10. Kapitel Ich werde vernachlässigt, und man – bringt mich unter


10. Kapitel Ich werde vernachlässigt, und man – bringt mich unter

Das erste, was Miss Murdstone am Tag nach dem Begräbnisse tat, war, daß sie Peggotty für den kommenden Monat kündigte. So sehr Peggotty eine solche Stelle mißfallen mußte, so hätte sie sie doch um meinetwillen jeder andern auf der Welt vorgezogen.

Was mich betraf und meine Zukunft, fiel kein Wort, und es geschah auch nichts. Sie wären wahrscheinlich froh gewesen, wenn sie mir auch hätten monatlich kündigen können. Ich faßte mir einmal ein Herz und fragte Miss Murdstone, wann ich wieder in die Schule gehen werde, und sie antwortete: »Wahrscheinlich überhaupt nicht mehr.« Weiter erfuhr ich nichts. Ich hätte nur zu gerne gewußt, was man mit mir vorhabe, aber weder Peggotty noch ich konnten das geringste herausbekommen. Meine Lage hatte sich, was die Gegenwart betrifft, zwar viel angenehmer gestaltet, würde mir aber, wenn ich die Folgen hätte gehörig ermessen können, für die Zukunft viel Sorgen gemacht haben. Der mir früher auferlegte Zwang hatte ganz aufgehört. Miss Murdstone zwang mich nicht mehr wie früher, meinen langweiligen Posten in der Wohnstube beizubehalten, und wies mich mehr als einmal mit finsterm Blick aus dem Zimmer. Ich durfte ruhig mit Peggotty verkehren, wenn ich nur nicht Mr. Murdstone vor die Augen kam. Anfangs fürchtete ich, er oder seine Schwester würden mich wieder zu unterrichten anfangen, aber ich fand bald, daß meine Besorgnis unbegründet war und ich weiter nichts als Vernachlässigung zu gewärtigen hatte.

Diese Entdeckung verursachte mir damals nicht viel Schmerz. Noch immer ganz betäubt von dem Tod meiner Mutter war mir alles andere recht gleichgültig. Wohl dachte ich mir zuweilen, ob ich nicht zu einem schäbigen mürrischen Mann, der im Dorfe sein Leben in Nichtstun verlungern würde, heranwachsen müßte, wenn ich so gar keinen Unterricht mehr empfinge. Ich weiß noch, ich habe einmal überlegt, ob ich nicht wie der Held eines Romans davonlaufen sollte, um mein Glück zu machen, aber alles das waren Träume am hellichten Tag, die an der Wand meines Zimmers vorüberschwebten und nur die leere Wand zurückließen.

»Peggotty«, sagte ich, gedankenvoll flüsternd, eines Abends, als ich meine Hände am Herdfeuer wärmte, »Mr. Murdstone hat mich noch weniger gern als früher. Er hat mich nie gern gehabt, Peggotty. Aber jetzt möchte er mich am liebsten gar nicht mehr sehen.«

»Vielleicht hat er Kummer«, sagte Peggotty und strich mir die Haare glatt.

»Ich bin gewiß auch voll Trauer, Peggotty«, erwiderte ich, »wenn es nur sein Gram wäre, würde ich weiter gar nicht darüber nachdenken. Aber das ists nicht, o nein, das ists nicht.«

»Woher weißt du denn das?« fragte Peggotty nach einer Pause.

»O, Kummer ist es nicht; jetzt wo er mit seiner Schwester am Kamin sitzt, hat er wohl Kummer. Aber wenn ich hineinginge, Peggotty, würde er sogleich anders werden.«

»Wie denn?« fragte Peggotty.

»Zornig«, antwortete ich und machte unwillkürlich sein Stirnrunzeln nach. »Wenn es nur Gram wäre, würde er mich doch nicht so ansehen. Ich gräme mich auch, aber das macht mich nur freundlicher gegen andere.«

Peggotty sagte nichts mehr darauf, und ich wärmte meine Hände stumm wie sie.

»Davy«, sagte sie endlich.

»Ja, Peggotty.«

»Ich habe alles mögliche versucht, mein liebes Kind, hier in Blunderstone einen passenden Dienst zu bekommen, aber ich konnte keinen finden.«

»Und was gedenkst du zu tun, Peggotty?« und ich sah sie forschend an, »willst du fortgehen und dein Glück anderwärts versuchen?«

»Ich werde wohl nach Yarmouth gehen müssen«, sagte Peggotty.

»Du hättest noch weiter fortgehen und so gut wie verloren für mich sein können«, sagte ich ein wenig erleichtert. »So kann ich dich manchmal besuchen, meine gute, alte Peggotty! Du bist doch dort nicht am Ende der Welt, nicht wahr?«

»Ganz im Gegenteil, so Gott will«, rief Peggotty mit großer Lebhaftigkeit. »Solang du hier bist, mein Herzblatt, komme ich dich jede Woche besuchen. Jede Woche einmal, solange ich lebe.«

Dies Versprechen nahm mir einen Stein vom Herzen. Aber Peggotty fuhr fort. »Schau mal, Davy, ich gehe zuvorderst einmal auf vierzehn Tage zu meinem Bruder auf Besuch, um mich ein bißchen umzusehen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen; da hab ich mir gedacht, da sie dich hier sowieso nicht brauchen können, lassen sie dich vielleicht mit mir gehen?«

Jedenfalls war dieser Plan das einzige, was mich in meiner damaligen Gemütsstimmung irgendwie aufhellen konnte. Der Gedanke, wieder auf diesen ehrlichen Gesichtern einen Willkommensgruß lesen zu können, wieder den Frieden des stillen Sonntagmorgens zu genießen, wenn die Glocken läuten, die Schiffe Schatten gleich aus dem Nebel brechen, wieder Steine ins Wasser werfen zu können, mit der kleinen Emly herumzustreifen, ihr meine Leiden zu erzählen und ein Zaubermittel dagegen in den Muscheln und Kieseln am Strande zu finden, erfüllte mein Herz mit besänftigender Ruhe. Freilich wurde sie schon im nächsten Augenblick von dem Gedanken zerstört, daß Miss Murdstone schwerlich einwilligen werde. Aber noch während wir sprachen, kam Miss Murdstone plötzlich heraus, um etwas aus der Vorratskammer zu holen, und Peggotty brachte die Angelegenheit mit einer Kühnheit, die mich in Erstaunen versetzte, sogleich zur Sprache.

»Der Junge wird dort herumlungern«, sagte Miss Murdstone und spähte in einen Krug mit Essiggurken, »und Nichtstun ist die Wurzel alles Bösen. Aber freilich hier wird er auch nichts tun – und anderwärts auch nicht.«

Peggotty hatte eine heftige Antwort auf der Zunge; aber sie schluckte sie herunter um meinetwillen und schwieg.

»Hm«, meinte Miss Murdstone dann und spähte immer noch in den Essigkrug. »Es ist wichtiger als alles andere, – es ist sogar von außerordentlicher Wichtigkeit, – daß mein Bruder nicht gestört und belästigt wird. Es ist wohl am besten, ich willige ein.«

Ich bedankte mich bei ihr, ohne meine Freude zu verraten, damit sie nicht etwa ihre Erlaubnis zurückzöge, und mir kam das sehr klug vor, als sie mich jetzt wieder mit einem so sauern Gesicht ansah, als hätte sie mit ihren schwarzen Augen den ganzen Inhalt des Essigkrugs ausgesogen. Die Erlaubnis war gegeben und wurde auch nicht zurückgezogen. Und als der Monat um war, standen Peggotty und ich zur Abfahrt bereit.

Mr. Barkis kam ins Haus, um Peggottys Koffer abzuholen. Soviel ich weiß, hatte er noch nie die Schwelle der Gartentür überschritten, aber bei dieser Gelegenheit kam er bis ins Haus. Und als er den größten Koffer auf seine Schultern lud und hinausging, warf er mir einen so vielsagenden Blick zu, wie es sein Gesicht überhaupt vermochte.

Peggotty war natürlich sehr betrübt über ihren Abschied von dem Orte, wo sie so lange Jahre mit meiner Mutter und mir zugebracht hatte. Sie war schon in aller Frühe auf dem Kirchhof gewesen, und als sie im Wagen saß, hielt sie sich das Taschentuch vor die Augen.

Solange sie so blieb, gab Mr. Barkis kein Lebenszeichen von sich. Er saß auf seinem gewohnten Platz und in seiner bekannten Haltung wie eine große, ausgestopfte Puppe. Aber als sie das Taschentuch einsteckte und mit mir zu sprechen anfing, nickte er mehrere Male und grinste. Ich hatte nicht den leisesten Begriff, was er damit sagen wollte.

»’s ist ein schöner Tag, Mr. Barkis«, begann ich aus purer Höflichkeit.

»Nicht schlecht«, meinte Mr. Barkis, der gewöhnlich seine Worte sehr abwog und seine Meinung nie offen heraussagte.

»Peggotty hat sich schon wieder ganz erholt, Mr. Barkis«, bemerkte ich.

»So. Hm«, sagte Mr. Barkis.

Nachdem er mit schlauer Miene nachgedacht hatte, sah er Peggotty an und sagte:

»Ists Ihnen schon hübsch behaglich?«

Peggotty lachte bejahend.

»Aber wirklich und wahrhaftig? Verstehen Sie? Wirklich?« brummte Mr. Barkis und rutschte auf der Bank näher an sie heran und gab ihr einen Stoß mit dem Ellbogen. »Wirklich? Wirklich und wahrhaftig, ganz behaglich? Wirklich? He?« Bei jeder dieser Fragen rutschte Mr. Barkis näher zu ihr und gab ihr jedesmal einen Stoß mit dem Ellbogen, bis wir zuletzt alle in der linken Ecke des Wagens eingeklemmt saßen und ich kaum mehr atmen konnte.

Peggotty machte ihn darauf aufmerksam, worauf er sogleich etwas Platz machte und nach und nach wieder zurückkehrte. Ich sah ihm an, daß er zu glauben schien, er sei auf ein prächtiges Mittel verfallen, sich ohne viel Worte angenehm, fein und deutlich auszudrücken. Eine Zeitlang lachte er vor sich hin. Dann wandte er sich wieder langsam nach Peggotty um und wiederholte: »Also wirklich behaglich?« und fing das alte Manöver wieder an, bis ich abermals keinen Atem bekam. Nicht lange darauf wiederholte sich dasselbe noch einmal mit denselben Folgen. Dann stand ich immer auf, wenn ich ihn anrücken sah, und tat, als ob ich mir die Gegend ansähe, und kam viel besser dabei weg.

Er war so höflich, nur unsertwegen an einem Wirtshaus anzuhalten und uns mit Hammelbraten und Bier zu bewirten. Aber selbst einmal, als Peggotty gerade trank, bekam er einen seiner alten Anfälle und brachte sie fast zum Ersticken. Je mehr wir uns unserm Reiseziel näherten, desto mehr mußte er aufpassen und desto weniger Zeit fand er für Galanterien. Und als wir erst auf dem Pflaster von Yarmouth durcheinandergeschüttelt wurden, bot sich gar keine Gelegenheit mehr.

Mr. Peggotty und Ham erwarteten uns auf dem alten Platze. Sie empfingen mich und Peggotty in herzlicher Weise und schüttelten Mr. Barkis die Hand, der mit weit zurückgeschobenem Hut, ein verschämtes Lächeln auf den Zügen und weit ausgespreizten Beinen einen möglichst dummen Eindruck zu erwecken bemüht war. Jeder von den beiden Fischern nahm einen von Peggottys Koffern, und wir wollten eben fortgehen, als mir Mr. Barkis feierlich mit dem Zeigefinger winkte, mit ihm unter einen Torweg zu treten.

»Also«, brummte er dann, »alles in Ordnung.«

Ich sah ihn an und antwortete mit einem Versuch, ein möglichst gescheites Gesicht zu machen: »O! o!«

»Damals wars noch nicht abgemacht«, fuhr er mit vertraulichem Nicken fort. »Alles in Ordnung.«

Wieder antwortete ich: »O!«

»Sie wissen, wer wollte! Er! Barkis! aber nur Barkis!«

Ich nickte zustimmend.

»Alles in Ordnung«, sagte Mr. Barkis wieder und schüttelte mir die Hand. »Wir sind Freunde. Sie habens in Ordnung gebracht. Alles in Ordnung.«

In seinem Bestreben besonders klar zu sein, wurde mir Mr. Barkis immer rätselhafter. Ich hätte ihm eine Stunde ins Gesicht sehen können, ohne von ihm mehr zu erfahren als von dem Zifferblatt einer Uhr, die stillsteht. Endlich rief mich Peggotty weg. Unterwegs fragte sie mich, was er gesagt habe, und ich wiederholte seine Worte: »Alles in Ordnung.«

»Ist das eine Unverschämtheit«, sagte sie, »aber es macht nichts. Lieber Davy, was meinst du wohl, wenn ich mich verheiratete?«

»Nun, du würdest mich doch ebenso lieb haben wie jetzt, Peggotty?« erwiderte ich nach einigem Nachdenken.

Zum größten Erstaunen der Vorübergehenden und der beiden Peggottys vor uns blieb die gute Seele stehen und umarmte mich unter vielen Beteuerungen ihrer unwandelbaren Liebe.

»Sag mir also, was du meinst, Liebling?« fragte sie, als sie damit fertig war und wir unsern Weg fortsetzten.

»Wenn du dich mit Mr. Barkis verheiratest, Peggotty?«

»Ja.«

»Ich glaube, es wäre sehr gut, dann hättest du immer das Pferd und den Wagen umsonst und könntest mich immer besuchen kommen.«

»Was das Kind gescheit ist!« rief Peggotty. »Das hab ich doch auch immer den ganzen Monat lang gedacht. Ja, mein Goldkind, ich wäre viel unabhängiger, siehst du. Und es würde sich mir in meinem eignen Haus viel leichter arbeiten als sonstwo. Ich weiß gar nicht, ob ich mich zum Dienstmädchen bei Fremden jetzt noch eigne, und ich wäre immer in der Nähe der Ruhestätte meines schönen Lieblings«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Ich könnte sie sehen, wann ich wollte, und wenn ich mich einmal zur Ruhe lege, wärs nicht weit von meinem lieben Mädel.«

Wir schwiegen beide eine Weile.

»Aber ich würde nicht ein einziges Mal wieder dran denken«, sagte Peggotty fröhlich, »wenn mein Davy irgend etwas dagegen hätte, und wenn ich auch dreißigmal dreimal in der Kirche gefragt würde und den Ring mein Lebtag in der Tasche herumtragen müßte.«

»Schau mich an, Peggotty«, erwiderte ich, »und sieh selbst, ob ich mich nicht wirklich von ganzer Seele darüber freue!«

»Liebes Herz«, sagte Peggotty und drückte mich an sich, »ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht und in jeder Weise und ich glaube in der rechten, aber ich will es mir noch einmal überlegen und mit meinem Bruder darüber sprechen und unterdessen wollen wir die Sache für uns behalten, Davy. Barkis ist ein einfacher guter Kerl, und wenn ich meine Pflicht an seiner Seite tue, glaube ich, wäre es meine Schuld, wenn ich nicht – wenn ich mich nicht behaglich befände«, sagte Peggotty und lachte herzlich.

Über diesen Ausspruch von Mr. Barkis mußten wir immer wieder lachen, und wir waren sehr heiterer Laune, als Mr. Peggottys Häuschen in Sicht kam.

Es sah genau so aus wie früher, nur schien es in meinen Augen jetzt ein wenig kleiner zu sein. Mrs. Gummidge wartete in der Tür, als ob sie seit damals immer noch dort stünde. Innen war alles unverändert bis zum Seegras hinab in dem blauen Krug in meinem Schlafzimmer. Ich ging in den Seitenschuppen, um mich ein wenig umzusehen und wieder war ein verworrener Haufen von Hummern, Krabben und Krebsen da, alle von demselben Verlangen, die ganze Welt zu zwicken, beseelt.

Aber keine kleine Emly war zu sehen, und so fragte ich Mr. Peggotty nach ihr.

»Is in der Schule, Sir«, sagte Mr. Peggotty und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Dann sah er nach der Wanduhr, »kommt all in zwanzig oder dreißig Minuten. Wir vermissen sie alle, ach Gott.«

Mrs. Gummidge seufzte.

»Kopf hoch, Mächen«, mahnte Mr. Peggotty.

»Ach«, sagte Mrs. Gummidge, »ich bin n einsam verlassenes Geschöpf und sie war die einzige, die mich nicht die Quere ging.«

Sie schüttelte tränenden Auges den Kopf und blies das Feuer an. Mr. Peggotty sah uns an, während sie so beschäftigt war, und flüsterte leise hinter seiner Hand hervor: »De Olsch.«

Daraus schloß ich ganz richtig, daß seit meinem letzten Besuch in Mrs. Gummidges Gemütszustand keine wesentliche Veränderung eingetreten sein konnte. Alles war so reizvoll wie früher, aber dennoch machte es einen ganz andern Eindruck auf mich. Ich fühlte mich fast ein wenig enttäuscht. Vielleicht trug die Abwesenheit der kleinen Emly die Schuld. Da ich wußte, welchen Weg sie kommen mußte, ging ich ihr entgegen.

Es dauerte auch nicht lange, da tauchte in der Ferne eine Gestalt auf, und ich erkannte bald Emly, die immer noch ein kleines Geschöpfchen war, trotzdem sie gewachsen schien. Aber als sie näher kam und ich sah, wie ihre blauen Augen noch blauer und ihr Gesicht mit den Grübchen noch heiterer, hübscher und schelmischer geworden, überkam mich ein ganz seltsames Gefühl und ich tat, als ob ich sie nicht kennte, und ging vorbei, als ob ich weit draußen in der Ferne etwas erblickte. Ich habe dergleichen, mir scheint, auch später noch im Leben getan!

Die kleine Emly kümmerte sich gar nicht um mich. Sie sah mich recht gut, anstatt sich aber umzudrehen und mich zu rufen, lief sie lachend fort. Das zwang mich, ihr nachzurennen. Aber sie lief so schnell, daß ich sie erst knapp vor dem Häuschen einholen konnte.

»Ach so, du bists?«

»Aber du wußtest doch, wers ist, Emly«, sagte ich.

»Und du vielleicht nicht?«

Ich wollte sie küssen, aber sie hielt sich die Hand auf ihre Kirschenlippen und sagte, sie sei kein kleines Kind mehr, lief ins Haus und lachte noch viel mehr.

Es schien ihr Spaß zu machen, mich zu necken, – eine Veränderung, über die ich mich sehr wunderte. Der Teetisch war gedeckt, und unser kleiner Koffer stand auf dem alten Fleck. Aber anstatt sich neben mich zu setzen, leistete sie der alten brummigen Mrs. Gummidge Gesellschaft, und als Mr. Peggotty nach dem Grund fragte, bedeckte sie sich das Gesicht mit den Haaren und wollte nicht aufhören zu lachen.

»Eine kleine Spielkatze«, sagte Mr. Peggotty und tätschelte sie mit seiner großen Hand.

»Dat is se. Dat is se«, rief Ham, »Masr Davy, woll, dat is se« und er saß da und lachte sie lange an mit einem brennroten Gesicht, auf dem sich Bewunderung und Entzücken spiegelten.

Die kleine Emly wurde in jeder Hinsicht verzogen und von niemand mehr als von Mr. Peggotty, dem sie alles abschmeicheln konnte, wenn sie nur zu ihm ging und ihre Wangen an seinen struppigen Seemannsbart legte. So schien es mir wenigstens, als ich es sah, und ich gab Mr. Peggotty vollkommen recht. Sie war so zärtlich und herzig und dabei so neckisch und schüchtern zugleich, daß sie mich mehr gefangen nahm als je.

Sie war auch sehr weichherzig, denn als wir nach dem Tee um den Ofen saßen und Mr. Peggotty eine Andeutung über den Verlust, den ich erlitten hatte, fallen ließ, traten ihr die Tränen in die Augen, und sie sah mich über den Tisch hinüber so freundlich an, daß ich ihr sehr dankbar war.

»Ja«, sagte Mr. Peggotty, indem er ihre Locken wie Wasser durch seine Finger laufen ließ. »Hier ist auch eine Waise, Sir, und hier«, und er klopfte Ham mit dem Handrücken auf die Brust, »hier s noch einer, wenn mans ihm auch noch anmerkt.«

»Wenn ich Sie zum Vormund hätte, Mr. Peggotty«, sagte ich, »würd ichs wohl auch nicht sehr fühlen.«

»Schoin seggt, Masr Davy, woll«, schrie Ham entzückt, »hurra. Schoin seggt, Masr Davy, woll, hört, hört.« Er gab den Schlag mit dem Handrücken zurück und die kleine Emly stand auf und küßte Mr. Peggotty.

»Und was macht Ihr Freund, Sir?« fragte mich Mr. Peggotty.

»Steerforth?«

»Woll, woll«, rief Mr. Peggotty und wandte sich zu Ham. »Ich wußte, sien Nam hett mit unserm Beruf zu tun.«

»Du hest Rudderford seggt«, bemerkte Ham lachend.

»Jawoll«, antwortete Mr. Peggotty, »un du ›stürst‹ mit en Rudder, noch? Dat s noch veel anners. Wie gehts ihm, Sir?«

»Als ich fortging, sehr gut, Mr. Peggotty.«

»Dat s n Freund«, sagte Mr. Peggotty und reckte seinen Arm mit der Pfeife in die Höhe. »Dat s n Freund, wenn Sie von Freunden sprechen! Gott soll mich nicht leben lassen, wenns nicht ne Freude ist, den anzusehen.«

»Er ist sehr hübsch, nicht wahr?« sagte ich und mein Herz schlug höher bei dem Lobe.

»Hübsch!« rief Mr. Peggotty. »Er steht vor einem, wie – wie ein – na, wie soll ich nur sagen, wie er vor einem steht? Er ist so keck.«

»Ja, so ist auch sein ganzer Charakter«, sagte ich, »er ist mutig wie ein Löwe, und Sie können sich gar nicht vorstellen, Mr. Peggotty, wie freimütig er ist.«

»Und ich vermute«, sagte Mr. Peggotty und sah mich durch den Rauch seiner Pfeife hindurch an, »daß er in der Buchgelehrsamkeit höher im Wind liegt als alle andern.«

»Ja«, sagte ich freudig, »er weiß alles. Er ist erstaunlich gescheit.«

»Dat s n Freund«, murmelte Mr. Peggotty mit ernstem Wiegen des Kopfes.

»Alles geht ihm spielend von der Hand«, sagte ich. »Er kann seine Aufgabe, wenn er nur auch nur einen Blick drauf wirft. Er ist der beste Kricketter den ich kenne. Beim Damenbrett gibt er Ihnen so viel Steine vor, wie Sie wollen, und schlägt Sie mühelos.«

Mr. Peggotty nickte wieder mit dem Kopf, als wollte er sagen: »Selbstverständlich!«

»Und ein Redner ist er«, fuhr ich fort, »daß er jeden überzeugen kann, Sir. Und gar erst ihn singen zu hören!«

Mr. Peggotty nickte wieder mit dem Kopf, als wollte er sagen: »Ich zweifle keinen Augenblick daran.«

»Und dann ist er ein so prächtiger, feiner, nobler Bursche«, sagte ich, ganz hingerissen von meinem Lieblingsthema, »daß es kaum möglich ist, ihn so zu loben, wie er es verdient. Ich kann ihm nie genug dankbar sein für die Hochherzigkeit, mit der er mich, der ich viel jünger bin und in der Schule weit unter ihm saß, beschützte.«

Mitten in meinem Eifer fielen meine Augen auf die kleine Emly, die mit angehaltenem Atem über den Tisch gebeugt dasaß und mit größter Aufmerksamkeit zuhörte. Ihre blauen Augen glänzten wie Edelsteine und das Blut stieg ihr in die Wangen. Sie sah so wunderbar ernst und hübsch aus, daß ich erstaunt abbrach, und alle schauten sie daraufhin an und lachten.

»Emly gehts wie mir«, sagte Peggotty. »Sie möchte ihn sehen.«

Emly war ganz verlegen geworden, weil wir sie alle ansahen, errötete noch mehr und schlug die Augen nieder. Als sie wieder aufsah und bemerkte, daß wir noch immer keinen Blick von ihr wenden konnten, wurde sie ganz verwirrt, lief fort und blieb weg, bis es fast Schlafenszeit war.

Ich legte mich in das alte kleine Bett im Hintersteven des Bootes, und der Wind strich klagend über die Dünen wie einstmals. Ich konnte mir nicht helfen, es schien mir, als klage er um die, die dahingegangen. Ich mußte an die Wellen des Schicksals denken, die, seitdem ich dieses Heulen zuletzt vernommen, mein glückliches Heim weggespült hatten. Kein Gedanke kam mir mehr wie damals, daß der Ozean draußen über seine Ufer treten könnte und unser Boot fortschwemmen. Ich erinnere mich noch, wie Wind und Wogen allmählich schwächer in meinen Ohren klangen, als ich meinem Abendgebet den Satz hinzufügte: Gott möchte mich groß werden lassen, damit ich die kleine Emly heiraten könne. Dann sank ich verliebt in Schlummer.

Die Tage vergingen so schnell wie früher, doch nur selten mehr konnte ich mit der kleinen Emly am Strande spazieren gehen. Sie mußte Aufgaben lernen und nähen und konnte einen großen Teil des Tages nicht zu Hause sein. Aber auch ohnedies wären diese alten Wanderungen nicht mehr so wie früher gewesen. So wild und voll kindischer Launen Emly war, so war sie doch schon viel mehr Jungfrau, als ich glaubte. Sie schien in mehr als einem Jahr viel älter als ich geworden zu sein. Sie hatte mich gern, aber lachte mich aus und quälte mich, nahm einen andern Weg, wenn ich sie abholen ging, und empfing mich lachend an der Tür, wenn ich dann verstimmt heimkam. Meine besten Zeiten waren, wenn sie vor der Tür stillsitzen mußte und arbeitete, während ich ihr auf der Schwelle vorlas.

Es kommt mir jetzt so vor, als ob ich niemals wieder soviel Sonnenschein erlebt hätte, wie an jenen schönen Aprilnachmittagen, niemals mehr eine so sonnige kleine Gestalt gesehen, als damals an der Tür des alten Schiffes, niemals mehr einen solchen Himmel, solches Wasser, und so herrliche Schiffe in die goldig flimmernde Luft hinaussegeln.

Schon am ersten Abend nach unserer Ankunft erschien Mr. Barkis mit einem sehr einfältigen Gesicht und sehr linkischer Haltung und mit einer Anzahl Orangen in einem Schnupftuch. Da er nichts über dieses Bündel fallen gelassen, glaubten wir, er habe es wahrscheinlich vergessen, als er wegging, bis Ham, der ihm nacheilte, mit der Nachricht zurückkam, es sei für Peggotty bestimmt. Von jenem Tag an erschien Barkis pünktlich um dieselbe Stunde jeden Abend und immer mit einem kleinen Bündel, von dem er nie sprach, und das er regelmäßig hinter die Tür stellte und dort liegen ließ.

Diese Liebesgaben waren der verschiedensten und exzentrischsten Art. Einmal ein paar Schweinsfüße, dann ein ungeheures Nadelkissen, ein halber Eimer Äpfel, ein Paar Jetohrringe, ein Bündel spanische Zwiebeln, ein Dominospiel, ein Kanarienvogel samt Käfig oder eine gepökelte Schweinskeule.

Auch seine Liebeswerbung war ganz eigentümlicher Art. Er sprach selten ein Wort und konnte stundenlang in derselben Stellung wie im Wagen beim Feuer sitzen und Peggotty anglotzen.

Eines Abends machte er, wahrscheinlich von Liebe begeistert, einen Vorstoß auf das Wachslicht, mit dem sie immer ihren Faden wichste, steckte es in die Westentasche und nahm es mit. Von da an bereitete es ihm ein Hauptvergnügen, den Stumpf, wenn er gebraucht wurde, aus der Tasche zu holen, was nicht ganz leicht war, da er, unterdessen halb geschmolzen, regelmäßig am Taschenfutter festklebte.

Er schien sich bei uns sehr wohl zu fühlen, aber durchaus nicht veranlaßt zu sehen, irgend etwas zu sprechen. Selbst wenn er Peggotty auf der Ebene spazierenführte, machte er sich keine Sorgen darüber. Er fragte sie nur zuweilen, ob sie sich »behaglich fühle«, und Peggotty hielt sich dann, wenn er fortgegangen, die Schürze vors Gesicht und konnte halbe Stunden lang lachen. Auch wir freuten uns alle mehr oder weniger, ausgenommen höchstens die unglückliche Mrs. Gummidge, deren Brautstand von ganz ähnlicher Art gewesen sein mußte, da sie sich immer an den »Alten« erinnerte.

Als meine Besuchszeit ihrem Ende entgegenging, hieß es eines Tages, daß Peggotty und Mr. Barkis einen Festausflug machen wollten und Emly und ich sie begleiten sollten. In Erwartung des großen Vergnügens, Emly einen ganzen Tag für mich zu haben, konnte ich die Nacht vorher schon kaum schlafen. In aller Frühe waren wir auf den Beinen, und während wir noch beim Frühstück saßen, wurde Mr. Barkis in der Ferne sichtbar, eine Kutsche auf den Gegenstand seiner Neigung zulenkend.

Peggotty trug wie gewöhnlich ihre sauber stille Trauerkleidung, aber Mr. Barkis strahlte in einem neuen blauen Rock, den der Schneider so reichlich angemessen, daß die Ärmel im kältesten Winter Handschuhe überflüssig gemacht hätten, während der Kragen so hoch war, daß Barkis Haare auf dem Hinterkopf wegstanden. Die blanken Knöpfe waren von der größten Gattung. Ausgestattet mit hellen Beinkleidern und einer gelben Weste schien mir Mr. Barkis ein Wunder von Vornehmheit zu sein.

Als wir alle reisefertig vor der Tür standen, bemerkte ich, daß Mr. Peggotty mit einem alten Schuh bewaffnet war, der als Glückszeichen hinter uns hergeworfen werden sollte, und daß Mr. Peggotty ihn Mrs. Gummidge zu diesem Zweck hinhielt.

»Nein, lieber soll es jemand anders tun, Daniel«, wehrte Mrs. Gummidge ab. »Ich bin ein einsames, verlassenes Geschöpf, und alles, was mich ans Gegenteil erinnert, geht mich der Quere.«

»Komm, Alte«, rief Mr. Peggotty, »nimms nur und wirf ihn.«

»Nein, Daniel«, wehrte Mrs. Gummidge ab und schüttelte tränenden Auges das Haupt. »Wenn ich weniger fühlte, könnte ich mehr tun. Du fühlst nicht wie ich, Daniel. Die Sachen gehen dich nicht der Quere und du ihnen nicht, s ist besser, du tusts selber.«

Aber hier rief Peggotty, die in großer Eilfertigkeit von einem zum andern gegangen war und alle geküßt hatte, aus dem Wagen heraus, daß Mrs. Gummidge es unbedingt tun müßte. So tat es denn Mrs. Gummidge und warf auch leider zugleich einen traurigen Schatten auf den festlichen Charakter unseres Ausflugs, indem sie in Tränen ausbrach und ganz gebrochen Ham mit den Worten in die Arme sank, daß sie aller Welt eine Last sei und am besten auf der Stelle ins Armenhaus ginge. Schade nur, daß Ham es nicht zur Ausführung brachte.

Nun ging es weiter auf unserm Festpfad und das erste, was wir taten, war, daß wir vor einer Kirche anhielten, wo Mr. Barkis das Pferd an ein Gitter band und mit Peggotty hineinging, während Emly und ich allein zurückblieben. Ich benutzte diese Gelegenheit, meinen Arm um Emlys Taille zu legen und ihr vorzuschlagen, da ich ja bald fort müsse, wollten wir uns recht gut sein und uns den ganzen Tag so glücklich wie möglich gestalten. Da die kleine Emly zustimmte und mir erlaubte, sie zu küssen, kam ich ganz aus der Fassung. Ich sagte ihr, ich könnte nie eine andere lieben und wäre bereit, jeden umzubringen, der sich um sie zu bewerben wagte.

Wie sich die kleine lustige Emly darüber lustig machte! Mit einer Miene, als sei sie unendlich viel gescheiter und älter als ich! Sie sagte, die kleine Hexe, ich sei ein kindischer Junge, und lachte dann so entzückend, daß ich den Schmerz über die demütigende Benennung über der bloßen Freude, sie ansehen zu dürfen, vergaß.

Mr. Barkis und Peggotty blieben ziemlich lang in der Kirche, kamen aber endlich wieder heraus. Dann fuhren wir hinaus aufs Land. Unterwegs wendete sich Mr. Barkis nach mir um und sagte, indem er listig ein Auge zukniff:

»Was fürn Namen hab ich in den Wagen geschrieben?«

»Klara Peggotty«, antwortete ich.

»Was fürn Namen müßt ich jetzt anschreiben, wenn ein Dach da wäre?«

»Nicht wieder Klara Peggotty?« fragte ich.

»Klara Peggotty-Barkis!« erwiderte er und brach in ein Gelächter aus, daß die ganze Chaise wackelte.

Kurz, sie waren verheiratet und waren zu keinem andern Zweck in die Kirche gegangen. Peggotty hatte gewünscht, daß es in aller Stille geschähe, und hatte keine Zeugen zu der Feierlichkeit eingeladen. Sie wurde etwas verlegen, als Mr. Barkis mit dieser Mitteilung herausplatzte, und konnte mich nicht genug umarmen, um mir ihre unveränderte Liebe zu zeigen. Bald beruhigte sie sich wieder und sagte, sie sei froh, daß alles vorbei wäre.

Wir hielten dann an einem kleinen Wirtshaus, wo wir erwartet wurden und ein sehr gutes Mittagessen einnahmen und den Tag sehr angenehm zubrachten. Wenn Peggotty täglich einmal in den letzten zehn Jahren geheiratet haben würde, hätte sie nicht unbefangener sein können. Sie war ganz wie sonst und machte mit der kleinen Emly und mir vor dem Tee einen kleinen Spaziergang, während Mr. Barkis philosophisch seine Pfeife rauchte, offenbar damit beschäftigt, sich sein künftiges Glück auszumalen. Das schien seinen Appetit anzuregen, denn ich erinnere mich genau, daß er zum Tee noch eine ziemliche Menge kalten Schinken zu sich nahm, trotzdem er schon zu Mittag ziemlich viel Schweinebraten und Gemüse gegessen und dann mit ein oder zwei jungen Hühnern noch nachgeholfen hatte.

Ich habe seitdem oft daran denken müssen, was für eine seltsame unschuldige und ungebräuchliche Hochzeit das damals war.

Bald nach Dunkelwerden stiegen wir wieder in den Wagen und fuhren gemütlich zurück und betrachteten die Sterne und sprachen über sie. Ich führte hauptsächlich die Konversation und klärte Mr. Barkis‘ Geist in ganz erstaunlicher Weise auf. Er hätte wahrscheinlich alles geglaubt, was ihm zu erzählen mir eingefallen wäre, denn er empfand die größte Hochachtung vor meiner Gescheitheit und sagte seiner Frau, ich sei der reinste »Roeshus«. Damit meinte er ein Wunderkind.

Als wir das Thema Sterne erschöpft hatten, oder besser gesagt, als ich die geistigen Fähigkeiten Mr. Barkis‘ erschöpft hatte, nahmen die kleine Emly und ich ein altes Umschlagtuch als gemeinsamen Mantel um und blieben so während der ganzen Rückfahrt sitzen. Ach, wie sehr ich sie liebte! Welche Seligkeit, dachte ich, wenn wir verheiratet wären und hinaus in die weite Welt gehen könnten, um unter den Bäumen und in den Feldern zu leben, – wenn wir niemals älter und klüger zu werden brauchten, immer Kinder Hand in Hand im Sonnenschein über blumige Wiesen wandeln und abends im Schlummer der Unschuld und des Friedens das Haupt aufs weiche Moos legen dürften; welche Seligkeit, dereinst von den Vögeln des Himmels begraben zu werden, wenn wir stürben. Solche Traumbilder, lichtstrahlend wie unsere Unschuld, unerreichbar wie die Sterne über unsern Häuptern, gaukelte mir mein Geist vor den ganzen Weg. Es freut mich, daß zwei so unschuldvolle Herzen wie Emly und ich Peggottys Hochzeit verschönten.

Wir kamen noch beizeiten zu dem alten Boot; dort nahmen Mr. und Mrs. Barkis Abschied von uns und fuhren gemächlich nach Hause in ihr eignes Heim. Da fühlte ich das erstemal, daß ich Peggotty verloren hatte. Unter jedem andern Dache als hier, wo ich die kleine Emly bei mir wußte, wäre ich mit blutendem Herzen zu Bett gegangen.

Mr. Peggotty und Ham sahen mir an, worunter ich litt, hielten ein Abendessen bereit und setzten ihre gastlichsten Gesichter auf, um mir meine traurigen Gedanken zu vertreiben. Die kleine Emly saß neben mir auf dem Koffer – das erste Mal, seit ich hier weilte, und es war ein wundervoller Schluß für einen herrlichen Tag.

Diese Nacht war Flut. Und bald, nachdem wir uns schlafen gelegt, fuhren Mr. Peggotty und Ham zum Fischen aus. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, in dem einsamen Haus als Beschützer Emlys und Mrs. Gummidges zurückgelassen zu sein, und wünschte mir nur, daß ein Löwe oder eine Schlange oder ein anderes bösartiges Ungeheuer uns überfallen möchte, damit ich es vernichten und mich mit Ruhm bedecken könnte. Aber da nichts dieser Art auf den Dünen von Yarmouth herumstreifte, ließ ich mir, um diesem Mangel abzuhelfen, bis zum Morgen von Drachen träumen.

Am Morgen kam Peggotty und rief mich wie gewöhnlich ans Fenster, als ob Mr. Barkis, der Fuhrmann, von Anbeginn an nur ein Traum gewesen wäre. Nach dem Frühstück nahm sie mich mit sich nach Hause. Sie bewohnten ein wunderschönes kleines Heim. Von allen Möbeln darin machte mir ein alter Schreibtisch aus dunklem Holz im Empfangszimmer, dessen Deckel aufgeschlagen ein Pult bildete, worauf eine große Quartausgabe von Fox‘ »Buch der Märtyrer« lag, den tiefsten Eindruck. Als Wohnstube diente eine mit Ziegelsteinen gepflasterte Küche. Das kostbare Buch, von dem ich keine Silbe mehr weiß, entdeckte und studierte ich sogleich; nie wieder später besuchte ich das Haus, ohne auf das Pult zu klettern und es zu verschlingen. Am meisten erbauten mich die vielen Bilder, die alle Arten von Martern darstellten; die Märtyrer und Peggottys Haus sind seitdem in meiner Seele unzertrennlich miteinander verknüpft.

Ich nahm an diesem Tage von Mr. Peggotty und Ham und der kleinen Emly Abschied und schlief in der Nacht bei Peggotty in einem Dachstübchen, – das Krokodilbuch lag in einem Fach zuhaupten des Bettes – das immer mein Zimmer sein und immer für mich hergerichtet bleiben sollte.

»Solange ich lebe, lieber Davy, und unter diesem Dache wohne«, sagte Peggotty, »sollst du dieses Zimmer vorfinden, als ob ich dich jede Minute erwartete. Ich will es jeden Tag bereit halten, wie dein früheres altes kleines Zimmer, und wenn du selbst nach China gingst, soll es die ganze Zeit, wo du abwesend bist, auf dich warten.«

Ich fühlte von ganzem Herzen die Wahrheit aus diesen Worten meiner lieben alten Kindsfrau heraus und dankte ihr, so gut ich vermochte. Es fiel nicht sehr überschwenglich aus, denn sie gab mir ihre Versicherung, die Hände um meinen Hals gelegt, erst an dem Morgen, als ich mit ihr und Mr. Barkis nach Hause fuhr. Sie verließ mich am Gartentor in Blunderstone.

Es war ein bedrückender Anblick für mich, den Wagen mit Peggotty fortfahren zu sehen, während ich unter den alten Ulmen vor dem Hause stand, in dem kein Blick von Liebe oder Zuneigung mehr auf mir ruhen sollte.

Von diesem Zeitpunkt an verfiel ich in einen Zustand des Verlassenseins, auf den ich ohne Ergriffenheit nicht zurückblicken kann. Gänzlich vernachlässigt, ohne Gesellschaft von Knaben meines Alters, war ich ohne jede Aufgabe, allein gelassen mit meinen eignen trüben Gedanken, die selbst jetzt noch, wo ich dies schreibe, ihren Schatten auf das Papier zu werfen scheinen.

Was würde ich darum gegeben haben, wenn man mich wieder in eine Schule geschickt hätte – und wäre sie noch so streng gewesen –, mich auch nur das Geringste gelehrt hätte. Keine Hoffnung lag vor mir. Man konnte mich nicht leiden, sah hartnäckig und mürrisch an mir vorbei. Ich glaube, Mr. Murdstone besaß damals wenig Mittel, aber das tut wenig zur Sache. Er konnte mich nicht ausstehen, und ich glaube, er wollte meine Ansprüche an ihn vergessen, indem er mich vernachlässigte.

