meinem Haus nach dem seinigen und wird eine Stunde darauf erschlagen. Wie kann ich wissen, ob man ihn nicht von meinem Hause aus verfolgte, vor meinem Hause ihm auflauerte, ja, vielleicht zu der Tat dadurch angeregt wurde, weil er mit meinem Haus in Verbindung stand, und dadurch auf den Gedanken geriet, er sei vermögender und einflußreicher, als sein zurückgezognes Leben mutmaßen ließ? Wenn ich nicht alle Mittel, meinen ganzen Einfluß und meine Stellung aufböte, um sämtliche Mitschuldigen an einem solchen Verbrechen der verdienten Strafe zu überliefern, ließe ich es an Hochachtung dem Gedächtnis des Mannes gegenüber und der Treue, die ich dem schulde, der immer treu zu mir gehalten hat, fehlen.«

Während er dies mit großem Ernst und tiefer Bewegung beteuert und dabei mit der Miene eines Redners vor einer Versammlung um sich blickt, sieht ihn Mr. Bucket ernst und beobachtend an, mit einem Ausdruck, dem, wenn der Gedanke nicht gar so kühn wäre, eine Spur von Mitleid beigemischt sein könnte.

»Die heutige Begräbnisfeierlichkeit«, fährt Sir Leicester fort, »ein glänzendes Zeichen der Hochachtung, die die Blüte des Landes für meinen verstorbnen Freund fühlt« – er legt auf das Wort »Freund« einen besonderen Nachdruck, denn der Tod hebt bekanntlich alle Unterschiede auf – »hat, sage ich, die seelische Erschütterung, die sich meiner bei diesem schrecklichen und unerhörten Verbrechen bemächtigte, noch vertieft. Selbst meinen Bruder würde ich nicht schonen, wenn er die Tat begangen hätte.«

Mr. Bucket macht wiederum ein sehr ernstes Gesicht.

Volumnia äußert über den Verstorbenen, er sei der zuverlässigste und liebste Mensch gewesen.

»Sie müssen seinen Verlust schwer empfinden, Miß«, tröstet Mr. Bucket. »Sicherlich. Er ist ganz ein Mann gewesen, dessen Verlust man schwer fühlt. Wahrhaftig, ja.«

Volumnia verrät Mr. Bucket, ihr gefühlvolles Herz sei fest entschlossen, sich von dem Stoß, solange es schlage, nie wieder zu erholen, und daß ihre Nerven unwiderbringlich zerrüttet seien und sie selbst keine Aussicht mehr habe, je wieder lächeln zu können. Dabei faltet sie ein dreieckiges Briefchen an den alten gefürchteten General in Bath zusammen, in dem sie ihren traurigen Gemütszustand geschildert hat.

»So etwas muß natürlich einer zartbesaiteten Dame einen Stoß geben«, sagt Mr. Bucket voll Mitgefühl. »Aber man erholt sich schon wieder.«

Vor allem wünscht Volumnia zu wissen, was weiter geschehen wird. Ob man nicht schon endlich diesen schrecklichen Soldaten verurteile, ob er Mitschuldige habe, oder wie sie es vor Gericht nennen.

»Ja, sehen Sie, Miß«, erklärt Mr. Bucket und fängt an, seinen Zeigefinger ausdrucksvoll zu bewegen, und seine natürliche Galanterie ist so groß, daß er beinahe gesagt hätte: Meine Liebe. »Es ist nicht so leicht, diese Fragen, wie die Sache gegenwärtig steht, zu beantworten. – Ich habe mich mit dieser Sache, Sir Leicester Dedlock« – Mr. Bucket zieht den Baronet als Hauptperson in das Gespräch – »zu allen Stunden des Tages ununterbrochen und eingehend beschäftigt; ohne ein paar Gläser Sherry hätte ich kaum meinen Geist in einer so beständigen Spannung erhalten können. Ich könnte Ihre Fragen beantworten, Miß, aber die Pflicht verbietet es mir. Sir Leicester Dedlock, Baronet, wird sehr bald alles erfahren, was ich bis jetzt herausgebracht habe. Und ich will hoffen«, – Mr. Bucket macht wieder ein ernstes Gesicht – »daß es ihn befriedigen wird.«

Der hinfällig aussehende Vetter hofft nur, daß – äh – Schweinehund hinjerichtet – äh –, Exempel statuiert, jlaubt, heutzutage mehr alljemeines Interesse. – Mann an Galgen bringen, als jemand Stelle verschaffen mit zehntausend jährlich Jehalt. Ist überzeugt – Beispiels wegen –, viel besser, falschen Kerl hängen, als überhaupt niemanden.

»Sie kennen das Leben, Sir«, sagt Mr. Bucket mit einem gewissen vertraulichen Zwinkern des Auges und einem Krümmen seines Zeigefingers, »und Sie können bestätigen, was ich soeben dieser Dame gesagt habe. Ihnen brauche ich nicht erst zu verraten, daß Nachrichten, die ich bekommen habe, mich dazu veranlaßt haben. Sie verstehen, was man dem Verständnis einer Dame nicht zumuten kann. Besonders einer Dame in Ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung, Miß«, sagt Mr. Bucket und wird blutrot, denn bei einem Haar wäre ihm zum zweiten mal die Anrede »Meine Liebe« entschlüpft.

»Der Inspektor tut seine Pflicht und ist vollkommen im Recht, Volumnia«, betont Sir Leicester.

»Sehr erfreut, mein Vorgehen von Ihnen gebilligt zu sehen, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, murmelt Mr. Bucket.

»Tatsächlich, Volumnia«, fährt Sir Leicester fort, »gibt man kein gutes Beispiel, wenn man dem Inspektor solche Fragen vorlegt, wie Sie sie soeben gestellt haben. Er muß am besten wissen, was er beantworten kann, und es schickt sich nicht für uns, die wir die Gesetze mitmachen helfen, denen, die sie in Anwendung bringen, hindernd in den Weg zu treten. Oder«, sagt Sir Leicester etwas streng, denn Volumnia wollte ihn unterbrechen, noch ehe er seinen Satz abgerundet hatte, »oder denen ihre Pflicht schwer zu machen, die die rächenden Organe unsrer Gesetzgebung repräsentieren.«

Volumnia rechtfertigt sich in aller Demut, daß sie nicht nur als Entschuldigung den Hinweis auf die Neugierde, die eine Eigenschaft der leichtsinnigen Jugend im allgemeinen und die ihres Geschlechtes im besondern bilde, für sich habe, sondern auch fast von Sinnen sei vor Schmerz und Teilnahme für den lieben reizenden Menschen, dessen Verlust sie alle so sehr beklagen.

»Sehr gut, Volumnia«, entgegnet Sir Leicester, »um so mehr können Sie nicht diskret genug sein.«

Mr. Bucket benützt die eingetretne Pause, um sich wieder hören zu lassen.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, eines kann ich jedenfalls der Dame mit Ihrer Erlaubnis, und ganz im Vertrauen, verraten, nämlich, daß ich die Angelegenheit bereits für ziemlich abgeschlossen halte. Es ist ein schöner Fall – ein schöner Fall –, und das Wenige, was noch zu seiner Vervollständigung fehlt, hoffe ich in ein paar Stunden beisammen zu haben.«

»Es freut mich sehr, das zu hören«, sagt Sir Leicester. »Es macht Ihnen sehr viel Ehre.«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich hoffe, die Sache wird nicht nur mir Ehre machen, sondern auch allen Teilen Befriedigung gewähren. Wenn ich sage, es ist ein schöner Fall, Miß«, fährt Mr. Bucket fort und wirft einen ernsten Seitenblick auf Sir Leicester, »müssen Sie im Auge behalten, daß ich ihn von meinem Standpunkt aus betrachte. Von andern Gesichtspunkten aus gesehen, ziehen solche Fälle immer mehr oder weniger Unannehmlichkeiten nach sich. Oft kommen sehr sonderbare Familienangelegenheiten zu unsrer Kenntnis, Miß. Ja, wahrhaftig Dinge, die Sie geradezu für unmöglich halten würden.«

Volumnia glaubt das gern und sagt es mit ihrem naiven halblauten Schrei.

»Ja, und sogar in feinen Familien, in vornehmen Familien, in sehr hohen Familien« – Mr. Bucket sieht abermals Sir Leicester ernst von der Seite an. »Ich habe die Ehre gehabt, schon früher in vornehmen Familien zu Rate gezogen zu werden, und Sie haben keinen Begriff – ich gehe soweit zu sagen, daß selbst Sie keinen Begriff haben, Sir« – dies sagt er zu dem hinfällig aussehenden Vetter – »was da für Geschichten vorkommen.«

Der Vetter, der sich, halbtot vor Langweile, in den Sofakissen gerekelt hat, gähnt: »Woh ö – i« – was »wohl möglich« heißen soll.

Sir Leicester hält es für an der Zeit, den Inspektor zu entlassen, sagt majestätisch: »Sehr gut, ich danke Ihnen«, und gibt mit einer ausdrucksvollen Handbewegung zu verstehen, daß das Gespräch als beendet anzusehen ist und daß vornehme Familien, wenn sie in schlechte Gewohnheiten verfallen, sich eben die Folgen selbst zuzuschreiben haben.

»Vergessen Sie nicht, Inspektor«, setzt er herablassend zu, »daß ich zu jeder Zeit zu Ihrer Verfügung stehe.«

Wieder sehr ernst, erkundigt sich Mr. Bucket, ob es vielleicht morgen vormittag angenehm wäre, falls die Sache bis dahin soweit gediehen sein sollte.

Sir Leicester gibt zur Antwort: »Jede Stunde ist mir recht.«

Mr. Bucket macht seine drei Verbeugungen und will sich entfernen, da fällt ihm ein, daß er noch etwas vergessen hat.

»Dürfte ich beiläufig fragen«, sagt er, geräuschlos und vorsichtig umkehrend, »wer die Bekanntmachung wegen der ausgesetzten Belohnung an der Treppe angeschlagen hat.«

»Ich selbst ließ sie dort anschlagen«, entgegnet Sir Leicester.

