28. Kapitel Mr. Micawber wirft seinen Fehdehandschuh hin


28. Kapitel Mr. Micawber wirft seinen Fehdehandschuh hin

Bis zu dem Tag, wo ich meine neuaufgefundnen alten Freunde bewirten sollte, lebte ich hauptsächlich von Dora und Kaffee. In meinem Liebessiechtum schwand mein Appetit. Ich freute mich darüber, denn ich hätte es als Treulosigkeit gegen Dora aufgefaßt, Genuß an einem Mittagessen zu finden. Meine ausgedehnten Spaziergänge verfehlten die gewöhnliche Wirkung, da der Gram meiner Seele der frischen Luft entgegenwirkte. Ich habe auch meine Zweifel, die sich auf die damals erlangte drückende Erfahrung gründen, ob sich ein gesunder Appetit im Menschen entwickeln kann, wenn er beständig von zu engen Schuhen gepeinigt wird.

Ich traf diesmal nicht so große Vorbereitungen wie zu meinem ersten Gastmahl. Das Essen sollte bloß aus Zunge, einer kleinen Schöpsenkeule und aus Taubenpastete bestehen.

Mrs. Crupp wurde rebellisch, als ich ihr zuerst schüchtern die Bereitung von Fisch und Braten zumutete, und sagte gekränkt und würdevoll: »Nein, nein, Sir. So was könnens von mir nicht verlangen. Sie kennens mich zu gut, als daß Sie so was bei mir voraussetzen könnten.« Aber zuletzt verständigten wir uns doch, als ich auf ihre Bedingung, vierzehn Tage nicht zu Hause zu essen, einging.

Überhaupt mußte ich von Mrs. Crupp wegen der Tyrannei, die sie auf mich ausübte, Schreckliches ertragen. Noch nie habe ich mich vor jemand so gefürchtet. Immer mußte ein Vergleich geschlossen werden, und wenn ich zögerte, einzuschlagen, brach jedesmal sofort ihre seltsame Krankheit, die bei ihr immer im Hinterhalt zu liegen schien, aus und nahm von ihren Lebensgeistern Besitz. Wenn ich nach sechsmaligen, schüchternen und erfolglosen Versuchen endlich ungeduldig an der Klingel riß und sie erschien – was auch dann nicht immer der Fall war –, trat sie jedesmal mit vorwurfsvoller Miene herein, sank atemlos auf einen Stuhl bei der Tür, legte verletzt die Hand auf das Nankinggebiet, und ich mußte sie immer mit einem Opfer von Brandy wieder versöhnen. Wenn ich es mir nicht gefallen lassen wollte, daß mein Bett erst um fünf Uhr nachmittags gemacht wurde, so genügte eine Bewegung ihrer Hand, um mich zu einer gestotterten Bitte um Verzeihung zu veranlassen. Kurz, sie verkörperte den Schrecken meines Lebens.

Ich kaufte einen gebrauchten Serviertisch für das Gastmahl, denn ich wollte um keinen Preis den gewandten jungen Mann wieder engagieren. Ich hegte ein Vorurteil gegen ihn, weil ich ihm an einem Sonntagmorgen auf dem Strand in einer Weste begegnete, die einer von mir, seit jenem Feste vermißten, wunderbar ähnlich sah. Das »Gschöpf« bestellte ich wieder, aber unter der Bedingung, daß sie nur die Gerichte hereinzubringen und dann vor der Eingangstüre zu warten habe, wo man ihr Schnaufen nicht hören konnte und der Rückzug auf Teller eine physische Unmöglichkeit war.

Nachdem ich das Nötige zu einer Punschbowle, deren Bereitung Mr. Micawber vorbehalten bleiben sollte, ferner eine Flasche Lavendelwasser, zwei Wachskerzen, ein Papier voll verschiedener Nadeln und ein Kissen dazu, damit Mrs. Micawber ihre Toilette bei mir machen könne, gekauft und in meinem Schlafzimmer für Mrs. Micawber Feuer angemacht und schließlich eigenhändig den Tisch gedeckt hatte, sah ich voll Fassung den kommenden Dingen entgegen.

Zur bestimmten Stunde trafen meine drei Gäste ein. Mr. Micawber mit einem noch hohem Hemdkragen als gewöhnlich, einem neuen Band an seinem Augenglase, – Mrs. Micawber, ihre Haube in ein Papierpaket eingeschlagen, am Arme Traddles.

Alle waren über meine Wohnung entzückt. Als ich Mrs. Micawber an meinen Toilettetisch führte und sie die Vorbereitungen bemerkte, die ich für sie getroffen, geriet sie so außer sich, daß sie ihren Gatten herbeirief.

»Lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber, »das ist wirklich luxuriös. Es verrät eine Lebensführung, die mich an meine eigne Junggesellenzeit erinnert, als Mrs. Micawber noch nicht gebeten worden war, Treue an Hymens Altar zu schwören.«

»Er meint, von ihm gebeten, Mr. Copperfield«, setzte Mrs. Micawber kokett hinzu. »Von andern kann er das nicht sagen.«

»Meine Liebe«, entgegnete Mr. Micawber und wurde plötzlich sehr ernst. »Von andern zu sprechen, hege ich nicht den Wunsch. Ich bin mir wohl bewußt, daß es vielleicht für einen geschah – als du nach dem unerforschlichen Ratschluß des Schicksals für mich aufbewahrt wurdest –, der nach langem Kampfe einer materiellen Verlegenheit höchst verwickelter Natur zum Opfer fallen sollte. Ich verstehe deine Anspielungen, meine Liebe; es schmerzt mich, aber ich ertrage es mit Fassung.«

»Micawber!« rief Mrs. Micawber in Tränen aus. »Habe ich das verdient? Ich, die ich dich nie verlassen habe, die dich nie verlassen wird, Micawber!«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber sehr gerührt. »Du wirst verzeihen und gewiß auch unser alter, erprobter Freund Copperfield wird es, wenn die frische Wunde eines verletzten Gemüts, empfindlich geworden durch eine Kollusion mit einem Knechte der öffentlichen Gewalt, kurz, mit einem ordinären Röhrenarbeiter beim Wasserwerk, – in einem solchen Augenblick wieder aufbricht, und wirst mich wegen meiner Verirrung nicht verdammen.«

Er umarmte seine Frau und drückte mir die Hand und ließ mich durch seine dunkeln Andeutungen vermuten, daß man ihm zu Hause wegen Zahlungsversäumnisses das Wasser abgesperrt hatte.

Um seine Gedanken von diesem traurigen Vorfall abzulenken, führte ich ihn zu den Zitronen und gestand ihm, daß ich hinsichtlich der Punschbereitung auf ihn rechne.

Im Handumdrehen wich seine Verzweiflung. Noch nie habe ich einen Menschen beim Duft von Zitronenschalen und heißem Rum so vergnügt gesehen wie Mr. Micawber an diesem Nachmittag. Wunderbar glänzte uns sein Gesicht aus der dünnen Wolke dieser köstlichen Dämpfe entgegen, wie er rührte und mischte und kostete und aussah, als ob er anstatt Punsch ein Vermögen für seine Familie bis ins letzte Glied zurechtmachte.

Mrs. Micawber, ich weiß nicht, ob es die Haube ausmachte, die sie jetzt auf hatte, oder das Lavendelwasser oder die Nadeln oder das Feuer oder die Wachslichter, trat, für ihre Jahre wirklich liebenswürdig aussehend, aus meinem Zimmer. Eine Lerche konnte nicht fröhlicher sein als diese vortreffliche Frau.

Ich wagte nie zu fragen, aber ich vermute, daß Mrs. Crupp schon beim Backen der Seezungen krank geworden war, denn mit dem andern Essen ging es schief. Die Hammelkeule kam auf den Tisch, innen sehr rot und außen sehr blaß und über und über mit einem unbekannten sandigen Stoff bestreut, als ob sie in die Asche des merkwürdigen Küchenherdes gefallen wäre. Wir wurden nicht in den Stand gesetzt, uns durch Untersuchung der Sauce darüber klarzuwerden, denn das »Gschöpf« hatte sie auf die Treppen getropft. Noch lange war sie als Fettfleck sichtbar, bis die Tritte mit der Zeit alles verwischten. Die Taubenpastete war nicht schlecht, aber eine Täuschung. Die Rinde glich einem phrenologischen Schädel, der viel verspricht, aber nichts hält: außen lauter Buckel und Erhöhungen, inwendig nichts. Kurz, das Gastmahl war ein Mißgriff, so daß ich mich höchst unglücklich fühlte wegen des Mißgriffs nämlich, denn wegen Dora fühlte ich mich immerwährend unglücklich. Zum Glück kamen mir die vortreffliche Laune meiner Gäste und ein guter Einfall Mr. Micawbers zu Hilfe.

»Mein lieber Freund Copperfield«, sagte nämlich Mr. Micawber, »unvorhergesehene Ereignisse treten auch in den bestgeleiteten Haushaltungen ein. In Familien, die nicht durch den alles durchdringenden Einfluß, der zugleich den Genuß heiligt und ihn erhöht, – kurz, ich wollte sagen, wenn keine Hausfrau da ist, sind sie mit Sicherheit zu erwarten und müssen mit stoischem Gleichmut getragen werden. Wenn Sie erlauben, daß ich mir die Freiheit nehme zu bemerken, daß nur wenige Speisen halb gar sind und daß ich der Meinung bin, wir könnten mit einiger Arbeitsteilung daraus etwas Gutes bereiten, wenn unsere jugendliche Aufwärterin uns einen Rost verschaffen wollte, so würde ich glauben, daß das kleine Mißgeschick leicht gutzumachen ist.«

In meiner Speisekammer befand sich ein Rost, auf dem ich meinen Frühstücksschinken zu braten pflegte. Er war im Augenblick herbeigeschafft, und wir machten uns sofort daran, Mr. Micawbers Vorschlag zur Ausführung zu bringen. Die Arbeitsteilung, von der er gesprochen, ging folgendermaßen vor sich:

Traddles schnitt die Schöpsenkeule in Scheiben, Mr. Micawber, in allen solchen Dingen ein Meister, bestreute sie mit Pfeffer, Salz, Senf und Cayenne, – ich legte sie auf den Rost, wendete sie mit der Gabel um und nahm sie nach Mr. Micawbers Anleitung vom Feuer. Mrs. Micawber wärmte und rührte Champignonsauce in einer kleinen Pfanne. Als wir genug Schnitten hatten, fingen wir mit noch aufgestreiften Ärmeln an zu essen, während noch mehr Scheibchen auf dem Feuer zischten und unsere Aufmerksamkeit sich zwischen dem Fleisch auf unsern Tellern und dem auf dem Rost teilte.

Das Neuartige dieser Kocherei, die Vortrefflichkeit des Gerichtes, die Aufregung, die mit der Zubereitung verknüpft war, das häufige Aufstehen, um nach dem Rechten zu sehen, das Essen, wenn die knusperigen Schnitten ganz heiß vom Roste kamen, die damit verbundenen Spaße, der Lärm und der Duft, der uns umgab, alles trug dazu bei, daß wir die Hammelkeule bis auf den letzten Rest verzehrten. Mein Appetit kehrte wie durch ein Wunder wieder. Es ist eine Schande, aber ich glaube wirklich, ich vergaß Dora eine Zeitlang. Ich bin überzeugt, Mr. und Mrs. Micawber hätten nicht erfreuter sein können, wenn sie ein Bett verkauft haben würden. Traddles lachte herzlich die ganze Zeit über und aß und schaffte. Wir alle taten desgleichen, und ich muß sagen, niemals war ein Mahl fröhlicher.

Auf dem Höhepunkt der Freude angekommen, wollten wir eben die letzten Scheibchen in den höchsten Zustand der Vollkommenheit versetzen, als ich bemerkte, daß sich noch jemand im Zimmer befand; und meine Augen sahen in die Littimers, der den Hut in der Hand vor mir stand.

»Was ist geschehen?« fragte ich unwillkürlich.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, ist mein Herr nicht hier?«

»Nein.«

»Haben Sie ihn nicht gesehen, Sir?«

»Nein. Kommen Sie nicht von ihm?«

»Nicht direkt, Sir.«

»Hat er Ihnen gesagt, daß Sie ihn hier finden würden?«

»Das gerade nicht, Sir, aber wahrscheinlich wird er wohl morgen erst hier sein, da es heute noch nicht der Fall ist.«

»Kommt er von Oxford hierher?«

»Dürfte ich sehr bitten, Sir«, war die respektvolle Erwiderung; »mir zu erlauben, diese Arbeit zu übernehmen?« Damit nahm Littimer mir die Gabel aus meiner widerstandslosen Hand und beugte sich über den Rost, als ob seine Aufmerksamkeit jetzt ganz von dieser Beschäftigung in Anspruch genommen würde.

Nicht einmal das plötzliche Erscheinen Steerforths selbst hätte uns so aus der Fassung bringen können. In einem Augenblick wurden wir zu Schwächlingen vor diesem respektablen Diener. Mr. Micawber, ein Liedchen summend, um seine Befangenheit zu bemänteln, warf sich in seinen Stuhl zurück, und der Griff einer hastig versteckten Gabel guckte aus seiner Brusttasche hervor. Es sah aus, als ob er sich angestochen hätte. Mrs. Micawber zog ihre braunen Handschuhe an und setzte eine vornehm schlaffe Miene auf. Traddles fuhr sich mit seinen fettglänzenden Händen durch das Haar, daß es sich straff aufrichtete, und starrte verwirrt auf das Tischtuch. Ich selbst war an meiner eignen Tafel wieder zum Kinde geworden und wagte kaum einen Blick auf die respektable Erscheinung zu werfen, die weiß Gott woher gekommen war, um meinen Haushalt in Ordnung zu bringen.

Unterdessen nahm Littimer das Fleisch vom Rost und servierte es mit ernster Miene. Wir langten alle zu, aber es schmeckte uns nicht mehr, und wir taten nur, als ob wir davon äßen. Dann räumte er die Teller geräuschlos auf und stellte den Käse auf den Tisch. Schließlich räumte er ab und brachte die Weingläser. Den Serviertisch schob er eigenhändig in die Speisekammer. Alles dies vollbrachte er in untadelhafter Weise und wandte keinen Blick von seiner Arbeit. Aber selbst in seinen Ellbogen, wenn er mir den Rücken kehrte, schien der Ausdruck seiner unerschütterlichen Meinung, daß ich außerordentlich jung sei, zu lauern.

»Kann ich sonst noch etwas besorgen, Sir?«

Ich dankte, sagte nein und fragte ihn, ob er selbst nicht etwas essen wollte.

»Nichts. Ich danke verbindlichst, Sir.«

»Kommt Mr. Steerforth aus Oxford?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir?«

»Kommt Mr. Steerforth aus Oxford?«

»Ich vermute, er muß morgen hier sein, Sir, ich glaubte eigentlich, er müßte schon heute hier sein. Die Schuld des Irrtums liegt jedenfalls an mir, Sir.«

»Falls Sie ihn vor mir sehen sollten –« begann ich.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, ich glaube nicht, daß ich ihn vor Ihnen. sehen werde.«

»Falls Sie ihn aber doch sehen sollten, sagen Sie ihm bitte, es täte mir sehr leid, daß er heute nicht hier gewesen ist, da ich einen Besuch von einem seiner Schulkameraden hatte.«

»In der Tat, Sir?« Und Mr. Littimer teilte eine Verbeugung zwischen mir und Traddles, dem er einen flüchtigen Blick zuwarf.

Er bewegte sich geräuschlos nach der Tür, als ich mit einer verzweifelten Anstrengung, irgend etwas Natürliches herauszubringen – was mir diesem Mann gegenüber nie glücken wollte –, noch sagte:

»Sie, Littimer!«

»Sir?«

»Sind Sie noch lange in Yarmouth geblieben?«

»Nicht besonders lang, Sir.«

»Ist das Boot fertig?«

»Ja, Sir. Ich blieb dort, bis es fertig war.«

»Davon bin ich überzeugt.« Er sah mich ehrerbietig an. – »Mr. Steerforth hat es natürlich noch nicht gesehen?«

»Ich kann es wirklich nicht sagen, Sir. Ich vermute – kann es aber nicht mit Bestimmtheit angeben. Ich erlaube mir, Ihnen gute Nacht zu wünschen, Sir.«

Die ehrerbietige Verbeugung, mit der er seine letzten Worte begleitete, galt uns allen zugleich, und er verschwand.

Meine Gäste schienen freier aufzuatmen, als er fort war; aber ich selbst fühlte mich nicht sehr erleichtert. Mir schlug das Gewissen bei dem Gedanken, daß ich seinem Herrn ein wenig mißtraut hatte, und konnte eine unbestimmte Angst nicht abschütteln, daß er es gemerkt habe. Wie kam es nur, daß ich das Gefühl nicht loswerden konnte, daß dieser Mann stets meine geheimsten Empfindungen durchschaute!

Mr. Micawber riß mich aus meinen Betrachtungen, indem er auf Littimer eine große Lobrede hielt und ihn als einen höchst respektablen Menschen bezeichnete. Er hatte den ihm gebührenden Anteil an Littimers für uns alle bestimmten Verbeugung mit unendlicher Herablassung entgegengenommen.

»Der Punsch, lieber Copperfield«, sagte er sodann und kostete, »wartet wie Ebbe und Flut auf keinen Menschen. Ah, er hat gerade jetzt die schönste Blume. Meine Liebe, was ist deine Meinung?«

Mrs. Micawber fand ihn ebenfalls vortrefflich.

»Dann will ich mir die Freiheit nehmen, wenn mein Freund Copperfield gestattet, auf die Tage zu trinken, wo er und ich noch jünger waren und Schulter an Schulter unsern Weg durch die Welt erkämpften.«

Er leerte sein Glas, und wir folgten seinem Beispiel, – Traddles, ganz in Grübeln versunken, in welcher Zeit Mr. Micawber und ich wohl Schulter an Schulter im Kampf des Lebens gerungen haben mochten.

»Ahem!« sagte Mr. Micawber, sich räuspernd, ganz durchglüht von dem Punsch. »Liebe Frau, wünschest du noch ein Glas?«

Mrs. Micawber wollte nur ganz wenig eingeschenkt haben, aber wir ließen uns das nicht gefallen, und sie bekam ein volles Glas.

»Da wir so hübsch unter uns sind, Mr. Copperfield«, sagte sie und nippte an ihrem Punsch, – »Mr. Traddles bildet ja sozusagen einen Teil unserer Familie, – so wüßte ich gern Ihre Meinung über Mr. Micawbers Aussichten. Der Getreidehandel«, fuhr sie gedankenvoll fort, »ist wohl, wie ich zu Mr. Micawber des öfteren geäußert habe, ein ehrenwerter Beruf, aber nicht rentabel. Provisionen in der Höhe von zwei Schilling neun Pence in vierzehn Tagen können, so genügsam unsere Ansprüche auch sind, kein lohnender Ertrag genannt werden.«

Darin stimmten wir alle mit ihr überein.

»Ich muß mir also folgende Frage vorlegen«, sagte Mrs. Micawber, die sich stets einbildete, die Dinge sehr klar zu sehen, und durch ihren gesunden Menschenverstand ihren Gatten auf gerader Bahn zu erhalten wähnte. »Wenn man sich nicht auf Getreide werfen kann, worauf sonst. Auf Kohlen? Keineswegs. Schon einmal haben wir unser Augenmerk auf den Rat meiner Familie hin auf Versuche dieser Art gelenkt, und sie sind fehlgeschlagen.«

Mr. Micawber lehnte sich in seinen Stuhl zurück, die Hände in den Taschen, sah uns von der Seite an und nickte mit dem Kopfe, als wollte er sagen, die Sache läge jetzt ungemein klar.

»Da also Getreide und Kohlen«, fuhr Mrs. Micawber noch überlegsamer fort, »vollständig außer Frage gerückt sind, sehe ich mich natürlich in der Welt um und frage mich, in welchem Fache wohl könnte ein Mann von Mr. Micawbers Talenten sein Glück machen? Kommissionsgeschäfte schließe ich von vornherein aus, da sie unsicherer Natur sind. Für eine Person von Mr. Micawbers besondern Anlagen ist eine sichere Sache die allergeeignetste.«

Traddles und ich drückten unsere Zustimmung, daß diese große Entdeckung zweifellos richtig sei, durch beifälliges Gemurmel aus.

»Ich will nicht hinter dem Berge halten, Mr. Copperfield, daß ich schon lange herausgefühlt habe, das Brauereigeschäft müßte Mr. Micawber direkt auf den Leib geschrieben sein. Sehen Sie einmal Barclay & Perkins, Truman, Hanbury und Buxton an. Nur in einem ausgedehnten Wirkungskreis kann Mr. Micawber, wie ich am besten weiß, sich entfalten, und der Gewinn ist, wie ich mir sagen ließ, ungeheuer. Wenn aber nun Mr. Micawber solchen Firmen nicht beitreten kann – man beantwortet seine Briefe nicht einmal, selbst wenn er seine Dienste für eine Stellung untergeordneten Ranges anbietet –, was nützt es da, sich noch länger mit dieser Idee zu befassen? Nichts! Ich habe die felsenfeste Überzeugung, daß Mr. Micawbers Manieren –«

»Hm, aber ich bitte dich, meine Liebe«, unterbrach Mr. Micawber.

»Lieber Mann, sei still«, sie legte ihren braunen Handschuh auf den Arm ihres Gatten; »ich bin felsenfest überzeugt, Mr. Copperfield, daß Mr. Micawbers Manieren ihn in hervorragender Weise für das Bankiergeschäft qualifizieren. Ich kann mir genau ausmalen, wie Mr. Micawbers Manieren, wenn ich ihn als Repräsentanten eines Bankiers vor mir sähe, mein Vertrauen erwecken müßten, falls ich ein Depot zu erlegen gedächte. Wenn sich aber nun die verschiedenen Bankhäuser weigern, sich Mr. Micawbers Fähigkeiten zu bedienen, und ein derartiges Anerbieten mit Geringschätzung zurückweisen, was hat es da für einen Zweck, noch länger bei einem solchen Gedanken zu verweilen? Keinen! Und was die Eröffnung eines Bankgeschäfts auf eigne Faust betrifft, so wären immerhin einige Mitglieder aus meiner Familie, wenn sie ihr Geld nur Mr. Micawber anvertrauen wollten, in der Lage, ein derartiges Unternehmen begründen zu können. Aber wenn sie ihr Geld Mr. Micawber nun eben nicht anvertrauen wollen – und sie wollen nicht –, was bleibt da übrig? Ich stelle fest, daß wir noch nicht weitergekommen sind als vorhin!«

Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Durchaus nicht.« Traddles schüttelte gleichfalls den Kopf und sagte ebenso: »Durchaus nicht.«

»Was habe ich daraus zu folgern? Was ist der Schluß, den ich aus alledem ziehen muß, Mr. Copperfield? Habe ich unrecht, wenn ich sage, es liegt doch klar auf der Hand, daß wir leben müssen?«

Ich antwortete: »Keineswegs«, und Traddles antwortete ebenfalls: »Keineswegs«, und ich setzte noch sehr weise hinzu, der Mensch müsse entweder leben oder sterben.

»Sehr richtig«, erwiderte Mrs. Micawber. »Das ist es eben, und die Sachen, lieber Mr. Copperfield, stehen so, daß wir nicht leben können, wenn sich nicht sehr bald etwas von unsern gegenwärtigen Verhältnissen vollkommen Verschiedenes findet. Ich bin nun davon durchdrungen und habe es Mr. Micawber bei den verschiedensten Gelegenheiten auseinandergesetzt, daß sich nichts von selber findet. Wir müssen gewissermaßen mit dazu beitragen, daß sich etwas findet. Vielleicht habe ich unrecht, aber ich habe nun einmal diese Meinung.«

Traddles und ich stimmten ihr lebhaft bei.

»Sehr gut. Was empfehle ich also? Mr. Micawber ist mit den verschiedenartigsten Eigenschaften – mit großem Talent –«

»Aber ich bitte dich, meine Liebe.«

»Bitte, laß mich ausreden, lieber Mann. Also Mr. Micawber ist mit den verschiedenartigsten Eigenschaften, mit großem Talent, fast möchte ich sagen mit Genie ausgestattet. Man wird sagen, daß ich als seine Gattin voreingenommen sei –«

Traddles und ich murmelten: »Nein.«

»Und trotz alledem ist Mr. Micawber ohne passende Stellung und Beruf. Auf wen fällt die Verantwortung? Auf wen sonst als auf die Gesellschaft! Und daher soll man eine so schmähliche Tatsache laut verkünden und die Gesellschaft öffentlich auffordern, sie in Ordnung zu bringen. Und das hat, nach meiner Ansicht, lieber Mr. Copperfield«, sagte Mrs. Micawber mit Anstrengung, »Mr. Micawber zu tun, er hat der Gesellschaft den Fehdehandschuh hinzuwerfen und zu ihr zu sagen: Wer ihn aufheben will, der trete vor.«

Ich wagte die Frage, wie dies anzufangen sei.

»Durch Annoncieren! In allen Zeitungen! Nach meiner Ansicht muß Mr. Micawber, um sich seiner selbst, seiner Familie, ja sogar der Gesellschaft, die ihn bisher ganz und gar übersehen hat, gerecht zu werden, in allen Zeitungen annoncieren. Er muß sich deutlich beschreiben als den und den mit den und den Eigenschaften und kann die Forderungen stellen: jetzt stellt mich an mit den gebührenden Bezügen – frankierte Offerten an W. M., poste restante, Camdentown.«

»Dieser Gedanke meiner Gattin, lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber, blickte mich von der Seite an und versenkte sein Kinn so tief, daß die beiden Kragenspitzen vorn zusammenstießen, »deckt sich mit dem ›Sprung‹, den ich neulich andeutete, als ich das Vergnügen hatte, Sie zu sehen.«

»Annoncieren in den Zeitungen ist ziemlich kostspielig«, gab ich zu bedenken.

»Sehr wahr«, sagte Mrs. Micawber und behielt unbeirrt ihre logisch aussehende Miene bei. »Sehr richtig, lieber Mr. Copperfield! Ich habe dasselbe schon Mr. Micawber gegenüber festgestellt. Hauptsächlich aus diesem Grunde bin ich der Meinung, daß Mr. Micawber eine gewisse Summe Geldes, lediglich, wie ich schon sagte, um sich, seiner Familie und der Gesellschaft gerecht zu werden, aufnehmen sollte, und zwar gegen Wechsel.«

Mr. Micawber, in seinen Stuhl zurückgelehnt, spielte mit seinem Augenglas und blickte nach der Decke. Aber es schien mir, als ob er dabei einen Seitenblick auf Traddles werfe, der in das Feuer sah.

»Wenn kein Mitglied meiner Familie«, nahm Mrs. Micawber ihre Rede wieder auf, »natürliches Gefühl genug besitzt, diesen Wechsel zu finanzieren, – ich glaube es gibt einen bessern Geschäftsausdruck dafür –«

»Eskomptieren«, berichtigte sie Mr. Micawber, ohne seine Blicke von der Decke zu wenden.

»Diesen Wechsel zu eskomptieren, dann würde ich vorschlagen, daß Mr. Micawber in die City gehen, den Wechsel auf den Geldmarkt bringen und ihn um den höchstmöglichen Preis begeben möge. Wenn die Leute auf dem Geldmarkt Mr. Micawber nötigen, ein großes Opfer zu bringen, so haben sie das mit ihrem Gewissen abzumachen. Ich betrachte die Summe als Anlagekapital! Ich empfehle Mr. Micawber dasselbe zu tun, nämlich, sie als Betriebskapital anzusehen, das sichern Gewinn abwirft, und vor keinem Opfer zurückzuschrecken.«

Ich fühlte – ich wußte zwar nicht warum –, daß dies ein Beweis großer Selbstverleugnung von Seiten Mrs. Micawbers war, und versuchte durch Murmeln meine Meinung in diesem Sinn auszudrücken. Traddles, von meiner Auffassung angesteckt, tat dasselbe und sah unentwegt ins Feuer.

»Ich will meine Ansichten über meines Gatten Geldverhältnisse nicht weiter ausspinnen«, sagte Mrs. Micawber, trank ihren Punsch aus und nahm ihr Umhängetuch zusammen, um sich in mein Schlafzimmer zurückzuziehen. »An Ihrem Tisch, mein lieber Copperfield, und in Gegenwart Mr. Traddles, der, wenn auch kein so alter Freund, so doch einer der Unsrigen ist, konnte ich mich nicht enthalten, Sie mit dem Wege bekannt zu machen, den einzuschlagen ich Mr. Micawber anrate. Ich fühle die Zeit gekommen, wo er eine Anstrengung machen und die ihm zukommende Stellung in der Welt beanspruchen muß. Meiner Ansicht nach sind das die richtigen Mittel dazu. Ich bin mir wohl bewußt, daß ich bloß eine Frau bin und daß zur Diskussion solcher Fragen im allgemeinen der männliche Verstand für geeigneter gehalten wird. Ich darf aber andererseits nicht vergessen, daß Papa oft zu mir sagte – als ich noch zu Hause bei Papa und Mama war –: ›Emmas Körper ist zart und gebrechlich, aber sie erfaßt die Gegenstände mit einer Geistesschärfe, die keiner andern nachsteht.‹ Ich weiß sehr wohl, daß mein Vater zu parteiisch dachte, aber daß er bis zu einem gewissen Grade ein Menschenkenner ersten Ranges war, verbieten mir Pflicht und Verstand zugleich zu bezweifeln.«

Mit diesen Worten und gegenüber allen unsern Bitten, daß sie die Punschrunde noch ferner mit ihrer Gegenwart beehren möge, taub, zog sich Mrs. Micawber in mein Schlafzimmer zurück. Ich hatte das sichere Gefühl, daß sie eine edle Frau sei, eine Frau des römischen Altertums hätte sein können und als solche allerlei heroische Taten in den Zeiten öffentlicher Gefahr zu vollbringen imstande gewesen wäre. Unter diesem Eindruck gratulierte ich Mr. Micawber zu dem Schatz, den er besaß. Das Gleiche tat Traddles. Mr. Micawber reichte uns beiden nacheinander die Hand und bedeckte dann das Gesicht mit seinem Taschentuch, in dem sich mehr Schnupftabak befand, als er ahnte. Dann machte er sich in heiterster Laune wieder über den Punsch her.

Er überströmte von Beredsamkeit. Er belehrte uns, daß in seinen Kindern der Mensch wieder neu zu leben beginne und daß unter dem Druck von Geldverlegenheiten jede Vermehrung ihrer Zahl doppelt willkommen sei. Er erzählte, daß seine Gattin anfangs hinsichtlich dieses Punktes ihre Zweifel gehabt habe, daß er sie aber diesbezüglich vollständig beruhigt hätte. Ihre Familie sei ihrer gänzlich unwürdig, und die Gefühle derselben ließen ihn vollkommen kalt. Sie könnten, wie er sagte, zum Teufel gehen.

Sodann erging er sich in warmen Lobsprüchen über Traddles. Traddles sei ein Charakter, auf dessen Beharrlichkeit er selbst ja keinen Anspruch machen könne, den er aber, Gott sei Dank, noch imstande sei zu bewundern. Gefühlvoll spielte er auf die junge, ihm noch unbekannte Dame an, die Traddles so sehr mit seiner Zuneigung ehre und die diese Neigung dadurch vergelte, daß auch sie wiederum Traddles mit ihrer Zuneigung ehre und glücklich mache. Er ließ sie leben. Ich auch. Traddles dankte uns und sagte mit einer Einfachheit und Ehrlichkeit, die ich wohl zu schätzen wußte: »Ich danke euch wirklich sehr. Ich versichere euch, sie ist ein liebes Mädchen.«

Mr. Micawber benützte die erste Gelegenheit, um mit größter Schonung und Förmlichkeit sich nach dem Zustande meiner Gefühle zu erkundigen. Nur eine ausdrückliche gegenteilige Versicherung meinerseits, bemerkte er, könne ihn von dem Eindruck befreien, daß ich, sein alter Freund Copperfield, liebe und geliebt werde. Nach langem verlegenen Erröten, Stottern und Leugnen sagte ich endlich, mit dem Glas in der Hand: »Also gut, wir wollen auf D.s Wohl trinken«, und das regte Mr. Micawber so sehr an und erfreute ihn derart, daß er mit einem Punschglas in das Schlafzimmer eilte, damit auch Mrs. Micawber auf D.s Wohl trinken könne.

Sie tat es mit großer Begeisterung und rief mit schriller Stimme: »Hoch, hoch! Mein lieber Mr. Copperfield, das ist ja entzückend. Hoch!« Und zum Zeichen ihres Beifalls klopfte sie an die Verbindungswand.

Unser Gespräch nahm allmählich wieder eine weltliche Färbung an. Mr. Micawber erzählte, daß ihm Camdentown nicht mehr recht gefalle und daß das erste, was er tun werde, sobald sich etwas durch die Zeitung gefunden, eine neue Wohnung zu nehmen wäre. Er sprach von einer Terrasse am Westende der Oxfordstraße, Hydepark gegenüber, die er von jeher im Auge gehabt, die er aber wahrscheinlich nicht gleich werde mieten können, da viel Einrichtung dazu nötig sein würde. Mittlerweile müßte es vorläufig der obere Teil eines Hauses über einem anständigen Geschäftslokal, vielleicht in Piccadilly, tun, wo Mrs. Micawber sehr angenehm wohnen würde und wo sich nach Einbau eines Bogenfensters oder Aufbau eines neuen Stockwerks oder ähnlichen kleinen Veränderungen ein paar Jahre ganz bequem und angenehm zubringen ließen. Was aber auch die Zukunft ihm vorbehalten habe, setzte er hinzu, wo immer seine Wohnung dereinst auch stünde, stets könnten wir darauf bauen, daß ein Zimmer für Traddles und Messer und Gabel für mich da sein würden. Wir dankten ihm für seine Güte, und er bat uns um Entschuldigung, daß er sich in diese praktischen und geschäftsmäßigen Einzelheiten eingelassen habe, und entschuldigte sich damit, daß sie für einen Mann, der sein Leben ganz neu beginne, etwas sehr Natürliches seien.

Unsere Unterhaltung wurde durch Mrs. Micawber, die an die Wand klopfte und wissen wollte, ob wir für den Tee bereit seien, unterbrochen. Sie bereitete ihn sodann für uns in liebenswürdigster Weise und fragte mich stets, wenn ich beim Reichen der Tassen und des Butterbrotes in ihre Nähe kam, flüsternd, ob D. blond oder brünett, klein oder schlank sei, und anderes der Art, was mir sehr wohl tat.

Nach dem Tee sprachen wir beim Kamin über die verschiedenartigsten Dinge, und Mrs. Micawber war so gütig, uns mit einer dünnen blechernen Stimme, die mir zur Zeit unserer ersten Bekanntschaft schon wie eine Art Tischbier der Akustik vorgekommen war, die Lieblingsballaden »Der flotte weiße Sergeant« und »Little Tafflin« vorzusingen. Um dieser beiden Lieder willen war sie, als sie noch zu Hause lebte bei Papa und Mama, berühmt gewesen. Mr. Micawber belehrte uns, daß sie seine Aufmerksamkeit, als er sie damals das erstemal unter ihrem elterlichen Dache hatte singen hören, derartig auf sich gezogen habe, daß er bei der ersten Ballade, der von »Little Tafflin«, bereits den Entschluß gefaßt habe, das Herz der Sängerin zu gewinnen oder unterzugehen.

Es war zehn Uhr vorbei, als Mrs. Micawber aufstand, um die Haube wieder in der braunen Papiertüte unterzubringen und ihren Hut aufzusetzen. Mr. Micawber benutzte die Pause, als Traddles ihm in seinen Überzieher half, mir einen Brief zuzustecken, den ich gelegentlich lesen sollte. Ich meinerseits nahm die Gelegenheit wahr, als ich meinen Gästen über die Treppe hinableuchtete, wobei Mr. Micawber mit seiner Gattin am Arm vorausging und Traddles mit der Haube in der Tüte folgen wollte, letzteren einen Augenblick festzuhalten.

»Traddles«, sagte ich, »Mr. Micawber meint es nicht schlecht, der arme Kerl, aber ich an deiner Stelle würde ihm niemals etwas borgen.«

»Lieber Copperfield«, entgegnete Traddles. »Ich habe gar nichts zu verborgen.«

»Aber einen Namen hast du.«

»O, den kann man auch verborgen?« fragte Traddles mit einem dankbaren Blick.

