Neuntes Kapitel.

Ein merkwürdiger Vorfall.

Eines Abends im folgenden Jahre wurde Grimaldi im Drury-Lane-Theater in die Garderobe gerufen, wo ihn zwei Herren zu sprechen wünschten. Er ließ ihnen sagen, sie möchten sich so lange gedulden, bis er mit seiner Rolle durch sei. Sobald dies der Fall war, begab er sich in die Garderobe. Zwei junge Leute von weltmännischem Aussehen begrüßten ihn, der eine mit auffallender Wärme.

Er mochte im gleichen Alter sein mit Grimaldi und hatte, nach seiner Hautfarbe zu schließen, wahrscheinlich unter einem wärmeren Himmelsstriche gelebt. Nach der damals herrschenden Mode trug er einen blauen Leibrock mit vergoldeten Knöpfen, weiße Weste, lange anschließende Beinkleider und in der Hand ein dünnes Rohr mit goldnem Knopfe.

»Na, Joe«, rief er, Grimaldi die Hand entgegenstreckend, »wie geht’s dir, alter Junge?«

Grimaldi war höchlich verwundert, so vertraulich von einem ihm völlig unbekannten Menschen angeredet zu werden, und antwortete, daß er leider nicht das Vergnügen habe, den Herrn zu kennen. »Ei, mein lieber Joe, das ist aber mehr als spaßig«, rief der Unbekannte, laut lachend, und sein Begleiter stimmte in das Lachen ein.

Grimaldi wurde empfindlich und wollte sich entfernen, als der Unbekannte ihm die Frage stellte, ob er ihn wirklich nicht wiedererkenne, und sein Hemd auf der Brust auseinander klappte. Da erkannte Grimaldi an einer dort sichtbaren Narbe seinen seit Jahren verschollenen Bruder. Sie fielen einander in die Arme und weinten Tränen vor Freude. Am gerührtesten von beiden war Joe.

»Komm mit hinauf«, sagte er endlich, »Mr. Wroughton ist auch oben. Du besinnst dich doch auf ihn? Er verschaffte dir doch die Mittel, zur See zu gehen. O, der wird sich gar sehr freuen, dich wiederzusehen.«

Sie eilten fort, und der Begleiter des wiedergefundenen Bruders rief ihnen nach: »Ich muß Dir wohl gute Nacht sagen, John?«

John rief Zurück, daß er am andern Vormittag Punkt zehn Uhr wieder bei ihm sein werde, und ging mit Joe hinauf in die Garderobe, wo er mehreren Herren vorgestellt wurde. Joe hatte nicht viel Zeit übrig, nahm sie aber nach besten Kräften wahr und hörte zu seiner Freude von dem Bruder, daß ihm das Glück im Leben immer gelacht habe.

»Da sieh!« rief John lachend, und schlug an seine Brusttasche. »sechshundert Pfund schleppe ich bei mir!«

»Hältst Du es nicht für gefährlich, soviel Geld mit Dir herumzutragen?« versetzte Joe.

»Gefährlich?« antwortete Joe, »o! wir Seeleute kennen keine Gefahr! Käme ich aber auch um den Bettel, wäre ich doch noch kein Bettler.« Die Miene, die er dabei zog, ließ Joe nicht im unklaren, daß sein Bruder »sein Schäfchen ins Trockne gebracht habe.« Im nämlichen Moment wurde Joe auf die Bühne gerufen, und nun knüpfte Mr. Wroughton mit John eine Unterhaltung an, in der er ungefähr dasselbe von ihm hörte, was Joe von ihm vernommen: daß er Geld über Geld habe, – Worte, die er durch Vorweis eines von Gold strotzenden Beutels besonders bekräftigen zu müssen meinte.

Sobald das Stück zu Ende war, kam Joe wieder. Mr. Wroughton wünschte beiden unter viel Glückwünschen gute Nacht, und Joe fragte den Seemann, wie lange er schon in London weile. – »Ich bin erst vor ein paar Stunden angekommen«, antwortete John, »habe ein paar Bissen gegessen und bin dann ins Theater geeilt, um Dich dort zu treffen.«

»Und was denkst Du nun vorzunehmen?« fragte Joe. –

»O, mein einziger Zweck, nach London zu kommen, war der, Dich und die Mutter wiederzusehen«, antwortete John.

Joe forderte ihn nun auf, bei ihm und seiner Frau zu wohnen, wo er die Mutter ja sehen würde, und John ging mit Freuden darauf ein. Er sagte, er müsse die Mutter unbedingt sehen, da er sonst kein Auge schließen könne, und fragte, wo sie wohne. Joe bezeichnete ihm Haus und Straße, setzte aber hinzu, daß er im Theater nichts mehr zu verrichten habe, sich nur umkleiden wolle und dann zu seiner Verfügung stände.