»Würde ich mir eine Freiheit herausnehmen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, wenn ich Sie fragte, warum?«

»Durchaus nicht. – Ich wählte die Treppe deswegen, weil diesen Teil des Hauses jedermann betritt. Ich glaubte, es könnte gar nicht aufmerksam genug darauf gemacht werden. Ich wünschte meinen Leuten die Größe des Verbrechens, meinen festen Entschluß, es zu bestrafen, und die Unmöglichkeit, der Strafe zu entgehen, tief einzuprägen. Aber wenn Sie, Inspektor, bei Ihrer größeren Erfahrung in solchen Sachen etwas dagegen einzuwenden haben…«

Mr. Bucket hat jetzt nichts dagegen einzuwenden; da die Bekanntmachung einmal angeschlagen ist, sei es besser, sie nicht zu entfernen. Er wiederholt seine drei Verbeugungen und entfernt sich. Volumnia läßt wieder ihren leisen Schrei hören und leitet damit die Bemerkung ein, daß die Seele dieses entzückend furchtbaren Menschen die reinste Blaubartkammer sei.

Mit seinem Hang zur Geselligkeit und seiner Gewandtheit, mit allen Menschenklassen zu verkehren, steht Mr. Bucket gleich darauf vor dem Kaminfeuer in der Vorhalle – so hell und warm in der frühen Winterabendstunde – und bewundert den Merkur.

»Wahrhaftig, ich glaube, Sie sind sechs Fuß zwei Zoll?«

»Drei«, verbessert der Merkur.

»Wirklich so groß? Aber freilich, ja, Sie sind breit im Verhältnis, und man sieht es Ihnen nicht an. Sie sind keiner von den Spindelbeinen. Haben Sie nie Modell gestanden?« Mr. Bucket sieht ihn mit auf die Seite geneigtem Kopf und dem Blick eines Künstlers an.

Der Merkur hat nie Modell gestanden.

»Dann sollten Sie’s tun«, sagt Mr. Bucket. »Ein Freund von mir, von dem Sie noch eines schönen Tages hören werden, daß er Bildhauer der königlichen Akademie geworden ist, würde etwas springen lassen, wenn er Sie als Modell für eine Marmorstatue bekommen könnte. Mylady ist nicht zu Hause, nicht wahr?«

»Zum Diner ausgefahren.«

»Fährt wohl ziemlich jeden Tag aus, nicht wahr?«

»Ja.«

»Nicht zu verwundern«, meint Mr. Bucket. »Eine so vornehme Frau wie sie, so schön, so anmutig und elegant, ist wie eine frische Zitrone auf einem Speisetisch und eine Zierde überall, wo sie hinkommt. War Ihr Vater auch in einer Stellung wie Sie?«

Die Antwort fällt verneinend aus.

»Aber meiner«, sagt Mr. Bucket. »Mein Vater war erst Page, dann Bedienter, dann Kellermeister, dann Steward, dann Gastwirt. War zu Lebzeiten allgemein geachtet und starb tief betrauert. Sagte mit seinem letzten Atemzug, er betrachte seine Bedientenzeit als den ehrenvollsten Teil seiner Laufbahn, und so war es auch. Ich habe einen Bruder, der Bedienter ist, und einen Schwager. Ist Mylady gut mit den Leuten?«

Der Merkur entgegnet, soweit man das von ihr erwarten könne.

»Aha«, sagt Mr. Bucket, »ein bißchen verwöhnt? Ein bißchen launenhaft? Mein Gott, wie kann es anders sein, wenn man so schön ist. Und je launenhafter sie ist, desto lieber hat man sie.« Der Merkur, die Hände in den Taschen seiner schönen pfirsichblütnen Kniehose, streckt seine symmetrischen seidenüberzognen Beine mit der Miene eines Stutzers von sich und kann es nicht leugnen. Draußen kommt ein Wagen angerollt, und es wird heftig geklingelt.

»Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt«, sagt Mr. Bucket. »Da ist sie.«

Die Türen werden weit geöffnet, und Mylady schreitet durch die Vorhalle. Sie ist immer noch sehr bleich, in Halbtrauer gekleidet, und trägt zwei kostbare Armbänder. Entweder ihre Schönheit oder die Schönheit ihrer Arme erregen Mr. Buckets ganz besondre Aufmerksamkeit. Er sieht mit spähendem Blick hin und klappert mit etwas in der Tasche – vielleicht mit Halfpences.

Sie bemerkt ihn im Hintergrund und wendet sich mit einem fragenden Blick an den andern Merkur, der sie nach Hause brachte.

»Mr. Bucket, Mylady.«

Mr. Bucket macht einen Kratzfuß und tritt hervor, indem er sich mit seinem Hausdämon über den Mund fährt.

»Warten Sie auf Sir Leicester?«

»Nein, Mylady. Ich war bereits bei ihm.«

»Haben Sie mir etwas zu sagen?«

»Jetzt gerade nicht, Mylady.«

»Haben Sie neue Entdeckungen gemacht?«

»Ein paar, Mylady.«

– Sie stellt ihre Fragen nur so im Vorübergehen. Sie bleibt kaum stehen und schwebt allein die Treppe hinauf. –

Mr. Bucket tritt einen Schritt vor und beobachtet sie, wie sie die Stufen hinaufgeht, die der alte Advokat herunterstieg in sein Grab, an mordgierigen Gruppen von Bildhauerwerk vorüber, die sich mit dem Schatten ihrer Waffen an der Wand wiederholen, an der gedruckten Bekanntmachung, auf die sie im Vorbeigehen einen Blick wirft, vorüber. Dann verschwindet sie.

»Wahrhaftig, eine schöne Frau«, sagt Mr. Bucket und kommt zu dem Merkur zurück. »Sieht aber nicht ganz gesund aus.«

Sei auch nicht ganz gesund, teilt ihm der Merkur mit, leide sehr an Kopfschmerzen.

Wahrhaftig? Schade! Spazierengehen würde Mr. Bucket als Heilmittel anempfehlen.

»O, sie geht spazieren«, entgegnet der Merkur. »Geht manchmal zwei Stunden spazieren, wenn ihr Zustand sich verschlimmert. Sogar in der Nacht.«

»Wissen Sie auch ganz sicher, daß Sie genau sechs Fuß drei Zoll hoch sind?« fragt Mr. Bucket. »Sie müssen schon entschuldigen, daß ich Sie einen Augenblick unterbreche.«

»Darüber besteht gar kein Zweifel.«

»Ich hätte das wirklich nicht geglaubt bei Ihren guten Proportionen. Die Garden gelten doch auch als schöne Leute, aber sie sind mir zu schlenkrig und aufgeschossen. – Geht also bei Nacht spazieren? Wenn Mondschein ist?«

O ja, wenn Mondschein ist! Natürlich. Ja natürlich.

– Übereinstimmung auf beiden Seiten. –

»Sie selbst gehen wohl nicht viel spazieren?« fragt Mr. Bucket. »Haben wahrscheinlich nicht viel Zeit dazu übrig?«

Außerdem findet der Merkur keinen Geschmack daran. Zieht Fahren vor.

»Selbstverständlich.« – Mr. Bucket sieht das ein. – »Das ist etwas ganz andres. Übrigens, jetzt fällt mir ein«, sagt Mr. Bucket, indem er sich die Hände wärmt und vergnüglich in die flackernde Flamme schaut, »sie ist an demselben Abend, wo die Geschichte geschehen ist, auch spazieren gegangen.«

»Ja, freilich! Ich schloß ihr den Garten drüben auf.«

»Und verließen sie dort. Richtig, ja. Ich hab es zufällig mit angesehen.«

»Ich habe Sie nicht bemerkt«, sagt der Merkur.

»Ich hatte ziemliche Eile«, erklärt Mr. Bucket, »denn ich wollte gerade eine Tante besuchen, die in Chelsea wohnt – die zweitnächste Tür von dem alten ehemaligen Bun-Haus. Neunzig Jahre alt. Unverheiratet und im Besitz eines kleinen Vermögens. Ja, ich ging gerade zufällig vorbei. Wie spät mochte es wohl gewesen sein? Warten Sie mal. Es war noch nicht zehn.«

»Halb zehn.«

»Ganz richtig. Halb zehn war’s. Und wenn ich mich nicht ganz irre, war Mylady in einen weiten schwarzen Mantel, mit breiten Fransen daran, gehüllt.«

»Ganz richtig.«

»Ganz richtig.« Mr. Bucket muß wieder zu einer kleinen Arbeit zurück, die er oben noch zu verrichten hat, muß aber vorher noch dem Merkur erkenntlich für die angenehm verlebte Viertelstunde die Hand schütteln, und ob er wohl – möchte er noch ein Mal fragen – ob er wohl, wenn er einmal eine halbe Stunde übrig habe, sie dem Bildhauer der königlichen Akademie zum Nutzen beider Teile schenken möge?

54. Kapitel


54. Kapitel

Eine Mine fliegt auf

Vom Schlaf gestärkt, steht Mr. Bucket zeitig morgens auf und macht sich fertig zum Kampfe. Aufgeputzt mit Hilfe eines reinen Hemdes und einer nassen Haarbürste, mit der er bei feierlichen Gelegenheiten die dünnen Locken befeuchtet, die ihm nach einem solchen Leben angestrengten Studiums noch übrig geblieben sind, nimmt er ein Frühstück ein, von dem zwei Hammelkoteletten den Grundstein und Tee, Eier, Zwieback und Marmelade in entsprechender Menge den Aufbau bilden. Nachdem er diese kräftigenden Speisen mit Genuß verzehrt und eine geheime Konferenz mit seinem Hausdämon gehalten hat, ersucht er den Merkur vertraulich, Sir Leicester Dedlock, Baronet, im stillen wissen zu lassen, daß er für ihn bereit sei, wenn es jetzt genehm wäre. Auf die gnädige Antwort, daß Sir Leicester seine Toilette beschleunigen und den Inspektor binnen zehn Minuten in der Bibliothek sehen wolle, begibt sich Mr. Bucket dorthin, steht dort vor dem Kamin, den Finger am Kinn, und blickt in die glühenden Kohlen. Er ist gedankenvoll wie ein Mann, der ein hochwichtiges Werk zu vollenden hat, aber gefaßt, sicher, voller Selbstvertrauen. Nach dem Ausdruck seines Gesichtes könnte man ihn für einen berühmten Whistspieler halten, der um einen großen Einsatz spielt – sagen wir, um hundert Guineen – und der das Spiel in der Hand hat, es aber seinem großen Ruf schuldig ist, auf meisterhafte Weise bis zur letzten Karte durchzuspielen. Mr. Bucket zeigt sich nicht im mindesten erregt, als Sir Leicester erscheint; und wie der Baronet langsam nach seinem Lehnstuhl geht, blickt er ihn wieder wie gestern von der Seite mit dem beobachtenden Ernst an, in den eine Spur von Mitleid gemischt zu sein scheint.