Ich wurde nicht tätlich mißhandelt. Man schlug mich nicht und tadelte mich nicht. Aber das Unrecht, das ich litt, war ohne Unterbrechung und wurde mir in systematischer leidenschaftsloser Weise zugefügt. Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat wurde ich kalt vernachlässigt. Was sie wohl mit mir angefangen hätten, wenn ich krank geworden wäre? Ob mich jemand gepflegte hätte oder ob sie mich in meinem einsamen Zimmer einfach hätten verschmachten lassen!?

Wenn Mr. und Miss Murdstone zu Hause waren, nahm ich meine Mahlzeit mit ihnen ein. In ihrer Abwesenheit aß und trank ich allein. Zu allen Zeiten trieb ich mich unbeachtet im Hause und in der Nähe herum. Sie gaben nur eifersüchtig acht, daß ich mit niemand Freundschaft schlösse, wahrscheinlich, damit ich mich nicht beklagen könnte.

Wohl aus demselben Grunde war es mir fast nie erlaubt, mit Mr. Chillip einen Nachmittag zu verleben, trotzdem er mich sehr oft einlud. Nur selten durfte ich ihn besuchen. Ebenso selten die ihnen so verhaßte Peggotty. Ihrem Versprechen getreu kam die gute Seele einmal in der Woche zu mir, oder wir trafen uns in der Nähe, und nie kam sie mit leeren Händen. Aber wie viele, viele Male täuschte ich mich bitter in der Hoffnung, Erlaubnis zu bekommen, sie in ihrer Wohnung besuchen zu dürfen. Hie und da wurde es mir gestattet, und bei einer solchen Gelegenheit brachte ich heraus, daß Mr. Barkis eigentlich ein Geizhals, oder wie sie es nannte, ein bißchen knickerig war, und viel Geld in einem Koffer unter seinem Bette versteckt hielt, der angeblich voll Kleider und Hosen sein sollte. Mit solcher Zähigkeit verbarg Barkis seine Schätze, daß auch die kleinste Summe nur durch List aus ihm herausgelockt werden konnte. Peggotty mußte jedesmal eine wahre Pulververschwörung anzetteln, um samstags ihr Haushaltungsgeld zu bekommen.

Während dieser langen Zeit fühlte ich allmählich jede Hoffnung schwinden und empfand die vollständige Vernachlässigung so tief, daß ich ohne meine alten Bücher ganz und gar elend gewesen wäre. Sie bildeten meinen einzigen Trost, und ich war ihnen so treu, wie sie mir, und ich las sie, ich weiß nicht mehr, wie viele Male durch.

Ich komme jetzt zu einem Zeitabschnitt meines Lebens, den ich nie vergessen kann und dessen Erinnerung mir oft ungerufen wie ein Gespenst erschienen ist und glückliche Zeiten getrübt hat.

Ich schlenderte wie gewöhnlich eines Tags zwecklos und träumerisch wie immer umher, da stieß ich, um eine Ecke biegend, unvermutet auf Mr. Murdstone, der sich in Begleitung eines Herrn befand. Ich wollte mich verlegen vorbeidrücken, als der Herr rief: »Hallo, Brooks.«

»Nein, Sir, David Copperfield«, sagte ich.

»Sei still, du bist Brooks von Sheffield«, sagte der Herr, »das ist dein Name.«

Bei diesen Worten sah ich mir den Gentleman genauer an und erkannte in ihm Mr. Quinion, der damals bei meinem und Mr. Murdstones Besuch in Lowestoft so gelacht hatte.

»Und was machst du und wo gehst du in die Schule, Brooks?« fragte Mr. Quinion. Er legte mir die Hand auf die Schulter und zog mich mit. Ich wußte nicht, was ich antworten sollte, und blickte fragend auf Mr. Murdstone.

»Er ist jetzt zu Hause«, sagte Mr. Murdstone. »Er geht überhaupt nicht in die Schule. Ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll. Es ist ein schwieriger Fall.«

Sein alter falscher Blick ruhte eine Weile auf mir, dann runzelte er die Brauen und wandte sich mit Widerwillen von mir ab.

»Hum«, sagte Mr. Quinion und sah uns beide an. »Schönes Wetter.«

Eine Pause trat ein, und ich überlegte, wie ich mich am besten von ihm losmachen könnte und meines Weges gehen, als er sagte:

»Ich glaube, du bist doch ein ziemlich flinker Bursche, was, Brooks?«

»Ja, er ist flink genug«, sagte Mr. Murdstone ungeduldig. »Laß ihn doch gehen, er wird dirs nicht Dank wissen, daß du ihn festhältst.« Auf seinen Wink ließ mich Mr. Quinion los, und ich beeilte mich, wegzukommen. Als ich mich im Garten umdrehte, sah ich, daß Mr. Murdstone, am Kirchhof stehengeblieben, mit Mr. Quinion unterhandelte. Sie sahen mir beide nach, und ich merkte, daß sie von mir sprachen.

Mr. Quinion blieb die Nacht über bei uns. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen wollte ich eben das Zimmer verlassen, als mich Mr. Murdstone zurückrief. Er ging dann feierlich an den Schreibtisch seiner Schwester; Mr. Quinion schaute, die Hände in den Taschen, zum Fenster hinaus, und ich stand da und sah von einem zum andern.

»David«, begann Mr. Murdstone, »für die Jugend ist dies eine Welt der Tat, aber keine zum Brüten und Faulenzen.«

»Wie du es machst«, fügte seine Schwester hinzu.

»Jane Murdstone, überlasse das gefälligst mir! – Also ich sage dir, David, für die Jugend ist dies eine Welt der Tat und nicht ein Feld zum Brüten und Faulenzen, ganz besonders nicht für einen Jungen von deinem Charakter, der der Zucht bedarf und dem man den größten Dienst leistet, wenn man ihn zwingt, die Wege der arbeitenden Welt zu betreten, um ihn zu ducken und zu brechen.«

»Mit Trotz ist hier nichts auszurichten«, warf seine Schwester dazwischen, »dein Trotz muß gebrochen werden. Er soll und muß gebrochen werden.« Mr. Murdstone warf ihr einen halb abweisenden, halb billigenden Blick zu und fuhr fort:

»Ich glaube, du weißt, David, daß ich nicht reich bin. Jedenfalls weißt dus jetzt. Du hast eine beachtenswerte Erziehung genossen. Erziehung kostet Geld. Aber selbst, wenn das nicht der Fall wäre, würde ich es doch für vorteilhaft halten, dich nicht mehr in die Schule zu schicken. Was vor dir liegt, ist der Kampf mit der Welt, und je eher du damit anfängst, um so besser!«

Ich glaube, daß ich ihn in meiner eignen armseligen Art wohl schon lange begonnen hatte.

»Du hast wohl schon von dem Comptoir gehört?« fuhr Mr. Murdstone fort.

»Vom Comptoir, Sir?«

»Von Murdstone & Grinbys Weinhandlung.«

Ich muß vermutlich ein verwirrtes Gesicht gemacht haben, denn er sagte ungeduldig: »Das Comptoir, das Geschäft, der Keller, das Lager, kurz und gut.«

»Ich glaube, ich habe davon gehört, Sir, aber ich weiß nicht mehr wann.«

»Das ist schließlich gleichgültig«, antwortete er. »Mr. Quinion führt das Geschäft.«

Ich blickte den Gentleman, der immer noch aus dem Fenster schaute, ehrerbietig an.

»Mr. Quinion meint, daß er noch ein paar Jungen beschäftigen kann und keinen Grund sieht, warum er dich nicht auch unter denselben Bedingungen anstellen sollte.«

»Wenn Brooks schon sonst keine andern Aussichten hat, Murdstone«, ließ Mr. Quinion halblaut fallen und sah sich nach uns um.

Ohne zu beachten, was er sagte, fuhr Mr. Murdstone ungeduldig, fast ärgerlich fort:

»Die Bedingungen sind, daß du so viel verdienst, daß du Essen, Trinken und Taschengeld hast. Deine Wohnung, die ich dir aussuchen werde, bezahle ich, ebenso deine Wäsche.«

»Die ich aussuchen werde«, sagte Miss Murdstone.

»Für deine Kleider wird auch gesorgt werden, da du für die erste Zeit sie dir nicht selbst wirst beschaffen können. Du gehst also jetzt mit Mr. Quinion nach London, David, um ein Leben auf eigne Rechnung zu beginnen.«

»Kurz, du bist versorgt«, bemerkte Miss Murdstone »und wirst gefälligst deine Pflicht tun.«

Ich verstand ganz gut, daß man mich nur loswerden wollte, weiß aber nicht mehr recht, ob ich mich darüber freute oder traurig war. Ich glaube, ich fühlte mich so verwirrt, daß ich zwischen beiden Empfindungen hin und her schwankte. Es blieb auch nicht viel Zeit, mir darüber klarzuwerden, da Mr. Quinion am nächsten Morgen abreisen sollte.

Ich sehe mich an jenem Morgen in einem alten abgetragnen weißen Hut mit einem schwarzen Trauerflor, in einer schwarzen Jacke und ein paar harten steifen Manchesterhosen, die Miss Murdstone vermutlich als die beste Rüstung im Kampfe mit der Welt, den ich jetzt beginnen sollte, ausgesucht hatte. In diesem Aufzug, alle meine Habseligkeiten in einem kleinen Koffer, ganz allein, »einsam und verlassen«, wie Mrs. Gummidge gesagt hätte, saß ich auf dem Wagen, der Mr. Quinion zur Londoner Post nach Yarmouth brachte.

Kleiner und kleiner wurden das Haus und die Kirche in der Ferne, das Grab unter dem Baum verschwand hinter den Häusern. Dann sehe ich den Kirchturm nicht über meinem alten Spielplatz mehr ragen, und der Himmel ist öde und leer.

11. Kapitel Ich beginne ein Leben auf eigne Faust und finde keinen Gefallen daran


11. Kapitel Ich beginne ein Leben auf eigne Faust und finde keinen Gefallen daran

Ich kenne die Welt jetzt gut genug, um mich fast über nichts mehr zu wundern, aber dennoch muß ich selbst heute noch staunen, wie man mich damals in einem solchen Alter derartig leichtfertig hinausstoßen konnte. Daß sich niemand eines Kindes von so vortrefflichen Fähigkeiten und mit so großer Beobachtungsgabe, so schnell von Begriffen, lernbegierig, körperlich und geistig so leicht verletzbar wie ich, annahm, klingt fast wunderbar. Aber niemand tat es, und so wurde ich in meinem zehnten Jahr ein kleiner Laufbursche bei Murdstone & Grinby.

Murdstone & Grinbys Magazin lag am Wasser unten in Blackfriars. Neubauten haben die Gegend verändert, aber damals war es das letzte Haus in einer engen Straße, die sich zum Fluß hinschlängelte; am Ende mit ein paar Stufen, wo ein Boot anlegte. Es war ein baufälliges altes Haus mit einem eignen Ladeplatz, der während der Flut im Wasser und während der Ebbe im Schlamm stand und von Ratten wimmelte. Die getäfelten Zimmer, schwarz von Schmutz und Rauch von hundert Jahren wohl, die verfaulten Fußböden und Stiegen, das Quieken und Pfeifen der alten Ratten im Keller, der Schmutz und die Fäulnis des Ortes, alles das steht jetzt noch so deutlich vor meinen Augen, wie beim erstenmal, als ich an Mr. Quinions Hand zitternd eintrat.

Murdstone & Grinby hatten mit allen möglichen Bevölkerungsschichten zu tun. Das Hauptgeschäft bestand darin, gewisse Lastschiffe mit Wein und Branntwein zu versorgen. Ich weiß nicht mehr, was es für Lastschiffe waren, aber einige derselben fuhren nach Ost- und Westindien. Eine große Menge leerer Flaschen bildete eine Begleiterscheinung dieser Geschäftstätigkeit, und eine Anzahl Männer und Knaben mußten diese Flaschen gegen das Licht halten, die beschädigten weglegen und die übrigen ausspülen. Wenn die leeren Flaschen zu Ende gingen, mußten die gefüllten mit Zetteln beklebt, zugekorkt, versiegelt und in Kisten gepackt werden. Das war auch meine Beschäftigung.

Wir waren unser drei oder vier Knaben. Mein Platz befand sich in einer Ecke des Lagerhauses, wo Mr. Quinion mich sehen konnte, wenn er sich auf das unterste Querholz seines Stuhls im Comptoir aufstellte und über das Pult hinweg zum Fenster hinausblickte.

Am ersten Morgen meiner so aussichtsvoll anhebenden Lebensbahn wurde der älteste der angestellten Knaben herbeigerufen, um mir meine Arbeit zu zeigen. Er hieß Mick Walker und trug eine zerrissene Schürze und eine Mütze aus Papier. Sein Vater war, wie er mir sagte, Schutenführer und ging mit schwarzem Samtbarett im jährlichen Festzuge des Lord-Mayor. Unser Vorarbeiter, ebenfalls ein Knabe, wurde mir unter dem sonderbaren Namen Mehlkartoffel vorgestellt. Wie ich später herausfand, war der Jüngling nicht auf diesen Namen getauft, sondern hatte ihn wegen seiner blassen mehligen Gesichtsfarbe bekommen. Er hieß auch kurz Mehlig, und sein Vater war Themseschiffer und außerdem Feuerwehrmann in einem großen Theater, wo Mehligs kleine Schwester Kobolde in Pantomimen spielte.

Worte können meine geheime Seelenqual nicht beschreiben, als ich zu dieser Gesellschaft herabsank, diese jetzt tägliche Umgebung mit meiner glücklichen Kindheit verglich, – nicht zu reden von dem Umgang mit Steerforth, Traddles und den andern Knaben, – und alle meine Hoffnungen, zu einem angesehenen gebildeten Menschen heranzuwachsen, vernichtet fand. Unbeschreiblich war meine Hoffnungslosigkeit, die Scham über meine Lage, das Elend in meinem jungen Herzen, von Tag zu Tag mehr und mehr vergessen zu müssen, was ich gelernt, gedacht und mir ausgemalt hatte. Sooft Mick Walker an diesem Vormittag fortging, mischten sich meine Tränen mit dem Wasser, in dem ich die Flaschen spülte, und ich schluchzte, als ob mir das Herz brechen wollte.

Die Comptoirglocke zeigte halb eins, und alles machte sich zum Mittagessen bereit, als Mr. Quinion ans Fenster klopfte und mich hereinrief. Ich gehorchte und fand drinnen einen starken Mann von mittlern Jahren in einem braunen Überzieher, mit schwarzen Hosen und Schuhen, mit einem Kahlkopf, der so glatt war wie ein Ei, und einem vollen breiten Gesicht. Seine Kleider waren schäbig, dafür hatte er einen ungeheuren Hemdkragen. Er trug einen ehemals glänzend gewesenen Stock mit ein paar großen, abgegriffnen, schwarzen Quasten und an der Brust eine Lorgnette. Diese, wie ich später herausfand, bloß als Schmuck, denn er sah selten hindurch und konnte nichts erkennen, wenn er sie vors Auge hielt.

»Das ist er«, sagte Mr. Quinion und deutete auf mich.

»Also das ist Master Copperfield«, sagte der Fremde mit einer gewissen affektierten Herablassung in Stimme und Benehmen und einer Vornehmtuerei, die mir außerordentlich imponierte.

»Sie befinden sich doch wohl, Sir?«

Ich sagte: »Außerordentlich«, und hoffte das gleiche von ihm. Mir war entsetzlich zumute, weiß der Himmel, aber es lag nicht in meiner Natur zu klagen.

»Dem Himmel sei Dank«, sagte der Fremde, »mir geht es recht gut. Ich habe einen Brief von Mr. Murdstone empfangen, in dem ich ersucht werde, in einem Zimmer im Hintertrakte meines Hauses, das augenblicklich leer steht und – und –« platzte er plötzlich in einem Anfall von Vertraulichkeit lächelnd heraus – »als Schlafstube vermietet werden soll, den jungen Anfänger aufzunehmen, den ich jetzt das Vergnügen habe zu –« er schwenkte die Hand und steckte das Kinn in den Hemdkragen.

»Das ist Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion zu mir.

»Ahem«, sagte der Fremde, »das ist mein Name.«

»Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion, »ist Mr. Murdstone bekannt. Er sammelt Aufträge für uns, das heißt, wenn er welche bekommen kann. Er erhielt von Mr. Murdstone wegen deiner Wohnung einen Brief und wird dich zu sich nehmen.«

»Meine Adresse ist Windsor Terrace, City Road – kurz«, sagte Mr. Micawber in derselben vornehmen Miene wie bei Beginn und dann plötzlich in vertraulichen Ton umschlagend, »kurz, ich wohne dort.«

»Ich stehe unter dem Eindruck«, fuhr er fort, »daß Ihre Wanderungen in dieser Metropole bisher wohl noch nicht so ausgedehnt gewesen sein können, daß es Ihnen nicht einigermaßen Schwierigkeiten bereiten dürfte, in die Verborgenheiten des modernen Babylon bis in die Richtung der City Road vorzudringen, – kurz –«, er verfiel wieder in plötzliche Vertraulichkeit, »daß Sie sich verlaufen könnten. Ich werde so frei sein, Sie diesen Abend abzuholen und in die Kenntnis des kürzesten Weges einzuweihen.«

Ich dankte von ganzem Herzen, denn es war freundlich von Mr. Micawber, daß er sich erbot, so viel Mühe auf sich zu nehmen.

»Zu welcher Stunde soll ich?« fragte Mr. Micawber.

»Gegen acht«, sagte Mr. Quinion.

»Gegen acht«, wiederholte Mr. Micawber. »Ich erlaube mir, Ihnen einen guten Tag zu wünschen, Mr. Quinion, ich will nicht länger stören.«

Damit setzte er seinen Hut auf und ging hinaus, den Stock unter dem Arm, kerzengerade, und begann ein Liedchen zu pfeifen, als er das Comptoir hinter sich hatte.

Mr. Quinion engagierte mich sodann in aller Form für das Lagerhaus von Murdstone & Grinby als »Bursche für alles« mit einem Salär von, ich weiß nicht mehr, sechs oder sieben Schillingen wöchentlich. Er bezahlte mir eine Woche voraus – aus seiner Tasche, glaube ich, und ich gab davon Mehlig sechs Pence, damit er abends meinen Koffer nach der Windsor Terrace bringe, der, wenn auch noch so klein, dennoch für meine Kraft zu schwer war. Weitere sechs Pence zahlte ich für mein Mittagessen, das aus einer Fleischpastete und einem Schluck Brunnenwasser bestand, und verbrachte die freie Mittagsstunde auf der Straße herumschlendernd.

Abends zur festgesetzten Zeit erschien Mr. Micawber wieder. Ich wusch mir seinetwegen Hände und Gesicht, und wir gingen nach unsrer Wohnung. Mr. Micawber machte mich auf die Straßennamen und die Merkmale der Eckhäuser aufmerksam, damit ich am andern Morgen den Weg wieder zurückfinden könnte.

In seinem Hause in der Windsor Terrace, das auch so auf äußern Schein hielt und dabei ebenso schäbig war wie er selbst, stellte er mich Mrs. Micawber vor, einer magern verwelkten Dame, die, nicht mehr jung, mit einem Kind an der Brust in der Wohnung im Parterre saß. Der erste Stock war überhaupt nicht möbliert und die Rouleaux waren herabgelassen, um die Nachbarn zu täuschen. Der Säugling gehörte zu einem Zwillingspaar und während meiner ganzen Bekanntschaft mit der Familie sah ich niemals die Mutter ohne einen der beiden an der Brust. Einer von beiden hatte immer Hunger.

Noch zwei andere Kinder waren da. Master Micawber, ungefähr vier Jahre, und Miss Micawber, etwa drei alt. Dazu kam noch ein junges, dunkelhäutiges Dienstmädchen, das beständig schnaufte und, wie sie es nannte, ein »Waisling«, aus dem benachbarten St.-Lukas-Armenhause stammte. Mein Zimmer sah unter dem Dache nach dem Hof hinaus, war klein, mit einem weißblauen Semmelmuster bemalt und sehr dürftig möbliert.

»Ich hätte nie gedacht«, sagte Mrs. Micawber, als sie mit den beiden Zwillingen hinaufging, um mir das Zimmer zu zeigen, und sich niedersetzte, um Atem zu schöpfen, »ich hätte nie geglaubt, ehe ich heiratete und noch bei Papa und Mama lebte, daß ich noch einmal an fremde Leute würde vermieten müssen. Aber da Mr. Micawber momentan in Verlegenheiten ist, müssen alle selbstsüchtigen Bedenken fallen.«

Ich sagte: »Jawohl, Madame.«

»Mr. Micawbers Bedrängnisse sind augenblicklich fast erdrückender Art«, fuhr Mrs. Micawber fort, »und ob es möglich sein wird, ihn hindurchzubringen, weiß ich nicht. Als ich noch zu Hause bei Papa und Mama lebte, hätte ich Papas Lieblingsausdruck Experientia docet kaum so verstanden, wie ich es jetzt tue.«

Ich weiß nicht recht, ob sie mir sagte, daß Mr. Micawber Marinebeamter gewesen war, oder ob ich es mir bloß einbildete. Augenblicklich war er eine Art Platzreisender für verschiedene Häuser, machte aber wenig oder gar keine Geschäfte.

»Wenn Mr. Micawbers Gläubiger nicht warten wollen«, sagte Mr. Micawber, »müssen sie selbst die Folgen tragen. Je eher sies zu einem Ende bringen, desto besser. Blut läßt sich aus keinem Stein pressen, und noch weniger kann Mr. Micawber jetzt etwas auf Abschlag zahlen, – die Gerichtskosten gar nicht zu erwähnen.«

Ich weiß nicht, ob sie meine frühreife Selbständigkeit über mein Alter irre machte oder ob die Angelegenheit sie derart erfüllte, daß sie sie sogar den beiden Zwillingen erzählt haben würde, wenn niemand anders dagewesen wäre. Jedenfalls schlug sie diese Tonart an und redete darin weiter, solange ich sie kannte.

Die arme Mrs. Micawber! Sie habe sich keine Mühe verdrießen lassen, sagte sie; und daran zweifle ich nicht. Die Haustüre war halb verdeckt von einer großen Messingplatte mit der Aufschrift: »Mrs. Micawbers Erziehungsheim für junge Damen.« Aber ich erfuhr nie, daß eine junge Dame Unterricht genommen hätte oder angemeldet worden wäre. Die einzigen Besucher, die ich sah, waren Gläubiger. Sie pflegten den ganzen Tag zu kommen und einige von ihnen benahmen sich furchtbar wild. Ein Mann mit einem schmutzigen Gesichte, ich glaube, er war Schuster, klemmte sich jeden Morgen schon um sieben Uhr früh zur Haustüre herein und rief die Treppe hinauf Mr. Micawber zu: »No, Sie sind noch nicht fort, weiß schon. Werden Sie endlich zahlen? Verstecken Sie sich nicht. Das ist gemein! Ich möchte nicht so gemein sein, wenn ich Sie wäre. Zahlen Sie endlich, ja? Werden Sie nicht endlich zahlen, was! No?« Da er nie eine Antwort bekam, pflegte er sich in seiner Wut zu Worten wie Schwindler und Räuber zu versteigen, und als auch das nie half, lief er zuweilen sogar auf die Straße hinaus und brüllte zu den Fenstern des zweiten Stocks hinauf, wo sich Mr. Micawber aufhielt, wie er wußte.

Bei solcher Gelegenheit pflegte Mr. Micawber vor Ärger außer sich zu geraten und Todesgedanken zu bekommen, und es kam manchmal so weit, daß er, wie mir das Schreien seiner Frau stets verriet, mit dem Rasiermesser eine Bewegung nach seinem Halse machte. Eine halbe Stunde später putzte er sich jedoch immer wieder mit großer Sorgfalt die Schuhe und ging pfeifend mit vornehmerer Miene als je aus.

Mrs. Micawber war ähnlich elastischer Natur. Ich habe sie bei Präsentierung der königlichen Steuertaxe um drei Uhr in Ohnmacht fallen sehen, und schon um vier Uhr verzehrte sie Lammkoteletten und Warmbier, was von dem Erlös der im Leihhaus versetzten zwei Teelöffel angeschafft worden war. Einmal, als eben eine Exekution vollstreckt wurde und ich zufällig um sechs Uhr nach Hause kam, lag sie mit zersaustem Haar, selbstverständlich mit einem Zwilling, ohnmächtig neben dem Kamin. Aber nie habe ich sie lustiger gesehen als noch am selben Abend bei einem Kotelett am Herdfeuer, wo sie mir Geschichten von Papa und Mama und ihren Gesellschaften erzählte.

In diesem Hause und in dieser Familie verbrachte ich meine freie Zeit. Mein Frühstück, aus einem Pennybrot und einem Schluck Milch bestehend, verschaffte ich mir selbst. Ein zweites Brot und ein Käserest waren für mich in einem besondern Fach eines Schrankes aufgehoben, wenn ich abends nach Hause kam. Das machte ein Loch in die sechs oder sieben Schillinge, und ich war den ganzen Tag über im Magazin und mußte mich eine volle Woche von dem Gelde erhalten. Von Montag früh bis Samstag abend hatte ich weder Rat, Ermutigung, Trost, Beistand oder Unterstützung von irgend jemand, so wahr mir Gott helfe.

Ich war so jung und so kindisch und so wenig geeignet, – wie hätte es auch anders sein können – die ganze Sorge für meine Existenz zu tragen, daß ich oft früh, wenn ich zu Murdstone & Grinby ging, der Versuchung nicht widerstehen konnte und mir die zum halben Preis im Fenster des Bäckers ausgestellten altbackenen Pasteten kaufte und dafür das Geld ausgab, das für mein Mittagessen bestimmt war.

Wenn ich einmal regelrecht zu Mittag speiste, kaufte ich mir eine Roulade und ein Pennybrot oder eine Portion rotes Rindfleisch für vier Pence oder eine Portion Käse und Brot und ein Glas Bier in einem elenden Wirtshaus, unserm Geschäft gegenüber, das »der Löwe« hieß.

Einmal, ich erinnere mich noch, trug ich mein Brot, das ich von zu Hause mitgenommen hatte, in Papier gewickelt wie ein Buch, unter dem Arm und ging in eines der bekannteren Speisehäuser hinter Drury Lane und bestellte mir eine kleine Portion Rindsbraten. Was sich der Kellner beim Anblick der seltsamen kleinen Erscheinung, die ganz allein hereintrat, dachte, weiß ich nicht, aber er starrte mich an während des ganzen Essens und rief auch den andern Kellner herbei. Ich gab einen halben Penny Trinkgeld und wünschte, er hätte ihn nicht genommen.

Wir hatten eine halbe Stunde zur Pause frei. Wenn ich Geld besaß, kaufte ich mir eine halbe Pinte zusammengegossenen Kaffee und ein Stück Butterbrot. Wenn ich keins hatte, betrachtete ich mir eine Wildbrethandlung in Fleet Street oder lief bis Covent Garden Market und starrte die Ananasse an. Mein Lieblingsspaziergang erstreckte sich bis in die Nähe des Adelphi-Theaters, weil es mit seinen dunkeln Bogen ein so geheimnisvoller Ort war. Ich sehe mich noch, wie ich eines Abends aus einem dieser Bogen hervorkam und vor mir dicht am Fluß ein kleines Wirtshaus erblickte mit einem freien Platz davor, wo ein paar Kohlenträger tanzten. Ich setzte mich auf eine Bank und sah ihnen zu. Ich möchte wissen, was sie wohl von mir gedacht haben.

Ich war noch so sehr Kind und so klein, daß, wenn ich in ein fremdes Wirtshaus trat und ein Glas Ale oder Porter verlangte, man es mir kaum zu geben wagte. Ich weiß noch, wie ich an einem warmen Abende an den Ausschank eines Bierhauses trat und zu dem Wirte sagte: »Was kostet ein Glas vom besten, aber vom allerbesten Ale?« Es war eine besonders festliche Gelegenheit. Vielleicht mein Geburtstag.

»Zweieinhalben Penny«, sagte der Wirt, »kostet das echte Stunning-Ale.«

»Also«, sagte ich und legte das Geld hin, »geben Sie mir ein Glas mit recht viel Schaum.«

Der Wirt sah mich über den Schenktisch vom Kopf bis zu den Füßen mit erstauntem Lächeln an, anstatt aber das Bier einzuschenken, beugte er sich hinter den Verschlag und sagte etwas zu seiner Frau. Diese trat mit einer Arbeit in der Hand hervor und gesellte sich zu ihm, um mich ebenfalls zu betrachten. Ich sehe uns drei noch; der Wirt in Hemdärmeln lehnt am Fensterrahmen, seine Frau blickt über die kleine Halbtür, und ich schaue außerhalb der Scheidewand verwirrt zu ihnen auf. Sie fragen mich allerlei aus, wie ich hieße, wie alt ich wäre, wo ich wohnte, was ich für eine Beschäftigung hätte und wie ich dazu gekommen. Auf alles erfand ich mir, um niemand zu kompromittieren, passende Antworten. Sie gaben mir das Ale, – wie ich vermute, war es nicht das echte, – und die Frau des Wirtes öffnete den Schenkverschlag, gab mir mein Geld zurück und küßte mich, halb bewundernd, halb mitleidig, aber jedenfalls recht mütterlich.

Ich weiß, ich übertreibe nicht, auch nicht unabsichtlich, die Dürftigkeit meiner Mittel oder die Bedrängnisse meines Lebens. Ich weiß, daß, wenn Mr. Quinion mir einmal einen Schilling schenkte, ich ihn immer nur für Tee oder ein Mittagessen ausgab. Ich weiß, daß ich als ärmliches Kind mit gewöhnlichen Männern und Knaben von früh bis spät mich abarbeitete. Schlecht und ungenügend genährt, schlenderte ich in meinen freien Stunden durch die Straßen. Wie leicht hätte aus mir ein kleiner Dieb oder Vagabund werden können.

Immerhin nahm ich bei Murdstone & Grinby eine gewisse Stellung ein. Mr. Quinion tat, was ein so vielbeschäftigter und im großen ganzen so gedankenloser Mann, der überdies mit einem so außergewöhnlichen Auftrag betraut war, tun konnte, um mich anders als die übrigen zu behandeln. Überdies verschwieg ich meinen Gefährten, wie ich an diesen Ort gekommen war, und äußerte nie das mindeste, daß ich mich darüber bekümmert fühlte. Daß ich im geheimen litt und auf das tiefste, das wußte nur ich. Und wie sehr ich litt, kann ich gar nicht beschreiben. Aber ich behielt meinen Schmerz für mich und verrichtete meine Arbeit.

Ich fühlte gleich am Anfang, daß ich mich vor Geringschätzung nicht würde schützen können, wenn ich meine Arbeit nicht so gut machte wie die übrigen. Ich wurde bald so geschickt und flink wie die beiden andern Jungen. Obgleich auf bestem Fuß mit ihnen, unterschieden sich doch mein Benehmen und meine ganze Art und Weise von ihresgleichen, und es blieb immer eine Kluft zwischen uns bestehen. Sie und die erwachsenen Arbeiter nannten mich meist den »kleinen Gentleman« oder den »jungen Suffolker.«

Der Vormeister unter den Packern, namens Gregory, und ein andrer, der Kärrner namens Tipp, der eine rote Jacke anhatte, nannten mich zuweilen David, aber es geschah nur, wenn gerade eine sehr vertrauliche Stimmung herrschte und ich mich bemüht hatte, sie während der Arbeit mit einigen Überresten aus meiner Lesezeit, die immer mehr aus meinem Gedächtnis schwanden, zu unterhalten. Mehlkartoffel lehnte sich einmal dagegen auf, daß ich so ausgezeichnet wurde, aber Mick Walker brachte ihn sofort zum Schweigen.

Die Hoffnung auf eine Erlösung aus diesem Dasein hatte ich ganz entschieden aufgegeben. Ich fand mich nie in meiner Stellung zurecht und fühlte mich höchst unglücklich, aber ich ertrug es, und selbst Peggotty entdeckte ich teils aus Liebe, teils aus Scham in keinem Brief, obgleich ich ihr viele schrieb, die Wahrheit.

Mr. Micawbers Bedrängnisse vermehrten noch die Last, die ich innerlich zu tragen hatte. In meiner Verlassenheit war ich der Familie sehr anhänglich geworden und ging immer herum, beschäftigt mit Mr. Micawbers Sorgen und beschwert von der Last seiner Schulden.

Jeden Samstagabend, der immer ein Fest für mich bedeutete, teils, weil es etwas Großes war, mit sechs oder sieben Schillingen nach Hause zu gehen, in die Läden zu blicken und zu denken, was man sich da alles kaufen könnte, teils, weil das Geschäft zeitlicher geschlossen wurde, machte mir Mrs. Micawber die herzzerreißendsten Mitteilungen. Auch Sonntag früh, wo ich die Portion Tee oder Kaffee, die ich mir am Abend zuvor gekauft hatte, in einem kleinen Rasiertopf wärmte und lange beim Frühstück schwelgte.

Durchaus nicht ungewöhnlich war es, daß Mr. Micawber bei Beginn unserer Samstagsabend-Unterhaltung noch heftig schluchzte und gegen Ende ein lustiges Matrosenlied sang. Ich habe ihn zum Abendessen nach Hause kommen sehen mit einer Flut von Tränen und der Erklärung, es bliebe nichts mehr übrig als das Schuldgefängnis, und dann schlafen gehen mit einer Berechnung beschäftigt, was es kosten würde, das Haus mit Bogenfenstern zu versehen, im Falle »eine glückliche Wendung eintreten« sollte, wie sein Lieblingsausdruck lautete. Und Mrs. Micawber war genauso.

Ich genoß eine merkwürdige freundschaftliche Gleichstellung, die, wie ich vermute, eine Folge unserer in gewisser Beziehung ähnlichen Verhältnisse war, bei diesen Leuten, trotz unseres lächerlichen Altersunterschiedes, ließ mich aber nie bewegen, eine der vielen Einladungen, mit ihnen zu essen und zu trinken, anzunehmen, denn ich wußte recht gut, wie schlecht sie mit Bäcker und Fleischer standen, und daß sie oft nicht genug für sich selbst hatten, bis Mrs. Micawber mich eines Tags ganz ins Vertrauen zog. Das tat sie in folgender Weise.

»Master Copperfield«, sagte sie, »ich betrachte Sie nicht wie einen Fremden und zögere daher nicht, Ihnen zu gestehen, daß Mr. Micawbers Bedrängnisse sich zu einer Krisis zuspitzen.«

Das betrübte mich sehr, und ich sah Mrs. Micawbers verweinte Augen mit größter Teilnahme an.

»Mit Ausnahme der Kruste von einem Holländer Käse, die den Bedrängnissen einer jungen Familie nicht angemessen ist«, sagte Mrs. Micawber, »ist auch nicht ein Bissen mehr in der Speisekammer. Als ich noch bei Papa und Mama war, hatte ich noch die Gewohnheit, von einer Speisekammer zu sprechen. Jetzt gebrauche ich das Wort eigentlich ganz gedankenlos. Was ich sagen will, ist, daß wir nichts mehr zu essen im Hause haben.«

»O Gott!« rief ich sehr beunruhigt.

Ich besaß noch zwei oder drei Schillinge von meinem Wochenlohn, es muß also wohl Mittwoch gewesen sein, und ich zog sie eilfertig aus der Tasche und bat Mrs. Micawber mit aufrichtiger Rührung, sie als ein Darlehen anzunehmen. Aber sie küßte mich nur und sagte, daß daran gar nicht zu denken sei.

»Nein, lieber Master Copperfield! Das sei ferne von mir! Aber Sie sind sehr diskret für Ihre Jahre und können mir einen andern Dienst erweisen, wenn Sie wollen, den ich mit Dank annehmen würde.«

Ich bat Mrs. Micawber, ihn mir zu nennen.

»Das Silberzeug habe ich selbst fortgeschafft«, sagte sie, »sechs Tee-, zwei Salz- und ein paar Zuckerlöffel habe ich nach und nach insgeheim selber versetzt, aber die Zwillinge sind ein großes Hindernis, überdies sind für mich mit meinen Erinnerungen an Papa und Mama derlei Transaktionen sehr schmerzlich. Ich habe noch ein paar Kleinigkeiten da, die wir entbehren können. Mr. Micawber würden seine Gefühle niemals erlauben, so etwas selber zu besorgen, und Clickett – das war das Mädchen aus dem Armenhaus – ist eine ordinäre Person und würde sich Frechheiten herausnehmen, wenn man sie einweihte. Master Copperfield! wenn ich Sie daher bitten dürfte –«

Ich verstand jetzt Mrs. Micawber und bat sie, ganz über mich zu verfügen. Schon am Abend fing ich an, die am leichtesten tragbaren Gegenstände fortzubringen, und machte fast jeden Morgen, bevor ich zu Murdstone & Grinby ging, ähnliche Expeditionen.

Mr. Micawber hatte ein paar Bücher auf seiner kleinen Kommode stehen, die er die Bibliothek nannte; diese kamen zuerst an die Reihe. Ich trug eins nach dem andern zu einem Antiquar in der City Road, die damals zumeist aus Buchläden und Vogelhandlungen bestand, und verkaufte sie um jeden Preis. Der Antiquar, der in einem kleinen Hause unweit seines Standes wohnte, pflegte sich jeden Abend zu betrinken und wurde dann am Morgen von seiner Frau heftig ausgezankt. Mehr als einmal, wenn ich zeitig früh hinging, traf ich ihn noch im Bett mit einer Wunde an der Stirn oder einem blauen Auge, – Erinnerungen an seine nächtlichen Ausschweifungen – und er suchte dann mit zitternder Hand die nötigen Schillinge in den verschiedenen Taschen seiner Kleider, die auf dem Boden herumlagen, während sein Weib in niedergetretenen Schuhen, ein Kind auf dem Arm, ununterbrochen weiterkeifte. Manchmal schien er sein Geld verloren zu haben, und dann hieß er mich wiederkommen. Aber seine Frau besaß immer ein paar Schillinge – wahrscheinlich hatte sie sie ihm während der Trunkenheit aus der Tasche genommen – und schloß den Handel heimlich auf der Treppe ab, wenn wir zusammen hinuntergingen.

Beim Pfandleiher wurde ich bald sehr bekannt. Der Hauptschreiber, der hinter dem Ladentisch amtierte, schenkte mir viel Beachtung und ließ mich oft, während sich meine Geschäfte abwickelten, ein lateinisches Substantiv oder Adjektiv deklinieren oder ein Verbum konjugieren. War ein solches Leihgeschäft besorgt, gab Mrs. Micawber meistens ein bescheidenes Abendessen, und solche Feste hatten für mich immer einen ganz besonderen Reiz.

Endlich kam es in Mr. Micawbers Verhältnissen zu einer Krisis, und er wurde eines Morgens von der bevorstehenden Verhaftung verständigt und sollte sich in dem Kings-Bench-Gefängnis im Borrough einfinden. Als er fortging, sagte er zu mir, daß der Gott des Tages jetzt für ihn versunken sei. Ich dachte wirklich, ihm (und auch mir) sei jetzt das Herz gebrochen. Später hörte ich, daß er vor Mittag noch ganz fidel eine Partie Kegel geschoben hatte.

Am ersten Sonntag nach seiner Verhaftung sollte ich ihn besuchen und bei ihm essen. Ich sollte den Weg nach dem und dem Platze erfragen. Von dem Platze aus würde ich einen andern Platz sehen und dicht hinter diesem einen Hof und über diesen sollte ich geradeaus gehen, bis ich einen Schließer sähe. Alles das befolgte ich, und als ich den Schließer zu Gesicht bekam, armer kleiner Junge, der ich war, und dabei an den Mann dachte, der – als Roderick Random im Roman im Schuldgefängnis saß – nichts als eine alte Decke anhatte, verschwamm seine Gestalt undeutlich vor meinen nassen Augen und es klopfte mir das Herz.

Mr. Micawber erwartete mich an der Tür, und wir gingen hinauf in sein Zimmer im vorletzten Stock unter dem Dach und weinten sehr. Er beschwor mich feierlich, mir an seinem Schicksal ein Beispiel zu nehmen und nie zu vergessen, daß ein Mann mit zwanzig Pfund Jahreseinkommen glücklich ist, wenn er neunzehn Pfund, neunzehn Schilling und sechs Pence ausgibt, aber elend wird, wenn er einen Schilling mehr verzehrt. Dann borgte er sich einen Schilling von mir für Bier aus, gab mir eine geschriebene Anweisung an Mrs. Micawber über diesen Betrag, steckte sein Taschentuch ein und war wieder heiter.

Wir setzten uns vor ein kleines Feuer, das der Ersparnis wegen durch zwei Ziegelsteine abgetrennt auf einem alten Rost brannte, und warteten, bis ein anderer Schuldgefangener, Mr. Micawbers Stubengenosse, mit einer gebratenen Schöpsenkeule, die unsere Mahlzeit auf gemeinsame Kosten bilden sollte, aus dem Bratladen kam. Dann wurde ich hinaufgeschickt in das Zimmer gerade über uns zu »Kapitän Hopkins« mit Empfehlungen von Mr. Micawber, ich sei sein junger Freund und er ließe »Kapitän Hopkins« bitten, mir Messer und Gabel zu leihen.