John gab seiner Freude hierüber lebhaften Ausdruck, und Joe lief in die Garderobe, ihn auf der Bühne allein lassend.

Er war so erregt, daß er alles zwei-, dreimal machen mußte, daß er, statt in die Rockärmel, in die Beinkleider fuhr – kurz, er brauchte länger als sonst, um fertig zu werden, und als er endlich wieder die Treppe hinunter stürzte, lief ihm Powell in den Weg, hielt ihn mit ein paar nichtssagenden Reden auch noch ein paar Minuten auf, sagte ihm aber dabei, daß er eben noch ein paar Worte auch mit John gesprochen habe.

»Er wartet doch noch?« fragte Joe.

»Gewiß, auf der Bühne. Es ist ja kaum erst eine Minute her, daß ich ihn dort gesehen habe. Aber ich will Sie nicht weiter aufhalten. Wir fällt ein, daß er sagte, Sie blieben ja schrecklich lange. Er schien ungeduldig zu werden über Ihr langes Ausbleiben, sagte auch, Sie hätten nur ganz kurze Zeit wegbleiben wollen.«

Grimaldi sprang die letzten Stufen mit einem Satze hinunter. Aber als er die Bühne wieder betrat, war John nicht mehr da.

Bannister kam zu ihm und fragte ihn, wen er suche. »Meinen Bruder«, antwortete Joe; »ich! habe ihn vor einer kleinen Weile hier verlassen.«

»Ich habe ihn vor einer knappen Minute gesprochen«, antwortete Bannister, »er ging zum Portale hinunter, die große Freitreppe. Ich glaube, daß er nicht länger warten wollte. Aber Sie müssen ihn doch noch einholen.«

Grimaldi eilte zum Ausgange. Der Torwart sagte ihm, sein Bruder sei vor kaum einer Minute zur Tür hinaus und könne noch nicht ganz die Straße hinunter sein. Grimaldi lief ein paar mal in der Straße auf und ab, sah und hörte aber nichts von John. In seiner Freude hatte er vielleicht einen von seinen alten guten Freunden besucht mit der Absicht, gleich wieder zum Theater zurückzukommen. Ganz in der Nähe wohnte solch ein alter Freund, ein gewisser Bowley, mit dem er als Junge manch tolles Stückchen getrieben hatte.

Grimaldi rannte in dessen Wohnung. Auf sein heftiges Klopfen kam Bowley selber vor die Tür hinaus, augenscheinlich in der größten Verwunderung.

»Freilich, freilich!« antwortete er auf Grimaldis Frage, »John war da, wir haben ein paar flüchtige Worte miteinander gesprochen, aber er sagte, er habe heute gar keine Zeit, wolle aber morgen wiederkommen. Jesus«, rief er, »eine größere Überraschung hätte ich mir nicht träumen lassen. Nach so viel Jahren den Jungen wiederzusehen, und so unverhofft! so unverhofft!«

»Und wie lange ist er fort?« fragte Grimaldi.

»Das kann doch kaum eine Minute her sein?« antwortete Bowley; »länger auf keinen Fall, auf keinen Fall.«

»Und in welcher Richtung ist er fortgegangen?«

»Die Duke-Straße entlang.«

Grimaldi schloß hieraus, daß John zu seinem einstigen Hauswirte, einem gewissen Bailey, gegangen sein möchte, der in der Little-Wild-Straße seine Wohnung hatte. Er mußte lange klopfen, ehe ihm jemand antwortete. Eine alte Magd guckte endlich zu einem Fenster heraus und sagte, sie hatte doch schon einmal gesagt, daß der Herr nicht zu Hause sei. Wozu würde bloß noch einmal geklingelt? – Grimaldi gab sich zu erkennen. Das Mißverständnis klärte sich auf. Die Magd sagte, es habe vor wenigen Minuten erst jemand geklopft und nach dem Herrn gefragt, sei aber wieder gegangen, als sie ihm gesagt habe, der Herr sei nicht zu Hause. Grimaldi bat die Magd, ihm zu sagen, wie der Herr ausgesehen habe. Sie konnte aber nur sagen, daß er eine weiße Weste angehabt habe.

In Grimaldi stiegen unbestimmte Befürchtungen auf. Er lief nach dem Schauspielhause zurück, wo aber John nicht wieder vorgesprochen habe, lief von einem Hause zum andern, wo er den Bruder zu finden hoffte, aber weder hier noch dort hatte derselbe sich blicken lassen. Noch einmal eilte er nach dem Schauspielhause zurück, das eben geschlossen wurde, denn die Zeit war schon weit vorgerückt, und nun fiel ihm ein, daß er ja dem Bruder die Wohnung der Mutter bezeichnet hatte. Was konnte wahrscheinlicher sein, als daß der so lange verlorene Sohn sich dorthin begeben hatte? Er lief nach Hause, suchte unterwegs die Fassung wieder zu gewinnen; die Mutter sah blässer aus als sonst, wenigstens kam es ihm so vor; John war aber nicht da.