»Es tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen müssen, Inspektor, aber ich habe mich heute morgen ein wenig länger mit dem Ankleiden aufgehalten als gewöhnlich. Ich fühle mich nicht recht wohl. Die Aufregung der letzten Tage hat mich zu sehr angegriffen. Überdies bin ich – Gichtanfällen unterworfen.« Sir Leicester hat anfangs bloß Unpäßlichkeit vorschützen wollen und hätte es auch jedermann gegenüber aufrecht erhalten, aber Mr. Bucket durchschaut ihn offenbar. »Und die Ereignisse der letzten Zeit haben wieder einen Anfall herbeigeführt.«

– Während er, mit einiger Schwierigkeit und seine Schmerzen verbeißend, Platz nimmt, tritt Mr. Bucket etwas näher und stützt sich mit einer seiner großen Hände auf den Bibliothekstisch. –

»Ich weiß nicht, Inspektor«, bemerkt Sir Leicester und blickt auf, »ob Sie mit mir unter vier Augen zu sprechen wünschen. Ich überlasse das ganz Ihnen. Wenn Sie es wünschen, gut, wenn nicht, so würde Miß Dedlock gern…«

»Nun, Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich glaube, wir können gerade jetzt die Sache nicht geheim genug behandeln. Sie werden gleich selbst einsehen, daß wir sie nicht geheim genug behandeln können. Die Anwesenheit einer Dame würde mir unter allen Verhältnissen, zumal wenn sie eine so hohe gesellschaftliche Stellung einnimmt wie Miß Dedlock, nur angenehm sein, aber wenn ich von mir absehe, muß ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen zu versichern, daß wir die Sache nicht geheim genug behandeln können.«

»Das genügt.«

»So geheim, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, fährt Mr. Bucket fort, »daß ich Sie um Erlaubnis bitten wollte, die Tür absperren zu dürfen.«

»Tun Sie das nur.«

Mr. Bucket vollzieht geschickt und geräuschlos diese Vorsichtsmaßregel und bückt sich aus bloßer Gewohnheit einen Augenblick nieder, um den Schlüssel in dem Schloß so zu drehen, daß von außen niemand hereinsehen kann.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich erwähnte gestern abend, daß mir nur noch sehr wenig fehle, um den Fall ganz beisammen zu haben. Heute bin ich so weit und habe die Beweise gegen die Person in Händen, die das Verbrechen begangen hat.«

»Gegen den Soldaten?«

»Nein, Sir Leicester Dedlock. Es ist nicht der Soldat.«

Sir Leicester macht ein erstauntes Gesicht und fragt:

»Ist der Täter verhaftet?«

Mr. Bucket sagt nach einer Pause: »Es ist eine Frau.«

Sir Leicester lehnt sich in seinen Stuhl zurück und ruft atemlos aus: »Gott im Himmel!«

»Jetzt, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, fängt Mr. Bucket an, steht aufrecht da, die Hand auf den Tisch gestützt und den Zeigefinger der andern ausdrucksvoll hin und her bewegend, »jetzt ist es meine Pflicht, Sie auf eine Verkettung von Umständen vorzubereiten, die Sie wahrscheinlich, und ich will soweit gehen, zu sagen, gewiß sehr erschüttern werden. Aber Sir Leicester Dedlock, Baronet, Sie sind ein Gentleman, und ich weiß, was ein Gentleman ist und was ein Gentleman alles ertragen kann. Ein Gentleman wird einen Stoß, der sich nicht abwenden läßt, tapfer und standhaft aushalten. Ein Gentleman muß imstande sein, sich fast auf jeden Schlag gefaßt machen zu können. Nehmen Sie einmal sich an, Sir Leicester Dedlock, Baronet. Wenn ein Schlag Sie treffen soll, so denken Sie natürlich zuerst an Ihre Familie. Sie legen sich die Frage vor, wie alle Ihre Ahnen, bis zu Julius Cäsar zurück – um vorläufig nicht noch weiter zu gehen –, solche Schläge ertragen haben würden, und Sie können dabei gewiß an eine große Anzahl von ihnen denken, die es mit Ehren getragen hätten, und um ihretwegen und des Ansehens der Familie willen ertragen Sie es auch. So würden Sie denken, und so würden Sie auch handeln, Sir Leicester Dedlock, Baronet.«

Sir Leicester, in seinen Lehnstuhl zurückgelehnt, umklammert krampfhaft mit den Fingern die Armlehnen und sieht den Inspektor mit starrem Gesicht an.

»Wenn ich Sie auf diese Weise vorbereite, Sir Leicester Dedlock«, fährt Mr. Bucket fort, »möchte ich Sie bitten, sich keinen Augenblick darüber Sorgen zu machen, daß etwas zu meiner Kenntnis gekommen ist. Ich weiß soviel von einer Unmenge Personen hohen oder niedern Standes, daß eine Geschichte mehr oder weniger nicht das mindeste zu bedeuten hat. Ich glaube nicht, daß es einen Zug auf dem Brett gibt, der mich in Erstaunen setzen würde. Und ob ich nun weiß, daß dieser oder jener Zug in Wirklichkeit geschehen ist, hat weiter nichts zu sagen. Jeder mögliche Zug ist meiner Erfahrung nach ein wahrscheinlicher Zug. Ich sage Ihnen daher nur nochmals, Sir Leicester Dedlock, Baronet, machen Sie sich nur ja deswegen keine Sorgen, daß ich etwas von Ihren Familienangelegenheiten weiß.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Vorbereitung«, entgegnet Sir Leicester nach einer längeren Pause und bewegt weder Fuß noch Hand noch einen Muskel seines Gesichts. »Ich hoffe, sie ist nicht vonnöten, aber ich weiß die gute Absicht zu schätzen. Haben Sie die Güte, fortzufahren. Bitte, nehmen Sie« – Sir Leicester scheint in dem Schatten des Inspektors, in dem er sitzt, zusammenzuschauern – »nehmen Sie einen Stuhl, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Durchaus nicht.« – Mr. Bucket holt sich einen Sessel und verkleinert seinen Schatten. – »Jetzt, Sir Leicester Dedlock, Baronet, komme ich nach dieser kurzen Einleitung zur Sache. Lady Dedlock…«

Sir Leicester erhebt sich halb in seinem Stuhl und starrt den Inspektor wild an.

Mr. Bucket bewegt seinen Finger besänftigend hin und her.

»Lady Dedlock, sehen Sie, wird allgemein bewundert. Ja, das wird die Gnädigste. Sie wird allgemein bewundert.«

»Ich würde vorziehen, Inspektor«, entgegnet Sir Leicester abweisend und kalt, »daß Myladys Name in dieser Angelegenheit überhaupt nicht genannt würde.«

»Ich auch, Sir Leicester Dedlock, Baronet, aber – es ist unmöglich.«

»Unmöglich?«

Mr. Bucket schüttelt erbarmungslos das Haupt.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es ist rein unmöglich. Was ich zu sagen habe, bezieht sich auf die Gnädigste. Sie ist der Punkt, um den sich alles dreht.«

»Inspektor«, entgegnet Sir Leicester mit flammendem Auge und zuckenden Lippen, »Sie kennen Ihre Pflicht. Tun Sie ihre Pflicht, aber hüten Sie sich, darüber hinauszugehen. Ich würde das unter keinen Umständen dulden. Ich würde es nicht ertragen können. Wenn Sie Myladys Namen mit der Sache in Verbindung bringen, so tun Sie das auf Ihre Verantwortung, – auf – Ihre – Verantwortung! Myladys Name ist kein Name, mit dem gewöhnliche Leute spielen dürfen!«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich sage, was ich sagen muß, und nicht mehr.«

»Ich hoffe, daß sich das erweisen wird. Gut. Fahren Sie fort. Fahren Sie fort, Sir.«

Mit einem Blick auf die zornfunkelnden Augen, die ihm jetzt ausweichen, und auf die Gestalt, die vom Kopf bis zu den Füßen in Entrüstung bebt und sich dennoch bemüht, ruhig zu erscheinen, tastet sich Mr. Bucket seinen Weg und fährt mit leiser Stimme fort.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es ist jetzt meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen – daß der verstorbne Mr. Tulkinghorn seit langer Zeit Argwohn und Verdacht gegen Lady Dedlock hegte.«

»Wenn er gewagt hätte, das nur mit einer Silbe anzudeuten, Sir, hätte ich ihn mit eigner Hand getötet«, ruft Sir Leicester aus und schlägt mit der Faust auf den Tisch. Aber selbst mitten in seinem Zornesausbruch hält er inne, gebannt von den wissenden Augen Mr. Buckets, der jetzt seinen Zeigefinger wieder langsam hin und her bewegt und voller Selbstvertrauen und Geduld den Kopf schüttelt.

»Sir Leicester Dedlock, der verstorbne Mr. Tulkinghorn war listig und verschlossen, und was er von Anfang an eigentlich im Sinn gehabt hat, getraue ich mich nicht zu sagen. Aber ich weiß aus seinem eignen Munde, daß er seit langer Zeit Lady Dedlock im Verdacht hatte, sie habe beim Anblick einer Handschrift, die ihr vor Augen gekommen – in diesem Hause hier und in Ihrer Anwesenheit, Sir Leicester Dedlock –, zu ihrem Entsetzen entdeckt, daß eine gewisse Person noch am Leben sei (und zwar in höchst ärmlichen Verhältnissen), die, ehe Sie um Mylady geworben, ihr Geliebter gewesen und ihr Gatte hätte werden müssen.« Mr. Bucket hält inne und wiederholt nachdrücklich: »Der ihr Gatte hätte werden müssen. Darüber ist kein Zweifel. Ich weiß aus Mr. Tulkinghorns eignem Munde, daß er, als dieser Mann kurz darauf starb, Lady Dedlock im Verdacht hatte, seine elende Wohnung und sein noch elenderes Grab allein und im geheimen besucht zu haben. Durch meine eignen Nachforschungen und durch das Zeugnis meiner eignen Augen und Ohren weiß ich, daß Lady Dedlock in den Kleidern ihrer Zofe heimlich diese Orte besucht hat, denn der verstorbne Mr. Tulkinghorn gebrauchte mich dazu, die Gnädigste dingfest zu machen – wenn Sie das Wort entschuldigen wollen, das wir gewöhnlich brauchen –, und ich habe sie so weit vollständig dingfest gemacht. Ich konfrontierte die Zofe in der Kanzlei in Lincoln’s-Inn-Fields mit einem Zeugen, der Lady Dedlock als Führer gedient hatte, und es blieb nicht der Schatten eines Zweifels übrig, daß Mylady die Kleider der Zofe angehabt hatte, ohne daß diese es wußte. Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich habe mich gestern bemüht, sie ein wenig auf diese unangenehme Enthüllung durch die Äußerung vorzubereiten, daß selbst in vornehmen Familien zuweilen sehr seltsame Dinge geschehen. Alles dies und noch mehr hat sich in Ihrer eignen Familie, in Verbindung mit der Gnädigsten, zugetragen. Ich glaube, daß der verstorbne Mr. Tulkinghorn seine Nachforschungen bis zur Stunde seines Todes fortgesetzt hat und daß Lady Dedlock und er sich noch am Abend vor seiner Ermordung wegen dieser Sache entzweit haben. Sie brauchen dies bloß, Sir Leicester Dedlock, Baronet, Mylady mitzuteilen und sie zu fragen, ob sie nicht, nachdem er das Haus hier verlassen, nach seiner Kanzlei gegangen ist, um noch weiter mit ihm darüber zu sprechen, und bei dieser Gelegenheit einen weiten schwarzen Mantel mit langen Fransen daran angehabt hat.«