»Kapitän Hopkins« lieh mir Messer und Gabel mit vielen Empfehlungen an Mr. Micawber. In seinem kleinen Zimmer befanden sich noch eine sehr schmutzige Frau und zwei blasse Mädchen mit furchtbar wirren Frisuren – seine Töchter. Ich dachte bei mir, es sei besser, »Kapitän Hopkins’« Gabel und Messer auszuleihen als seinen Kamm.

Der Kapitän selbst war auf der letzten Stufe von Schäbigkeit angelangt, trug lange Koteletten und einen uralten braunen Überzieher ohne jedes Unterkleid. Sein Bett lag in einer Ecke zusammengerollt, und auf einem Brett stand, was er an Geschirr besaß. Ich erriet, Gott weiß wie, daß die beiden Mädchen mit den zerzausten Haaren wohl »Kapitän Hopkins’« Töchter waren, die schmutzige Frau aber nicht seine Gattin. Ich stand nicht länger auf der Schwelle als höchstens ein paar Minuten, hatte aber alles sofort durchschaut und wußte alles so sicher, wie daß ich Messer und Gabel in der Hand hielt.

Das Mittagessen hatte etwas angenehm Zigeunerhaftes.

Ich brachte »Kapitän Hopkins« Messer und Gabel nachmittags wieder zurück und ging nach Hause, um Mrs. Micawber mit einem Bericht zu beruhigen. Sie wurde ohnmächtig, als sie mich zurückkommen sah, und bereitete dann einen kleinen Eierpunsch zu unserer Tröstung.

Ich weiß nicht, wie und von wem später die Möbel verkauft wurden. Von mir nicht, das ist sicher. Verkauft wurden sie, und mit Ausnahme des Bettes, einiger Stühle und des Küchentisches führte man sie in einem Wagen weg. Mit diesen Besitztümern kampierten wir so gut es ging in zwei Zimmern des ausgeräumten Hauses auf der Windsor-Terrace; Mrs. Micawber, die Kinder, der »Waisling« und ich wohnten darin Tag und Nacht. Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauerte, aber es scheint eine ziemliche Zeit gewesen zu sein.

Endlich beschloß Mrs. Micawber, auch in das Gefängnis zu ziehen, wo Mr. Micawber sich ein eignes Zimmer durchgesetzt hatte. Ich trug die Schlüssel des Hauses zu ihrem Besitzer, der sehr froh war, als er sie bekam, und die Betten wurden nach Kings-Bench geschickt; meines, für das wir ein kleines Stübchen in der Nähe des Gefängnisses mieteten, ausgenommen. Mit dieser Anordnung war ich sehr zufrieden, denn die Micawbers und ich hatten uns aneinander zu sehr gewöhnt, um uns trennen zu können. Der Waisling wurde ebenfalls mit einer billigen Wohnung in unsrer Nähe bedacht. Ich bekam eine stille Dachstube hinten hinaus mit der angenehmen Aussicht auf einen Bauhof, und als ich einzog mit dem Gedanken, daß Mr. Micawbers Sorgen nun endlich zu einer Krisis gekommen seien, erschien es mir wie ein wahres Paradies.

Die ganze Zeit über arbeitete ich bei Murdstone & Grinby in der gewohnten Weise mit denselben Gefährten und dem unveränderten Gefühl einer unverdienten Erniedrigung, wie anfangs. Aber – gewiß zu meinem Glück – machte ich niemals eine Bekanntschaft und sprach nie mit einem der vielen Knaben, die ich auf dem täglichen Weg ins Lagerhaus oder bei meinem Herumlungern auf der Straße von Zeit zu Zeit zu Gesicht bekam. Ich führte immer das gleiche innerlich unglückliche Leben in immer derselben einsamen selbstgenügsamen Weise. Die einzigen Veränderungen, deren ich mir bewußt wurde, waren erstens, daß ich mir noch mehr herabgekommen zu sein schien, und zweitens, daß die Sorgen Mr. und Mrs. Micawbers weniger auf mir lasteten; einige Verwandte oder Freunde unterstützten sie, und sie lebten jetzt besser im Gefängnis als in der letzten Zeit außerhalb.

Infolge irgendeines Arrangements durfte ich bei ihnen frühstücken. Wann die Tore des Gefängnisses früh geöffnet wurden, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur, daß ich immer darauf wartete – am liebsten auf der alten London-Brücke – und mich immer auf die Steinbänke setzte und die vorübergehenden Leute beobachtete, oder über die Balustrade auf das in der Sonne glitzernde Wasser schaute. Hier traf ich öfter den Waisling und erzählte ihm einige erstaunliche Geschichten von den Werften und vom Tower, von denen ich weiter nichts sagen kann, als daß ich hoffe, ich habe sie selbst geglaubt. Abends besuchte ich meistens wieder das Gefängnis, ging mit Mr. Micawber auf dem Hofe auf und ab, spielte mit Mrs. Micawber Casino und hörte ihren Reminiszenzen an Papa und Mama zu. Ob Mr. Murdstone wußte, wo ich mich befand, kann ich nicht sagen. Ich erzählte nie etwas bei Murdstone & Grinby.

Obgleich Mr. Micawbers Angelegenheiten jetzt über die Krise hinaus waren, so schienen sie doch noch sehr verwickelt zu sein wegen eines gewissen Kontraktes, von dem ich immer sehr viel hörte, und der wahrscheinlich eine frühere Vereinbarung mit den Gläubigern gewesen sein mag. Vielleicht war es auch eines jener gewissen Teufelspakte auf Pergament, die einmal vor Zeiten in Deutschland so verbreitet gewesen sein sollen. Endlich schien dieses Dokument irgendwie aus dem Wege geräumt worden zu sein, wenigstens hörte es auf, den Stein des Anstoßes zu bilden, und Mrs. Micawber teilte mir mit, daß »ihre Familie« beschlossen habe, Mr. Micawber müsse sich unter den Schutz des Bankrottgesetzes stellen, was seine Befreiung in etwa sechs Wochen in Aussicht rücken würde.

»Und dann«, sagte Mr. Micawber, »werde ich mit Gottes Hilfe in der Welt wieder vorwärtskommen und ein ganz neues Leben beginnen, wenn – die große Veränderung eintritt.«

Ich darf nicht zu berichten versäumen, daß Mr. Micawber auch eine Petition an das Unterhaus einreichte, und darin um eine Abänderung der Schuldhaftgesetze bat. –

Es gab einen Klub im Gefängnis, in dem er als Gentleman in großem Ansehen stand. Er hatte die Grundidee zu seiner Petition dem Klub bekanntgegeben, und dieser hatte sie gebilligt. Darauf machte sich Mr. Micawber, der außerordentlich gutherzig war und in allen Angelegenheiten, nur in seinen eignen nicht, ungemein tätig war und sich glücklich fühlte, wenn er etwas tun konnte, was ihm nicht den geringsten Nutzen einbrachte, über die Petition her, faßte sie ab, schrieb sie auf einen ungeheuren Bogen Papier, breitete sie auf dem Tisch aus und setzte die Zeit fest, wo der ganze Klub und alle Gefangenen, die dazu Lust hätten, heraufkommen und sie unterzeichnen sollten.

Als ich von der bevorstehenden Feierlichkeit hörte, fühlte ich ein so lebhaftes Interesse, jeden einzelnen heraufkommen zu sehen, daß ich mir bei Murdstone & Grinby eine Stunde Urlaub erwirkte und in einer Ecke des Zimmers Posten faßte.

Die Oberhäupter des Klubs standen in dem kleinen Zimmer herum und »Kapitän Hopkins«, der sich zu Ehren des Festes gewaschen hatte, stand neben Mr. Micawber bereit, die Petition vorzulesen. Dann wurde die Tür geöffnet und in langen Reihen kamen die übrigen Bewohner des Gefängnisses herein. Mehrere warteten draußen, während immer einer vortrat, unterschrieb und wieder hinausging. Jeden einzelnen fragte »Kapitän Hopkins«: »Haben Sie es gelesen? – Nein! – Soll ich es Ihnen vorlesen?« Wenn der Betreffende widerstandslos genug war, auch nur den Schein einer Neigung, es zu hören, an den Tag zu legen, las »Kapitän Hopkins« mit lauter sonorer Stimme Wort für Wort vor. Wenn es zwanzigtausend Leute hätten hören wollen, einer nach dem andern, der Kapitän würde es zwanzigtausendmal vorgelesen haben. Ich weiß noch, mit welchem Wohlbehagen er gewisse Phrasen, wie: »Die im Parlament versammelten Vertreter des Volks«, oder »die Bittsteller nahen sich demütigst Ihrem hochansehnlichen Hause«, »Eurer huldreichen Majestät unglückliche Untertanen«, zerkaute, als ob diese Worte in seinem Munde zu etwas Realem von köstlichem Geschmacke würden, während Mr. Micawber mit ein bißchen Autoreneitelkeit und nicht allzu strengem Blick die eisernen Spitzen des gegenüberliegenden Gefängnisgitters betrachtete.

12. Kapitel Da mir das Leben auf eigne Faust nicht gefällt, fasse ich einen großen Entschluß


12. Kapitel Da mir das Leben auf eigne Faust nicht gefällt, fasse ich einen großen Entschluß

Mr. Micawbers erste Bittschrift wurde günstig erledigt, und das Gericht ordnete zu meiner großen Freude seine Freilassung an. Seine Gläubiger zeigten sich nicht unversöhnlich, und Mrs. Micawber erzählte mir, daß selbst der rachedürstende Schuster vor Gericht erklärt habe, er hege weiter keinen Groll, wünsche aber bezahlt zu sein, wenn man ihm Geld schulde. Er habe gesagt, er glaube, das sei menschlich.

Mr. Micawber kehrte nach Kings-Bench zurück, als sein Fall erledigt war, denn es mußten noch einige Kosten bezahlt und einige Formalitäten erfüllt werden, ehe er freigelassen wurde. Der Klub empfing ihn mit Begeisterung und veranstaltete an diesem Abend ihm zu Ehren eine musikalische Feier, während Mrs. Micawber und ich uns privatim an einem Lammsbraten erfreuten, umgeben von der schlafenden Familie.

»Bei dieser Gelegenheit will ich mit Ihnen, Master Copperfield«, sagte Mrs. Micawber, »mit einem frischen Glas Flip – wir hatten schon einige getrunken – auf das Wohl von Papa und Mama trinken.«

»Sind sie tot, Madame?« fragte ich, nachdem ich mit meinem Weinglas angestoßen hatte.

»Mama schied aus dem Leben, bevor Mr. Micawbers Drangsale begannen oder wenigstens noch nicht so schlimm waren. Papa lebte noch, um mehrere Male für Mr. Micawber Bürgschaft zu leisten, und hauchte dann seinen Geist aus, beweint von einem zahlreichen Kreis.«

Mrs. Micawber schüttelte den Kopf und ließ eine Träne auf den Zwilling, der gerade bei der Hand war, fallen.

Da ich schwerlich eine günstigere Gelegenheit zu der Frage, die mir sehr am Herzen lag, finden konnte, sagte ich zu Mrs. Micawber:

»Darf ich fragen, Ma’am, was Sie und Mr. Micawber zu tun gedenken, wenn Ihr Herr Gemahl aus seinen Verlegenheiten heraus und wieder in Freiheit ist? Haben Sie schon einen Entschluß gefaßt?«

»Meine Familie«, sagte Mrs. Micawber, die diese Worte immer mit einer großen Geste aussprach, obgleich ich nie herausbekommen konnte, wer eigentlich darunter zu verstehen sei, »meine Familie ist der Meinung, daß Mr. Micawber London den Rücken kehren und seine Talente in der Provinz verwerten solle. Mr. Micawber ist ein Mann von großem Talent, Master Copperfield!«

Ich sagte, daß ich daran nicht zweifle.

»Von großem Talent«, wiederholte Mrs. Micawber. »Meine Familie ist der Meinung, daß mit ein wenig Fürsprache für einen Mann von seinen Fähigkeiten etwas beim Zollamt getan werden könnte. Da der Einfluß meiner Familie nur lokaler Art ist, ist es ihr Wunsch, daß Mr. Micawber nach Plymouth hinunterkommen solle. Sie halten es für unerläßlich, daß er sich an Ort und Stelle begibt.«

»Um bereit zu sein?« fragte ich.

»Ganz richtig«, wiederholte Mrs. Micawber. »Um bereit zu sein, falls eine glückliche Wendung eintritt.«

»Und Sie gehen auch mit, Ma’am?«

Die Ereignisse des Tages, die Mitwirkung der Zwillinge und vielleicht auch der Flip hatten Mrs. Micawber sehr hysterisch gestimmt, und sie vergoß Tränen, als sie antwortete:

»Ich werde Mr. Micawber nie verlassen! Mr. Micawber hat mir vielleicht zu Anfang seine Bedrängnisse verheimlicht, aber sein sanguinisches Temperament mag ihn zu der Ansicht verleitet haben, er werde sie bald überwinden können. Das Perlenhalsband und die Armbänder, die ich von Mama geerbt habe, sind um den halben Wert verschleudert worden. Und der Korallenschmuck, den mir Papa zur Hochzeit schenkte, fast für nichts. Aber ich werde Mr. Micawber nie verlassen! Nein!« rief Mrs. Micawber mit noch größerer Rührung als vorher, »ich werde das nie tun. Ich lasse mich nicht überreden!«

Ich fühlte mich sehr unbehaglich, da Mrs. Micawber zu glauben schien, ich hätte sie zu einem solchen Schritt verleiten wollen, und sah sie sehr beunruhigt an.

»Mr. Micawber hat seine Fehler, ich leugne nicht, daß er unbedacht ist. Auch nicht, daß er mit Geld nicht umzugehen weiß und mich über seine Mittel und seine Schulden in Unkenntnis gelassen hat«, fuhr sie, den Blick an die Wand gerichtet, fort, »aber ich werde niemals Mr. Micawber verlassen!«

Da sich ihre Stimme jetzt zu lautem Kreischen gesteigert hatte, war ich so erschreckt, daß ich ins Klubzimmer davonlief und Mr. Micawber, der an einem langen Tisch präsidierte, in dem Chorgesang:

»Hühü, Dobbin,
Hüho, Dobbin,
Hühü, Dobbin,
Hühü und hüho-o-«

den er eben leitete, mit der Nachricht störte, daß sich Mrs. Micawber in einem sehr beängstigenden Zustand befände, worauf er sofort in Tränen ausbrach und mit mir forteilte, die Westentasche voll Krevetten, mit denen er sich gerade beschäftigt hatte.

»Emma, mein Engel«, rief er, als er ins Zimmer stürzte, »was ist geschehen?«

»Ich werde dich niemals verlassen, Micawber!« rief sie aus.

»Mein Leben«, sagte Mr. Micawber und schloß sie in die Arme. »Davon bin ich vollständig überzeugt.«

»Er ist der Vater meiner Kinder, der Erzeuger meiner Zwillinge, er ist der Gatte meines liebenden Herzens«, rief Mrs. Micawber schluchzend, »ich werde Mr. Micawber nie-mals ver-las-sen.«

Mr. Micawber war so tief gerührt durch diesen Beweis von Anhänglichkeit, – ich zerfloß selbstverständlich in Tränen –, daß er sich leidenschaftlich über seine Gattin beugte und sie anflehte, aufzusehen und sich zu beruhigen. Je mehr er sie aber anflehte, aufzublicken, um so mehr starrten ihre Augen ins Leere, und je mehr er sie anflehte, sich zu fassen, desto weniger tat sie es. Schließlich war Mr. Micawber selbst so erschüttert, daß er seine Tränen mit ihren und meinen mischte und mich bat, mir einen Stuhl auf die Treppe hinauszunehmen, während er sie zu Bett brächte. Ich wollte mich für den Abend verabschieden, aber er mochte davon nichts hören, ehe nicht die Fremdenglocke geläutet habe. So saß ich denn an einem Treppenfenster, bis er mit dem zweiten Stuhl nachkam und mir Gesellschaft leistete.

»Wie befindet sich jetzt Mrs. Micawber, Sir?« fragte ich.

»Sehr geschwächt«, sagte Mr. Micawber und schüttelte den Kopf. »Reaktion! O, was war das für ein schrecklicher Tag! Wir stehen jetzt allein, alles ist von uns gegangen.«

Er drückte mir die Hand, stöhnte und vergoß Tränen. Ich war sehr ergriffen und auch enttäuscht, denn ich hatte erwartet, daß wir bei dieser glücklichen langersehnten Gelegenheit recht heiter sein würden. Mr. und Mrs. Micawber hatten sich an ihre alten Bedrängnisse so gewöhnt, glaube ich, daß sie sich ganz schiffbrüchig vorkamen, als sie jetzt von ihnen erlöst waren. Die ganze Elastizität war von ihnen genommen, und ich hatte sie nie auch nur halb so elend wie an jenem Abend gesehen. Als die Glocke läutete und Mr. Micawber mich bis zum Türschließer begleitete und dort mit einem Segensspruch von mir Abschied nahm, bangte mir fast, ihn allein zu lassen, so unglücklich sah er aus.

Aber trotz all der Verwirrung und Bedrücktheit, die sich unserer Gemüter so unerwartet bemächtigt hatte, fühlte ich deutlich, daß mir ein Abschied von den Micawbers bevorstand. Auf meinem Nachhauseweg in jener Nacht und den schlaflosen Stunden, die darauf folgten, kam mir zuerst der Gedanke, der später zu einem festen Entschluß werden sollte.

Ich hatte mich so an die Micawbers gewöhnt und war mit ihren Bedrängnissen so vertraut geworden und stand so ohne jeden Freund da, wenn sie mir fehlten, daß mir die Aussicht, abermals unter fremde Leute gehen zu müssen, unerträglich schien. Der Gedanke an all die Scham und das Elend, das in meiner Brust lebte, wurde mir bei dem Gedanken daran noch peinigender, und ich sah keine Hoffnung an Entrinnen, wenn ich nicht aus eignem Entschluß einen Versuch wagte.

Ich hatte selten von Miss Murdstone gehört und niemals mehr von ihrem Bruder, außer, daß hie und da ein Paket neuer oder ausgebesserter Kleider für mich an Mr. Quinion gekommen war, immer mit einem Zettel dabei, auf dem J. M. hoffte, daß D. C. in seinem neuen Beruf fleißig und gehorsam sei. Nie die geringste Andeutung, daß ich auf eine Änderung in meinem Schicksal hoffen dürfte und je etwas anderes als ein gewöhnlicher Tagelöhner werden würde, zu welcher Stufe ich immer mehr herabsank.

Schon der nächste Tag zeigte mir, daß Mrs. Micawber nicht ohne guten Grund von ihrem Weggehen gesprochen hatte. Die Familie mietete sich in dem Hause, wo ich wohnte, für eine Woche ein, um sich nach Ablauf dieser Zeit nach Plymouth zu begeben. Mr. Micawber kam nachmittags aufs Kontor, um Mr. Quinion zu sagen, daß er mich vom Tage seiner Abreise an verlassen müsse, und zollte mir ein hohes Lob, das ich gewiß auch verdiente. Mr. Quinion rief Tipp, den Kärrner, der verheiratet war und ein Zimmer zu vermieten hatte, herein und quartierte mich im voraus bei ihm ein. Aber mein Entschluß stand fest.

Ich verlebte meine Abende mit Mr. und Mrs. Micawber, solange wir noch unter einem Dache wohnten, und wir gewannen einander noch lieber, je mehr die Zeit verging.

Am letzten Sonntag luden sie mich zum Mittagessen ein und wir bekamen Schweinsbraten, Apfelmus und Pudding. Ich hatte den Abend vorher ein geschecktes Holzpferd als Abschiedsgeschenk für den kleinen Wilkins Micawber und eine kleine Puppe für die kleine Emma gekauft.

Ich schenkte auch einen Schilling dem Waisling, der jetzt entlassen werden sollte.

Wir verlebten einen recht vergnügten Tag, wenn wir auch wegen unserer nahe bevorstehenden Trennung sehr weich gestimmt waren.

»Ich werde nie an die Zeit von Mr. Micawbers Bedrängnis zurückdenken, Master Copperfield«, sagte Mrs. Micawber, »ohne mich Ihrer zu erinnern. Ihr Benehmen war immer von der zartfühlendsten und verbindlichsten Art. Sie sind uns nie ein Mieter gewesen, sondern immer ein Freund.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber, »Copperfield« – so nannte er mich in der letzten Zeit – »hat ein Herz für die Leiden seiner Mitmenschen, das mitfühlt, wenn die Wolken des Unheils über ihnen hängen, einen Kopf, der fühlt – eine Hand, die – kurz, er versteht es, alles verfügbare Eigentum, wenn es nötig ist, zu Geld zu machen.«

Ich drückte meine Erkenntlichkeit für dieses Lob aus und sagte, wie leid es mir täte, daß wir uns trennen müßten.

»Mein lieber junger Freund, ich bin ein Mann von gewisser Lebenskenntnis und – kurz und gut, ich bin in der Not erfahren. Gegenwärtig und bis die glückliche Wendung eintritt, die ich jetzt stündlich erwarte, kann ich Ihnen leider nichts als einen guten Rat geben. Doch ist er insofern wert, befolgt zu werden, als – kurz, ich habe ihn selbst nie befolgt und bin der elende Wicht, den Sie vor sich sehen.« Mr. Micawber, der bis zu den letzten Worten mit strahlendem Gesicht dagesessen hatte, machte eine Pause und nahm eine sehr düstere Miene an.

»Lieber Micawber«, flehte seine Gattin.

»Ich sage also«, fuhr Mr. Micawber fort, vergaß sich ganz und lächelte wieder, »der elende Wicht, den Sie vor sich sehen. Mein Rat ist: Verschieben Sie nie auf morgen, was Sie heute tun können. Aufschub ist der Dieb der Zeit. Fassen Sie ihn beim Kragen.«

»Meines armen Papas Grundsatz«, bemerkte Mrs. Micawber.

»Mein Herz«, sagte Mr. Micawber, »dein Papa war vortrefflich in seiner Art, und Gott sei vor, daß ich ihn je herabsetzen sollte. Aber nehmen wir ihn alles in allem – kurz, wohl niemand hatte in seinem Alter so stattliche Waden für Gamaschen und konnte ohne Brille die kleinste Schrift lesen wie er. Leider wandte er seinen Grundsatz auch auf unsere Hochzeit an, meine Liebe, und wir schlossen sie demzufolge so vorzeitig und schnell, daß ich mich bis heute noch nicht von den Unkosten erholt habe.«

Er sah seine Gattin von der Seite an und fügte hinzu: »Nicht daß es mich etwa gereute! Ganz im Gegenteil, meine Liebe!«

Hierauf beobachtete er ein paar Minuten tiefstes Stillschweigen.

»Meinen zweiten Rat«, fuhr er fort, »kennen Sie bereits, Copperfield. Jährliches Einkommen: zwanzig Pfund. Jährliche Ausgaben: neunzehn Pfund, neunzehn Schilling sechs Pence. Resultat: Wohlergehen. Jährliches Einkommen: zwanzig Pfund, jährliche Ausgaben: zwanzig Pfund sechs Pence. Resultat: Elend. Die Blüte ist dahin, das Laub verwelkt, der Gott des Tages geht unter über einem traurigen Schauspiel und – kurz, Sie sind im Saft. Wie ich.«

Um das Bild noch eindrucksvoller zu machen, trank Mr. Micawber mit einer Miene großer Befriedigung ein Glas Punsch aus und pfiff den »lustigen Kupferschmied«.

Ich unterließ nicht, ihm mit Worten zu versichern, daß ich mir seine Vorschriften sehr zu Herzen nehmen wollte, – unnötigerweise – denn ich war sichtlich gerührt.

Am nächsten Morgen traf ich die ganze Familie in der Landkutsche und sah sie mit trostlosem Herzen ihre Plätze einnehmen.

»Master Copperfield«, sagte Mrs. Micawber, »Gott segne Sie! Ich kann es nie vergessen, glauben Sie mir, und möchte es nicht, selbst wenn ich könnte.«

»Copperfield«, sagte Mr. Micawber, »leben Sie wohl! Glück und Wohlergehen! Wenn ich mich im Lauf der dahinrollenden Jahre überzeugen könnte, daß mein verlornes Leben eine Warnung für Sie gewesen ist, würde ich fühlen, daß ich nicht vergebens meinen Platz auf Erden ausgefüllt habe. Falls eine glückliche Wendung eintritt, wovon ich fest überzeugt bin, werde ich mich außerordentlich glücklich schätzen, wenn es in meiner Macht steht, Ihre Aussichten zu verbessern.«

Ich glaube, wie Mrs. Micawber mit den Kindern hinten auf dem Wagen saß und ich so klein auf der Straße stand und sehnsüchtig zu ihnen aufsah, da fiel der Schleier von ihren Augen und sie sah, was für ein winziges Geschöpf ich in Wirklichkeit war. Ich glaube es, weil sie mich plötzlich mit einem ganz veränderten Gesicht und mit mütterlichem Ausdruck in den Zügen heraufsteigen hieß und mich umarmte und mich küßte, wie ihr eignes Kind. Ich hatte kaum Zeit, wieder herunterzukommen, da fuhr die Kutsche fort. Ich konnte die Familie vor lauter Taschentücherschwenken kaum mehr sehen. In einer Minute waren sie verschwunden. Der Waisling und ich standen auf der Mitte der Straße und sahen einander mit leeren Blicken an, dann schüttelten wir uns die Hand und nahmen Abschied voneinander; sie ging ins St.-Lukas-Armenhaus zurück, wahrscheinlich, und ich an mein trauriges Tagewerk bei Murdstone & Grinby.

Aber ich hatte die Absicht, nicht mehr lange dort auszuhalten. Nein. Ich hatte mir vorgenommen, wegzulaufen, – so oder so, – um auf irgendeine Weise die einzige Verwandte, die ich noch auf der Welt besaß, meine Tante, Miß Betsey, aufzusuchen und ihr mein Leid zu klagen.

Ich habe schon erzählt, daß ich nicht weiß, wie mir dieser verzweifelte Gedanke eingefallen war. Aber einmal entstanden, blieb er und setzte sich in mir fest, wie kaum jemals im Leben später irgendein anderer. Ich war durchaus nicht überzeugt, daß ich große Hoffnungen hegen durfte. Aber ich war fest entschlossen, meinen Plan auszuführen.

Immer und immer wieder seit jener schlaflosen Nacht, wo mir der Gedanke durch den Kopf gefahren, hielt ich mir die alte Geschichte bei meiner Geburt vor Augen, die ich schon in den schönen, alten Zeiten meine Mutter hatte so gern erzählen hören und fast auswendig wußte. Meine Tante kam in diese Geschichte hineingeschritten und schritt wieder hinaus, wie eine Furcht und Grauen einflößende Gestalt; aber an einen ganz kleinen Zug ihres Benehmens erinnerte ich mich so gern, und er gab mir einen winzigen Schatten von Ermutigung. Ich konnte nicht vergessen, daß meine Mutter geglaubt, sie hätte gefühlt, wie die Tante ihr schönes Haar nicht mit unsanfter Hand berührte. Und wenn es vielleicht eine bloße Einbildung meiner Mutter gewesen sein mochte, so machte ich mir doch daraus ein kleines Bild von meiner schrecklichen Tante, auf dem sie milder gestimmt von dem mädchenhaften Eindruck meiner Mutter, die doch so gut und lieblich gewesen, dreinsah. Wohl möglich, daß mir all das lange im Kopf herumgespukt und dazu beigetragen hatte, nach und nach meinen Entschluß zu befestigen.

Da ich nicht einmal wußte, wo Miss Betsey lebte, schrieb ich einen langen Brief an Peggotty und fragte sie so nebenbei, ob sie sich nicht erinnern könnte. Ich gab vor, ich hätte von einer Dame dieses Namens in einer Stadt, die ich aufs Geratewohl nannte, gehört und möchte gerne wissen, ob es meine Tante wäre. In demselben Brief sagte ich Peggotty, daß ich eine halbe Guinee zu einem Zweck, den ich ihr später mitteilen würde, brauchte und bat sie recht sehr, mir diese Summe zu leihen.

Peggottys Antwort ließ nicht lange auf sich warten und war wie gewöhnlich voll Zärtlichkeit. Sie legte die halbe Guinee bei, ich fürchte, sie mußte unendliche Schwierigkeiten gehabt haben, sie aus Mr. Barkis‘ Koffer herauszubekommen – und teilte mir mit, daß Miss Betsey in der Nähe von Dover wohne, ob aber in Dover selbst, Hythe, Sandgate oder Folkstone könne sie nicht sagen. Einer unserer Leute bei Murdstone & Grinby klärte mich darüber auf, und ich erfuhr, daß alle diese Orte dicht beieinander lägen. Daher beschloß ich, mich gegen Ende der Woche auf den Weg zu machen.

Da ich ein sehr ehrlicher kleiner Kerl war und bei Murdstone & Grinby nicht gern ein schlechtes Andenken zurücklassen wollte, blieb ich bis Samstagabend, da mir der Wochenlohn immer vorausbezahlt worden war. Die halbe Guinee hatte ich mir ausgeborgt, um ein wenig Reisegeld zu haben.

Als der Samstagabend kam, schüttelte ich Mick Walker die Hand und bat ihn, wenn die Reihe an ihn käme bei Auszahlung der Löhnung, Mr. Quinion zu sagen, daß ich fortgegangen sei, um meinen Koffer zu Tipp zu bringen.

Mein Koffer stand in meiner alten Wohnung, und ich hatte auf die Rückseite einer der Adreßkarten, die wir auf die Fässer nagelten, geschrieben: Master David Copperfield, Landpostbureau Dover. Diesen Zettel trug ich in der Tasche, um ihn auf dem Koffer zu befestigen. Dann sah ich mich nach jemand um, der mir das Gepäck ins Einschreibebureau bringen könnte.

Nicht weit von dem Obelisken in Blackfriars Road fiel mein Blick auf einen langbeinigen Burschen vor einem niedrigen, mit einem Esel bespannten Karren. Als wir einander ansahen, nannte er mich »schuftiges Kleingeld« und fragte mich, ob ich mir vielleicht sein Gesicht für einige Jahre einprägen wollte, – wahrscheinlich, weil ich ihn so anstarrte. Ich versicherte ihm, daß ich ihn nicht beleidigen wollte und nur gern gewußt hätte, ob er mir nicht eine kleine Besorgung machen möchte.

»Wat for ne Besorjung?« fragte der langbeinige Bursche.

»Einen Koffer fortzuschaffen«, antwortete ich.

»Wat for nen Koffer?«

Ich sagte ihm: meinen Koffer, der in der nächsten Straße abzuholen sei, und den er mir für sechs Pence nach dem Bureau der Dover Landkutsche bringen möchte.

»Abjemacht, for n Sixpence«, sagte der langbeinige Bursche, sprang auf seinen Karren, der nichts als eine große Holzmulde auf Rädern war, und rasselte dann in solchem Trab davon, daß ich laufen mußte, was ich konnte, um mit dem Esel Schritt zu halten.

Der Bursche hatte etwas Abstoßendes in seinem Wesen, besonders in der Art, wie er an Stroh kaute, während er mit mir sprach, was mir nicht gefiel. Da aber der Handel abgeschlossen war, trugen wir den Koffer zusammen herunter und legten ihn auf den Karren. Um nicht bei meinen Wirtsleuten aufzufallen, wollte ich die Adresse hier nicht befestigen und sagte deshalb dem Burschen, er solle einen Augenblick an der Gefängnismauer von Kings-Bench halten. Kaum waren diese Worte über meine Lippen gekommen, rasselte er davon, als ob er, der Karren, der Esel – alle miteinander – verrückt geworden seien. Ich war ganz außer Atem vom Rufen und Hinterherrennen, als ich ihn an dem bezeichneten Ort einholte.

In meiner Aufregung riß ich die halbe Guinee mit aus der Tasche, als ich die Karte hervorholte. Ich nahm sie der Sicherheit wegen zwischen die Zähne, und obgleich meine Hände sehr zitterten, hatte ich die Karte eben zu meiner Zufriedenheit befestigt, als der langbeinige Bursche mich heftig unter das Kinn stieß und ich meine halbe Guinee in seine Hand fliegen sah.

»Wat«, sagte der junge Mann, mich mit einem entsetzlichen Grinsen am Kragen packend, »dat jehört for de Polizei. Wolltest ausrücken, was? Komm uff de Polizei, du Jewürm. Komm mit nach de Polizei.«

»Bitte, geben Sie mir mein Geld zurück«, sagte ich erschreckt, »und lassen Sie mich los.«

»Komm nach de Polizei«, sagte der Bursche. »Mußt et vor die Polizei beweisen.«

»Geben Sie mir doch meinen Koffer und mein Geld!« rief ich und brach in Tränen aus.

Der Bursche rief immer noch: »Uff de Polizei!« und zerrte mich zu dem Esel hin, als ob das der Polizeirichter wäre, dann besann er sich plötzlich, sprang auf den Karren und raste mit den Worten »Ick fahre nach de Polizei« auf und davon. Ich rannte ihm nach, so schnell ich konnte, hatte aber keinen Atem mehr, ihm nachzurufen, und würde es wohl auch kaum gewagt haben. Wohl zwanzig Mal in einer Viertelstunde entging ich knapp dem Überfahrenwerden. Jetzt verlor ich ihn aus den Augen, dann sah ich ihn wieder, verlor ihn nochmals, dann versetzte mir jemand einen Peitschenhieb, ein anderer schrie mir nach; jetzt lag ich unten in der Gosse, war wieder aufgestanden, stürzte jemand in die Arme und rannte schließlich gegen einen Pfahl. Endlich gab ich, ganz außer mir vor Aufregung und Furcht, halb London könnte schon zu meiner Verfolgung auf den Beinen sein, meinen Koffer und mein Geld auf und machte mich keuchend und weinend, aber nicht einen Augenblick stillstehend, auf den Weg nach Greenwich, der ersten Station nach Dover, wie ich gehört hatte. Ich nahm wenig mehr aus der Welt mit, als ich meine Tante aufsuchen ging, als ich an jenem Abend, wo ihr meine Ankunft so viel Ärger bereitet, in die Welt mitgebracht hatte.

13. Kapitel Die Folgen meines Entschlusses


13. Kapitel Die Folgen meines Entschlusses

Als ich die Verfolgung des Burschen aufgab, mochte ich wohl die Absicht gehabt haben, den ganzen Weg nach Dover zu laufen. Sehr bald aber machte ich Halt in Kent-Road vor einem kleinen Hause mit einem winzigen Tisch davor, in dessen Mitte eine große geschmacklose Bildsäule, die auf einer Muschel blies, stand. Hier setzte ich mich auf eine Türstufe, ganz erschöpft und so atemlos, daß ich nicht einmal über den Verlust meines Koffers und meiner halben Guinee weinen konnte.

Es war bereits dunkel, und ich hörte die Uhren zehn Uhr schlagen. Zum Glück war eine Sommernacht und schönes Wetter. Als ich wieder zu Atem gekommen, das erstickende Gefühl in meiner Kehle heruntergewürgt hatte, ging ich wieder weiter. Ich dachte nicht einen Augenblick daran, umzukehren.

Es beunruhigte mich sehr, daß ich nur dreieinhalb Pence besaß, wunderbar genug, daß ich an einem Samstagabend überhaupt noch so viel in der Tasche hatte. Ich sah mich schon in der Zeitung unter einer Hecke tot aufgefunden und schleppte mich elend, doch so schnell wie möglich fort, bis ich an einem kleinen Laden vorbeikam, wo, aus der Überschrift zu schließen, Damen- und Herrengarderobe gekauft und der höchste Preis für Lumpen, Knochen und Küchenabfall gezahlt wurde. Der Inhaber des Ladens saß in Hemdsärmeln vor der Tür und rauchte. Viele Röcke und Hosen hingen von der niederen Decke herab, und nur zwei trübe Kerzen erhellten das Innere des Ladens. Der Mann sah aus wie ein Rachegeist, der alle seine Feinde aufgehenkt hat und sich nun in Gemütsruhe ihres Anblicks freut.

Die bei Mr. und Mrs. Micawber erworbne Erfahrung sagte mir, daß sich mir hier ein Mittel bieten könnte, um den Hungertod noch ein wenig hinauszuschieben. Ich ging in das nächste Seitengäßchen, zog meine Weste aus, nahm sie sauber zusammengerollt unter den Arm und kehrte wieder zu der Ladentür zurück.

»Sir«, sagte ich, »ich soll dies um einen anständigen Preis verkaufen.«

Mr. Dolloby – diesen Namen führte das Firmaschild – nahm die Weste, lehnte die Pfeife an den Türpfosten, trat vor mir in den Laden, schneuzte die beiden Lichter mit den Fingern, breitete die Weste auf dem Ladentisch aus und betrachtete sie, hielt sie gegen das Licht und sagte endlich:

»Was nennen Sie denn einen Preis für das kleine Westchen?«

»O, das wissen Sie wohl am besten«, erwiderte ich bescheiden.

»Ich kann nicht Käufer und Verkäufer zugleich sein«, sagte Mr. Dolloby. »Nennen Sie einen Preis.«

»Würden achtzehn Pence –?« sagte ich nach einigem Zögern.

Mr. Dolloby rollte die Weste wieder zusammen und gab sie mir zurück. »Ich würde meine Familie berauben«, sagte er, »wenn ich neun Pence dafür böte.«

Das war eine unangenehme Art zu handeln, weil sie mich – einen ganz Fremden – in die unangenehme Lage versetzte, von Mr. Dolloby zu verlangen, daß er meinetwegen seine Familie berauben sollte.

Da meine Not so groß war, sagte ich, ich wollte neun Pence nehmen.

Nicht ohne Gebrumm gab Mr. Dolloby die neun Pence. Ich wünschte ihm gute Nacht und verließ den Laden reicher um diese Summe und ärmer um eine Weste; aber wenn ich die Jacke zuknöpfte, fühlte ich es nicht sehr.

Ich sah mit ziemlicher Bestimmtheit kommen, daß meine Jacke demnächst würde denselben Weg gehen müssen, und daß ich wohl gezwungen sein würde, den größten Teil meines Wegs nach Dover in Hemd und Hosen zurückzulegen, und mich noch glücklich schätzen dürfte, wenn es mir gelänge, noch in solchem Aufzug hinzukommen. Trotzdem machte ich mir nicht allzuviel daraus.

Es war mir ein Plan eingefallen, wie ich die Nacht verbringen konnte, und ich machte mich daran, ihn zur Ausführung zu bringen. Ich wollte mich hinter die Rückmauer meiner alten Schule in eine Ecke, wo früher ein Heuschober stand, legen. Ich bildete mir ein, es wäre eine Art Gesellschaft, wenn ich die Schüler und das Schlafzimmer, in dem ich immer so viel Geschichten erzählt, in der Nähe wüßte, wenn auch niemand drin etwas von meiner Anwesenheit ahnte.

Ich hatte einen langen Marsch hinter mir und war ganz abgehetzt, als ich endlich auf die Ebene von Blackheath hinauskam. Ich fand nach langer Mühe Salemhaus, fand auch den Heuschober in der Ecke und legte mich nieder, nachdem ich vorher um die Mauer herumgegangen, nach den Fenstern gesehen und alles finster und still gefunden hatte. Nie werde ich das Gefühl von Verlassenheit vergessen, das ich empfand, als ich mich das erstemal ohne ein Dach über meinem Haupt, nur den Himmel über mir, niederlegte.

Aber der Schlaf kam zu mir, wie er zu den Verstoßenen kommt, denen die Haustüren verschlossen sind, und die von den Hunden angebellt werden. Ich träumte, ich läge in meinem alten Schulbett und fand mich einmal aufrecht sitzend mit Steerforths Namen auf der Zunge und wild nach den Sternen starrend, die über mir schimmerten. Als mir dann klargeworden, wo ich mich zu dieser ungewöhnlichen Stunde befand, überlief mich ein merkwürdiges Gefühl, das mich bewog, aufzustehen und herumzugehen. Der mattere Schimmer der Sterne und das Dämmern im Osten beruhigten mich. Da ich noch sehr schläfrig war, legte ich mich wieder hin und schlummerte ein und fühlte im Schlaf, wie kalt es war, bis mich die warmen Strahlen der Sonne und die Frühglocke von Salemhaus weckten. Ich wußte, daß Steerforth fort sein mußte, sonst hätte ich vielleicht auf ihn gewartet. Möglicherweise war Traddles noch da, doch ich hatte nicht genug Vertrauen auf seine Verschwiegenheit, um ihm meine Lage anvertrauen zu können, so sehr ich mich auf sein gutes Herz hätte verlassen dürfen. So schlich ich mich fort von der Mauer, als Mr. Creakles Jungen aufstanden, und schlug die staubige Straße nach Dover ein.