»Selbstverständlich.«

»O! – Ja, du hast recht. Ich danke dir recht sehr, Copperfield, aber ich fürchte, den habe ich ihm schon geliehen.«

»Zu dem Wechsel, der so eine sichere Anlage sein soll?«

»Nein, nicht zu dem. Ich habe heute abend zum ersten Mal davon gehört. Sie werden mir wahrscheinlich auf dem Nachhauseweg den Vorschlag machen. Es handelte sich um etwas anderes.«

»Ich hoffe, die Sache fällt nicht schlimm aus«, sagte ich.

»Ich hoffe nicht. Mr. Micawber erwähnte noch, daß für Deckung gesorgt sei. Das waren seine Worte. Daß für Deckung gesorgt sei.«

Da Mr. Micawber jetzt zu uns heraufsah, konnte ich nur noch schnell meine Warnung wiederholen. Traddles dankte mir und ging die Treppe hinunter.

Als ich sah, wie gutmütig er Mrs. Micawber die Haube nachtrug und ihr dann den Arm reichte, konnte ich mich der Befürchtung nicht erwehren, er werde sich an Händen und Füßen gebunden auf den Geldmarkt schleppen lassen.

Ich kehrte in meine Stube zurück und dachte, halb ernsthaft, halb belustigt, über Mr. Micawbers Charakter und unsere alten Beziehungen zueinander nach, als ich einen raschen Schritt die Treppe heraufkommen hörte. Anfangs dachte ich, Mrs. Micawber hätte etwas vergessen und Traddles käme es holen, aber als die Schritte näher kamen, fühlte ich mein Herz lauter klopfen und mir das Blut ins Gesicht schießen, denn ich erkannte Steerforth.

Ich vergaß niemals Agnes, und sie kam nie aus dem Allerheiligsten meiner Gedanken, wohin ich sie von Anfang an gestellt hatte. Aber als er eintrat, vor mir stand, mir die Hand hinstreckte, da wurde der Schatten, der auf ihn gefallen, zu Licht, und nur mit Scham und Verwirrung konnte ich an meine Zweifel denken. Ich liebte Agnes deshalb nicht weniger, und sie erschien mir immer noch als derselbe sanfte, segenbringende Engel meines Lebens. Mir und nicht ihr warf ich vor, Steerforth unrecht getan zu haben, und ich hätte gerne Buße getan, wenn ich nur gewußt hätte, wie und womit.

»Was, Daisy, alter Junge, ganz stumm geworden?« lachte Steerforth und schüttelte mir herzlich die Hand und warf sie scherzend wieder weg. »Hab ich dich wieder bei einem Gelage ertappt, du Sybarit! Diese Leute aus Doctors‘ Commons sind die größten Lebemänner der Stadt und schlagen uns soliden Leute von Oxford aufs Haupt.« Sein lebhaftes Auge schweifte munter im Zimmer umher, als er sich neben mich auf das Sofa setzte und das Feuer anschürte, daß es im Kamin emporloderte.

»Du hast mich so überrascht«, sagte ich und begrüßte ihn jetzt mit aller Herzlichkeit, »daß ich kaum den Atem hatte dich zu bewillkommnen, Steerforth.«

»Nun, ›mein Anblick tut schlimmen Augen gut‹, wie die Schotten sagen«, entgegnete Steerforth. »Und das tut der deinige auch, du voll entfaltetes Gänseblümchen. Was machst du übrigens, du Schwelger?«

»Ich befinde mich sehr wohl und schwelge heute durchaus nicht, obwohl ich auch diesmal ein Gastmahl zu viert eingestehen muß.«

»Die andern drei traf ich schon auf der Straße, überströmend von deinem Lobe. Wer ist der Herr mit den engen Hosen?«

Mit ein paar Worten skizzierte ich Mr. Micawber, so gut ich konnte. Steerforth lachte herzlich über das schwache Porträt dieses Herrn und sagte, er müsse ihn unbedingt kennenlernen. »Wer, glaubst du, ist der andere?« fragte ich.

»Gott weiß! Hoffentlich kein Fadian. Er sah ein wenig danach aus.«

»Traddles!« rief ich triumphierend.

»Wer ist das?« fragte Steerforth leichthin.

»Du erinnerst dich nicht mehr an Traddles? Traddles aus Salemhaus!«

»Ach, der Bursche!« sagte Steerforth, ein Stück Kohle im Feuer mit dem Schüreisen zerschlagend. »Ist er immer noch so simpel? Wo zum Kuckuck hast du den aufgegabelt?«

Ich pries Traddles, so sehr ich konnte, denn ich fühlte, daß Steerforth geringschätzig von ihm dachte.

Steerforth brach das Gespräch mit einem leichten Nicken und der Bemerkung ab, daß es ihn freuen würde, den alten Burschen wiederzusehen; er sei immer ein närrischer Kauz gewesen. Und ob ich nichts zu essen habe. Während ich die Überreste der Taubenpastete hervorholte, hämmerte er immer mit dem Schüreisen auf die Kohlen.

»Das ist ja ein Abendessen für einen König, Daisy«, sagte er dann nach längerem Schweigen mit auffallender Lebhaftigkeit und nahm am Tische Platz. »Ich werde ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn ich komme von Yarmouth.«

»Nicht von Oxford?«

»O nein. Ich habe mich auf dem Meer herumgetrieben – besser beschäftigt.«

»Littimer war heute hier, um nach dir zu fragen, und ich glaubte ihn so zu verstehen, daß du in Oxford wärest, obgleich mir jetzt auffällt, daß er es eigentlich nicht direkt gesagt hat.«

»Littimer ist ein größerer Narr, als ich dachte, wenn er sich nach mir erkundigt«, sagte Steerforth, schenkte sich ein Glas Wein ein und trank mir zu. »Wenn du ihn verstehen kannst, Daisy, bist du gescheiter als wir alle.«

»Das ist wahr«, sagte ich und rückte meinen Stuhl näher an den Tisch. »Du bist also in Yarmouth gewesen, Steerforth? Warst du lange dort?«

»Nein, so einen Seitensprung von einer Woche oder so.«

»Und was machen sie alle? Natürlich ist die kleine Emly noch nicht verheiratet?«

»Noch nicht. Wird schon kommen. Ich glaube, in einigen Wochen oder Monaten oder – was weiß ich. Ich habe die Leute nicht viel gesehen. Übrigens«, – er legte Messer und Gabel hin, die er mit großem Eifer gebraucht hatte, und fühlte in seine Taschen – »ich habe einen Brief für dich.«

»Von wem?«

»Na, von deiner alten Kindsfrau.« Er zog verschiedene Papiere aus seiner Brusttasche. »Rechnung für Herrn J. Steerforth aus dem ›Guten Vorsatz‹. Das ist es nicht. Nur ein bißchen Geduld. Wir werden ihn gleich haben. Der Alte, wie heißt er gleich, befindet sich schlecht, und davon schreibt sie, glaube ich.«

»Barkis meinst du?«

»Ja.« Er untersuchte immer noch den Inhalt seiner Tasche. »Ich fürchte, es ist mit dem armen Barkis vorbei. Ich sprach mit einem kleinen Apotheker oder Wundarzt oder was er sonst ist, der dich hat auf die Welt bringen helfen. Er sprach furchtbar gelehrt von der Krankheit, aber es lief darauf hinaus, daß der Fuhrmann seine letzte Reise ziemlich bald antreten werde. Greif einmal in die Brusttasche des Überrocks auf dem Stuhl dort! Da wird der Brief wahrscheinlich drin sein, nicht wahr?«

»Hier ist er.«

»Nun, dann ists gut.«

Der Brief war von Peggotty, etwas weniger leserlich als gewöhnlich und recht kurz. Sie schrieb, ihr Mann läge hoffnungslos darnieder und sei noch etwas knickeriger als früher und deshalb schwer zu pflegen. Von ihren Mühen und Nachtwachen erwähnte sie nichts, sondern lobte ihren Gatten nur höflichst. Der Brief atmete die einfache, ungekünstelte Frömmigkeit, die ich an ihr kannte, und schloß mit einem »lieben Gruß an mein Herzenskind.«

Während ich die Schrift entzifferte, fuhr Steerforth fort zu essen und zu trinken.

»Es ist eine böse Geschichte«, sagte er, als ich fertig war, »aber die Sonne geht jeden Tag unter und Menschen sterben alle Minuten; wir dürfen uns über das uns allen gemeinsame Schicksal nicht aufregen. Wenn wir uns jedesmal aufhalten ließen, wenn dieser unausbleibliche Gast an irgendeine Türe klopft, würden wir nie etwas in dieser Welt erreichen. Nur immer drauflos. Scharf, wenns sein muß, langsam, wenn es nicht anders geht, aber nur immer drauflos. Über alle Hindernisse hinweg und das Rennen gewinnen!«

»Welches Rennen?«

»Nun, das Rennen, in das man sich jeweilig eingelassen hat. Nur drauflos!«

Als er innehielt und mich, seinen schönen Kopf ein wenig zurückgeworfen und das Glas erhoben, ansah, glaubte ich in seinem Gesicht, obwohl es von der scharfen Seeluft gebräunt war, Spuren zu entdecken, als ob er unter dem verzehrenden Feuer der wilden Energie, die ihn manchmal so leidenschaftlich durchtobte, ein wenig gelitten habe. Ich wollte ihm anfangs Vorstellungen wegen seiner tollen Rücksichtslosigkeit, mit der er sich zuweilen seinen Launen überließ, machen, aber meine Gedanken kehrten wieder zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurück.

»Ich möchte dir etwas sagen, Steerforth, wenn du mir in deiner guten Laune ein wenig zuhören willst.«

»Sprich nur«, antwortete er und rückte wieder an den Kamin.

»Ich will dir etwas sagen, Steerforth, ich möchte hinreisen und meine alte Kindsfrau besuchen. Nicht, daß ich ihr besondere Dienste leisten könnte, aber sie ist mir so zugetan, daß mein Besuch sie vielleicht trösten kann. Es wird ihr eine Zerstreuung sein und eine Unterstützung. Es macht mir nicht viel Mühe, und ich habe ihr doch so viel zu danken. Würdest du nicht auch an meiner Stelle einen Tag der Reise opfern?«

Sein Gesicht war nachdenklich geworden, und nach einigem Besinnen sagte er halblaut: »Ja, geh. Es kann nichts schaden.«

»Du bist eben erst wieder zurück. Es hätte daher keinen Zweck, dich zu fragen, ob du mitreisen willst.«

»Natürlich. Ich fahre heute noch nach Highgate. Ich habe die ganze lange Zeit meine Mutter nicht gesehen, und es liegt mir ordentlich schwer auf dem Gewissen, denn es ist etwas daran, so geliebt zu werden wie ich, – ihr verlorener Sohn. – Pah! Unsinn! – Du wirst wohl morgen abreisen?« fragte er mich dann und legte mir seine Hände auf die Schultern.

»Ja, ich glaube wohl.«

»Geh erst übermorgen! Ich wollte dich einladen, ein paar Tage bei uns zu bleiben, und bin zu diesem Zweck bei dir. Und jetzt reißest du nach Yarmouth aus!«

»Du hast gar kein Recht, von Ausreißen zu sprechen, Steerforth! Du selbst fährst wild in der Welt herum auf unbekannten Pfaden.«

Er sah mich eine Weile stumm an, dann schüttelte er mich und sagte:

»Also übermorgen! Und mittlerweile verbringst du mit uns den morgigen Tag, so gut es geht. Wer weiß, wann wir wieder zusammenkommen! Also abgemacht? Sag also: übermorgen! Du mußt dich zwischen Rosa Dartle und mich stellen, um uns auseinanderzuhalten.«

»Damit ihr euch nicht zu sehr liebt?«

»Ja. Oder haßt, das kommt auf eins heraus! Also abgemacht.«

Ich sagte zu. Steerforth zog seinen Überzieher an, zündete sich eine Zigarre an und begab sich nach Hause. Ich nahm auch meinen Überzieher um, zündete mir aber keine Zigarre an, denn vom Rauchen hatte ich vorläufig genug, und begleitete ihn bis zur Landstraße, die abends wie ausgestorben dalag. Er war die ganze Zeit bester Laune, und als wir voneinander schieden und ich ihm nachsah, wie er so stramm und elastisch dahinschritt, mußte ich an seine Worte denken: »Nur immer drauflos! Über alle Hindernisse hinweg, das Rennen gewinnen und dem Ziel entgegen!« und ich wünschte zum erstenmal, daß er ein seiner würdiges Ziel haben möge.

Ich entkleidete mich; dabei fiel mir Mr. Micawbers Brief aus der Tasche. Er war anderthalb Stunden vor dem Mittagessen datiert und lautete:

Sir! – denn ich wage nicht zu sagen, mein lieber Copperfield! Ich kann nicht umhin, Sie zu benachrichtigen, daß der Endesgefertigte untendurch ist. Einige schwache Versuche, Ihnen die vorzeitige Kenntnis seiner unglücklichen Lage zu ersparen, werden Ihnen vielleicht heute bemerklich werden. Aber die Hoffnung ist versunken und der Endesgefertigte ist zerschmettert.

Gegenwärtiges Schreiben wird in der persönlichen Nähe – ich kann es nicht Gesellschaft nennen – eines Individuums geschrieben, das sich in einem an Trunkenheit grenzenden Zustand befindet. Dieses Individuum, der Angestellte eines Wucherers, ist in gerichtlichem Besitz des Hauses kraft einer Zwangsvollstreckung wegen rückständigen Zinses. Das Inventar besteht nicht nur aus dem dem Endesgefertigten gehörigen beweglichen Eigentum und Mobiliar jeder Art, sondern auch aus dem des Mr. Thomas Traddles, Aftermieters und Mitgliedes unserer ehrenwerten Gesellschaft vom innern Juristenkollegium.

Wenn noch ein bitterer Tropfen in dem überschäumenden Kelch fehlte, der jetzt, um mit den Worten des unsterblichen Dichters zu reden, den Lippen des Endesgefertigten dargereicht wird, so wäre er in der Tatsache zu finden, daß eine Freundesbürgschaft über £ 23?4 s.?9½ d, die der eben erwähnte Mr. Thomas Traddles geleistet hat, fällig ist und der Deckung entbehrt; ferner in der Tatsache, daß die an den Endesgefertigten hängenden lebendigen Verantwortlichkeiten sich nach dem Lauf der Natur noch um ein hilfloses Opfer mehren werden, dessen unglückliches Erscheinen nach Verlauf von – in runden Zahlen zu sprechen – von nicht ganz sechs Monaten von heute an gerechnet zu erwarten steht.

Unter diese Prämissen wäre es ganz überflüssig hinzuzufügen, daß Staub und Asche für immer bedecken das Haupt des
       Wilkins Micawber

Der arme Traddles! Wie ich Mr. Micawber kannte, fürchtete ich nicht, daß er sich von dem Schlage nicht erholen werde, aber meine Nachtruhe wurde ernstlicher gestört durch Gedanken an Traddles und die Pfarrerstochter – eine von zehn Schwestern in Devonshire –, die ein so liebes Mädchen sein sollte und auf Traddles warten wollte, sechzig Jahre und noch länger.

29. Kapitel Mein zweiter Besuch in Steerforths Haus


29. Kapitel Mein zweiter Besuch in Steerforths Haus

Ich bat am nächsten Morgen Mr. Spenlow um einen kurzen Urlaub. Da ich kein Gehalt bezog und es dem hartherzigen Jorkins weiter nicht unangenehm war, wurde er ohne Schwierigkeiten bewilligt. Ich benützte die Gelegenheit, um mit fast erstickter Stimme und umnebelten Augen die Hoffnung auszudrücken, daß Miss Spenlow sich wohl befinde, worauf Mr. Spenlow mit nicht mehr Ergriffenheit, als ob es sich um ein ganz gewöhnliches Menschenkind handle, mir dankend erwiderte, daß sie sehr wohl sei.

Wir Angestellten ohne Gehalt wurden als Keime des Patrizierordens der Proktoren immer mit soviel Rücksicht behandelt, daß ich stets mein eigner Herr war. Da ich jedoch nicht vor ein oder zwei Uhr in Highgate zu sein brauchte, und wir wieder eine kleine Exkommunikationssache vormittags im Gericht verhandelten, so brachte ich daselbst eine oder zwei Stunden recht angenehm mit Mr. Spenlow zu. Der Prozeß, der den Namen führte: »richterliche Entscheidung angerufen von Tipkins gegen Bullock behufs Besserung dessen Seele«, war einem Streite zwischen zwei Kirchenvorstehern entsprossen, wobei der eine den andern gegen einen Brunnen gestoßen hatte. Da der Pumpenschwengel dieses Brunnens in ein Schulhaus hineinragte und das Schulhaus unter dem Giebel des Kirchendachs stand, so galt der Stoß als gegen die Kirche geführt. Es war ein amüsanter Fall, und als ich auf dem Bock der Kutsche nach Highgate hinauffuhr, mußte ich immer noch an die Commons denken und an das, was Mr. Spenlow über ihre Wichtigkeit für das Land gesagt hatte.

Mrs. Steerforth war erfreut mich zu sehen, und Miss Rosa Dartle desgleichen. Sehr angenehm überraschte es mich, Littimer nicht dort zu finden und uns von einem bescheidnen kleinen Dienstmädchen mit blauen Bändern in der Haube und viel angenehmem und weniger verwirrenden Augen als denen des respektablen Bedienten – bedient zu sehen.

Was mir besonders auffiel, noch ehe ich eine halbe Stunde im Hause weilte, war die scharfe und unermüdliche Aufmerksamkeit Miss Dartles mir gegenüber und die lauernde Weise, mit der sie mein Gesicht mit Steerforths Zügen und umgekehrt zu vergleichen schien, als ob sie etwas ergründen wollte. Sooft ich sie ansah, konnte ich sicher sein, daß ihre großen, schwarzen, lodernden Augen mit gespannter Aufmerksamkeit auf mir ruhten oder rasch von mir zu Steerforth hinüberblickten oder uns beide zugleich belauerten. Von ihrem luchsartigen Beginnen stand sie so wenig ab, daß sie mich sogar noch durchbohrender ansah, als sich meine Überraschung in meinem Gesicht malte. Trotzdem ich mir nichts Bösen bewußt war, schüchterten mich diese seltsamen Augen ein, und es war mir nicht möglich, ihren lechzenden Glanz zu ertragen.

Den ganzen Tag über schien Miss Dartle in allen Teilen des Hauses gegenwärtig zu sein. Wenn ich mit Steerforth in seinem Zimmer sprach, hörte ich ihr Kleid auf dem kleinen Gang draußen rauschen. Wenn wir uns auf dem Rasenplatz hinter dem Hause mit Fechten oder Boxen die Zeit vertrieben, sah ich ihr Gesicht wie ein ruheloses Licht von Fenster zu Fenster wandern, um dann an einem stillzustehen und uns zu beobachten.

Als wir alle vier nachmittags spazierengingen, legte sie ihre dünne Hand wie eine Feder auf meinen Arm, um mich zurückzuhalten, bis Steerforth und seine Mutter außer Hörweite waren. Dann sprach sie:

»Sie sind recht lange nicht hier gewesen. Ist Ihr Beruf wirklich so interessant, daß er Ihre Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch nimmt? Ich frage nur, weil ich mich gern unterrichte, wenn ich etwas nicht weiß. Ist er wirklich so –?«

Ich antwortete, daß er mir recht gut gefiele, aber daß er mich doch nicht ganz und gar feßle …

»O, es freut mich, das zu hören, weil ich mich immer gern belehren lasse, wenn ich unrecht habe«, sagte sie. »Sie meinen, er ist vielleicht ein wenig trocken, nicht wahr? Das ist wohl auch der Grund, warum Sie ein bißchen Erholung und Abwechslung – oder Aufregung und dergleichen bedürfen? Gewiß wohl. Aber ist es nicht ein bißchen – nicht? – für ihn; ich meine nicht Sie –« ein rascher Blick ihres Auges nach Steerforth ließ mich erraten, auf wen sie anspielte; aber im übrigen war mir ihre Rede unerklärlich. Sie mochte mir das ansehen.

»Nimmt es ihn nicht ganz in Anspruch – ich sage nicht, daß es wirklich der Fall ist, – ich frage bloß. Hält es ihn vielleicht nicht ein wenig zu sehr ab, seine ihn so blind liebende Mutter – nicht?«

Ihre Worte waren mit einem Blick auf mich begleitet, der meine innersten Gedanken zu durchdringen schien.

»Miss Dartle«, entgegnete ich, »ich bitte Sie, nicht zu denken –«

»O, gewiß nicht. O mein Gott, glauben Sie nur nicht, daß ich mir etwas denke. Ich bin nicht im geringsten mißtrauisch, ich stelle nur eine Frage. Ich stelle keine Meinung auf. Ich möchte mir nur eine Meinung nach dem bilden, was Sie mir sagen. Also ist es nicht so? Nun, das freut mich recht sehr.«

»Sicherlich ist es nicht der Fall«, sagte ich ganz verwirrt, »ich trage nicht die Schuld, wenn Steerforth länger als gewöhnlich von Hause weggeblieben ist, wenn es überhaupt der Fall ist. Ich wüßte wahrhaftig selbst nichts darüber, wenn ich es nicht aus Ihren Worten entnähme. Ich habe ihn erst nach langer Zeit gestern abend wiedergesehen.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, wirklich nicht, Miss Dartle.«

Als sie mich jetzt fest ansah, wurde ihr Gesicht spitzer und blässer und die Narbe deutlicher und länger, bis sie die Oberlippe durchschnitt und tief in die Unterlippe hineinging und sich im Kinn verlor. Der Ausdruck ihres Gesichts und der Glanz ihrer Augen hatten etwas Erschreckendes für mich, als sie mich so scharf ansah.

»Was treibt er?« fragte sie.

Ich wiederholte die Worte oder sprach sie ihr vielmehr nach, so erstaunt war ich.

»Was treibt er?« sagte sie mit einer Leidenschaft, die sie wie Feuer zu verzehren schien. Worin steht ihm dieser Mensch bei, der mich nie ansehen kann, ohne daß eine offenkundige Falschheit in seinen Augen lauert? »Ich verlange nicht von Ihnen, daß Sie ihren Freund verraten sollen. Ich bitte Sie bloß mir zu sagen, ist es Haß, Stolz, Ruhelosigkeit, eine tolle Laune, Liebe oder was sonst, was ihn leitet?«

»Miss Dartle«, entgegnete ich, »wie soll ich Ihnen beteuern, daß ich von Steerforth nichts weiß, was seit meinem ersten Besuch hier anders geworden wäre. – Ich kann mich auf nichts besinnen. Ich bin fest überzeugt, es ist nichts. Ich verstehe kaum, was Sie meinen.«

Wie sie mich fest anblickte, ging ein Zucken und Pulsieren, bei dem ich unwillkürlich an Schmerz denken mußte, über jene grausame Narbe und zog ihr die Mundwinkel, wie vor Hohn oder Mitleid, in die Höhe. Rasch legte sie die Hand darauf – eine Hand so fein und dünn, daß sie fast durchsichtig wie feines Porzellan war, und sagte in wilder, leidenschaftlicher Erregung: »Ich beschwöre Sie, das geheimzuhalten.« Dann sprach sie kein Wort mehr.

Mrs. Steerforth fühlte sich heute besonders glücklich in ihres Sohnes Gesellschaft, und Steerforth benahm sich mehr als gewöhnlich aufmerksam und ehrerbietig gegen sie. Die beiden beisammen zu sehen war für mich sehr interessant. Nicht nur wegen ihrer Zuneigung zueinander, sondern auch wegen ihrer großen Ähnlichkeit, denn was bei ihm Stolz oder Ungestüm war, erschien bei ihr durch Alter und Geschlecht zu stolzer Würde gemildert. Mehr als einmal kam mir der Gedanke, daß ein ernster Zwist zwischen beiden wohl nie stattgefunden haben konnte. Zwei solche Charaktere, besser gesagt, zwei solche Schattierungen ein und desselben Charakters mußten miteinander viel schwerer zu versöhnen sein als die schroffsten Gegensätze. Der Gedanke wurde nicht von selbst in mir wach, sondern war durch einige Äußerungen Rosa Dartles veranlaßt.

Sie sagte nämlich bei Tisch: »Ich möchte gern etwas wissen, weil ich den ganzen Tag daran gedacht habe, und möchte mir gern darüber klar sein.«

»Was willst du denn also wissen, Rosa?« fragte Mrs. Steerforth. »Ich bitte dich, Rosa, sei nicht immer so geheimnisvoll.«

»Geheimnisvoll! O? Wirklich? Hältst du mich dafür?«

»Aber ich bitte dich doch immer, sprich offen heraus. Ganz in deiner natürlichen Manier.«

»O, ist es nicht meine natürliche Manier? Da mußt du wirklich Nachsicht mit mir haben, denn ich frage nur, um mich zu belehren. Wir kennen uns selbst nie genau.«

»Es ist dir zur zweiten Natur geworden«, sagte Mrs. Steerforth ruhig. »Aber ich weiß noch, und du wahrscheinlich auch, daß du früher anders warst, Rosa. Du warst früher mehr vertrauensvoller Natur.«

»Du hast sicherlich recht. Da sieht man wieder, wie schlechte Gewohnheiten einen beschleichen können. Wirklich? Vertrauensvoller? Wie ich mich nur so unversehens verändern konnte? Es ist wirklich recht seltsam! Ich muß mich bemühen, wieder zu werden wie früher.«

»Ich wollte, du könntest es«, sagte Mrs. Steerforth mit einem Lächeln.

»Ich werde es bestimmt versuchen. Ich will Offenheit lernen von sagen wir – von James.«

»Du könntest in keiner bessern Schule Offenheit lernen«, bestätigte Mrs. Steerforth lebhaft, denn aus allem, was Miss Dartle sagte, wenn sie es auch auf die unschuldigste Weise tat, blickte ein gewisser Sarkasmus hervor.

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Miss Rosa mit ungewöhnlicher Innigkeit. »Du weißt, wenn ich von irgend etwas überzeugt bin, so davon.«

Mrs. Steerforth schien zu bereuen, daß sie sich ein wenig gereizt gezeigt hatte, und fragte sogleich in einem sehr gütigen Ton:

»Gut, liebe Rosa, aber wir wissen immer noch nicht, was du eigentlich wissen möchtest.«

»Was ich gern erfahren möchte?« gab Miss Dartle mit fast aufreizender Kälte zur Antwort. »O! Ich hätte nur gern gewußt, ob Menschen, die einander in moralischer Hinsicht sehr ähnlich sind – ist das der richtige Ausdruck?«

»So richtig wie jeder andere«, sagte Steerforth.

»Ich danke dir! – ob Menschen, die sich in moralischer Hinsicht sehr ähnlich sind, mehr Gefahr laufen als andere bei ernstlichen Zwistigkeiten in unversöhnliche Feindschaft zu geraten.«

»Ich sollte meinen ja«, sagte Steerforth.

»Wirklich? O Gott! Nehmen wir zum Beispiel an – man kann bei einem solchen Beispiel den unwahrscheinlichsten Fall setzen –, daß du und deine Mutter einmal einen ernsthaften Streit hätten –«

»Liebe Rosa!« unterbrach sie Mrs. Steerforth mit einem heitern Lachen. »Nimm lieber ein anderes Beispiel. James und ich kennen unsere Pflichten gegeneinander zu gut, unberufen.«

»O!« sagte Miss Dartle und nickte gedankenvoll mit dem Kopf. »Gewiß! Und das muß jeden Streit verhüten. Aber gewiß. Sicherlich. Es freut mich ordentlich, daß ich einfältig genug war, den Fall zu setzen. Es ist so tröstlich zu wissen, daß eure gegenseitigen Pflichten so etwas verhüten würden. Ich danke dir wirklich recht sehr!«

Noch einen andern geringfügigen Umstand, der mit Miss Dartle zusammenhing, darf ich nicht zu erwähnen vergessen, denn ich hatte Grund, mich später daran zu erinnern, als die nicht wiedergutzumachende Vergangenheit klar vor mir lag. Den ganzen Tag über und besonders von diesem Augenblick an strengte sich Steerforth aufs äußerste an, dieses eigentümliche Wesen durch liebenswürdiges Entgegenkommen aufzuheitern. Ich wunderte mich nicht, daß es ihm gelang. Daß sie sich gegen den bezaubernden Einfluß seiner gewinnenden Kunst – ich hielt es damals für eine gewinnende Naturanlage – wehrte, überraschte mich ebenfalls nicht, denn ich wußte, daß sie manchmal störrisch und grämlich sein konnte. Ich sah, wie sie ihn mit steigernder Bewunderung betrachtete. Ich sah, wie sie in ihrem Widerstand immer schwächer und schwächer wurde, sosehr sie sich auch sträubte und bemüht war, der Gewalt seiner Umstrickung zu widerstehen. Zuletzt bemerkte ich, wie ihr scharfer Blick milder und ihr Lächeln sanfter wurde, und ich hörte auf, mich vor ihr zu fürchten; dann setzten wir uns alle um das Feuer und sprachen und lachten, rückhaltlos, als ob wir Kinder wären.

Mochte das lange Beisammensitzen daran schuld sein oder wollte Steerforth den errungenen Vorteil nicht wieder aus der Hand geben, ich weiß es nicht, aber wir blieben kaum fünf Minuten im Speisezimmer, als sie fortgegangen war.

»Sie spielt auf ihrer Harfe«, sagte Steerforth leise vor der Salontür, »und ich glaube, daß seit den letzten drei Jahren nur meine Mutter das von ihr gehört hat.« Er sprach das mit einem seltsamen Lächeln, das sogleich wieder verschwand, und wir traten in das Zimmer und fanden sie allein.

»Bitte, steh nicht auf«, sagte er, »bitte nicht, meine liebe Rosa. Tu mir noch ein einziges Mal den Gefallen und singe uns ein irländisches Lied.«

»Was liegt dir an einem irländischen Lied!«

»Viel! Viel mehr als an jedem andern. Und Daisy hier liebt die Musik von ganzer Seele. Sing uns ein irländisches Lied, Rosa! Und laß mich hier sitzen und zuhorchen wie früher!«

Er rührte weder sie noch den Stuhl an, von dem sie aufgestanden war, sondern setzte sich neben die Harfe. Sie blieb eine kleine Weile ganz seltsam vor dem Instrument stehen und bewegte ihre Hand über die Saiten, ohne sie erklingen zu lassen. Endlich setzte sie sich hin, zog die Harfe hastig an sich und spielte und sang.

Ich weiß nicht, was dem Liede einen so unirdischen Eindruck verlieh. Es lag etwas Furchtbares in ihm. Es klang, als ob es nie geschrieben oder in Musik gesetzt worden wäre, sondern unmittelbar ihrer Leidenschaft entspränge, die nur unvollkommen in den gedämpften Tönen ihrer Stimme Ausdruck fand und sich verkroch, als der letzte Ton verwehte. Ich war ganz benommen, als sie sich wieder über die Harfe lehnte und ihre Finger wieder lautlos über die Saiten streichen ließ.

Eine Minute, und ich fuhr aus meiner Betäubung empor. Steerforth war aufgestanden, zu ihr getreten und hatte sie lachend mit seinem Arm umschlungen und zu ihr gesagt: »Komm, Rosa, in Zukunft wollen wir einander wieder sehr lieb haben.« Und sie hatte ihn geschlagen und mit der Wut einer wilden Katze von sich gestoßen und war aus dem Zimmer geeilt.

»Was ist mit Rosa geschehen?« fragte Mrs. Steerforth, die jetzt hereintrat.

»Sie ist eine Zeitlang ein Engel gewesen und hat sich jetzt zur Abwechslung ins Gegenteil verwandelt.«

»Du solltest sie nicht reizen, James, denk daran, sie ist verbittert, und du solltest ihr nicht zuviel zumuten!«

Rosa kam nicht wieder, und sie wurde weiter nicht erwähnt, bis ich Steerforth auf sein Zimmer begleitete, um ihm gute Nacht zu sagen. Dann lachte er über sie und fragte mich, ob ich jemals ein so wildes, kleines, unbegreifliches Geschöpf gesehen.

Ich gab meinem Erstaunen Ausdruck und fragte ihn, was sie denn plötzlich so übelgenommen haben könnte.

»Ach, das weiß der Himmel. Alles, was du willst – oder gar nichts. Ich sagte dir schon einmal, sie legt alles, sich selbst mit inbegriffen, an einen Schleifstein und macht es scharf und spitzig. Sie ist wie eine Messerschneide, und man muß sie sehr vorsichtig behandeln. Sie ist immer gefährlich. – Gute Nacht.«

»Gut Nacht«, sagte ich, »lieber Steerforth. Ehe du noch aufstehst, bin ich schon fort. Gute Nacht.«

Er zögerte mich gehen zu lassen und stand vor mir, die Hände auf meine Schultern gelegt wie gestern, in meinem Zimmer.

»Daisy«, sagte er mit einem Lächeln; »wenn es auch nicht der Name ist, den dir deine Paten gaben, ist es doch der Name, bei dem ich dich am liebsten nenne –, ich wollte, ich wollte, du könntest mich auch so nennen!«

»Nun, das kann ich ja tun, wenn ich will.«

»Daisy, wenn uns jemals etwas voneinander trennen sollte, so mußt du immer das Beste von mir halten, alter Junge. Komm, versprich mir das! Denke immer von mir das Beste, wenn uns je Verhältnisse trennen sollten!«

»Ich kenne an dir nichts Bestes, Steerforth, und nichts Schlimmstes. Ich habe dich immer gleich lieb.«

So viel tiefe Reue fühlte ich, ihm jemals auch nur in Gedanken Unrecht getan zu haben, daß mir schon das Bekenntnis meiner Schuld auf den Lippen schwebte. Aber ich konnte es nicht über das Herz bringen, Agnes zu verraten, und wußte auch nicht, wie ich es anfangen sollte. Ich hatte daher noch immer nichts gesprochen, als er zu mir sagte: »Gott behüte dich, Daisy, und gute Nacht!« Ich schwieg also, und wir gaben uns die Hände und schieden voneinander.

Beim Morgengrauen zog ich mich rasch und still an und warf einen Blick in sein Zimmer. Er lag in festem Schlummer, den Kopf auf den Arm gelegt, wie ich ihn oft in der Schule gesehen. Es kam die Zeit, und zwar sehr bald, wo ich mich fast verwundert fragte, warum nichts seine Ruhe störte, als ich ihn angesehen. – Er schlummerte – ich will noch einmal an dieses Bild zurückdenken –, wie ich ihn in der Schule oft hatte schlummern sehen, und ich verließ ihn in dieser stillen Stunde –, um niemals mehr, Gott vergebe ihm, seine Hand in Liebe und Freundschaft zu berühren. Niemals, niemals mehr!

3. Kapitel Eine Veränderung


3. Kapitel Eine Veränderung

Das Pferd des Fuhrmanns war das faulste Pferd der Welt, kam mir vor. Es trottete mit gesenktem Kopf die Straße entlang, als gefiele es ihm, die Leute, denen es Pakete brachte, möglichst lange warten zu lassen. Ich bildete mir ein, es manchmal deutlich kichern gehört zu haben, aber man sagte mir, es hätte bloß Husten.

Der Fuhrmann ließ ebenfalls den Kopf hängen wie sein Gaul und nickte schläfrig beim Kutschieren, die Arme auf das Knie gestützt. Ich sage »kutschieren«, aber es scheint mir, der Wagen wäre ebensogut ohne ihn nach Yarmouth gekommen, denn das Pferd besorgte es ganz allein. Und was die Unterhaltung betrifft, so konnte er nichts als pfeifen.

Peggotty hatte einen Korb mit Eßwaren auf dem Knie, die reichlich bis London gelangt hätten. Wir aßen viel und schliefen viel.

Peggotty schlief immer mit dem Kinn auf dem Korbhenkel, den sie nie losließ. Ich würde nie geglaubt haben, wenn ich es nicht selbst gehört hätte, daß ein einziges schutzloses Weib soviel zusammenschnarchen könne.

Wir machten Umwege und brachten so lange Zeit damit zu, eine Bettstelle in einem Wirtshaus abzugeben und an verschiedenen Orten vorzusprechen, daß ich ganz müde und sehr froh war, als Yarmouth in Sicht kam.