– Sir Leicester sitzt wie ein Steinbild da und starrt den grausamen Finger an, der in seinem innersten Herzen wühlt. –

»Legen Sie der Gnädigen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, die Frage als von mir, dem Inspektor Bucket von der Geheimpolizei, kommend, vor. Und wenn die gnädige Frau Schwierigkeiten machen sollte, es zuzugestehen, so sagen Sie ihr, daß das nichts nütze. Inspektor Bucket wisse es genau und wisse auch, daß sie an dem Soldaten, wie Sie ihn nennen, vorübergegangen ist und ihm auf der Treppe begegnet ist. Nun, Sir Leicester Dedlock, Baronet, warum, glauben Sie wohl, erzähle ich Ihnen alles das?«

Sir Leicester, das Gesicht mit den Händen verhüllt, läßt nur ein einziges tiefes Stöhnen vernehmen und bittet den Inspektor, einen Augenblick inne zu halten. Als er nach einer Weile seine Hände wieder wegnimmt, hat sein Gesicht seine Würde und äußere Ruhe, wenn es auch nicht mehr Farbe hat als sein weißes Haar, so wiedergewonnen, daß Mr. Bucket fast ergriffen ist. Sein Benehmen hat etwas Starres, Erfrornes, ganz abgesehen von der gewohnten Maske des Hochmuts, und Mr. Bucket fällt es auf, daß er ungewöhnlich langsam spricht und manchmal bei den Anfangsbuchstaben der Worte stottert, was ihn veranlaßt, unartikulierte Töne vernehmen zu lassen. Mit solchen Tönen bricht er jetzt das Schweigen, gewinnt aber bald wieder soviel Herrschaft über sich, daß er sagen kann, er begreife nicht, warum ein so pflichteifriger, wahrheitsliebender Gentleman wie Mr. Tulkinghorn ihm nicht selbst diese peinliche, unerwartete, niederschmetternde und unglaubliche Enthüllung gemacht habe.

»Auch diese Frage können Sie der Gnädigen vorlegen, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, entgegnet Mr. Bucket. »Und wenn Sie es für gut finden, wiederum im Namen des Inspektors Bucket von der Geheimpolizei. Sie werden erfahren, oder ich müßte mich sehr irren, daß der verstorbne Mr. Tulkinghorn die Absicht hatte, Ihnen alles mitzuteilen, sobald er die Sache für reif gehalten haben würde, sowie auch, daß er es der gnädigen Frau zu verstehen gegeben hat. Mein Gott, vielleicht wollte er es Ihnen gerade an dem Morgen, als ich den Tatort besichtigte, mitteilen! Sie wissen auch nicht von mir, Sir Leicester Dedlock, Baronet, was ich nach Ablauf der nächsten fünf Minuten sagen oder tun werde, und angenommen, ich fiele jetzt auf der Stelle tot um, würden Sie sich da wundern, warum ich es nicht getan hätte?«

»W-w-wahr!« Sir Leicester wird nur mit Mühe des Stöhnens Herr, das sich ihm immer wieder in die Kehle drängt, und sagt: »Wohl wahr.« Da lassen sich plötzlich draußen in der Vorhalle lärmende Stimmen vernehmen. Mr. Bucket horcht auf, geht nach der Türe, schließt sie leise auf und öffnet und lauscht wieder.

Dann steckt er den Kopf herein und flüstert hastig, aber bestimmt: »Sir Leicester Dedlock, Baronet, die unglückselige Familiengeschichte ist ruchbar geworden, wie ich gleich befürchtete, als der selige Mr. Tulkinghorn eines so plötzlichen Todes starb. Die einzige Möglichkeit, sie zu vertuschen, ist, die Leute, die sich jetzt da unten mit Ihren Bedienten herumzanken, vorzulassen. Können Sie es über sich bringen, ruhig dazusitzen – der Familie wegen –, während ich mit ihnen fertig werde? Und wollen Sie mir nur zunicken, wenn ich Sie darum zu bitten scheine?«

Sir Leicester gibt verworren zur Antwort: »Inspektor, tun – Sie –, was – Sie für das Beste halten.«

Mr. Bucket nickt, krümmt schlau seinen Zeigefinger und huscht in die Vorhalle hinunter, worauf das Stimmengewirr schnell verstummt.

Nicht lange darauf kehrt er wieder zurück, und einige Schritte hinter ihm kommen der Merkur und ein ebenfalls gepuderter Gott vom selben Rang in pfirsichblütenen Beinkleidern mit einem Stuhl herein, in dem sie einen hilflosen alten Mann tragen. Ein andrer Mann und zwei Frauen schließen den Zug. Mr. Bucket erteilt mit leutseligem, unbefangnem Wesen Befehle, wo der Stuhl hinzustellen sei, entläßt dann die Merkure und schließt die Tür wieder ab. Sir Leicester sieht diesem Einbruch in seine geheiligten Räume starr und eisig zu.

»Sie werden mich vielleicht kennen, meine Damen und Herren«, beginnt Mr. Bucket in vertraulichem Ton. »Ich bin der Inspektor Bucket von der Geheimpolizei, und dies hier« – er läßt die Spitze seines handlichen kleinen Stabes aus der Brusttasche hervorgucken – »ist mein Amtszeichen. Also Sie wünschen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, zu sehen? Gut! Hier sehen Sie ihn, und bedenken Sie wohl, es widerfährt nicht jedermann diese Ehre. Und Ihr Name, mein ehrenwerter alter Herr, ist Smallweed; ich kenne ihn recht gut.«

»So. Und werden noch nichts Böses von ihm gehört haben«, schreit Mr. Smallweed mit schriller lauter Stimme.

»Sie wissen wahrscheinlich nicht, weshalb sie das Schwein geschlachtet haben«, entgegnet Mr. Bucket mit einem durchdringenden Blick, ohne nur im geringsten aus der Fassung zu kommen.

»Nein.«

»Nun, sie schlachteten es, weil es gar zu laut quiekte. Bringen Sie sich nicht in dieselbe Lage, es wäre Ihrer nicht würdig. Sind Sie vielleicht gewöhnt, mit Taubstummen zu verkehren?«

»Ja«, knurrt Mr. Smallweed. »Meine Frau ist taub, wenn auch nicht stumm.«

»Nun, das erklärt, warum Sie so laut sprechen. Aber da sie nicht hier ist, stimmen Sie vielleicht Ihren Ton ein oder zwei Oktaven tiefer. Sie würden mich dadurch nicht nur verpflichten, sondern auch mehr Ehre damit einlegen«, sagt Mr. Bucket. »Der andre Herr hier ist wohl vom Predigergeschäft, nicht wahr?«

»Mr. Chadband«, stellt Mr. Smallweed vor, mit viel leiserer Stimme als vorher.

»Hatte einmal einen Freund und Kameraden, der ebenso hieß«, sagt Mr. Bucket und streckt bewillkommnend seine Hand aus. »Und daher berührt mich der Name sehr wohltuend. – Mrs. Chadband, nicht wahr?«

»Und Mrs. Snagsby.« – Mr. Smallweed stellt die Damen vor.

»Gattin eines Schreibmaterialienhändlers. Eines Freundes von mir«, sagt Mr. Bucket. »Liebe ihn wie einen Bruder! Also, was gibt’s?«

»Meinen Sie, weshalb wir hierhergekommen sind?« fragt Mr. Smallweed, ein wenig verblüfft von der plötzlichen Frage.

»Sie wissen schon, was ich meine. Lassen Sie uns einmal hören, was Sie uns hier vor Sir Leicester Dedlock, Baronet, zu sagen haben. Nur heraus damit.«

Mr. Smallweed winkt Mr. Chadband zu sich und berät sich mit ihm einen Augenblick flüsternd. Mr. Chadband preßt eine beträchtliche Menge Öl aus den Poren seiner Stirn und seiner Handflächen und sagt dann laut:

»Ja. Nach Ihnen.« Dann zieht er sich wieder auf seinen früheren Platz zurück.

»Ich war ein Klient und Freund Mr. Tulkinghorns«, fängt Großvater Smallweed mit dünner Stimme an. »Ich stand mit ihm in Geschäftsverbindung. Ich war ihm nützlich und er mir. Der verstorbne Krook war mein Schwager. Er war der leibliche Bruder der Höllenschwefel – wollte sagen, Mrs. Smallweeds. Ich erbte Krooks Nachlaß. Ich habe alle seine Papiere und alle seine Sachen untersucht. Sie wurden vor meinen Augen ausgepackt. Es befand sich ein Paket Briefe darunter, die einem dort verstorbnen Mieter gehört hatten und hinter einem Brett neben Lady Janes – ich meine die Katze – Korb versteckt waren. Er hat überhaupt allerlei Sachen da und dort versteckt. Mr. Tulkinghorn brauchte die Briefe und hat sie bekommen. Aber ich las sie zuerst durch. Ich bin Geschäftsmann und habe einen Blick hineingeworfen. Die Briefe waren von der Geliebten des Mieters, und mit Honoria unterzeichnet. Das ist kein gewöhnlicher Name, Honoria, was? Es gibt vielleicht in diesem Hause niemanden, der Briefe mit Honoria unterzeichnet, was ? Gott bewahre. Und die Handschrift stimmt auch nicht? Gott bewahre.«

– Mitten in seinem Triumph bekommt Mr. Smallweed einen solchen Hustenanfall, daß er innehalten muß und ausruft: »O Gott, o Gott, das reißt mich noch in Stücke.« –

»Na, wenn Sie jetzt fertig sind«, sagt Mr. Bucket, nachdem er abgewartet hat, bis Mr. Smallweed wieder zu sich gekommen ist, »fangen Sie vielleicht endlich von dem an, was Sir Leicester Dedlock, Baronet, den Herrn dort, angeht.«

»Hab ich vielleicht noch nicht damit angefangen, Mr. Bucket?« ruft Großvater Smallweed. »Geht es den Herrn nichts an? Kapitän Hawdon und seine ewig getreue Honoria und ihr Kind gehen ihn auch nichts an? Kurz und gut, ich möchte wissen, wo die Briefe sind? Das geht mich etwas an, wenn es schon Sir Leicester Dedlock nichts angeht. Ich möchte wissen, wo sie sind. Es kann mir nicht passen, daß sie so mir nichts dir nichts verschwinden. Ich habe sie meinem Freund und Rechtsanwalt Mr. Tulkinghorn übergeben und niemandem sonst.«

»Nun, ich dächte, er hat Sie recht anständig dafür bezahlt«, meint Mr. Bucket.