Wie verschieden war dieser Sonntagmorgen von jenem damals in Yarmouth. Ich hörte die Kirchenglocken läuten, als ich mich langsam hinschleppte, begegnete den sonntäglich gekleideten Leuten, kam an eine oder zwei Kirchen vorbei, in denen der Gottesdienst abgehalten wurde, während der Büttel im kühlen Schatten des Eingangs saß oder unter dem Eibenbaum stand und mir mißtrauisch nachsah. Friede und Ruhe des Sonntagmorgens überall, nur nicht in mir. Ich kam mir so verkommen vor in meinem Schmutz, so bestaubt und mit wirrem Haar. Ohne das stille Bild meiner Mutter in Jugend und Schönheit, wie sie weinend beim Feuer sitzt und meine Tante weich wird ihr gegenüber, im Herzen, hätte ich kaum den Mut gehabt, noch bis zum nächsten Tag auszuhalten. Aber es schwebte immer vor mir her, und ich ging hinter ihm drein.

Ich legte an diesem Sonntag dreiundzwanzig englische Meilen auf der Landstraße zurück und es fiel mir nicht leicht, denn ich war das Wandern nicht gewöhnt. Ich sehe mich bei hereinbrechendem Abend über die Brücke von Rochester gehen, müde, mit wunden Füßen und das Brot verzehrend, das ich mir zum Abendessen gekauft. Ein oder zwei kleine Häuser mit der Aufschrift »Nachtquartier für Reisende« hatten mich wohl gelockt, doch ich fürchtete, die paar Pence, die ich noch besaß, auszugeben, und empfand noch mehr Angst vor den verdächtigen Blicken der Strolche, denen ich unterwegs begegnet. Ich suchte mir daher kein anderes Dach als den Himmel, und als ich Chatham erreichte, das bei Nacht aussieht wie ein Traum voll Mauern, Zugbrücken und mastlosen Schiffen mit Verdecken, wie Archen, kroch ich auf eine alte grasbewachsene Schanze, vor der eine Schildwache auf und ab ging. Hier legte ich mich neben eine Kanone und schlief gesund bis zum Morgen, glücklich, von weitem die Schritte der Schildwachen zu hören.

Am nächsten Morgen war ich ganz steif, und das Trommelwirbeln und der Schritt der marschierenden Truppen, die mich ringsum einzuschließen schienen, als ich nach der langen schmalen Straße hinabging, betäubten mich förmlich. Ich fühlte, daß ich diesen Tag nur eine kurze Strecke würde zurücklegen können, wenn ich mir noch etwas Kraft für den letzten Teil meiner Reise aufsparen wollte. Ich beschloß daher vor allem den Verkauf meiner Jacke ins Auge zu fassen. Ich zog also meine Jacke aus, um mich daran zu gewöhnen, ohne sie auszukommen, nahm sie unter den Arm und sah mich nach Trödlerläden um.

Es war ein sehr geeigneter Ort für den Verkauf einer Jacke, denn die »Händler in alten Kleidern« waren sehr zahlreich und schauten in ihren Ladentüren nach Kunden aus. Aber da bei den meisten ein oder zwei Offiziersuniformen mit Epauletten im Ladenfenster hingen, schreckte mich der vornehme Charakter dieser Geschäfte ab, und ich lief lange Zeit herum, ohne jemand meine Ware anzubieten.

Meine Aufmerksamkeit lenkte sich vornehmlich auf die Seemannsläden und solche wie Mr. Dollobys, und endlich fand ich einen, der mir vielversprechend aussah, an der Ecke eines schmutzigen Gäßchens, das an einen eingezäunten grünen Fleck voller Brennesseln stieß. An dem Zaune hingen ein paar alte Matrosenanzüge, einige Hängematten, rostige Flinten und Südwester, und vor dem Laden standen mehrere Mulden mit so viel verrosteten Schlüsseln in allen Größen, daß man sämtliche Türen der Welt hätte damit aufsperren können.

In diesen Laden, der niedrig und klein und eher verdunkelt als erhellt durch ein mit Kleidern verhangenes Fensterchen war, stieg ich mit klopfendem Herzen einige Stufen hinab. Meine Bangigkeit wuchs noch, als ein grauenhafter alter Mann, dessen untere Gesichtshälfte ganz von einem struppigen grauen Bart bedeckt war, aus einer schmutzigen Höhle im Hintergrund hervorstürzte und mich bei den Haaren packte. Es war ein schrecklich anzusehender Mann in einer schmutzigen Flanellweste. Er roch entsetzlich nach Rum. Seine Bettstelle, mit einer zerknüllten und zerlumpten Flickendecke zugedeckt, stand in der Höhle, aus der er herausgekommen war. Durch ein zweites kleines Fenster konnte man noch ein Brennesselfeld und einen lahmen Esel sehen.

»O was brauchst du?« greinte der alte Mann mit einem wilden eintönigen Gewinsel, »Gott über meine Augen und Glieder, was brauchst du? O über meine Lunge und Leber, was brauchst du? O goru, o goru!«

So sehr brachten mich diese Worte und besonders die Wiederholung des letzten mir ganz unbekannten Lautes, der wie ein tiefes Röcheln in seiner Kehle klang, aus der Fassung, daß ich gar nicht antworten konnte. Immer noch hielt mich der alte Mann bei den Haaren und wiederholte:

»O was brauchst du, Gott über meine Augen und Glieder, was brauchst du? O über meine Lunge und Leber, was brauchst du. O goru!« Er röchelte die Worte mit solcher Energie aus sich heraus, daß ihm die Augen aus den Höhlen traten.

»Ich wollte fragen«, sagte ich zitternd, »ob Sie eine Jacke kaufen möchten?«

»O laß die Jacke sehen«, schrie der alte Mann, »o mei Herz brennt wie Feuer. Laß sehen die Jacke. Gott über meine Augen und Glieder, zeig her die Jacke.«

Damit ließen seine zitternden Hände, die den Klauen eines großen Vogels glichen, meine Haare los, und er setzte eine Brille auf, die seine entzündeten Augen durchaus nicht verschönte.

»O wieviel für die Jacke?« schrie er, nachdem er sie genau betrachtet hatte. »O goru, wieviel für die Jacke?«

»Eine halbe Krone«, sagte ich und faßte wieder langsam Mut.

»O über meine Lunge und Leber«, schrie der alte Mann. »Nix! O über meine Augen. Nix! Gott über meine Glieder Nix! Achtzehn Pence! Goru!« Jedesmal wenn er diesen Ausruf hören ließ, quollen seine Augen aus ihren Höhlen, und jeder Satz, den er sprach, hatte eine Art Melodie, immer dieselbe. Sie glich einer Art Windesgeheul, das leise anfängt, ansteigt und abnimmt. Ich kann es mit nichts anderem auf der Welt vergleichen.

»Gut«, sagte ich, froh, den Handel abgeschlossen zu haben, »ich will achtzehn Pence nehmen.«

»Gott über meine Leber!« schrie der alte Mann und warf die Jacke in ein Fach, »raus aus dem Laden. Ach Gott über meine Lunge. Raus aus dem Laden. Ach meine Augen und Glieder! Goru! Kein Geld. Mach mer en Tausch.«

Nie in meinem Leben bin ich so erschrocken gewesen, aber ich sagte schüchtern, daß ich Geld brauchte, und daß mir nichts anderes nützen könnte. Daß ich jedoch seinem Wunsch gemäß draußen daraufwarten wollte und keine Eile hätte. Ich ging also hinaus und setzte mich in eine Ecke in den Schatten. Und ich saß dort so viele Stunden, daß der Schatten Sonnenschein und der Sonnenschein wieder Schatten wurde, und immer noch auf mein Geld warte.

Ich glaube, so einen betrunkenen Verrückten gibt es in diesem Geschäftszweig nicht wieder. Daß er in der Nachbarschaft wohl bekannt war und in dem Ruf stand, sich dem Teufel verkauft zu haben, erfuhr ich bald durch die Gassenjungen, die fortwährend um den Laden herumsprangen, ihm das zubrüllten und ihn aufforderten, sein Gold zu zeigen.

»Du bist gar nicht arm, Charley, wie du dich stellst! Zeig dein Gold her. Zeig das Gold her, für das du dich dem Teufel verkauft hast. Komm doch, s ist in der Matratze eingenäht, Charley! Schneid sie auf und zeig uns das Gold!« Dies und viele Anerbietungen, ihm ein Messer zu leihen, brachten den Trödler dermaßen auf, daß der ganze Tag eine Reihenfolge von Ausfällen seinerseits war, auf die die Jungen stets die Flucht ergriffen. Manchmal hielt er mich in seiner Wut für einen der Jungen und stürzte schäumend auf mich los, als wollte er mich in Stücke reißen. Rechtzeitig besann er sich aber immer wieder und zog sich schleunigst in den Laden zurück und warf sich auf sein Bett, wie ich aus dem Klang seiner Stimme schloß, wenn er in seiner dem Windesgeheul ähnlichen Melodie wie irrsinnig das Lied von Nelsons Tod brüllte, mit einem »O« vor jeder Strophe und unzähligen Gorus dazwischen.

Als wäre das noch nicht schlimm genug für mich, brachten mich die Jungen wegen meiner Geduld und Ausdauer in irgendeine Verbindung mit dem Etablissement, zumal ich nur halb angezogen war, bewarfen mich mit Steinen und mißhandelten mich den ganzen Tag über.

Der alte Mann machte viele Versuche, mich zu bewegen, in einen Tausch einzuwilligen. Einmal kam er mit einer Angelrute heraus, dann mit einer Fiedel, mit einem Schlapphut und endlich mit einer Flöte. Aber ich widerstand allen seinen Angeboten und blieb in Verzweiflung sitzen. Jedesmal flehte ich ihn mit den Tränen in den Augen um mein Geld oder meine Jacke an. Endlich fing er an, mich halbpennyweise zu bezahlen und brauchte so zwei volle Stunden zu einem Schilling.

»O meine Augen und Glieder!« schrie er dann nach einer langen Pause in grauenhafter Art aus dem Laden herausschielend. »Willst du für zwei Pence mehr gehen?«

»Ich kann nicht«, sagte ich, »ich muß verhungern.«

»O meine Lunge und Leber. Willst du für drei Pence gehen?«

»Ich würde umsonst gehen«, sagte ich, »wenn ich könnte. Aber ich brauche das Geld jämmerlich nötig.«

»O go-ru!« Es war ganz unbeschreiblich, wie er dieses letzte Röcheln hervorstieß, als er jetzt hinter der Türpfoste hervorlugte, daß man nur den alten schlauen Kopf sehen konnte. »Willst du für vier Pence gehen?«

Ich war so hungrig und müde, daß ich einwilligte und das Geld nicht ohne Zittern aus seiner Klaue nahm. Dann ging ich kurz vor Sonnenuntergang hungriger und durstiger als ich je gewesen meines Weges. Für drei Pence stärkte ich mich bald vollkommen und hinkte, jetzt besserer Laune, sieben Meilen weiter.

Mein Bett in dieser Nacht war wieder ein Heuschober, ich wusch mir die Füße in einem Bach und verband sie, so gut es ging, mit ein paar kühlenden Blättern. Den nächsten Morgen führte mich der Weg durch Hopfenfelder und Obstanlagen. Die Jahreszeit war schon so weit vorgerückt, daß überall reife Äpfel hingen, und an einigen Orten standen die Pflücker schon bei der Arbeit. Ich fand alles wunderschön und beschloß, die Nacht in dem Hopfengarten zu schlafen. Die langen Reihen von Stangen mit den anmutig sich windenden Blättern kamen mir wie eine gemütliche Gesellschaft vor.

Die Landstreicher schienen an diesem Tage gefährlicher als je und flößten mir einen Schrecken ein, daß ich heute noch daran denken muß. Einige von ihnen, wild aussehende Raufbolde, die mich beim Vorbeigehen anstarrten, blieben manchmal stehen und riefen mir zu, umzukehren, und warfen mir, wenn ich ausriß, Steine nach. Ich erinnere mich noch an einen jungen Burschen, nach seinem Felleisen und Kohlenbecken zu schließen, ein Kesselflicker, der ein Frauenzimmer bei sich hatte. Er stierte mich an und rief mir dann mit so fürchterlicher Stimme nach, zurückzukommen, daß ich stehenblieb und mich umsah.

»Komm her, wenn man dich ruft«, sagte der Kesselflicker, »oder ich schlitze dir deinen jungen Bauch auf.«

Ich hielt es für das beste, umzukehren. Als ich näher kam und den Kesselflicker durch freundliche Blicke zu besänftigen suchte, bemerkte ich, daß das Weib ein blaugeschlagenes Auge hatte.

»Wo gehst du hin«, fragte der Kesselflicker und packte mich mit seiner geschwärzten Hand an der Brust.

»Ich gehe nach Dover.«

»Wo kommst du her?« fragte er weiter und packte mich noch fester.

»Ich komme von London.«

»Was hast du für ein Handwerk? Bist du ein Dieb?«

»N-ein«, sagte ich.

»Nicht? Bei G-? Wenn du mit Ehrlichkeit bei mir prahlen willst«, sagte der Kesselflicker, »haue ich dir das Dach ein!«

Mit seiner freien Hand machte er eine Bewegung, als wollte er mich niederschlagen, und musterte mich dann vom Kopf bis zu den Füßen.

»Hast du Geld für eine Kanne Bier bei dir? Wenn dus hast, heraus damit, bevor ich mirs hole.«

Ich würde es gewiß herausgeholt haben, hätte ich nicht den Blick der Frau bemerkt, die hinter ihm kaum merklich den Kopf schüttelte und ihre Lippen zu einem »Nein« verzog.

»Ich bin sehr arm«, sagte ich mit einem Versuch zu lächeln, »und habe kein Geld.«

»Was soll das heißen?« sagte der Kesselflicker und sah mich so scharf an, daß ich schon fürchtete, er sähe das Geld in meiner Tasche.

»Herr!« stammelte ich.

»Was soll das heißen«, sagte der Kesselflicker, »daß du meines Bruders Seidenhalstuch trägst! Her damit!« und schon hatte er es mir vom Halse gerissen und es der Frau zugeworfen.

Das Weib brach in ein Gelächter aus, als ob sie das für einen Spaß hielte und warf es mir wieder hin und nickte wieder und verzog ihre Lippen zu dem Worte: »Fort.«

Ehe ich noch gehorchen konnte, riß mir der Kesselflicker das Tuch mit solcher Gewalt aus der Hand, daß ich zur Seite flog wie eine Feder. Dann wandte er sich mit einem Fluch zu der Frau und schlug sie zu Boden. Ich sehe sie jetzt noch vor mir, wie sie rücklings auf die Steine hinstürzt und dort liegt, den Hut vom Kopf gerissen und das Haar ganz weiß vom Staub. Wie ich mich aus der Ferne umschaue, sitzt sie am Straßenrand und wischt mit dem Zipfel ihres Schals das Blut aus dem Gesicht, während der Kesselflicker unbekümmert weitergeht.

Dieses Abenteuer entsetzte mich so, daß ich später mich immer versteckte, wenn ich Leute solchen Schlages kommen sah und oft ein Stück zurücklaufen mußte, was meine Reise sehr verlängerte. Aber in diesen und andern Bedrängnissen auf meiner Wanderung hielt mich das Phantasiebild von meiner Tante und meiner Mutter aufrecht. Nie wich es von mir. Ich sah es zwischen den Hopfenstangen, als ich mich niederlegte; es stand bei mir früh am Morgen und blieb bei mir den ganzen Tag.

Es hat sich seitdem für immer mit der sonnig hellen Straße von Canterbury und seinen alten Häusern und Toren und seiner alten grauen Kathedrale in meiner Seele verbunden.

Als ich endlich auf die öden weiten Dünen bei Dover kam, vergoldete es mir den einsamen Anblick der Gegend mit einem Hoffnungsstrahl, und erst, als ich das große Ziel meiner Reise erreicht und am sechsten Tag nach meiner Flucht wirklich den Fuß in die Stadt setzte, wich es von mir. Dann, – seltsam genug, – als ich mit zerrissenen Schuhen, staubig, sonnverbrannt und nur halb bekleidet in der so langersehnten Stadt stand, schien es wie ein Traumgesicht zu verschwinden und ließ mich hilflos und entmutigt allein.

Ich erkundigte mich nach meiner Tante zuerst bei den Schiffern und erhielt die verschiedensten Auskünfte. Der eine sagte, sie wohne auf dem südlichen Leuchtturm und hätte sich dort den Backenbart verbrannt, ein anderer, sie sei an der großen Boje draußen vor dem Hafen angebunden, und man könne sie nur bei Stauwasser besuchen. Ein dritter, daß sie wegen Kinderdiebstahl im Maidstonekerker eingesperrt sei. Ein vierter, sie sei während des letzten Sturms auf einem Besen nach Calais geritten. Die Droschkenkutscher, bei denen ich mich dann erkundigte, waren ebenso spaßig und wenig respektvoll, und die Ladeninhaber, denen mein Aussehen nicht gefiel, antworteten meistens, ohne überhaupt meine Frage anzuhören, sie hätten nichts für mich.

Ich fühlte mich unglücklicher und entmutigter als jemals, seit ich fortgelaufen. Mein Geld war zu Ende, ich hatte nichts mehr zu verkaufen, war hungrig, durstig und erschöpft und schien meinem Ziel ferner zu sein als in London.

Der Morgen war über meinen Nachfragen vergangen, und ich saß auf den Stufen vor einem leeren Laden an einer Straßenecke und ging mit mir zu Rate, ob ich nach den andern Orten, die mir Peggotty geschrieben hatte, wandern sollte, als ein Droschkenkutscher vorbeifuhr und seine Pferdedecke verlor. Ich reichte sie ihm auf den Bock, und etwas Gutmütiges in dem Gesicht des Mannes ermutigte mich, ihn zu fragen, ob er nicht wisse, wo Miss Trotwood wohne. Ich hatte die Frage schon so oft gestellt, daß sie mir fast auf den Lippen erstarb.

»Trotwood?« sagte er. »Laß mal sehen. Ich kenne doch den Namen! Alte Dame?«

»Ja«, sagte ich, »ziemlich.«

»Ziemlich steif im Rücken«, sagte er und setzte sich sehr gerade.

»Ja«, sagte ich, »ich glaube wohl.«

»Trägt einen Strickbeutel? Strickbeutel mit viel Platz drin. Ist mürrisch und fährt einen scharf an?«

Ich ließ den Mut sinken ob dieser Schilderung, die unzweifelhaft auf meine Tante paßte.

»Also hör mal«, sagte er, »wenn du dort hinaufgehst«, er wies mit seiner Peitsche nach dem Hügel, »und rechts hinaufgehst bis zu ein paar Häusern am Meer, kannst du Genaueres über sie erfahren. Ich glaube nicht, daß sie etwas gibt. Da ist ein Penny für dich.«

Ich nahm die Gabe dankbar an und kaufte mir Brot dafür. Ich aß es unterwegs und ging in der Richtung, bis ich an die Häuser kam. Ich trat in einen kleinen Laden und bat, ob man nicht so gut sein wollte, mir zu sagen, wo Miss Trotwood wohne. Ich wendete mich an einen Mann hinter dem Ladentisch, der eine Tüte Reis für ein Mädchen abwog, da drehte sich dieses um.

»Meine Herrschaft? Was willst du bei ihr?«

»Ich möchte mit ihr sprechen, bitte.«

»Das heißt, du willst sie anbetteln«, entgegnete das Mädchen.

»Nein«, sagte ich, »wahrhaftig nicht.« Dann fiel mir plötzlich ein, daß ich doch eigentlich zu keinem andern Zweck kam, schwieg verwirrt und fühlte, wie ich rot wurde.

Die Zofe meiner Tante, denn das mußte sie wohl sein, legte den Reis in ein kleines Körbchen und verließ den Laden, mit der Weisung, ich solle ihr folgen, wenn ich wissen wolle, wo Miss Trotwood wohne. Ich war so aufgeregt, daß mir die Kniee schlotterten.

Ich folgte dem jungen Mädchen, und wir kamen sehr bald zu einem sehr hübschen Häuschen mit entzückenden Bogenfenstern. Davor lag ein kleiner Garten voll Blumen, sorgfältig gepflegt und herrlich duftend.

»Hier wohnt Miss Trotwood«, sagte das Mädchen. »Jetzt weißt dus. Weiter kann ich dir nichts sagen.«

Mit diesen Worten eilte sie ins Haus, wie um die Verantwortlichkeit für mein Erscheinen abzuschütteln, und ließ mich am Gartentor stehen. Ich sah trostlos auf das Wohnzimmerfenster hin, wo ein halb zurückgezogner Musselinvorhang, ein großer runder grüner Schirm oder Fächer auf dem Fensterbrett, ein kleiner Tisch und ein Armstuhl mich ahnen ließen, daß meine Tante in diesem Augenblick in großer Strenge dort saß.

Meine Schuhe befanden sich in einem kläglichen Zustand. Die Sohlen waren stückweise losgelöst, und das Oberleder, bald hier; bald dort geplatzt, hatte die Form eines Schuhes verloren. Mein Hut; der mir auch als Nachtmütze gedient, war so zerdrückt und verbogen, daß es jede alte stiellose Pfanne auf einem Misthaufen erfolgreich mit ihm aufgenommen hätte. Mein Hemd und meine Hosen, schmutzig und fleckig von Hitze, Tau, Gras und dem kentischen Kalkboden, auf dem ich geschlafen, und außerdem zerrissen, wären imstande gewesen, eine Vogelscheuche in meiner Tante Garten abzugeben.

So stand ich in der Türe. Mein Haar hatte, seit ich London verlassen, weder Kamm noch Bürste gesehen. In Gesicht, an Hals und Händen hatten mich Luft und Sonne dunkelbraun gebrannt. Von Kopf bis zu den Füßen mit Kalk und Staub weiß gepudert, sah ich aus, als ob ich aus einem Kalkofen käme. In diesem Aufzug, und meines Aussehens mir sehr wohl bewußt, sollte ich mich also meiner gestrengen Tante vorstellen.

Die andauernde Ruhe hinter dem Wohnstubenfenster ließ mich schließen, daß sie nicht drinnen sei. Ich wendete meine Augen zu den Fenstern im ersten Stock und sah einen freundlich aussehenden Herrn mit blühendem Gesicht und grauem Haar, der auf komische Weise ein Auge zukniff, mir mehrere Male mit dem Kopf zunickte, mich anlachte und wieder verschwand.

Ich war schon sowieso außer Fassung genug, aber dieses Benehmen raubte mir den letzten Rest von Mut. Ich stand eben im Begriff, mich wieder fortzuschleichen und mir zu überlegen, was am besten zu tun sei, als eine Dame, über ihre Mütze ein Taschentuch gebunden, mit Gartenhandschuhen, einer Gartenschürze und in der Hand ein großes Messer aus dem Hause trat. Ich erkannte in ihr sofort Miss Betsey nach der Art, wie sie aus dem Hause stelzte. Genau so war sie nach der Erzählung meiner Mutter auch in unserm Garten herumstolziert.

»Fort!« sagte Miss Betsey und schüttelte den Kopf und fuhr mit dem Messer durch die Luft, als ob sie ein Kotelett herausschneiden wollte.

»Fort! Keine Jungen hier!«

Ich sah ihr zu, das Herz auf der Zunge, wie sie in eine Ecke des Gartens ging und sich bückte, um etwas auszugraben. Dann, ohne einen Funken Mut in mir, aber mit desto mehr Verzweiflung, trat ich leise ein, stellte mich neben sie und berührte sie mit dem Finger.

»Wenn Sie gestatten würden, Ma’am«, fing ich an.

Sie fuhr zusammen und blickte auf.

»Wenn Sie gestatten würden, Tante!«

»Eh«, rief Miss Betsey mit einem Ton des Erstaunens aus, wie ich nie einen ähnlichen gehört hatte.

»Wenn Sie gestatten würden, Tante, ich bin Ihr Neffe!«

»O Gott!« sagte meine Tante und setzte sich mitten im Gartenweg hin.

»Ich bin David Copperfield aus Blunderstone in Suffolk, wo Sie an dem Abend, als ich geboren wurde, meine liebe Mutter besuchten. Ich bin seit ihrem Tode sehr unglücklich gewesen. Man hat mich vernachlässigt und nichts gelehrt, ich war auf mich selbst angewiesen und wurde zu einer Arbeit verwendet, die gar nicht für mich paßte. Deswegen bin ich fortgelaufen zu Ihnen. Gleich am Anfang wurde ich beraubt und mußte den ganzen Weg zu Fuß gehen und habe in keinem Bett geschlafen, seit ich auf der Reise bin.«

Hier war es mit meiner Fassung zu Ende und mit einer Handbewegung, mit der ich ihre Aufmerksamkeit auf meinen zerlumpten Zustand lenken wollte, als Beweis, was ich gelitten, brach ich in ein bitterliches Weinen aus.

Meine Tante, aus deren Gesicht jeder andere Ausdruck als Verwunderung gewichen war, saß, mich groß anstarrend, auf dem Kiesweg, bis ich zu weinen anfing. Dann stand sie in großer Hast auf, packte mich beim Kragen und schleppte mich in das Wohnzimmer. Ihr erstes war hier, einen hohen Schrank aufzuschließen, verschiedene Flaschen herauszunehmen und mir aus jeder etwas in den Mund zu gießen. Sie muß blind drauflos gegriffen haben, denn ich weiß gewiß, daß ich Aniswasser, Anchovissauce und Salatessig geschmeckt habe. Als ich selbst nach dem Genuß dieser Stärkungsmittel noch immer ganz außer Fassung war und von Schluchzen geschüttelt wurde, legte sie mich auf das Sofa, steckte mir einen Schal unter den Kopf, das Taschentuch von ihrem Kopf unter meine Füße, damit ich nicht den Überzug beschmutzen konnte, und setzte sich hinter den bereits erwähnten grünen Schirm. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, ich hörte nur, wie sie von Zeit zu Zeit einige »Gott sei uns gnädig!« wie Flintenschüsse hervorstieß.

Nach einer Weile klingelte sie.

»Janet«, sagte sie, als das Mädchen hereinkam. »Geh hinauf, empfiehl mich Mr. Dick und sage ihm, ich möchte ihn gerne sprechen.«

Janet machte erstaunte Augen, als sie mich ganz steif auf dem Sofa liegen sah, denn ich getraute mich nicht, eine Bewegung zu machen, um nicht meine Tante zu erzürnen, – und ging dann hinaus, um ihren Auftrag auszuführen. Meine Tante marschierte, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab, bis der Herr, der mich aus dem obern Fenster angezwinkert hatte, lachend hereintrat.

»Mr. Dick«, sagte meine Tante, »seien Sie jetzt kein Narr. Niemand kann gescheiter sein als Sie, wenn Sie wollen. Also bitte, nur so vernünftig wie möglich!«

Der Gentleman machte sogleich ein ernstes Gesicht und sah mich an, als wollte er mich bitten, nur ja nichts von der Szene vorhin am Fenster zu verraten.

»Mr. Dick«, fuhr meine Tante fort, »Sie haben mich einmal David Copperfield erwähnen hören. Tun Sie jetzt nicht, als ob Sie kein Gedächtnis hätten, denn Sie und ich wissen das besser.

»David Copperfield«, sagte Mr. Dick, der sich meiner trotzdem nicht zu erinnern schien, » David Copperfield? Ach ja, richtig. David. Stimmt.«

»Also«, sagte meine Tante, »dies ist sein Sohn. Er wäre seinem Vater so ähnlich wie möglich, wenn er nicht seiner Mutter so gliche.«

»Sein Sohn«, sagte Mr. Dick, »Davids Sohn? Wirklich?«

»Ja«, fuhr meine Tante fort, »er hat hübsche Sachen angestellt. Er ist davongelaufen. Ach, seine Schwester, Betsey Trotwood, wäre nie davongelaufen.«

Meine Tante schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf voll Vertrauen auf den Charakter und das Betragen des Mädchens, das nie geboren worden war.

»O Sie glauben, sie wäre nie davongelaufen?« sagte Mr. Dick.

»Ach Gott, der Mann!« rief meine Tante ärgerlich. »Was er wieder redet. Ich weiß doch, daß sie es nie getan haben würde, sie würde mit ihrer Patin beisammen gewesen sein, und wir hätten einander sehr lieb gehabt. Von wo, zum Kuckuck, hätte seine Schwester, Betsey Trotwood, fortlaufen sollen und wohin denn?«

»Nirgends«, sagte Mr. Dick.

»No also«, erwiderte meine Tante, durch die Antwort besänftigt.

»Wie können Sie so zerstreut sein, Dick, wo Ihr Verstand so scharf ist wie die Lanzette eines Chirurgen. Jetzt sehen Sie hier den jungen David Copperfield, und die Frage, die ich Ihnen vorlege, ist, was soll ich mit ihm anfangen?«

»Was Sie mit ihm anfangen sollen«, fragte Mr. Dick verlegen und kratzte sich hinter den Ohren. »Anfangen sollen?«

»Ja«, sagte meine Tante mit einem ernsten Blick und den Zeigefinger in die Höhe haltend. »Ich brauche einen vernünftigen Rat.«

»Hm, wie wäre es«, sagte Mr. Dick nachdenklich und mich mit leerem Blick ansehend, »ich würde –« mein Anblick schien ihm plötzlich einen Gedanken einzuflößen – und er ergänzte rasch: »ich würde ihn waschen.«

»Janet«, sagte meine Tante und drehte sich mit einem stillen Triumph, den ich damals noch nicht verstand, um: »Mr. Dick hat immer recht. Heize das Bad.«

Obgleich ich das größte Interesse an dem Gespräch hatte, konnte ich mich doch nicht enthalten, während desselben meine Tante, Mr. Dick und Janet genau zu beobachten und mich im Zimmer umzusehen.

Meine Tante war eine große Dame mit strengen Zügen, aber durchaus nicht bös aussehend. Es lag eine Unbeugsamkeit in ihrem Gesicht, in ihrer Stimme, ihrem Anzug und in ihrer Haltung, daß ich mir den Eindruck erklären konnte, den sie auf ein so sanftes Geschöpf, wie meine Mutter gewesen, gemacht hatte. Aber ihre Züge schienen eher hübsch als häßlich, wenn auch hart und streng; besonders fiel mir ihr lebhaftes blitzendes Auge auf. Ihr Haar, schon ziemlich ergraut, war unter einer unter dem Kinn zugebundnen Art Nachtmütze in zwei gleiche Teile geteilt. Ihr Kleid, lavendelfarbig und äußerst sauber, war knapp geschnitten, als wünschte sie so wenig wie möglich von ihm behindert zu sein. Es schien mir eigentlich ein Reitkleid zu sein, von dem man die Schleppe abgeschnitten hatte. Sie trug an der Seite eine goldne Herrenuhr, nach Form und Größe zu schließen und der Kette und den Siegeln daran, um den Hals einen Leinenstreifen wie einen Hemdkragen und an den Handgelenken Dinger wie Manschetten.

Mr. Dick hatte graues Haar und ein blühendes Gesicht, wie bereits erwähnt. Den Kopf trug er sonderbar gebeugt, aber nicht wegen des Alters, und seine großen Augen standen weit hervor und hatten einen eigentümlichen wässerigen Glanz, was mich zusammen mit seinem zerstreuten Wesen, seiner Unterwürfigkeit gegen meine Tante und seiner kindischen Freude, wenn sie ihn lobte, auf den Gedanken brachte, er müsse ein wenig verrückt sein, obgleich ich mir dann nicht erklären konnte, wie er hierher kam. Er war wie ein schlichter Gentleman mit weitem grauem Morgenrock, Weste und weißen Hosen bekleidet, trug seine Uhr und sein Geld lose in der Tasche und klimperte damit, als ob er sehr stolz darauf wäre.

Janet, ein hübsches frisches Mädchen, etwa neunzehn oder zwanzig Jahre alt, schien ein wahres Muster von Nettigkeit zu sein. Später erfuhr ich, daß sie eine aus der Reihe der weiblichen Schützlinge war, die meine Tante nach und nach mit der Absicht in Dienst genommen, Männerfeindinnen aus ihnen zu machen, die aber am Schluß gewöhnlich Bäcker geheiratet hatten.

Das Zimmer sah ebenso sauber aus wie Janet und meine Tante. Wenn ich nur einen Augenblick daran denke, rieche ich wieder die Seeluft, vermischt mit dem Dufte der Blumen, sehe die altmodischen und glänzend polierten Möbel meiner Tante, ihren geweihten Tisch und Stuhl, den großen runden Schirm im Bogenfenster stehen, den mit Läufern bedeckten Teppich, die Katze, den Kesselständer, die zwei Kanarienvögel, die Punschbowle, gefüllt mit trocknen Rosenblättern, den hohen Schrank mit seinen Flaschen und Töpfen und wundervoll gegen alles abstechend mein staubiges Ich auf dem Sofa.

Janet war fortgegangen, um das Bad zu heizen, als zu meinem größten Schrecken meine Tante plötzlich ganz starr vor Entrüstung wurde und nach Luft schnappend aufschrie:

»Janet! Esel!«

Sofort kam Janet die Treppe heraufgesprungen, als ob das Haus in Flammen stünde, stürzte auf einen kleinen Rasenfleck vor dem Haus hinaus und verscheuchte zwei von Damen gerittene Esel, die gewagt hatten, ihre Hufe auf den Rasen zu setzen, während meine Tante ihr auf dem Fuß folgte, den Zaum eines dritten Esels, auf dem ein Kind saß, ergriff, das Tier umdrehte, es zur Seite zog und dem unglücklichen Jungen, der den Esel geführt und die heilige Stelle zu entweihen sich unterstanden hatte, eins hinter die Ohren gab. Bis heute weiß ich nicht, ob meine Tante ein Recht auf diesen Rasenflecken besaß, aber jedenfalls hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, und das genügte ihr. Es war in ihren Augen eine große Untat, die nach beständiger Ahndung verlangte, wenn ein Esel diesen jungfräulichen Fleck betrat. Mochte sie in welcher Beschäftigung immer begriffen und die Unterhaltung noch so interessant sein, der Anblick eines Esels gab dem Gang ihrer Gedanken sofort eine andere Richtung und unverzüglich stürzte sie auf ihn los. Krüge voll Wasser und Töpfe standen an geheimen Plätzen bereit, um die Führer der Esel zu begießen, Stöcke lauerten hinter den Türen, Ausfälle wurden zu allen Stunden gemacht und ununterbrochen wütete der Krieg. Vielleicht war alles das eine angenehme Unterhaltung für die Jungen, und wahrscheinlich machte es den Klügern unter den Eseln, die die Sache durchschauten, in der ihnen eignen Hartnäckigkeit eine besondere Freude, gerade deshalb diesen Weg zu betreten.

Dreimal, ehe das Bad fertig war, wurde Lärm geschlagen und beim letzten und verzweifeltsten geriet meine Tante in ein Gefecht mit einem fünfzehnjährigen Burschen mit sandgelbem Haar, den sie mit dem Kopf an die Gartentür stoßen mußte, ehe er zu begreifen schien, worum es sich handelte. Diese Unterbrechungen kamen mir um so lächerlicher vor, als sie mir gerade Fleischbrühe einflößte, – sie hatte sich offenbar eingeredet, ich stünde dicht vor dem Hungertode und dürfte anfangs nur in kleinen Quantitäten Nahrung zu mir nehmen. In Erwartung des Löffels hielt ich noch den Mund offen, da legte sie das Besteck auf den Teller, rief: »Janet! Esel!« und eilte hinaus zum Kampfe.

Das Bad war eine wahre Erquickung für mich. Das Schlafen im Freien hatte mir Gliederschmerzen gemacht, und ich fühlte mich so matt, daß ich kaum fünf Minuten hintereinander wach bleiben konnte. Als ich mich gebadet, zog ich, das heißt, sie zogen mir – nämlich meine Tante und Janet – ein Hemd und ein Paar Hosen Mr. Dicks an und wickelten mich in zwei oder drei große Schals. Ich sah wie ein Paket aus und es war mir schrecklich heiß. Da mich überdies ein Gefühl von Mattigkeit und Schläfrigkeit überwältigte, schlummerte ich bald auf dem Sofa ein. Vielleicht träumte ich wieder von dem Bilde; ich erwachte mit der Vorstellung, daß meine Tante sich über mich gebeugt, mir das Haar aus dem Gesicht gestrichen, meinen Kopf bequemer gelegt und mich dann lange betrachtet hätte. Die Worte »hübscher Junge« oder »armer Junge« schienen mir auch noch in den Ohren zu klingen, aber sonst war bei meinem Erwachen nichts da, das mich hätte glauben machen können, meine Tante hätte gesprochen, denn sie saß unbeweglich am Bogenfenster und blickte hinter dem grünen Schirm hervor aufs Meer hinaus. Wir aßen, bald nachdem ich erwacht war, zu Mittag. Ein gebratenes Huhn und ein Pudding kamen auf den Tisch; ich selbst sah auch aus wie ein tranchierter Vogel und konnte meine Arme nur mit großer Schwierigkeit bewegen. Aber da meine Tante mich selbst eingewickelt hatte, durfte ich mich doch nicht beklagen! Die ganze Zeit über lag es mir sehr am Herzen, zu erfahren, was sie mit mir anzufangen gedenke. Aber sie nahm ihre Mahlzeit in tiefstem Schweigen ein, nur manchmal sah sie mich an und rief aus »Gott erbarme sich unser!« Und das war gar nicht geeignet, meine Besorgnisse zu verscheuchen.

Nachdem das Tischtuch entfernt war, kam Sherry, und ich erhielt auch ein Glas. Meine Tante schickte wieder nach Mr. Dick, der uns dann Gesellschaft leistete und so klug dreinsah, wie er nur konnte, als sie ihn aufforderte, meiner Geschichte zuzuhören, die sie durch eine Reihe von Fragen aus mir herauslockte. Während meiner Erzählung wandte sie kein Auge von Mr. Dick, der, wie ich glaube, sonst eingeschlafen wäre. Wenn er sich verleiten ließ, zu lächeln, wies ihn ein Stirnrunzeln meiner Tante in seine Schranken zurück.

»Was nur dem armen unglücklichen Baby eingefallen sein muß, daß sie noch einmal heiratete«, sagte meine Tante, als ich fertig war. »Ich kann es nicht begreifen.«

»Vielleicht hat sie sich in ihren zweiten Mann verliebt«, meinte Mr. Dick.

»Verliebt?« wiederholte meine Tante. »Was reden Sie da? Zu welchem Zweck?«

»Vielleicht«, simpelte Mr. Dick, nachdem er ein wenig nachgedacht, »vielleicht tat sie es zu ihrem Vergnügen.«

»Zu ihrem Vergnügen! Natürlich! Ein Mordsvergnügen für das arme Baby, ihr schlichtes Herz einem Schweinehund zu schenken, der sie in jeder Art enttäuschte. Was hat sie sich eigentlich dabei gedacht, möchte ich gern wissen? Sie hatte doch schon einen Mann gehabt, hatte David Copperfield begraben, der von Kindheit an Wachspuppen nachlief, besaß ein Kind – was brauchte sie mehr?«

Mr. Dick schüttelte geheimnisvoll den Kopf, als könne er sich über diesen Punkt nicht klarwerden.

»Sie brachte es nicht einmal fertig, ein Kind zu kriegen wie andere Leute«, sagte meine Tante. »Wo ist dieses Kindes Schwester Betsey Trotwood geblieben? Kam einfach nicht! Reden Sie nichts!«

Mr. Dick schien ganz erschrocken zu sein.

»Der kleine Doktor mit dem seitwärts geneigten Kopf, Jellips oder wie er sonst hieß, wozu war er denn da? Er konnte nichts, als wie ein Rotkehlchen, das er übrigens ist, sagen: ’s ist ein Knabe. Ein Knabe! Ha, über die Dummheit dieses ganzen Geschlechts!«

Über die Heftigkeit dieses Ausrufs erschrak Mr. Dick außerordentlich und, wenn ich die Wahrheit sagen soll, ich ebenfalls.

»Und dann, noch nicht genug damit, und als ob sie dieses Kindes Schwester Betsey Trotwood noch nicht genügend im Licht gestanden hätte«, sagte meine Tante, »heiratet sie zum zweiten Mal, geht hin und heiratet einen Mörder – oder so etwas dergleichen – und steht diesem Kind auch noch im Licht. Die natürliche Folge ist, was jeder, bloß ein Baby nicht, hätte voraussehen können, daß der Junge herumvagabundiert. Er ist, noch bevor er aufwächst, einem Kain so ähnlich wie möglich.«

Mr. Dick sah mich hart an.