Es sähe schwammig und vollgesogen aus, meinte ich, als ich meine Augen über die große, langweilige Einöde jenseits des Flusses schweifen ließ; ich konnte mir nicht helfen, aber ich staunte, wie das Geographiebuch behaupten konnte, die Welt sei wirklich so rund, wenn ein Teil derselben so flach war. Dann überlegte ich mir, daß Yarmouth möglicherweise an einem der beiden Pole liegen könnte, und gab mich mit dieser Erklärung zufrieden.

Als wir etwas näher kamen und die ganze Landschaft wie eine gerade niedrige Linie unter dem Himmel liegen sahen, bemerkte ich zu Peggotty, daß ein kleiner Hügel oder dergleichen verschönernd wirken müßte, und daß es hübscher wäre, wenn das Land etwas deutlicher von der See geschieden und die Stadt und die Flut nicht so sehr untereinander gemischt wie Mehl und Wasser sein würden. Aber Peggotty sagte mit größerem Nachdruck als gewöhnlich, daß wir die Dinge eben nehmen müßten, wie wir sie fänden, und daß sie ihrerseits stolz sei, ein »Hering von Yarmouth« zu sein.

Als wir in die Straße einbogen und den Fisch-, Pech-, Werg- und Teergeruch einsogen und die Seeleute umhergehen, und die Karren über die Steine schwanken sahen, fühlte ich, daß ich einem so geschäftigen Orte Unrecht getan hatte. Ich gestand es Peggotty ein, die meine Ausdrücke des Entzückens sehr wohlgefällig aufnahm und mir sagte, es sei allgemein bekannt (wahrscheinlich unter denen, die das große Glück haben, geborene Yarmouth-Heringe zu sein), daß Yarmouth überhaupt die schönste Stadt der Erde sei.

»Da ist mein Ham«, schrie sie plötzlich auf, »in Gelehrsamkeit aufgewachsen.«

Wirklich erwartete Ham uns beim Gasthause und erkundigte sich nach meinem Befinden wie ein alter Bekannter. Anfangs schien es mir nicht, als ob ich ihn so gut kenne, wie er mich, weil er seit der Nacht, als ich geboren wurde, nicht in unser Haus gekommen war.

Begreiflicherweise hatte er in dieser Hinsicht einen Vorsprung vor mir. Aber unsere Vertraulichkeit wuchs sehr, als er mich auf den Rücken nahm und nach Hause trug. Er war jetzt ein großer, starker Bursche von sechs Fuß Höhe, entsprechender Breite und massiven Schultern, aber mit einem Dummenjungengesicht, und krausem hellem Haar, das ihn etwas schafartig aussehen machte. Sein Anzug bestand aus einer Segeltuchjacke und einem Paar so steifer Hosen, daß sie ganz allein hätten aufrecht stehen können. Daß er einen Hut trüge, hätte niemand so recht behaupten dürfen. Es schien eher ein altes Haus mit ein wenig Pech darauf zu sein.

Ham trug mich auf dem Rücken und unsere kleine Schachtel unter dem Arm, während Peggotty einen Handkoffer schleppte. So gingen wir durch schmale Gäßchen, die mit Abfall von Zimmerholz und kleinen Sandhäufchen bedeckt waren, an Gasanstalten, Seilerstätten und Werften, wo Schiffe und Boote gebaut, zerlegt, kalfatert und aufgetakelt wurden, an Schmieden und Kalköfen vorbei, bis wir auf die öde Fläche kamen, die ich schon von weitem gesehen hatte. Da rief Ham: »Dats unser Hus, Masr Davy.«

Ich sah mich nach allen Seiten um und ließ meine Augen über die öde Ebene, über das Meer und den Fluß hinschweifen, aber nirgends konnte ich ein Haus entdecken. Nicht weit von uns auf einer kleinen Anhöhe erblickte ich wohl ein schwarzes Boot, eine Art ausgedienter Barke, aus dem ein Stück eisernes Rohr als Schornstein herausragte und sehr gemütlich rauchte, aber sonst war nichts da, was nach einer Wohnung ausgesehen hätte.

»Es ist doch nicht das dort?« fragte ich. »Das Ding, das wie ein Schiff aussieht?«

»Djewoll, Masr Davy«, antwortete Ham.

Ich glaube, wenn es Aladins Palast gewesen wäre oder das Ei des Vogels Roc, hätte ich nicht entzückter sein können, als über den romantischen Gedanken, hier wohnen zu dürfen.

In die Seitenwand war eine köstliche Tür geschnitten, mit einem Dach darüber, und kleine Fenster sahen heraus; aber der wunderbarste Reiz für mich lag darin, daß es ein wirkliches Boot war, das gewiß hundertemal auf dem Wasser geschwommen und niemals dazu bestimmt gewesen war, auf festem Lande zur Wohnung zu dienen. Das fesselte mich ganz und gar. Wenn es jemals von Anfang an hätte ein Haus sein sollen, würde es mir vielleicht klein oder unbequem oder einsam vorgekommen sein. So aber erschien es mir vollkommen in jeder Art.

Innen war alles außerordentlich reinlich und so hübsch wie möglich.

Ein Tisch und eine Schwarzwälderwanduhr und eine Kommode, und auf der Kommode stand ein Teebrett, darauf war eine Dame mit einem Sonnenschirm gemalt, und neben ihr spazierte ein militärisch aussehendes Kind mit einem Reifen. Das Teebrett wurde durch eine Bibel am Herunterfallen gehindert und hätte, wenn es abgerutscht wäre, eine Menge Tassen und eine Teekanne, die alle um das Buch herumstanden, zerschlagen. An der Wand hingen ein paar roh gemalte Bilder aus der Heiligen Schrift, wie ich sie seitdem nie in Trödelläden sehen kann, ohne daß nicht sofort das ganze Innere jenes Hauses klar vor meinen Augen steht. Ein roter Abraham, im Begriff einen blauen Isaak zu opfern, und ein Daniel in gelb unter grüne Löwen geworfen, stachen am meisten hervor.

Über dem Kaminsims hing ein Bild des Luggers »Sarah Jane«, in Sunderland gebaut, mit einem wirklichen kleinen, hölzernen Schiffshinterteil daran, ein Kunstwerk, das Gemälde und Zimmermannsarbeit vereinigt zeigte und mir als eines der neidenswertesten Besitztümer der Welt erschien. Im Deckbalken staken ein paar Haken, deren Bestimmung mir rätselhaft war, und einige Schiffskisten und Koffer standen umher und dienten als Stühle.

Dies alles übersah ich auf den ersten Blick, wie es nach meiner Ansicht Kinder zu tun pflegen; dann öffnete Peggotty eine kleine Tür und zeigte mir mein Schlafzimmer. Es war das vollkommenste und wünschenswerteste Schlafzimmer, das ich jemals gesehen habe, im Hinterteil des Schiffes mit einem kleinen Fenster, – da, wo früher das Steuer durchgegangen, – mit einem kleinen Spiegel, gerade in der rechten Höhe für mich an die Wand genagelt und mit Austernschalen eingerahmt, einem kleinen Bett und gerade genug Platz davor, um hinaussteigen zu können, und einem Strauß von Seegras in einem blauen Krug auf dem Tisch. Die Wände waren so weiß getüncht wie Milch. Die Bettdecke, aus Flecken kunterbunt zusammengesetzt, blendete meine Augen fast durch ihre Farbenpracht.

Ganz besonders gefiel mir in diesem herrlichen Hause der Fischgeruch, der so durchdringend war, daß mein Taschentuch, als ich es einmal herauszog, gerade so roch, als ob ein Hummer darin eingewickelt gewesen wäre. Als ich diese Entdeckung Peggotty anvertraute, belehrte sie mich, daß ihr Bruder mit Hummern, Krabben und Krebsen handelte.

Später fand ich heraus, daß ein Haufen dieser Geschöpfe in wunderbarer Verknäuelung, in der sie nicht wieder losließen, was sie einmal mit ihren Scheren gefaßt hatten, draußen in einem kleinen hölzernen Schuppen, in dem Töpfe und Kessel hingen, aufbewahrt wurden.

Eine sehr höfliche Frau mit weißer Schürze, die ich schon draußen in der Türe hatte knixen sehen, als ich auf Hams Rücken noch eine Viertelmeile vom Hause entfernt war, empfing uns. Desgleichen ein sehr schönes, kleines Mädchen – so kam sie mir wenigstens vor, – mit einem Halsband aus blauen Glasperlen.

Die Kleine ließ sich nicht küssen, als ich sie dazu aufforderte, sondern rannte fort und versteckte sich. Später, als wir ein prächtiges Mittagessen, bestehend aus gekochten Fischen, geschmolzener Butter und Kartoffeln, sowie einer Hammelrippe für mich, zu uns genommen hatten, kam ein stark behaarter Mann mit sehr gutmütigem Gesicht nach Hause. Er nannte Peggotty »Mächen« und gab ihr einen herzhaften Schmatz auf die Wange, woraus ich bei der sonstigen Züchtigkeit ihres Wesens schloß, daß es ihr Bruder sein müßte. Er war es auch und wurde mir als Mr. Peggotty, der Herr des Hauses, vorgestellt.

»Freut mich, Sie zu sehen, Sir«, sagte Mr. Peggotty » – werden uns rauh finden, aber stets bereit.«

Ich dankte ihm und gab zur Antwort, daß ich mich an so einem angenehmen Ort gewiß wohlbefinden würde.

»Wie geits to Hus, Sir?« fragte Mr. Peggotty, plötzlich in seinen Schifferdialekt verfallend. »Haben Sie Ihre Mama frisch und munter verlassen?«

Ich teilte Mr. Peggotty mit, daß sie so munter und frisch sei, wie ich nur wünschen könnte, und daß sie sich ihm empfehlen ließe, was eine kleine, höfliche Lüge meinerseits war.

»Ick bünn Ehr sehr verbunnen«, antwortete Mr. Peggotty. »Wenn Sej et hier fortein Dag uthollen könt mit der da«, er nickte seiner Schwester zu, »und Ham und lütt Emly, sünn wi stolz op Ehr Gesellschaft.«

Nachdem Mr. Peggotty in so gastfreundlicher Weise die Honneurs seines Hauses gemacht hatte, ging er mit der Bemerkung, kaltes Wasser richte gegen Dreck nichts aus, hinaus, um sich warm zu waschen.

Er kehrte bald zurück und sah viel besser aus, aber so gerötet, daß ich mich des Gedankens nicht erwehren konnte, sein Gesicht habe mit den Hummern und Krebsen das eine gemein, daß es schwarz in das warme Wasser hinein und rot wieder herauskomme.

Als nach dem Tee die Tür fest zugemacht war, – denn die Nächte waren kalt und neblig, – erschien mir das Haus als die prächtigste Unterkunft, die menschliche Einbildungskraft ersinnen kann. Den Wind draußen auf dem Meere brausen zu hören, zu wissen, daß der Nebel sich über die trostlose Ebene ausbreitete, in das Feuer zu sehen und zu denken, daß kein Haus weit und breit außer diesem da sei, und daß dieses eine ein Schiff war, wirkte wie Zauberei.

Emly hatte ihre Scheu überwunden und saß neben mir auf der niedrigsten und kleinsten der Schiffskisten, die, gerade groß genug für uns beide, genau in die Ofenecke paßte.

Mrs. Peggotty in ihrer weißen Schürze strickte auf der andern Seite des Feuers. Peggotty selbst war bei ihrer Arbeit ebenso zu Hause, wie mit der St.-Pauls-Kirche und dem Stückchen Wachslicht, als hätte sie nie eine andere Wohnung gekannt. Ham versuchte mit schmutzigen Karten wahrzusagen und prägte jedem Blatt, das er aufschlug, die fischigen Abdrücke seines Daumens auf. Mr. Peggotty rauchte seine Pfeife.

Ich fühlte die Zeit zu vertraulicher Unterhaltung gekommen:

»Mr. Peggotty!«

»Sir?«

»Haben Sie Ihren Sohn Ham genannt, weil er in einer Art Arche wohnt?«

Mr. Peggotty schien das für einen tiefsinnigen Gedanken zu halten und antwortete:

»Nein, Sir. Ich hew jem nie keenen Namen nich gewen.«

»Wer hat ihm denn diesen Namen gegeben?« forschte ich, Frage Numero 2 aus dem Katechismus Mr. Peggotty vorlegend.

»Nun, Sir, sien Vadder hett em den Namen gewen«, sagte Mr. Peggotty.

»Ich dachte, Sie wären sein Vater?«

»Mien Bruder Joe war sien Vadder.«

»Tot, Mr. Peggotty?« fragte ich nach einer respektvollen Pause.

»Ertrunken«, sagte Mr. Peggotty.

Ich war sehr erstaunt, daß Mr. Peggotty nicht Hams Vater war, und hätte gern Genaues über seine Verwandtschaft zu den andern Anwesenden gekannt. Ich brannte so darauf, daß ich beschloß, es herauszukriegen.

»Die kleine Emly«, sagte ich mit einem Blick auf das Mädchen, »sie ist Ihre Tochter, nicht wahr, Mr. Peggotty?«

»Nein, Sir. Mien Schwager Tom war ihr Vadder.«

Ich konnte mich nicht zurückhalten:

»Tot, Mr. Peggotty?« fragte ich zögernd, wieder nach einer vorsichtigen Pause.

»Ertrunken«, sagte Mr. Peggotty.

Ich fühlte die Schwierigkeit der Sachlage, aber es war noch nicht alles ergründet, und so mußte ich doch weiter forschen.

»Haben Sie keine Kinder, Mr. Peggotty?«

»Nein, Master«, antwortete er mit kurzem Lachen. »Ick bünn een Junggesell.«

»Junggesell?« fragte ich ganz verwundert. »Wer ist denn das, Mr. Peggotty?«, und ich wies auf die Frau mit der weißen Schürze.

»Das is Mrs. Gummidge.«

»Gummidge, Mr. Peggotty?«

Aber hier machte Peggotty – ich meine meine eigene Peggotty – so deutliche Gebärden, ich solle nicht weiter fragen, daß ich nichts mehr tun konnte als die schweigsame Gesellschaft ansehen, bis es Zeit war, zu Bett zu gehen. Dann in der Zurückgezogenheit meiner eigenen kleinen Kabine teilte sie mir mit, daß Ham und Emly beide Waisen seien, die ihr Bruder in frühester Kindheit zu sich genommen hatte, und daß Mrs. Gummidge die Witwe seines ehemaligen Bootteilhabers sei, der sehr arm gestorben war. Peggotty selbst sei nur ein armer Mann, aber echt wie Gold und treu wie Stahl. Das waren meiner Kindsfrau eigne Vergleiche. Das einzige, sagte sie mir, worüber er je heftig werden könnte bis zum Fluchen, wäre, wenn man auf sein gutes Herz anspiele. Wenn man nur davon spräche, schlüge er so furchtbar auf den Tisch, – er hätte ihn bei einer solchen Gelegenheit oft schon zerbrochen, – und schwüre einen entsetzlichen Eid, daß er »gormet« sein wollte, wenn er nicht in die weite Welt ginge, sobald noch jemand davon anfinge. Auf meine Nachfragen stellte sich heraus, daß niemand wußte, was unter diesem schrecklichen Wort »gormet« zu verstehen sei; aber alle stimmten darin überein, daß es ein höchst feierlicher Schwur wäre.

Ich war natürlich sehr gerührt von der Gutherzigkeit meines Wirtes und hörte in einer sehr behaglichen Gemütsstimmung, die durch meine Schläfrigkeit noch vermehrt wurde, wie die weibliche Hälfte der Bewohnerschaft in einer zweiten kleinen Kajüte am andern Ende des Schiffes zu Bett ging, und wie er und Ham für sich zwei Hängematten an den früher erwähnten Haken im Deckbalken befestigte.

Während der Schlaf mich allmählich überwältigte, hörte ich draußen auf dem Meer den Wind so heulen und so gewaltig über die Einöde hinbrausen, daß mich halb im Traum die Furcht überkam, das Meer könnte während der Nacht das Land überfluten. Aber ich beruhigte mich damit, daß ich doch in einem Schiff wohnte, und daß Mr. Peggotty keine üble Person an Bord sei, wenn etwas geschehen sollte.

Aber es passierte nichts Schlimmeres, als daß der Morgen kam. Sobald er seine Strahlen auf den Austernschalenrahmen meines Spiegels warf, war ich aus dem Bette und mit der kleinen Emly draußen am Strand und suchte Muscheln.

»Du bist gewiß schon ein vollendeter Seemann«, sagte ich zu Emly. Ich glaubte selbst nicht, was ich sagte, aber ich hielt es für galant, etwas Derartiges zu äußern, und ein schimmerndes Segel dicht neben uns spiegelte sich so hübsch in ihrem hellen Auge, daß mir diese Worte gerade einfielen.

»Nein«, antwortete Emly und schüttelte den Kopf, »ich habe Angst vor dem Meere.«

»Angst?« sagte ich und machte selbst ein kühnes Gesicht und sah mutig auf den mächtigen Ozean hinaus. »Ich nicht!«

»O, es ist sehr grausam«, sagte Emly, »ich habe es sehr grausam gesehen gegen unsere Leute. Ich habe gesehen, wie es ein Schiff, so groß wie unser Haus, in lauter Stücke zerbrach.«

»Das war doch hoffentlich nicht das Schiff, das – «

» – in dem der Vater ertrank?« fragte Emly. »Nein, das nicht. Das hab ich nicht gesehen.«

»Auch ihn nicht?« fragte ich.

Die kleine Emly schüttelte den Kopf. »Kann mich nicht erinnern.«

Hier lag ein Fall vor wie der meine. Ich erging mich sogleich in Erzählungen, daß auch ich meinen Vater niemals gesehen hätte, und wie meine Mutter und ich stets allein in der größten Zufriedenheit gelebt, die man sich denken könnte, und noch so lebten und immer so leben wollten, und daß meines Vaters Grab auf dem Kirchhof nicht weit von unserm Hause läge, beschattet von einem Baum, unter dessen Zweigen ich an manchem schönen Morgen dem Gesang der Vögel gelauscht hätte.

Aber zwischen Emlys Waisenschaft und meiner bestand doch noch ein kleiner Unterschied. Sie hatte ihre Mutter vor dem Vater verloren, und ihres Vaters Grab kannte niemand. Sie wußte nur, daß er irgendwo in den Tiefen des Meeres ruhte.

»Und dann«, sagte Emly, während sie nach Muscheln und Kieseln ausschaute, »war dein Vater ein Gentleman und deine Mutter eine Lady; mein Vater war nur ein Fischer und meine Mutter eine Fischerstochter und mein Onkel Dan ist ein Fischer.«

»Dan ist Mr. Peggotty, nicht wahr?« fragte ich.

»Onkel Dan – dort – « antwortete Emly und nickte nach dem Schiffe hin.

»Ja, den meine ich. Er muß sehr gut sein, nicht?«

»Gut? – Wenn ich einmal eine Lady werden sollte, schenke ich ihm einen himmelblauen Rock mit diamantnen Knöpfen, Nankinghosen, eine rote Samtweste, einen Federhut, eine große goldne Uhr, eine silberne Pfeife und einen Koffer voll Geld.«

Ich sagte, ich sei überzeugt, daß Mr. Peggotty alle diese Schätze wohl verdiene. Ich muß gestehen, daß es mir schwerfiel, mir ihn in ruhigem Behagen in dem Anzuge vorzustellen, den seine dankbare kleine Nichte ihm zudachte, besonders hatte ich so meine Bedenken wegen des Federhutes, aber ich behielt diese Gedanken für mich.

Die kleine Emly hatte in ihrer Beschäftigung innegehalten und zum Himmel aufgeblickt bei der Aufzählung aller dieser Gegenstände, als wären sie eine Vision. Dann fingen wir wieder an Muscheln und Kieseln zu suchen.

»Du möchtest wohl gern eine Lady sein?« fragte ich.

Emly sah mich an, lachte und nickte, »ja.«

»Das möcht ich wohl gern. Wir würden dann alle vornehme Leute sein. Ich und der Onkel und Ham und Mrs. Gummidge; es wäre uns gleich, wenn es stürmte, – unsertwegen meine ich, wegen der armen Fischer wärs uns nicht gleich, und wir würden ihnen Geld geben, wenn sie zu Schaden kämen.«

Das erschien mir als ein befriedigendes und daher durchaus nicht unwahrscheinliches Bild. Ich drückte meine Freude darüber aus und das ermutigte Emly zu der schüchternen Frage: »Glaubst du jetzt, daß du Angst vor dem Meere hast?«

Die See war in diesem Augenblick zu ruhig, um mir Besorgnis einzuflößen, aber ich bin überzeugt, wenn nur eine mäßig große Welle dahergebraust gekommen wäre, ich hätte mich bei dem schrecklichen Gedanken an Emlys ertrunkene Verwandten sofort davon gemacht. Für alle Fälle sagte ich nein, und fügte hinzu: »Du scheinst dich auch nicht so sehr davor zu fürchten, wie du sagst.« Sie ging so nahe am Rande eines alten hölzernen Hafendamms, daß ich Angst hatte, sie könnte hinunterfallen.

»So fürchte ich mich nicht«, sagte sie. »Aber ich bleibe wach, wenn es stürmt, und denke mit Zittern und Angst an Onkel Dan und Ham, und immer kommt es mir vor, als ob sie um Hilfe riefen. Deshalb möcht ich gern eine Lady sein. Aber so fürcht ich mich nicht. Nicht ein bißchen. Schau mal her.«

Sie rannte von mir weg und lief einen gekerbten Balken entlang, der ohne Geländer ziemlich hoch über das Meer hinausragte.

So deutlich steht der Vorfall noch vor meinem Gedächtnis, daß ich es malen könnte, wäre ich ein Zeichner, wie die kleine Emly ihrem Untergang – so erschien es mir, – mit einem weit auf das Meer hinausgerichteten Blick, den ich nie vergessen habe, entgegeneilte. Ihre leichte, kühne, flatternde kleine Gestalt kehrte um und gelangte wieder glücklich bis zu mir, und bald lachte ich über meine Angst und den Schrei, den ich – in jedem Falle ganz nutzlos, denn es war niemand in der Nähe, – ausgestoßen hatte.

Oft noch später habe ich darüber nachgesonnen, konnte es nicht vielleicht eine von den uns verborgenen Möglichkeiten gewesen sein, daß der plötzlichen Tollheit des Kindes eine Verlockung zur Gefahr, ein unhörbarer Ruf ihres toten Vaters zugrunde lag, der an jenem Tage barmherzig ihr Leben enden wollte?

Es kam einmal eine Zeit, wo ich mich fragte, ob ich damals einen Finger zu ihrer Rettung hätte rühren sollen, wenn sich mir ihr späteres Leben in einem Blick geoffenbart hätte? Es kam einmal eine Zeit, wo ich mir einen Augenblick die Frage vorgelegt habe, würde es nicht besser für die kleine Emly gewesen sein, wenn das Meer sie an diesem Morgen vor meinen Augen verschlungen hätte? –

Wir schlenderten noch eine Weile spazieren und lasen Dinge auf, die uns merkwürdig vorkamen, und setzten ganz sorgsam ein paar gestrandete Seesterne wieder ins Wasser – ich kenne die Lebensgewohnheiten dieser Tiere zu wenig, um zu wissen, ob wir ihnen damit einen Gefallen taten, – und kehrten dann nach Mr. Peggottys Wohnung zurück.

Unter dem Schatten des Schuppens, wo die Krebse lagen, blieben wir stehen, gaben uns einen unschuldigen Kuß und gingen vor Gesundheit und Freude strahlend hinein zum Frühstück.

»Wie zwei Amseln«, sagte Mr. Peggotty, und ich nahm das als Kompliment auf.

Natürlich war ich in die kleine Emly verliebt. Ich bin überzeugt, ich liebte das Kind so wahrhaftig, so zärtlich, und reiner und selbstloser, als man selbst im besten Falle in späteren Zeiten lieben kann. Ich weiß, daß meine Phantasie dieses blauäugige Kind mit einem Glorienschein umwob, der einen wahren Engel aus ihm machte. Wenn Emly an einem sonnigen Morgen mit einem Paar kleinen Schwingen vor meinen Augen weggeflogen wäre, so glaube ich kaum, daß ich darin etwas Außergewöhnliches gesehen hätte.

Stundenlang gingen wir auf der öden Fläche um Yarmouth in liebender Eintracht spazieren. Die Tage eilten an uns vorüber, als ob die Zeit selbst noch ein Kind wäre und immer mit uns spielte.

Ich sagte Emly, daß ich sie anbetete, und wenn sie nicht gestünde, daß sie mich ebenfalls anbetete, so müßte ich mich mit einem Schwert selber töten. Und sie sagte, sie liebte mich, und ich zweifle nicht, daß es so war.

An Ungleichheit und zu große Jugend oder andere Schwierigkeiten dachten wir nicht, denn über die Zukunft zerbrachen wir uns nicht den Kopf.

Wir waren ein Gegenstand der Bewunderung für Mrs. Gummidge und Peggotty, die sich abends, wenn wir so zärtlich auf der Schiffskiste saßen, zuflüsterten: »O Gott, ist das ein hübsches Paar.« Hinter seiner Pfeife hervor lächelte uns Mr. Peggotty an. Ham grinste den ganzen Abend und tat sonst nichts.

Ich bemerkte bald, daß sich Mrs. Gummidge nicht immer so angenehm machte, als man nach den Verhältnissen, unter denen sie bei Mr. Peggotty wohnte, hätte erwarten dürfen.

Sie war etwas empfindlicher Natur und jammerte oft mehr, als für die andern Mitglieder eines so kleinen Haushaltes angenehm war. Sie tat mir wohl sehr leid, aber es gab Augenblicke, wo ich dachte, daß es wohl besser wäre, wenn sie sich in ihr eigenes Zimmer zurückziehen wollte, um sich ihrem Schmerz zu überlassen.

Mr. Peggotty ging manchmal in ein Wirtshaus, das den Namen »Der gute Vorsatz« führte. Ich merkte es an seiner Abwesenheit bereits am zweiten oder dritten Tag meines Besuchs und daran, daß Mrs. Gummidge zwischen acht und neun Uhr immer nach der Schwarzwälderuhr hinaufsah und sagte, er sei dort, und sie habe es bereits am Morgen vorausgesehen.

Sie war schon den ganzen Tag sehr trüb gestimmt gewesen und in Tränen ausgebrochen, als der Ofen rauchte. »Ich bin ein armes, verlassenes Wesen«, hatte sie dabei gesagt, »und alles geht mir die Quere.«

»Ach, es wird ja bald vorbei sein!« hatte Peggotty – meine nämlich – gesagt, »und außerdem ist es dir auch nicht unangenehmer als uns.«

»Ich fühl es mehr«, hatte Mrs. Gummidge geantwortet.

Es war ein kalter Tag und der Wind wehte scharf und heftig. Mrs. Gummidges Ecke am Ofen schien mir die wärmste und gemütlichste in der Stube zu sein und ihr Stuhl war sicherlich der bequemste, aber sie befand sich heute nicht wohl darin. Sie jammerte beständig über die Kälte, daß es ihr immer in den Rücken bliese, und endlich vergoß sie Tränen und sagte wieder, sie sei ein armes, verlassenes Wesen, und alles ginge ihr der Quere.

»Es ist recht kalt«, bestätigte Peggotty, »das fühlt gewiß jeder.«

»Ich fühl es mehr als andere Leute«, klagte Mrs. Gummidge.

Ebenso war es bei Tisch, wo Mrs. Gummidge immer unmittelbar nach mir dran kam, weil ich als vornehmer Gast den Vorzug hatte. Die Fische waren klein und mager und die Kartoffeln ein wenig angebrannt. Wir gaben alle zu, daß das nicht besonders angenehm sei, aber Mrs. Gummidge sagte, sie fühle es mehr als wir, und weinte wieder und gab ihre frühere Erklärung mit großer Bitterkeit zum besten.

Als Mr. Peggotty gegen neun Uhr nach Hause kam, strickte die unglückliche Mrs. Gummidge in jämmerlicher Stimmung in ihrer Ecke. Peggotty hatte fröhlich ihre Arbeit getan, Ham ein paar weiße Wasserstiefel ausgebessert, und ich hatte ihnen, neben Emly sitzend, vorgelesen. Mrs. Gummidge hatte nur zuweilen geseufzt und seit dem Tee die Augen nicht aufgeschlagen.

»Nun, Stüerlüt«, sagte Mr. Peggotty und setzte sich. »Wie geit dat?«

Wir alle antworteten freundlich mit Wort und Blick, nur Mrs. Gummidge schüttelte den Kopf über ihrem Strickstrumpf.

»Wo fehlts?« fragte Mr. Peggotty, »Kopf hoch, Mutting!« Mrs. Gummidge aber schien nicht imstande zu sein, sich aufzumuntern. Sie zog ein altes, schwarzseidenes Taschentuch hervor und wischte sich die Augen, anstatt es jedoch wieder in die Tasche zu stecken, behielt sie es in der Hand und wischte sich nochmals die Augen und legte es neben sich, um es immer bereit zu haben.

»Wo fehlts, Alte?« fragte Peggotty.

»Nichts«, entgegnete Mrs. Gummidge. »Du kommst aus dem ›guten Vorsatz‹ – Danl?«

»Nun, ja, ich machte einen Abstecher heute abends in den ›guten Vorsatz‹ «, sagte Mr. Peggotty.

»Es tut mir leid, daß ich dich immer dorthin treibe«, sagte Mrs. Gummidge.

»Treiben! Bei mir brauchts kein Treiben«, erwiderte Peggotty lachend. »Ich geh nur zu gern hin.«

»Sehr gern«, sagte Mrs. Gummidge, schüttelte den Kopf und wischte sich die Augen. »Ja, ja, sehr gern. Es tut mir leid, daß ich dran schuld bin.«

Mr. Peggotty sagte weiter nichts, sondern bat bloß Mrs. Gummidge noch einmal, den Kopf hochzuhalten.

»Ich bin nicht, wie ich sein möchte«, sagte Mrs. Gummidge. »Ich fühle mein Unglück und das macht mich unangenehm. Ich wollte, es wäre anders, aber ich fühle nun einmal so. Ich wollte, ich könnt es vergessen, aber es geht nicht. Ich mache das ganze Haus ungemütlich. Ich habe schon den ganzen Tag lang deiner Schwester das Leben sauer gemacht und Master Davy dazu.«

Ich wurde sofort gerührt und rief in großem Seelenschmerz ein lautes »Nein, sicher nicht, Mrs. Gummidge.«

»Es ist gar nicht recht von mir«, fuhr sie fort, »ich sollte lieber ins Armenhaus gehen und sterben. Wenn mir alles die Quere geht und ich allen der Quere bin, so will ich auch der Quere in meine Heimat gehen. Danl, besser ich ginge ins Armenhaus und stürbe; dann seid ihr mich los.«

Mit diesen Worten begab sich Mrs. Gummidge zu Bett. Als sie fort war, sah uns Mr. Peggotty, der bei jedem Wort nur die tiefste Teilnahme gezeigt hatte, der Reihe nach an, nickte mit dem Kopf und flüsterte: »Sej hett an ehrn Olen dacht.«

Ich verstand nicht recht, an was für einen Alten Mrs. Gummidge gedacht haben sollte, bis mir Peggotty, als sie mich zu Bett brachte, erklärte, daß es der selige Mr. Gummidge wäre, und daß ihr Bruder es stets bei solchen Gelegenheiten als ausgemachte Wahrheit annähme und es stets einen rührenden Eindruck auf ihn machte.

Noch in der Hängematte hörte ich ihn zu Ham sagen: Sej hett an ehrn Olen dacht! Und wann immer sich Mrs. Gummidge in ähnlicher Stimmung befand, hatte er für sie immer dieselbe Entschuldigung und immer dasselbe aufrichtige Mitleid.

So gingen die vierzehn Tage rasch dahin ohne andere Veränderung, als den Wechsel von Ebbe und Flut, der auch die Stunden, wo Mr. Peggotty und Ham gingen und kamen, verschob.

Hatte Ham nichts zu tun, begleitete er uns manchmal an den Hafen und zeigte uns die Boote und Schiffe, und ein- oder zweimal ruderte er uns spazieren. Ich weiß nicht, wie es kommt, warum so oft gerade ein unbedeutsames Bild immer an einem Namen am längsten haften bleibt. Nie höre oder lese ich den Namen Yarmouth, ohne an einen gewissen Sonntagmorgen am Strande erinnert zu werden, wo die Glocken in der Kirche läuteten, die kleine Emly sich auf meinen Arm stützte, Ham nachlässig Steine ins Wasser warf, und die Sonne draußen über dem Meer mühselig durch den dicken Nebel drang, und die Schiffe sich uns so undeutlich zeigten, als wären sie ihre eignen Schatten.

Endlich kam der Tag der Heimreise. Die Trennung von Mr. Peggotty und Mrs. Gummidge konnte ich noch verwinden. Aber der Abschied von der kleinen Emly zerriß mir das Herz. Wir gingen Arm in Arm nach dem Wirtshaus, wo der Fuhrmann anspannte, und unterwegs versprach ich ihr zu schreiben. Dieses Versprechen löste ich später mit einem Aufwand von Buchstaben ein, die größer waren als die, mit denen man Mietanzeigen zu schreiben pflegt. Wir fühlten uns ganz vernichtet durch den Abschied, und wenn ich je in meinem Leben in meinem Herzen eine unbeschreibliche Leere empfunden habe, so war es an jenem Tag.

Die ganze Zeit meines Besuchs über war ich undankbar gegen mein mütterliches Haus gewesen und hatte wenig oder nicht daran gedacht. Aber kaum wendete ich meine Schritte ihm wieder zu, so wies auch schon vorwurfsvoll mein jugendliches Gewissen mit standhaftem Finger dorthin, und ich fühlte trotz der Bangigkeit des Abschieds, daß es meine Heimat und Mutter, meine Trösterin und Freundin war. Je näher wir dem Ziele kamen und je vertrauter mir die Umgebung wurde, desto stärker wuchs meine Sehnsucht, in ihre Arme zu eilen. Peggotty, anstatt diesen Drang zu teilen, suchte ihn, wenn auch sanft, in mir eher zu hemmen, und sah verlegen und verstimmt drein.

Trotz der Langsamkeit und Launenhaftigkeit des Pferdes langten wir doch endlich in Krähenhorst-Blunderstone an. Ich sehe noch den kalten, grauen Nachmittag mit dem dunkeln, regnerischen Himmel vor mir.

Die Tür ging auf und ich erwartete, halb lachend, halb weinend vor Erregtheit meine Mutter zu sehen. Aber nicht sie, sondern eine mir fremde Dienerin trat heraus.

»Ach, Peggotty!« sagte ich traurig. »Ist sie noch nicht wieder zu Hause?«

»Ja, ja, Master Davy«, sagte Peggotty, »wart ein bißchen, Master Davy, und ich werde dir etwas sagen.«

Teils aus Aufregung, teils aus natürlichem Ungeschick machte Peggotty beim Heraussteigen aus dem Wagen die seltsamsten Manöver, aber ich fühlte mich zu entmutigt und betroffen, um ihr etwas darüber zu sagen. Als sie glücklich draußen war, nahm sie mich bei der Hand, führte mich zu meiner Verwunderung in die Küche und schloß die Tür.

»Peggotty«, sagte ich, heftig erschrocken, »was ist denn?«

»Du meine Güte, nichts ist, mein lieber Davy«, antwortete sie und setzte eine möglichst heitere Miene auf.

»Es ist etwas geschehen, ich weiß es, wo ist Mama?«

»Wo Mama ist, Davy?« wiederholte Peggotty.

»Ja. Warum ist sie uns nicht entgegengekommen? Und weshalb sind wir hier hereingegangen? Ach Peggotty!«

Meine Augen standen voll Tränen und mir war zum Umsinken.

»Mein Gott, der gute Junge!« rief Peggotty und hielt mich aufrecht. »Was ist dir? Sprich, mein Herzblatt!«

»Sie ist doch nicht tot? Nicht tot? Peggotty?«

»Nein«, schrie Peggotty mit erstaunlicher Kraft in der Stimme. Dann setzte sie sich nieder, fing an zu keuchen und sagte, ich hätte sie fürchterlich erschreckt.