»Das ist mir einerlei. Ich muß wissen, wer sie hat, und ich will Ihnen sagen, was wir verlangen –; was wir alle hier verlangen, Mr. Bucket. Wir verlangen, daß man sich mit der Entdeckung der Mordtat ein bißchen mehr Mühe gibt! Wir wissen ganz gut, wem der Tod Mr. Tulkinghorns gelegen kommt. Sie haben nicht genug getan. Wenn George, der liederliche Dragoner, die Hand im Spiel hatte, so war er nur ein Komplize und ist dazu angestiftet worden. Sie wissen schon, was ich meine.«

»Hören Sie einmal.« – Mr. Bucket ändert augenblicklich sein Benehmen, tritt dicht an Mr. Smallweed heran und bewegt seinen Zeigefinger mit einer ganz ungewöhnlichen Eindringlichkeit. – »Ich will verdammt sein, wenn ich auch nur einem Menschen auf der Welt gestatte, sich in meine Sachen hineinzumischen oder mir auch nur um eine halbe Sekunde vorzugreifen. Sie verlangen mehr Eifer und Anstrengung? Sie? Schauen Sie sich einmal diese Hand an. Glauben Sie wirklich, daß ich nicht den rechten Zeitpunkt wüßte, wann ich sie auszustrecken habe, um damit den Arm zu packen, der den Schuß abgefeuert hat?«

– So groß ist die Macht des gefürchteten Detektivs, und es ist so schrecklich offenbar, daß er nicht prahlt, daß Mr. Smallweed sofort einlenkt und sich zu entschuldigen beginnt. –

Mr. Bucket ist im Augenblick wieder versöhnt und unterbricht ihn. »Der Rat, den ich Ihnen gebe, ist also, zerbrechen Sie sich den Kopf nicht wegen des Mordes. Das ist meine Sache. Sie richten manchmal, glaube ich, Ihr Augenmerk auf die Zeitungen, und es sollte mich nicht wundern, wenn Sie ziemlich bald etwas darüber lesen sollten, wenn Sie ordentlich aufpassen. Ich kenne mein Geschäft, und weiter habe ich Ihnen über die Sache nichts zu sagen. Jetzt zu den Briefen. – Sie wollen wissen, wer sie hat? Ich will es Ihnen sagen. Ich habe sie. Ist es vielleicht dies Paket hier?«

Mr. Smallweed blickt mit gierigen Augen auf das kleine Bündel, das Mr. Bucket aus den geheimnisvollen Tiefen seines Rockes hervorholt, und erklärt es für das richtige.

»Was haben Sie jetzt weiter zu sagen, Mr. Smallweed? Reißen Sie den Mund nicht zu weit auf. Es steht Ihnen nicht besonders.«

»Ich will fünfhundert Pfund haben.«

»So, so! Sie meinen natürlich fünfzig«, sagt Mr. Bucket gutgelaunt.

Es erweist sich jedoch, daß Mr. Smallweed wirklich fünfhundert Pfund meint.

»Ich bin nämlich von Sir Leicester Dedlock, Baronet, beauftragt, das Geschäft in Erwägung zu ziehen, wohlverstanden, nur in Erwägung zu ziehen.« Sir Leicester neigt mechanisch das Haupt. »Und Sie schlagen fünfhundert Pfund vor. Nun, das ist ja eine wirklich recht – unvernünftige Forderung! Zweimal fünfzig wäre schon schlimm genug, aber immerhin diskutabel. Möchten Sie nicht lieber sagen, zweimal fünfzig?«

Mr. Smallweed möchte das lieber nicht.

»Dann wollen wir uns Mr. Chadband anhören. Mein Gott, wie oft habe ich meinen alten Kameraden mit demselben Namen nennen hören! Ach, und er war ein so gemäßigter Mann, wie man es sich nur wünschen konnte. In jeder Hinsicht. In jeder Hinsicht.«

So eingeladen, tritt Mr. Chadband vor und hält, nachdem er zur Einleitung ölig gelächelt und aus seinen Handflächen ein wenig Tran gequetscht hat, folgende Rede:

»Meine Freunde. Wir sind jetzt – Rachael, meine Gattin, und ich – in den Palästen der Reichen und Großen. Warum sind wir jetzt in den Palästen der Reichen und Großen, meine Freunde? Sind wir etwa eingeladen? Sind wir etwa gebeten, mit ihnen zu schmausen? Sind wir etwa gebeten, mit ihnen die Laute zu spielen? Sind wir vielleicht gebeten, mit ihnen zu tanzen? Nein. Wozu sind wir dann hier, meine Freunde? Sind wir im Besitz eines sündigen Geheimnisses und verlangen wir Korn und Wein und Öl – oder, was dasselbe ist, Geld –, auf daß es bewahrt werde? Wahrscheinlich, meine Freunde.«

»Sie sind Geschäftsmann, wie ich sehe«, entgegnet Mr. Bucket sehr aufmerksam, »und wollen infolgedessen darauf zu sprechen kommen, welcher Art Ihr Geheimnis ist. Sie haben recht. Sie können nichts Besseres tun.«

»So lasset uns denn, mein Bruder, im Geiste der Liebe damit beginnen«, sagt Mr. Chadband mit schlauem Blick. »Rachael, meine Gattin, tritt vor!«

Mehr als bereitwillig kommt Mrs. Chadband dieser Aufforderung nach und drängt dadurch ihren Gatten in den Hintergrund der Aufmerksamkeit. Mit einem harten finstern Lächeln pflanzt sie sich vor Mr. Bucket auf. »Da Sie hören wollen, was wir wissen, will ich es Ihnen sagen. Ich habe Miß Hawdon, die Tochter der Gnädigen, auferziehen helfen. Ich stand in Diensten der Schwester der Gnädigen. Sie hat die Schande, die die Gnädige über sie brachte, tief empfunden und gegenüber jedermann, und selbst gegenüber der Gnädigen, vorgegeben, das Kind sei tot. Es war es auch fast, als es geboren wurde, aber es lebt, und ich kenne es.« Mit diesen Worten und einem Lachen verschränkt Mrs. Chadband, die jedes Mal einen bitteren Nachdruck auf die Worte »die Gnädige« gelegt hat, die Arme und sieht Mr. Bucket herausfordernd an.

»Ich vermute also«, entgegnet der Inspektor, »Sie erwarten demnach eine Zwanzigpfundnote oder ein Geschenk von ungefähr diesem Wert.«

Mrs. Chadband lacht bloß und sagt verächtlich, er könne gerade so gut zwanzig Pence anbieten.

»Nun, und meines Freundes, des Papierhändlers, werte Gattin drüben?« – Mr. Bucket lockt Mrs. Snagsby mit dem Finger zu sich heran. –»Um was handelt es sich denn bei Ihnen, Maam?«

Mrs. Snagsby kann anfangs vor lauter Tränen und Wehklagen kein Wort herausbringen, aber allmählich und sehr konfus wird es offenbar, daß sie eine unter der Last des ihr widerfahrnen Unrechts zusammengebrochne Frau ist, die Mr. Snagsby planmäßig hintergehe, vernachlässige und im dunkeln zu erhalten suche. Ihr Haupttrost in all ihren Leiden sei die Teilnahme des seligen Mr. Tulkinghorn gewesen, der ihr anläßlich eines Besuchs in Cook’s Court, in Abwesenheit ihres treubrüchigen Mannes, soviel Mitleid entgegengebracht habe, daß sie von da an immer ihm ihr Leid geklagt hätte. Alle Welt, nur die Anwesenden ausgenommen, habe sich gegen ihren Seelenfrieden verschworen. Da sei vor allem Mr. Guppy, der Schreiber bei Kenge & Carboy, der anfangs so offenherzig gewesen wie die Sonne um Mittag, plötzlich so geheimnisvoll geworden wie die Mitternacht, zweifellos von Mr. Snagsby verführt und bestochen. Und desgleichen Mr. Weevle, der Freund Mr. Guppys, der geheimnisvolle Mieter in Mr. Krooks Haus, jedenfalls aus denselben naheliegenden Gründen. Nicht minder der verstorbne Krook, der selige Nimrod und der verstorbne Jo. Sie alle seien Eingeweihte gewesen.

In was sie eingeweiht gewesen sein sollen, darüber erklärt sich Mrs. Snagsby nicht besonders deutlich, aber sie wisse ganz gut, daß Jo Mr. Snagsbys Sohn gewesen sei; so unumstößlich sicher, als ob es »mit Drommeten verkündet worden wäre«. Sie sei Mr. Snagsby nachgeschlichen bei seinem letzten Besuch am Sterbelager des Jungen. Wenn es nicht sein Sohn gewesen wäre, warum wäre er dann hingegangen? Die einzige Beschäftigung ihres Lebens sei schon seit langem gewesen, Mr. Snagsby auf Schritt und Tritt zu beobachten und verdächtige Umstände zusammenzutragen – und alles, was sich begeben, wäre höchst verdächtig gewesen. Und auf diesem Weg habe sie bei Tag und Nacht ihr Ziel verfolgt, ihren treubrüchigen Gatten seiner Schuld zu überführen. Bei dieser Gelegenheit und ganz zufällig hätten die Chadbands und Mr. Tulkinghorn einander kennengelernt, und als sie Mr. Tulkinghorn hinsichtlich der an Mr. Guppy bemerkten Veränderung zu Rate gezogen, seien die Umstände an den Tag gekommen, die jetzt die Anwesenden so interessierten. Immer noch befinde sie sich daher auf der breiten Straße, die zu Mr. Snagsbys Entlarvung und zu einer Ehescheidung führen müsse und solle.