»Und dann ist das Frauenzimmer mit dem heidnischen Namen da«, sagte meine Tante, »die muß natürlich auch heiraten. Weil sie noch nicht genug von dem Unglück gesehen hat, das bei so etwas herauskommen muß. Sie heiratet auch, wie das Kind erzählt. Ich hoffe bloß, meine Tante schüttelte den Kopf, – daß ihr Gatte einer von der Prügelsorte ist, von denen man immer in der Zeitung liest, und sie ordentlich verhaut.«

Das konnte ich von meiner alten Kindsfrau nicht mit anhören und versicherte meiner Tante, daß sie sich bestimmt irre, Peggotty sei die beste, treueste, hingehendste und aufopferndste Freundin und Dienerin von der Welt. Ich sagte, daß sie immer mich und meine Mutter von Herzen geliebt, – meiner Mutter sterbendes Haupt gestützt habe, und daß meine Mutter ihren letzten dankbaren Kuß auf ihr Gesicht drückte. Und da mich die Erinnerung an die beiden so sehr erschütterte, konnte ich nicht ausreden und erzählen, wie Peggottys Haus auch mein Haus sei, daß alles, was sie besäße, mein sei, und daß ich nur mit Rücksicht auf ihre bescheidene Stellung und aus Furcht, ihr Ungelegenheiten zu machen, nicht bei ihr Schutz gesucht habe. Tränen erstickten meine Stimme, und ich legte mein Gesicht auf den Tisch.

»Schon gut, schon gut«, sagte meine Tante, »das Kind hat ganz recht, wenn es zu denen hält, die ihm beigestanden haben. – Janet! Esel!«

Ich bin überzeugt, ohne das Dazwischentreten dieser unglückseligen Esel wären wir jetzt zu einer Aussprache gekommen, denn meine Tante hatte mir die Hand auf die Schultern gelegt, und ich war eben im Begriffe, dadurch ermutigt, sie zu umarmen und ihren Schutz anzuflehen. Aber die Unterbrechung und die Aufregung, in die sie durch den Kampf draußen geriet, machten vorderhand allen sanfteren Gefühlen ein Ende und veranlaßten meine Tante, sich in höchster Entrüstung gegen Mr. Dick über ihren Entschluß auszulassen, bei den Landesgesetzen Hilfe zu suchen und sämtliche Eselseigentümer von Dover zu verklagen.

Nach dem Tee setzten wir uns ans Fenster, – wie ich aus dem gespannten Gesicht meiner Tante schloß – um auf neue Eindringlinge zu lauern. Dann als es dämmrig wurde, brachte Janet Lichter und ein Pochbrett und ließ die Vorhänge herunter.

»Jetzt, Mr. Dick«, sagte meine Tante mit ernstem Blick und emporgehobenem Zeigefinger, »will ich Ihnen eine andere Frage vorlegen. Sehen Sie das Kind an.«

»Davids Sohn?« fragte Mr. Dick mit aufmerksamem und bestürztem Gesicht.

»Ganz richtig«, entgegnete meine Tante, »Davids Sohn. Was würden Sie jetzt mit ihm machen?«

»Mit Davids Sohn machen?« fragte Mr. Dick.

»Ja«, erwiderte meine Tante, »mit Davids Sohn.«

»O«, sagte Mr. Dick. »Ja. Mit ihm machen – ich würde ihn zu Bett bringen.«

»Janet!« rief meine Tante mit derselben triumphierenden Miene, die ich schon einmal an ihr entdeckt hatte. »Mr. Dick rät uns immer das beste. Wenn das Bett fertig ist, wollen wir David hinaufbringen.« Auf Janets Äußerung, daß alles bereit sei, wurde ich hinaufgeführt, freundlich, aber wie eine Art Gefangener. Meine Tante ging voraus, und Janet beschloß den Zug.

Der einzige Umstand, der mir Hoffnung einflößte, war, daß Janet auf die Frage meiner Tante, woher plötzlich so ein brandiger Geruch komme, antwortete, sie habe unten in der Küche aus meinem Hemd Zunder gebrannt. Überdies lagen in meinem Zimmer sonst keine Kleider außer den verrückten Sachen, in die man mich eingewickelt hatte. Als man mich mit einer kleinen Kerze, die, wie mir meine Tante sagte, genau fünf Minuten brennen würde und nicht länger, allein gelassen, hörte ich, wie sie draußen die Türe zuschlossen. Ich dachte darüber nach und kam zu dem Schluß, daß meine Tante mich wahrscheinlich im Verdacht hatte, es sei eine üble Gewohnheit von mir, davonzulaufen, und dagegen Vorkehrungen traf.

Das Zimmer, außerordentlich freundlich, lag oben im Hause mit der Aussicht auf das Meer hinaus, auf das der Mond jetzt glänzend schien. Ich sagte mein Nachtgebet her und blieb, als die Kerze ausgebrannt war, noch sitzen und blickte auf das mondbeschienene Wasser hin, als könnte ich darin mein Schicksal lesen oder meine Mutter mit ihrem Kind auf den Lichtstrahlen vom Himmel herabsteigen und mich mit ihrem lieblichen Antlitz, wie einst, anblicken sehen.

Das feierliche Gefühl wich allmählich einer Empfindung der Dankbarkeit und der Ruhe, die mir der Anblick des weißverhangenen Bettes und vielmehr noch die Rast in dem weißen Pfühl mit den schneeweißen Leinen einflößte. Ich erinnere mich, daß ich an alle die einsamen Orte dachte, wo ich unter dem Nachthimmel geschlafen, und betete, Gott möge mich nie wieder obdachlos werden und nie der Obdachlosen vergessen lassen. Ich erinnere mich, wie ich dann auf dem silbernen Dämmerschimmer des Mondlichtes in die Welt der Träume hinüberglitt.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Ein wunderliches Vorkommnis. – Ein lakonisches Schreiben. – Zwei wichtige Auftritte mit Mr. Hughesund, ein spaßhafter Auftritt mit einem neidischen Freunde. – Zurüstungen zu Grimaldis Verheiratung. – Erschöpfung nach den Strapazen mit einer neuen Rolle.

Es war heller Tag geworden. Die Sonne ergoß ein mildes Licht über die stillen Straßen, in denen man nur Leute erblickte, die zu Wasser oder zu Lande gekommen waren. Obwohl Grimaldi von Kindesbeinen an in London gelebt hatte, war ihm doch weit weniger davon bekannt als vielen Nichtlondonern, die die Hauptstadt nur einige Male besucht haben. So hatte er den Stadtteil, wo er sich jetzt befand, samt dem Tower, noch nie gesehen.

Seine Aufmerksamkeit wurde, da ihm alles neu war, durch tausenderlei Dinge fortwährend und aufs angenehmste beschäftigt.

Da fiel sein Auge plötzlich auf einen am Boden liegenden Gegenstand. Er stieß mit dem Fuße daran, und es klimperte. Da bückte er sich und erkannte nun in dem von Schmutz bedeckten Gegenstande eine große, mit Goldstücken gespickt volle Netzbörse.

Wie gelähmt von dem Anblick, sah er fortwährend vor sich, hin, ohne daß er sich getraute, die Börse anzurühren. Endlich konnte er sich aber nicht mehr beherrschen, guckte sich nach allen Seiten um, und nahm, als er sich unbemerkt und allein sah, die Börse in die Tasche.

Kaum aber bückte er sich, so fiel ihm ein zweiter Gegenstand in die Augen: ein dünnes Päckchen Papier. Auch das hob er mechanisch auf, und wer vermöchte sein Erstaunen zu schildern, als er, es untersuchend, wahrnahm, daß es einzig aus Banknoten bestand?

Noch immer war niemand zu sehen. Nicht einmal kommen hörte man jemand. Grimaldi ging in der Straße eine ganze Stunde hin und her, faßte jeden, der an ihm vorbeiging, scharf ins Auge, so scharf, daß jeder hätte meinen müssen, er wolle um etwas fragen, wolle fragen, ob jemand etwas verloren habe…

Aber nein! Niemand suchte oder fragte, oder gab durch irgend ein Anzeichen Unruhe oder Ärgernis zu erkennen.

So kehrte er, ohne jemand zu fragen, von dem sich hätte annehmen lassen, daß er die Grimaldis Meinung nach unermeßliche Summe verloren haben könne, schließlich langsam nach dem Postamte zurück.

Die ganze Zeit über und noch stundenlang nachher befand er sich in einer fast unbeschreiblichen Unruhe, war es ihm doch nicht anders zu Mute, als ob er einen schrecklichen Diebstahl begangen hätte, der alle Augenblicke entdeckt und schimpflich bestraft werden würde. Er zitterte dermaßen, daß er kaum gehen konnte. Das Herz hämmerte ihm förmlich, und Angstschweiß trat ihm aufs Gesicht. Je länger er über seine Lage sann, desto größer wurde seine Unruhe und seine Besorgnis. Wer würde, wenn man soviel Geld bei ihm fände, glauben wollen, daß er es gefunden hätte? Mußte es nicht all und jedem viel wahrscheinlicher vorkommen, daß er es entwendet habe? Und wenn er des Diebstahls angeklagt würde, durch welches Zeugnis könnte er sich rechtfertigen?

Mehr denn einmal fühlte er sich versucht, seinen Fund wegzuwerfen und auf und davon zu rennen, und nur durch die Besorgnis, daß er gesehen werden, daß er verhehlt werden könne, daß er so verwirrte Antworten geben könnte, daß man erst daraufhin die Anklage wegen Diebstahls gegen ihn erheben möchte, bestimmte ihn, diesen Einfall nicht zu verwirklichen. Nun sollte man aber meinen, es sei doch ein großes Glück, eine stattliche Summe Geldes zu finden; bei Grimaldi war dies aber keineswegs der Fall, er fühlte sich im Gegenteil kreuzunglücklich darüber und konnte all die quälenden Gedanken keine Minute los werden.

Nun kam er in die Gracechurch-Kirche, fand aber das Postamt noch immer geschlossen und machte sich deshalb durch die City-Road auf den Heimweg, die damals zwischen zwei, nur beim »Engel von Islington« durch ein paar Häuser unterbrochene von Obst- und Handelsgärten hindurch führte.

Diese Örtlichkeit erlaubte ihm seinen Schutz genauer zu beaugenscheinigen. Die Goldstücke, die die Börse enthielt, waren lauter Guineen; die Banknoten, die das Päckchen bildeten, schwankten zwischen fünf und fünfzig Pfund. Aber nach irgend einem Ausweis über Namen, Wohnort oder Persönlichkeit des Eigentümers suchte er vergebens.

Ein richtiger Schwindel befiel ihn. Die Hände zitterten ihm. Auf der Straße zu zählen, wäre ihm nicht möglich gewesen. Zu Hause aber zählte er seinen Fund: die Guinen beliefen sich auf 380 Stück, die Summe der Banknoten ergab 200 Pfund. In Summa hatte er also annähernd 600 Pfund gefunden.

Zwischen 7 und 8 Uhr kam er nach Hause, legte sich sogleich zu Bett und schlief mehrere Stunden. Als er erwachte, hatte sich über den Eigentümer der von ihm gefundenen Geldsumme noch nicht das mindeste herausgestellt. Er hätte es gar gern sein eigen genannt: aber es sich ungerechterweise zuzueignen, widerstrebte ihm, und darum nahm er sich vor, kein Mittel, das zur Entdeckung des Eigentümers führen könnte, unversucht zu lassen.

Trotz aller Erregtheit unterließ er aber nicht, den Rat zu befolgen, den ihm Mariechen gegeben, und noch einmal an den Papa zu schreiben.

Darauf überlegte er sorgsam, wie er sich am besten betreffs seines Fundes verhalte, und ging abends zu einem alten guten Freunde seines Vaters, der immer auf ihn viel gehalten hatte, und von dem er wußte, daß er ihm nur zum guten und rechten raten würde. Mit diesem Manne hatte er eine lange Unterredung, er machte geltend, daß ihm viel daran gelegen sei, das Geld im eigenen Nutzen zu verwenden, der alte Herr untersagte es ihm jedoch rundweg und mit so schlagenden Gründen, daß er sich seinem Urteil unterwarf und demgemäß handelte.

Acht Tage lang vigilierten nun beide in allen Londoner Blättern unter den Verlustanzeigen, ob sich eine Person nach dem Funde erkundige, aber sie fanden nirgendswo etwas. Nun erließen sie selbst eine diesbezügliche Anzeige unter der Gruppe Gefundene Gegenstände, mit genauer Angabe der Einzelheiten wo und wann die Geldsumme gefunden worden, wo und wie dieselbe abzuholen sei, u. s. w., aber es meldete sich niemand, und Grimaldi hat bis zu seiner letzten Lebensstunde nicht die geringste Spur von der Person entdecken können, die das auf so eigentümliche Weise in seinen Besitz gelangte Geld verloren hatte. Sein Großvater mütterlicherseits hatte übrigens einen halbwegs ähnlichen Fall erlebt. Es war seine Gewohnheit, am Donnerstag früh den Leadenhall-Markt zu besuchen, und zwar in der Regel mit ziemlich viel Geld im Beutel, da er dort alles einzukaufen pflegte, was er im Laufe der Woche brauchte.

So hatte er einmal 400 Pfund meist in Gold und Silber bei sich. Unweit von der königlichen Börse bemerkte er, daß ihm eine seiner Schuhschnallen aufgegangen war. Da ihm der schwere Geldbeutel beim Bücken hinderlich war, – er war nämlich ein gar wohlbeleibter Herr – zog er ihn aus der Tasche, setzte ihn auf einen Balken, zog die Schnalle fest, ging weiter, dachte aber mit keinem Atem mehr an seinen Beutel. Erst als er die Einkäufe bezahlen wollte, die er auf dem Markte gemacht, fiel ihm ein, wo er ihn hatte stehen lassen. Wie ein Sturmwind sauste er wieder an die Stelle zurück, wo er sich die Schuhschnalle festgemacht hatte, fand auch richtig den Balken wieder – und richtig auch noch den Beutel! Auf offner Straße! – Seitdem hat er aber nichts mehr stehen lassen, so alt er geworden ist.

Vier angstvolle Tage folgten nun, und vier angstvollere Wochen waren bereits vergangen, denn sechshundert Pfund und eine junge Frau standen auf dem Spiele. Da endlich – am fünften Tage – kam ein Brief von Mr. Hughes, die langersehnte Antwort!… Aber was stand in dem Briefe? Einen kürzeren mochte der Postbote wohl seit langem, oder überhaupt noch nicht ausgetragen haben, denn weiter nichts stand drin als die Worte:

»Lieber Grimaldi, Sie werden mich in einigen Tagen sehen.

Ihr ergebener

R. Hughes.

Also weder günstig, noch ungünstig! Man konnte aus der einzigen Zeile lesen, was man wollte. Aber es war wenigstens kein direkter Korb! Und als eine Beleidigung persönlicher Natur hatte Mr. Hughes Grimaldis Ansuchen nicht aufgefaßt. Das war immerhin ein Vorteil, wenn auch noch kein großer… Mr. Hughes schien also mit sich reden lassen zu wollen. Zu diesem Schlüsse gelangte Joe nach vielem Überlegen, und durch Mariechens Wiederkunft wurde er auch nicht trübseliger gestimmt.

Aber auf ihres Papas Schreiben schien sie nicht viel geben zu wollen, denn sie las es kaum durch, als Joe es ihr zeigte, sagte vielmehr, als er sich darüber wunderte:

»Ja, Sepp, wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, so ist Papa schon wieder zu Hause. Gestern habe ich ihn zum ersten Male wiedergesehen und er sagte mir bei der Gelegenheit, ich solle dir sagen, daß er dich am Montag früh in seiner Stube erwarte.«

Grimaldi schnitt ein Gesicht, wie ein Gerber, dem alle Felle weggeschwommen sind.

»Aber sei doch nicht töricht,« tröstete ihn Mariechen »ich sollte meinen, du könntest eher recht vergnügt dreinschauen.«

Aber Grimaldi wußte nicht, ob er hoffen oder fürchten müsse, und so brauchte es Zeit und Weile, bis es Mariechen gelang, ihn heiter zu stimmen. Sie selbst hatte Hoffnung, kannte sie doch ihres Papas gutes Herz… Schließlich sah also der verliebte Sepp der Stunde, die über sein Schicksal entscheiden sollte, mit Ruhe entgegen.

Endlich kam der bedeutungsvolle Montag. Seine Unruhe nach besten Kräften zu verbergen suchend, begab Grimaldi sich nach Sadlers-Well und traf dort den Vater seiner Herzallerliebsten im Kassenzimmer.

Mr. Hughes sagte ihm freundlich guten Tag, sagte ein paar gleichgültige Worte, setzte dann aber ernster hinzu:

»Sie wollen uns also verlassen, lieber Grimaldi, Sadlers-Wells und all Ihre alten guten Freunde? Und allein aus dem Grunde, weil Ihnen anderswo ein paar Pfund mehr geboten werden?«

Grimaldi war so verdutzt, daß er im ersten Augenblick kein Wort über die Lippen bringen konnte. Er sammelte sich aber rasch und erwiderte:

»Aber, Mr. Hughes, mein Ehrenwort, daß ich mit keinem Gedanken an so etwas gedacht habe… Es ginge doch schon deshalb nicht, weil ich mich Ihnen kontraktlich verpflichtet habe.«

»Sie denken wohl nicht daran, mein Lieber,« antwortete Mr. Hughes in strengem Tone, »daß Ihr Kontrakt abgelaufen ist?«

Das stimmte. Daran hatte Grimaldi nicht gedacht. Das also mußte er zugestehen.

»Es ist recht auffällig, mein lieber Grimaldi,« fuhr Mr. Hughes fort, »daß Ihnen ein so wichtiger Umstand aus dem Gedächtnis kommen konnte… Aber eins: Kennen Sie Mr. Croß?«

Mr. Croß war der Direktor des Zirkusses, aus dem später das Surrey-Theater wurde, und hatte Grimaldi wiederholt unter sehr günstigen Bedingungen für sich gewinnen wollen, zum letzten Male erst vor wenigen Tagen. Grimaldi hatte sich aber immer ablehnend verhalten, denn er hatte nicht die geringste Lust, Sadlers-Wells zu verlassen, wo er seit seiner Kindheit beschäftigt gewesen und sein Brot gehabt hatte.

Er merkte im Nu, daß ihn jemand bei Mr. Hughes anzuschwärzen versucht hatte. Zufällig hatte er die letzte Zuschrift, die er von Mr. Croß erhalten, bei sich, auch die Abschrift der Antwort, die er darauf gegeben, und überreichte sie Mr. Hughes zum Beweise seiner Rechtfertigung.

»Ich bin mit Mr. Croß nicht bekannt, Mr. Hughes,« sagte er dabei, »bin aber sehr froh, die zuletzt mit ihm gewechselten Briefe bei der Hand zu haben und Ihnen vorlegen zu können.«

»Sehr schön, sehr schön,« antwortete Mr. Hughes lächelnd, »und da Sie auf dem Standpunkte stehen, keinen Quartierwechsel zu lieben, wollen wir doch gleich über das neue Engagement sprechen. Ich zahle Ihnen jetzt vier Pfund in der Woche. Sie sollen hinfort drei weitere Saisons verpflichtet sein, in der ersten sechs, in der zweiten sieben, in der dritten acht Pfund wöchentlich bekommen. Ist’s Ihnen recht?«

Das war mehr als Grimaldi gerechnet hatte, und er sagte mit freudigem Herzen Ja. Mr. Hughes schien an der sofortigen Regelung gelegen zu sein, denn er ließ zwei Zeugen holen, und der Vertrag wurde ohne weiteres ausgefertigt und unterschrieben.

Hierauf wechselten sie noch einige Worte. Dann stand Mr. Hughes auf und sagte:

»Wir sehen uns wohl heute abend noch einmal. Ich will mir nämlich den Blaubart im Drury-Lane ansehen.« An der Tür drehte er sich aber noch einmal um und fragte: »Sonst haben Sie nichts auf dem Herzen?«

Jetzt war der Moment gekommen. Jetzt galt es, oder nie! Grimaldi spornte seinen Mut, gab seinen Wünschen und Bitten Ausdruck, erst in stockender, dann in immer geschwinderer Rede, bis er es endlich heraus hatte, daß von Mr. Hughes‘ Ja oder Nein sein und Mariechens Lebensglück abhinge…

Mr. Hughes antwortete, er habe sich die Sache nach allen Seiten hin reiflich überlegt, meine nur, daß wir beide noch ein bißchen jung zu solchem Entschlüsse seien, gab aber zuletzt seine Einwilligung und rückte Joe dadurch in den siebenten Himmel hinauf. Aber er schien noch ein weiteres tun zu wollen, denn er öffnete jetzt die Tür des anstoßenden Zimmers und rief hinein:

»Mariechen, hier ist Joe … vielleicht willst du ihm guten Morgen sagen?«

Mariechen, die natürlich ganz zufällig in dem Zimmer war, widersprach nicht als gehorsames Töchterlein, sondern sagte dem Freunde einen herzlichen Guten Morgen, und verdient hatte solchen auch Joseph für seine wahrhafte und treue Liebe!

In der schwärmerischen Verzücktheit beider Gemüter bemerkte weder Joe noch Mariechen, daß die Tür offen stand, und daß eine dritte Person Zeugin der holden Szene sein konnte…

Diesen Tag strich Grimaldi natürlich rot in seinem Kalender an. Ein Glück für ihn war es, daß er an diesem Abend im Drury-Lane-Theater erst im letzten Aufzuge auftrat und nur ein paar Worte zu reden hatte.

Als er dorthin kam, war Mr. Hughes schon anwesend und damit beschäftigt, die im letzten Aufzuge wirkenden Verwandlungsapparate zu besichtigen. Er hatte nämlich die Absicht, den Blaubart auch auf dem Exeter-Theater zu spielen, und gab Grimaldi zu verstehen, daß seiner Meinung nach der Apparat viel zu kompliziert sei. Grimaldi gab ihm hierin recht und setzte hinzu, daß der Apparat obendrein noch nicht einmal gut wirke. Grimaldi stand darüber insofern ein Urteil zu, als er sich in seinen Mußestunden viel mit der Erfindung von Modellen zu Verwandlungs- und Pantomimen-Coups befaßte. Das tat er bis zu seinem Tode und in seinem Nachlasse fanden sich auch recht viel solcher Modelle, darunter manches ganz ausgezeichnete. Im Dezember 1836 verkaufte er verschiedene davon aus Drury-Lane-Theater, die zum ersten Male in der Pantomime »Harlekin und Hexe Gurton« Verwendung fanden. Fast alle Maschinerien, die er sah, modellierte er und brachte nicht selten Verbesserungen an, was zufällig auch gerade bei der Maschinerie in dieser letzten Blaubart-Szene der Fall war.

Das kam ihm nun zu statten. Ihm lag natürlich viel daran, Mr. Hughes zu Diensten zu sein. Er kramte alles aus, was er von Modellen in Bereitschaft hatte. Mr. Hughes war darüber sehr erfreut, er bat ihn auf den kommenden Morgen zum Frühstück, forderte ihn auf, seine Modelle zu dem Verwandlungsapparat im Blaubart mitzubringen, was Grimaldi begreiflicherweise mit größtem Vergnügen tat. Hierbei sollte sich nun ein recht spaßhafter Auftritt abspielen.

Beim Sadlers-Wells-Theater waren damals ein paar Leutchen angestellt, die Grimaldi nicht sonderlich gewogen waren und aus Künstlerneid ihm mancherlei Tort antaten. Einer von ihnen hatte von einem Dienstmädchen, mit dem er zufällig bekannt geworden, gehört, es habe gesehen, wie Grimaldi Miß Hughes geküßt habe. Daraufhin ersuchte er Mr. Hughes um ein paar Minuten Gehör, als dieser vom Drury-Lane-Theater nach Hause kam und machte ihm von diesem Gerücht, natürlich nebst allerlei Ausschmückung und Erweiterung, ausführliche Mitteilung, streute allerhand Glossen ein über Grimaldis Undank, daß es nicht gerade nett von demselben sei, sich hinter dem Rücken der Eltern die Zuneigung der Tochter zu erschleichen, und ließ es schließlich an allerhand weisen und rührenden Kommentaren, wie sie bei solchen Anlässen Brauch zu sein pflegen, nicht fehlen…

Mr. Hughes hörte sich dies alles mit Seelenruhe an, worüber sich der Zuträger nicht wenig wunderte, bis ihm zuletzt der Einfall kam, daß sich hinter dieser gemütlichen Auffassung nur Grimm verhalte.

Mr. Hughes ließ ihn aber ruhig ausreden und fragte ihn dann, ob er ihm die Ehre geben wolle, ihn am andern Morgen in der neunten Stunde noch einmal zu besuchen?

»Ganz zu Befehl, werter Herr,« antwortete der Zuträger.

»Dawider werden Sie wohl nichts haben, daß ich Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit schon jetzt meinen Dank ausspreche? Es ist mir natürlich sehr lieb, von Dingen unterrichtet zu werden, die zu meinem häuslichen Glücke in so enger Beziehung stehen. Ein Gläschen Madera gefällig, Herr?«

»Sehr verbunden!«

Der »gute Freund« entfernte sich, nachdem er das Glas geleert hatte, und gratulierte sich, beim Weggehen, »Joe endlich etwas eingerührt zu haben.« – Das war nun allerdings so, nur nicht in seinem Sinne und seiner Absicht gemäß.

Grimaldi war am andern Morgen mit der Lerche auf und legte die letzte Hand an seine Maschinerie. Zufrieden mit seiner Arbeit, schob er die versprochenen Modelle in die Tasche und ging zum Frühstück.

In der Wohnung seines zukünftigen Schwiegervaters angelangt, hörte er von dem Dienstmädchen, das die Geschichte von dem heimlich gestohlenen Kusse herumgebracht hatte, daß Mr. Hughes ihn im Kassenzimmer erwarte. Der Ton, in welchem das Mädchen ihm die Mitteilung machte, weckte eine unbestimmte Furcht in ihm, als wenn sich etwas zugetragen hätte, das ihm sein ganzes Glück zu vernichten drohte.

»Ist Mr. Hughes allein?« fragte er.

»Nein, Herr! Es ist schon ein Herr bei ihm,« antwortete das Mädchen und nannte einen Namen, bei dessen Klange seine Besorgnisse noch höher stiegen.

Nichtsdestoweniger raffte er all seinen Mut zusammen und trat in das Kassenzimmer. Mr. Hughes erwiderte seinen Gruß mit seltsamer Kälte. Der »gute Freund,« der die Zwischenträgerei besorgt hatte, wandte sich ab, ohne ihn eines Blickes oder gar Wortes zu würdigen. Grimaldi kam sich vor, als ob er wie ein Verbrecher dastände…

Mr. Hughes nahm mit großer Förmlichkeit und Feierlichkeit das Wort… »Mr. Grimaldi,« sagte er, »ich habe Ihnen eine höchst wichtige Mitteilung zu machen. Wider Sie ist eine Anklage höchst ernsthafter Natur erhoben worden.«

»Sie sehen wohl, daß mich das aufs höchste überrascht, Herr,« erwiderte Grimaldi.

»Glaub’s Ihnen gern, Herr,« sagte der gute Freund, und über sein Gesicht huschte eine siegesbewußte Miene.

»Es scheint, als wenn die Anschuldigung wohlbegründet sei,« fuhr Hughes fort, »nur fürchte ich, daß Sie sich von ihr nicht werden reinigen können. Aber Ihr Recht soll Ihnen werden! Die Anklage soll in Ihrer Gegenwart erhoben werden. Wiederholen Sie, Sir, was Sie mir gestern abend erzählt haben.«

Der Zuträger ließ sich nicht nötigen, sondern tat es mit Worten, die von Bosheit überflossen, die von der Falschheit sprachen, sich in eine gastliche, in trautem Frieden lebende Familie zu schleichen, um einen Vater und einer Mutter eine geliebte Tochter zu rauben und ein junges, unerfahrenes Mädchen in der Achtung herabzusetzen. Dann erging er sich noch in der Schilderung all der Sorgen und Mühen, die einem Mädchen bevorständen, das sich einen wandernden Schauspieler an den Hals würfe.

Grimaldi war vor Verwunderung schier außer sich, und ganz außer sich wäre er fast geraten, als er sah, daß Mr. Hughes mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte, wie wenn er der Anschuldigung völligen Glauben schenkte, ja zuweilen sogar den guten Freund durch einen Blick oder ein Nicken ermutigte, was natürlich nicht dazu beitragen konnte, Grimaldis Zuversicht zu erhöhen.

»Sie befinden sich im vollen Rechte, mein Lieber,« sagte Mr. Hughes, »und dergleichen Aufführung ist absolut nicht zu entschuldigen, einen Umstand ausgenommen, nämlich…«

»Mr. Hughes,« nahm der Zuträger wieder mit Emphase das Wort, »Ihre Herzensgüte ist mir bekannt, so wohlbekannt, daß ich nicht zweifeln möchte, daß Sie, ungeachtet der Ihnen widerfahrenen schweren Kränkung, auch jetzt noch nach mildernden Umständen suchen. Sie erlauben mir wohl aber, als unparteiischem Beobachter, Ihnen zu sagen, daß es für einen Menschen gar keinen Entschuldigungsgrund gibt, der sich in die Neigung einer jungen, unendlich hoch über ihm stehenden Dame einschleicht, die obendrein eines Mannes Tochter ist, dem er zum größten Danke verpflichtet ist.«

»Bitte, nur eine halbe Minute Gehör, lieber Mann,« erwiderte Mr. Hughes in auffallend ruhigem Tone.

»Von Herzen gern, mein werter Sir!« »Sie haben mich gerade in dem Augenblick – wie ich wohl beifügen darf, in einer etwas wenig manierlichen Weise – unterbrochen, als ich Ihnen wiederholen wollte, daß auch ich für ein solches Verhalten eines jungen Menschen keinen Entschuldigungsgrund finden möchte, sofern ein solcher Mensch sich nicht der Einwilligung seitens der Eltern des Mädchens versichert hat. Im letztern Falle steht es ihm allerdings frei, sich um die Gunst des Mädchens zu bemühen, wenn sie geneigt ist, sie ihm zu gewähren.«

»Zweifellos, zweifellos,« versetzte der Ankläger, »aber in dem Falle, über den wir diskutieren…«

»In dem Falle, über den wir diskutieren,« wiederholte Mr. Hughes, »verhält es sich so, wie ich meine. Meine Tochter ist im Besitze der elterlichen Erlaubnis, Mr. Grimaldi zum Manne zu nehmen, und da sie, meines Wissens, mit Mr. Grimaldi einig ist, wird sie von dieser Erlaubnis wohl recht bald Gebrauch machen.«

Der gute Freund saß da, wie vom Donner gerührt, Grimaldi aber war vor Vergnügen schier außer sich. Endlich ging ihm ein Licht auf, endlich verstand er, daß Mr. Hughes den Zuträger auf eine feine, vorwurfsfreie Weise hatte ablaufen lassen wollen, vielleicht sogar nicht frei von Schadenfreude war und sich auf Kosten des Unheilstifters ein Späßchen machen wollte. Mit ernster Miene, doch sichtlich nur unter Aufwand von Anstrengung imstande, ein Lächeln zurückzuhalten, sagte er zu seinem künftigen Schwiegersohne:

»Immerhin war es nicht ganz in der Ordnung, mein lieber Joe, meiner Tochter vor allen Leuten einen Kuß zu geben, und falls es Ihnen oder meiner Tochter neuerdings beikommen sollte, sich solchen Genuß nicht versagen zu wollen, so möchte ich doch recht sehr gebeten haben, das nur unter vier Augen abzutun. Ein wenig Rücksicht auf die zurzeit herrschende Sitte ist doch notwendig, und ich meine, sie dürfte auch dem Zartsinne der in Frage stehenden jungen Dame genehmer liegen.«

Hierauf schnitt Mr. Hughes dem diensteifrigen guten Freund einen tiefen Bückling, machte die Tür auf und befahl dem zunächst stehenden Diener, »den Herrn bis zur Tür zu geleiten.«

Er selbst begab sich mit Grimaldi zum Frühstück, an dem auch sein Töchterchen teilnahm.

Von diesem Augenblicke an war endlich treuer Liebe die Bahn geebnet, und alles weitere Verhalten des Mr. Hughes gegen Grimaldi legte sattsam Beweis für die Wertschätzung ab, die dieser ihm durch seine oft unter widrigen Verhältnissen aufrecht erhaltene Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit abgewonnen hatte.

Am Sonnabend nach dem erzählten Auftritte wurde mit der Einrichtung der gemieteten Wohnung begonnen, und am Ostersonntage folgte das erstmalige Aufgebot des jungen Paares.

Wie immer nahmen die Vorstellungen im Sadlers-Wells-Theater am Ostermontage ihren Anfang, und Grimaldi trat in einer neuen Rolle auf, die noch bedeutender war als all seine bisherigen, und durch deren brillante Durchführung ihm neuer Ruhm erstehen sollte.

Vier bis fünf Monate hatte er verhältnismäßige Ruhe gehabt. In seiner neuen Rolle, die ihn recht angriff, begann er indessen zu fühlen, daß auch ihn das Los seines Standes ereilen sollte, Abnahme und Erschlaffung der Kräfte infolge von allerhand körperlichen Gebrechen, die anderen Menschen vorenthalten zu bleiben pflegen.

Es wurde ihm unaufhörlich Beifall gespendet, der ihn aber zu immer neuen Anstrengungen spornte, und die Folge davon war, daß er am Schlusse der Vorstellung immer so erschöpft war, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte, den kurzen Weg bis zu seiner Wohnung nur mit großer Mühe zurücklegen konnte und sich sogleich zu Bett legen mußte.

In seinen späteren Jahren war seine Rede oft, daß ihm die glänzenden Einnahmen, die er machte, die schwere Mühe, die ihm die Durchführung seiner Rollen verursacht, auch nur eben wett gemacht hätten, und daß er um kein Pfund dabei besser gefahren sei als Leute, denen es beschert sei, in Ruhe und mit Gemächlichkeit einen regelmäßigen Verdienst zu haben und dabei alt zu werden, statt sich in einer verhältnismäßig kurzen Zeit völlig abzuwirtschaften.

Grimaldis Worte sind nur zu wahr; sie beruhen auf der Erfahrung eines lange, und nicht immer freudigen Lebens. In der Tat kann nur sehr gute Einnahme solchen Künstlern – besonders dann, wenn sie leicht erregbar und empfindsam sind wie eben Grimaldi – das Los eines frühen Alters mit all seiner Pein und Trübsal einigermaßen vergüten helfen.

Am Morgen nach, dem erstmaligen Auftreten in seiner neuen Rolle erwachte Grimaldi gestärkt und erquickt in der elften Stunde. Er erschrak beinahe, als er den Blick auf die Uhr richtete, denn sonst pflegte er schon um sieben Uhr angekleidet zu sein, sich mit der Fütterung seiner Tauben zu befassen, oder die Geige zu spielen, oder seine Modelle zu fertigen. Müßiggang war ihm unausstehlich; er verbitterte ihm das Leben, und für die Wonne »süßen Nichtstuns« konnte er niemals Verständnis gewinnen.

Bei neuen Stücken pflegt der Vormittag nach den ersten Vorstellungen der Repetition zu gehören: es gilt, Längen auszumerzen und Verbesserungen vorzunehmen, wie sie durch das Spiel als wünschenswert sich herausstellen. Selbstverständlich müssen dann alle, die in dem Stücke auftreten, erscheinen, weil sich ja in allen Rollen Änderungen ergeben können. In dem neuen Stücke hatte Grimaldi nun eine Hauptrolle. Es war ihm deshalb höchst unangenehm, solange geschlafen zu haben. Ohne die geringste Säumnis kleidete er sich an und eilte ins Theater.

Sechstes Kapitel.


Sechstes Kapitel.

Verdrießliche und vergnügliche Auftritte mit »dem alten Lukas« und in Gegenwart des Friedensrichters Blamire. – Mysteriöse Erscheinung eines Silberstabes. – Eine Wette mit einem gespaßigen Freunde auf der Dartforder Chaussee. – Der Prinz von Wales, Sheridan und das Töpfermädchen.

Der ganze Bezirk, den jetzt Claremont, Myddleton, Lloyd und Wilmington bilden nebst den zahllosen, nach allen Richtungen hin auslaufenden Straßen und Gassen, war damals Wiesen-, Weide- und Gartenland und hieß »die Sadlers-Wells-Felder.« Auf seinem Wege zwischen dem Schauspielhause hin und zurück mußte Grimaldi dieses freie Land passieren.

Nun waren gerade an diesem Morgen wohl an tausend Personen hier zusammengelaufen, hergelockt durch das Vergnügen einer Stierhetze – damals beim niederen Volk ein höchst beliebter Sport, trotzdem mit ihm schwere Gefahren verbunden waren. Zum Heil für alle friedliebenden, ruhigen Menschen sind diese rohen Hetzen schon von der Tagesordnung geschwunden; sie lassen sich schon aus dem Grunde nicht mehr ausführen, weil es an dem dazu erforderlichen Raume fehlt, was vor einem Vierteljahrhundert noch nicht der Fall war.

Grimaldi blieb stehen und überlegte, ob es nicht klüger sein möchte, wieder umzukehren und einen wenn auch weiteren, doch ungefährlicheren Weg zu wählen. Da faßte ihn ein junger Mensch, den er noch niemals gesehen, scharf ins Auge, trat auf ihn zu und fragte ihn, ob er nicht Grimaldi heiße.

»Allerdings, Herr!« antwortete Grimaldi; »darf ich aber um Auskunft darüber bitten, was Sie zu dieser Frage veranlaßt?«

»Ach,« sagte der junge Mensch, auf einen nicht weit abstehenden Menschen zeigend, »ich hörte vor einigen Augenblicken von dem alten Herrn dort Ihren Namen.«

Dieser »alte Herr« war damals in ganz Clerkenwell und Umgebung allgemein bekannt, aber ebenso allgemein unbeliebt. Er war nämlich der Kirchenspielpolizist, und derlei Amtspersonen sind in der Regel keine gern gesehenen Persönlichkeiten, »der alte Lukas« war aber der bestgehaßte seiner Art, und zwar, sofern man den Geschichten glauben darf, die über ihn im Umlaufe sind, auch mit Fug und Recht, war er doch, mit einem Worte, ein so recht hartgesottener Sünder, von dem es allgemein hieß, daß er nicht davor zurückschreckte, Anklagen zu ersinnen, wenn es eine Weile zu ruhig im Bezirke zugegangen war, so daß es ihm an Material dazu aus der Praxis fehlte. Geld brauchte er immer und war im wesentlichen auf die kleinen Prämien angewiesen, die er für Denunziationen bekam, wenn in dem daraufhin angehängten Prozesse ein Strafurteil gefällt werden konnte.

Da Grimaldi nur allzu gut wußte, was die Leute vom »alten Lukas« hielten, setzte ihn die Mitteilung des jungen Menschen in Verwunderung, und zwar in durchaus nicht angenehme. Nicht frei von Unruhe fragte er deshalb den jungen Menschen, ob er sich auch nicht geirrt habe, daß der Polizist gerade seinen, nämlich Grimaldis Namen genannt habe.

»Ich weiß es ganz bestimmt, Herr,« antwortete der junge Mensch, »und kann mich umso weniger irren, als er Ihren Namen in sein Buch schrieb und zu einem bei ihm stehenden Manne sagte, wenn er wollte, könnte er Sie alle Tage festnehmen lassen.«

»Der Geier soll ihn holen!« rief Grimaldi, »was kann er mir am Zeuge flicken wollen? Auf alle Fälle danke ich Ihnen für Ihre Mitteilung, so unerfreulich sie mir auch sein muß.«

Sie gingen auseinander. Der junge Herr mischte sich unter den großen Haufen, Grimaldi drehte um und begab sich auf dem weitesten Umwege, den er machen konnte, nach dem Theater, um einesteils dem alten Lukas, andernteils dem rasenden Stiere aus dem Wege zu gehen.

Er bekam aber, sobald er den Fuß ins Theater gesetzt, alle Hände voll zu tun, daß er den ganzen Vorfall schnell vergaß. Erst als er gegen Abend sich wieder ins Theater verfügte, wurde er durch einen Zufall daran erinnert und erzählte ihn einigen intimeren Bekannten, wie zum Beispiel dem trefflichen Komiker Dubois, dem Schauspieler Davis und dem gefeierten Seiltänzer Richer.

Er wurde gründlich ausgelacht und eine ganze Zeitlang mit dem alten Lukas und dessen Anschlägen wider ihn derb gehänselt.

»Dieser Spitzel,« rief Dubois, während sich sein Gesicht in sehr ernste Falten legte, »ist ein ausgefeimter Bösewicht, der sich vor keiner Lüge scheut und unsern Joe an den Galgen brächte, wenn er damit ein paar Pfund oder Schillinge verdienen könnte. Sie können sich drauf verlassen, Grimaldi, daß er Ihren Namen ohne allen Grund aufgeschrieben hat.«

»Dieser Meinung bin ich auch,« sagte Davis, »sicher will er sich mit Joe ein gutes Stück Geld holen, aber seien Sie deshalb nicht bange, Joe, die Sache wird schon schief gehen.«

Grimaldi wurde es sehr ernst zumute, aber nun fingen die Freunde erst recht an zu kohlen, ließen allerhand Andeutungen über die Missetat fallen, die ihm der böse Polizist aufs Kerbholz geschrieben hätte, und während der auf ein sittliches Vorgehen, der andere auf Fälschung, ein dritter gar auf Mord und Totschlag plädierte, meinte ein vierter, der den Versuch karikierte, den armen Sünder mit den letzten Tröstungen zu versehen, mit heiterem Lachen, so schlimm dürfte die Geschichte schließlich doch wohl nicht werden, trotzdem diesem Bösewicht von Polizist ein ziemlich starker Einfluß nicht abgesprochen werden könne, und in der Regel keiner, der von ihm in die Schere genommen würde, straffrei ausginge. Darauf ließe sich zwei gegen eins wetten.