Um das wiedergutzumachen, fiel ich ihr um den Hals, stellte mich dann vor sie hin und sah sie mit banger Erwartung an.

»Ja, schau, Liebling, ich hätte dirs schon früher sagen sollen, aber ich fand keine Gelegenheit dazu. Ich hätte es längst tun sollen, aber ich konnte mich partuh« – das war immer der Stellvertreter in Peggottys Wörterheer für »durchaus« – »nicht dazu entschließen.«

»Weiter Peggotty«, sagte ich noch mehr erschreckt als vorher.

»Master Davy«, sagte Peggotty und knüpfte ihr Hutband mit zitternden Händen auf – sie war ganz außer Atem: –

»Was meinst du? Du hast einen Papa bekommen.«

Ich fuhr zusammen und wurde blaß. Ein Etwas – ich weiß nicht was –, das mit dem Grab auf dem Kirchhof und der Auferstehung der Toten zusammenhing, schien mich wie ein giftiger Hauch zu streifen.

»Einen neuen«, sagte Peggotty.

»Einen neuen?« wiederholte ich.

Peggotty schluckte, als ob ihr etwas Hartes im Halse stecken geblieben wäre, reichte mir die Hand und sagte:

»Komm, du mußt ihn sehen –«

»Ich will ihn nicht sehen.«

»– und deine Mama.«

Ich widerstand nicht länger, und wir gingen sogleich in das Empfangszimmer, wo sie mich verließ.

An der einen Seite des Kamins saß meine Mutter, an der andern Mr. Murdstone. Meine Mutter ließ ihre Arbeit sinken und stand rasch auf, aber, wie es mir schien, furchtsam.

»Liebe Klara«, sagte Mr. Murdstone, »denke daran! Beherrsche dich, immer beherrsche dich! Davy, mein Junge, wie geht es dir?«

Ich gab ihm die Hand. Nach einem Augenblick der Unentschlossenheit ging ich zu meiner Mutter und küßte sie; sie küßte mich wieder, klopfte mir sanft auf die Schulter und nahm wieder ihre Arbeit zur Hand. Ich konnte ihn nicht ansehen, ich konnte sie nicht ansehen, ich wußte bestimmt, daß er uns beide ansah, und ich ging ans Fenster und blickte hinaus auf ein paar Stauden, die ihre Köpfe in der Kälte hängen ließen.

Sobald ich mich wegdrücken konnte, schlich ich die Treppe hinauf. Mein liebes, altes Schlafzimmer war ganz anders geworden, und ich mußte weit hinten schlafen. Ich ging wieder hinunter, um irgend etwas zu finden, das sich nicht verändert hätte, so fremd schien mir alles, und trat auf den Hof hinaus. Schnell schreckte ich zurück, denn die leere Hundehütte war jetzt von einem großen Hund bewohnt, der eine tiefe Stimme und schwarze Haare hatte – wie er – und grimmig an seiner Kette riß, um über mich herzufallen.

30. Kapitel Ein Verlust


30. Kapitel Ein Verlust

Ich kam abends nach Yarmouth und ging in den Gasthof. Ich wußte, daß Peggottys Besuchzimmer – meine kleine Stube – wahrscheinlich binnen kurzem sehr in Anspruch genommen sein würde, wenn nicht jener furchtbare Besucher, dem alle Lebenden Platz machen müssen, schon im Hause war. So begab ich mich in den Gasthof, speiste dort und bestellte ein Bett.

Es war zehn Uhr, als ich ausging. Die meisten Läden waren geschlossen und die Stadt ruhte. Als ich bei Omer & Joram vorbeikam, fand ich die Läden zu, aber die Türe stand offen. Da ich im Hintergrund Mr. Omer mit einer Pfeife im Mund erblickte, trat ich ein und fragte nach seinem Befinden.

»Gott segne meine Augen!« sagte Mr. Omer. »Was machen Sie hier? Nehmen Sie Platz! Stört sie der Rauch nicht?«

»Nicht im mindesten. Ich habe es ganz gern, wenn andere rauchen.«

»Sie selbst rauchen nicht, was? Um so besser, Sir. Es ist eine schlechte Angewohnheit für einen jungen Mann. Nehmen Sie Platz. Ich rauche auch nur des Asthmas wegen.« Er stellte mir einen Stuhl hin, war wieder ganz außer Atem und sog an seiner Pfeife, als ob sie die nötige Luft enthielte, ohne die er ersticken müßte.

»Ich habe zu meinem Leidwesen schlechte Nachrichten über Mr. Barkis bekommen«, sagte ich.

Mr. Omer sah mich mit ernstem Gesicht an und nickte mit dem Kopf.

»Wissen Sie, wie er sich heute abend befindet?«

»Das hätte ich Sie selbst gerne gefragt, wenn es nicht so unzart wäre. Das ist so eine von den dunkeln Seiten unseres Geschäfts. Wenn jemand krank ist, können wir nicht gut fragen, wies ihm geht.«

An diesen Punkt hatte ich nicht gedacht, obgleich ich schon beim Hereintreten ahnte, daß ich etwas von dem alten Lied würde zu hören bekommen. Ich gab eine entsprechende Antwort.

»Ja, ja, Sie verstehen mich schon«, sagte Mr. Omer und nickte. »Wir dürfen es nicht tun. Was glauben Sie wohl, die Mehrzahl der Kundschaften würde eine solche Erschütterung nicht aushalten, wenn ich zum Beispiel sagte: »Omer & Joram lassen sich empfehlen und fragen, wie Sie sich heute morgen befinden.« Wir nickten einander zu, und Mr. Omer sog frischen Atem aus seiner Pfeife.

»Ja, das ist so eine von den Sachen, die uns Höflichkeit unmöglich machen, wenn wir sie einmal gern bezeigen möchten. Nehmen Sie mich an. Ich habe den Barkis so vierzig Jahre gekannt. Aber ich kann nicht hingehen und fragen, wie geht es ihm.«

Ich begriff, daß das wirklich hart war für Mr. Omer und sagte es ihm.

»Ich glaube, ich bin nicht eigennütziger als andere Menschen. Schauen Sie mich an, mir kann der Atem jeden Augenblick ausgehen, und es ist nicht wahrscheinlich, daß man angesichts solchen Zustandes noch eigennützig ist. Ich sage, es ist nicht wahrscheinlich bei einem Mann, der sich bewußt ist, daß ihm der Atem ausgehen kann wie einem Blasebalg, der aufgeschnitten wird, – noch dazu, wenn man Großvater ist.«

»Sicherlich nicht!«

»Nicht, daß ich mich über mein Geschäft beklagte«, fuhr Mr. Omer fort. »Jedes Geschäft hat seine angenehmen und unangenehmen Seiten. Ich wollte nur, daß die Kundschaften etwas weniger empfindlich wären.« Mit sehr behäbiger und freundlicher Miene paffte er eine Weile stumm aus seiner Pfeife und sagte dann, wieder auf seine Äußerung zurückkommend: »Wir sind daher auf Emly angewiesen, wenn wir etwas von Mr. Barkis erfahren wollen. Sie weiß, wie wir es meinen, beunruhigt sich nicht weiter und mißtraut uns ebensowenig, als ob wir lauter Lämmer wären. Minnie und Joram sind eben hingegangen, um sich nach Barkis‘ Befinden zu erkundigen, und wenn Sie warten wollen, so können Sie alles ausführlich hören. Wollen Sie vielleicht etwas nehmen? Ein Glas Shrub und Wasser? Ich trinke Shrub und Wasser«, sagte Mr. Omer und griff nach dem Glas, »es wirkt glättend auf die Atemwege. Die Sache ist nur die«, ergänzte er mit heiserer Stimme, »daß die Wege schon in Ordnung sind, nur Atem hab ich zu wenig.«

Er hatte wirklich keinen Atem übrig, und ihn lachen zu sehen, war in der Tat angsterregend. Ich dankte für die angebotene Erfrischung und sagte, ich wollte, wenn er erlaube, warten, bis seine Tochter und sein Schwiegersohn zurückkehrten, und fragte, wie es der kleinen Emly ginge.

»Sehen Sie«, sagte Mr. Omer, nahm die Pfeife aus dem Mund und kratzte sich mit ihr am Kinn. »Ich will es Ihnen aufrichtig sagen, es soll mich freuen, wenn die Hochzeit vorbei ist.«

»Wieso?«

»Es ist jetzt so eine Sache mit ihr. Nicht, daß sie nicht mehr so hübsch wäre als früher; ich versichere Ihnen, sie ist sogar noch hübscher. Sie arbeitet auch grade soviel wie früher. Immer noch für sechs andere, aber es fehlt ihr so das rechte Herz« – Mr. Omer kratzte sich wieder das Kinn und rauchte ein wenig – »das ist es, was ich so im allgemeinen an Emly vermisse.«

Mr. Omers Mienenspiel und Gebärden waren so ausdrucksvoll, daß ich glaubte, seine Meinung erraten zu haben, und daher mit dem Kopfe nickte. Er schien sich zu freuen, daß ich ihn so rasch verstand, und fuhr fort:

»Meiner Ansicht nach kommt das daher, daß sie noch keinen rechten Halt hat. Wir haben oft darüber gesprochen, ihr Onkel und ich und ihr Bräutigam, nach der Arbeitszeit. Sie wissen ja«, sagte Mr. Omer und schüttelte ein wenig den Kopf, »daß sie ein außerordentlich zärtliches, kleines Wesen ist. Das Sprichwort sagt, aus einem Schweinsohr kann man keine seidne Börse machen. Nun, ich verstehe nichts davon. Ich glaube, es ginge doch, wenn man nur beizeiten anfinge. Das alte Boot war für sie ein Vaterhaus, Sir, das Marmor und Sandstein nicht hätten ersetzen können.«

»Sehr wahr«, sagte ich.

»Zu sehen, wie das kleine hübsche Ding sich täglich enger und enger an ihren Onkel anschließt, das ist ein Anblick, der was wert ist. Aber Sie wissen, wenn das der Fall ist, dann geht immer ein Kampf vor sich. Warum sollte er mehr verlängert werden, als nötig ist?«

Ich hörte aufmerksam dem guten Alten zu und stimmte seiner Ansicht von Herzen bei.

»Ich machte ihnen daher folgenden Vorschlag. Ich sagte: Emly ist doch nicht streng an die Lehrzeit gebunden. Ihr Dienst war für mich einträglicher, als ich anfangs gedacht, und sie hat schneller gelernt, als man voraussehen konnte. Die Firma Omer & Joram macht einen Strich durch den Rest der Lehrzeit, und sie ist frei, sobald ihr es wünscht. Wenn sie uns später damit entschädigen will, daß sie hie und da eine Kleinigkeit für uns zu Hause arbeitet, ist es uns recht. Paßt es ihr nicht, auch gut. Wir kommen so oder so nicht zu Schaden. Denn sehen Sie«, sagte Mr. Omer und berührte mich mit seiner Pfeife, »warum sollte ein Mann von so kurzem Atem wie ich und noch dazu ein Großvater es mit so einem blauäugigen Blümchen wie sie so genau nehmen.«

»Gewiß ja!«

»Gut. Also ihr Vetter – Sie wissen doch, sie soll ihren Vetter heiraten?«

»Jawohl«, erwiderte ich, »ich kenne ihn sehr gut.«

»Aber richtig, ja. Also ihr Vetter, der Arbeit in Fülle und ein reichliches Auskommen hat, dankte mir offen und herzlich und benahm sich dabei, muß ich schon sagen, auf eine Art, die mir eine hohe Meinung von ihm einflößt; und dann ging er fort und mietete ein so hübsches, kleines Häuschen, wie Sie oder ich uns nur wünschen könnten. Das Häuschen ist jetzt möbliert, so vollständig und hübsch wie eine Puppenstube, und wenn nicht die Verschlimmerung in Barkis‘ Krankheit dazwischen gekommen wäre, hätten sie jetzt schon Mann und Frau sein können. So aber ist es aufgeschoben worden.«

»Und Emly, Mr. Omer«, fragte ich, »ist sie ruhiger geworden?«

»Nun, sehen Sie«, er rieb sich wieder nachdenklich das Kinn, »das ließ sich nicht erwarten. Die Aussicht auf die Veränderung, die Trennung und alles das Übrige mußte auf sie einwirken. Barkis‘ Tod hätte die Angelegenheit nicht weit hinausgeschoben, wohl aber sein langes Siechtum. Jedenfalls ist es ein Zustand von Ungewißheit, verstehen Sie?«

»Jawohl.«

»Deshalb ist Emly immer noch ein bißchen niedergeschlagen und aufgeregt; eigentlich sogar noch mehr als früher. Von Tag zu Tag scheint sie mehr an ihrem Onkel zu hängen und sich schwerer von uns allen trennen zu können. Ein freundliches Wort von mir treibt ihr die Tränen in die Augen, und wenn Sie sähen, wie sie mit dem kleinen Mädchen meiner Minnie umgeht, würden Sie das nie vergessen. Du lieber Himmel! Wie sie das Kind liebt!«

Ich benützte die Gelegenheit und fragte Mr. Omer, ehe wir noch unterbrochen wurden, ob er etwas von Marta wisse.

»Ach«, erwiderte er und schüttelte mit bekümmertem Blick den Kopf, »nichts Gutes. Eine traurige Geschichte, Sir, von welcher Seite man sie auch immer ansieht. Ich hätte nie gedacht, daß in dem Mädchen etwas Schlimmes stäke. Ich möchte nichts darüber vor meiner Tochter erwähnen, – denn sie möchte mir gleich über den Mund fahren –, aber ich habe es nie geahnt. Keiner von uns hat es geahnt.«

Mr. Omer, der seine Tochter kommen hörte, bevor ich noch etwas merkte, berührte mich mit seiner Pfeife und kniff warnend ein Auge zu. Minnie und ihr Mann traten unmittelbar darauf herein.

Ihr Bericht lautete, daß es mit Mr. Barkis so schlimm stünde wie nur möglich. Er läge ohne Bewußtsein da, und Mr. Chillip habe beim Fortgehen in der Küche geäußert, daß keine Hilfe mehr sei.

Da ich zugleich erfuhr, daß Mr. Peggotty sich dort befinde, beschloß ich augenblicklich hinzugehen. Ich wünschte Mr. Omer und dem jungen Paar gute Nacht und lenkte meine Schritte zu Peggottys Haus, erfüllt von einer feierlichen Empfindung, die Mr. Barkis in meinen Augen zu einem neuen und ganz andern Wesen machte.

Mr. Peggotty war nicht so sehr überrascht, mich zu sehen, wie ich erwartet; und ich habe seitdem bei solchen Gelegenheiten immer wieder bemerkt, daß bei der Erwartung eines Todesfalls alle andern Veränderungen und Überraschungen zu einem Nichts zusammenschrumpfen.

Ich schüttelte ihm die Hand, wir traten in die Küche, und er schloß leise die Tür. Die kleine Emly saß vor dem Feuer, die Hände vor dem Gesicht. Ham stand neben ihr. Wir sprachen im Flüsterton und horchten auf jedes Geräusch im obern Zimmer.

»Das ist wieder einmal sehr freundlich von Ihnen, Masr Davy«, sagte Mr. Peggotty.

»Ungemein«, bestätigte Ham.

»Emly, mein Schatz! Schau her, Masr Davy ist doch gekommen. Kopf hoch, mein Kind! Hast du kein Wort für Masr Davy?«

Ich sehe noch, wie ein Schauder ihren Körper durchlief. Ich fühle noch die Kälte ihrer Hand. Sie ließ kein Zeichen von Freude sehen, sondern bebte vor mir zurück und glitt von dem Stuhl und schmiegte sich schweigend und zitternd an die Brust ihres Onkels.

»Sie hat so ein zärtliches Herz«, sagte Mr. Peggotty und strich ihr reiches Haar mit seiner großen harten Hand glatt, »daß sie solchen Kummer nicht tragen kann. Es ist bei jungen Menschen natürlich, Masr Davy. Ihnen sind solche Prüfungen noch neu, und sie sind furchtsam wie mein kleines Vögelchen hier.«

Sie drängte sich noch dichter an ihn, schlug aber weder die Augen auf noch sprach sie ein Wort.

»Es wird spät, liebes Kind«, sagte Mr. Peggotty, »und Ham ist schon da, um dich nach Haus zu bringen. Geh doch hin an sein zärtliches Herz! Nun, Emly? Nun, Kleine?«

Ich hörte sie nicht sprechen, aber er beugte sein Haupt herab, als ob er ihr zuhörte, und sagte dann:

»Du willst bei deinem Onkel bleiben? Was? Das kann doch dein Ernst nicht sein. Wenn dein Bräutigam dich nach Haus bringen will? Was werden die Leute sagen, wenn sie so ein lüttes Ding neben so einer alten Teerjacke wie ich bin sehen?« sagte Mr. Peggotty und blickte uns mit unendlichem Stolz an. »Das Meer hat nicht so viel Salz in sich, als sie in ihrem Herzen Liebe zu ihrem Onkel! Närrische, kleine Emly!«

»Emly hat ganz recht, Masr Davy«, sagte Ham. »Da sie es wünscht und so unruhig und aufgeregt ist, will ich sie bis morgen hierlassen. Ich will auch hierbleiben.«

»Nein, nein«, sagte Mr. Peggotty. »Das geht nicht. Ein verheirateter Mann, wie du bist – oder wie du beinah bist –, darf nicht ein ganzes Tagewerk versäumen, und du kannst nicht gleichzeitig wachen und arbeiten. Das geht nicht. Du gehst nach Hause und legst dich ins Bett. Du weißt, daß Emly in guter Hut ist!«

Ham gab nach und nahm seine Kappe. Selbst als er Emly küßte, und niemals sah ich ihn sich ihr nähern, ohne zu fühlen, daß ihm die Natur das Feingefühl eines vornehmen Menschen gegeben hatte, – schien sie sich dichter an ihren Onkel zu drängen, als wiche sie vor ihrem Bräutigam zurück. Ich machte die Tür hinter ihm leise zu, damit nichts die im Hause herrschende Stille stören möge, und als ich wieder in die Küche trat, sprach Mr. Peggotty immer noch mit ihr.

»Jetzt will ich hinaufgehen und deiner Tante sagen, daß Masr Davy hier ist, und das wird sie ein wenig trösten«, sagte er. »Setz dich dort ans Feuer, liebes Kind, und wärm dir die eiskalten Hände. Du darfst es nicht so schwer nehmen! Was, du willst mich begleiten? Also gut. Komm mit. Wenn ihr Onkel jetzt von Haus und Hof vertrieben würde und im Straßengraben schlafen müßte, Masr Davy«, sagte er mit demselben Stolz wie vorher, »ich glaube, sie würde nicht von ihm lassen. Aber bald wird sie einen andern haben, – einen andern, und bald, Emly!«

Als ich später die Treppe hinaufging und an der Tür meines kleinen, jetzt ganz finstern Zimmers vorbeikam, da machte es auf mich den unbestimmten Eindruck, als ob sie drin auf dem Fußboden läge. Aber es konnte ebensogut ein Phantasiegebilde gewesen sein, hervorgerufen durch die Dunkelheit.

Ehe Peggotty herunterkam, hatte ich Zeit, über die Todesfurcht der kleinen Emly nachzudenken, – ein Gefühl, dem ich mit Hinzurechnung dessen, was Mr. Omer mir erzählt, die große Veränderung in ihr zuschrieb, – und es blieb mir Muße genug, ihre Schwäche in milderm Licht zu sehen, während ich die tickenden Schläge der Uhr zählte und den feierlichen Eindruck der tiefen Stille ringsum immer deutlicher empfand.

Peggotty schloß mich in ihre Arme, segnete mich und dankte mir immer und immer wieder, daß ich ihr in ihrem Leid so viel Trost bringe. Dann bat sie mich heraufzukommen und sagte mir schluchzend, daß mich Mr. Barkis immer so gern gehabt und bewundert und oft von mir gesprochen habe, ehe er in seine Bewußtlosigkeit verfallen sei. Und daß ihn, wenn er wieder zu sich kommen sollte, mein Anblick aufhellen würde, wenn ihn überhaupt etwas Irdisches noch stärken könnte.

Die Wahrscheinlichkeit, daß dies geschehen werde, schien mir bei seinem Anblick sehr gering. Er lag mit dem Kopf und den Schultern außerhalb des Bettes sehr unbequem auf dem Koffer, der ihm schon so viel Schmerz und Unruhe verursacht. Ich erfuhr, daß er verlangt hätte, man möge den Koffer neben sein Bett stellen, wo er seitdem immerfort und Tag und Nacht den Arm um ihn gelegt hielt. Auch jetzt lag seine Hand darauf. Die Zeit und die Welt sollten bald für ihn entschwunden sein, aber der Koffer war noch da, und die letzten Worte, die er gesprochen hatte, waren: »Alte Kleider!« gewesen.

»Barkis, mein Herz!« sagte Peggotty fast heiter und beugte sich über ihren Gatten, während ihr Bruder und ich am Fuß des Bettes stehenblieben. »Hier ist mein lieber Junge, mein lieber Sohn Master Davy, der uns zusammengebracht hat, Barkis! Dem du immer Botschaften für mich gabst, weißt du noch? Willst du nicht mit Master Davy sprechen?«

Barkis war so stumm und empfindungslos wie sein Koffer, der seinem Gesicht noch den einzigen Ausdruck gab, den es hatte.

»Er löscht aus mit der Flut«, sagte Mr. Peggotty leise zu mir.

Meine Augen waren feucht wie die Mr. Peggottys, und ich wiederholte flüsternd: »Mit der Flut?«

»Die Leute hier an der Küste können nicht sterben, ehe die Flut nicht fast vorbei ist. Sie können nicht geboren werden, wenn sie nicht fast auf der Höhe ist. Er löscht aus mit der Flut. Um halb vier ist Ebbe, un denn bliewt sei stehen een half Stund lang. Wenn er leben bleibt, bis das Wasser wieder steigt, hält er aus, bis abermals die Flut vorbei ist.«

Wir wachten lange Zeit – viele Stunden – an dem Bett. Welch geheimnisvollen Einfluß meine Anwesenheit auf Mr. Barkis und seinen Zustand gehabt haben mochte, vermag ich nicht zu sagen, aber als er gegen Ende zu phantasieren anfing, murmelte er etwas wie, daß er mich in die Schule fahren müsse.

»Er kommt zu sich«, sagte Peggotty.

Mr. Peggotty berührte mich und flüsterte feierlich:

»Jetzt gehts schnell zu Ende.«

»Barkis, mein Lieber!«

»C. P. Barkis!« flüsterte der Sterbende mit schwacher Stimme, »es gibt kein besseres Weib auf Erden.«

»Schau, hier ist Master Davy«, sagte Peggotty, denn eben öffnete er die Augen.

Ich wollte ihn fragen, ob er mich noch kenne, als er versuchte, seinen Arm auszustrecken, und ganz deutlich und mit freundlichem Lächeln zu mir sagte:

»Barkis will.«

 

Es war Stauwasser, und er ging dahin, zugleich mit der Flut.

31. Kapitel Ein noch größerer Verlust


31. Kapitel Ein noch größerer Verlust

Auf Peggottys Bitte wurde mir der Entschluß nicht schwer zu bleiben, bis die irdischen Reste des armen Botenfuhrmanns ihre letzte Reise nach Blunderstone machten.

Schon seit langer, langer Zeit hatte Peggotty aus ihren Ersparnissen ein Grab auf dem alten Kirchhof neben dem ihres lieben, süßen Mädels, wie sie immer meine Mutter nannte, gekauft; und dort sollte er jetzt ruhen.

Ich leistete ihr Gesellschaft und tat, was ich konnte für sie. Es war wenig genug, und ich fürchte, ich empfand eine gewisse Befriedigung persönlicher und beruflicher Natur, daß ich mich erkenntlich erweisen konnte, indem ich Mr. Barkis‘ letzten Willen im Testament übernahm und seinen Inhalt erklärte.

Ich kann auf das Verdienst des Ratschlags Anspruch machen, es in dem Kasten gesucht zu haben. Man fand es endlich in einem Futtersack, worin sich außer einem Bündel Heu noch eine alte goldne Uhr mit Kette und Petschaft, die Mr. Barkis an seinem Hochzeitstag getragen hatte und seitdem niemals wieder, ein silberner Pfeifenklopfer in Gestalt eines Beines, eine künstliche Zitrone voll winziger Tassen, die er wahrscheinlich gekauft, um sie mir zu schenken, von der er sich aber nicht hatte trennen können, dann 87½ Guineen in Gold und ganz neuen Banknoten, mehrere Aktien der englischen Bank, ein altes Hufeisen, ein falscher Schilling, ein Stück Kampfer und eine Austernschale befanden. Aus dem Umstand, daß sie poliert war und inwendig in Regenbogenfarben spielte, vermute ich, daß Mr. Barkis irgendeinen unklaren Begriff von Perlen gehabt haben mußte.

Durch viele Jahre hatte Mr. Barkis auf allen seinen Fahrten diesen Koffer mit sich geführt. Damit es weniger auffallen sollte, hatte er eine Fabel erdacht, nach der alles einem gewissen Mr. Blackboy gehörte und bei Barkis nur deponiert sei. Diese Legende stand in jetzt kaum mehr leserlichen Buchstaben auf dem Deckel geschrieben.

Alles hatte er im Lauf der Jahre zusammengescharrt; seine Hinterlassenschaft in Geld betrug fast 3000 £. Davon vermachte er die Zinsen von einem Tausend Mr. Peggotty für Lebenszeit; bei seinem Tode sollte das Kapital unter Peggotty, der kleinen Emly und mir oder unsern Erben verteilt werden. Alles übrige vermachte er seiner Witwe, die er auch zur einzigen Vollstreckerin seines letzten Willens ernannte.

Ich fühlte mich ordentlich als Proktor, als ich das Dokument feierlich laut vorlas und die einzelnen Bestimmungen, wer weiß wie viele Mal, den Beteiligten auseinandersetzte. Ich fing an zu denken, daß doch mehr an den Commons sei, als ich mir gedacht hatte. Ich prüfte das Testament mit der größten Aufmerksamkeit, erkannte seine vollkommene formelle Richtigkeit an, machte ein paar Bleistiftnotizen an den Rand und wunderte mich innerlich, daß ich so viel von der Sache verstand.

Darüber und mit der Aufnahme einer genauen Aufstellung der Hinterlassenschaft und mit Raterteilen über alle möglichen Punkte, wegen deren sich Peggotty an mich wendete, verging die Woche vor dem Leichenbegängnis. Ich bekam Emly nicht zu Gesicht, erfuhr aber, daß sie in vierzehn Tagen in aller Stille getraut werden sollte.

Bei dem Begräbnis war ich sozusagen nicht von Amts wegen zugegen, das heißt, ich hatte keinen schwarzen Vogelscheuchenmantel mit Schleifen an, sondern ging ganz früh nach Blunderstone hinüber und wartete auf dem Friedhof, nur von Peggotty und ihrem Bruder begleitet, bis der Leichenwagen kam.

Der verrückte Herr sah aus meinem kleinen Fenster zu. Mr. Chillips‘ Baby wackelte über der Schulter seiner Amme mit seinem schweren Kopf und stierte mit seinen großen Augen den Geistlichen an, – Mr. Omer keuchte im Hintergrund; sonst war niemand da und alles sehr still.

Wir gingen nach dem Begräbnis noch eine Stunde auf dem Kirchhof auf und ab und nahmen uns von dem Baum über dem Grab meiner Mutter ein paar grüne Blätter zum Andenken mit. – Ein Bangen befällt mich. Eine Wolke schwebt über der fernen Stadt, der ich jetzt meine einsamen Schritte zuwende. Immer mehr Angst empfinde ich, je näher ich komme. Kaum kann ich mich überwinden, wieder daran zu denken, was dann geschah.

Es wird nicht schlimmer, weil ich es niederschreiben muß. Es würde nicht besser, wenn ich es verschwiege. Es ist geschehen. Niemand kann es ungeschehen machen. Niemand kann es ändern. Meine alte Kindsfrau sollte mit mir wegen des Testaments am nächsten Tag nach London fahren. Die kleine Emly blieb den ganzen Tag über bei Mr. Omer. Am Abend sollten wir uns alle in dem alten Boot treffen. Ham wollte sie zur gewöhnlichen Stunde nach Hause bringen. Ich versprach auch dort zu sein, und Mr. Peggotty und seine Schwester wollten uns am Abend bei sich erwarten.

Ich nahm Abschied von allen am Zauntor an der Straße und ging, anstatt unmittelbar umzukehren, in der Richtung nach Lowestoft ein Stück spazieren. Dann kehrte ich um und schlug wieder den Weg nach Yarmouth ein. In einem reinlichen Bierhause kehrte ich zu Mittag ein, und so verging der Tag, und es wurde Abend, als ich die Stadt erreichte. Es stürmte und regnete, aber hinter den Wolken schien der Vollmond hervor, und es war nicht allzu finster.

Bald erblickte ich Mr. Peggottys Haus, und das Licht glänzte durch die Fenster. Ein kurzes, aber mühsames Waten durch den tiefen Sand brachte mich an die Tür, und ich trat ein.

Es sah recht behaglich drin aus. Mr. Peggotty hatte seine Abendpfeife geraucht, und es waren bereits einige Vorbereitungen zum Abendessen getroffen. Das Feuer brannte hell, und der Kasten wartete auf Emly auf seinem alten Platz. Auch Peggotty saß in ihrem gewohnten Stuhl und sah aus, wenn ihre Trauerkleider nicht gewesen wären, als ob sie ihn nie verlassen hätte. Das Arbeitskästchen mit der St.-Pauls-Kirche auf dem Deckel, das Ellenmaß und das Stückchen Wachslicht lagen neben ihr wie früher. Mrs. Gummidge schien in ihrer alten Ecke wieder ein wenig grämlich zu sein, sah aber sonst ganz harmlos drein.

»Sej sün der erst an Bord, Masr Davy«, sagte Mr. Peggotty mit glücklichem Gesicht. »Behalten Sie den Rock nicht an, wenn er naß ist, Sir.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Peggotty«, sagte ich und gab ihm meinen Überzieher zum Aufhängen. »Er ist ganz trocken.«

»Stimmt«, sagte Mr. Peggotty und befühlte meine Schultern.

»Trocken wie ein Tisch! Setzen Sie sich nieder, Sir! Wir brauchen zu Ihnen nicht Willkommen zu sagen, denn Sie sind ja immer von Herzen willkommen.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Peggotty. Das weiß ich.«

»Nun, Peggotty?« und ich gab ihr einen Kuß, »wie geht es dir, Alte?«

»Haha«, lachte Mr. Peggotty, setzte sich neben uns und rieb sich mit der ganzen Gemütlichkeit seines Naturells behäbig die Hände. »Keine Frau auf der ganzen Welt, wie ich ihr immer sage, kann sich leichter ums Herz fühlen als sie. Sei hett ehr Flicht gegen den Seligen dohn; und der Selige wußte es; und der Selige hett sien Schuldichkeit gegen sie dohn, wie sie ehr Schuldichkeit gegen ihn; und – und – und – s ist allens in Ordnung.«

Mrs. Gummidge seufzte tief auf.

»Frisch und munter, Mutting!« sagte Mr. Peggotty, nickte uns aber heimlich zu, offenbar fühlend, daß die letzten Ereignisse besonders geeignet waren, die Erinnerung an den »Alten« aufzufrischen. »Loot den Kopp nöch häng. Frisch um deiner selbst willen! Auf! Nur ein ganz klein wenig! Das übrige kommt denn schon von selbst.«

»Bei mir nicht, Danl«, erwiderte Mrs. Gummidge. »Bei mir kommt nichts von selbst, als daß ich einsam und verlassen bin.«

»Nun, nun«, beschwichtigte Mr. Peggotty.

»Ja, ja, Danl. Eine Person wie ich paßt nicht unter Leute, die Geld geerbt haben. Mir geht alles die Quere. Besser, man wäre mich los.«

»Na, wie sollte ich denn das Geld ohne dich ausgeben? Was sprichst du nur wieder! Brauche ich dich jetzt nicht notwendiger als früher?«

»Ich wußte doch, daß man mich früher nicht brauchte«, jammerte Mrs. Gummidge mit weinerlicher Stimme, »und jetzt sagst du es mir geradeheraus. Wie konnte ich es auch erwarten, da ich so einsam und verlassen bin und mir alles so die Quere geht!«

Mr. Peggotty war ordentlich entrüstet über sich, daß er etwas gesagt hatte, was so gefühllos ausgelegt werden konnte, antwortete aber nichts, weil seine Schwester ihn am Ärmel zupfte und den Kopf schüttelte. Nachdem er einige Augenblicke lang Mrs. Gummidge in tiefer Bekümmernis angesehen, warf er einen Blick auf die Wanduhr, stand auf, putzte das Licht und stellte es ins Fenster.

»Na also«, sagte er heiter. »So weit wären wir, Mrs. Gummidge!« Mrs. Gummidge ließ einen leisen Seufzer hören. »Illuminiert, wies Sitte ist. Sie möchten wohl wissen, wozu das ist, Sir? Ja, sehen Sie, das ist für die kleine Emly. Sie wissen, der Weg ist nicht allzu hell oder angenehm nach Dunkelwerden, und wenn ich um die Zeit, wo sie heimkommt, hier bin, stell ich das Licht ins Fenster. Und damit wird zweierlei erreicht«, sagte er und beugte sich mit großer Fröhlichkeit zu mir herunter. »Erstens sagt es Emly, dort ist das Haus, und dann: der Onkel ist da! Denn wenn ich nicht daheim bin, wird kein Licht ins Fenster gestellt.«

»Du bist wie ein kleines Kind«, sagte Peggotty mit unverhohlener Zärtlichkeit.

»Mag wohl sein, aber dem Ansehn nach freilich nicht – freilich dem Äußeren nach nicht«, lachte Mr. Peggotty, »aber sonst so, was? Na, mir kanns gleich sein. Ich will euch mal was sagen. Wenn ich mir das hübsche, kleine Haus unserer Emly ansehe, da kommts mir vor, als ob auch die kleinsten Dinger so zart wie sie selber wären. Ich nehme sie in die Hand und lege sie wieder hin und fasse sie so zärtlich an, als wären sie Emly selber. Ich litte nicht, daß auch nur ein einziges hart angefaßt würde. Um die ganze Welt nicht. Da habt Ihr ein kleines Kind in Gestalt eines großen Seeigels«, sagte Mr. Peggotty und brach in ein lautes Gelächter aus.

Peggotty und ich lachten auch, nur nicht so laut.

»Ich glaube«, fuhr Mr. Peggotty mit fröhlichem Gesicht fort und schlug sich auf die Schenkel, »daß ich zu viel mit ihr gespielt habe, Löwe und Walfisch und was sonst noch, als sie nicht höher war als mein Knie. – Und dort werde ich das Licht auch hinstellen, wenn sie verheiratet und nicht mehr hier ist. Wo sollte ich sonst wohnen als hier? Und wenn ich noch so reich würde. Und ist sie nicht mehr da, so stell ich doch das Licht ins Fenster und tue, als ob ich auf sie wartete wie jetzt. Da habt Ihr wieder das kleine Kind in Gestalt eines ungeheuern Seeigels! Und selbst jetzt, wo ich das Licht aufflackern sehe, sage ich zu mir, Emly kommt. Aber damit hab ich ja recht«, sagte Mr. Peggotty, indem er sein Lachen unterbrach und in die Hände klatschte, »denn da ist sie.«

Es war bloß Ham.

Das Wetter mußte wohl regnerischer geworden sein als vorhin, denn er hatte seinen großen Südwester tief ins Gesicht gezogen.

»Wo ist Emly?« fragte Mr. Peggotty.

Ham machte eine Bewegung mit dem Kopf, als ob sie draußen stünde.

Mr. Peggotty nahm das Licht aus dem Fenster, putzte es und stellte es auf den Tisch und ging an das Feuer, um es zu schüren, als Ham, der regungslos dagestanden, zu mir sagte:

»Masr Davy, wollen Sie eine Minute herauskommen und sehen, was Emly und ich mitgebracht haben?«

Wir gingen hinaus.

Als ich an der Tür an ihm vorbeiging, sah ich zu meinem Staunen und Schrecken, daß er totenbleich war. Er schob mich hastig hinaus ins Freie und machte die Tür schnell hinter uns beiden zu.