Alles das wollte Mrs. Snagsby als schwergekränkte Frau und als Freundin Mr. Chadbands und als Leidtragende um den seligen Mr. Tulkinghorn unter dem Siegel des Vertrauens und mit jeder möglichen und unmöglichen Verwicklung der Tatsachen bestätigen.

Geld ist bei ihr kein Beweggrund, und sie hat kein andres Ziel als das eben erwähnte und bringt hierher und überall hin ihre eigne dicke Staubatmosphäre mit, die aus dem unablässigen Arbeiten der Mühle ihrer Eifersucht entstanden ist.

Während sich ihre Rede abwickelt und viel Zeit in Anspruch nimmt, geht Mr. Bucket, der Mrs. Snagsbys Essigseele bereits auf den ersten Blick durchschaut hat, mit seinem vertrauten Hausdämon zu Rate und läßt die Chadbands und Mr. Smallweed nicht aus den Augen. Sir Leicester Dedlock sitzt unbeweglich da, eingefroren in seinen Eispanzer, und wirft nur hie und da einen Blick auf Mr. Bucket, als verlasse er sich von allen Menschen nur mehr auf ihn.

»Sehr gut«, sagt Mr. Bucket. »Jetzt verstehe ich Sie, sehen Sie; und da mich Sir Leicester Dedlock, Baronet, beauftragt hat, mich in diese kleine Angelegenheit zu mischen« – abermals nickt Sir Leicester mechanisch –»so kann ich ihr ja meine Aufmerksamkeit schenken. Ich will hier nicht auf einen Versuch, Geld zu erpressen, anspielen oder von ähnlichen Dingen sprechen, denn wir sind hier lauter welterfahrne Leute und wollen die Sache in Frieden beilegen; aber ich muß mich wirklich wundern und bin sehr überrascht, wie Sie auf den Einfall kommen konnten, unten in der Vorhalle Lärm zu schlagen. Das war doch ganz gegen ihr Interesse. So betrachte ich die Sache wenigstens.«

»Wir wollten vorgelassen werden«, erklärt Mr. Smallweed.

»Selbstverständlich wollten Sie das«, gibt Mr. Bucket freundlich und bereitwillig zu. »Aber einem alten Herrn in Ihren Jahren und von so wahrhaft ehrwürdigem Alter, muß ich schon sagen, dessen Geist noch durch die Lähmung seiner Glieder geschärft ist, weil das seine ganze Lebendigkeit in den Kopf hinaufsteigen macht, hätte denn doch bedenken müssen, daß für ihn die ganze Sache auch keinen Pfifferling wert ist, wenn er sie nicht gegenwärtig so geheim wie möglich hält. Sie sehen, Sie haben sich von Ihrem Temperament fortreißen lassen und dadurch wesentlich an Terrain verloren«, sagt Mr. Bucket in überzeugendem und freundschaftlichem Ton.

»Ich sagte doch nur, ich wollte nicht eher gehen, als bis einer der Bedienten uns bei Sir Leicester Dedlock anmeldete«, wendet Mr. Smallweed ein.

»Das ist’s ja eben. Da ist Ihr Temperament mit Ihnen durchgegangen. Ein ander Mal werden Sie sich vielleicht besser zu beherrschen wissen, wenn Sie Geld verdienen wollen. Soll ich klingeln, daß man Sie wieder hinunterbringt?«

»Wann werden wir wieder von der Sache hören?« fragt Mrs. Chadband mit großer Entschiedenheit.

»Gott segne Sie! Sie sind eine echte Frau. Immer neugierig ist Ihr entzückendes Geschlecht«, erwidert Mr. Bucket galant. »Ich werde mir das Vergnügen geben, morgen oder übermorgen bei Ihnen vorzusprechen – und auch Mr. Smallweeds Vorschlag von zwei Mal fünfzig Pfund nicht vergessen.«

»Fünfhundert«, verbessert Mr. Smallweed.

»Ganz richtig! Nominell fünfhundert.«

Mr. Bucket legt die Hand an den Klingelzug. »Darf ich Ihnen jetzt guten Tag wünschen, in meinem und im Namen des Herrn vom Hause?« fragt er mit einschmeichelndem Ton.

Da niemand keck genug ist, etwas dagegen einzuwenden, tut er es, und der Besuch entfernt sich, wie er gekommen ist.

Mr. Bucket folgt ihnen bis an die Tür und sagt dann zurückkehrend mit ernster Geschäftsmiene:

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es ist jetzt an Ihnen, sich zu überlegen, ob Sie das Schweigen der Leute erkaufen wollen oder nicht. Ich, an Ihrer Stelle, täte es und glaube, es ist ziemlich billig zu haben. Es liegt auf der Hand, diese kleine Essiggurke Mrs. Snagsby ist von allen Beteiligten zu der Spekulation benützt worden und hat durch falsches Zusammenknüpfen der unrichtigen Enden der Fäden viel mehr Unheil angerichtet, als sie vorsätzlich imstande gewesen wäre. Der verstorbene Mr. Tulkinghorn hatte alle diese Pferde im Zügel und konnte sie beliebig lenken, darüber ist kein Zweifel. Jetzt ist er kopfüber vom Bock gestürzt, und sie haben über die Stränge geschlagen, und jedes zerrt nach einer andern Richtung. So ist es, und so ist das menschliche Leben. Wenn die Katze nicht zu Hause ist, tanzen die Mäuse frei herum. Und wenn das Eis aufgeht, fängt es an zu fließen. – Aber jetzt zu der Person, die ich verhaften muß.«

Sir Leicester Dedlock scheint plötzlich zu erwachen, trotzdem er bis jetzt mit offnen Augen dagesessen hat. Er sieht Mr. Bucket, der auf die Uhr schaut, gespannt an.

»Die zu verhaftende Person befindet sich gegenwärtig hier im Hause«, fährt Mr. Bucket fort, steckt seine Uhr wieder ein und wird lebhafter. »Ich werde sie in ihrem Beisein verhaften. Sir Leicester Dedlock, Baronet, bitte, sprechen Sie kein Wort und rühren Sie keinen Finger. Sie haben keinen Lärm und keine Störung zu befürchten. Ich werde im Lauf des Abends wiederkommen, wenn es Ihnen angenehm ist, und mich bemühen, Ihren Wünschen in bezug auf Ihre unglückliche Familienangelegenheit und über die feinste Art, sie zu vertuschen, nachzukommen. Werden Sie jetzt, Sir Leicester Dedlock, Baronet, nicht nervös darüber, daß die Verhaftung hier vorgenommen werden soll. Sie müssen einen klaren Einblick in den ganzen Fall von A bis Z gewinnen.«

Mr. Bucket klingelt, geht an die Tür, flüstert dem Merkur etwas zu, schließt die Tür wieder und bleibt mit verschränkten Armen dahinter stehen. Nach ein paar Minuten geht die Tür langsam auf, und eine Französin tritt herein. Mademoiselle Hortense.

In dem Augenblick, wo sie im Zimmer steht, schlägt Mr. Bucket die Tür zu und lehnt sich mit dem Rücken dagegen. Das plötzliche Geräusch veranlaßt sie, sich umzudrehen. Und jetzt erst sieht sie Sir Leicester Dedlock in seinem Lehnstuhl.

»Ich bitte um Verzeihung«, murmelt sie hastig. »Man sagte mir doch, es sei niemand hier.«

Sie geht nach der Tür zurück und kommt dadurch gegenüber von Mr. Bucket zu stehen. Krampfhaft zuckt es über ihr Gesicht, und sie wird totenblaß.

»Das ist meine Mieterin, Sir Leicester Dedlock«, sagt Mr. Bucket und nickt ihr zu. »Diese junge Fremde ist seit einigen Wochen meine Mieterin.«

»Was soll das Sir Leicester interessieren, mein Engel?« entgegnet Mademoiselle in scherzendem Ton.

»Das werden Sie schon erfahren, mein Engel.«

Mademoiselle Hortense sieht ihn bös an, und ihr gespanntes Gesicht verzieht sich zu einem geringschätzigen Lächeln. »Sie sind sehr miste-rieux. Sind Sie betrunken?«

»Leidlich nüchtern, mein Engel.«

»Ich bin soeben mit Ihrer Frau in diesem widerwärtigen Haus angekommen. Ihre Frau mich hat verlassen vor ein paar Minuten. Sie mir unten sagen, daß Ihre Frau hier ist. Ich komme hier, und Ihre Frau ist nicht hier. Was soll dieses Possenspiel bedeuten, sagen Sie mir?!« fragt Mademoiselle und verschränkt ruhig die Arme, während etwas in ihrer dunkeln Wange wie eine Uhr pulsiert.

Mr. Bucket droht ihr nur mit seinem Zeigefinger.

»O, mon dieu, Sie sind ein armer Idiot!« ruft Mademoiselle und wirft lachend den Kopf zurück. »Lassen Sie mich vorübergehen die Treppe hinab, großes Schwein.« – Sie stampft mit dem Fuß und runzelt die Stirn. –

»Ich will Ihnen etwas sagen, Mademoiselle«, sagt Mr. Bucket mit ruhigem, entschlossenem Ton. »Setzen Sie sich dort auf das Sofa.«

»Ich will mich setzen auf nichts«, entgegnet sie mit energischem Kopfschütteln.