Grimaldi entging es nicht, daß sich hinter allem Scherz und Spott seiner Freunde ein gewisser Ernst versteckte; er konnte sich deshalb einer gewissen Beklommenheit nicht erwehren und suchte sich klar zu werden, was der alte Lukas eigentlich gegen ihn vorbringen könnte. Da trat ein Diener vom Theater raschen Schrittes zu ihm herein und meldete, daß ihn jemand auf der Stelle zu sprechen verlange.

»Wer denn, mein Lieber?« fragte Grimaldi, nicht wenig erschrocken.

»Ein Mann mit einer Brille – ich glaube, es ist kein anderer als der alte Lukas,« sagte der Diener.

Alle Anwesenden brachen zuerst in ein schallendes Gelächter aus, versicherten sodann aber Grimaldi ihres eifrigsten Beistandes. Grimaldi selbst stand wie versteinert da. Komiker Dubois meinte:

»Na, Joe, Scherz muß sein, und Sie wissen ja zu spaßen und zu scherzen. Sollte sich aber Scherz in Ernst wandeln wollen, dann seien Sie versichert, daß wir dem Sackermenter von Polizisten die Zähne zeigen werden.«

Die andern guten Freunde sprachen sich in demselben Sinne aus. Grimaldi dankte ihnen auf das wärmste, denn jetzt machte er sich schon die schwärzesten Gedanken. Es wurde beschlossen, mit Grimaldi vors Haus hinunterzugehen, den alten Lukas aber, falls er es sich herausnehmen sollte, ungezogen oder gar frech zu werden, in den Kanal zu stoßen, damit er sich dort ein wenig abkühle. Grimaldi wurde nun von seinen Freunden in die Mitte genommen und zu dem vorm Hause wartenden Polizisten geführt.

Alle fragten durcheinander, was von dem Freunde begehrt würde.

Lukas würdigte sie keiner Antwort, sondern herrschte Grimaldi zu, er müsse auf der Stelle mit ihm nach Hatton Garden hinüber. »Aber,« setzte er hinzu, »beeilen Sie sich! Ich habe keine Zeit zu warten.«

Es erhob sich ein verworrenes Geschrei. Alles wünschte den Wicht dorthin, wo der Pfeffer wächst, und fragte nach dem Haftbefehle. Lukas würdigte auch jetzt keinen der Schreier einer Antwort, sondern stellte an Grimaldi die kurze und bündige Frage, ob er der Aufforderung gutwillig folgen wolle oder nicht. Ein einstimmiges Nein donnerte ihm entgegen.

»Hören Sie, Lukas,« sagte Komiker Dubois, »Sie sind ein alter Halunke, was niemand besser weiß, als Sie selber. Wir meinen, es kanns auch niemand leichter beweisen als Sie selber. Ehe wir aber zugeben, daß Mr. Grimaldi Sie begleitet, verlangen wir Vorweis des Haftbefehls, der Ihnen das Recht gibt, hier so aufzutreten. Haben Sie aber keinen Haftbefehl, dann rate ich Ihnen, sich schleunigst auf die Strümpfe zu machen, wenn Sie nicht getaucht werden wollen.«

Diese Ansprache wurde durch ein allgemeines Beifallsgeschrei beantwortet, in das noch andere, die inzwischen sich angefunden hatten, einstimmten.

»Mr. Dubois,« sagte Lukas, sobald er sich Gehör verschaffen konnte, »mit Ihnen habe ich gar nichts zu schaffen. Und an Sie, Mr. Grimaldi, richte ich neuerdings die Frage, ob Sie meiner Aufforderung zu folgen bereit sind, oder nicht.«

»Nur, wenn Sie den Haftbefehl vorzeigen,« rief der Seiltänzer, »sonst lassen wir ihn nicht aus unsrer Mitte.«

»Nein – ohne Haftbefehl darf er nicht weg,« rief auch Schauspieler Davis.

»Unter keiner Bedingung anders,« sagte nun auch Dubois. »Ich sage Ihnen, rühren Sie ohne Haftbefehl bloß den Finger, so liegen Sie.«

»Was meinen Sie?« fragte Lukas, »wo soll ich dann liegen?«

»Unten im Kanale,« antwortete Dubois, »und zwar dort, wo er am tiefsten ist.«

»Jawohl, tief unten im Kanale,« riefen auch alle anderen.

Dem Polizisten wurde es doch ein wenig bange, und während aus aller Kehlen ein wieherndes Gelächter erscholl, sagte er in einem weit sanfteren Tone:

»Nun, einen Haftbefehl habe ich ja freilich nicht, weil nur selten danach gefragt wird, weiß doch jeder, daß ich Amtsgewalt zu üben beauftragt bin. Genügt das aber Mr. Grimaldi und seinen Bekannten nicht, dann will ich nicht darauf bestehen, daß er auf der Stelle mitkommt, sondern mich mit seinem und der anderen Herren Versprechen begnügen, daß er morgen vormittag um elf Uhr in Hatton Garden vor Mr. Blamire erscheinen wird.«

Dieses Versprechen wurde dem Polizisten gegeben, worauf er sich zum Gehen anschickte. Der Leute waren es aber immer mehr geworden, die die von Grimaldis Freunden gebildete Gruppe umringten, und gleich darauf erklang eine Stimme aus dem Haufen:

»Hallo, Joe, was gibt’s denn hier?«

Dubois trat auf die oberste Treppenstufe und rief in heftiger Erregung:

»Weiter nichts, Kinder, als daß der Sackermenter von Ortspolizist unsern Joe Grimaldi ins Gefängnis abführen will!«

»Und weshalb? weshalb?« fragten alle.

»Ein Grund liegt gar nicht vor,« rief Dubois.

Da der Haufe immer ärger schrie, beschleunigte Lukas seine Schritte, konnte aber erst das Weite gewinnen, nachdem er einen förmlichen Regenschauer von Erdklößen, faulen Äpfeln und dergleichen Dingen über sich hatte ergehen lassen müssen.

Die Vorstellungen nahmen ihren Fortgang wie gewöhnlich, und Grimaldi begab sich heim, nachdem ihm all seine Freunde bestimmt versprochen hatten, ihn am anderen Morgen auf das Polizeiamt zu begleiten. Es wurde auch alles mögliche getan, den jungen Menschen wieder aufzufinden, der Grimaldi auf die Absichten, mit denen sich Lukas wider ihn trug, aufmerksam zu machen.

Zur festgesetzten Zeit erschien Grimaldi in Begleitung seiner Freunde auf dem Polizeiamte. Der Friedensrichter Blamire begrüßte sie sehr verbindlich und stellte an Lukas die Aufforderung, sich darüber auszusprechen, was ihn veranlaßt habe, Mr. Grimaldi laden zu lassen.

Der Polizist erzählte mit großer Zungenfertigkeit, Mr. Grimaldi habe sich dadurch vergangen, daß er sich an einer Stierhetze beteiligt habe, auch andere Personen zur Teilnahme daran angestiftet und aufgereizt habe. Der Stier sei wild geworden, wodurch viele Menschen in Lebensgefahr gebracht worden waren. Er habe dies alles mit eigenen Augen mit angesehen und berufe sich zur Erhärtung seiner Angaben auf das Zeugnis verschiedener Personen. Darauf rief er die Leute herein, mit denen ihn tags vorher Grimaldi hatte zusammenstehen sehen, und sie bestätigten alle Aussagen des Polizisten.

Nun wurde der also Beschuldigte aufgefordert, vorzubringen, was zu seiner Entlastung dienen konnte. Er berichtete, was ihm passiert war, der junge Mensch, der auf der Wiese zu ihm getreten war und ihm gesagt hatte, daß der Polizist sich mit anderen Leuten über ihn unterhalten habe, bestätigte Grimaldis Aussagen und bezeugte unter seinem Eide, daß Grimaldi nur ein paar Augenblicke auf der Wiese gestanden habe, mit der Stierhetze nicht bloß nichts zu tun gehabt habe, sondern ihr vielmehr aus dem Wege gegangen sei.

Mr. Blamire, der Friedensrichter, nahm alles zu Protokoll mit Ausnahme verschiedener unverblümter Äußerungen aus Dubois‘ und anderer Munde über das schlechte Renommee, in welchem der Polizist Lukas bei der Bevölkerung stände. Dann hielt er Grimaldi folgende kleine Standrede:

»Mein lieber Mr. Grimaldi, ich glaube ja gern, daß Ihre Darstellung der Vorgänge in jeder Hinsicht der Wahrheit entspricht. Es bleibt mir aber nichts anderes übrig als auf Grund der Aussagen des Polizisten Lukas und der von ihm beigebrachten Zeugen gegen Sie auf eine Ordnungsstrafe zu erkennen, die indessen für Sie nicht von erheblicher Belastung, dem Ankläger in keiner Weise zu persönlichem Vorteil sein soll. Hätten Sie sich ohne weiteres von der Wiese entfernt, ohne sich mit dem jungen Herrn hier in ein Gespräch einzulassen, so hätte der Ankläger nicht das geringste Moment zur Stützung seiner Aussage für sich gehabt. So kann man ihm den guten Glauben seiner Auffassung der Sachlage nicht wohl absprechen. Ich nehme Sie also nur deshalb in eine Ordnungsstrafe von fünf Schilling und erkläre, daß Sie sofort in Freiheit gesetzt werden sollen, sobald Sie diese Strafe erlegt haben. Ihnen aber, Polizist Lukas, rate ich in aller Freundschaft, sich künftighin, besonders inbetreff Ihres Zeugnisses, größerer Gewissenhaftigkeit zu befleißigen.«

Grimaldi erblickte in dieser Entscheidung eine vollständige Genugtuung, und seine Freunde ebenfalls. Die fünf Schillinge wurden gezahlt, Grimaldi entrichtete sogar noch einen Extra-Schilling für den Büttel, der ihn von Amtswegen bis zur Tür geleiten mußte. Dann begaben sich alle guten Freunde Grimaldis in die dem Sadlers-Wells-Theater nächstgelegene Schänke, den errungenen Sieg zu feiern. Bei einem guten Frühstück machten sie sich über das essigsaure Gesicht lustig, das Lukas gezogen hatte, als der Friedensrichter seinen Spruch fällte, ließen es auch an mancherlei Glossen über die wunderliche Landesgesetzgebung nicht fehlen, die einen Friedensrichter in die Zwangslage setzte, einen Menschen, der als eidbrüchig bekannt war, zum Schwure zuzulassen, weil er Polizist ist, und daraufhin eine von solchem Menschen angezeigte Person in Strafe zu nehmen, trotzdem er von ihrer Unschuld überzeugt ist.

Sie waren eben in der lebhaftesten Diskussion über dieses Thema, als die Tür aufgerissen und von dem Aufwärter hereingerufen wurde:

»Meine Herren, Polizist Lukas!«

Ein allgemeines Gelächter wurde laut, denn alles hielt die Sache für einen üblen Scherz. Auch Grimaldi stimmte in das Gelächter ein. Aber er sowohl als seine Freunde sollten ihren Irrtum schnell gewahr werden, denn nach wenigen Sekunden erschien Lukas auf der Schwelle.

Zornig schrie Dubois ihm entgegen:

»Wie können Sie sich erdreisten, Mann, unberufen hier einzudringen?«

»Ich habe meines Amtes zu walten,« antwortete Lukas tückisch, »Mr. Grimaldi ist in eine Strafe von fünf Schillingen genommen worden, hat aber weder Streifgeld, noch den üblichen Freilassungsschilling an den Büttel entrichtet. Er ist also nach wie vor in Haft.«

Grimaldi erwiderte, daß Lukas sich im Irrtum befände, da er beim Friedensrichter bare sechs Schilling entrichtet habe. Seine Freunde bestätigten diese Aussage.

Lukas aber erwiderte tückisch:

»Das kann sein, kann auch nicht sein. Sie bezahlen jetzt entweder – vorbehaltlich amtlicher Feststellung Ihrer Aussage – oder Sie folgen mir aufs Amt zurück.«

Darauf erklärte Grimaldi, daß es ihm gar nicht einfiele, der Aufforderung des Mannes zu folgen.

»Ei, das wollen wir sehen,« versetzte Lukas und trat auf Grimaldi zu.

»Keinen Schritt weiter,« rief Grimaldi, außer sich, »oder ich schlage Sie nieder wie einen Hund!«

Lukas ließ sich aber nicht einschüchtern, sondern fiel über Grimaldi her, riß ihn vom Stuhle, suchte ihn zur Tür hin zu zerren, zerriß ihm dabei Kragen und Weste. Nun aber machte Grimaldi seine Drohung wahr und streckte den Polizisten mit einem Hieb auf die Nase, der einen kräftigen Bluterguß zur Folge hatte, zu Boden.

Lukas war aber ebenso schnell wieder auf den Beinen, zog seinen Amtsstab aus der Tasche und schickte sich zum Wiederbeginne des Kampfes an, als sich ein bislang unbeteiligter fremder Herr von seinem Stuhle erhob, einen silbernen Stab aus seinem Rocke nahm und ihn drohend dem Ortspolizisten vor die blutige Nase hielt…

»Ich dulde hier keine Gewalttätigkeit mehr. Wer an dem Falle beteiligt ist, verfüge sich zum Polizeiamt. Ist Mr. Grimaldi – wie ich – nach allem, was ich mitangehört, nicht bezweifle – in seinem Rechte, dann werde ich Sorge tragen, daß auch Ihnen, Polizist Lukas, zuteil werde, was Ihnen von Rechtswegen zusteht.«

Brummend fügte sich Lukas dem Spruche. Mr. Blamire war nicht wenig verwundert über ihr Wiedererscheinen, erschrak aber nicht wenig, als er des Polizisten blutige Nase erblickte, schien aber den Herrn mit dem silbernen Stabe sehr genau zu kennen, denn er begrüßte ihn mit außerordentlicher Höflichkeit.

Mr. Blamire forderte zuerst Lukas auf, seine neuerliche Beschwerde vorzubringen. Lukas behauptete, Mr. Grimaldi sei mit dem Strafgelde noch im Rückstande. Mr. Blamire ließ den Schreiber hereinkommen, der aber sogleich, mit einem bedeutsamen Seitenblick auf den Polizisten – erklärte, sowohl der Strafbetrag, als auch der Freilassungsschilling seien pünktlich entrichtet worden.

»Und Sie haben Hand an Mr. Grimaldi gelegt?« fragte Mr. Blamire.

»Auf Grund meiner Annahme, das Strafgeld sei noch nicht entrichtet,« erklärte Lukas.

»Und Mr. Grimaldi hat Ihnen die Nase blutig geschlagen?« fragte Mr. Blamire.

»Ja, Sir,« antwortete Lukas.

»Nun, die blutige Nase haben Sie mit sich selbst abzumachen,« erklärte Mr. Blamire, während Grimaldis Freunde ein wieherndes Gelächter anstimmten. »Und nun, Mr. Grimaldi, Ihre Äußerungen zur Sachlage?«

Grimaldi erzählte mit kurzen Worten, wie sich der Vorfall abgespielt hatte. Der Herr mit dem silbernen Stabe bestätigte die Wahrheit von Grimaldis Darstellung und setzte noch allerhand abfällige Bemerkungen über das gewalttätige Auftreten und Verhalten des Polizisten hinzu.

»Wer der Herr mit dem silbernen Stabe war,« sagte Grimaldi, als er über den ärgerlichen Vorfall zuhause sprach, »weiß ich nicht und habe es auch nicht in Erfahrung bringen können. Es muß aber, nach der großen Ehrfurcht, die ihm auf dem Polizeiamte entgegengebracht wurde, ein sehr vornehmer Herr sein. Später sagte man mir, es müsse der Londoner Friedensmarschall gewesen sein, der die Gewalt besäße, überall in England seines Amtes zu walten. Ich kann es aber nicht sagen, ob es sich so verhält oder nicht.«

Mr. Blamire diktierte Lukas eine Buße von fünf Pfund, die der Armenkasse zufallen sollte, verurteilte ihn auch, Grimaldi Abbitte und Entschädigung zu leisten.

Lukas schäumte vor Wut, wie der wilde Stier, die eigentliche Ursache des Mißgeschicks, das sich hinfort an seine Fersen heftete, und vermaß sich in allerhand respektwidrigen Reden, daß es ihm im ganzen Leben nicht einfallen würde, auch nur einen Heller, geschweige fünf Pfund, zu bezahlen. Darauf befahl Mr. Blamire, ihn abzuführen und in Haft zu nehmen – zur großen Befriedigung Grimaldis sowohl als seiner Freunde – nicht minder auch der Polizisten, Schreiber und Frone, die über das unlautere Wesen ihres Kollegen recht gut unterrichtet waren, es aber auch für ihre besondere Pflicht ansahen, alles was Mr. Blamire, ihr unmittelbarer Vorgesetzter, anordnete, voll untertänigster Bewunderung zu registrieren. Grimaldi begab sich nun mit seinen Bekannten wieder nach Hause. Am andern Tage verlautete, daß Lukas, nach sechsstündiger Haft, seine Strafe, wenn auch unter Geheul und Verwünschungen, bezahlt habe. Ein paar Stunden nach seiner Entlassung aus der Haft bekam Grimaldi einen gar demütigen Brief von ihm mit dem Ersuchen, ihm mitzuteilen, was er für die zerrissenen Kleidungsstücke von ihm fordere.

Grimaldi hielt es für das beste, die Sache auf sich beruhen zu lassen, da Lukas für den Schaden, der gestiftet, durch seine zerschlagene Nase gestraft genug sei.

Lukas behelligte Grimaldi nicht weiter. Er kam auch bald drauf um Amt und Würden.

Nun verflossen verschiedene Monate so recht in dulce jubilo bis am elften Mai die Glocke der Kirche zum heiligen Georg das Brautpaar an den Altar rief, zur unsäglichen Freude der wackern Mutter des Bräutigams, die dessen Braut von frühester Kindheit geliebt hatte wie eine eigene Tochter.

Fünf Tage nach der Hochzeit machte das junge Ehepaar den ersten Besuch bei den Eltern und Schwiegereltern. Dann verfügte Grimaldi sich ins Sadlers-Wells-Theater, wo eine Probe anberaumt worden war.

Kaum war er in den Hof getreten, als ein Bühnenmitglied, Richer der Seiltänzer, auf ihn zu trat und sich nach dem Namen der Dame erkundigte, die man an seinem Arme gesehen habe.

»Das kann ich Ihnen sagen,« erklärte Komiker Dubois, »es ist Miß Mary Hughes gewesen.«

»Bitte recht sehr um Verzeihung, mein Herr,« antwortete Grimaldi, »so heißt die Dame im ganzen Leben nicht.«

»Ich möchte aber einen Eid darauf leisten,« rief Dubois, »daß es Miß Hughes gewesen.« »Dann würden Sie sich mit Ihrem Gewissen in Konflikt setzen,« antwortete Grimaldi, »die Dame hat wohl ehedem Miß Hughes geheißen, führt aber seit Montag den Namen Grimaldi,«

Das war für alle eine Überraschung sondergleichen, und die Kunde davon verbreitete sich im ganzen Theater wie ein Lauffeuer. Man überbot sich in Gratulationen, die Aufregung nahm derart überhand, daß dem Direktor nichts weiter übrig blieb als die Probe aufzuschieben und die Gesellschaft gehen zu lassen. Abends gab es ein großes Festessen zur Feier von Grimaldis Hochzeit, und am darauf folgenden Sonntage einen Mittagsfreitisch für das Unterpersonal. Kurz, das ganze Personal vom höchsten bis zum niedrigsten, nahm an dem lang erwarteten und nun endlich wahr gewordenen Glücke des braven jungen Ehemannes den herzlichsten Anteil.

Im Sommer desselben Jahres ging Grimaldi unter so drolligen Umständen eine Wette ein, daß wir wohl auf gütige Nachsicht des Lesers hoffen dürfen, wenn wir sie an dieser Stelle mitteilen.

Grimaldi hatte damals mit einem recht beliebten und auch talentvollen Schriftsteller Bekanntschaft geschlossen, der gerade, als Grimaldi dort etwas zu verrichten hatte, eine Reise nach Gravesend machen mußte. Sie besprachen sich infolgedessen, auf gemeinschaftliche Kosten eine Postchaise zu nehmen, und fuhren, da Grimaldi abends im Sadlers-Wells auftreten mußte, in aller Frühe ab.

Es war eine sehr angenehme Reise, und die Zeit verging sehr schnell. Grimaldis Freund war ein höchst humoristischer Herr, dabei lebhaft und beweglich, immer auf der Suche nach lustigem Unterhaltungsstoff, immer mit witzigen Bemerkungen über Land und Leute bei der Hand. Etwa drei Meilen vor Dartford kam plötzlich ein Reiter in Sicht, der so kräftig hinter der Post her trabte, daß es ganz den Anschein hatte, als ob er es drauf abgesehen habe, sie einzuholen.

»Sehen Sie doch, Joe,« rief er, als der Reiter nur ein paar Büchsenschüsse noch entfernt war, »der alte Knabe scheint einen ganz brillanten Gaul unter den Schenkeln zu haben.«

Grimaldi folgte der Aufforderung. Der Reiter kam rasch heran, war ein großer, kräftiger Mann, augenscheinlich ein Pächter oder Gutsherr, denn er ritt ein strammes Ackerpferd.

»Freilich sehe ich ihn,« antwortete Grimaldi, »könnte aber nicht sagen, daß mir etwas besonderes an ihm auffällt.«

»Mir ja auch nicht«, erwiderte der Freund, »weder an ihm noch an seinem Tiere; aber meinen Sie nicht auch, daß er mit solchem Gaul und in solchem Tempo bald an uns vorbei sein muß?«

»Ganz entschieden,« antwortete Grimaldi, »das kann sogar nur wenige Augenblicke dauern.«

»Nun, Joe, halten Sie die Wette auf eine Guinee, daß er uns nicht überholt?« –

»Ach, wozu solche Possen?«

»Halten Sie die Wette?«

»Auf keinen Fall! Es hieße ja, daß ich Sie um Ihr Geld prellen möchte.«

»Das ist meine Sache,« sagte lachend der Freund; »ich betrachte die Sache aus anderm Lichte und will die Wette sogar noch günstiger für Sie stellen. Ich behaupte, der Mann überholt uns sogar zwischen hier und Dartford nicht.«

»Topp!« rief da Grimaldi, weil er deutlich sah, daß keine halbe Minute mehr verstreichen konnte, bis der Reiter die Chaise überholt hatte, wenn er nicht durch irgend einen unvermuteten Zwischenfall aufgehalten würde.«

»Und nun noch eins,« sagte der Freund, »Lachen oder lächeln Sie nur, so, daß ers zwischen hier und Dartford sehen kann, so haben Sie verloren. Gilts?«

»Es gilt,« antwortete Grimaldi, höchst gespannt, wodurch seine Reisegefährte die Wette zu gewinnen dächte.

Er blieb nicht lange in Ungewißheit, der Reiter kam näher und näher. Die Aufschläge erklangen schon dicht hinter der Postchaise, als der Freund ein Pistol aus der Tasche riß, sich zum Schlage hinaus beugte und unter bedrohlichen Gebärden auf den Pächter zielte, der bis dahin von irgendwelcher Gefahr nicht die geringste Ahnung gehabt hatte.

Grimaldi guckte durch das Fensterchen im Rücksitze und hätte sich vor Lachen, ausschütten mögen, als er sah, welche Wirkung die jähe Bewegung seines Freundes machte. Der ehrliche Landmann riß seinen Gaul fast auf die Erde nieder, um ihn auf der Stelle zum Stehen zu bringen. Die ruhige Geschäftsmiene, die er bisher zur Schau getragen, verwandelte sich in wüstes Entsetzen. Sein bisher tiefgerötetes Gesicht wurde mit Leichenblässe überzogen. Er klopfte seinem Tiere auf den Hals und suchte es auf alle mögliche Art zu beruhigen, während er der Postchaise mit stieren Blicken nachgaffte.

Eine Minute mochte etwa verstrichen sein, da gewann er die Fassung wieder, gab seinem Gaule die Sporen und sprengte wieder, offenbar in der Absicht, auf der andern Wegseite an der Chaise vorbeizukommen, hinter ihr her.

Grimaldis loser Freund hatte jedoch diese List vermutet und hielt dem Reiter mit den gleichen bedrohlichen Gebärden das Pistol aus dem andern Schlage entgegen, so daß der biedere Landmann, fast noch erschrockener als das erste Mal, sein Pferd abermals anhielt.

Nach einiger Zeit setzte er jedoch, in etwa dem gleichen Tempo wie die Chaise, seinen Gaul wieder in Trab. Augenscheinlich ging er mit sich zu rate, wie er sich benehmen sollte.

Grimaldi hielt sich in seiner Wagenecke noch immer den Bauch vor Lachen. Er merkte, daß er um seine Guinee war, und wollte nun den Spaß noch ärger treiben, guckte zu dem Zwecke zum andern Wagenschlage hinaus, setzte eine wichtige Amtsmiene auf, nickte dem biederen Landmanne vertraulich zu, hob sogar, wie um ihn zu warnen, den Finger in die Höhe.

Der Landmann nahm die Warnung ernst, nickte und winkte, ja suchte durch allerhand Pantomimik begreiflich zu machen, daß er sich den Zusammenhang recht wohl erklären könne, daß der Mann mit dem Pistol ein Irrsinniger sei, der sich durch einen unglücklichen Zufall die gefährliche Waffe habe aneignen können.

Grimaldi tat nichts, ihn aus diesem Wahne zu reißen, sondern suchte ihn vielmehr darin zu stärken, indem er seinerseits ihm verständlich zu machen suchte, daß er der Wärter dieses Narren sei, mußte aber, um dem Pächter nicht hell ins Auge zu lachen, von Zeit zu Zeit mit dem Kopfe in die Kutsche zurückfahren.

Grimaldis Freund hielt dem Landmanne unverwandt das Pistol entgegen, spielte, um den Eindruck zu verschärfen, hin und wieder mit dem Hahne und zog alle möglichen Fratzen, um sich so recht als Narren aufzuspielen.

Der Landmann hielt sein mäßiges Tempo inne, blieb auf der andern Wegseite, hätte es in der Gebärdensprache schier mit dem hervorragendsten pantomimischen Darsteller aufnehmen können und überbot sich, in der Absicht, es Grimaldi gleichzutun, in Achselzucken, Winken und Nicken, sowie allerhand anderen Zeichen, durch die ihm dieser von der Echtheit seiner Teilnahme zu überzeugen suchte.

Auf diese Weise gelangten sie nach Dartford. Kaum aber hatten sie die Stadt erreicht, so setzte sich Grimaldis Freund wieder in seine Ecke, während Grimaldi seine Guinee aus der Börse langte. Als das Pistol im Wageninnern verschwunden war, drückte der biedere Landmann seinem Gaule die Sporen in die Weichen, versetzte ihm einen derben Schlag mit der Peitsche, und raste zum nicht geringen Entsetzen der gesamten Dartforder Spießbürgerschaft in vollem Galopp durch die Stadt.

Durch seinen Gewinn kam Grimaldis Freund auf eine andere Wette zu sprechen, die einst der berühmte Sheridan mit dem Prinzen von Wales eingegangen war und die damals in aller Leute Munde war.

Georg der Vierte war als Prinz von Wales bekanntlich ein sehr loser Herr, der manche Tagesstunde zur Erholung brauchte. Darum war es mit eine Lieblingsbeschäftigung von ihm, im Verein mit Zechkameraden zu den Fenstern ihres Klubhauses auf die Saint-James-Straße hinunter zu gaffen. Sheridan, damals Pächter des Drury-Lane-Theaters, spielte beim Prinzen Georg eine bevorzugte Rolle.

Beiden war nun wiederholt ein Mädchen in die Augen gefallen, das immer zu einer bestimmten Tageszeit mit einer schweren Traglast Töpferware durch die Straße kam. Der Prinz hatte sich schon wiederholt über das Mädchen geäußert, daß sie nicht bloß über eine bedeutende Leibeskraft, sondern auch über eine nicht minder bedeutende Gewandtheit gebieten müsse, um solche Lasten mit solcher Leichtigkeit zu schleppen, ohne in dem großen Menschengedränge nur ein einziges Mal zu straucheln oder nur fehl zu treten.

Eines Morgens kam sie wieder auf die Straße, diesmal in der Richtung von Piccadilly, entlang. Sheridan machte den Prinzen sogleich auf sie aufmerksam…

»Königliche Hoheit,« sagte er, »heut hat das Mädchen sogar noch mehr aufgepackt als sonst.«

»Das kann ich nicht glauben,« erwiderte der Prinz.

»Und doch meine ich, Recht zu haben,« sagte Sheridan, »der Korb ist heute doch fast noch einmal so groß wie sonst.«

»Sie scheinen Recht zu haben, Sheridan,« meinte der Prinz.

»Freilich habe ich Recht, Königliche Hoheit,« sagte Sheridan, »sehen Sie denn nicht, wie sie unter der Bürde wankt? Da, jetzt fällt sie … nein! sie behält das Gleichgewicht und geht weiter. Das arme Ding!«

Der Prinz hatte keinen Blick von dem Mädchen gewandt, aber nichts von den Vorgängen an ihr wahrnehmen können, die Sheridan bemerkt haben wollte.

Aber Sheridan fuhr unbeirrt fort, wie wenn er zerstreut mit sich selber spräche:

»Ganz sicher kommt sie zu Falle, noch ehe sie bis zu dem nächsten Hause gekommen.«

»Ei was, die fällt nicht,« rief der Prinz, »die ist an die Last, die sie trägt, doch viel zu sehr gewöhnt!«

»Und doch wird sie fallen,« rief Sheridan.

»Hundert Pfund wette ich, daß sie nicht fällt,« rief der Prinz.

»Topp,« rief Sheridan.

»Topp,« wiederholte der Prinz.

Knapp vor dem Klubhause kam das Mädchen zu Falle. Sicher zufällig, denn absichtlich fallen die Leute wohl kaum, besonders aber nicht dann, wenn sie schwere Topflast tragen; und doch hat es nicht an boshaften Menschen gefehlt, die den Unfall des Mädchens auf andere Ursachen als ihre überschwere Last zurückführen wollten.

Mag dem nun sein wie ihm wolle: in Abrede stellen läßt sich nicht, daß Sheridans Zuversicht in einem merkwürdigen Konnex mit der Tatsache stand, und daß dieser Konnex einen weiteren Beweis für seine Urteilsschärfe in solchen Dingen ablegt.

Dergleichen Spaße lagen nun einmal in Sheridans Charakter. Da auch der Freund Grimaldis auf dem Standpunkte stand, daß Sheridan zu dem Anfalle direkt oder indirekt die Veranlassung geschaffen, erzählte er eine weitere Anekdote. Als Richardson mit ihm zusammen das Drury-Lane-Theater besah, fuhren sie einmal in einer Mietskutsche mit ihm spazieren, und merkte erst unterwegs, daß er kein Geld bei sich habe. Da brach er mit Richardson einen Streit vom Zaune über irgend eine Bagatelle. Es kam, da sie beide Hitzköpfe waren, bald zu heftigen Reden, und als sie in eine Straße einbogen, von der es nicht mehr weit war bis zu Sheridans Wohnung, sprang Sheridan mit den Worten: er verschmähe es, auch nur eine Sekunde noch in Gesellschaft solches Streithahnes wie Richardsohn zu verweilen, aus dem Wagen und ging zu Fuß nach Hause, Richardson aber mußte die Fahrt bezahlen.

Unterdessen hatte man neuen Vorspann genommen. Durch viel Lachen war die Lust zu weiteren Spaßen geweckt worden. Als die Postchaise halten mußte, weil ein paar Frachtwagen den Weg sperrten, was gerade vorm ersten Gasthause der Fall war – guckte ein großer, kräftiger Mann in Uniform, mit mächtigem Knebelbart, höchst martialisch und fürnehm zu einem Fenster auf die Leute hinunter. Grimaldis lustiger Reisegefährte bemühte sich, die Aufmerksamkeit des militärisch angehauchten Herrn durch Husten und andere Manöverchen zu wecken. Nach einer Weile gelang es ihm auch, und gewaltig von oben herab maß ihn der Herr mit seinen Blicken. Grimaldis lustiger Kamerad verzerrte sein Gesicht zu einer grimmigen Fratze, machte wieder alle möglichen Gebärden eines in Irrsinn verfallenen Menschen, riß wieder sein Pistol aus der Tasche und zielte dem martialisch aussehenden Herrn mitten zwischen die Augen…

Wie von einer Tarantel gestochen, fuhr der Mann in die Höhe, fuhr sich mit beiden Händen nach der Stirn, fuhr mit dem Kopfe ins Fenster zurück und war im andern Augenblick aus dem Fenster verschwunden, ob nun zusammengebrochen aus Angst und Schreck, oder hingestürzt aus eigner Willenskraft, war unmöglich festzustellen… Grimaldis Freund aber schob kaltblütig sein Pistol wieder in die Tasche, und Grimaldi wollte sich wieder ausschütten vor Lachen.

In Gravesend schieden sie voneinander. Der fidele Kamerad begab sich nach Dover. Grimaldi besorgte, was er sich vorgenommen hatte, und kehrte dann nach London zurück, in schmerzlichen Gedanken an seine »Dartford-Bläulinge«, die ihm von so barbarischer Hand vernichtet worden waren.

Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Georgs des Dritten Vorliebe für das Theater. – Sheridans Gefälligkeit gegen Grimaldi. – Grimaldis häusliches Leid. – Harlekin Amulet, eine neue Äera in der Pantomime. – Taubenliebhaber und Wetten. – Erste Kunstreise mit Mrs. Baker. – John Kemble und Jude Davis. – Große Erfolge in Maidstone und Canterbury. – Eine Unterhaltung mit John Kemble.

Der Sommer verging sehr angenehm. Grimaldi widmete seine ganze Mußezeit seiner Frau und deren Eltern, bis die letzteren nach Weymouth abreisten, denn Mr. Hughes war Besitzer des dortigen Theaters. Wenn sich der Hof in Weymouth aufhielt, besuchte Georg der Dritte mit großem Gefolge das Schauspiel wenigstens viermal wöchentlich und bestimmte auch, was gegeben werden sollte.

Die Vorstellungen im Drury-Lane-Theater nahmen für die diesjährige Saison am 20. September ihren. Anfang. In Sadlers Wells wurden sie zehn Tage später geschlossen. Grimaldi hatte nun um so mehr Ruhe, da in Drury-Lane auch in diesem Jahre Schaustücke statt Pantomimen gegeben wurden. Er traf zu Anfang der Saison mit Sheridan zusammen, und es entspann sich die nachstehende Unterredung: »Nun, Joe, leben Sie noch?«

»Wie Sie sehen, Sir, und was noch mehr wert ist, ich lebe sehr glücklich! im heiligen Ehestande.«

»Eine hübsche junge Frau, Joe?«

»0, sehr hübsch, Sir.«

»Schön, schön! Sie müssen echt häuslich sein, Joe, Nur im Daheim ist das wahre Glück zu finden. Ich lebe selbst sehr häuslich,« setzte Sheridan hinzu, und zwar mit jenem Blinzeln, dessen lustigen Ausdruck niemand vergessen konnte, der es gesehen.«

»Ich denke doch, daß ich es ebenso mache, wie Sie, Sir,« antwortete Grimaldi.

»Recht so, recht so, mein Lieber! Aber was fängt Ihre arme kleine Frau an, wenn Sie auf der Bühne arbeiten? Eine hübsche junge Frau ganze Abende lang allein zu Hause lassen, taugt gar nichts, lieber Joe. Na, ich will Ihnen zu Hilfe kommen, Joe… will ihr Freibillets geben, für sich und eine Freundin – wohlgemerkt, Freundin! nicht Freund, möchte sonst leicht gefährlich werden, mein Lieber – wie? Oder meinen Sie nicht?«

Darauf entfernte er sich so schnell, daß ihm Grimaldi für seine rücksichtsvolle Güte nicht einmal Dank sagen konnte. Aber er vergaß sein freundliches Versprechen nicht, und Frau Grimaldi besuchte nun fast jeden Abend das Theater, und ging nach Schluß der Vorstellung mit ihrem Manne nach Hause.

Still, angenehm und rasch verging auch der Herbst und Winter. Im folgenden Jahre, 1799, erhöhte die Hoffnung, Vater zu werden, Joe’s Glück. Für die kleinen Sorgen des Alltagslebens hatte er nun kaum noch ein Auge.

Aber seinem jungen Glücke drohte im selben Jahre der schwerste Schlag: am 18. Oktober 1799 starb seine Frau – das Kleinod, das er von Kind auf so lieb und wert gehalten hatte. – die Frau, deren Vorzüge und Tugenden bis an seinen Tod in seinem Munde waren. Lange Wochen waren zwischen Furcht und Hoffnung verstrichen, bis das schreckliche Ereignis eintrat, bis ihre sterbliche Hülle am 21. Oktober in der Familiengruft in der Saint-James-Kirche beigesetzt wurde.

Grimaldi war in der ersten Zeit wie von Sinnen. Seine Freunde ließen ihn keinen Augenblick allein, und nur ihrer ununterbrochenen Wachsamkeit gelang es, zu verhindern, daß er nicht Hand an sich legte. Trost konnten sie ihm aber wenig spenden, denn ihr Schmerz war kaum minder groß als der seine, hatten sie die Verstorbene doch sämtlich in ihr Herz geschlossen, betrauerten doch auch sie einen schweren, schweren Verlust.

Der Bruder der Verstorbenen, Richard, hat seiner Schwester die Worte: »O, Bruder, verlasse meinen armen Joe nicht, sondern bleib ihm immer in Liebe treu!« nie vergessen, sondern hat sich in allen Lebenslagen als Grimaldis bester und getreuester Freund erwiesen. Volle acht Wochen kam der arme Joe nicht zur Besinnung. Tags über zehrte er an seinem Grame, sinnierte über zu Grabe getragene Hoffnungen und über entschwundenes Glück, und abends wurde er auf die Bühne gerufen, um dem Theaterpublikum schallendes Gelächter zu entlocken. Schminke verdeckte die Gramfalten, die sein tiefes Herzeleid in seinem Geiste gezogen, und wenn er in der Weihnachts-Pantomime auftrat, begrüßte stürmischer Jubel sein Erscheinen.

Das Drury-Lane-Theater brachte die neue Pantomime, in der Joe Grimaldi sich selbst übertraf. Sie hieß: »Harlekin Amulet, oder Der Zauberer von Mona« – unter welchem Namen die jetzt Anglesea benannte Insel, der älteste Druidensitz, zu verstehen ist. Ihr Verfasser war ein gewisser Powell. Die Inszenierung hatte Balettmeister Byrne übernommen. Sie fand außerordentlichen Beifall und wurde ohne Unterbrechung bis zu Ostern 1800 aufgeführt. Sie zeichnete sich durch mancherlei hervorstechende Eigentümlichkeiten aus, namentlich durch ein neues Kostüm und eine völlig neue Auffassung des Harlekin-Charakters. Bislang hatte das Kostüm in weiten Pumphosen und Jacke bestanden. Auch war als unerläßlich angesehen worden, daß Harlekin zwischen fünf bestimmten Stellungen ständig wechselte.

Byrne, der in diesem Jahre zum ersten Male als Harlekin auftrat, stieß sozusagen dieses alte Herkommen über den Haufen und machte aus Harlekin einen völlig neuen Charakter. All seine Stellungen und Sprünge waren neu, und in seinem Kostüm hatte er wesentliche Verbesserungen vorgenommen. Es war durchweg aus weißer Seide, die bunten Flicken waren hineingewebt und es saß so prall, daß es nicht eine einzige Falte schlug, aber so reich mit Flittern besetzt, daß es einen wirklich glänzenden Anblick bot.

»Die Neuerung«, sagte Grimaldi, »war durchgreifend und wurde mit enthusiastischem Applaus begrüßt. Sie war auch nicht unverdient und meiner Meinung nach war Byrne der beste Harlekin seiner Zeit, ist auch seitdem kaum übertroffen worden, und nur wenige dürften es ihm gleich getan haben.«

Die von Byrne eingeführten Änderungen wurden in kurzer Zeit allgemein angenommen und sind bis auf die Gegenwart beibehalten worden.