»Ham, was ist geschehen?«

»Masr Davy! –«

Es war, als ob ihm das Herz brechen sollte, so schrecklich weinte er.

Ich war ganz gelähmt beim Anblick solchen Grames. Ich weiß nicht, was ich dachte oder befürchtete, ich konnte ihn nur ansehen.

»Ham, mein armer, guter Junge, um Gotteswillen, was ist denn geschehen?«

»Meine Liebe, Masr Davy, – der Stolz und die Hoffnung meines Herzens – sie, für die ich gestorben wäre – und jetzt noch sterben würde, – sie ist fort.«

»Fort!«

»Emly ist geflohen! Ach, Masr Davy, bedenken Sie, unter welchen Umständen sie geflohen sein muß, wenn ich meinen barmherzigen Gott bitte, sie lieber zu töten – sie, die ich so über alles liebe –, als sie in Schmach und Schande zu lassen.«

Sein zum stürmischen Himmel erhobenes Gesicht, seine zitternden verkrampften Hände, der wilde Schmerz in seinem ganzen Wesen bleiben bis zu dieser Stunde in meiner Erinnerung unzertrennlich mit dieser einsamen öden Düne verbunden. Es ist dort immer Nacht für mich und er das einzig Lebendige in der ganzen Szene.

»Sie sind ein Gelehrter«, sagte er hastig, »und wissen, was recht und gut ist. Was soll ich drin sagen? Wie soll ichs ihm beibringen, Masr Davy?«

Ich sah die Tür aufgehen und versuchte instinktiv, die Klinke außen festzuhalten, um einen Augenblick Zeit zu gewinnen. Es war zu spät. Mr. Peggotty steckte den Kopf heraus, und nie werde ich die Veränderung in seinem Gesicht vergessen, als er uns erblickte.

Ich erinnere mich an ein großes Wehklagen und Weinen, als die Frauen an ihm hingen und wir alle im Zimmer standen, ich mit einem Papier in der Hand, das Ham mir gegeben hatte, Mr. Peggotty mit aufgerissener Jacke, zerrauftem Haar, Gesicht und Lippen kalkweiß und Blutstropfen auf seiner Brust, die aus seinem Munde gekommen waren, und starr den Blick auf mich geheftet.

»Lesen Sie, Sir«, sagte er mit leiser, bebender Stimme, »aber langsam, ich weiß nicht, ob ich es sonst verstehen würde.«

Inmitten eines Todesschweigens las ich aus einem tränenbefleckten Brief:

»Wenn Du, der Du mich viel mehr liebst, als ich jemals verdient habe, selbst als ich noch unschuldigen Herzens war, dies liest, werde ich weit weg von Euch sein –«

»Werde ich weit weg von euch sein«, wiederholte Mr. Peggotty langsam. »Halt! Emly weit weg. Gut!«

»– wenn ich diesen Morgen das geliebte Vaterhaus – mein liebes, liebes Heim verlassen habe –«

Der Brief war vom Abend vorher datiert.

»– so werde ich nie wieder zurückkehren, wenn er mich nicht als seine Frau zurückbringt. Viele Stunden später wirst Du dies anstatt meiner finden. O, wenn Du wüßtest, wie sehr zerrissen mein Herz ist. Wenn Du, dem ich so wehe getan habe, daß Du es mir nie verzeihen kannst, wissen könntest, was ich leide. Ich bin zu schlecht, um von mir selbst zu schreiben. Laß es Dir ein Trost sein, daß ich so schlecht bin. Um der himmlischen Barmherzigkeit willen, sage dem Onkel, daß ich ihn nie auch nur halb so geliebt habe wie jetzt. O denk nicht dran, wie zärtlich und gütig Du gegen mich gewesen bist! – vergiß, daß wir uns jemals heiraten sollten, – versuche zu glauben, ich sei als kleines Kind gestorben und läge irgendwo begraben. Bitte den Himmel, daß er Erbarmen habe mit meinem Onkel. Sag ihm, daß ich ihn nie auch nur halb so geliebt habe wie jetzt. Sei ihm eine Stütze. Liebe ein braves Mädchen, das meinem Onkel das sein kann, was ich ihm einmal war, ein Mädchen, das Dir treu ist und Deiner wert. Gott segne Euch Alle. Ich werde oft auf meinen Knien für Alle beten. Wenn er mich nicht als seine Frau zurückbringt und ich nicht mehr für mich selbst beten kann, so will ich doch für Euch Alle beten. Noch einmal dem Onkel einen letzten Liebesgruß, meine letzten Tränen und meinen letzten Dank!«

Das war alles. Lange noch, nachdem ich aufgehört zu lesen, starrte mich Mr. Peggotty an. Endlich wagte ich seine Hand zu ergreifen und ihn zu bitten, so gut ich konnte, sich zu fassen. Er antwortete:

»Ich danke, ich danke«, aber er rührte sich nicht.

Ham redete ihn an. Mr. Peggotty begriff den Schmerz seines Neffen so weit, daß er ihm die Hand drückte, aber er blieb stehen wie früher, und keiner wagte, ihn zu stören.

Langsam ließen seine Augen von mir ab, wie wenn er aus einer Vision erwachte, und blickte um sich. Dann sagte er mit leiser Stimme:

»Wer ist es? Ich will seinen Namen wissen.«

Ham sah mich an und plötzlich durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag.

»Wer steht im Verdacht?« sagte Mr. Peggotty. »Wer ist es?«

»Master Davy«, flehte Ham, »gehen Sie einen Augenblick hinaus, damit ich ihm sagen kann, was ich muß. Sie dürfen es nicht hören, Sir!«

Wieder durchzuckte es mich wie vorhin. Ich sank in einen Stuhl und versuchte etwas zu stammeln, aber meine Zunge war wie gelähmt, und vor meinen Augen wurde es dunkel.

»Ich will seinen Namen wissen«, hörte ich wieder sagen.

»Vor einiger Zeit hielt sich manchmal ein Bedienter hier auf«, stammelte Ham, »auch ein Herr war dabei. Beide gehörten zusammen.« Mr. Peggotty stand so starr wie vorhin und sah jetzt Ham an.

»Den Bedienten hat man gestern mit – unserm armen Mädchen gesehen. Er hat diese Woche und länger hier herumgelauert. Man sagte, er sei fort. Aber er hielt sich nur versteckt. Gehen Sie hinaus, Masr Davy! Bitte, gehen Sie hinaus.«

Ich fühlte, wie Peggottys Arm sich um meinen Hals legte, aber ich hätte nicht von der Stelle gehen können, und wenn das Haus über mir zusammengestürzt wäre.

»Ein fremder Wagen mit Pferden stand heut früh vor Tagesanbruch auf der Straße nach Norwich«, erzählte Ham weiter. »Der Bediente ging zu dem Wagen und kam zurück und ging wieder hin. Als er zuletzt hinging, war Emly bei ihm. Der andere saß drin. Er ist der Mann.«

»Um Gottes willen«, sagte Mr. Peggotty, taumelte zurück und streckte die Hand aus, als ob er etwas Fürchterliches abwehren wollte. »Sag nicht, daß es Steerforth ist.«

»Masr Davy!« rief Ham mit gebrochener Stimme aus. »Sie können nichts dafür, und ich gebe Ihnen gewiß nicht die Schuld, – aber er heißt Steerforth und ist ein gottverfluchter Schurke.«

Kein Laut und keine Träne und keine Bewegung verrieten Mr. Peggottys Schmerz, bis er plötzlich wieder aufzuwachen schien und seinen zottigen Rock von dem Nagel in der Ecke herabnahm.

»So helft mir doch. Ich bin wie auf den Kopf geschlagen und kann nicht damit zurechtkommen«, sagte er ungeduldig. »Kommt her und helft mir doch. Gut! Jetzt gebt mir den Hut her!«

Ham fragte ihn, wohin er gehen wollte.

»Ich will meine Nichte suchen! Ich will meine Emly suchen! Zuerst will ich dem Boot die Planken einschlagen und es versenken, wo ich ihn ersäuft hätte, so wahr ich lebe, wenn mir nur ein Gedanke von Verdacht gekommen wäre. Wie er so vor mir saß«, sagte er wild und streckte die Hand geballt vor sich aus, »wie er so vor mir saß, so wahr ich lebe, ich hätte ihn ersäuft und hätte es für recht gehalten! … Ich will meine Nichte suchen!«

»Wo?« schrie Ham und stellte sich vor die Tür.

»Überall! Ich will meine Nichte suchen durch die ganze Welt! Ich will meine arme Nichte aufsuchen in ihrer Schande und sie zurückbringen. Keiner soll mich aufhalten. Ich sage dir, ich will meine Nichte suchen!«

»Nein, nein, nein!« rief Mrs. Gummidge und trat in hellen Tränen dazwischen. »Nein, nein, nein, Daniel, nicht in deinem jetzigen Zustand! Such sie nach einer kleinen Weile, mein armer verlassener Dan, und dann wird es gut sein, aber nicht jetzt in solcher Verfassung! Setz dich nieder und verzeih mir, daß ich dir immer eine solche Plage gewesen bin! – Daniel, was sind meine kleinen Unannehmlichkeiten gewesen gegen dein Leid! Laß uns ein Wort sprechen über die Zeiten, wo sie eine Waise und Ham eine Waise waren und ich eine arme Wittfrau, als du uns aufnahmst. Es wird deinem gequälten Herzen wohltun. Daniel«, sagte sie und legte ihren Kopf an Mr. Peggottys Schulter, »der Schmerz wird dir leichter werden, wenn du an die Verheißung denkst, Dan:

Was ihr dem Geringsten der meinigen getan, das habt ihr mir getan! Und das muß immer wahr bleiben unter diesem Dach, das uns so viele, viele Jahre Schutz gewährt hat.«

Mr. Peggotty war ganz widerstandslos geworden, und als ich ihn weinen hörte, da wich der Drang, vor ihm auf den Knien Steerforth zu verfluchen, einem bessern Gefühl. Mein gequältes Herz fand Erleichterung wie seines, und auch ich weinte.

4. Kapitel Ich falle in Ungnade


4. Kapitel Ich falle in Ungnade

Wäre das Zimmer, wo damals mein Bett stand, ein fühlendes Wesen, möchte ich es heute – wer wohl jetzt darin schlafen mag – zum Zeugen anrufen, wie schwer mir das Herz war, als ich eintrat.

Wie ich die Treppe hinaufging, hörte ich den Hund hinter mir dreinbellen; und drinnen sah ich die Stube mit ebenso fremden Augen an wie sie mich. Ich setzte mich hin, die kleinen Hände gefaltet, und dachte nach.

Ich dachte an die seltsamsten Dinge, an die Form des Zimmers, an die Sprünge in der Decke, an die Tapeten an den Wänden, an die Rippen und Flecken im Fensterglas, hinter denen sich die Gegenstände draußen verzerrten und verschoben, an den Waschtisch, der auf drei Beinen wackelte, etwas Unzufriedenes hatte und mich an Mrs. Gummidge erinnerte.

Ich weinte die ganze Zeit über, dachte aber keinen Augenblick darüber nach, warum ich weinte. Ich empfand nur das Gefühl der Kälte und Niedergeschlagenheit. In meiner Einsamkeit fing ich an, mir auszumalen, wie schrecklich verliebt ich in die kleine Emly sei, und daß man mich von ihr gerissen habe, während sich hier niemand um mich kümmerte. Das machte mich derart unglücklich, daß ich mich in einen Zipfel der Bettdecke wickelte und mich in Schlaf weinte.

Hörte dann jemand sagen, »hier ist er«, und wachte auf mit glühheißem Kopf. Meine Mutter und Peggotty hatten mich aufgesucht, und eine von beiden mußte die Worte gesprochen haben.

»Davy«, sagte meine Mutter, »was fehlt dir?«

Ich fühlte es als etwas sehr Sonderbares, daß sie mich noch fragen konnte, und antwortete: »Nichts.« Ich legte mich aufs Gesicht, damit sie meine zitternden Lippen nicht sähe, die ihr besser Auskunft gegeben hätten.

»Davy«, sagte meine Mutter. »Davy, mein Kind!«

Keine Worte hätten mich mehr rühren können, als daß sie mich ihr Kind nannte. Ich verbarg meine Tränen in den Kissen und drängte meine Mutter weg, als sie meinen Kopf aufheben wollte.

»Das ist dein Werk, Peggotty, du grausames Ding!« schrie meine Mutter. »Ich zweifle gar nicht daran. Wie kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, meinen eignen Jungen gegen mich oder irgend jemand, den ich lieb habe, aufzuhetzen? Was soll das heißen, Peggotty?«

Die arme Peggotty erhob Hände und Augen zum Himmel und antwortete nur mit einer Art Paraphrase des Tischgebets, das ich nach dem Essen herzusagen pflegte: »Gott vergebe Ihnen, Mrs. Copperfield, was Sie in dieser Minute gesagt haben. Mögen Sie es niemals ernstlich bereuen!«

»Es ist zum Verrücktwerden!« rief meine Mutter, »noch dazu in meinen Flitterwochen, wo man denken sollte, mein erbittertster Feind müßte Erbarmen haben und mir nicht das bißchen Ruhe und Glück neiden. Davy, du nichtsnutziger Junge! Peggotty, du wildes Geschöpf! Ach Gott, ach Gott!« rief sie in ihrer kindischen Art. »Wie ist die Welt doch widerwärtig, grade wenn man so viel Angenehmes von ihr erwartet!«

Ich fühlte die Berührung einer Hand, der ich sogleich anmerkte, daß sie weder meiner Mutter noch Peggotty gehörte, und sprang rasch aus dem Bett. Es war Mr. Murdstones Hand, der meinen Arm faßte. Ich hörte, wie er sagte:

»Was ist das, liebe Klara, hast du vergessen? Festigkeit! meine Liebe!«

»Es tut mir recht leid, Edward«, sagte meine Mutter. »Ich habe mir alle Mühe gegeben, aber mir ist so unbehaglich.«

»Wirklich!« antwortete er. »So bald schon. Das ist ja recht schlimm, Klara.«

»Es ist recht bitter, daß es mich jetzt so treffen muß«, sagte meine Mutter schmollend. »Sehr, sehr bitter, nicht wahr!«

Er zog sie an sich, flüsterte ihr etwas ins Ohr und küßte sie. Als ich sah, wie meine Mutter ihren Kopf an seine Schulter lehnte und ihren Arm um seinen Nacken schlang, da begriff ich damals so gut wie jetzt, daß er ihrem weichen Charakter jede beliebige Gestalt geben konnte:

»Geh hinunter, meine Liebe«, sagte er. »David und ich wollen auch hinunterkommen.«

»Meine Gute«, fuhr er mit einem finstern Gesicht zu Peggotty fort, als er meine Mutter an die Tür begleitet und mit einem Nicken und einem Lächeln verabschiedet hatte. »Sie kennen doch den Namen Ihrer Herrin!«

»Sie war lange genug meine Herrin, Sir«, antwortete Peggotty, »als daß ich ihn nicht kennen sollte.«

»Das ist richtig«, antwortete er, »aber mir schien es, wie ich die Treppe heraufkam, als ob Sie sie mit einem Namen anredeten, der nicht der ihrige ist. Sie wissen doch, daß sie meinen angenommen hat. Vergessen Sie das nicht.«

Mit einigen besorgten Blicken auf mich knixte Peggotty sich aus dem Zimmer heraus, ohne zu antworten. Sie begriff, daß sie gehen sollte, und fand keinen Vorwand, um dazubleiben. Als wir beide allein waren, machte er die Türe zu, setzte sich auf einen Stuhl, stellte mich vor sich hin, während er mich immer noch am Arm festhielt, und sah mir unverwandt in die Augen. Ich fühlte meinen Blick fest an ihn gebannt. Wenn ich mir vorstelle, wie wir uns damals Auge in Auge gegenüberstanden, kommt es mir vor, als hörte ich wieder mein Herz schneller und lauter schlagen.

»David«, sagte er und preßte seine Lippen ganz dünn zusammen, »wenn ich einen eigensinnigen Gaul oder Hund vor mir habe, was glaubst du wohl, tue ich dann mit ihm?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich prügle ihn!«

Ich hatte ihm mit einem atemlosen Geflüster geantwortet, aber in meinem Schweigen fühlte ich, daß mein Atem noch kürzer wurde.

»Ich haue ihn, daß er sich windet vor Schmerz. Ich sage mir, ich will den Burschen bezwingen, und wenns ihm alles Blut im Leibe kosten sollte. Was hast du im Gesicht?«

»Schmutz«, sagte ich.

Er wußte so gut wie ich, daß es Tränenspuren waren. Aber wenn er mich zwanzigmal gefragt hätte, jedesmal mit zwanzig Hieben, so glaube ich doch, mein Kinderherz wäre eher gebrochen, ehe ich ihm das eingestanden hätte.

»Du bist recht gescheit für dein Alter«, sagte er mit dem ernsten Lächeln, das ihm eigen war. »Und ich sehe, du hast mich ganz gut verstanden. Wasche dir das Gesicht und komme mit mir herunter.«

Er deutete auf den Waschtisch, der mir wie Mrs. Gummidge vorkam, und machte eine Bewegung mit dem Kopf, ich solle sofort gehorchen. Ich zweifelte damals nicht und jetzt noch viel weniger, daß er mich ohne das geringste Erbarmen zu Boden geschlagen haben würde, wenn ich gezögert hätte.

»Meine liebe Klara«, sagte er, als er mit mir in das Wohnzimmer trat, immer noch meinen Arm festhaltend, »ich hoffe, du wirst jetzt keinen Verdruß mehr haben. Wir werden unsre jugendlichen Launen schon ablegen und uns bessern.«

Gott helfe mir, ich hätte für mein ganzes Leben gebessert werden können, ich wäre ein ganz andrer Mensch geworden durch ein einziges freundliches Wort damals. Ein Wort der Ermutigung und Erklärung und des Mitgefühls für meine kindliche Unwissenheit, des Willkomms in der Heimat, eine Versicherung, daß das alte mütterliche Haus noch ganz dasselbe sei, hätten mich zu einem gehorsamen Sohn gemacht, anstatt daß ich jetzt Gehorsam heuchelte, – hätten mich ihn achten gelehrt anstatt hassen. Mir kam es so vor, als ob es meiner Mutter leid täte, mich so scheu und fremd im Zimmer stehen zu sehen. Und daß sie mir mit sorgenvollen Blicken folgte, als ich nach meinem Stuhle schlich. Das Wort aber wurde nicht gesprochen, und die Zeit dazu war vorüber.

Wir speisten alle drei allein am Tisch. Er schien meine Mutter sehr gern zu haben, – ich fürchte fast, er war mir deshalb nicht weniger zuwider, – und sie war sehr zärtlich zu ihm. Aus seinen Reden merkte ich, daß eine ältere Schwester von ihm ankommen sollte und bei uns bleiben. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon damals oder erst später erfuhr, daß er einen Geschäftsanteil an einer Weinhandlung in London besaß, – schon von Großvaters Zeiten her, – an der seine Schwester in gleicher Weise beteiligt war; jedenfalls kann ich es gleich hier bemerken.

Nach dem Essen, als wir vor dem Feuer saßen und ich darüber nachsann, wie ich zu Peggotty flüchten könnte, dabei aber nicht den Mut hatte, zu entschlüpfen, fuhr ein Wagen an der Gartentür vor, und er ging hinaus, um den Besuch zu empfangen.

Meine Mutter folgte ihm. Ich ging schüchtern hinter ihr drein, da drehte sie sich in der Stubentür um, drückte mich im Dunkeln ans Herz, wie früher, und flüsterte mir zu, ich solle meinen neuen Vater lieben und ihm gehorsam sein.

Sie tat das so hastig und geheimnisvoll, als ob es ein Unrecht wäre, aber mit großer Zärtlichkeit. Dann zog sie mich hinter sich her in den Garten, wo er stand. Dort ließ sie mich wieder los und legte ihren Arm in den seinen.

Miss Murdstone war angekommen, eine finster aussehende Dame, schwarz wie ihr Bruder, dem sie in Gesicht und Stimme sehr glich. Sie hatte starke, buschige Augenbrauen, die über ihrer großen Nase fast zusammenstießen, als wollten sie den Backenbart ersetzen, den ihr Geschlecht ihr versagt hatte.

Sie brachte ein paar unnachgiebige, schwarze Koffer mit, auf deren Deckeln mit harten Messingnägeln ihr Monogramm stand. Um den Kutscher zu bezahlen, holte sie ihr Geld aus einer harten, stählernen Börse. Sie trug die Börse in einem wahren Kerker von Strickbeutel, der ihr an einer schweren Kette am Arm hing und wie ein Gebiß schloß. Ich hatte bis dahin noch nie eine so durch und durch metallische Dame gesehen wie Miss Murdstone.

Sie wurde mit vielen Zeichen des Willkommens in die Stube geführt, und dort erkannte meine Mutter sie in aller Form als neue nahe Verwandte an.

Dann blickte mich Miss Murdstone an und sagte:

»Ist das dein Junge, Schwägerin?«

Meine Mutter bejahte.

»Im allgemeinen«, sagte Miss Murdstone, »kann ich Jungen nicht leiden. Wie gehts dir, Junge?«

Unter diesen ermutigenden Umständen antwortete ich, daß es mir gut ginge und ich dasselbe von ihr hoffte, aber mit so wenig Wärme, daß Miss Murdstone mich mit den zwei Worten abfertigte:

»Keine Manieren.«

Nachdem sie dies mit großer Bestimmtheit ausgesprochen, wünschte sie auf ihr Zimmer geführt zu werden, das von der Zeit an für mich zu einem Ort des Grauens und der Furcht wurde, weil die beiden schwarzen Koffer stets verschlossen dort standen und eine Menge kleiner Stahlfesseln und Kettchen, mit denen sich Miss Murdstone zu verschönern pflegte, in furchtgebietenden Reihen über dem Spiegel hingen.

Soviel ich herausbekommen konnte, war sie in der Absicht gekommen, Gutes zu stiften, und sie trug sich nicht mit dem Gedanken, jemals wieder wegzugehen. Schon am nächsten Morgen fing sie an, meiner Mutter zu »helfen«, und ging den ganzen Tag in der Vorratskammer aus und ein, um alles zurechtzusetzen und die alte Ordnung umzustürzen.

Ihre hervorstechendste Eigenschaft schien mir die zu sein, daß sie beständig argwöhnte, die Dienstmädchen hielten irgendwo im Hause einen Mann verborgen. Von diesem Wahn besessen, tauchte sie zu den ungewöhnlichsten Zeiten in den Kohlenkeller und öffnete fast nie die Tür dunkler Schränke, ohne sie zugleich wieder zuzuschlagen, im Glauben, daß sie »ihn« erwischt hätte.

Obgleich durchaus nichts Lustiges sonst an Miss Murdstone war, glich sie doch in puncto Frühaufstehen einer Lerche. Sie war auf den Beinen, wie ich heute noch glaube, um nach dem Mann zu suchen, ehe sich noch irgend etwas im Hause regte. Peggotty huldigte der Ansicht, daß sie stets nur mit einem Auge schliefe. Ich konnte mich diesem Glauben nicht anschließen, seit ich selbst versucht und herausgefunden hatte, daß so etwas nicht möglich ist.

Schon am ersten Morgen nach ihrer Ankunft stand sie früh auf und klingelte beim ersten Hahnenschrei. Als meine Mutter zum Frühstück herunterkam, gab ihr Miss Murdstone eine Art Schnabelhieb auf die Wange – das war bei ihr die kußähnliche Bewegung – und sagte: »Nun, liebe Klara, du weißt, ich bin hergekommen, um dir alles abzunehmen. Du bist viel zu hübsch und gedankenlos«, – meine Mutter errötete, lachte aber und schien diese Charakterisierung nicht übel zu nehmen – »als daß dir Pflichten auferlegt werden dürfen, die ich erfüllen kann. Wenn du so gut sein willst, mir die Schlüssel zu übergeben, meine Liebe, so will ich alles das in Zukunft selber besorgen.«

Von dieser Zeit an behielt Miss Murdstone die Schlüssel den Tag über in ihrem Beutel und die Nacht über unter ihrem Kopfkissen; meine Mutter hatte nicht mehr damit zu tun als ich selbst.

Meine Mutter ließ sich ihre Herrschaft nicht rauben, ohne vorher einen leisen Versuch von Widerstand zu machen. Eines Abends, als Miss Murdstone ihrem Bruder gewisse Haushaltungspläne entwickelt hatte und er seine Zustimmung gab, fing meine Mutter plötzlich an zu weinen und sagte, man hätte sie doch wohl auch zu Rate ziehen können.

»Klara«, sagte Mr. Murdstone streng, »Klara, ich bin erstaunt über dich!«

»Du hast gut von erstaunt sein sprechen, Edward«, rief meine Mutter, »und von Festigkeit, aber das würdest du dir auch nicht gefallen lassen.«

Festigkeit, muß ich bemerken, war die große Eigenschaft, auf der beide, Mr. und Miss Murdstone, fußten. Ich weiß nicht, welchen Namen ich damals dafür gewählt hätte, aber ich begriff genau, daß es nur eine andre Bezeichnung für Tyrannei war und für eine gewisse finstere, anmaßende, teuflische Laune, die in den beiden steckte. Das Glaubensbekenntnis, würde ich jetzt mich ausdrücken, Mr. Murdstones lautete: Ich bin fest, niemand soll in der Welt so fest sein wie ich, niemand überhaupt fest, und alles soll sich vor meiner Festigkeit beugen. Miss Murdstone war die eine Ausnahme. Sie durfte fest sein, aber nur aus verwandtschaftlichen Rücksichten und in einem untergeordneten und tributpflichtigen Grad. Meine Mutter war die zweite Ausnahme. Sie konnte und durfte fest sein und mußte es, aber nur im Ertragen der Festigkeit der beiden andern.

»Es ist sehr hart«, sagte meine Mutter, »daß ich in meinem eignen Haus –«

»In meinem eignen Hause?!« wiederholte Mr. Murdstone. »Klara!«

»Unserm eignen Hause, meine ich«, stotterte meine Mutter ganz erschrocken, – »ich hoffe, du weißt, was ich meine, Edward, es ist sehr hart, daß ich in deinem eignen Hause nicht ein Wort über häusliche Angelegenheiten sagen darf. Ich habe sicher sehr gut hausgehalten, ehe wir heirateten. Ich habe Beweise«, setzte sie schluchzend hinzu. »Frag nur Peggotty, ob es nicht recht gut ging, als man mir nicht dreinredete.«

»Edward«, sagte Miss Murdstone, »machen wir der Sache ein Ende. Ich reise morgen ab!«

»Jane Murdstone!« donnerte Mr. Murdstone, »wirst du schweigen! Was unterstehst du dich!«

Miss Murdstone zog ihr Taschentuch aus dem Kerker und hielt es vor die Augen.

»Klara«, fuhr er fort, »du setzest mich in Erstaunen! Ja. Ich fand Befriedigung in dem Gedanken, eine unerfahrene und harmlose Person zu heiraten und ihren Charakter zu bilden und ihr etwas von der Festigkeit und Entschiedenheit zu geben, die ihr fehlen. Aber wenn Jane Murdstone so gütig ist, mir darin beizustehen, und meinetwegen eine Stellung gleich der einer Haushälterin übernimmt und dafür so schlechten Dank erntet –«

»O bitte, bitte, Edward!« rief meine Mutter. »Sag nicht, daß ich undankbar bin. Ich bin sicher nicht undankbar, das hat mir noch niemand gesagt. Ich habe viele Fehler, aber nicht diesen. Bitte, sage das nicht, Liebling!«

»Wenn Jane Murdstone, sage ich«, fuhr er fort, nachdem er meine Mutter hatte ausreden lassen, »dafür Undank erntet, so fühle ich meine Gefühle erkalten.«

»Liebling, bitte, sag das nicht«, flehte meine Mutter kläglich. »O bitte, Edward, ich kann das nicht ertragen. Wie ich auch immer sein mag, ich bin nachgiebig und dankbar. Ich weiß, ich bin es, bin nachgiebig und dankbar. Ich würde es nicht sagen, wenn ich es nicht gewiß wüßte. Frag nur Peggotty. Sie wird es gewiß bestätigen.«

»Bloße Schwäche fällt bei mir nicht ins Gewicht, Klara«, entgegnete er. »Du verschwendest nur deine Worte.«

»Komm, laß uns wieder gut sein«, sagte meine Mutter. »Ich könnte nicht leben in Kälte und Unfreundlichkeit um mich herum. Es tut mir so herzlich leid. Ich habe sehr viele Fehler, ich weiß, und es ist sehr gut von dir, Edward, daß du mit deinem starken Charakter dir Mühe gibst, mich zu bessern. Jane, ich will dir nicht mehr widersprechen. Es würde mir das Herz brechen, wenn du nur daran dächtest, uns zu verlassen –« meine Mutter konnte nicht weitersprechen vor lauter Rührung.

»Jane Murdstone«, sagte Mr. Murdstone zu seiner Schwester, »harte Worte sind zwischen uns selten. Es ist nicht meine Schuld, daß heut abend ein so ungewöhnliches Ereignis stattgefunden hat. Ich wurde von jemand anders dazu gebracht. Aber es ist auch nicht deine Schuld, auch dich hat jemand in eine schiefe Lage gebracht. Wir wollen beide trachten, es zu vergessen. Und da dies«, fügte er nach diesen großmütigen Worten hinzu, »kein passendes Bild ist für den Knaben, so geh zu Bett, David.«

Ich konnte kaum die Türe finden, so voll Tränen standen meine Augen. Ich fühlte meiner Mutter Schmerz so tief mit; ich schlich hinaus und tappte im Dunkeln die Treppe hinauf in mein Zimmer, ohne nur das Herz zu haben, Peggotty gute Nacht zu sagen oder mir eine Kerze von ihr geben zu lassen. Als sie vielleicht eine Stunde später nach mir sah, wachte ich auf, und sie sagte mir, meine Mutter sei sehr betrübt zu Bett gegangen, und Mr. und Miss Murdstone säßen noch unten allein.

Am nächsten Morgen ging ich etwas früher als gewöhnlich hinunter und hörte, wie drinnen meine Mutter Miss Murdstone demütigst um Verzeihung bat. Die Dame verzieh ihr, und es fand eine vollständige Aussöhnung statt. Nie wieder später hörte ich meine Mutter über irgend etwas eine Meinung äußern, ehe sie sich nicht zuvor an Miss Murdstone gewendet oder in sichre Erfahrung gebracht hatte, was ihre Ansicht sei; und nie wieder sah ich Miss Murdstone in übler Laune nach dem Beutel greifen, als ob sie die Schlüssel herausnehmen und sie meiner Mutter zurückgeben wollte, ohne daß diese nicht in die schrecklichste Angst geraten wäre.

Das dunkle Blut, das in den Adern der Murdstones floß, gab auch ihrer Religion etwas Finsteres und Strenges. Ich habe seitdem oft darüber nachgedacht, ob diese Eigenschaft nicht eine notwendige Folge war von Mr. Murdstones Festigkeit, die ihm niemals erlauben wollte, irgend jemand von der strengsten Strafe freizusprechen. Sei dem, wie es wollte, ich kann mich noch recht gut der finstern und ernsten Gesichter erinnern, mit denen wir zum Gottesdienst zu gehen pflegten, und des veränderten Eindrucks, den die Kirche auf mich machte.

Wieder kommt der gefürchtete Sonntag, und ich marschiere zuerst in den alten Betstuhl, wie ein bewachter Sträfling zu einem Gefangenengottesdienst. Dicht hinter mir folgt Miss Murdstone in einem schwarzen Samtkleid, das aus einem Leichentuch gemacht zu sein scheint. Dann kommt meine Mutter, dann ihr Gatte. Peggotty geht nicht mehr mit wie früher. Wieder höre ich Miss Murdstone die Responsorien murmeln und auf alle drohenden Worte mit grausamem Behagen besondern Nachdruck legen. Wieder sehe ich ihre dunklen Augen in der Kirche umherschweifen, wenn sie sagt »elende Sünder«, als wenn sie die ganze Gemeinde in diesem Namen einschließen wolle. Wieder werfe ich verstohlene Blicke auf meine Mutter, die ihre Lippen schüchtern flüsternd bewegt, während das Summen der beiden in ihren Ohren brummt wie fernes Donnergrollen. Dann überkommt mich eine plötzliche Furcht, ob nicht vielleicht Mr. und Miss Murdstone recht haben und unser guter Pfarrer unrecht, und daß alle Engel im Himmel Racheengel sein könnten. Wenn ich einen Finger rühre oder ein Muskel meines Gesichts schlaff wird, stößt mich Miss Murdstone mit ihrem Gebetbuch, daß mich die Seite schmerzt.

Und auf dem Heimweg bemerke ich, wie die Nachbarn mich und meine Mutter ansehen und uns nachblicken und miteinander flüstern. Und wie die drei Arm in Arm gehen und ich allein hinter ihnen drein, folge ich diesen Blicken und frage mich, ob meiner Mutter Gang wirklich nicht mehr so leicht ist und ob das heitere Glück ihrer Schönheit nicht schon ganz trüb geworden. Ich frage mich, ob die Nachbarn wohl auch daran denken, wie wir beide früher nach Hause gingen, und ich zerbreche mir den Kopf darüber den ganzen langsam sich hinschleppenden trüben Tag.

Von Zeit zu Zeit war davon die Rede gewesen, mich in eine Kostschule zu schicken. Mr. und Miss Murdstone hatten es angeregt, und meine Mutter hatte natürlich beigestimmt. Nichtsdestoweniger kam es vorläufig noch nicht dazu. Vorläufig hatte ich zu Hause Lehrstunden.

Werde ich diesen Unterricht wohl je vergessen? Dem Namen nach stand ihm meine Mutter vor, in Wirklichkeit aber Mr. Murdstone und seine Schwester, die immer zugegen waren und darin eine günstige Gelegenheit sahen, meiner Mutter Lektionen in der Festigkeit zu erteilen, die unser beider Leben vergiftete.

Ich glaube, nur das war der Grund, weshalb ich vorläufig zu Hause behalten wurde. Ich hatte gut und willig gelernt, als meine Mutter und ich noch allein miteinander lebten. Ich kann mich noch undeutlich erinnern, wie ich auf ihrem Schoß das Alphabet lernte. Noch heute, wenn ich auf die fetten, schwarzen Buchstaben in einer Fibel sehe, tritt mir die verwirrende Neuheit ihrer Gestalten und die behäbige Gemütlichkeit des »O, Q und S« ganz so vor die Augen wie damals. Aber sie erinnern mich an kein Gefühl des Widerwillens oder des Ekels. Im Gegenteil, es ist mir, als ob ich auf einem Blumenpfad bis zum Krokodilbuch gewandelt sei, und als ob mich die sanfte Weise und Stimme meiner Mutter auf dem ganzen Wege gestärkt hätten.

Aber der feierliche Unterricht, der später kam, steht vor mir, wie der Tod meines Seelenfriedens, wie eine tägliche, jämmerliche Plage und kummervolles Elend.

Die Lektionen waren sehr lang, sehr zahlreich, sehr schwer – einige vollkommen unverständlich für mich – und verwirrten mich meistens ebenso sehr, wie vermutlich meine Mutter.

Ich will einmal in der Erinnerung so einen Morgen durchgehen:

Ich trete nach dem Frühstück mit meinen Büchern, einem Schreibheft und einer Schiefertafel ein. Meine Mutter sitzt an ihrem Schreibtisch und ist bereit für mich, aber nicht halb so bereit wie Mr. Murdstone in seinem Lehnstuhl am Fenster (wenn er auch vorgibt, ein Buch zu lesen) oder wie Miss Murdstone, die in der Nähe meiner Mutter sitzt und Stahlperlen aufreiht.

Der bloße Anblick der beiden wirkt auf mich, daß ich merke, wie die Worte, die ich mir mit so unendlicher Mühe eingeprägt habe, mir alle entfallen und gehen, ich weiß nicht wohin. Nebenbei gesagt, möchte ich übrigens wirklich gerne wissen, wo sie eigentlich hingehen.

Ich reiche das erste Buch meiner Mutter. Es ist eine Grammatik, vielleicht ein Geschichts- oder Geographiebuch. Ich werfe noch einen letzten Blick auf die Seite, wie ein Ertrinkender, während ich ihr das Buch hinhalte, und fange an im Galopp aufzusagen, um fertig zu werden, solange ich noch alles frisch im Kopfe habe.