»Mademoiselle«, wiederholt Mr. Bucket und droht ununterbrochen mit dem Finger, »setzen Sie sich auf das Sofa dort.«

»Warum?«

»Weil ich Sie eines Mordes verdächtig verhafte. Welchen Mordes, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Nun wünsche ich höflich gegen eine Person Ihres Geschlechts, und obendrein eine Fremde, zu sein, wenn ich kann. Wenn ich nicht kann, muß ich grob werden. Und noch Gröbere warten draußen. Wie ich mich zu benehmen haben werde, hängt von Ihnen ab. Ich rate Ihnen daher in aller Freundschaft, sich auf das Sofa zu setzen, ehe noch eine Sekunde vergangen ist.«

Mademoiselle gehorcht und sagt mit gepreßter Stimme:

»Sie sind ein Teufel.«

– Der Puls in ihrer Wange schlägt rasch und deutlich. –

»Sehen sie«, fährt Mr. Bucket billigend fort, »jetzt sind Sie ruhig und benehmen sich, wie man es von einer jungen Französin von Ihrer Einsicht erwarten darf. Daher will ich Ihnen jetzt einen Rat geben, und der lautet: Sprechen Sie nicht zu viel. Man erwartet von Ihnen nicht, daß Sie hier etwas sagen, und Sie können Ihre Zunge nicht genug im Zaum halten. Kurz, je weniger Sie parlühren, desto besser für Sie.« – Mr. Bucket ist sichtlich stolz auf seine Kenntnisse der französischen Sprache. –

Mademoiselle, den alten tigerhaften Ausdruck um den Mund, sitzt, Zornesblitze in ihren schwarzen Augen, auf dem Sofa steif aufrecht da, die Hände geballt – und vielleicht auch die Füße –, und murmelt vor sich hin: »O, Sie, Bucket, Sie sind ein Teufel.«

»Nun hören Sie, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, beginnt Mr. Bucket, und von diesem Augenblick an kommt sein Finger nicht mehr zur Ruhe. »Diese junge Person, meine Mieterin, war seinerzeit Zofe bei der Gnädigen und ist, abgesehen davon, daß sie ungewöhnlich heftig und leidenschaftlich gegen ihre Herrin war, entlassen worden…«

»Lüge«, ruft Mademoiselle dazwischen. »Ich habe selbst gekündigt.«

»Warum befolgen Sie denn meinen Rat nicht?« warnt sie Mr. Bucket in eindringlichem, fast flehendem Tone. »Ich muß mich über Ihr unvorsichtiges Benehmen wahrhaftig wundern. Sie werden plötzlich etwas sagen, was schwer belastend für Sie sein wird. Die Zeit, wo Sie reden können, wird schon kommen. Kümmern Sie sich nicht um das, was ich sage, bis es als Beweis gegen Sie angeführt wird. Ich sage es doch nicht zu Ihnen.«

»Ich, entlassen!« ruft Mademoiselle schäumend. »Von der Gnädigen ! Meiner Treu, eine schöne Gnädige! Ha, ich mich würde brrringen um meine Ruf, wenn ich geblieben wäre bei der Gnädigen, so infam.«

»Meiner Seel, ich muß mich über Sie wundern«, stellt ihr Mr. Bucket vor. »Ich habe immer geglaubt, die Franzosen wären eine höfliche Nation. Und jetzt benimmt sich ein Frauenzimmer so! Und noch dazu vor Sir Leicester Dedlock, Baronet.«

»Er ist ein armer betrogner Mann. Ich auf sein Haus spucken. Auf seinen Namen. Auf seine Einfalt.« Mademoiselle spuckt dabei drei Mal auf den Teppich. »O ja, er ist ein großer Mann. O ja, süperb !Mondieu! Fi!«

»Also, Sir Leicester Dedlock«, fährt Mr. Bucket fort, »auch diese unbändige Französin da bildete sich ein, einen Anspruch an den seligen Mr. Tulkinghorn zu haben, weil er sie bei der erwähnten Gelegenheit in seine Kanzlei bestellt hatte. Daß er sie für ihre Mühe und den Zeitverlust reichlich entschädigte, das…«

»Lüge!« ruft Mademoiselle. »Ich ihm habe geworfen sein Geld vor die Füße!«

»Wenn Sie parlühren wollen, nun gut, dann müssen Sie eben die Folgen auf sich nehmen. – Weiter, Sir Leicester Dedlock. Ob sie schon damals mit der vorgefaßten Absicht, die Tat zu begehen, zu mir zog, um mich sicher zu machen, darüber erlaube ich mir kein Urteil. Aber, kurz und gut, sie wohnte bei mir als Mieterin und hat den verstorbenen Mr. Tulkinghorn in seiner Kanzlei beständig mit ihren Besuchen belästigt, um sich mit ihm herumzuzanken, und gleichzeitig den unglückseligen Papierhändler fast zu Tode gepeinigt.«

»Lügen!« ruft Mademoiselle. »Alles Lügen!«

»Die Mordtat wurde begangen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, und Sie kennen die näheren Umstände. Ich muß Sie jetzt bitten, mir ein paar Minuten Ihre angestrengteste Aufmerksamkeit zu schenken. Man ließ mich holen und vertraute mir den Fall an. Ich untersuchte die Wohnung, die Leiche, die Papiere und alles. Infolge eines Winkes von selten des Schreibers in Mr. Tulkinghorns Kanzlei verhaftete ich George, weil man ihn nachts, ungefähr in der Zeit, als der Mord geschah, im Hause gesehen hatte und außerdem wußte, daß er schon früher heftige Wortwechsel mit dem Verstorbenen gehabt und sogar Drohungen gegen ihn ausgestoßen hatte, was alles der Zeuge bestätigte. Wenn Sie mich fragen, Sir Leicester Dedlock, ob ich von Anfang an George für den Mörder gehalten habe, so sage ich ganz ruhig, nein, aber immerhin hätte er es doch sein können, und es sprach so viel gegen ihn, daß es meine Pflicht war, ihn zu verhaften. Jetzt merken Sie wohl auf!« – Wie sich Mr. Bucket mit ziemlicher Aufregung vorbeugt und seine Rede mit einem unheilschwangeren Hieb seines Zeigefingers durch die Luft einleitet, heftet Mademoiselle Hortense ihre schwarzen Augen mit finsterm Groll auf ihn und preßt ihre fieberhaft trocknen Lippen fest zusammen. –

»Ich ging abends nach Hause, Sir Leicester Dedlock, Baronet, und fand dieses junge Frauenzimmer beim Abendbrot bei meiner Frau, Mrs. Bucket. Von dem ersten Tag an, wo sie sich bei uns einmietete, zeigte sie sich mächtig zu meiner Frau hingezogen; aber an diesem Abend war es auffälliger als je. Sie übertrieb es geradezu. In ebenso übertriebnen Farben schilderte sie ihre Hochachtung und ihre Verehrung für den beklagenswerten Mr. Tulkinghorn. Beim lebendigen Gott, da fuhr es mir durch den Kopf, wie ich sie so mir gegenüber am Tisch mit dem Messer in der Hand dasitzen sah, sie müsse die Tat begangen haben.«

Mademoiselle zischt kaum hörbar durch die Zähne:

»Sie sind ein Teufel.«

»Wo war sie nun an dem Abend, wo der Mord begangen wurde, gewesen?« fährt Mr. Bucket fort. »Im Theater! Sie war auch wirklich dort gewesen, wie ich erfahren habe, sowohl vor wie nach der Tat. Ich war mir bewußt, daß ich es mit einer schlauen Person zu tun hatte und mir der Beweis sehr schwer fallen würde, und ich legte ihr eine Schlinge – eine Schlinge, wie ich sie noch nie gelegt habe. Es war ein Wagestück, wie ich es noch nie unternommen habe. Ich dachte mir die Sache aus, während ich mich mit ihr während des Abendessens unterhielt. Als ich hinauf zu Bett ging, stopfte ich, weil unser Haus klein ist und das Ohr dieses jungen Frauenzimmers scharf, Mrs. Bucket ein Tuch in den Mund, damit sie kein Wort der Überraschung hören ließe, während ich ihr die Geschichte erzählte… Mein Schätzchen, lassen Sie sich das nicht noch ein Mal einfallen, oder ich schließe Ihnen die Füße zusammen.«

– Mr. Bucket hat plötzlich inne gehalten, ganz geräuschlos Mademoiselle überfallen und sie in das Sofa zurückgedrückt. –

»Was haben Sie schon wieder?« fragt sie ihn.

»Lassen Sie sich das nicht noch ein Mal einfallen«, entgegnet Mr. Bucket mit warnendem Finger, »zum Fenster hinausspringen zu wollen. Das habe ich wieder. Geben Sie mir Ihren Arm. Sie brauchen nicht aufzustehen. Ich werde mich neben Sie setzen. Gleich nehmen Sie meinen Arm, bitte. Ich bin doch ein verheirateter Mann, wie sie wissen, und Sie kennen meine Frau. Gleich nehmen Sie meinen Arm!«

Sie versucht, ihre trocknen Lippen zu befeuchten, kämpft stöhnend mit sich und gehorcht.

»So, jetzt sind wir wieder in Ordnung. – Sir Leicester Dedlock, Baronet, der Fall hätte sich nie so schön gestaltet ohne Mrs. Bucket. Eine Frau, wie man unter fünfzigtausend, was sage ich, unter hundertfünfzigtausend keine zweite findet. Um diese junge Person hier sicher zu machen, habe ich seither unser Haus nicht betreten, aber Mrs. Bucket in den Broten und Milchkannen, so oft es nötig war, Mitteilungen zukommen lassen. Nachdem ich ihr also damals in der Nacht das Bettuch in den Mund gestopft hatte, flüsterte ich ihr zu: ‚Meine Liebe, glaubst du, sie durch unbefangnes Erwähnen von Verdachtsmomenten gegen George oder diesen oder jenen in Sicherheit wiegen zu können? Glaubst du, imstande zu sein, sie Tag und Nacht, und ohne zu schlafen, im Auge behalten zu können? Kannst du dir fest vornehmen: sie darf nichts tun ohne mein Wissen, sie soll meine Gefangene sein, ohne es zu ahnen, und mir so wenig entkommen wie dem Tod, und ihr Leben soll mein Leben sein, und ihre Seele meine Seele, bis ich sie in Händen habe, wenn sie diesen Mord begangen hat?‘ Und Mrs. Bucket sagte zu mir, so gut es ihr gelingen wollte, trotz des Knebels zu sprechen: ‚Bucket, das kann ich.‘ Und sie hat ihr Versprechen glorreich gehalten.«

»Lügen!« fährt Mademoiselle wieder auf. »Alles Lügen, mein Freund.«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, und wie trafen nun meine Berechnungen unter diesen Verhältnissen ein? Als ich annahm, daß das leidenschaftliche junge Frauenzimmer wieder nach irgendeiner neuen Richtung hin übertreiben würde, hatte ich da recht oder unrecht? Ich hatte recht. Und was tut sie? Erschrecken Sie nicht darüber. Sie versucht den Verdacht, den Mord begangen zu haben, auf – die Gnädige zu lenken.«

Sir Leicester erhebt sich in seinem Stuhl und sinkt wieder zurück.