Grimaldis Rolle in dieser Pantomime war sehr schwierig und sehr abspannend. Zuerst trat er als Punch oder Polictinell auf und wandelte sich erst im Verlaufe des Stückes zum Clown um. Als Punch fand er so außerordentlichen Beifall, daß Sheridan ihm den Wunsch nahe legte, diesen Charakter überhaupt zu übernehmen, was Grimaldi jedoch bestimmt ablehnte. Was ihn vor allem dazu bestimmte, war die Notwendigkeit, als Punch, der Eigentümlichkeit der Maske entsprechend, mit zwei mächtigen Höckern auf Brust und Rücken, mit hohem Zuckerhute auf dem Kopfe und mit langnäsiger Maske und schweren Holzschuhen aufzutreten. Auch mußte er sich in diesem Kostüm außerordentlich anstrengen, so daß er nach jedem Aktschlusse erschöpft auf den ersten besten Sessel sank, den er finden konnte, und kaum noch die nötige Kraft fand, sich am Schlusse der sechsten Szene in den Clown zu verwandeln… »Miß Menage,« sagte er, »spielt die Rolle der Kolombine, und zwar so mustergiltig, daß ich bis heutigen Tages meine, nie wieder ein so treffliches Ensemble wie zwischen ihr und Byrne angetroffen zu haben.«

Da, wie gesagt, Harlekin Amulet allabendlich bis Ostern gegeben wurde, war Grimaldi ununterbrochen beschäftigt, und das war für ihn insofern eine Wohltat, als er seine Gedanken von dem schweren Verluste, der ihn betroffen hatte, ablenkte. Er hatte sich, gleich nach dem Tode seiner Frau in Baynes Row eingemietet, aber es währte sehr, sehr lange, bis er seine Gemütsruhe und seinen alten Frohsinn wiederfand.

In seiner neuen Behausung legte er sich einen Taubenschlag an und saß stundenlang am Fenster, dem kreisenden Fluge seiner sechzig prächtigen Tauben – durchweg von edelster Rasse – zuschauend. Mit Stolz pflegte er besonders von einer Taube zu sprechen, die einmal der Gegenstand einer interessanten Wette mit einem Mr. Lambert gewesen war.

Mr. Lambert, war, wie Grimaldi erzählt, gleich ihm ein Taubenliebhaber, aber, – und das unterschied ihn unvorteilhaft von Grimaldi – einer, der gern den Mund ein wenig voll nahm und von seinen Tauben nie anders sprach als von den besten und schönsten aus dem ganzen Erdenrunde. Natürlich brachte diese Prahlerei alle Taubenzüchter gegen ihn auf, und es wurde allgemein mit Freude vernommen, als Grimaldi mit ihm eine Wette um zwanzig Pfund einging, in seinem Stalle keine Taube zu haben, die zehn Stunden in zwanzig Minuten durchfliegen könne: eine Strecke vom zwanzigsten Meilensteine der großen nördlichen Heerstraße bis nach Grimaldis Hause. Die dazu ausersehene Taube wurde an dem für den Probeflug festgesetzten Tage um sechs Uhr morgens einem in die Wette eingeweihten Bekannten mit dem Auftrage übergeben, sie Punkt zwölf Uhr bei dem zwanzigsten Meilensteine unweit von Saint Albans fliegen zu lassen. Die Uhren wurden nach der Kirchenglocke in Clerkenwall gestellt, und der Freund brach mit der Taube und einem Herrn von der gegnerischen Seite auf.

Das Wetter war recht ungünstig. Es hatte stark geschneit, und noch immer fiel ein dichter Schnee mit Regen. Gutes Wetter war bei der Wette von Grimaldi nicht ausbedungen worden, und Grimaldi begab sich daher nebst mehreren guten Bekannten der beiden Parteien Punkt zwölf Uhr hinauf in den Taubenschlag.

Genau neunzehn Minuten nach zwölf ließ sich die Taube auf das Dach von Grimaldis Haus nieder. Auf der Stelle wurden für die Taube zwanzig Pfund geboten; doch wurde das Gebot von Grimaldi abgelehnt.

Immer waren seine Tauben freilich nicht so schnell und pünktlich, ja sie blieben zuweilen so lange aus, daß er schon alle Hoffnung aufgab, sie je wiederzusehen. Einmal zum Beispiel waren sie vier Stunden vom Schlage abwesend. Während er nun in höchst niedergeschlagener Stimmung vor dem Flugloche saß, erregten auf einmal drei von ihnen, die zurückgeblieben waren, seine Aufmerksamkeit, indem sie mit langgestreckten Hälsen unverwandt nach einem Punkte am Himmel emporsahen. Endlich meinte er in bedeutender Höhe etwas wie einen schwarzen Fleck zu entdecken, der allmählich deutlicher wurde. Zu seiner unaussprechlichen Freude waren es seine Tauben, die von einem vielleicht ein paar hundert Stunden weiten Fluge heimkehrten.

Grimaldi hatte in Drury-Lane, nachdem die Vorstellungen der Pantomime aufgehört hatten, nur noch wenig zu verrichten. Seine Mitwirkung beschränkte sich auf eine unbedeutende Rolle in Lodoiska, einem Ritterschauspiel, und hierzu kam er noch immer zeitig genug, wenn die Vorstellungen in Sadlers Wells vorüber waren. Im Juni wurde das Drury-Lane-Theater geschlossen und erst im September wieder eröffnet, zehn Tage nach dem Schlusse der Saison in Sadlers Wells. Er sollte jedoch erst im Dezember wieder auftreten, und so spielte er im November zum ersten Male in seinem Leben außerhalb der Hauptstadt.

Unter der Truppe von Sadlers Wells befand sich damals ein talentvoller Schauspieler namens Lund, der sich zur Zeit der Ferien der Bakerschen Gesellschaft anzuschließen pflegte. Er sollte am 15. November in Rochester sein Benefiz haben und begab sich nach London, um Grimaldi um seine Mitwirkung dabei anzugehen. Grimaldi wies dergleichen Anerbieten nie zurück, sofern ihm die Umstände seine Mitwirkung gestatteten, und erklärte sich auch dieses Mal bereit dazu.

An dem für das Benefiz bestimmten Tage traf er mittags in Rochester ein, probte in einem halben Dutzend Szenen mit, stärkte sich dann durch ein gutes Diner und verfügte sich nach dem Schauspielhause, das schon vor sechs Uhr von unten bis zum Olymp hinauf gefüllt war.

Sein Auftreten wurde mit donnerndem Applaus begrüßt. Er mußte seine beiden komischen Lieder dreimal wiederholen, und sein ganzes Spiel rief die lebhafteste Sensation wach. Die Leitung der in Rochester spielenden Truppe lag in den Händen einer Mrs. Baker, die ihm auf der Stelle ein Engagement für die beiden folgenden Abende anbot unter der Bedingung auf Teilung der erzielten Einnahme. Grimaldi nahm das Anerbieten an, und die alte Direktrice war so hocherfreut darüber, daß sie stracks mit Schal und Hut, wie sie gerade an der Kasse saß, auf die Bühne rannte und dem Publikum verkündigte, was an den beiden nächsten Abenden von Grimaldi gespielt werden würde. Ein beispielloser Applaus dröhnte durch den Saal, und wenig fehlte, so hätte man Grimaldi bis zur Post, mit der er nach London zurückfuhr, auf den Händen getragen.

Diese Mrs. Baker war eine äußerst drollige Person. Sie besorgte alle Direktionsgeschäfte selbst, ging auch mit ihrem Gelde nach einem ganz bestimmten Grundsatze um: so verlieh sie nie Geld auf Zinsen, legte es nie nutzbringend an, spekulierte auch nie damit, sondern verwahrte es in etwa einem halben Dutzend Punschbowlen, die ihren Platz immer auf dem obersten Simse eines Schrankes hatten. Hin und wieder nahm sie sie herunter, um sich an dem Anblicke der blinkenden Geldstücke zu weiden. Sie nahm aber niemals aus diesen Bowlen auch nur ein Stück heraus, sondern ließ die Leute, wenn sie nicht bezahlen konnte, lieber warten, ja, es ging die Rede, daß sie eher hungern würde, als sich an dem in ihren Bowlen befindlichen Schatze vergreifen. Sie hatte eine »Person für alles« oder Faktotum in einem langen dürren Menschen, der auf den bürgerlichen Namen Long hörte, aber gemeinhin seiner Dürre wegen »das Gerippe« genannt wurde. Bei dem nach der Aufführung von der Direktrice gegebenen Abendessen nahmen die beiden Söhne des damals hochgefeierten Schauspielers Dawton, Henry und William, teil, auch der Schauspieler Lund und Mrs. Bakers Faktotum Long. Dabei wurde abgemacht, daß Grimaldi am nächsten Abend als Scaramuz im Don Juan auftreten sollte. Der Scaramuz ist bekanntlich ein stehender Typ des italienischen Theaters, alter Herr in schwarzer Spaniertracht, wie sie in Neapel von den Herrschaften bei Hofe und obrigkeitlichen Personen getragen wurde, und Prahlhans, der am Schlusse von Harlekin durchgewamst wird.

Leider hatte Grimaldi nur sein Clown-Kostüm mitgebracht, so daß man auf die Ausführung des Planes hätte verzichten müssen, wenn nicht Mrs. Baker beim Schneider und Tuchhändler Palmer schnellen Ersatz beschafft hätte. Hierdurch wurde übrigens besagter Palmer auf eine Erwerbsbahn hingelenkt, auf der er es zu großen Erfolgen bringen sollte als allein gültiger Modeschneider für die englischen Bühnen.

Am zweiten Abend war ein solcher Andrang zum Theater, daß viele keinen Einlaß mehr finden konnten, und am dritten Abend, als Grimaldi zum letzten Male als Scaramuz und nachher als Clown auftrat, mußte das Orchester zu Logen umgewandelt werden, um für das feinste Publikum Sitze zu schaffen, daß sich unter keinen Umständen abweisen lassen wollte, und für die Plätze für damalige Begriffe ganz exorbitante Preise bezahlte. Ja, man mußte sogar zu einem weiteren Auskunftsmittel greifen, nämlich allen Raum hinter der Bühne in Sitze umwandeln, so daß an diesem Abend die Schaubühne gleichsam in der Mitte des Publikums lag und ein Teil des Publikums die Handlung nur von der Kehrseite aus betrachten konnte. Eine so hohe Einnahme hatte Mrs. Baker noch nie gehabt, seit sie das Direktionsszepter schwang, und das war nun schon eine geraume Reihe von Jahren her.

Grimaldi mußte ihr auch das Versprechen geben, sich im März des folgenden Jahres abermals zu einem Cyklus von Vorstellungen bereit zu halten, und er ging die Verpflichtung mit dem Vorbehalte ein, daß sein Londoner Verhältnis dadurch in keiner Weise beeinträchtigt werde.

Am andern Morgen überbrachte ihm »das Gerippe«, Mr. Long, die Abrechnung und seinen Anteil, der sogleich in Banknoten umgesetzt wurde, betrug er doch nicht weniger als bare einhundertundsechzig Pfund Sterling.

Sehr zufrieden mit diesem Erfolg seiner ersten »Kunstreise«, kehrte er nach London wieder heim.

Zu Weihnachten wurde im Drury-Lane Harlekin Amulet statt einer neuen Pantomime abermals auf das Repertoir gebracht und ohne Unterbrechung bei ebenso gefüllten Häusern bis gegen Ende Januar gegeben. Um diese Zeit herum trat Grimaldis alter Freund Davis – meist immer »Jude Davis« genannt, nebenbei einer der besten »Theaterjuden« der damaligen Zeit – zum ersten Male im Drury-Lane-Theater auf. Davis war es, dessen Wunderlichkeit den in verschiedenen Versionen bekannten spaßhaften Vorfall mit John Kemble veranlaßte. Damit verhält es sich, wie folgt:

Kemble gab einst im nördlichen England Gastrollen und spielte auch auf einem Provinztheater, bei welchem Davis engagiert war. Er sollte als Hamlet auftreten. Natürlich wurde die Mitwirkung aller Mitglieder der Gesellschaft hierzu in Anspruch genommen, und Davis wurde die Rolle des Totengräbers zugeteilt.

Alles ging gut bis zur ersten Szene des fünften Aktes, in welcher Davis auftrat. Da aber war es um Kembles Ernst und Gleichmut geschehen. Davis hatte sich nämlich Grimassen angewöhnt, die, in Possen und Farcen wohl gut am Platze, in Trauerspielen, und gar solchen wie Hamlet, keineswegs zulässig sein konnten, zumal sich, das Publikum daran gewöhnt hatte, – und das war das schlimmere – alle Grimassen, die Davis schnitt, mit lautem Gejohle zu begrüßen. Als nun der große Tragöde seine moralisierenden Betrachtungen über Yoriks Schädel anstellte, geriet er ganz außer sich über die Lachsalven, die Davis durch seine Grimassen hervorrief.

Beim Schlusse des Schauspiels überschüttete er Davis mit Vorwürfen und gab dem dringenden Wunsche Ausdruck, daß dergleichen »blöde Späße«, wenn Davis wieder mit ihm zusammen aufträte, unterbleiben möchte. Aber es nutzte Kemble nichts. Davis war ein so schnurriger Kauz, daß er Tadel niemals vertrug, und erklärte kurz und bündig, in seinem Fache könne ihm auch ein Kemble nichts neues sagen.

Kemble war eine vornehme Natur und meinte, über den Vorfall Gras wachsen zu lassen. Sein Spiel brachte einen so erheblichen Kassengewinn, daß er auf weitere Abende verpflichtet wurde. Den letzten Abend sollte er wieder als Hamlet auftreten.

Bis zur Totengräber-Szene ging alles vortrefflich. Kemble wartete auf sein Stichwort, und böse Ahnungen beschlichen ihn, als er das schallende Gelächter vernahm, das die Unterhaltung der Totengräber begleitete. Gerade als er die Bühne betrat, hatte Davis durch ein höchst närrisches Mienenspiel die Lachmuskeln des Publikums wieder in Bewegung gesetzt. Kemble geriet in Zorn. Seine ersten Worte machten infolgedessen gar keine Wirkung beim Publikum. Er drehte sich um, sah Davis im Grabe stehen und allerhand komische, aber zu dem Auftritte in keiner Weise passende Grimassen schneiden.

Im Nu war es mit Kembles Ruhe vorbei. Er stampfte wütend mit dem Fuße und machte seiner Entrüstung Luft durch einen Ausruf, der mit einem Fluche sehr große Ähnlichkeit hatte. Dadurch wurde eine Wirkung hervorgerufen, wie Kemble sie gewiß am allerwenigsten erwartet hatte. Davis hatte nämlich Kembles Zorn kaum wahrgenommen, als er sich auf den Tod erschrocken stellte, beide Hände ineinander schlug, wie wenn ihn irgend ein gräßlicher Anblick ganz überwältigte, eine richtige Leichenbittermiene aufsetzte und ein solches Geschrei ausstieß, daß dem Publikum himmelangst zu werden anfing. Hierauf warf er sich platt im Grabe nieder, daß er vom Publikum nicht mehr gesehen wurde, und ließ sich schlechterdings nicht bewegen, wieder hervorzukommen oder noch ein einziges Wort zu sprechen. Die Szene wurde, so gut es gehen wollte, ohne Totengräber zu Ende gespielt, und von Zeit zu Zeit wurden von seiten des Publikums der Besorgnis, Mr. Davis möchte ein Unglück passiert sein, laut Ausdruck gegeben.

Ein halbes Jahr später sah Sheridan zufällig Davis auf einer Provinzbühne und fand so großen Beifall an seinem Talent, daß er ihn sogleich für das Drury-Lane-Theater engagierte. Am ersten Tage der Saison stellte er ihn dem damaligen Regisseur vor, der kein anderer war als John Kemble, und der ihn nicht sogleich wiedererkannte, sich aber recht gut besann, ihn schon einmal im Leben gesehen zu haben. Nach einiger Zeit aber sagte er einmal zu ihm:

»0 – ah! ah! Jetzt weiß ich es. Sie sind doch der Herr, der damals in Rochester so plötzlich im Grabe verschwand, auf Nimmerwiedersehen?«

Davis beeilte sich, wegen dieses etwas unzeitgemäßen Spaßes sich bei Kemble zu entschuldigen. Als Kemble nachher Sheridan davon erzählte, wollte sich dieser scheckig darüber lachen. Es wurde nicht weiter darauf zurückgekommen, Kemble trug Davis nichts nach, sie haben sich vielmehr seitdem recht gut zusammen vertragen.

Als Harlekin Amulet nicht mehr zur Aufführung gebracht wurde, hatte Grimaldi in der laufenden Saison keine große Arbeit mehr. Seinem Versprechen gemäß fand er sich nun wieder bei Mrs. Baker ein, die ihren Thespiskarren nach dem kleinen Maidstone gelenkt hatte, wo durch Grimaldis Erscheinen eine beispiellose Aufregung hervorgerufen wurde. Schon um halb fünf Uhr nachmittags konnte niemand mehr die nach dem Schauspielhause führende Straße passieren. So etwas hatte die liebe Mrs. Baker noch nie erlebt und war vor Wonne schier außer sich. Gleich darauf aber kam die Kehrseite: sie geriet in Bestürzung wegen der bei solchem Andränge unzulänglichen Vorsichtsmaßregeln, machte ein Gesuch beim Magistrate um Gestellung von besonderem Aufsichtspersonal und ließ, als dieselben eingetroffen waren, sogleich sämtliche Türen sperrangelweit aufreißen. Nun stellte sich aber heraus, daß sie auch eine gewisse Sorge um ihre Kasse trug, denn sie faßte sogleich dort Posten und rief nun in einem fort: Meine Damen und Herren! Parterre oder Loge? Loge oder Galerie? Parterre oder Loge?«

»Parterre, Parterre!« riefen die meisten, um nur in das Theater hinein zu gelangen, ohne Aussicht auf den Preis. »Dann bitte um zwei Schillinge! Zwei Schillinge der Parterre-Sitz! Zwei Schillinge!«

Und diesen Ruf hatte die alte Dame sich seitdem angewöhnt, so daß sie ihn nicht bloß an diesem Abende, sondern so oft an der Kasse Gedränge stattfand, im Munde zu führen pflegte, ohne im mindesten Rücksicht auf Person oder Stand zu nehmen.

An diesem Abend wurden die Türen schon um fünf Uhr geöffnet. Alles war erpicht, Grimaldi als Scaramuz zu sehen. Mrs. Baker brachte, sobald das Haus voll war, ihre Kasse in Sicherheit, rannte auf die Bühne und ließ ohne Verzug beginnen, indem sie meinte – und hierin hatte sie freilich recht – »mehr als voll könne das Haus nicht werden, und je schneller angefangen würde, desto schneller wäre alles überstanden«.

Dem Publikum war es nur recht, daß ihre Schaulust so schnell befriedigt wurde, und da schon kurz nach sechs mit der Vorstellung begonnen worden war, ging der letzte Akt schon kurz nach neun Uhr zu Ende.

Grimaldi wurde von den Bürgern der Stadt aufs höchste gefeiert und erhielt am folgenden Tage von angesehenen Leuten der Umgegend verschiedene Einladungen zum Mittagessen, die er indessen durchweg ablehnte, weil er sich schon bei seiner wunderlichen Direktrice versagt hatte.

Als er im Laufe des Vormittags durch die Stadt ging, liefen ihm alle Buben hinterher, ganz wie in London, und begrüßten ihn mit Jubelgeschrei. Bei seinem zweiten Auftreten war das Haus noch stärker ausverkauft als beim ersten. Am ersten Abend wies die Kasse eine Einnahme von 154, am zweiten von 157 Pfund auf, und nach dem Abendessen bekam Grimaldi bare 158 Pfund als seinen Anteil von Mrs. Baker ausbezahlt. Mrs. Baker bat ihn nun, auch in Canterbury bei ihr aufzutreten, und zwar unter den gleichen Bedingungen wie bisher, an zwei aufeinander folgenden Abenden. Grimaldi schlug ein, und nun wurden sofort Ankündigungen erlassen, Zettel gedruckt und nach Canterbury vorausgesandt. Schon um neun Uhr früh wußte schon ganz Canterbury, daß der berühmte Clown Grimaldi als Scaramuz dort auftreten werde.

Mrs. Baker spielte regelmäßig in Rochester, Maidstone, Canterbury und zahlreichen anderen Plätzen der Provinz. Die Bühnenverhältnisse waren überall die gleichen, und so konnten auch die gleichen Utensilien überall Verwendung finden. In aller Frühe brach die Truppe nach Canterbury auf. Grimaldi folgte in einer Postchaise hinterher, traf um etwa ein Uhr mittags dort ein und fand alles dort in der besten Ordnung, so daß von einer Probe Abstand genommen werden konnte, zumal ja Schauspieler, Musiker, Maschinenmeister und Gehilfen durchweg dieselben waren.

Alle Logen waren schon ausverkauft. Diniert wurde bei Mrs. Baker, und zwar ausgezeichnet. Gespielt wurde, wie in Maidstone, an beiden Abenden vor ausverkauftem Hause. Was von der Einnahme auf ihn entfiel, bezifferte sich wiederum auf annähernd 160 Pfund, und so kehrte er nach viertägiger Abwesenheit mit etwas über 312 Pfund nach London zurück.

Kurz nach seiner Rückkehr und etwa acht Tage vor Ostern las er zu seinem großen Erstaunen auf den Anschlagzetteln der Drury-Lane-Theaters, daß zu Ostern der »Harlekin Amulet« wieder aufgeführt werden sollte, und daß Mr. Grimaldi darin in seiner alten Rolle wieder aufträte. Durch diese Bekanntmachung wurden die Bedingungen verletzt, die er mit dem Drury-Lane-Theater eingegangen war, und so hielt er es für das beste, sich auf der Stelle dagegen zu verwahren.

Er traf den Regisseur, John Kemble, im Theater, und wurde mit all der Vornehmheit und Würde empfangen, die Kemble zu zeigen pflegte, wenn er Widerstand gegen eine von ihm getroffene Anordnung witterte. Grimaldi erwiderte auf die in hohem, steifem Tone an ihn gerichtete Frage, was ihn herführe, sein Kontrakt verpflichte ihn nicht, weder zu, noch nach Ostern, in Pantomimen zu spielen, was übrigens auch durch sein Engagement in Sadlers Wells schon unmöglich gemacht wurde. Bisher hatten beide Direktionen durch ihre Anordnungen nie gegen die festgesetzten Bedingungen verstoßen, infolgedessen nie kollidiert, und so leid es ihm tue, wenn sich aus seiner Weigerung Störungen ergeben sollten, so sehe er sich doch außerstande, die Rolle zu übernehmen, in der sein Auftreten im Drury-Lane-Theater ohne sein Vorwissen angekündigt worden sei.

Kemble hörte sich Grimaldis Einwendungen ernst und ruhig an, schwieg ein paar Augenblicke, stand dann auf und sagte im feierlichsten Tone:

»Joe, ein Wort ist in dieser Sache so gut wie tausend – und dies eine Wort heißt: Sie müssen spielen!«

Joe geriet hierüber geradezu außer sich, nicht bloß weil er der Ansicht war, daß kein Mensch müssen müsse, sondern auch, weil Kemble das Wort in höchst unangenehmem Tone zu ihm gesagt hatte. Er ließ sich von dem Groll, der ihn erfüllte, hinreißen und versetzte in ebenso garstigem Tone:

»Nun denn, Sir, wenn Sie sagen, ich müsse, so sage ich Ihnen darauf weiter nichts als: ich will nicht!«

»Was, Joe, Sie weigern sich?« »Ganz entschieden, Sir!«

»Aber!« rief Kemble, »Mr. Grimaldi, das kann doch Ihr Ernst nicht sein.« –

»Und doch ist es mein Ernst, Sir!«

»So!«

»Ja, so!« versetzte Grimaldi und drehte Kemble ärgerlich den Rücken.

»Nun, dann guten Morgen!« sagte Kemble, nahm den Hut ab und verließ käseweis vor Zorn das Theater.

Grimaldi nahm nun auch den Hut ab, wenn auch erst hinterher, schnitt einen tiefen Bückling und wünschte Mr. Kemble ebenfalls einen recht guten Morgen.

Tags darauf wurden neue Zettel angeschlagen, Grimaldi durch einen auf der Londoner Bühne völlig unbekannten Künstler ersetzt, der ohne allen Erfolg spielte und ebenso schnell wieder abtreten mußte, wie er aufgetreten war, so daß die Pantomime nur einmal zur Aufführung gebracht werden konnte.

Grimaldi war bis zu den Osterfeiertagen mit dem Studium einer neuen, höchst effektvollen Rolle befaßt in einem Stücke, das den auf die große Menge berechneten Titel führte: Die Komödien des Teufels – natürlich wiederum für das Sadlers Wells-Theater, und ging mit großem Eifer an die Arbeit, da er die feste Hoffnung hatte, daß das Stück seinen Weg machen und ihn zu neuen Triumphen führen werde.

Achtes Kapitel.


Achtes Kapitel.

Kein Preis ohne Fleiß. – Entlassung aus dem Verbande des Drury-Lane und Wiederaufnahme in denselben. – Mönch Lewis. – Lewis und Sheridan. – Sheridan und der Prinz von Wales. – Grimaldi bekommt einen Sohn und kommt um sein Geld.

Die Komödien des Teufels erlebten am Ostermontage ihre erste Aufführung, und ihr Erfolg basierte nicht zum geringsten auf Grimaldis Spiele. Er hatte zwei Rollen darin und mußte, abgesehen davon, daß er fechten, reiten, schießen mußte, nicht weniger als neunzehnmal sein Kostüm wechseln.

Das Stück machte einen sehr großen Erfolg und blieb die ganze Saison hindurch auf dem Spielplane.

Wir erzählten im vorigen Kapitel einiges von Grimaldis finanziellen Erfolgen, jetzt wollen wir uns einmal darnach umsehen, welche Mühe und Anstrengungen es ihm kostete, zu diesen Erfolgen zu gelangen.

In Sadlers Wells nahm die Abendarbeit ihren Anfang. Dort trat er in der großen und sehr anstrengenden Rolle des Teufels auf. Dann mußte er in einer kleinen Burleske, die gleich hinterher gegeben wurde, mitwirken. Dann gab er den Clown beim Seiltänzer, zuletzt den Clown in der Pantomime. Hier sang er zwei humoristische Lieder, die regelmäßig dacapo verlangt worden; und hatte er dieses Programm hinter sich, dann mußte er sich rasch umkleiden und nach Drury-Lane laufen, zumeist rennen, weil er dort im letzten Stücke auftrat.

Das war die Arbeit Grimaldis eine Woche um die andere; aber am siebenten Tage war er in der Regel so erschöpft, daß er kein Glied rühren konnte. Ganz sicher hat er seinen Kräften zuviel zugemutet und auf diese Weise zweifellos den Keim zu der völligen Entkräftung gelegt, die sich in späteren Jahren seiner bemächtigte, so daß er, im Alter wohl mit Recht sagen durfte, die bedeutenden Einnahmen, die er gehabt habe, hätten in keinem richtigen Verhältnisse zu der Arbeit gestanden, die er dafür habe leisten müssen, zudem gemeinhin unter sehr erschwerenden Umständen.

In Sadlers Wells war das Theater meist erst zu Ende, wenn es in Drury-Lane eben begonnen hatte. Oft mußte Grimaldi dann von dem einen zu dem andern Theater im Galopp laufen, ohne nur eine Minute inne zu halten. Was er damals im Rennen zu leisten vermochte, läßt sich daraus ersehen, daß er diese Strecke, zu der ein gewöhnlicher Fußgänger eine gute halbe Stunde brauchte, zuweilen in acht Minuten zurücklegte, einmal zum Beispiel mit dem um vieles jüngeren Sohne des damaligen Theaterzetteldruckers Fairbrother von Sadlers Wells nach Drury-Lane, einmal von Drury-Lane nach Sadlers Wells. Eine dritte solche Parforce-Tour machte er, wiederum in Gesellschaft des jungen Fairbrother, als die Drury-Lane-Truppe im italienischen Opernhause spielte, in vierzehn Minuten zwischen dort und Sadlers Wells, spielte die Rolle, die er im Kimon in dem großen Aufzug hatte, und rannte in dreizehn Minuten nach Sadlers Wells zurück, um dort seine Clown-Rolle abzutun. Mit seinen Pflichten nahm er es stets äußerst genau und seine Gewissenhaftigkeit war so groß, daß er das Publikum in seiner langen und mühevollen Laufbahn kein einziges Mal irre geführt hat und kein einziges Mal eine Rolle versäumt hat, in der er angekündigt worden.

Ein Vierteljahr wirkte er im Drury-Lane-Theater mit, ohne daß es infolge seiner Differenz mit John Kemble zu ärgerlichen Auseinandersetzungen gekommen wäre. Aber steif und förmlich verkehrten sie hinfort nur, und ein kaltes Kompliment war, wenn sie einander sahen, der einzige Beweis von Höflichkeit. Grimaldi fürchtete jedoch, daß es zu einem Bruche zwischen Kemble und ihm kommen werde, und diese Befürchtung ging auch in Erfüllung.

Am 26. Juni bekam er die Mitteilung, daß die Inhaber des Theaters auf seine Mithilfe in der nächstfolgenden Saison verzichteten. Unterzeichnet war die Mitteilung von Souffleur Powell. Grimaldi ärgerte sich heftig darüber, da ihm das Verhalten der Theaterdirektion nicht anders als hart und ungerecht vorkommen konnte. Zuerst wollte er gegen Sheridan eine Klage anstrengen, hätte wohl auch auf Grund des Vertrags den Prozeß gewinnen müssen, kam jedoch davon ab und zog es vor, sich an seinen treuen und redlichen Freund und Berater Mr. Hughes zu wenden, der ihm, nachdem er das Billet Powells gelesen, erklärte:

»Verbrennen Sie den Wisch und schlagen Sie sich die Geschichte ganz aus dem Sinne! Kommen Sie, wenn die Saison in Sadlers Wells zu Ende ist, zu mir nach Exeter und bleiben Sie so lange bei mir, bis in Sadlers Wells wieder gespielt wird. Sie sollen fünf Pfund wöchentlich und ein ganzes Benefiz haben. Es müßte doch merkwürdig zugehen, wenn Sie sich auf diese Weise nicht besser stehen sollten als in Ihrem damaligen Verhältnisse zum Drury-Lane-Theater.«

Grimaldi nahm dieses Angebot an und schlug sich die ganze Sache tatsächlich aus dem Kopfe.

Die Sommersaison in Sadlers Wells verging ihm sehr rasch. Im August sollte sich ein verdrießlicher Fall ereignen, dessen Folgen Grimaldi sehr schwer hätten treffen können. Er gab in der genannten Teufelskomödie den Unterhauptmann einer Räuberbande. In der einen Szene hielt er im Stiefel ein Pistol versteckt, das er plötzlich, – um einen Bühneneffekt zu bewirken – hervorziehen und abfeuern mußte. Bei der Vorstellung am 14. August entlud sich das Pistol beim Herausziehen und zerriß den Stiefel, wodurch Grimaldi einen recht possierlichen Räuberhauptmann abgab. Um aber den Auftritt nicht zu gefährden, verbiß er sich die Schmerzen, die er litt, und als er abtreten konnte, stellte sich heraus, daß der Strumpf in Brand geschossen war und die ganze Zeit über gebrannt hatte, die Grimaldi auf der Bühne weilte. Ja sogar der Pfropfen brannte noch unter dem Fuße.

Volle vier Wochen mußte Grimaldi das Zimmer hüten als Strafe für seine Standhaftigkeit.

In dieser Zeit nahm sich eine Schauspielerin vom Drury-Lane, Miß Bristow, seiner hingebungsvoll an, half ihm alle Morgen beim Verband der schmerzhaften Wunde und verkürzte ihm durch ihre Gesellschaft die Stunden, die ihm sonst gar eintönig verflossen wären. Aus Dankbarkeit nahm er sie am nächstfolgenden Weihnachtsabend zu seiner Frau und lebte mit ihr über dreißig Jahre im glücklichsten Einvernehmen, bis zu ihrem Ableben.

Im Drury-Lane nahmen die Vorstellungen am 30. September mit »Wie es euch gefällt« und »Blaubart« wieder ihren Anfang. Im letzten Stücke trat Grimaldi erst im vorletzten Akte auf, in einem Schwertkampfe, der nur zu dem Zwecke eingeschoben war, um zu den Vorbereitungen für den letzten Akt Zeit zu gewinnen. Das hatte Kemble außer acht gelassen und, statt für einen Ersatzmann zu sorgen, angeordnet, daß die Kampfszene wegfallen solle, wodurch für ihn wie für die Zuschauer recht unangenehme Folgen entstehen sollten.

Das Haus war dicht gefüllt. Alles ging gut bis zur letzten Szene. Sie gleich an die vorletzte anzuschließen, war unmöglich, und das Publikum, statt durch den Zweikampf abgelenkt zu werden, mußte die leere Bühne angaffen. Erst wurde gezischt, dann wurde die Schwertszene laut gefordert, und da keine Anstalt dazu getroffen wurde, schrien die einen, Kemble solle sie, wenn er keinen Darsteller dafür hätte, selbst spielen, während von anderer Seite gefordert wurde, er möge sich wenigstens sehen lassen und sich durch, ein paar schickliche Worte entschuldigen.

Schließlich war die nötige Zeit gewonnen worden, so daß die letzte Szene gespielt werden konnte; aber der Lärm nahm nicht ab, sondern zu, so daß der Vorhang unter Zischen und Pfeifen fallen mußte.

Sheridan hatte während der Vorstellung mit einigen guten Freunden in seiner Loge gesessen und sich wiederholt zu dem vollen Hause gratuliert, auch seiner Freude, daß alles so gut klappe, Kemble gegenüber Ausdruck gegeben und war nun nicht wenig alteriert über die Wandlung, die in der Stimmung des Publikums vor sich ging, und geriet in heftigen Zorn, als er die Ursache davon erfuhr.

Kaum fiel der Vorhang, so stürzte er auf die Bühne, wo die Schauspieler standen, und rief, es möchte sich niemand entfernen. Dann postierte er sich mit dem Rücken gegen den Vorhang und bat um Auskunft über die Ursache des Lärms, den das Publikum zwischen dem vorletzten und letzten Auftritt gemacht. Keiner traute sich zuerst mit der Sprache heraus, endlich faßte sich Barrymore, der den Blaubart spielte, ein Herz und sagte, es läge wohl nur daran, daß Roffey und Joe früher die Pause zwischen dem vorletzten und letzten Akte durch einen Schwertkampf ausgefüllt hätten, der aber jetzt hätte ausfallen sollen.

»Und weshalb ist er ausgefallen?« fragte Sheridan strengen Tones. »Mr. Kemble, warum fällt der Schwertkampf aus?«

Aber Kemble war, was Sheridan in seinem Zorne gar nicht bemerkt hatte, nicht auf der Bühne, statt seiner nahm wieder Barrymore das Wort.

»Weshalb die Szene ausfallen sollte, weiß ich nicht, Sir. Ich kann nur soviel sagen, daß meines Wissens die Direktion Mr. Grimaldi gekündigt und gleich entlassen hat.«

Da geriet Sheridan in hellen Zorn und rief, in seinem Hause wolle er selbst Herr sein, er lasse nicht über seinen Kopf hinweg disponieren, und was dergleichen Redensarten mehr waren. Auf der Stelle schickte er den Theaterdirektor zu Joe und Grimaldi und ließ ihn für den nächsten Tag Punkt zwölf Uhr um seinen Besuch bitten. Dann verließ er das Theater ohne sich auf weitere Auseinandersetzungen mit Kemble einzulassen, der inzwischen auf die Bühne gekommen war.

Am andern Tage hieß er Grimaldi auf das freundschaftlichste willkommen und erneuerte seinen Vertrag mit ihm unter der Bedingung, daß seine Gage um ein Pfund wöchentlich erhöht und ihm allmonatlich ein ganzes Benefiz zugestanden werden solle. Tags darauf kündigten die Zettel wieder Harlekin Amulett mit Joe Grimaldi als Darsteller der Hauptrolle an. Während der ersten Probe trat Kemble zu Grimaldi, gab seiner Freude, ihn wiederzusehen, wie auch der Hoffnung eines recht langen Zusammenwirkens Ausdruck. Grimaldi antwortete im gleichen Sinne. Seine Differenz mit Kemble hatte also nur die eine Folge für ihn, daß seine Gage erhöht würde, er gab infolgedessen den Plan, nach Exeter zu gehen, auf, hatte doch sein Schwiegervater mit seinem Anerbieten keinen andern Zweck verfolgt, als Joe entgegenzukommen, soweit es ihm seine Kräfte ermöglichten.

Damals verkehrte Grimaldi auch mit dem Verfasser eines vielgelesenen Romans »Der Mönch«, der wohl an zwanzig Auflagen erlebte, aber als ziemlich unsittliches Produkt in sehr geringem Renommee stand. Der Mann hieß Lewis, wurde aber in der Regel nicht anders als nach seinem Romane genannt. Er war von weibischem Aussehen, verkehrte viel in der Garderobe des Drury-Lane-Theaters und führte mit dem Theaterpersonal Unterhaltungen, die recht oft gegen den guten Ton verstießen, und die ihm von manchen gar übel angerechnet wurden.

Sheridan schien sich im stillen viel über ihn lustig zu machen, und nicht selten diente er ihm zur Zielscheibe seines Spottes. Aber ein Stück, das damals von ihm aufgeführt wurde, »Das Burggespenst«, und das dem damaligen Geschmacke die gebührliche Rechnung trug, machte ihn zu einer gewissen Respektsperson, mit der eine Theaterdirektion immerhin rechnen mußte. Sheridan hatte freilich von dem Stücke nur eine geringe Meinung, was wohl am besten die nachstehende Anekdote erweisen dürfte.

Er saß einmal mit Lewis in einer Weinstube, es war zu einem Disput zwischen ihnen gekommen – Lewis geriet in Hitze und bot Sheridan eine Wette an. »Um was soll die Wette gehen?« fragte Sheridan. – »Ich setze meine heutige Einnahme aus dem Burggespenst!« rief Lewis. – »Das wäre zuviel für solche Bagatelle von Streitobjekt. Wie aber, wenn ich den ganzen Wert des Stückes als literarisches Objekt dagegen setzte?«

Lewis nahm aber dergleichen satirische Ausfälle seines munteren Zechkameraden immer mit vollkommenem Gleichmute hin.

Hier möge eine andere kleine Anekdote folgen, die Grimaldi gern zum besten gab und die wir mit seinen eigenen Worten folgen lassen:

Im Winter des Jahres 1802 hatte ich häufig die Ehre, Seine Majestät Georg IV. bei mir zu sehen. Der König, damals noch Prinz von Wales, kam oft hinter die Kulissen des Drury-Lane-Theaters und erfreute jedermann durch seine Leutseligkeit und seine witzigen Bemerkungen. Am Abend des Dreikönigstages saßen wir, wie gewöhnlich, in der Garderobe, um den Dreikönigskuchen zu verspeisen, für den ein Mr. Baddeley testamentarisch drei Guineen gestiftet hatte. Als wir so recht fidel beisammen saßen, trat Sheridan mit dem Prinzen herein und sagte scherzend, mit einem Blick auf die große Krone, die den Kuchen zierte:

»Daß ein Kuchen solche Krone trägt, ist doch nicht in Ordnung. Was meinen Sie, Georg?«

Der Prinz begnügte sich, damit, zu lächeln.

Sheridan hob die Krone von dem Kuchen, präsentierte sie dem Prinzen und bat ihn um die Gnade, die Kleinigkeit anzunehmen. »Mit Nichten«, antwortete der Prinz, »wenn es mir auch nicht jeder glauben wird, so bleibt es doch nichtsdestoweniger wahr, daß mir der Kuchen lieber ist als die Krone.«

Mit diesen Worten lehnte er es ab, die Krone in Empfang zu, nehmen, und nahm an unserm fidelen Abend den fidelsten Anteil, behielt sich aber von dem Kuchen die besten Stücke.

In den Jahren 1801 und 1802 wurden im Drury-Lane-Theater Pantomimen nicht gegeben; auch in Sadlers Wells gab es 1802 wenig neues. Dafür wurde Grimaldi am 21. November ein Söhnchen geboren: ein Ereignis, das ihn unaussprechlich glücklich machte.

Sonst war dies Jahr für Grimaldi keineswegs glücklich. Ob es nun persönliches Pech bei ihm war, oder Mangel an gebotener Vorsicht, oder Unerfahrenheit in weltlichen Dingen, genug, er verlor das bißchen Geld in diesem Jahre, das er sich gespart hatte, und zwar auf eine Weise, wie er es sicher am allerwenigsten gerechnet hatte. Er hatte die Bekanntschaft eines damals für sehr reich gehaltenen Kaufmanns gemacht, namens Newland. Eines Morgens im Februar bekam er dessen Besuch, und nach einer kurzen Unterhaltung wurde er von ihm gebeten, ihm mit der Kleinigkeit von ein paar hundert Pfund auszuhelfen. Dieses Ansinnen wurde in einem Tone gestellt, als wenn Grimaldi noch eine besondere Ehre dadurch angetan würde.