Ich stocke bei einem Wort, Mr. Murdstone blickt auf.

Ich werde rot, werfe ein halbes Dutzend Worte verwirrt durcheinander und bleibe stecken. Ich fühle, meine Mutter würde mir das Buch zeigen, wenn sie es wagte, aber sie wagt es nicht und sagt sanft:

»O Davy, Davy!«

»Klara«, sagt Mr. Murdstone, »sei fest mit dem Jungen. Sag nicht Davy, Davy! Das ist kindisch. Entweder kann er seine Lektion oder er kann sie nicht.«

»Er kann sie nicht«, fällt Miss Murdstone mit grauenerregendem Nachdruck ein.

»Ich fürchte wirklich, er kann sie nicht«, sagt meine Mutter.

»Nun dann, Klara«, erwidert Miss Murdstone, »solltest du ihm das Buch zurückgeben und ihm das sagen.«

»Ja, gewiß«, stimmt meine Mutter bei. »Das wollte ich tun, liebe Jane. Also Davy, versuch es noch einmal und mach es gut.«

Ich gehorche dem ersten Teil der Ermahnung und versuche es noch einmal; mit dem zweiten Teil bin ich nicht so glücklich, denn ich mache es sehr schlecht. Ich bleibe stecken, früher noch als vorhin, an einer Stelle, die ich eben noch gut kannte, und halte inne, um nachzudenken. Aber ich kann nicht an die Aufgabe denken, ich muß daran denken, wie viel Ellen Spitzen auf Miss Murdstones Haube sein mögen oder was Mr. Murdstones Schlafrock gekostet oder an andere alberne Dinge, die mich nichts angehen! Mr. Murdstone macht die ungeduldige Bewegung, die ich schon lange erwartet habe. Miss Murdstone tut dasselbe. Meine Mutter blickt unterwürfig nach ihnen hin, klappt das Buch zu und legt es beiseite als einen Rückstand, der nachgeholt werden muß, wenn die andern Aufgaben beendet sind.

Bald liegt ein ganzer Stoß solcher Rückstände da und wächst an wie eine Lawine. Je höher er wird, um so vernagelter werde ich. Der Fall ist so hoffnungslos, daß ich das Gefühl habe, in einem tiefen Sumpf von Unsinn herumzuwaten, und jeden Gedanken wieder herauszubekommen aufgebe und mich meinem Schicksal überlasse. Die verzweifelte Angst, mit der meine Mutter und ich einander ansehen, ist wirklich trübsinnig. Aber der Hauptschlag kommt, wenn meine Mutter sich unbeobachtet glaubt und mir das Stichwort durch eine Bewegung der Lippen zu verraten sucht. In diesem Augenblick sagt Miss Murdstone, die bloß darauf gewartet hat, mit tiefer warnender Stimme:

»Klara!«

Meine Mutter fährt zusammen, wechselt die Farbe und lächelt schüchtern. Mr. Murdstone steht von seinem Stuhl auf, wirft mir das Buch an den Kopf oder schlägt es mir um die Ohren und schiebt mich bei den Schultern zur Tür hinaus.

Wenn die Stunden aus sind, kommt erst das Schlimmste in Gestalt eines entsetzlichen Rechenexempels. Das ist für mich besonders erfunden und wird mir durch Mr. Murdstone mündlich überliefert. Es fängt an:

»Wenn ich in einen Käseladen gehe und kaufe fünftausend doppelte Gloucesterkäse zu vier und einem halben Penny – augenblicklich zahlbar« – Miss Murdstones Züge werden überglücklich bei dieser Wendung – und so weiter und so weiter. Bis Mittag brüte ich über diesen Käsen ohne Resultat oder Erleuchtung, und wenn ich dann durch Abwischen der mit Schiefer beschmutzten Finger an meinem schweißtriefenden Gesicht einen Mulatten aus mir gemacht habe, bekomme ich ein Stückchen Brot ohne Butter zu meinen Käsen und bin für den Abend in Ungnade gefallen.

Nach so vielen Jahren scheint es mir, als ob meine unglücklichen Studien immer denselben Verlauf genommen hätten. Ich wäre sehr gut vorwärtsgekommen ohne die Murdstones, aber ihr Einfluß auf mich war wie der bannende Blick, den zwei Schlangen auf einen armen kleinen Vogel richten.

Selbst wenn ich ziemlich gut durch die Morgenarbeiten kam, hatte ich nicht viel mehr gewonnen als die freie Zeit des Mittagessens, denn Miss Murdstone konnte mich nie unbeschäftigt sehen; und wenn ich unvorsichtigerweise merken ließ, daß ich gerade nichts zu tun hatte, so lenkte sie ihres Bruders Aufmerksamkeit auf mich, indem sie sagte: »Liebe Klara, es geht nichts über die Arbeit, – gib deinem Jungen etwas auf.« Und das hatte stets zur Folge, daß ich sofort über eine neue Arbeit geduckt wurde. Von Zerstreuungen mit andern Kindern meines Alters war kaum die Rede, denn dem finstern Puritanismus der Murdstones erschienen alle Kinder wie eine Brut kleiner Vipern. Als ob niemals ein Kind in die Mitte der Jünger gestellt worden wäre!

Die natürliche Folge dieser vielleicht sechs Monate oder noch länger fortgesetzten Behandlungsweise war, daß ich ganz stumpf, verstockt und schwer von Begriffen wurde. Nicht wenig trug dazu bei, daß ich mich täglich mehr meiner Mutter entfremdet fühlte. Ich glaube, wenn mir nicht ein glücklicher Umstand geholfen hätte, ich wäre blödsinnig geworden.

Und das war folgender. Mein Vater hatte eine kleine Büchersammlung in einer Dachstube neben meinem Schlafraum, um die sich niemand kümmerte, hinterlassen. Aus diesem gesegneten kleinen Stübchen kamen Roderick Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, der Landprediger von Wakefield, Don Quichote, Gil Blas und Robinson Crusoe – eine glorreiche Schar – zu mir, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie erhielten meine Phantasie lebendig – und meine Hoffnung auf etwas über diesen Ort und diese Zeit hinaus; sie und Tausendundeine Nacht und die persischen Märchen brachten mir keinen Schaden, denn was in einigen von ihnen Schädliches sein mochte, war für mich nicht da; ich verstand nichts davon. Es ist mir nur unbegreiflich, woher ich inmitten meines Hockens und Brütens über schwierigere Themen die Zeit nahm, alle diese Bücher zu lesen. Es ist mir jetzt wunderbar, wie es für mich in meinen kleinen und doch so großen Leiden tröstlich sein konnte, daß ich die Rollen meiner Lieblingscharaktere in diesen Geschichten auf mich übertrug und Mr. und Miss Murdstone mit allen schlechten bedachte. Eine ganze Woche lang war ich Tom Jones in Kindergestalt. Die Rolle Roderick Randoms habe ich wohl einen Monat lang gespielt.

Ich fraß förmlich ein paar Bände Reisebeschreibungen, ich weiß nicht mehr, welche, und tagelang bin ich in der obern Region des Hauses heimlich umhergestreift, bewaffnet mit dem Mittelstück eines alten Stiefelholzes, als Kapitän Soundso von der königlich britischen Flotte, der von Wilden bedroht war und sein Leben so teuer wie möglich verkaufen wollte. Niemals verlor der Kapitän seine Würde, wenn ihm die lateinische Grammatik um die Ohren geschlagen wurde. Ich litt wohl darunter, der Kapitän aber blieb Kapitän und ein Held trotz aller Grammatiken, aller lebenden und toten Sprachen.

Das bildete meinen einzigen und beständigen Trost. Wenn ich daran denke, steht mir ein Sommerabend vor Augen, wo die Kinder draußen auf dem Kirchhof spielten und ich auf dem Bette saß und auf Tod und Leben draufloslas. Jede Scheune in der Nachbarschaft, jeder Stein in der Kirche, jeder Fußbreit des Friedhofs standen in meiner Seele in Verbindung mit diesen Büchern und vertraten die Stelle eines in ihnen berühmt gewordnen Ortes. Ich habe gesehen, wie Tom Pipes den Kirchturm hinaufkletterte, habe Strab mit dem Schnappsack auf dem Rücken beobachtet, wie er an der Gitterpforte am Zaun ausruhte, und ich weiß, daß Commodore Trunnion seine Klubsitzung mit Mr. Pickle in der Gaststube unserer kleinen Dorfschenke abhielt. So war ich damals geartet, als das Ereignis eintrat, von dem ich jetzt berichten will.

Eines Morgens, als ich mit meinen Büchern in das Wohnzimmer trat, bemerkte ich, daß meine Mutter sehr ängstlich aussah und Miss Murdstone sehr fest, während Mr. Murdstone etwas um das untere Ende eines Rohrstockes wickelte. Es war ein geschmeidiges und schächtiges Rohr, das er in der Hand wippte und durch die Luft sausen ließ, als ich hereinkam.

»Ich sage dir doch, Klara«, bemerkte Mr. Murdstone, »ich selbst bin oft durchgehauen worden.«

»Gewiß, selbstverständlich«, sagte Miss Murdstone.

»Gewiß, liebe Jane«, stammelte meine Mutter demütig. »Aber – aber meinst du, daß es Edward gutgetan hat?«

»Glaubst du, daß es Edward geschadet hat, Klara?« fragte Mr. Murdstone ernst.

»Das ist der springende Punkt«, sagte seine Schwester.

»Gewiß, liebe Jane«, weiter sagte meine Mutter nichts mehr.

Mich beschlich das Gefühl, daß sich das Zwiegespräch auf mich bezöge. Und ich suchte und begegnete Mr. Murdstones Blick.

»Nun, David?« sagte er und sein Auge blitzte. »Du mußt dich heute viel mehr in acht nehmen als gewöhnlich.« Er hieb weiter mit dem Rohr durch die Luft, und nachdem er diese Vorbereitung beendigt hatte, legte er es mit ausdrucksvollem Blick neben sich hin und nahm ein Buch zur Hand.

Nur für den Beginn war dies eine gute Auffrischung meiner Geistesgegenwart. Dann fühlte ich, wie die Worte mir beim Aufsagen entschwanden, nicht einzeln oder zeilenweise, sondern gleich ganze Seiten lang. Ich versuchte meine Gedanken wieder einzufangen, aber es war, als ob sie Schlittschuhe anhätten und mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit wegglitten.

Wir fingen schlecht an und fuhren noch schlechter fort. Ich war hereingekommen mit dem Bewußtsein, daß ich mich heute sogar auszeichnen würde, denn ich glaubte recht gut vorbereitet zu sein, aber es stellte sich als vollständiger Irrtum heraus. Ein Buch nach dem andern vermehrte den Haufen der Rückstände, und Miss Murdstone wandte die ganze Zeit über den Blick nicht von uns. Und als wir endlich zu den fünftausend Käsen kamen, – er machte an diesem Tage Rohrstöcke daraus –, fing meine Mutter zu weinen an.

»Klara!« sagte Miss Murdstone mit warnender Stimme.

»Ich fühle mich nicht ganz wohl, meine liebe Jane, glaube ich«, sagte meine Mutter.

Ich sah Mr. Murdstone feierlich seiner Schwester zuwinken, als er aufstand, das Rohr nahm und sagte:

»Nun, Jane, wir können kaum erwarten, daß Klara mit unerschütterlicher Festigkeit den Ärger und die Qual trägt, die David ihr heute verursacht hat. Das würde stoisch sein. Klara hat sich sehr gefestigt und ist viel stärker geworden, aber wir können kaum so viel von ihr erwarten. David, wir wollen jetzt beide hinaufgehen.«

Als er mich aus der Türe zog, rannte meine Mutter auf uns zu. Miss Murdstone sagte: »Klara! Bist du denn ganz närrisch!« und trat dazwischen. Ich sah, wie sich meine Mutter die Ohren zuhielt, und hörte sie weinen.

Er führte mich in mein Zimmer, langsam und feierlich; ich weiß bestimmt, es machte ihm Freude, die Exekution so förmlich zu gestalten – und als wir oben angekommen waren, klemmte er plötzlich meinen Kopf unter seinen Arm.

»Mr. Murdstone! Sir!« schrie ich auf. »O bitte, schlagen Sie mich nicht. Ich habe mir solche Mühe beim Lernen gegeben, Sir, aber ich kann es nicht aufsagen, wenn Sie und Miss Murdstone dabei sind. Ich kann es wirklich nicht!«

»Kannst du wirklich nicht, David?« fragte er. »Wir wollens mal versuchen.«

Er hielt meinen Kopf fest wie in einem Schraubstock. Aber ich entwand mich doch noch, und es gelang mir, ihn einen Augenblick aufzuhalten. Nur einen Augenblick, denn gleich darauf versetzte er mir einen heftigen Schlag. In demselben Augenblick erhaschte ich seine Hand mit meinem Mund und biß sie durch und durch. Es zuckt mir jetzt noch in den Zähnen, wenn ich daran denke.

Er schlug mich dann, als ob er mich totpeitschen wollte. Durch all den Lärm, den wir machten, hörte ich die andern die Treppe heraufrennen und aufschreien – ich hörte meine Mutter aufschreien – und Peggotty. Dann war er fort, und die Tür war von außen verschlossen. Und ich lag fieberheiß und zerrissen und wund auf dem Boden und raste in ohnmächtiger Wut.

Ich weiß mich gut zu erinnern, welch unnatürliche Stille im ganzen Haus herrschte, als ich wieder ruhig wurde. Ich kann mich gut entsinnen, als Schmerz und Leidenschaft sich legten, wie schlecht ich mir vorkam.

Ich saß lange Zeit lauschend da, aber es war kein Laut zu vernehmen. Ich raffte mich vom Boden auf und sah mein Gesicht im Spiegel so verschwollen und entstellt, daß ich mich entsetzte. Die Striemen waren wund und hart, und ich mußte aufschreien, wenn ich mich rührte. Aber sie waren nichts gegen mein Schuldbewußtsein. Es lastete schwer auf meiner Brust, wie wenn ich der schlimmste Verbrecher gewesen wäre.

Es fing an zu dunkeln, und ich machte das Fenster zu, – ich hatte die ganze Zeit über mit dem Kopf auf dem Fensterbrett gelegen und abwechselnd geweint, halb geschlafen oder gedankenlos hinausgesehen, – als sich der Schlüssel herumdrehte und Miss Murdstone mit Brot, Fleisch und Milch hereintrat. Ohne ein Wort zu sprechen, setzte sie es auf den Tisch und starrte mich währenddessen ununterbrochen mit größter Festigkeit an, entfernte sich dann und schloß die Türe hinter sich zu.

Noch lange saß ich im Dunkeln da und grübelte, ob sonst noch jemand kommen werde. Als das für diesen Abend unwahrscheinlich wurde, zog ich mich aus und ging zu Bett und fing an, mich furchtsam zu fragen, was jetzt wohl mit mir geschehen würde. War es ein Verbrechen, das ich begangen hatte? Würde man mich verhaften und ins Gefängnis stecken, mich am Ende gar hängen?!

Ich werde nie das Erwachen am nächsten Morgen vergessen: Im ersten Augenblick froh und heiter, war ich plötzlich durch die erwachende Erinnerung wie niedergeschmettert. Miss Murdstone erschien wieder, ehe ich mich erhob, sagte mir mit kurzen Worten, daß ich eine halbe Stunde, aber nicht länger, spazierengehen dürfte, und verschwand. Sie ließ diesmal die Türe offen, damit ich von der Erlaubnis Gebrauch machen könnte.

Ich tat es und jeden folgenden Morgen meiner Gefangenschaft, die fünf Tage dauerte. Wenn ich meine Mutter allein hätte sehen können, wäre ich vor ihr auf die Knie gefallen und hätte sie um Verzeihung gebeten, aber ich bekam niemand zu Gesicht, außer Miss Murdstone. Eine Ausnahme bildete nur die Zeit des Abendgebetes in der Wohnstube; dorthin führte mich Miss Murdstone, und ich mußte wie ein junger Sträfling an der Tür stehen bleiben, während alle ihre Plätze einnahmen; und ehe sie sich erhoben, führte mich meine Kerkermeisterin mit großer Feierlichkeit wieder ins Gefängnis. Ich bemerkte, daß meine Mutter, am allerweitesten von mir entfernt, ihr Gesicht von mir abgewandt hielt, und daß Mr. Murdstones Hand mit einem großen leinenen Tuch verbunden war.

Wie entsetzlich lang mir diese fünf Tage wurden, kann ich nicht beschreiben. Sie nehmen in meiner Erinnerung den Raum von Jahren ein. Die Spannung, mit der ich allen Vorkommnissen im Hause lauschte, das Klingeln, das Öffnen und Schließen von Türen, das Murmeln von Stimmen, die Schritte auf den Treppen, das Lachen, Pfeifen und Singen draußen, das mir in meiner Einsamkeit und Verstoßenheit furchtbarer erschien, als alles andere, das ungewisse Schleichen der Stunden, besonders des Nachts, wenn ich in dem Glauben aufwachte, es sei schon Morgen, während die Familie noch nicht zu Bett gegangen war und ich noch die ganze lange Nacht vor mir hatte, – die quälenden Träume mit ihrem Alpdrücken, – die Wiederkehr von Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend, wo die Jungen draußen auf dem Kirchhof spielten, und ich sie vom Hintergrund des Zimmers aus beobachtete, weil ich mich schämte, mich wie ein Gefangener am Fenster zu zeigen, – das fremdartige Gefühl, daß ich mich nie sprechen hörte, – die flüchtigen Pausen schnell entschwindender Erleichterung, die mit dem Essen und Trinken kam und wieder ging, der Regen eines Abends mit seinem frischen Duft, wie er immer dichter und dichter wurde zwischen mir und der Kirche, bis er und die hereinbrechende Nacht mich in einer Finsternis von Furcht und Reue zu ersticken drohten, – alles das scheint Jahre statt Tage gedauert zu haben, so lebendig und tief hat es sich mir eingeprägt.

In der letzten Nacht meiner Haft wachte ich auf und hörte meinen Namen flüstern. Ich richtete mich im Bett auf, breitete meine Arme im Dunkeln aus und fragte:

»Bist dus, Peggotty?«

Es kam nicht sogleich eine Antwort. Aber nicht lange darauf hörte ich wieder meinen Namen in einem so geheimnisvollen und schaurigen Ton, daß ich vor Schrecken wahrscheinlich ohnmächtig geworden wäre, hätte ich nicht plötzlich begriffen, daß er durch das Schlüsselloch kommen müsse. Ich tappte mich zur Tür, legte den Mund an das Schlüsselloch und flüsterte:

»Bist dus, liebe Peggotty?«

»Ja, mein einziger lieber Davy. Sei so leise wie eine Maus, sonst hört uns die Katze.«

Ich verstand sogleich, daß Miss Murdstone gemeint war, und fühlte die Notwendigkeit der Vorsicht, denn ihr Zimmer stieß dicht an meines.

»Was macht Mama, liebe Peggotty? Ist sie sehr böse auf mich?«

Ich konnte hören, daß Peggotty leise vor der Tür weinte, – wie ich, ehe sie antworten konnte:

»Nein, nicht sehr.«

»Was wird mit mir geschehen, liebe Peggotty? Weißt du es?«

»Schule. Bei London«, war Peggottys Antwort. Sie mußte es noch einmal wiederholen, denn sie hatte es das erstemal in meinen Hals hineingesprochen, weil ich vergaß, den Mund vom Schlüsselloch wegzunehmen und das Ohr daranzulegen. Ihre Worte kitzelten mich sehr, aber verstehen konnte ich sie nicht.

»Wann, Peggotty?«

»Morgen.«

»Hat deshalb Miss Murdstone meine Kleider aus der Kommode genommen?«

»Ja«, sagte Peggotty. »Koffer.«

»Werde ich Mama nicht mehr wiedersehen?«

»Ja«, sagte Peggotty. »Morgen früh.« Dann legte sie ihre Lippen dicht an das Schloß und sprach die folgenden Worte so gefühlvoll und innig, wie sie wohl nie durch ein Schlüsselloch mitgeteilt worden sind, und stieß jeden Satz abgebrochen mit einem krampfhaften kleinen Ruck hervor:

»Lieber Davy, – wenn ich jetzt nicht ganz so herzlich – mit dir bin, wie früher, – so ists nicht, weil ich dich nicht – sehr und noch mehr liebe, mein liebes Herzenspüppchen, – sondern bloß weil ich glaube, es ist besser für dich – und für jemand anders. Davy, mein Liebling, hörst du mich? Kannst du hören?«

»Ja-a-a-a, Peggotty«, schluchzte ich.

»Du mein Herzenskind«, flüsterte Peggotty mit unendlichem Mitleid. »Ich will dir nur sagen, du darfst mich niemals vergessen. Auch ich will dich niemals vergessen. Und ich will deine Mama, Davy, so in acht nehmen, wie ich dich in acht genommen habe. Und ich werde sie nie verlassen. Der Tag wird noch kommen, wo sie gern ihren armen Kopf ihrer dummen, mürrischen, alten Peggotty wieder auf den Arm legen wird. Ich werde dir schreiben, mein Liebling. Wenn ich auch kein Gelehrter bin, und ich will – ich will –« Peggotty fing an, das Schlüsselloch zu küssen, da sie mich nicht küssen konnte.

»Ich danke dir, meine liebe Peggotty«, sagte ich. »Ich danke, danke dir. Willst du mir nur eins versprechen, Peggotty? Wirst du Mr. Peggotty und der kleinen Emly und Mrs. Gummidge und Ham sagen, daß ich nicht so schlecht bin, wie sie vielleicht denken, und daß ich sie alle von Herzen grüßen lasse, besonders die kleine Emly? Willst du so gut sein, Peggotty?«

Die gute Seele versprach mirs, und wir küßten beide das Schlüsselloch mit der größten Zärtlichkeit, – ich streichelte es mit der Hand, entsinne ich mich noch, als ob es ihr ehrliches Gesicht gewesen wäre, – und trennten uns. Seit dieser Nacht wuchs in mir ein Gefühl für Peggotty, das ich nicht recht beschreiben kann. Sie ersetzte mir nicht meine Mutter, niemand hätte das können, aber sie füllte eine Leere in meinem Herzen aus, die sich über ihr schloß, und ich fühlte etwas für sie, was ich nie für ein anderes menschliches Wesen empfunden habe. Es mischte sich das Gefühl des Komischen wohl unter meine Zärtlichkeit, und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, wie ich den Schmerz ertragen hätte, wenn sie gestorben wäre.

Frühmorgens erschien Miss Murdstone wie gewöhnlich und sagte mir, daß ich in die Schule geschickt würde, was mich durchaus nicht so überraschte, wie sie wohl angenommen hatte. Sie sagte mir auch, daß ich hinunterkommen sollte in die Wohnstube zum Frühstück. Dort fand ich meine Mutter sehr blaß und mit roten Augen. Ich lief ihr in die Arme und bat sie aus tiefbewegter Seele um Verzeihung.

»O Davy!« sagte sie, »daß du jemand weh tun konntest, den ich liebe. Versuche dich zu bessern, bete darum, daß du besser werdest. Ich verzeihe dir, aber ich bin voll Kummer, Davy, daß du ein so böses Herz hast.«

Sie hatten ihr eingeredet, daß ich ein verworfenes Geschöpf wäre, und das schmerzte sie mehr als mein Fortgehen. Auf mich machte es einen tiefen Eindruck.

Ich versuchte mein Abschiedsfrühstück zu essen, aber die Tränen tröpfelten auf mein Butterbrot und in meinen Tee.

Ich sah, wie meine Mutter mich von Zeit zu Zeit anblickte und dann auf Miss Murdstone sah und die Augen niederschlug oder wegschaute.

»Ist Master Copperfields Koffer da?« fragte Miss Murdstone, als draußen der Wagen vorfuhr. Ich sah mich nach Peggotty um, aber weder sie noch Mr. Murdstone erschien. Mein alter Bekannter, der Fuhrmann, stand an der Tür, nahm den Koffer und hob ihn auf den Wagen.

»Klara!« sagte Miss Murdstone in warnendem Ton.

»Ich bin bereit, liebe Jane«, sagte meine Mutter. »Leb wohl, Davy, du gehst zu deinem eignen Besten. Leb wohl, mein Kind, du wirst in den Feiertagen nach Hause kommen und ein besserer Junge sein.«

»Klara!« wiederholte Miss Murdstone.

»Gewiß, meine liebe Jane«, antwortete meine Mutter und hielt meine Hand noch immer fest. »Ich verzeihe dir, mein lieber Junge. Gott segne dich!«

»Klara!« wiederholte Miss Murdstone. Sie hatte die Güte, mich zum Wagen zu führen und mir unterwegs zu sagen, sie hoffe, ich würde in mich gehen, ehe es ein schlimmes Ende mit mir nähme, und dann stieg ich in den Wagen und das faule Pferd trottete mit mir davon.

20. Kapitel Bei Steerforth


20. Kapitel Bei Steerforth

Als das Stubenmädchen früh um acht Uhr an meine Tür klopfte, hereinkam und mir meldete, daß draußen warmes Wasser zum Rasieren für mich bereit stehe, empfand ich es schmerzlich, daß ich dessen nicht bedurfte und errötete darüber im Bett.

Der Argwohn, das Mädchen könnte darüber gelacht haben, quälte mich die ganze Zeit über beim Anziehen und verlieh mir ein scheues, schuldbewußtes Aussehen, als sie auf dem Weg zum Frühstück mir auf der Treppe begegnete. Ich war mir meiner Jugend so unangenehm bewußt, daß ich mich gar nicht entschließen konnte, unter so demütigenden Umständen an ihr vorüberzugehen, sondern, während sie unten kehrte, am Fenster stehenblieb und so lang durch ein Fenster die Reiterstatue König Karls, umgeben von einem Labyrinth von Fiakern und in dem feinen Regen und dunkelbraunen Nebel nichts weniger als majestätisch aussehend, betrachtete, bis mir der Kellner meldete, der Herr warte mit dem Frühstück auf mich.

Steerforth empfing mich nicht im Gastzimmer, sondern in einem hübschen separaten Zimmer mit roten Vorhängen und türkischen Teppichen, wo ein helles Feuer brannte und ein warmes Frühstück auf dem sauber gedeckten Tisch stand. Ein niedliches Miniaturbild des Zimmers, des Feuers, des Frühstücks und Steerforths und alles übrigen malte sich in dem kleinen runden Spiegel über dem Seitentische ab. Ich war ein wenig befangen am Anfang, weil Steerforth so selbstbewußt und elegant war und mir nicht nur an Jahren überlegen. Sein gefälliges, ungezwungnes Benehmen brachte jedoch bald alles ins Gleichgewicht, und ich fühlte mich wie zu Hause. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, wie sehr sich das »Goldne Kreuz« – verglichen gegen gestern verwandelt hatte.

Die Familiarität des Kellners war verschwunden, als sei sie niemals dagewesen. Er bediente uns sozusagen in Sack und Asche.

»Nun, Copperfield?« fragte Steerforth, als wir allein waren. »Was treibst du eigentlich, welches Ziel hast du – und so weiter. Ich weiß nicht, es kommt mir vor, als ob du mein Eigentum wärst.«

Glühend vor Vergnügen, daß er noch so viel Teilnahme an mir nahm, erzählte ich ihm, daß meine Tante mich zu dieser kleinen Reise veranlaßt habe, und daß Yarmouth mein Ziel sei.

»Da du also keine Eile hast«, sagte Steerforth, »so komm doch mit zu meiner Mutter nach Highgate und bleib ein oder zwei Tage bei uns. Meine Mutter wird dir gefallen, – sie ist ein bißchen eingebildet auf mich und spricht viel von mir, aber das darfst du ihr nicht übelnehmen. Und du wirst ihr auch gefallen.«

»Ich wollte, es wäre so, wie du sagst«, erwiderte ich lächelnd.

»O«, sagte Steerforth, »wer mich gern hat, hat ein Anrecht auch an sie und findet sicher Anerkennung.«

»Dann werde ich bei ihr allerdings in besonderer Gunst stehen«, sagte ich.

»Gut, komm und beweise es. Wir wollen uns ein paar Stunden in der Stadt umsehen. Es ist ordentlich eine Freude, sie einem Grünschnabel wie dir, Copperfield, zeigen zu können. Und dann fahren wir mit dem Wagen nach Highgate.«

Ich konnte mir nur mit Mühe klarmachen, daß ich nicht träumte und nicht sogleich in Nummer 44 oder in der Box im Gastzimmer bei dem familiären Kellner aufwachen würde.

Nachdem ich an meine Tante über das glückliche Zusammentreffen mit meinem vielbewunderten Schulkameraden und die Einladung geschrieben, fuhren wir in einem Fiaker aus, und ich bewunderte das Panorama, das Museum und andre Sehenswürdigkeiten. Ich konnte dabei nicht umhin, zu bemerken, wie viel Steerforth über alle möglichen Dinge wußte, und wie gering er solches Wissen anzuschlagen schien.

»Du wirst dir gewiß einen hohen akademischen Rang erwerben, Steerforth«, sagte ich, »wenn du ihn nicht schon besitzt. Sie müssen sehr stolz auf dich sein.«

»Ich einen Rang erwerben?« rief Steerforth. »Ich nicht, mein liebes Gänseblümchen. Du nimmst es doch nicht übel, wenn ich dich Daisy nenne?«

»Durchaus nicht«, sagte ich.

»Bist doch ein guter Junge! Mein liebes Gänseblümchen also, ich wünsche und beabsichtige nicht im mindesten, mich in dieser Hinsicht auszuzeichnen. Für meine Zwecke habe ich schon genug gelernt. Ich komme mir selber schon so ziemlich fad vor.«

»Aber der Ruhm –« fing ich an.

»Du romantisches Gänseblümchen«, sagte Steerforth und lachte noch herzlicher. »Soll ich mich vielleicht plagen, damit ein Dutzend dickköpfiger Kerle den Mund aufsperren und verwundert die Hände zusammenschlagen. Das mögen sie meinetwegen bei jemand anders tun.«

Ich war ordentlich beschämt, daß ich so fehlgegriffen hatte, und bemühte mich, die Rede auf etwas andres zu bringen. Das war zum Glück nicht schwer, denn Steerforth konnte immer mit einer ihm eignen Leichtigkeit und Gewandtheit von einem Gegenstand zum andern übergehen.

Während unserer Umschau in der Stadt nahmen wir den Lunch ein, und der kurze Wintertag verging so schnell, daß wir erst in der Dämmerung an einem alten steinernen Haus in Highgate oben auf der Höhe hielten.

Eine ältere Dame, wenn auch noch nicht sehr bei Jahren, von stolzer Haltung und mit schönen Zügen, stand in der Tür, als wir ausstiegen, und schloß Steerforth mit der Begrüßung: »Mein liebster James!« in die Arme.

Diese Dame wurde mir als Mrs. Steerforth vorgestellt, und sie bewillkommnete mich mit großer Freundlichkeit.

Das Haus war ein vornehmes, altmodisches Gebäude, sehr still und wohlgehalten. Von den Fenstern meines Zimmers aus sah ich in der Ferne London liegen wie eine große Dunstwolke, durch die hie und da die Lichter funkelten.

Während des Umziehens fand ich Gelegenheit, einen Blick auf die soliden Möbel, die eingerahmten Stickereien – wahrscheinlich Jugendarbeiten von Steerforths Mutter – und ein paar Kreidezeichnungen, Damen mit gepudertem Haar im Reifrock darstellend, zu werfen, die an den Wänden sichtbar wurden und wieder verschwanden, wenn das frisch angezündete Feuer aufflackerte. Dann rief man mich zu Tisch.

Im Speisezimmer war noch eine zweite Dame anwesend von kleinerm Wuchs, dunklem Teint und nicht sehr angenehmem Äußern, wenn sie auch durchaus nicht häßlich war. Sie zog meine Aufmerksamkeit auf sich, vielleicht weil ich nicht erwartet hatte, sie zu sehen, vielleicht weil ich ihr gegenübersaß, vielleicht auch, weil etwas Bemerkenswertes an ihr war.

Sie hatte schwarzes Haar, lebhafte schwarze Augen und eine Narbe auf der Lippe. Es war eine alte Narbe, eher ein schmaler weißer Strich quer über die Lippen bis herunter zum Kinn. In mir setzte sich sofort die Vorstellung fest, daß die Dame dreißig Jahre alt sei und sich einen Mann wünschte. Sie sah ein wenig verfallen aus, – wie ein Haus, das lange nicht bewohnt gewesen ist, doch hatte sie, wie schon gesagt, kein gerade häßliches Äußere. Ihre Hagerkeit schien die Folge eines verzehrenden Feuers in ihrem Innern zu sein, das sich noch deutlicher in ihren dunklen Augen offenbarte.

Sie wurde als Miss Dartle vorgestellt, und Steerforth und seine Mutter nannten sie Rosa. Ich erfuhr, daß sie im Hause wohnte und seit langem Mrs. Steerforths Gesellschafterin war. Sie sagte niemals etwas grade heraus, sondern deutete es immer bloß an und ließ es dadurch meist viel wichtiger erscheinen, als es in Wirklichkeit war. Als zum Beispiel Mrs. Steerforth bei Gelegenheit und mehr im Scherz als im Ernst die Befürchtung fallenließ, ihr Sohn lebe an der Universität etwas allzu flott, sagte Miss Dartle:

»O wirklich? Du weißt, wie wenig ich das kenne, und daß ich bloß frage, um mich belehren zu lassen. Aber ist das nicht immer so? Ich habe immer geglaubt, das Leben auf der Universität sei immer – nicht?«

»Es ist die Vorbereitung zu einer sehr ernsten Laufbahn, wenn du das meinst, Rosa«, antwortete Mrs. Steerforth ein wenig kühl.

»O ja. Das ist sehr wahr«, entgegnete Miss Dartle. »Aber ist es bei alledem nicht –? Ich lasse mich gern belehren, wenn ich unrecht habe. Ist es wirklich nicht –?«

»Was soll es denn wirklich sein«, fragte Mrs. Steerforth.

»O, wenn du meinst, so ist es also nicht –«, erwiderte Miss Dartle. »O, es freut mich, das zu hören. Nun weiß ich, was ich zu tun habe. Das ist der Vorteil des Fragens. Ich werde nie mehr zugeben, daß die Leute das Universitätsleben verschwenderisch und liederlich nennen.«

»Da tust du sehr recht«, sagte Mrs. Steerforth. »Der Erzieher meines Sohnes ist ein gewissenhafter Herr, und wenn ich mich nicht schon unbedingt auf James verließe, so könnte ich doch ihm vollständig vertrauen.«

»Wirklich?« sagte Miss Dartle. »O Gott! Gewissenhaft ist er? Wirklich gewissenhaft?«

»Ja, ich bin davon überzeugt«, sagte Mrs. Steerforth.

»Ach, wie reizend! Wie angenehm! Wirklich gewissenhaft? Da ist er also nicht – aber natürlich kann ers ja nicht sein, wenn er wirklich gewissenhaft ist. Ach, ich werde ganz glücklich sein, da ich es jetzt weiß. Du kannst dir gar nicht denken, wie ihn das in meinen Augen hebt, daß er so gewissenhaft ist.«

Miss Dartle gab ihre Ansichten über jede Frage auf diese Weise zu verstehen und manchmal mit großem Nachdruck, auch wenn sie sich im Widerspruch mit Steerforth befand.

Ein Beispiel dieser Art kam noch während des Essens vor. Mrs. Steerforth sprach von meiner beabsichtigten Reise nach Suffolk, und ich sagte zufällig, wie sehr ich mich freuen würde, wenn ihr Sohn mit mir ginge.

Ich erzählte ihnen von meiner alten Kindsfrau und Mr. Peggottys Familie und erinnerte meinen Freund an den Schiffer, den er damals in der Schule gesehen hatte.