»Und sie wurde darin bestärkt, weil sie hörte, ich sei immerwährend hier. Jetzt öffnen Sie einmal diese Brieftasche, Sir Leicester Dedlock, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, sie Ihnen hinüberzuwerfen, und sehen Sie sich die Briefe an, die ich bekam, und von denen jeder die zwei Worte: ‚Lady Dedlock‘ enthält. Öffnen Sie den einen an Sie adressierten, den ich heute morgen auffing, und lesen Sie die drei Worte: ‚Lady Dedlock, Mörderin‘ darin. Es regnete solche Briefe so dicht wie Marienkäfer. Was sagen Sie nun dazu, daß Mrs. Bucket von ihrem Versteck aus gesehen hat, daß dieses Frauenzimmer selbst sie alle geschrieben hat? Was sagen Sie dazu, daß Mrs. Bucket noch vor einer halben Stunde die dazugehörigen andern halben Bogen, die Tinte, und was nicht sonst noch alles, in Sicherheit gebracht hat? Was sagen Sie dazu, daß Mrs. Bucket beobachtet hat, wie das junge Frauenzimmer jeden dieser Briefe selbst auf die Post trug, Sir Leicester Dedlock, Baronet« fragt Mr. Bucket voll Triumph über die Genialität seiner Ehehälfte.

Zwei Umstände fallen jetzt vor allem auf, je weiter Mr. Bucket in seinem Berichte kommt. Erstens, daß er unmerklich ein grauenerregendes Eigentumsrecht auf Mademoiselle zu gewinnen scheint. Zweitens, daß sie aussieht, als ob sogar die Luft sich enger und enger um sie schlösse, als zöge sich ein Netz oder ein Leichentuch immer fester und fester um ihre atemlose Gestalt zusammen.

»Es ist kein Zweifel, daß die Gnädige in der verhängnisvollen Stunde an Ort und Stelle war«, fährt Mr. Bucket fort, »und meine französische Freundin hat sie vermutlich vom obern Treppenabsatz aus gesehen. Die Gnädigste und George und meine französische Freundin folgten einander fast auf den Fersen. Aber das hat weiter nichts zu bedeuten, und ich brauche daher nicht mehr davon zu sprechen. Ich fand den Pfropf der Pistole, mit der der verstorbene Mr. Tulkinghorn erschossen worden war. Er bestand aus einem Stück der gedruckten Beschreibung Ihres Hauses in Chesney Wold. Daraus kann man nicht viel schließen, werden Sie sagen, Sir Leicester Dedlock, Baronet. Nein, allerdings nicht, aber wenn meine französische Freundin sich so hat einlullen lassen, daß sie es für gefahrlos hält, die andern Stücke des Blattes zu zerreißen und wegzuwerfen, und wenn Mrs. Bucket die Stücke zusammensetzt und findet, daß gerade der Fetzen fehlt, aus dem der Pfropf besteht, fängt die Sache an, bedenklich faul zu werden.«

»Das sind sehr lange Lügen«, unterbricht ihn Mademoiselle. »Sie schwatzen sehr viel. Sind Sie endlich bald fertig oder wollen Sie immer so fortreden?«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet«, fährt Mr. Bucket fort, der einen großen Genuß dabei empfindet, den vollständigen Titel herzusagen, und sich Gewalt antut, wenn er auch nur ein Stück davon wegläßt, »der letzte Umstand in dieser Sache, den ich gleich erwähnen werde, zeigt, wie notwendig es in unserm Beruf ist, Geduld zu haben und sich nie zu übereilen. Ich beobachtete die Person gestern ohne ihr Wissen, während sie dem Leichenbegängnis, in Gesellschaft meiner Frau, die sie absichtlich dazu mitgenommen hatte, zusah, und ich besaß schon soviel Beweise gegen sie und der Ausdruck von niederträchtiger Bosheit in ihrem Gesicht gegen die gnädige Frau empörte mich derart, und überdies war die Zeit so recht dazu geeignet, Vergeltung an ihr üben zu lassen, daß eine jüngere und weniger erfahrene Hand als meine sie gewiß verhaftet hätte. Auch gestern abend wieder, als die Gnädige, die so mit Recht allgemein bewundert wird, nach Hause kam und aussah – mein Gott, man könnte fast sagen, wie die Venus, die aus dem Meere emporsteigt –, war es so verletzend und peinlich, zu denken, daß sie unter dem Verdacht, einen Mord begangen zu haben, stehen sollte, daß ich mich schon heftig gedrängt fühlte, der Sache ein Ende zu machen. Aber was hätte mir dann gefehlt? Sir Leicester Dedlock, Baronet, mir hätte das corpus delicti, die Waffe, gefehlt! Meine Gefangene hier schlug nun Mrs. Bucket nach dem Leichenbegängnis vor, mit dem Omnibus über Land zu fahren und in einem hübschen Wirtshause dort einen Tee zu nehmen. Nun befindet sich aber nicht weit von diesem Wirtshaus ein Teich. Während des Tees geht die Gefangene in die Stube, wo die Damen ihre Hüte abgelegt haben, angeblich, um ihr Taschentuch zu holen, bleibt ziemlich lange weg und kommt, ein wenig außer Atem, wieder.

Dies, sowie alle ihre Vermutungen darüber, berichtet mir Mrs. Bucket sogleich, wie sie nach Hause kommt. Ich lasse im Beisein von ein paar von unsern Leuten den Teich untersuchen und habe wirklich bald darauf die Taschenpistole, noch ehe sie ein halbes Dutzend Stunden im Wasser gelegen hat, in Händen. So, und jetzt, mein Schatz, halten Sie einen Augenblick still, ich werde Ihnen nicht wehe tun.«

In einem Nu hat Mr. Bucket ihr eine Handschelle angelegt.

»Das wäre eine«, sagt Mr. Bucket. »Jetzt die andre, mein Liebling. So. Jetzt sind wir fertig.«

Er steht auf, und sie ebenfalls. »Wo«, fragt sie und schließt die Augen, damit man ihren starren, entsetzten Blick nicht sehen solle, »wo ist Ihr falsches, verräterisches, verfluchtes Weib?«

»Sie ist voraus auf die Polizei gegangen«, gibt Mr. Bucket zur Antwort. »Sie werden sie gleich dort treffen, meine Liebe.«

»Ich möchte sie küssen!« ruft Mademoiselle Hortense aus und keucht dabei wie eine Tigerin.

»Und sie beißen, wie?«

»Ja«, sagt sie und reißt die Augen weit auf, »ich möchte sie zerreißen, Stück um Stück.«

»Das kann ich mir wohl denken, mein Schatz«, sagt Mr. Bucket mit Seelenruhe. »Ihr Weiber habt eine merkwürdige Wut aufeinander, wenn ihr uneins seid. Mich hassen Sie wohl nicht halb so viel, nicht wahr?«

»Nein, obgleich Sie auch ein Teufel sind.«

»Also einmal Engel, einmal Teufel, was? Aber ich tue nur meine Pflicht, müssen Sie bedenken. Erlauben Sie mir, Ihnen den Schal umzugeben. Ich habe schon oft Kammermädchen gespielt. Fehlt noch etwas an dem Hut? Es steht ein Cab vor der Tür.«

Mademoiselle Hortense wirft einen zürnenden Blick in den Spiegel und schüttelt sich mit einer einzigen Bewegung zurecht und sieht, es ist nicht zu leugnen, ungewöhnlich elegant aus.

»Hören Sie, mein Engel«, sagt sie und lächelt höhnisch, »Sie sind schrecklich gescheit, aber können sie ihn wieder ins Leben zurückrufen?«

»Nein, das gerade nicht.«

»Das ist sehr komisch. Hören Sie weiter. Sie sind schrecklich gescheit. Können Sie der Gnädigen ihre Ehre wiedergeben?«

»Seien Sie nicht so boshaft«, warnt Mr. Bucket.

»Oder ihm seinen Stolz«, wendet sich Mademoiselle mit unsäglicher Verachtung an Sir Leicester, »he? Sehen Sie ihn nur an! Der arme Kind, hahaha!«

»Kommen Sie, kommen Sie, das ist ein böseres Parlühren als vorhin«, sagt Mr. Bucket. »Kommen Sie jetzt.«

»Also Sie können alles das nicht ändern? Gut. Dann können Sie mit mir machen, was Sie wollen. Es ist nur der Tod, weiter nichts. Gehen wir, mein Engel. Leben Sie wohl, Sie alter Graukopf! Ich bemitleide Sie und verabscheue Sie!«

– Mit diesen Worten beißt Sie ihre Zähne zusammen, und ihr Mund schnappt zusammen wie unter einer Feder. –

Es läßt sich nicht beschreiben, wie Mr. Bucket sie hinausbugsiert, aber er verrichtet das Kunststück auf eine ganz besondre, ihm eigentümliche Weise. Er umgibt sie und umhüllt sie wie eine Wolke und schwebt mit ihr fort, als wäre er ein Jupiter in Zivil und sie der Gegenstand seiner Neigung.

Sir Leicester bleibt allein und rührt sich nicht, als ob er immer noch aufmerksam zuhöre. Endlich wandert sein Blick durch das leere Zimmer, und als er niemanden darin sieht, steht er unsicher auf und wankt ein paar Schritte und stützt sich dabei auf den Tisch. Dann bleibt er stehen. Wieder kommen aus seinem Munde die unartikulierten Töne; er erhebt seine Augen und scheint etwas starr anzublicken.

Der Himmel weiß, was er sehen mag. Die grünen Waldungen von Chesney Wold, den Herrschaftssitz, die Bilder seiner Vorväter, Unbekannte, die sie entstellen, Polizeibeamte, die mit roher Hand seine kostbarsten Erbstücke schänden, Tausende von Fingern, die auf ihn weisen, Tausende von Gesichtern, die ihn höhnisch angrinsen. Aber wenn diese Schatten sinnverwirrend an ihm vorüberschweben, ohne daß er sie festzuhalten vermag, einer ist darunter, den er selbst jetzt noch genau unterscheiden kann und dessen Namen er ruft, sich sein weißes Haar ausraufend und verzweifelt die Arme ausgebreitet.

Sei Jahren ist sie die Hauptwurzel seines Stolzes gewesen, aber nie hat er mit ihr einen selbstsüchtigen Gedanken verknüpft. Er hat sie geliebt, bewundert, geehrt und sie der Welt hingestellt, sich von ihr Hochachtung zollen zu lassen. Und inmitten all des ihn umwuchernden Zeremoniells und der gesellschaftlichen Formalitäten ist sie der Mittelpunkt seiner Liebe und Zärtlichkeit gewesen. Er sieht sie vor sich und vergißt sich selbst dabei. Aber er kann nicht ertragen, sie sich herabgesunken von der Höhe zu denken, die sie so herrlich geziert hat.

Und selbst, wie er schon zu Boden sinkt, um seine Qual nicht mehr zu fühlen, kann er ihren Namen noch aussprechen, mitten unter dem Stöhnen, das wieder aus seiner Brust heraufklingt, – aussprechen, viel eher mit Trauer und Mitleid als mit Vorwurf.