»Ich habe momentan Mangel an barem Gelde«, schloß der Herr, »habe alles in mein Geschäft gesteckt und kann meine Werte nicht so schnell realisieren. Wenn Ihnen solches Darlehn – ich brauche es nur auf kurze Zeit und stelle Ihnen einen Sichtwechsel aus – keine Bedenken machte.«

Kurz, Grimaldi ließ sich bereit finden, gegen einen Sichtwechsel dem Manne seine Ersparnisse – bare 600 Pfund – auszuhändigen, erklärte, er habe nicht im geringsten Bedenken gegen die Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit des Mannes, gäbe ihm sogar gern das dreifache, wenn er selbst soviel besäße – und legte statt seiner Guineen den Sichtwechsel in seine Schatulle. Newland dankte und ging, war in drei Wochen pleite, riß aus nach Amerika, starb unterwegs, und Grimaldi war seine Ersparnisse auf Heller und Pfennig los.

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Ein merkwürdiger Vorfall.

Eines Abends im folgenden Jahre wurde Grimaldi im Drury-Lane-Theater in die Garderobe gerufen, wo ihn zwei Herren zu sprechen wünschten. Er ließ ihnen sagen, sie möchten sich so lange gedulden, bis er mit seiner Rolle durch sei. Sobald dies der Fall war, begab er sich in die Garderobe. Zwei junge Leute von weltmännischem Aussehen begrüßten ihn, der eine mit auffallender Wärme.

Er mochte im gleichen Alter sein mit Grimaldi und hatte, nach seiner Hautfarbe zu schließen, wahrscheinlich unter einem wärmeren Himmelsstriche gelebt. Nach der damals herrschenden Mode trug er einen blauen Leibrock mit vergoldeten Knöpfen, weiße Weste, lange anschließende Beinkleider und in der Hand ein dünnes Rohr mit goldnem Knopfe.

»Na, Joe«, rief er, Grimaldi die Hand entgegenstreckend, »wie geht’s dir, alter Junge?«

Grimaldi war höchlich verwundert, so vertraulich von einem ihm völlig unbekannten Menschen angeredet zu werden, und antwortete, daß er leider nicht das Vergnügen habe, den Herrn zu kennen. »Ei, mein lieber Joe, das ist aber mehr als spaßig«, rief der Unbekannte, laut lachend, und sein Begleiter stimmte in das Lachen ein.

Grimaldi wurde empfindlich und wollte sich entfernen, als der Unbekannte ihm die Frage stellte, ob er ihn wirklich nicht wiedererkenne, und sein Hemd auf der Brust auseinander klappte. Da erkannte Grimaldi an einer dort sichtbaren Narbe seinen seit Jahren verschollenen Bruder. Sie fielen einander in die Arme und weinten Tränen vor Freude. Am gerührtesten von beiden war Joe.

»Komm mit hinauf«, sagte er endlich, »Mr. Wroughton ist auch oben. Du besinnst dich doch auf ihn? Er verschaffte dir doch die Mittel, zur See zu gehen. O, der wird sich gar sehr freuen, dich wiederzusehen.«

Sie eilten fort, und der Begleiter des wiedergefundenen Bruders rief ihnen nach: »Ich muß Dir wohl gute Nacht sagen, John?«

John rief Zurück, daß er am andern Vormittag Punkt zehn Uhr wieder bei ihm sein werde, und ging mit Joe hinauf in die Garderobe, wo er mehreren Herren vorgestellt wurde. Joe hatte nicht viel Zeit übrig, nahm sie aber nach besten Kräften wahr und hörte zu seiner Freude von dem Bruder, daß ihm das Glück im Leben immer gelacht habe.

»Da sieh!« rief John lachend, und schlug an seine Brusttasche. »sechshundert Pfund schleppe ich bei mir!«

»Hältst Du es nicht für gefährlich, soviel Geld mit Dir herumzutragen?« versetzte Joe.

»Gefährlich?« antwortete Joe, »o! wir Seeleute kennen keine Gefahr! Käme ich aber auch um den Bettel, wäre ich doch noch kein Bettler.« Die Miene, die er dabei zog, ließ Joe nicht im unklaren, daß sein Bruder »sein Schäfchen ins Trockne gebracht habe.« Im nämlichen Moment wurde Joe auf die Bühne gerufen, und nun knüpfte Mr. Wroughton mit John eine Unterhaltung an, in der er ungefähr dasselbe von ihm hörte, was Joe von ihm vernommen: daß er Geld über Geld habe, – Worte, die er durch Vorweis eines von Gold strotzenden Beutels besonders bekräftigen zu müssen meinte.

Sobald das Stück zu Ende war, kam Joe wieder. Mr. Wroughton wünschte beiden unter viel Glückwünschen gute Nacht, und Joe fragte den Seemann, wie lange er schon in London weile. – »Ich bin erst vor ein paar Stunden angekommen«, antwortete John, »habe ein paar Bissen gegessen und bin dann ins Theater geeilt, um Dich dort zu treffen.«

»Und was denkst Du nun vorzunehmen?« fragte Joe. –

»O, mein einziger Zweck, nach London zu kommen, war der, Dich und die Mutter wiederzusehen«, antwortete John.

Joe forderte ihn nun auf, bei ihm und seiner Frau zu wohnen, wo er die Mutter ja sehen würde, und John ging mit Freuden darauf ein. Er sagte, er müsse die Mutter unbedingt sehen, da er sonst kein Auge schließen könne, und fragte, wo sie wohne. Joe bezeichnete ihm Haus und Straße, setzte aber hinzu, daß er im Theater nichts mehr zu verrichten habe, sich nur umkleiden wolle und dann zu seiner Verfügung stände.

John gab seiner Freude hierüber lebhaften Ausdruck, und Joe lief in die Garderobe, ihn auf der Bühne allein lassend.

Er war so erregt, daß er alles zwei-, dreimal machen mußte, daß er, statt in die Rockärmel, in die Beinkleider fuhr – kurz, er brauchte länger als sonst, um fertig zu werden, und als er endlich wieder die Treppe hinunter stürzte, lief ihm Powell in den Weg, hielt ihn mit ein paar nichtssagenden Reden auch noch ein paar Minuten auf, sagte ihm aber dabei, daß er eben noch ein paar Worte auch mit John gesprochen habe.

»Er wartet doch noch?« fragte Joe.

»Gewiß, auf der Bühne. Es ist ja kaum erst eine Minute her, daß ich ihn dort gesehen habe. Aber ich will Sie nicht weiter aufhalten. Wir fällt ein, daß er sagte, Sie blieben ja schrecklich lange. Er schien ungeduldig zu werden über Ihr langes Ausbleiben, sagte auch, Sie hätten nur ganz kurze Zeit wegbleiben wollen.«

Grimaldi sprang die letzten Stufen mit einem Satze hinunter. Aber als er die Bühne wieder betrat, war John nicht mehr da.

Bannister kam zu ihm und fragte ihn, wen er suche. »Meinen Bruder«, antwortete Joe; »ich! habe ihn vor einer kleinen Weile hier verlassen.«

»Ich habe ihn vor einer knappen Minute gesprochen«, antwortete Bannister, »er ging zum Portale hinunter, die große Freitreppe. Ich glaube, daß er nicht länger warten wollte. Aber Sie müssen ihn doch noch einholen.«

Grimaldi eilte zum Ausgange. Der Torwart sagte ihm, sein Bruder sei vor kaum einer Minute zur Tür hinaus und könne noch nicht ganz die Straße hinunter sein. Grimaldi lief ein paar mal in der Straße auf und ab, sah und hörte aber nichts von John. In seiner Freude hatte er vielleicht einen von seinen alten guten Freunden besucht mit der Absicht, gleich wieder zum Theater zurückzukommen. Ganz in der Nähe wohnte solch ein alter Freund, ein gewisser Bowley, mit dem er als Junge manch tolles Stückchen getrieben hatte.

Grimaldi rannte in dessen Wohnung. Auf sein heftiges Klopfen kam Bowley selber vor die Tür hinaus, augenscheinlich in der größten Verwunderung.

»Freilich, freilich!« antwortete er auf Grimaldis Frage, »John war da, wir haben ein paar flüchtige Worte miteinander gesprochen, aber er sagte, er habe heute gar keine Zeit, wolle aber morgen wiederkommen. Jesus«, rief er, »eine größere Überraschung hätte ich mir nicht träumen lassen. Nach so viel Jahren den Jungen wiederzusehen, und so unverhofft! so unverhofft!«

»Und wie lange ist er fort?« fragte Grimaldi.

»Das kann doch kaum eine Minute her sein?« antwortete Bowley; »länger auf keinen Fall, auf keinen Fall.«

»Und in welcher Richtung ist er fortgegangen?«

»Die Duke-Straße entlang.«

Grimaldi schloß hieraus, daß John zu seinem einstigen Hauswirte, einem gewissen Bailey, gegangen sein möchte, der in der Little-Wild-Straße seine Wohnung hatte. Er mußte lange klopfen, ehe ihm jemand antwortete. Eine alte Magd guckte endlich zu einem Fenster heraus und sagte, sie hatte doch schon einmal gesagt, daß der Herr nicht zu Hause sei. Wozu würde bloß noch einmal geklingelt? – Grimaldi gab sich zu erkennen. Das Mißverständnis klärte sich auf. Die Magd sagte, es habe vor wenigen Minuten erst jemand geklopft und nach dem Herrn gefragt, sei aber wieder gegangen, als sie ihm gesagt habe, der Herr sei nicht zu Hause. Grimaldi bat die Magd, ihm zu sagen, wie der Herr ausgesehen habe. Sie konnte aber nur sagen, daß er eine weiße Weste angehabt habe.

In Grimaldi stiegen unbestimmte Befürchtungen auf. Er lief nach dem Schauspielhause zurück, wo aber John nicht wieder vorgesprochen habe, lief von einem Hause zum andern, wo er den Bruder zu finden hoffte, aber weder hier noch dort hatte derselbe sich blicken lassen. Noch einmal eilte er nach dem Schauspielhause zurück, das eben geschlossen wurde, denn die Zeit war schon weit vorgerückt, und nun fiel ihm ein, daß er ja dem Bruder die Wohnung der Mutter bezeichnet hatte. Was konnte wahrscheinlicher sein, als daß der so lange verlorene Sohn sich dorthin begeben hatte? Er lief nach Hause, suchte unterwegs die Fassung wieder zu gewinnen; die Mutter sah blässer aus als sonst, wenigstens kam es ihm so vor; John war aber nicht da.

»Hat sich etwas besonderes zugetragen?« fragte er die Mutter weiter.

»Nein«, antwortete die Mutter; »nicht, daß ich wüßte.«

»Es ist kein Fremder dagewesen? kein uns lieber Verwandter, den wir lange Zeit nicht gesehen haben?« fragte Grimaldi, in dessen Herzen sich, alle Befürchtungen von neuem regten.

»Wie soll ich diese Worte verstehen?« erwiderte die Mutter.

»O ich wollte Dir nur sagen, daß John wiedergekehrt ist und Geld genug mit heimgebracht hat, um uns alle glücklich und zufrieden zu machen.«

Die Mutter schrie vor Freude laut auf, dann fiel sie in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich gekommen war, erzählte Grimaldi, was sich zugetragen habe. Seine Mutter und seine Frau waren aufs höchste verwundert. Die letzte meinte, John werde wohl mit anderen Bekannten und Freunden zusammengekommen sein und sicher noch kommen. Sie bestand darauf, daß ihr Mann sich zu Bett legte, da er sehr angegriffen und von dem vielen Herumlaufen aufs äußerste erschöpft war. Sie selbst blieb die ganze Nacht auf, aber – der verlorene Sohn kam nicht, auch den anderen Vormittag, den ganzen anderen Tag nicht. Er war, so schnell er aufgetaucht war, so schnell auch wieder verschwunden, und bis zu diesem Augenblicke, da ich diese Zeilen schreibe, ist nichts wieder von ihm gehört worden. Es ist auch nicht das geringste Anzeichen, das zu einer Aufklärung über sein Verschwinden hätte führen können, bis heutigentags zum Vorschein gekommen.

Grimaldi hat es, wie man sich wohl denken kann, an den größten Anstrengungen, Licht in die mysteriöse Sache zu bringen, nicht fehlen lassen, und ist in seinen Bemühungen hierin von allen Bekannten und Freunden bereitwillig unterstützt worden. Ein hochgestellter Herr von der Admiralität interessierte sich lebhaft für den Fall und ließ alle in den letzten Tagen angekommenen Schiffe revidieren, brachte die ganze Polizei auf die Beine, ließ in allen verdächtigen Häusern Nachsuchung halten. Aber – es war alles vergeblich. Von dem jungen Manne fand sich keine Spur. Über sein Verbleiben konnte nichts ermittelt werden.

Natürlich fehlte es an allerhand Kombinationen nicht. Zwei hatten die größte Wahrscheinlichkeit von allen anderen für sich.

Der Lord von der Admiralität vertrat die Ansicht, daß John zum Matrosen gepreßt worden und vielleicht in einem der damals häufigen Kämpfe zur See geblieben sein möchte. Er war früher unter einem angenommenen Namen gefahren, und das erschwerte natürlich die Nachsuchung wesentlich. Mehr hatte jedoch die Vermutung eines routinierten Polizeibeamten für sich, der die Meinung vertrat, der junge Mensch möchte von Leuten, die darum gewußt, daß er viel Geld bei sich trug, in irgend eine Spelunke oder Lasterhöhle verschleppt und dort ausgeplündert und erschlagen worden sein.

Leichtblütig war John immer gewesen, hatte auch Gefahren niemals ernstlich, genommen. Was vor allem für diese Kombination zu sprechen schien, war der auffällige Umstand, daß der Freund, mit dem er bei Grimaldi gewesen war, mit ihm zusammen verschwunden war und – verschwunden blieb. Hätte er um Johns Verschwinden nichts gewußt, so hätte er doch gewiß Erkundigungen nach ihm angestellt, zumal er sich doch am anderen Vormittag Punkt zehn Uhr mit ihm hatte treffen wollen. Er ließ jedoch nicht das geringste von sich hören. Es war auch nicht die geringste Spur von ihm aufzufinden, und um so bedenklicher war die Angelegenheit insofern, als John ihn gar nicht einmal Grimaldi vorgestellt hatte.

Kein Wunder, daß ihn Grimaldi sowohl als seine Angehörigen für den Schuldigen oder wenigstens für den Mitschuldigen an einem Verbrechen hielten, dem der zum zweiten Male verlorene Sohn und Bruder zum Opfer gefallen war – ob mit Recht oder Unrecht, dürfte wohl für alle Zeit in Dunkel gehüllt bleiben.

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Signor Bologna und seine Familie. – Ein Ausflug mit ihr nach Kent. – Mr. Mackintosh, der wohlsituierte Landeigentümer. – Eine große Feldjagd und eine Szene mit einem Wirt, einem Wildhüter, Bologna und Grimaldi, die sich im »Garricks-Kopfe« abspielte.

Signor Bologna, seinen Freunden besser bekannt als Jacj Bologna, war ein Landsmann von Grimaldis Vater und gleich diesem aus Genua gebürtig. Im Jahre 1787 kam er mit Weib, zwei Jungen und einem Mädchen nach England. Auch er war ein Pantomimen-Künstler, während seine Frau auf dem Drahtseile tanzte. John, sein ältester Sohn, war Harlekin und stand später als solcher in hohem Rufe; Louis, der jüngere, war Tänzer; die Tochter Barbara Tänzerin.

Anfangs waren sie beim Sadlers Wells-Theater engagiert. Dort wurde auch Grimaldi mit Bologna bekannt, später befreundet, und ihre Freundschaft hielt stand bis an ihren Tod, also eine gar geraume Zeit, denn sie waren verhältnismäßig jung miteinander zusammengekommen.

Anno 1804 wirkten sie abermals beim Sadlers Wells-Theater, und das freundschaftliche Verhältnis wurde von neuem aufgewärmt. Grimaldi spielte auch wieder im Drury-Lane-Theater, und auch Bologna war stark in Anspruch genommen. Eines Abends klagten sie einander ihre Not über die viele Arbeit, die sie hätten, und Bologna fiel ein, daß ihn ein guter Bekannter, der in Kent einen kleinen Landsitz hatte, schon immer eingeladen hatte, ihn einmal auf ein paar Tage zu besuchen und mit ihm auf die Jagd zu gehen, wenn es anginge, deshalb auch einen Bekannten mitzubringen. Bologna lud nun Grimaldi dazu ein. Auf eine Vorfrage, ob ihr Besuch auch recht komme, erwiderte der alte Bekannte Bolognas, daß die beiden Herren je eher je lieber gesehen seien, und so fuhren sie am 6. November in einem Einspänner von London weg.

Unterwegs erzählte Bologna seinem Kameraden, Mr. Mackintosh, zu dem sie unterwegs seien, sei ein reicher Grundbesitzer, habe weder ein Amt noch ein Geschäft, sei aber im Besitze einer sehr schönen Jagd. Grimaldi war über diese Mitteilungen äußerst erfreut und sehr gespannt auf die Bekanntschaft mit Mr. Mackintosh, auch nicht wenig stolz darauf, Gast eines so vornehmen Herrn zu sein.

Unter solchem Gespräch kamen sie nach Bromley, das nur etwa zwei Stunden noch von Mackintosh Wohnsitze entfernt war. Hier begegneten sie einem Manne in barchentnem Wamse, der in einem zweirädrigen Karren fuhr, vor den ein auf einem Beine lahmer Pony gespannt war, kurzerhand hielt und die beiden mit lautem, vertraulichem Zurufe willkommen hieß.

Grimaldi wunderte sich hierüber nicht wenig, denn er hatte den Mann im ganzen Leben noch nicht gesehen, ganz verdutzt aber wurde er, als sich Bologna mit ihm die Hände schüttelte und ihn Grimaldi schließlich als Mr. Mackintosh vorstellte. »Ich bin sehr erfreut, mein lieber Joe«, sagte Mackintosh im Brusttone der Gönnerschaft, »daß ich Sie bei mir sehe. Ich habe es mir wohl gedacht, daß ich Sie auf dieser Landstraße treffen würde, und will Ihnen nun als Führer Dienste leisten.«

Grimaldi sagte ein paar Worte, um sich für die etwas plumpe Höflichkeit zu bedanken. Darauf setzten sich Karren und Einspänner wieder in Bewegung.

»Recht schade, meine Herren«, sagte Mr. Mackintosh, »daß Sie einen recht ungünstigen Tag, wenigstens für die Jagd, gewählt haben. Wir haben doch morgen Feiertag. Sie können sich aber morgen ein bißchen bei uns umsehen, und übermorgen, ja übermorgen wollen wir den Leuten etwas hören lassen! Da soll’s von früh bis spät in die Nacht hinein knallen!«

»Gibt’s heuer viel Hühner?« fragte Bologna.

»In Menge, meine Herren, in Menge!« versetzte Mackintosh, und auf eine Weise, wie auch in einem Tone, die es Grimaldi unmöglich machte, den seinen Mann in ihm zu entdecken, von welchem Bologna ihm soviel gesprochen hatte. Er sollte aber bald noch besseren Grund zur Verwunderung bekommen.

Etwa anderthalb Stunden mochten sie gefahren sein, als Bologna an Mackintosh die Frage stellte, ob sie es noch weit bis zum Fahrtziele hätten.

»Durchaus nicht«, antwortete Mackintosh, »dort steht ja mein Haus.«

Bei diesen Worten wies er auf ein sehr bescheidenes Gasthaus an der Straße, vor dem ein Schild mit dem Namen Mackintosh und der Zeile darunter hing: »Gute Unterkunft für Menschen und Vieh …«

Bologna blickte erst Grimaldi, dann die Schenke, zuletzt den Mann in Barchentwamse an; aber der letztere war von seinem bescheidenen Gasthöfchen augenscheinlich so eingenommen, daß ihm die Verwunderung seiner Gäste gar nicht auffiel.

»O«, sagte er, »Sie finden bei mir die besten Weine, Biere und Aale, Rauch- und Schnupftabak, Betten und Stallung, auch eine Kegelbahn, und was ein Menschenherz sonst noch wünschen kann.«

»Entschuldigen Sie, lieber Mackintosh«, sagte Bologna, der offenbar verdrießlich war, während Grimaldi sich fast das Lachen nicht verhalten konnte, »aber ich bin immer der Meinung gewesen, Sie hätten gar kein Geschäft.«

»Ich habe auch keines«, antwortete Mackintosh, »das Geschäft gehört meiner Mutter.«

Darüber war nun Bologna noch verdrießlicher, und Grimaldi mußte jetzt hell auflachen, was jedoch Mackintosh durchaus nicht verdroß, sondern amüsierte, meinte er doch fast eine Schmeichelei darin zu erblicken. »Ja«, sagte er, »man kann mich mit Recht für einen Gentleman ansehen, für einen Gentleman im wahrsten Sinne des Wortes, »denn ich tue weiter nichts, als in meinem Fuhrwerke herumkutschieren oder mit meinem Gewehr und meiner Angelrute umherstreifen. Alles Geschäft besorgt meine Mutter. Ich bin aber der einzige Sohn und werde also doch einmal mich mit dem Krame abfinden müssen.« Ein Weilchen verhielt er sich still. Dann schlug er Bologna vertraulich mit der Peitsche über die Schulter und setzte dann hinzu: »Daß Sie in eine Herberge kämen, haben Sie wohl nicht gedacht?«

»Nein, ganz gewiß nicht«, antwortete Bologna verdrießlich.

»Hab’s mir wohl gedacht, alter Junge«, erwiderte Mackintosh mit herzlichem Lachen, »meine Londoner Bekannten lasse ich eigentlich niemals hineinsehen, was ich eigentlich bin, ausgenommen ein paar besonders gute Freunde, wie Sie und Joe zum Beispiel. Ich wiege sie vielmehr immer in der Meinung, es sei Gott weiß was mit mir los, und darauf fallen sie auch alle hinein. Was kommt übrigens an auf die Meinung der Menschen? Wenn man bloß immer den Beutel recht voll hat – Geld, mein Junge, Geld ist nun einmal die Hauptsache in der Welt… Aber wir sind zur Stelle. Steigen Sie aus, und seien Sie versichert, daß es Ihnen bei mir gefallen wird. Wenigstens soll es Ihnen an nichts bei mir fehlen. Ich will Sie halten, wie es kein Edelmann besser könnte.«

In seinem Benehmen und seiner Weise lag eine gewisse Biederkeit, die für ihn einnehmen mußte. Grimaldi sagte deshalb, weil Bologna verdrießlich blieb und mit keinem Worte auf seine freundliche Rede erwiderte, ein paar höfliche Phrasen. Mackintosh war dafür sehr dankbar, führte seine beiden Gäste ins Haus und stellte sie seiner Mutter als ein paar sehr gute Freunde aus London vor. Sie wurden aufs beste aufgenommen und bewirtet und saßen bald bei einem guten Bauernessen, das im Verein mit dem schäumenden Biere Bolognas Verdruß bald beseitigte.

Als sie gegessen hatten, machten sie einen Spaziergang. Es war eine ganz nette Gegend, sehr schönes Hügel- und Wiesenland, auch ein recht stattlicher Wald. Zum Abend gab es wieder reichliches Essen und fast noch einen besseren Schoppen als bei Tage und als sie sich zu Bett verfügten, ließ Bologna von Herzen gelten, »daß sie es ganz gut getroffen hätten.« Aber er meinte trotzdem, »man dürfe den Tag nicht vor dem Abend loben«, sondern mit seinem Urteil noch immer so lange warten, bis man gesehen habe, wie es mit dem Wildbestande beschaffen sei. Am andern Tage verging die Zeit mit Essen und Trinken, allerhand Plausch mit einkehrenden Gästen, auch mit Mr. Mackintosh und seiner Mutter. Dann hieß es die Flinten instand setzen, und dann kam die Rede auf das Jagdvergnügen, von dem Mackintosh seinen beiden Gästen gar nicht Rühmens genug hermachen konnte.

Am dritten Tage nahmen sie den Morgenimbiß zu sehr früher Stunde ein und brachen dann mit ihrem Wirte auf, der kein Gewehr mitnehmen, sondern seinen Gästen bloß als Führer dienen wollte.

Nach einiger Zeit kamen sie an eine Steige, dann ging es über einen Anger, zuletzt kamen sie an ein niedriges Gatter, das zu einem schönen Stück Heideland führte. Da rief Mackintosh, der eine Strecke hinter ihnen geblieben war, sie sollten Halt machen.

»Ein Weilchen, bloß ein Weilchen!« rief er, »Sie wissen doch nicht so gut Bescheid wie ich!«

Er trat dicht an das Gatter, guckte hinüber und kehrte eilig zurück.

»Wir kommen gerade recht«, sagte er eifrig, »es sind Hühner über Hühner im Felde.«

Sie schlichen ans Tor heran, waren aber erstaunt, weiter nichts als Tauben zu sehen.

»Na, das ist doch eine stattliche Kette!« rief Mackintosh und schlug in die Hände vor Freude.

»Eine Kette?« wiederholte Grimaldi; »aber wo denn? Ich sehe ja bloß Tauben.«

»Bloß Tauben?« wiederholte Mackintosh; »aber, was dachten Sie denn bei mir zu finden?«

»Na, zum wenigsten doch Fasanen und Rebhühner!« riefen beide Weidmänner wie aus einem Munde.

Bologna wurde wieder ärgerlich und hätte fast seinen Grimm ,über diese Enttäuschung Luft gemacht; aber Mackintosh stellte sich aufs höchste verwundert.

»Fasanen und Rebhühner?« wiederholte er, »nein, von so etwas ist hier keine Rede! Ich habe Sie nach Kent zitiert, Hühner zu knallen; aber Tauben sind doch was noch weit besseres. Da haben Sie welche, und nun knallen Sie dazwischen, wenn es Ihnen Spaß macht. Ich habe gehalten, was ich versprochen habe, und mehr zu tun braucht kein Mensch. Fasanen und Rebhühner! Aber woran haben Sie denn gedacht, meine Herren?«

»Der Musje windbeutelt«, flüsterte Bologna Grimaldi zu, »aber knallen wir ihn wenigstens soviel wie möglich von seinen Tauben weg!«

Grimaldi ließ sich nicht weiter dazu nötigen und richtete im Verein mit Bologna eine arge Verwüstung unter der »Taubenkette« an. Wenigstens zwanzig brachten sie auf dem Stück Heideland zur Strecke; fünf fielen auf der andern Seite des Gatters, und eine ganze Reihe fiel in den Busch nieder, wo sie sich ohne Hund nicht auffinden ließen. Das Jagdglück stellte ihre Laune wieder her, die Suche machte ihnen Zerstreuung, und so ging alles eine Zeitlang aufs beste, bis Mackintosh endlich meinte, nun müßten Sie wohl alles aufheben, was geschossen worden sei.

»Das sollte ich auch meinen«, sagte Bologna darauf; »aber was wird mit den Tauben, die in den Busch gefallen sind?«

»Die werden Sie wohl im Stiche lassen müssen«, versetzte Mackintosh, »es möchte wohl zu lange aufhalten, wenn Sie sie suchen wollten. Ich möchte Ihnen im Gegenteil raten, sich möglichst schnell auf die Socken zu machen.«

Bologna und Grimaldi schauten einander betroffen an, aber keiner von ihnen sagte ein Wort.

»Hören Sie doch, was ich Ihnen sage«, rief Mackintosh wieder, »es wird gut sein, Sie suchen das Weite!«

»Und weshalb denn?« fragte Bologna.

»Weshalb?« wiederholte Mackintosh, »na, der Grund ist doch nicht weit zu suchen, dächte ich: weil Sie Tauben geschossen haben!«

»Und deshalb sollen wir das Weite suchen?« fragte Bologna, außer sich vor Entrüstung.

»Aber Sie sind heute wirklich recht schwer von Begriffen,« antwortete Mackintosh, »denken Sie denn gar nicht daran, daß es unser Squire sehr ungnädig aufnehmen könnte, wenn es ihm zu Ohren käme? Und was liegt näher, als daß er Sie in seinem Zorn einstecken lassen wird, wenn Sie sich nicht beizeiten auf und davon machen? Ich dächte, das müßten Sie doch kapieren? Wenn Sie sich raten lassen wollen, so machen Sie sich auf die Socken und geben fürsorglich acht, daß Sie ihm nicht in den Weg kommen.«

»Pah!« rief Bologna verächtlich, »wie ich sehe, wissen Sie mit den Gesetzen unseres Landes nicht sonderlich Bescheid. Es möchte wohl keinen Squire von England glücken, uns einlochen zu lassen, weil wir auf seinem Felde ein paar Tauben weggeknallt haben, die Ihr Eigentum sind.«

»Die Tauben mein Eigentum?« rief Mackintosh, »die Tauben gehören ja doch mir nicht, sondern dem Squire, und wenn er merkt, daß ihm welche davon geschossen worden sind, speit er doch Feuer und Flammen! Wie konnten Sie aber auch so in die Kette hinein platzen! Wie gesagt, lassen Sie sich in aller Güte raten! Sie haben Tauben genug – mehr als nötig – aber machen Sie sich nun aus dem Staube!« Bologna und Grimaldi waren wie vom Donner gerührt und gafften einander erst sprachlos an, dann wurden sie zornig, dann packte sie die Angst, und nach einigen ernsten Vorhaltungen, die sich Macintosh mit bewundernswürdiger Ruhe anhörte, meinten sie, etwas besseres als seinen Rat so schnell wie möglich befolgen, könnten sie tatsächlich nicht tun.

Ohne Zeit zu verlieren, kehrten sie ins Gasthaus zurück, packten ihre Siebensachen, nahmen schnell noch ein paar Happen zu sich, verabschiedeten sich von ihrem merkwürdigen Wirte und seiner Mutter und setzten sich in ihren Einspänner. Mackintosh schnitt ein so dummehrliches Gesicht und zwinkerte so verschmitzt mit den Augen, daß sie sich trotz ihres Ärgers nicht enthalten konnten, herzlich zu lachen.

Am andern Morgen trafen sie einander zufällig im Covent-Garden. Ihr Jagdabenteuer stimmte sie sogleich wieder lustig, und um sich, noch einmal darüber so recht auszulachen, gingen sie in den »Garricks-Kopf« in der Bow-Street und ließen sich eine Flasche Xeres kommen.

Der Wirt war ein früherer Harlekin vom Drury-Lane-Theater, der sich ein bißchen Geld gespart hatte. Bologna und Grimaldi luden ihn als alten Bekannten ein, die Flasche zusammen mit ihnen auszustechen. Er nahm die Einladung mit Vergnügen an und führte sie in die sogenannte gute Stube. Dort erzählten sie ihm zu seinem nicht geringen Gaudium den Ausflug nach Kent und was ihnen dabei zugestoßen war. Als sie fertig waren, sagte er:

»Hätten Sie es mir doch nur gesagt, daß Sie einmal auf die Jagd gehen möchten. Ich hätte Ihnen leicht dazu verhelfen können. Ich bin doch aus Hayes, meine ganze Sippe wohnt dort drunten in Kent, und ich bin mit allen Waldhütern der Grafschaft auf gutem Fuße. Wenn sie zur Stadt kommen, kehren sie immer bei mir ein und hätten sich gewiß ein Vergnügen daraus gemacht, ein paar so guten Freunden von mir einmal einen Gefallen zu tun.«

»Ach!« meinte Bologna, »dann hätten wir, statt Tauben, auch Rebhühner vor die Flinte bekommen!«

Spencer lachte wieder. Da trat ein junger Mensch in die Stube, den weder Bologna noch Grimaldi kannte. Spencer gab ihm aber die Hand und bat ihn, sich mit an den Tisch zu setzen.

»Ei, was bringt Sie denn schon wieder in die Stadt?« fragte er den jungen Menschen.

»Ach! wieder eine recht dumme Geschichte!« rief der Mann; »es sind ein paar Londoner Tunichtgute bei uns draußen gewesen und haben meinem Herrn an fünfzig bis sechzig Tauben abgeschossen. Ich bin nun hergeschickt worden, sie ausfindig zu machen und arretieren zu lassen, habe deshalb auch schon einen Konstabel mitgebracht, der unten in der Gaststube sitzt und sich ein Glas Ale gut schmecken läßt.«

Bologna wurde käseweis, Grimaldi feuerrot. Spencer zwinkerte ihnen mit den Augen zu und sagte nach einer Weile in aller Ruhe:

»Wie denken Sie es denn anzufangen, Joseph, die beiden Galgenstricke ausfindig zu machen? In London ist das doch nicht so leicht!«

»Na, eine kleine Spur haben wir ja schon«, sagte der Wildhüter, denn ein solcher war es, wie Bologna und Grimaldi gleich vermutet hatten: »ich habe nämlich herausbekommen, daß sie bei Mackintosh eingekehrt sind und daß der junge Mackintosh sie kennen soll. Gestern abend bin ich ihm auf die Bude gerückt und habe ihn gefragt, wer die beiden Musjes seien und wo sie wohnten. Er wollte nicht mit der Sprache herausrücken. Da sagte ich ihm, daß wir uns dann an ihn halten würden. Darauf sagte er: »O, bekannt sind sie mir nicht, sind auch keine Freunde von mir; ich weiß bloß, daß sie bei irgend einem Theater in London angestellt sind, der eine als Clown, der andere als Harlekin.« Mehr war nicht aus ihm herauszubringen. Deshalb komme ich nun zu Ihnen her, weil ich ja weiß, daß Sie mit dem ganzen Theatervolk auf du und du sind, und wollte Sie fragen, was für ein Clown und was für ein Harlekin es wohl gewesen sein mögen.«

»Hat der Squire wirklich solchen Zorn?« fragte Spencer.

»Er hat sich verschworen, die ganze Strenge des Gesetzes gegen die beiden Missetäter walten zu lassen.«

Grimaldi geriet in die heftigste Unruhe, Bologna nicht minder. Davor, daß Spencer sie denunzieren würde, bangte ihnen freilich nicht; wohl aber davor, daß ihm Worte entschlüpfen möchten, die den Wildhüter hinter das Geheimnis bringen könnten. Bologna hätte man übrigens bloß ansehen dürfen, um auf der Stelle zu wissen, daß er der Schuldige sei. Aus seinem Gesichte war alle Farbe gewichen, und er zitterte so heftig, daß er das Glas, als er es zum Munde führen wollte, absetzen mußte. Dabei starrte er den Wildhüter in einem fort an, als seien sie ihm, wie dem Gerber im Märchen, alle Felle weggeschwommen.

»Eins scheint der Squire in seinem Zorn vergessen zu haben«, meinte Spencer und lachte wieder laut, »das Sprichwort, daß die Nürnberger keinen hängen, sie hätten ihn denn zuvor.«

»Das stimmt freilich«, versetzte Joseph, »und wenn Sie mir nicht dabei helfen, dann glaube ich kaum, die beiden Taubendiebe ermitteln zu können. Es mag wohl Clowns und Harlekins die Menge hier geben? Nicht wahr?«

»O, wie Sand am Meere etwa«, antwortete Spencer; »ich bin ja gleich einer von dem Korps.«

»Gewesen, aber doch jetzt nicht mehr«, meinte der Wildhüter lächelnd; »aber Sie knallen doch anderer Leute Tauben nicht weg.«

»Das nun freilich nicht«, versetzte Spencer mit der ruhigsten Miene von der Welt; »aber ich will Ihnen im Vertrauen sagen, Joseph, die beiden Musjes, wie Sie sie nannten, sind ein paar gute Freunde von mir.«

»So? Wirklich?« fragte Joseph, indem er Spencer näher rückte – »nun, dann werden Sie mir freilich nicht beistehen wollen, sie ausfindig zu machen – wie?«

Bologna warf Grimaldi einen Blick zu, der auf das deutlichste verriet, daß nun doch alles vorbei und keine Möglichkeit mehr vorhanden sei, dem Schicksale zu entrinnen.

»Dazu werden Sie mich wohl nicht bekommen«, antwortete Spencer, »gehen Sie also in Gottes Namen in alle Londoner Haupt- und Nebentheater und suchen Sie unter allen Clowns und Harlekins, die von ihnen beschäftigt werden, hübsch fleißig nach, ob sie die rechten beiden herausfinden. Aber gut werden Sie tun, den Himmel um seinen Beistand zu ersuchen, denn Possen werden Ihnen wohl genug gespielt werden, genug, daß Sie Ihr Leben daran zu lachen haben.«

Joseph schnitt ein sehr bedenkliches Gesicht.

»Hm«, sagte er endlich, »wenn’s gute Freunde von Ihnen sind, Mr. Spencer, so muß man die Geschichte freilich aus anderm Lichte betrachten.« »Ich will Ihnen was sagen«, meinte Spencer und klopfte dem Wildhüter auf die Achsel, »reden wir nicht weiter über den Jux, meine Freunde werden die Tauben bezahlen und Ihnen, wenn Sie damit einverstanden sind, noch ein Beafsteak und eine Flasche Wein bezahlen. Wie denken Sie darüber?«

Josephs Mienen heiterten sich auf. »O!« rief er, »über die Tauben werden wir schon einig…und wenn die beiden Galgenstricke gute Freunde von Ihnen sind, dann wollen wir die Sache als abgemacht ansehen. Der Squire wird sich schon beruhigen – dafür lassen Sie mich sorgen. Was aber das Beafsteak und die Flasche Wein angeht, nun, Spencer, so wissen Sie, daß ich kein Kostverachter bin, nur müssen mir die beiden Herren versprechen, noch einmal nach Kent hinunter zu kommen. Ich will mich dann bemühen, Ihnen ein richtiges Jagdvergnügen zu verschaffen.« –

»Na, das ist doch mal ein Wort, Joseph«, rief Spencer, indem er zeremoniell aufstand und sich in Positur setzte, »und da Sie so vernünftig sind, so will ich nicht länger hinterm Berge halten. Das hier sind die beiden Galgenstricke, wie Sie sie schon ein paarmal genannt haben. Aber Sie können ihnen um so eher Pardon gewähren, als sie von Mackintosh irre geführt worden und der Meinung gewesen sind, als hätten sie Mackintosh Tauben vor der Flinte gehabt. Gestatten Sie also, die Herren miteinander bekannt zu machen: Mr. Bologna und Mr. Grimaldi – Mr. Joseph Clarke.«

Allgemeines Gelächter. Dann eine vergnügte Zecherei, bei der ein paar Flaschen Xeres ausgestochen wurden, nicht bloß eine. Grimaldi und Bologna nahmen die Einladung Mr. Clarkes mit Vergnügen an, kutschierten an dem festgesetzten Tage noch einmal nach Kent hinaus und erlegten in Zeit von anderthalb bis zwei Stunden vier Hasen und ein Dutzend Fasanen. Vergnügt und guter Dinge kehrten sie wieder nach London zurück, ohne diesmal ihren Freund Mackintosh mit umzustoßen, aber geradezu entzückt von ihrem neuen Freunde Clark, dem man vielleicht nicht allzu viel Unrecht antut, wenn man ihm unterstellt, daß er im Einverständnis mit Spencer den beiden Taubenschützen bloß einen lustigen Streich gespielt und sich ein gutes Mittagsbrot auf billige Kosten verschafft habe.

Im Drury-Lane-Theater wurde vorm Feste nichts neues auf die Bühne gebracht. John Kemble hatte seine Stellung beim Schlusse der vorletzten Saison quittiert und sich bei einem andern Unternehmen beteiligt, im Covent-Garden, wo er Mr. W. Lewis‘ Anteil übernommen hatte. Er übernahm dort die Regie, und an seine Stelle im Drury-Lane kam Mr. Wroughton.

Im Januar 1806 wurde dort eine klägliche Pantomime, »Harlekins häuslicher Herd«, aufgeführt, die sich jedoch wider Erwarten der Gesellschaft bis zu Ostern hielt und ganz erheblichen Beifall fand. Grimaldi äußerte hierüber wiederholt seine Verwunderung gegenüber Mr. T. Didin, dem fruchtbaren Theaterdichter damaliger Zeit, dessen Vater, Charles, Mitbesitzer des Covent-Garden-Theaters war. Dibdin räumte ein, daß das Stück wenig wert sei, und meinte, die gute Aufnahme, die es gefunden, sei ausschließlich dem guten Spiele der Darsteller zuzuschreiben: ein Fall der auch heute noch dann und wann sich ereignen soll.

Im Jahre 1805 nahmen die Vorstellungen wie gewöhnlich in Sadlers Wells zu Ostern ihren Anfang. Grimaldi und Bologna waren auch diesmal engagiert, und die Saison wies sich als überaus günstig: es waren soviel Kasse-Abende gewesen wie kaum je vorher.

Als »Harlekins häuslicher Herd« vom Repertoir gesetzt wurde, trat Grimaldi während der ganzen übrigen Zeit im Drury-Lane kaum noch ein halbes Dutzend mal auf. Im Juni wurde das Theater geschlossen und am 29. September mit Othello und Lodoiska wiedereröffnet. In dem letzten Stücke spielte nicht bloß Grimaldi, sondern auch seine Frau und seine Mutter mit.

Als er zum letzten Male in dieser Saison auftrat, hatte er eine Unterredung mit dem Direktor, die anfangs ganz günstig zu verlaufen schien, dann jedoch Ursache wurde, daß er nach Verlauf von etwa sechs Wochen das Theater, auf dem er zuerst aufgetreten war und fast vierundzwanzig Jahre mit dem denkbar günstigsten Erfolge gespielt hatte, ganz verließ.