»Aha, der rauhe Bursche!« sagte Steerforth. »Er hatte einen Sohn mit, nicht?«

»Nein. Es war sein Neffe«, gab ich zur Antwort, »den er aber als Sohn adoptiert hat. Er hat auch eine sehr hübsche kleine Nichte als Tochter angenommen. Mit einem Wort, sein Haus oder vielmehr sein Boot, denn er wohnt in einem solchen, auf trocknem Land, ist voll von Leuten, die sein Edelmut und seine Güte erhält. Du wirst entzückt sein, diese Häuslichkeit zu sehen.«

»Meinst du«, sagte Steerforth. »Ja, wenn du glaubst. – Wir werden sehen, was sich tun läßt. Es wäre die Reise wert, – gar nicht zu reden von dem Vergnügen, mit dir zu reisen, Daisy, – einmal mitten unter Leuten dieses Schlages zu leben.«

Mein Herz schlug voll Hoffnung auf eine neue Freude. Sein Ton, mit dem er »von Leuten dieses Schlages« gesprochen hatte, veranlaßte jetzt Miss Dartle, deren glänzende Augen uns beobachtet hatten, einzufallen.

»O wirklich? Erzählen Sie. Sind sie wirklich –?«

»Was sollen sie sein, und wer soll was sein?« fragte Steerforth.

»Leute dieses Schlages – sind sie wirklich Stöcke und Klötze und Geschöpfe anderer Art? Darüber möchte ich belehrt sein.«

»Nun es ist ein ziemlich großer Unterschied zwischen ihnen und uns«, sagte Steerforth gleichgültig. »Man kann doch nicht erwarten, daß sie so feinfühlig sind wie wir. Ihr Zartgefühl ist nicht so leicht zu verletzen. Sie sind entsetzlich tugendhaft, glaube ich, wenigstens behaupten das viele Leute, und ich will dem nicht widersprechen. Aber sie sind keine feinen Naturen und können dankbar dafür sein, daß sie wegen ihrer Dickfelligkeit nicht so leicht verwundbar sind.«

»Wirklich?« sagte Miss Dartle. »Nun, ich muß gestehen, es freut mich sehr, so etwas zu hören. Es ist so tröstlich! Es ist eine wahre Wonne, zu wissen, daß sies nicht fühlen, wenn sie leiden. Manchmal habe ich mir ordentlich Kummer gemacht um diese Art Leute. Aber von jetzt an werde ich jeden Gedanken an sie fallenlassen. Man lebt, um zu lernen. Ich gestehe, ich hatte meine Zweifel. Aber jetzt sind sie behoben. Ich wußte es nicht, aber jetzt weiß ich es. Und das beweist, wie nützlich es ist, zu fragen, nicht wahr?«

Ich nahm an, Steerforth habe das, was er sagte, im Scherz gemeint oder um Miss Dartle aufzuziehen, und ich erwartete, er würde es mir sagen, als sie fort waren und wir beide allein am Kamin saßen. Aber er fragte mich bloß, was ich von ihr hielte.

»Sie ist sehr gescheit, nicht wahr?« fragte ich.

»Gescheit! Sie hält alles an einen Schleifstein«, sagte Steerforth »und macht es scharf, wie sie sich und ihr Gesicht seit Jahren scharf gemacht hat. Sie hat sich schon halb aufgebraucht durch beständiges Schärfen. Sie ist ganz Schneide.«

»Was für eine merkwürdige Narbe sie auf der Lippe hat«, sagte ich.

Steerforths Gesicht verfinsterte sich, und er schwieg einen Augenblick. »Hm«, sagte er dann, »an der bin eigentlich ich schuld.«

»Durch einen unglücklichen Zufall?«

»Nein. Ich war noch ein kleiner Junge, und sie brachte mich auf, und ich warf ihr einen Hammer ins Gesicht. Ein vielversprechender junger Engel muß ich gewesen sein.«

Es tat mir sehr leid, ein so peinliches Thema berührt zu haben, aber es ließ sich nicht mehr ändern.

»Sie hat die Narbe seit jener Zeit behalten, wie du siehst«, sagte Steerforth, »und wird sie mit sich ins Grab nehmen, wenn sie je in einem ruht. Ich kann kaum glauben, daß sie überhaupt jemals Ruhe finden wird. Sie war das mutterlose Kind eines Vetters meines Vaters. Als meine Mutter Witwe geworden war, nahm sie sie als Gesellschafterin zu sich. Sie hat ein paar tausend Pfund eigenes Vermögen und legt die Zinsen alljährlich auf das Kapital. Da hast du die Geschichte von Miss Rosa Dartle.«

»Sie liebt dich gewiß wie einen Bruder?« fragte ich.

»Hm«, entgegnete Steerforth und sah ins Feuer. »Manche Brüder werden nicht allzu sehr geliebt und manche lieben – aber schenk dir ein, Copperfield. Wir wollen auf die Gänseblümchen im Tale trinken, dir zu Ehren, – und auf die Lilien auf dem Felde, die nicht säen und nicht ernten, mir zu Ehren und zur Schande.« Das trübe Lächeln, das auf seinem Gesicht gelegen, verschwand, als er diese Worte fröhlich sagte, und er war wieder ganz der alte, offene, gewinnende Steerforth.

Ich mußte mit peinlichem Interesse nochmals die Narbe betrachten, als wir beim Tee saßen. Ich bemerkte bald, daß es der empfindlichste Fleck des Gesichtes der Dame war; daß er sich zuerst veränderte, wenn sie die Farbe wechselte, und in seiner ganzen Länge einen bleifarbigen Streifen darstellte, der wie ein Zeichen mit sympathetischer Tinte geschrieben, wenn man es ans Feuer hält, aussah.

Es entstand ein kleiner Streit zwischen ihr und Steerforth beim Pochbrettspiel. Sie war einen Augenblick ganz wütend, und da wurde der Streif sichtbar wie die Schrift an der Mauer des Königs Belsazar.

Ich wunderte mich natürlich nicht, daß Mrs. Steerforth große Stücke auf ihren Sohn hielt. Sie zeigte mir sein Bild als kleines Kind in einem Medaillon mit einer abgeschnittenen Locke, sie zeigte mir sein Bild aus der Zeit, in der ich ihn zuerst kennengelernt, und trug ihn, wie er jetzt war, auf der Brust. Alle seine Briefe, die er ihr je geschrieben, hatten ihr eignes Schränkchen am Kamin, und sie würde mir gewiß einige zu meiner Freude vorgelesen haben, wenn er sie nicht durch gute Worte von ihrem Vorhaben abgebracht hätte.

»Mein Sohn erzählte mir, Sie wären bei Mr. Creakle mit ihm bekannt geworden«, sagte Mrs. Steerforth, als wir uns beide an einem Tisch unterhielten, während James und Miss Dartle an einem andern ihr Pochbrett spielten. »Ich kann mich noch aus jener Zeit erinnern, daß er mir von einem jungen Schüler erzählte, an dem er Gefallen gefunden hatte, aber wie Sie sich wohl denken können, ist mir Ihr Name entfallen.«

»Er benahm sich damals sehr hochherzig und edel gegen mich, Ma’am«, sagte ich, »und ich hatte einen solchen Freund sehr nötig. Ich wäre ohne ihn zugrunde gegangen.«

»Er ist immer hochherzig und edel«, sagte Mrs. Steerforth mit Stolz.

Ich stimmte mit vollem Herzen ein, Gott weiß es. Sie fühlte das, denn die Steifheit ihres Wesens fing an, etwas nachzulassen, außer wenn sie lobend von ihrem Sohn sprach, wobei sie stets eine stolze Miene aufsetzte.

»Es war eigentlich keine passende Schule für meinen Sohn«, fuhr sie fort. »Durchaus nicht; aber es kamen damals bei der Wahl besondere Umstände in Betracht. Meines Sohnes Feuergeist machte es notwendig, daß er mit einem Mann zusammenkam, der seine Überlegenheit fühlte und sich vor ihm beugte. Und wir fanden dort einen solchen Mann.«

Ich wußte das, da ich den Burschen kannte. Und dennoch verachtete ich ihn deshalb nicht noch mehr, sondern hielt es eher für nen Zug, der manches wiedergutmachte. Überhaupt schien es mir ein Milderungsgrund für Creakle zu sein, daß er einem so unwiderstehlichen Menschen, wie Steerforth war, nicht hatte standhalten können.

»Die großen Fähigkeiten meines Sohnes«, fuhr Mrs. Steerforth in ihrem mütterlichen Stolz fort, »wurden von freiwilligem Wetteifer und selbstbewußtem Stolz angestachelt. Er würde sich gegen jeden Zwang empört haben, aber da er dort der Herr war, war er fest entschlossen, sich seiner Stellung würdig zu erweisen. Das sah ihm ganz ähnlich.«

Ich stimmte aus vollstem Herzen bei.

»So wählte mein Sohn aus eignem freien Willen ohne Zwang den Weg, auf dem er immer, wenn er will, jeden Mitbewerber überholen kann. Mein Sohn sagte mir, Mr. Copperfield, daß Sie ihn förmlich verehrt haben und ihn gestern, als Sie ihn trafen, mit Freudentränen im Auge anredeten. Es würde affektiert aussehen, wenn ich mich überrascht stellen sollte, daß mein Sohn solche Gemütsbewegungen hervorzurufen imstande ist. Aber ich kann gegen eine Person, die seine Verdienste so tief fühlt, nicht gleichgültig sein, und ich kann Ihnen nur versichern, daß auch er für Sie Gefühle ungewöhnlicher Freundschaft hegt, und daß Sie sich auf seinen Schutz verlassen können.«

Miss Dartle spielte genau so eifrig, wie sie alles andere tat. Aber ich müßte sehr irren, wenn sie auch nur ein Wort von unserm Gespräch verloren hätte.

Als der Abend ziemlich weit vorgerückt war, und Gläser und Flaschen hereingebracht wurden, versprach mir Steerforth, am Kamin sitzend, daß er allen Ernstes an die Reise nach Yarmouth denken wolle. Es habe weiter keine Eile damit, sagte er. In einer Woche sei auch noch Zeit genug, und seine Mutter wiederholte gastfreundlich dasselbe. Während des Gesprächs nannte er mich mehr als einmal »Daisy«, was Miss Dartle wieder anregte.

»Ist das nicht, Mr. Copperfield, ein Spitzname? Und warum nennt er Sie so? Vielleicht – vielleicht, weil er Sie für jung und unschuldig hält? Ich bin so dumm in solchen Dingen.«

Ich wurde rot, als ich antwortete, daß es nur deswegen sei.

»O«, sagte Miss Dartle, »wie freue ich mich, daß ich es weiß. Ich frage, um aufgeklärt zu werden, und bin froh, es zu wissen. Also er denkt, Sie sind jung und unschuldig! Sie sind also sein Freund. Ach, das ist ja entzückend!«

Sie ging bald darauf zu Bett und Mrs. Steerforth ebenfalls.

Nachdem Steerforth und ich noch eine halbe Stunde am Feuer gesessen und von Traddles und all den übrigen aus der alten Zeit geplaudert hatten, gingen wir zusammen hinauf. Steerforths Zimmer stieß an das meinige, und ich warf einen Blick hinein. Es war ein wahres Muster von Komfort, voller Lehnstühle, Kissen und Fußschemel, von seiner Mutter gestickt, und ausgestattet mit allem, was man nur wünschen konnte.

Mrs. Steerforths hübsches Gesicht sah von der Wand herab auf ihren Liebling, als wenn es ihr noch ein Genuß wäre, zu wissen, daß ihr Bildnis ihn während des Schlummers überwachen konnte.

Ein helles Feuer brannte in meinem Zimmer, und die weißen Gardinen an meinem Fenster und Bett gaben dem Raum ein sehr sauberes Aussehen. Ich nahm in einem großen Lehnstuhl vor dem Kamine Platz, um über mein Glück nachzudenken, und hatte mich eine Zeitlang in diesen Genuß versenkt, als ich bemerkte, daß ein Porträt Miss Dartles mit forschendem Blick vom Kaminsims auf mich herabsah.

Das Bildnis war erschreckend ähnlich. Der Maler hatte die Narbe weggelassen, aber ich ergänzte sie mir, und da sah ich sie bald hervortreten, bald verschwinden, jetzt nur auf der Oberlippe, dann wieder in ganzer Länge dunkelfarbig erscheinend.

Es berührte mich unangenehm, daß Miss Dartles Bild grade in meiner Stube untergebracht war.

Um den Anblick loszuwerden, entkleidete ich mich rasch, blies das Licht aus und ging zu Bett. Aber noch vor dem Einschlafen mußte ich immer darüber nachdenken, ob sie mich nicht forschend ansehe: »Ists wirklich so? Ich möchte das wissen –«

Und wenn ich in der Nacht aufwachte, da kam mir zum Bewußtsein, daß ich im Traum allerlei Leute gefragt hatte, ob es wirklich so sei oder nicht, – ohne zu wissen, was ich eigentlich meinte.

21. Kapitel Die kleine Emly


21. Kapitel Die kleine Emly

In dem Hause von Steerforths Mutter befand sich ein Diener, der gewöhnlich zur Verfügung des jungen Herrn zu stehen hatte und von ihm auf der Universität aufgenommen worden war.

Dem Äußern nach war er ein Muster von Respektabilität. Ich glaube nicht, daß es in solcher Stellung einen respektabler aussehenden Mann geben konnte. Er trat leise auf, war äußerst still in seinem ganzen Wesen, ehrerbietig, aufmerksam, immer zur Hand, wenn er gebraucht wurde, und nie zu sehen, wenn man ihn nicht brauchte. Aber seine hervorstechendste Eigenschaft war, wie gesagt, seine Respektabilität.

Er hatte ein unbewegliches Gesicht, einen etwas steifen Nacken, einen runden, glatten Kopf mit kurzem an den Schläfen dicht anliegendem Haar, eine milde Sprechweise und eine eigentümliche Art, den Buchstaben S so deutlich zu lispeln, daß er ihn öfter als jeder andere Mensch zu gebrauchen schien. Aber auch diese Eigentümlichkeit trug nur zu seiner Respektabilität bei.

Selbst wenn seine Nase umgekehrt im Gesicht gestanden hätte, würde ihn dies wahrscheinlich noch respektabler gemacht haben. Er umgab sich mit einer Atmosphäre von Respektabilität und wandelte mit Sicherheit in ihr einher.

So durch und durch respektabel war er, daß ihn wegen irgend etwas im Verdacht zu haben, für jedermann von vornherein ausgeschlossen schien. So respektabel war er, daß sich niemand unterstanden hätte, ihm eine Livree zuzumuten, noch viel weniger eine niedrige Arbeit. Und dessen waren sich die weiblichen Dienstboten des Hauses so sehr bewußt, daß sie sich solcher Arbeit stets aus freien Stücken unterzogen und das meistens, während er am Herdfeuer die Zeitung las.

Ich sah nie einen gesetzteren, zurückhaltenderen Menschen als ihn. Aber auch durch diese Eigenschaft erschien er noch respektabler. Sogar der Umstand, daß niemand seinen Taufnamen wußte, schien zur Hebung seiner Respektabilität beizutragen. Niemand hatte etwas einzuwenden, daß man ihn mit seinem Familiennamen Littimer rief. Ein Peter konnte gehenkt oder ein Tom deportiert werden, aber Littimer war höchst respektabel.

Ich glaube, die fast ehrwürdige Art seiner nahezu abstrakten Respektabilität war schuld, daß ich mir in seiner Gegenwart ganz besonders jung vorkam.

Wie alt er sein mochte, konnte ich nicht erraten. Und das kam ihm schon wieder zugute. Nach seiner Ruhe und Respektabilität zu schließen, konnte er ebensogut fünfzig wie dreißig Jahre sein.

Littimer brachte mir, ehe ich aufstand, das gewisse, auf mich wie ein Vorwurf wirkende Rasierwasser und meine Kleider. Als ich die Vorhänge zurückzog, um aus dem Bett zu schauen, sah ich ihn in einer gleichmäßigen Respektabilitätstemperatur, ungerührt von dem winterlichen Ostwinde draußen und in keiner Hinsicht fröstlig, meine Stiefel in die erste Tanzposition stellen und Stäubchen von meinem Rock blasen, den er so zärtlich, als wäre es ein Wickelkind, hinlegte.

Ich wünschte ihm guten Morgen und fragte ihn, wie spät es sei. Er zog eine höchst respektable Jagduhr heraus, ließ den Deckel nur halb aufspringen, spähte hinein, als ob er eine orakelfähige Auster zu Rate zöge, und sagte: »Wenn es beliebt, es ist halb neun. Mr. Steerforth wird sich freuen, zu hören, wie Sie geruht haben, Sir.«

»Ich danke«, antwortete ich, »vortrefflich. Befindet sich Mr. Steerforth wohl?«

»Ich danke Ihnen, Sir. Mr. Steerforth befindet sich recht wohl.« Es war wieder eine von Littimers Eigenheiten, daß er nie von Superlativen Gebrauch machte. Immer der kühle, ruhige Mittelweg.

»Habe ich die Ehre, sonst noch etwas für Sie zu tun, Sir? Die Frühstücksglocke wird um neun Uhr läuten. Die Familie frühstückt um halb zehn.«

»Nichts sonst. Ich danke Ihnen.«

»Ich danke Ihnen, wenn Sie erlauben«, erwiderte Littimer; und mit diesen Worten und mit einer leichten Verbeugung, wie wenn er für seine Berichtigung um Verzeihung bitten wollte, ging er hinaus und schloß die Türe so zart, als ob ich eben in einen süßen Schlummer, von dem mein Leben abhing, gesunken wäre.

Jeden Morgen fand ein Gespräch dieser Art zwischen uns statt, niemals länger und niemals kürzer. So hoch ich mich infolge von Steerforths Gesellschaft, Mrs. Steerforths Vertrauen oder meiner Unterhaltung mit Miss Dartle dem Alter entgegengereift wähnte, vor diesem so respektablen Mann wurde ich jedesmal wieder zum Kinde.

Er besorgte Pferde für uns, und Steerforth, der alles konnte, gab mir Reitstunden. Er besorgte uns Florette, und Steerforth unterrichtete mich im Fechten – Handschuhe, und ich nahm Boxstunden. Es verletzte mich nicht, vor Steerforth als Neuling in allen diesen Künsten zu erscheinen, aber unerträglich war es mir, meinen Mangel an Geschicklichkeit vor dem so respektablen Littimer sehen zu lassen. Ich hatte gar keinen Grund, zu glauben, daß er selbst von allen diesen Dingen etwas verstünde. Nicht durch das geringste Zucken auch nur eines seiner respektablen Augenlider ließ er so etwas ahnen. Aber wenn er nur bei unseren Übungen anwesend war, kam ich mir schon als der grünste und unerfahrenste aller Sterblichen vor.

Die Woche verstrich in der angenehmsten Weise. Ich lernte Steerforth noch besser kennen und aus tausend Gründen noch mehr bewundern. Seine ungenierte Weise, mich wie ein Spielzeug zu behandeln, war mir lieber als jedes andere Benehmen, das er mir hätte zeigen können. Es erinnerte mich an die Zeit unserer frühern Bekanntschaft, erschien mir als eine natürliche Folge derselben, zeigte mir, daß er noch ganz der alte war, und befreite mich von jedem unangenehmen Gefühl, das ein Nebeneinanderstellen seiner und meiner Eigenschaften hätte verursachen können. Vor allem aber war es seine vertrauliche, ungezwungene und herzliche Art, weil er sie gegen niemand sonst zur Schau trug, die mich annehmen ließ, er behandle mich, wie schon damals in der Schule, auch jetzt im Leben anders als irgendeinen seiner Freunde. Ich glaubte seinem Herzen näherzustehen als alle andern und glühte vor Liebe zu ihm.

Er entschloß sich, mit mir auf das Land zu gehen, und der Tag unserer Abreise kam heran. Anfangs schwankte er, ob er Littimer mitnehmen solle oder nicht, entschied sich aber dann, ihn zu Hause zu lassen.

Der respektable Mann war selbstverständlich zufrieden und befestigte unsere Manteltaschen auf dem kleinen Wagen, der uns nach London bringen sollte, so sorgfältig, als müßten sie dem Sturm von Jahrhunderten trotzen, und nahm meine bescheiden hingehaltene Gabe mit unerschütterlicher Miene entgegen.

Wir sagten Mrs. Steerforth und Miss Dartle Adieu unter vielen Danksagungen meinerseits und vielen Freundschaftsbezeigungen von Seiten Steerforths zärtlicher Mutter. Das letzte, was ich sah, war Littimers unbewegtes Auge. Es war voll der Überzeugung, wie ich mir einbildete, daß ich wirklich sehr jung sei.

Meine Empfindungen bei einer so glücklichen Rückkehr zu der alten trauten Umgebung will ich nicht zu beschreiben versuchen. Von London aus nahmen wir die Post. So sehr lag mir die Ehre von Yarmouth am Herzen, daß ich sehr erfreut war, als Steerforth während der Fahrt durch die dunklen Gassen nach dem Gasthof sagte, es sei ein gutes, verrücktes, abgelegenes Loch.

Wir begaben uns gleich nach der Ankunft zu Bett (ich bemerkte ein paar schmutzige Schuhe und Gamaschen, die meinem alten Freund, dem »Delphin« gehörten) und frühstückten spät am Morgen. Steerforth, der sehr gut aufgelegt war, hatte schon vorher einen Spaziergang am Strande gemacht und, wie er sagte, bereits die Hälfte der Fischer kennengelernt. Er hätte bestimmt, wie er sagte, in der Ferne Mr. Peggottys Haus mit dem rauchenden Ofenrohr gesehen und große Lust gefühlt, hinzugehen, die Tür zu öffnen und sich in meinem Namen vorzustellen.

»Wann willst du mich dort einführen, Daisy?« fragte er. »Ich stehe ganz zu deiner Verfügung. Arrangiere du.«

»Nun, Steerforth, ich denke, heute abend wäre die beste Zeit. Da sitzen sie alle um das Feuer. Ich möchte, daß du sie siehst, wenn es gerade am gemütlichsten ist.«

»Also gut, heute abend.«

»Ich werde ihnen natürlich nichts von unserm Hiersein sagen lassen. Wir müssen sie überraschen!«

»Natürlich«, sagte Steerforth. »Es wäre sonst kein Spaß dabei. Wir müssen die Eingeborenen in ihrem Naturzustand sehen.«

»Obgleich sie – ein ›gewisser Schlag Leute sind‹, wie du einmal sagtest«, bemerkte ich.

»Aha. Du erinnerst dich also an mein Geplänkel mit Rosa«, sagte er mit einem raschen Blick. »Verdammtes Frauenzimmer! Ich fürchte mich fast vor ihr. Sie verfolgt mich wie ein Kobold. Aber weg mit ihr! – Was gedenkst du jetzt zu tun? Wie ich vermute, willst du deine alte Kindsfrau besuchen.«

»Freilich wohl«, sagte ich, »Peggotty muß ich zuerst besuchen.«

»Gut«, antwortete Steerforth und sah auf die Uhr. »Genügt es dir, um dich auszuweinen, wenn ich dich ein paar Stunden allein lasse?«

Ich erwiderte lachend, ich glaubte bis dahin fertig sein zu können. Daß er aber auch kommen müßte, denn sein Ruhm sei ihm so voraus geeilt, daß er eine ebenso wichtige Person wäre wie ich.

»Ich werde kommen, wohin du willst, und alles Gewünschte vollbringen. Sage mir nur, wohin ich kommen soll, und in zwei Stunden werde ich mich in jedem gewünschten Zustand vorstellen, gleichgültig, ob sentimental oder humoristisch.«

Ich gab ihm genaueste Anweisungen, damit er die Wohnung Mr. Barkis‘ – »Fuhrmann nach Blunderstone und andern Orten« – auffinden könne, und ging dann allein aus.

Die Luft war scharf, die Erde trocken, die See gekräuselt und klar, die Sonne verbreitete reiches Licht, wenn auch wenig Wärme, und alles erschien munter und frisch. Ich selbst fühlte mich in meiner Freude, hier zu sein, so glücklich, daß ich am liebsten die Leute auf der Straße angehalten und ihnen die Hände geschüttelt hätte.

Die Straßen kamen mir natürlich eng und klein vor, wie es immer der Fall ist, wenn man in reiferem Alter die Umgebung der Kinderjahre wiedersieht. Aber ich hatte keinen Fleck vergessen und fand nichts verändert, bis ich an Mr. Omers Laden kam. Omer & Joram stand, wo früher bloß Omer gestanden hatte, aber die Inschrift: »Tuchhändler, Schneider, Mützenmacher, Leichenbesorger usw.« war geblieben.

Im Hintergrund des Ladens erblickte ich eine hübsche Frau, die ein kleines Kind in ihren Armen schaukelte, während sich ein zweites, etwas größeres, an ihre Schürze klammerte. Unschwer erkannte ich in ihnen Minnie und deren Kinder. Die Glastür des Hinterzimmers stand nicht offen, aber aus dem Arbeitsschuppen klang in gedämpften Tönen die alte Weise, als ob sie nie aufgehört hätte.

»Ist Mr. Omer zu Hause?« fragte ich eintretend. »Ich möchte ihn gern einen Augenblick sehen.«

»O ja, Sir, er ist zu Hause«, sagte Minnie. »Bei solchem Wetter erlaubt ihm sein Asthma nicht auszugehen. Joe, ruf den Großvater.«

Der kleine Kerl an der Schürze stieß einen so lauten Ruf aus, daß er selbst sofort darüber ganz bestürzt war und sein Gesicht in den Kleidern der Mutter versteckte. Dann hörte ich ein Keuchen und Husten näher kommen, und bald darauf stand Mr. Omer, noch kurzatmiger als ehemals, aber nicht viel älter aussehend, vor mir. »Diener, Sir«, sagte Mr. Omer, »womit kann ich Ihnen dienen, Sir?«

»Sie können mir die Hand schütteln, Mr. Omer«, sagte ich und streckte die meinige aus. »Sie waren einmal sehr freundlich zu mir, und ich glaube nicht, daß ich damals meine Erkenntlichkeit gebührend an den Tag legte.«

»So. War ich das?« fragte der Alte. »Freut mich, es zu hören, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Wissen Sie auch gewiß, daß ich es war?«

»Ganz gewiß.«

»Ich glaube, mein Gedächtnis ist so kurz geworden wie mein Atem«, sagte Mr. Omer und sah mich kopfschüttelnd an. »Ich kann mich Ihrer nicht erinnern.«

»Wissen Sie nicht mehr, wie Sie auf meine Ankunft in der Postkutsche warteten? Wie ich dann hier frühstückte und wir zusammen nach Blunderstone hinüberfuhren? Sie und ich und Mrs. Joram und auch Mr. Joram, die damals noch nicht verheiratet waren!«

»Gott im Himmel!« rief Mr. Omer nach einem Hustenanfall überrascht. »Was Sie sagen! Minnie, mein Kind, erinnerst du dich? Lieber Himmel, ja. Es war eine Dame damals, glaube ich?«

»Meine Mutter«, bestätigte ich.

»O gewiß«, sagte Mr. Omer und tupfte mir mit dem Zeigefinger auf die Weste, »und ein kleines Kind war auch dabei. Sie wurden miteinander begraben. Drüben in Blunderstone, ganz recht. O Gott! Wie haben Sie sich seitdem immer befunden?«

»Sehr gut!« und ich sagte, ich hoffte dasselbe von ihm.

»Nun, ich kann mich nicht beklagen. Mein Atem wird kurz, aber daß er mit den Jahren nicht länger wird, ist begreiflich. Ich nehme es, wie es kommt und nehme es von der besten Seite. Das ist immer noch das Gescheiteste, nicht wahr?«

Er hustete wieder, weil er so hatte lachen müssen, und seine Tochter, die dicht neben ihm stand, stützte ihn und ließ ihr Kleinstes auf dem Ladentisch strampeln.

»Mein Gott! Freilich ja«, fuhr Mr. Omer fort. »Zwei auf einmal. Damals auf der Fahrt wurde der Hochzeitstag für meine Minnie festgesetzt. Bestimmen Sie den Tag, Mr. Omer, sagte Joram damals zu mir, und Minnie redete mir auch zu. Und jetzt ist er mit im Geschäft. Sehen Sie mal her: das Jüngste!«

Minnie lachte und strich sich das Haar an den Schläfen glatt, während ihr Vater dem strampelnden Kind einen seiner fetten Finger hinhielt.

»Zwei auf einmal, natürlich!« und er nickte gedankenvoll. »Ganz richtig. Und Joram arbeitet grade heute wieder an einem grauen mit Silbernägeln; ungefähr diese Größe«, und er deutete auf das strampelnde Kind auf dem Ladentisch.

»Aber wollen Sie nicht etwas genießen?«

Ich lehnte dankend ab.

»Warten Sie mal«, sagte Mr. Omer. »Barkis, dem Fuhrmann seine Frau, die Peggotty, hat sie nicht was mit Ihrer Familie zu tun? Sie stand doch bei Ihnen in Diensten, nicht?«

Ich bejahte, was ihn sehr befriedigte.

»Ich glaube wahrhaftig, mein Atem wird nächstens besser, da mein Gedächtnis sich so erholt! Denken Sie sich, Sir, wir haben hier bei uns in der Lehre eine junge Verwandte von ihr, die einen so feinen Geschmack in der Putzmacherei entwickelt, daß es eine Herzogin nicht mit ihr aufnehmen kann.«

»Doch nicht die kleine Emly?« fuhr es mir heraus.

»Emily heißt sie«, sagte Mr. Omer, »und klein ist sie auch. Aber ich sage Ihnen, eine Larve hat sie, daß die Hälfte der Frauenzimmer in Yarmouth wütend ist.«

»Dummes Zeug, Vater!« rief Minnie.

»Meine Liebe«, sagte Mr. Omer, »ich meine doch nicht dich«, – er zwinkerte mir zu – »ich meine bloß eine Hälfte der Frauenzimmer von Yarmouth und fünf Meilen im Umkreis.«

»Sie hätte eben nicht großtun sollen, Vater«, sagte Minnie »und den Leuten keinen Anlaß geben, von ihr zu reden, dann hätten sie es nicht tun können.«

»Hätten es nicht tun können! Ist das deine Lebenserfahrung? Was könnte ein Frauenzimmer nicht tun, – besonders wenn es sich um das hübsche Gesicht einer andern handelt!«

Ich dachte schon, Mr. Omers letzte Stunde sei gekommen. Er hustete so stark und konnte so wenig Luft kriegen, daß ich jeden Augenblick erwartete, seinen Kopf hinter dem Ladentisch verschwinden und seine kleinen schwarzen Beine mit den Schleifen am Knie im Todeskampf emporzappeln zu sehen. Endlich erholte er sich wieder, mußte sich aber erschöpft niedersetzen.

»Sehen Sie«, fing er atemlos wieder an und trocknete sich die Glatze ab. »Emly hat sich hier weder an Bekannte noch Freunde angeschlossen, geschweige denn sich einen Liebsten angeschafft. Natürlich heißt es gleich, sie wolle die vornehme Dame spielen. Bloß weil sie manchmal in der Schule gesagt hatte, wenn sie eine vornehme Dame sei, wolle sie ihrem Onkel das oder jenes kaufen.«

»Das hat sie mir tausendmal gesagt, als wir noch Kinder waren«, bestätigte ich eifrig.

Mr. Omer nickte und rieb sich das Kinn. »Ganz recht! Dann verstand sie, sich mit sehr geringen Mitteln viel besser zu kleiden als andere sich mit großem Aufwand, und das machte die Sache ganz schlimm. Übrigens war sie ja ein wenig, was man eigensinnig nennen könnte. Hatte sich vielleicht nicht so ganz im Zaum, war ein bißchen verzogen und konnte am Anfang nicht recht still sitzen. Mehr kann man doch nicht gegen sie sagen, Minnie!«

»Nein, Vater«, bestätigte Mrs. Joram, »Schlimmeres gewiß nicht.«

»Als sie daher eine Stellung bekam und einer alten verdrießlichen Dame Gesellschaft leisten sollte, vertrug sie sich nicht mit ihr und blieb nicht. Schließlich kam sie zu uns auf drei Jahre in die Lehre. Zwei davon sind fast vorbei, und wir haben noch kein so gutes Mädchen gehabt. Sie wiegt sechs andere auf. Wiegt sie nicht sechs andere auf, Minnie?«

»Ja, Vater«, entgegnete Minnie, »ich sage ihr doch nichts Unrechtes nach.«

»Sehr gut«, sagte Mr. Omer, »so lasse ich mirs gefallen.«

»Und jetzt, junger Herr«, setzte er hinzu, nachdem er sich noch ein Weilchen das Kinn gerieben hatte, »damit Sie mich nicht für ebenso langatmig wie kurzatmig halten, rede ich weiter nichts mehr.«

Da das ganze Gespräch in leisem Ton geführt worden war, bezweifelte ich nicht, daß Emly in der Nähe sei. Auf meine Frage nickte Mr. Omer bejahend und deutete nach der Tür des Hinterstübchens. Man hatte nichts dagegen einzuwenden, daß ich einen Blick hineinwerfen zu dürfen bat, und so sah ich denn Emly durch die Glasscheibe bei ihrer Arbeit sitzen.

Sie war ein wunderliebes niedliches Geschöpf geworden, die klaren, blauen Augen, die einst so tief in mein Kinderherz geblickt hatten, jetzt lachend einem von Minnies Kleinen zugewandt, das in ihrer Nähe spielte. Es lag genug von dem alten Mutwillen in ihnen, um begreiflich erscheinen zu lassen, was ich eben gehört hatte. Aber nichts, was nicht von Güte und Glück sprach und auf ebensolche Lebensführung hinwies.

Die Weise vom Hof drüben, die nie aufgehört zu haben schien, – es war wohl eine Weise, die nie aufhört – hämmerte leise die ganze Zeit hindurch.

»Wollen Sie nicht hineingehen und mit ihr sprechen?« fragte Mr. Omer. »Tun Sies doch, Sir! Tun Sie doch, als ob Sie zu Hause wären.«

Ich war zu befangen dazu und fürchtete, Emly und mich in Verlegenheit zu bringen. Aber ich erkundigte mich nach der Stunde ihres Fortgehens, um die Besuchszeit bei ihren Verwandten danach einrichten zu können, und nahm Abschied von Mr. Omer, seiner hübschen Tochter und ihren kleinen Kindern. Dann machte ich mich auf den Weg zu meiner guten, alten Peggotty. –

In der mit Ziegelstein gepflasterten Küche stand sie und kochte das Mittagessen. Auf mein Klopfen hatte sie mir die Türe aufgemacht und fragte, was ich wünschte. Ich sah sie mit einem Lächeln an, aber ihre Miene blieb ganz verständnislos. Wohl hatte ich nie aufgehört, ihr zu schreiben, aber es waren fast sieben Jahre her, seit wir einander nicht gesehen.

»Ist Mr. Barkis zu Hause, Ma’am?« fragte ich mit verstellter lauter Stimme.

»Er ist zu Hause, Sir«, antwortete Peggotty, »aber er liegt an der Gicht.«

»Fährt er jetzt nicht nach Blunderstone?«

»Nur wenn er gesund ist.«

»Fahren Sie manchmal hinüber, Mrs. Barkis?«

Sie sah mich aufmerksamer an, und ich bemerkte, wie ihre Hände unruhig wurden.

»Weil ich mich dort nach einem Hause erkundigen möchte, das sie hm – wie heißt es nur – ›Krähenhorst‹ nennen.«

Sie trat einen Schritt zurück und streckte in ungewisser Angst die Hände aus, als wollte sie mich zurückhalten.

»Peggotty!« rief ich ihr zu.

Sie schrie auf. »Mein lieber, lieber Junge!« Wir brachen beide in Tränen aus und lagen uns in den Armen.

Peggotty wußte sich gar nicht zu fassen. Sie lachte und weinte abwechselnd vor Stolz und Freude. Wie sie jammerte, daß sie mich so lange nicht zärtlich ans Herz hatte schließen können, kann ich nicht übers Herz bringen zu erzählen. Nicht einen Augenblick quälte mich der Gedanke, es könnte kindisch aussehen, daß ich ihre Rührung teilte. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so gelacht und geweint, gern gestehe ich es ein, wie an diesem Morgen.

»Und Barkis wird sich freuen!« sagte sie und trocknete sich die Augen mit der Schürze, »es wird ihm mehr helfen als ganze Töpfe voll Salbe. Kann ich hinaufgehen und ihm sagen, daß du hier bist? Willst du nicht mit hinaufkommen und ihn besuchen, mein Liebling?«

Natürlich wollte ich. Aber Peggotty brauchte sehr lange, denn sooft sie die Türe erreichte und sich nach mir umsah, fiel sie mir immer wieder lachend und weinend um den Hals. Endlich, um die Sache abzukürzen, ging ich selbst hinauf mit ihr und trat, nachdem ich ein wenig draußen gewartet hatte, um ihr Zeit zu lassen, Mr. Barkis auf mein Kommen vorzubereiten, in das Krankenzimmer.