»Hat sich etwas besonderes zugetragen?« fragte er die Mutter weiter.

»Nein«, antwortete die Mutter; »nicht, daß ich wüßte.«

»Es ist kein Fremder dagewesen? kein uns lieber Verwandter, den wir lange Zeit nicht gesehen haben?« fragte Grimaldi, in dessen Herzen sich, alle Befürchtungen von neuem regten.

»Wie soll ich diese Worte verstehen?« erwiderte die Mutter.

»O ich wollte Dir nur sagen, daß John wiedergekehrt ist und Geld genug mit heimgebracht hat, um uns alle glücklich und zufrieden zu machen.«

Die Mutter schrie vor Freude laut auf, dann fiel sie in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich gekommen war, erzählte Grimaldi, was sich zugetragen habe. Seine Mutter und seine Frau waren aufs höchste verwundert. Die letzte meinte, John werde wohl mit anderen Bekannten und Freunden zusammengekommen sein und sicher noch kommen. Sie bestand darauf, daß ihr Mann sich zu Bett legte, da er sehr angegriffen und von dem vielen Herumlaufen aufs äußerste erschöpft war. Sie selbst blieb die ganze Nacht auf, aber – der verlorene Sohn kam nicht, auch den anderen Vormittag, den ganzen anderen Tag nicht. Er war, so schnell er aufgetaucht war, so schnell auch wieder verschwunden, und bis zu diesem Augenblicke, da ich diese Zeilen schreibe, ist nichts wieder von ihm gehört worden. Es ist auch nicht das geringste Anzeichen, das zu einer Aufklärung über sein Verschwinden hätte führen können, bis heutigentags zum Vorschein gekommen.

Grimaldi hat es, wie man sich wohl denken kann, an den größten Anstrengungen, Licht in die mysteriöse Sache zu bringen, nicht fehlen lassen, und ist in seinen Bemühungen hierin von allen Bekannten und Freunden bereitwillig unterstützt worden. Ein hochgestellter Herr von der Admiralität interessierte sich lebhaft für den Fall und ließ alle in den letzten Tagen angekommenen Schiffe revidieren, brachte die ganze Polizei auf die Beine, ließ in allen verdächtigen Häusern Nachsuchung halten. Aber – es war alles vergeblich. Von dem jungen Manne fand sich keine Spur. Über sein Verbleiben konnte nichts ermittelt werden.

Natürlich fehlte es an allerhand Kombinationen nicht. Zwei hatten die größte Wahrscheinlichkeit von allen anderen für sich.

Der Lord von der Admiralität vertrat die Ansicht, daß John zum Matrosen gepreßt worden und vielleicht in einem der damals häufigen Kämpfe zur See geblieben sein möchte. Er war früher unter einem angenommenen Namen gefahren, und das erschwerte natürlich die Nachsuchung wesentlich. Mehr hatte jedoch die Vermutung eines routinierten Polizeibeamten für sich, der die Meinung vertrat, der junge Mensch möchte von Leuten, die darum gewußt, daß er viel Geld bei sich trug, in irgend eine Spelunke oder Lasterhöhle verschleppt und dort ausgeplündert und erschlagen worden sein.

Leichtblütig war John immer gewesen, hatte auch Gefahren niemals ernstlich, genommen. Was vor allem für diese Kombination zu sprechen schien, war der auffällige Umstand, daß der Freund, mit dem er bei Grimaldi gewesen war, mit ihm zusammen verschwunden war und – verschwunden blieb. Hätte er um Johns Verschwinden nichts gewußt, so hätte er doch gewiß Erkundigungen nach ihm angestellt, zumal er sich doch am anderen Vormittag Punkt zehn Uhr mit ihm hatte treffen wollen. Er ließ jedoch nicht das geringste von sich hören. Es war auch nicht die geringste Spur von ihm aufzufinden, und um so bedenklicher war die Angelegenheit insofern, als John ihn gar nicht einmal Grimaldi vorgestellt hatte.

Kein Wunder, daß ihn Grimaldi sowohl als seine Angehörigen für den Schuldigen oder wenigstens für den Mitschuldigen an einem Verbrechen hielten, dem der zum zweiten Male verlorene Sohn und Bruder zum Opfer gefallen war – ob mit Recht oder Unrecht, dürfte wohl für alle Zeit in Dunkel gehüllt bleiben.