Mr. Barkis nahm mich mit sichtlichem Entzücken auf. Er war zu gichtisch, um mir auch nur die Hand reichen zu können, und bat mich, statt dessen die Trottel an seiner Zipfelmütze zu schütteln, was ich mit Herzlichkeit tat. Als ich an seinem Bette saß, sagte er, er fühle sich so wohl wie damals, als er mich mit der Kutsche nach Blunderstone gefahren hatte. Er sah höchst wunderlich aus so zugedeckt im Bett, daß man bloß sein Gesicht sehen konnte.

»Was für einen Namen schrieb ich damals im Wagen an, Sir?« fragte er mit einem leisen rheumatischen Lächeln.

»Ach, Mr. Barkis, wir hatten schon damals eine sehr wichtige Unterhaltung über diesen Punkt, nicht wahr?« sagte ich.

»Ich ›wollte‹ lange Zeit, Sir.«

»Ja, ja, lange Zeit.«

»Und ich bereue es nicht«, sagte er. »Erinnern Sie sich noch, wie Sie einmal erzählten, daß sie alle Apfeltorten machte und das Kochen besorgte?«

»O, recht gut.«

»Es war so wahr wie Kohlrübe«, sagte Mr. Barkis. »Es war so wahr«, und er schüttelte die Nachtmütze, was seine höchste Begeisterung ausdrückte, »wie die Steuern, und nichts ist so wahr wie die.«

Er wandte mir seine Augen zu, als ob er meine Zustimmung erwartete. Ich gab ihm recht.

»Nichts ist so wahr und wirklich wie die Steuern«, wiederholte er. »Wenn ein Mann, so arm wie ich, im Bett liegen muß, dann findet er das bald heraus. Ich bin ein sehr armer Mann, Sir!«

»Es tut mir leid, das zu hören, Mr. Barkis.«

»Ein sehr armer Mann, ja, das bin ich!«

Er brachte jetzt langsam seine Hand unter der Bettdecke hervor und tastete nach einem Stock, der neben dem Bette hing. Damit tappte er eine Weile unter das Bett, während sich sein Gesicht auf die seltsamste Weise verzog, bis er auf einen Koffer stieß, dessen eines Ende ich längst hervorstehen sehen hatte. Dann glätteten sich seine Züge wieder.

»Alte Kleider«, sagte er.

»So, so!«

»Ich wollte, es wäre Geld, Sir.«

»Ich wünschte es Ihnen auch«, gab ich zur Antwort.

»Aber es ist keins«, sagte Mr. Barkis und riß seine Augen, soweit er nur konnte, auf.

Ich versicherte ihm, daß ich dies vollkommen glaube, und er fuhr fort, indem er seine Frau mit freundlicheren Augen ansah:

»Sie ist die nützlichste und beste aller Frauen, C. P. Barkis! Alles Lob, das man C. P. Barkis nachsagen kann, verdient sie und noch mehr. Meine Liebe, du wirst heute für Gäste kochen. Was Gutes zu essen und zu trinken, was?«

Ich hätte gegen diesen unnötigen Ehrenbeweis Einwand erhoben, aber Peggotty machte ein so furchtbar ängstliches Gesicht und gab mir allerhand Zeichen, daß ich schwieg.

»Ich muß hier irgendwo ein bißchen Geld haben, meine Liebe«, sagte Mr. Barkis. »Ich bin recht müde jetzt. Wenn du mit Master David mich ein bißchen nicken lassen möchtest, will ich nachsehen, wenn ich aufwache.«

Wir verließen das Zimmer, wie er wünschte. Draußen erzählte mir Peggotty, daß er, jetzt noch ein bißchen knickeriger als früher, stets zu dieser List seine Zuflucht nähme, bevor er mit einem einzigen Geldstück aus seinem Schatz herausrücke. Er litte dabei unsägliche Schmerzen, weil er jedesmal ohne Beistand aus dem Bett kriechen müßte, um den unglückseligen Koffer aufzusperren.

Wirklich hörten wir ihn jetzt drinnen jämmerlich stöhnen, weil dieses einer Elster würdige Beginnen ihm sehr weh tat.

Peggottys Augen standen voll Tränen aus Mitleid für ihn, aber sie meinte, seine Freigebigkeit würde ihm nur gut tun, und man trete ihm am besten nicht entgegen. So stöhnte er weiter, bis er wieder im Bett lag, schmerzensreich wie ein Märtyrer, und uns dann hereinrief und vorgab, soeben von einem erquickenden Schlummer erwacht zu sein und eine Guinee unter dem Kopfkissen gefunden zu haben. Seine Befriedigung, uns so hinters Licht geführt und das undurchdringliche Geheimnis des Geldkoffers so glücklich vor uns bewahrt zu haben, schien ihn hinlänglich für die ausgestandnen Qualen zu entschädigen.

Ich bereitete Peggotty auf Steerforths Ankunft vor, die nicht lange auf sich warten ließ. Ich bin überzeugt, es war für meine alte Kindsfrau gleichbedeutend, ob er ihr Wohltäter oder mein Freund war; sie hätte ihn in beiden Fällen nicht mit größerer Dankbarkeit und Ergebenheit aufnehmen können. Seine heitere frische Laune, sein offnes Benehmen, sein liebenswürdiges Auge, seine Gabe, sich jeder Lage anzupassen, und wenn er wollte, jedes Herz zu erobern, gewann auch sie in weniger als fünf Minuten.

Schon sein Benehmen gegen mich würde ihr genügt haben. Er blieb mit mir zum Essen da – wenn ich sagte: bereitwillig, würde ich nur unvollkommen seine freudige Beistimmung ausdrücken. Er kam in Mr. Barkis Zimmer wie Luft und Licht und hellte es auf wie ein schöner Tag. Nicht die Spur Gezwungenes und Gewolltes lag in seinem Tun und Lassen. Alles an ihm war von unbeschreiblicher Leichtigkeit, so reizvoll, natürlich und angenehm, daß es noch heute in der Erinnerung einen überwältigenden Eindruck auf mich macht.

Wir verbrachten unsere Zeit fröhlich in dem kleinen Wohnzimmer, wo das Märtyrerbuch unberührt und aufgeschlagen wie damals auf dem Pulte lag, und ich betrachtete die schrecklichen Bilder. Als Peggotty von diesem Zimmer als von dem meinigen sprach, hatte ich kaum Zeit, Steerforth einen Blick zuzuwerfen, da hatte er schon die ganze Sachlage erfaßt. »Natürlich«, sagte er, »solange wir in Yarmouth bleiben, schläfst du hier und ich im Gasthaus.«

»Dich zu einer so langen Reise bewogen zu haben, um dich dann allein zu lassen, scheint mir wenig freundschaftlich zu sein, Steerforth«, wandte ich ein.

»Aber um Gotteswillen! Wohin gehörst du von Rechts wegen?« sagte er. »Was heißt das: ›es scheint‹?« Und damit war die Angelegenheit ein für allemal erledigt.

Er blieb unverändert liebenswürdig bis zum letzten Augenblick, wo wir uns – um acht Uhr – nach Mr. Peggottys Boot auf den Weg machten. Seine Eigenschaften traten, je später es wurde, immer glänzender hervor, und schon damals schien es mir, als ob sein Wunsch zu gefallen, ihn mit einer vermehrten Sinnesschärfte ausstattete und in seinem Bestreben noch unterstützte.

Wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß alles das nichts als ein glanzvolles Spiel sei, nichts als flüchtiges Vergnügen und gedankenlose Lust, ein Übergewicht an den Tag zu legen in bloßer leichtsinniger Sucht etwas zu gewinnen, was ihm wertlos schien und in der nächsten Minute weggeworfen werden sollte, – wenn mir jemand an diesem Abend so etwas gesagt haben würde, ich weiß nicht, in welcher Weise ich meiner Entrüstung Luft gemacht hätte. Wahrscheinlich würde es mein romantisches Gefühl von Treue und Freundschaft, mit dem ich jetzt neben ihm herging, über die winterlich dunkeln Dünen nach dem alten Boot, während der Wind noch klagender um uns pfiff als an jenem Abend, wo ich zuerst über Mr. Peggottys Schwelle trat, nur noch verstärkt haben.

»Es ist eine wilde Gegend, Steerforth, nicht wahr?« begann ich.

»Unheimlich genug in der Finsternis«, sagte er. »Die See brüllt, als hungerte ihr nach uns –. Ist dort das Boot, wo das Licht schimmert?«

»Es ist das Boot«, sagte ich.

»Es ist dasselbe, das ich heute früh schon sah. Ich ging aus Instinkt direkt darauf los, glaube ich.«

Wir schwiegen, als wir uns dem Lichte näherten, und gingen leise auf die Türe zu. Ich legte meine Hand auf die Klinke, Steerforth zuflüsternd, sich dicht an mich zu halten. Dann trat ich ein.

Ein Stimmengemurmel war bis heraus gedrungen, und im Augenblick unseres Eintritts hörten wir noch ein Händeklatschen. Ich war sehr erstaunt, als ich sah, daß dieses Geräusch von der sonst so trostlosen Mrs. Gummidge stammte.

Aber Mrs. Gummidge war nicht die einzige Person, die heut so ungewöhnlich erregt schien. Mr. Peggotty, dessen Gesicht von ungewöhnlicher Befriedigung leuchtete, und der aus vollem Halse lachte, hatte seine sehnigen Arme weit geöffnet, um die kleine Emly darin aufzunehmen. Ham, mit einem Gemisch von Bewunderung, Entzücken und ungeschickter Befangenheit, die ihm sehr gut stand, hielt die Kleine an der Hand, wie wenn er sie Mr. Peggotty vorstellen wollte. Emly selbst, rot und verschämt, aber entzückt über Peggottys Freude, wie deutlich in ihren strahlenden Augen zu lesen war, hielt nur unser Eintritt ab (sie war die erste, die uns sah), sich an Mr. Peggottys Brust zu werfen. So stellte sich uns dieses Bild dar, als wir aus der dunklen kalten Nacht in die warme helle Stube traten, – mit Mrs. Gummidge im Hintergrund, die wie eine Verrückte in die Hände klatschte.

Das Bild löste sich bei unserm Eintritt so rasch auf, daß man an seinem frühern Vorhandensein hätte zweifeln können. Ich stand mitten unter der erstaunten Familie dicht vor Peggotty und hielt ihm die Hand hin. Da schrie Ham auf:

»Masr Davy. Es is Masr Davy.« Im nächsten Augenblick schüttelten wir uns die Hände, fragten einander, wie es uns ginge, beteuerten, wie froh wir wären, uns zu sehen, und sprachen alle durcheinander.

Mr. Peggotty war so stolz und überglücklich, daß er gar nicht reden konnte und mir in einem fort die Hand drückte, dann Steerforth und wieder mir. Dann wühlte er in seinem struppigen Haar und lachte so freudig und triumphierend, daß es eine Wonne war, ihn anzuschauen.

»Daß die beiden Genlmn, wirklich erwachsene Genlmn, grade heute abends kommen mußten!« sagte Mr. Peggotty, »so etwas ist ganz gewiß noch nicht in der Welt passiert. Emly, mein Liebling, komm her. Komm her, du kleine Hexe. Das ist Masr Davys Freund! Dat is der Herr, von dem du all hört hest, Emly! Er kommt und besucht dich mit Masr Davy an dem glücklichsten Abend, den dein Onkel jemals erlebt hat und erleben wird! Riemen platt und ein Hurra für ihn!«

Nachdem Mr. Peggotty alles das in einem Atem und mit außerordentlicher Lebhaftigkeit und Freude gesprochen, nahm er das Gesicht seiner Nichte zwischen seine beiden Hände, küßte es wohl ein dutzendmal, legte es mit einem Ausdruck von zärtlichem Stolz und Liebe an seine Brust und streichelte es so mild, als wäre seine Hand eine Damenhand. Dann ließ er sie wieder los, und während sie sich in mein früheres kleines Schlafzimmer flüchtete, sah er uns alle ganz erhitzt und atemlos mit ungewöhnlicher Befriedigung an.

»Wenn Sie beide Genlmn, jetzt erwachsene Genlmn und solche Genlmn –«, begann er.

»Dat sün sei – dat sün sei«, rief Ham dazwischen, »gut seggt. Dat sün sei, Masr Davy –, erwachsene Genlmn – dat sün sei!«

»– wenn Sie beide Genlmn –, erwachsene Genlmn«, sagte Mr. Peggotty, »mir auch vor übelnehmen, daß ich so unter vollen Segeln bin –, wenn Sie wüßten, – warum –, so muß ich Sie um Verzeihung bitten. Emly, lieber Schatz! – aha, sie merkt, daß ichs erzählen will«, – er hatte wieder einen Freudenausbruch – »und hat sich aus dem Staub gemacht. Willst du nicht so gut sein, nach ihr zu sehen, Mutting!«

Mrs. Gummidge nickte und verschwand.

»Wenn das nicht der schönste Abend meines Lebens ist«, sagte Mr. Peggotty und nahm bei uns vor dem Feuer Platz, »so will ich eine Krabbe sein und noch dazu eine gekochte, und mehr kann ich nicht sagen. Die kleine Emly da, Sir«, fügte er leise zu Steerforth hinzu, »die da so rot wird –.« Steerforth nickte nur, aber mit einem so liebenswürdigen Ausdruck von Anteilnahme, daß Mr. Peggotty es wie eine Antwort auffaßte.

»So ist es! Das ist sie und so ist sie. Schoin Dank, Sir.«

Ham nickte mir mehrere Male zu, als ob er mir dasselbe sagen wollte.

»Üns lütt Emly«, fuhr Mr. Peggotty fort, »ist in unser Huus wesen, was nur ein klein helläugiges Geschöpf in einem Haus sein kann. – Is nich mien Kind, hatte nie eins. Aber ich könnte sie nicht lieber haben. Sie verstehen! – Könnte nich.«

»Ich verstehe«, sagte Steerforth.

»Das weiß ich, Sir, und schoin Dank! Masr Davy weiß noch, was sie war. Sie selber können mit eignen Augen sehen, was sie jetzt ist. Aber keiner von Ihnen kann wissen, was sie meinem Herzen war, ist und noch sein wird. Ich bin rauh, Sir, rauh wie ein Seeigel, aber niemand, nur eine Frau vielleicht, kann wissen, was lütt Emly für mich ist. Und unter uns gesagt«, fügte er ganz leise hinzu, »die Frau, die das begriffe, ist nicht einmal Missis Gummidge, wenn sie auch bannich veel Verdienst hett.«

Er fuhr sich wieder mit beiden Händen durch die Haare und sprach weiter.

»Nun war da eine gewisse Person, die unsre Emly von der Zeit, als ihr Vater ertrank, kannte, und sie immer vor Augen gehabt hat. Als Baby, junge Deeren, als Weib. Nich von besonnern Ansehen, die Person. Etwa nach meiner Art. Rauh – n beeten Südwester sehr salzig – aber im ganzen ein ehrlichen Kerl, und das Herz am rechten Fleck.«

Ich glaube, ich habe Ham noch nie so fürchterlich grinsen sehen wie damals.

»Und was tut diese gesegnete Teerjacke nun?« fuhr Mr. Peggotty fort, und sein Gesicht strahlte wie ein Vollmond vor Wonne, »verliert sien Herz an üns lütt Emly. Läuft ihr Tach und Nacht im Kielwasser, macht sich zu ihren Sklaven, verliert sien ganz Takelage und gesteht mir die Havarie. Natürlich hätt ich gern gesehen, daß unsre kleine Emly sich gut verheiratet. Hätte bei jedem Wetter einen ehrenhaften Mann, der ein Recht hat, sie in Schutz zu nehmen, neben ihr gesehen. Weiß doch nicht, wie lang ich lebe, und wie bald ich sterben kann! Aber ich weiß, wenn ich einmal nachts draußen im Sturm kentern könnte und die Lichter der Stadt zum letztenmal glänzen sähe über den Brechern, gegen die man sich nicht halten kann, so würde ich ruhiger sinken bei dem Gedanken: dort am Ufer ist ein Mann, der fest wie Eisen zur kleinen Emly hält, die Gott segnen möge, – und kein Unheil kann ihr zustoßen, solang dieser Mann lebt.«

Mr. Peggotty schwenkte den Arm, als ob er im Ernst zum letzten Mal den Lichtern der Stadt zuwinken wollte, und fuhr dann fort, Ham zunickend:

»Also ich rate ihm, mit Emly zu sprechen. Er ist lang genug, aber blöder als ein kleiner Butt und will nicht. Red ich also mit ihr. ›Was? Ihn?‹ sagt Emly. ›Ihn, den ich so viele Jahre kenne und so gern habe? Ach, Onkel, kann ich doch nicht! Er ist so ein guter Junge.‹ Ich gebe ihr einen Kuß und sage: ›Liebes Kind, hast recht, dich offen auszusprechen, sollst nach deinem Sinn wählen und frei sein wie ein Vögelchen.‹ Dann geh ich zu ihm und sage: ›Wollte, es wäre so gewesen, aber es geht nicht. Aber ihr sollt bleiben, wie ihr wart. Und wat ick di segg, is: bliew wie früher mit ihr und bliew een Mann.‹ Und er sagt zu mir und schüttelt mir die Hand: ›Will ich‹, sagt er! Und hett dat dohn ehrlich und männlich zwei Jahre lang und wir waren zuhaus unter uns wie vordem.«

Mr. Peggottys Gesicht, dessen Ausdruck sich gemäß den verschiedenen Stadien seiner Erzählung lebhaft verändert hatte, leuchtete jetzt wieder ganz in dem früheren triumphierenden Entzücken auf, wie er eine Hand auf mein und die andere auf Steerforths Knie legte und folgende Rede zwischen uns teilte:

»Op eenmal hüt awend kommt lütt Emly von die Arbeit tohus und er mit ihr. Nicht viel Besondres bei, werden Sie sagen. Nein, is auch nich, weil er sie unter seine Obhut nimmt wie ein Bruder, by Dunkelweren und vor Dunkelweren und zu jeder Zeit. Aber diese Teerjacke nimmt mit eins ihre Hand und ruft mir ganz freudig zu: ›Dat soll mien lütt Fru weren‹; und sie sagt, halb keck, halb scheu und lachend und weinend zu mir: ›Ja, Onkel, wenn du erlaubst!‹ – Wenn ich erlaube!« schrie Mr. Peggotty mit einemmal auf und wackelte mit dem Kopf vor Freude bei dem bloßen Gedanken: »Herr, als ob ich etwas anderes tun könnte! – ›wenn du erlaubst, ich bin jetzt gesetzter und hab mirs noch einmal überlegt und will ihm eine so gute kleine Frau sein, wie mir nur möglich ist, denn er ist ein lieber, guter Mensch.‹ Und dann klatscht Missis Gummidge in die Hände wie im Theater, – und Sie beide Genlmn traten herein. So, jetzt ists draußen! Sie beide kommen also herein. Jetzt diese Stunde ists vorgefallen, und da steht der Mann, der sie heiraten wird, wenn sie aus der Lehre ist.«

Ham wankte, wie wohl begreiflich, unter dem Schlag, den ihm Mr. Peggotty in seiner unbegrenzten Freude jetzt als ein Zeichen des Vertrauens und der Freundschaft auf die Achsel gab.

Da er sich gedrungen fühlte, ebenfalls etwas zu sagen, sprach er unter vielem Stottern:

»Sie war nicht größer als Sie, Masr Davy, als Sie zuerst kamen – als ich schon dachte: wie schön sie heranwächst! Wuchs heran wie eine Blume! Ick giw mien Leben her – Masr Davy – und mit Freuden. Sie is mich mehr – als – sie is mich allens, was ich jemals brauchen kann – mehr als ick to seggen vermöchte. Ick – ich liebe sie wahr und wahramstig. Kein Genlmn auf den Land und op de See – kann sien Liewste mehr lieben als ich sie, wenn schon mancher gemeine Mann – besser sagen würde – was er meint.«

Mir kam es rührend vor, einen so handfesten Burschen wie Ham unter der Stärke seines Gefühls für das hübsche kleine Geschöpf, das sein Herz gewonnen hatte, ordentlich zittern zu sehen. Das schlichte Vertrauen, das Peggotty und er uns schenkten, rührte mich. Mich rührte überhaupt die ganze Geschichte.

Wie ich an meine Erinnerungen aus der Kindheit denken mußte, weiß ich nicht mehr. Ob noch eine leise Spur von Liebe zur kleinen Emly in mir lebte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß mich alles, was ich sah, mit Freude erfüllte. Anfangs mit einer Freude, so empfindsam, daß ein klein wenig mehr sie schon zum Schmerz gemacht hätte.

Hätte ich den richtigen Ton anschlagen müssen, würde es mir kaum gelungen sein. Aber diese Rolle fiel Steerforth zu, und er führte sie mit solchem Geschick durch, daß wir uns in wenigen Minuten so ungeniert und wohl fühlten, wie nur möglich.

»Mr. Peggotty«, sagte er, »Sie sind durch und durch ein guter Kerl und verdienen so glücklich zu sein, wie Sies heute abend sind! Meine Hand darauf! – Ham, mein Junge: ich freue mich. Geben Sie mir die Hand! Daisy, schür das Feuer an und machs mal prasseln. Und Mr. Peggotty, wenn Sie Ihre kleine Nichte absolut nicht bewegen können herzukommen, gehe ich lieber. Eine solche Lücke an einem Abend wie heute möchte ich in Ihren Familienkreis nicht um alle Schätze Indiens reißen.«

Mr. Peggotty eilte in mein ehemaliges kleines Schlafzimmer, um die kleine Emly einzufangen.

Erst wollte sie nicht kommen, und dann ging Ham zu ihr. Endlich brachten sie sie, – sehr scheu und verwirrt –, bald jedoch wurde sie sicherer, als sie merkte, wie rücksichtsvoll Steerforth mit ihr redete, wie geschickt er alles zu vermeiden wußte, was sie in Verlegenheit bringen konnte, wie er mit Mr. Peggotty von Booten und Schiffen, von Gezeiten und Fischen sprach, sich dann an mich wendete, als die Rede auf Mr. Peggottys Besuch in Salemhaus kam und leicht und sicher die Unterhaltung leitete. So bannte er uns alle allmählich in einen Zauberkreis, und unsere Gespräche nahmen den zwanglosesten Verlauf.

Emly sprach zwar wenig an diesem Abend, aber sie hörte aufmerksam zu. Ihr Gesicht war lebhaft und reizend hübsch.

Steerforth erzählte dann eine Geschichte von einem Schiffbruch so lebendig, als ob er sie vor sich sähe, und auch die Augen der kleinen Emly hingen an seinen Lippen, als ob auch sie das Schauspiel in Wirklichkeit miterlebte. Dann wieder kam er auf ein lustiges Abenteuer aus seinem Leben mit einer solchen Frische, als ob ihm die Geschichte so neu wäre wie uns, zu sprechen, und die kleine Emly lachte, daß das Boot von ihrer Lustigkeit widerhallte, und wir alle lachten mit, unwiderstehlich zu Steerforth hingezogen. Schließlich brachte er Mr. Peggotty dazu, zu singen oder vielmehr zu brüllen:

»Wenn die Stürme blasen, blasen, blasen usw.« und er selbst sang ein Schifferlied so ausdrucksvoll und schön, daß es mir schien, als ob selbst der Wind draußen mit zuhöre.

Was Mrs. Gummidge betrifft, so heiterte er dieses Opfer von Schwermut derartig auf, daß sie noch am nächsten Tag glaubte, behext gewesen zu sein.

Als die kleine Emly freier wurde und mit mir von unsern alten Streifungen an den Gestaden sprach und vom Muschelsuchen, und ich sie fragte, ob sie noch wisse, wie sehr ich sie geliebt habe, und wir beide dann lachten und erröteten bei diesem Rückblick an die schönen, alten Zeiten, die sich jetzt fast wie ein Traum ausnahmen, schwieg er aufmerksam still und beobachtete uns gedankenvoll.

Sie saß den ganzen Abend auf der alten Kiste in ihrer Ecke neben dem Feuer, – und an ihrer Seite, wo sonst ich gesessen hatte, Ham. Ich konnte nicht herausbekommen, ob es eine kleine Koketterie oder mädchenhafte Scheu von ihr war, daß sie sich immer dicht an der Wand und von Ham entfernt hielt, aber ich bemerkte, daß es den ganzen Abend der Fall war.

Es schlug Mitternacht, als wir Abschied nahmen. Wir hatten zum Abendessen Zwieback und gedörrten Fisch gegessen. Steerforth hatte aus seiner Manteltasche eine Flasche Wacholderbranntwein geholt, die wir Männer – ich kann es jetzt ohne Erröten sagen – wir Männer geleert hatten. Wir schieden sehr lustig voneinander, und als sie alle in der Türe standen, um uns, soweit es ging, heimwärts zu leuchten, sah ich Emlys schöne blaue Augen hinter Ham hervorschauen und hörte ihre liebliche Stimme uns vor dem schlechten Weg warnen.

»Eine allerliebste kleine Schönheit!« sagte Steerforth und nahm meinen Arm. »Es ist wirklich ein kurioses Haus und nette Leute, und es ist eine ganz neuartige Empfindung, mit ihnen umzugehen.«

»Und wie famos«, entgegnete ich, »daß wir grade zu dieser Verlobung kommen mußten! Ich habe in meinem Leben noch nicht so glückliche Menschen gesehen. Es war ganz entzückend, an ihrer ehrlichen Freude teilnehmen zu können.«

»Es ist ein tölpelhafter Kerl für das Mädchen, was?« sagte Steerforth.

Er war so herzlich gegen Ham und gegen sie alle gewesen, daß mir diese unerwartete und kalte Bemerkung einen Ruck gab. Aber als ich ihn rasch anblickte und seine lachenden Augen sah, antwortete ich ganz erleichtert:

»Ach, Steerforth. Du hast gut über die Armen scherzen. Miss Dartle kannst du wohl anführen oder deine Gefühle im Scherz vor mir zu verstellen suchen, ich aber weiß es besser. Wenn ich sehe, wie von Grund aus du sie verstehst, wie du auf das Glück dieser Fischer oder auf die Liebe meiner alten Kindsfrau eingehen kannst, weiß ich genau, daß Freude und Schmerz dieser Leute dir nicht gleichgültig sind. Und ich bewundere und liebe dich deshalb um so mehr, Steerforth.«

Er blieb stehen, sah mich an und sagte: »Daisy, ich glaube, du redest wirklich im Ernst. Du bist ein guter Kerl. Ich wollte, wir wären es alle.«

Im nächsten Augenblick sang er lustig Mr. Peggottys Lied, während wir raschen Schrittes nach Yarmouth zurückkehrten.

22. Kapitel Alte Umgebungen und neue Menschen


22. Kapitel Alte Umgebungen und neue Menschen

Steerforth und ich blieben länger als vierzehn Tage auf dem Lande. Natürlich waren wir viel beisammen, aber mitunter trennten wir uns auf ein paar Stunden. Er war ein guter Segler und ich ein recht mäßiger, und wenn er mit Mr. Peggotty, was ihm einen Hauptspaß machte, hinausfuhr, blieb ich meistens zu Haus.

Daß ich bei Peggotty wohnte, legte mir einen Zwang auf, von dem er frei war. Da ich wußte, wie sorgsam sie Mr. Barkis pflegte, wollte ich abends nicht lang wegbleiben, wogegen Steerforth es sich im Gasthaus einrichten konnte, wie er wollte. So kam es denn, wie ich hörte, daß er noch in der Nacht, wenn wir längst im Bette lagen, den Fischerleuten im Wirtshaus »Zum guten Vorsatz« kleine Feste gab oder in Seemannskleidern ganze Mondnächte hindurch auf der See war und erst mit der Morgenflut zurückkam. Ich wußte, daß seine ruhelose Natur und sein Feuergeist sich ebenso gern in schwerer Anstrengung bei bösem Wetter Luft machten, wie in jeder andern Art Aufregung, die sich ihm darbot. Deshalb überraschte mich sein Tun nicht.

Ein anderer Grund, weswegen wir uns manchmal trennten, war mein natürlicher Wunsch, die alte vertraute Umgebung von Blunderstone zuweilen zu besuchen. Selbstverständlich konnte Steerforth, nachdem er einmal dort gewesen war, kein besonderes Interesse an dem Orte haben, und so kam es, daß wir drei oder vier Tage hindurch einander nur ganz zeitig morgens beim Frühstück sahen und erst spät abends wieder. Ich hatte keine Ahnung, was er in der Zwischenzeit trieb, und wußte nur, daß er überall sehr beliebt war und zwanzig Mittel, sich die Zeit zu vertreiben, fand, wo ein anderer auch nicht eins entdeckt hätte.

Ich für meinen Teil beschäftigte mich auf meinen einsamen Spaziergängen damit, mir jeden Schritt des alten Wegs ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich wurde nicht müde, alte bekannte Plätze aufzusuchen. Ich verweilte auf ihnen, wie ich es früher in Gedanken so oft getan hatte. Das Grab unter dem Baum, wo meine beiden Eltern ruhten, und bei dem ich einst so unglücklich und verlassen gestanden, als es meine gute Mutter und ihr Kind aufnahm, der Hügel, den Peggottys zärtliche Fürsorge seitdem gepflegt und in ein Gartenbeet verwandelt hatte, war mir ein Ort, an dem ich oft stundenlang verweilte. Er lag ein wenig abseits vom Hauptwege in einer stillen Ecke, aber nicht so weit weg, daß ich nicht beim Auf- und Abgehen die Leichensteine hätte lesen können.

Manchmal schreckte ich aus meinen Gedanken auf, wenn die Kirchenglocke die Stunden schlug, aus meinen Gedanken, die sich immer Luftschlösser bauten, in denen ich große Rollen im Leben spielen und große Dinge vollbringen wollte. Immer malte ich mir dabei aus, daß meine Mutter noch am Leben sei.

In dem alten Haus war vieles anders geworden. Die alten verlassenen Krähennester waren fort und die Bäume, gestutzt und verschnitten, hatten ihre alte Gestalt verloren. Der Garten war verwildert, und die Hälfte der Fenster mit Laden verschlossen. Bewohnt wurde es jetzt nur von einem armen, wahnsinnigen Herrn und seinen Wärtern. Er saß immer an meinem kleinen Fenster und sah auf den Friedhof hinaus, und ich hätte gern gewußt, ob seine wirren Gedanken sich wohl auch mit denselben Träumen beschäftigten, die mich einst an dem heitern Morgen erfüllten, wo ich aus demselben kleinen Fenster in meinem Nachtkleid herausschaute und im Schimmer der aufgehenden Sonne den friedlich weidenden Schafen zusah.

Unsere alten Nachbarn, Mr. und Mrs. Grayper, waren nach Südamerika ausgewandert, und der Regen hatte sich einen Weg durch das Dach ihres verlassenen Hauses gebahnt und die Mauern fleckig und schimmlig gemacht. Mr. Chillip war wieder mit einer langen, knochigen, großnasigen Frau verheiratet, und sie hatten ein kleines, schwächliches Kind mit einem schweren Kopf, den es nicht aufrecht halten konnte, und zwei Glotzaugen, die sich immer zu wundern schienen, warum es überhaupt auf der Welt sei.

Wenn ich auf dem nächsten Wege nach Yarmouth zurückkam, schnitt ich mit einer Fähre den beträchtlichen Umweg, den die Landstraße machte, ab. Da Mr. Peggottys Haus kaum hundert Yards vom Wege lag, stattete ich ihm im Vorbeigehen stets einen Besuch ab. Und immer wartete Steerforth dort auf mich, und dann gingen wir zusammen nach Hause.

An einem dunklen Abend – später als gewöhnlich – fand ich ihn bei meiner Heimkehr von Blunderstone in Mr. Peggottys Haus in Gedanken versunken vor dem Feuer sitzen. Er war so vertieft, daß er mein Ankommen nicht bemerkte. Das hätte auch unter andern Umständen leicht stattfinden können, da der sandige Boden draußen das Geräusch der Schritte vollständig verschlang; aber selbst mein Eintritt weckte ihn nicht auf. Ich stand dicht neben ihm und sah ihn an, aber immer noch saß er in Gedanken verloren mit düsterer Miene da.

Er fuhr derart auf, als ich ihm meine Hand auf die Schulter legte, daß ich ordentlich erschrak.

»Du kommst fast über mich wie der Geist des Vorwurfs«, rief er beinahe ärgerlich aus.

»Ich mußte mich doch auf irgendeine Weise bemerkbar machen«, entschuldigte ich mich. »Ich habe dich wohl aus allen Himmeln gerissen?«

»Nein«, antwortete er, »nein.«

»Habe ich dich gestört?« fragte ich und setzte mich neben ihn.

»Ich habe mir die Bilder im Feuer betrachtet.«

»Du zerstörst sie ja für mich«, sagte ich, als er die Flamme rasch mit einem Holzscheit schürte und eine Unmasse glimmender Funken emporschlugen und hinauf in die Esse prasselten.

»Du hättest sie doch nicht sehen können«, entgegnete er. »Mir ist diese Zwitterzeit, wo es weder Tag noch Nacht ist, verhaßt. Wie lange du ausbleibst! Wo warst du?«

»Ich habe von meinem alten Spazierweg Abschied genommen.«

»Und ich habe hier gesessen«, sagte Steerforth und sah sich im Zimmer um, »und mir bei dem öden Eindruck, den alles in dieser Stunde macht, gedacht, daß die Menschen, die wir am Abend nach unserer Ankunft hier so glücklich beisammen fanden, vielleicht bald auseinander gerissen, tot oder wer weiß zu welchem Schaden gekommen sein können. David, bei Gott, ich wollte, ich hätte in den zwanzig Jahren meines Lebens einen einsichtsvollen Vater gehabt!«

»Aber mein lieber Steerforth, was fehlt dir denn?«

»Ich wollte von ganzem Herzen, ich wäre besser geleitet worden!« rief er aus. »Ich wollte von ganzer Seele, ich könnte mich besser beherrschen!« Es lag eine so leidenschaftliche Niedergeschlagenheit in seinen Worten, daß ich ganz erstaunt war. Er schien mehr verändert, als ich es je für möglich gehalten hätte.

»Ich wäre lieber dieser arme Peggotty oder dieser Lümmel von seinem Neffen«, sagte er, indem er aufstand und sich mit finsterer Miene an den Kamin lehnte – »als ich, der zwanzig Mal reicher und zwanzig Mal klüger ist. Lieber das, als sich selbst zur Qual sein, wie ich es mir während der letzten halben Stunde in diesem verwünschten Boote gewesen bin.«

Ich war derartig verblüfft durch sein verändertes Wesen, daß ich ihn anfangs nur stillschweigend beobachten konnte, wie er das Haupt auf die Hand gestützt trübe ins Feuer sah. Endlich bat ich ihn mit aller Aufrichtigkeit, mir zu sagen, was ihn in so ungewöhnlicher Weise bedrücke. Aber ehe ich noch ausgesprochen, fing er an zu lachen, erst ärgerlich, aber bald mit wiederkehrender Fröhlichkeit.

»Pah! Es ist nichts, Davy! Ich sagte dir doch schon in London, ich bin manchmal für mich ein öder Gesellschafter. Ich habe ein wenig Alpdrücken gehabt, das ist alles. Es gibt wunderliche Zeiten, wo einem die Ammenmärchen wieder einfallen, man weiß nicht, warum. Ich glaube, ich bin mir vorgekommen wie der böse Bube, der nicht folgen wollte und von Löwen gefressen wurde. Wahrscheinlich ist das ein grandioseres Bild für ›zum Teufel gehen‹. Was alte Weiber einen Schauder nennen, hat mich von Kopf bis zu Fuß überlaufen. Ich habe mich vor mir selbst gefürchtet.«

»Das ist wohl das einzige, vor dem du dich fürchtest, glaube ich!«

»Vielleicht! Und doch hätte ich manchmal Grund genug, mich vor allerlei zu fürchten«, antwortete er. »Basta, jetzt ists vorbei. Es wird mich nicht noch einmal überlaufen, David. Aber ich sage dir nochmals, mein guter Junge, daß es für mich und andere gut gewesen wäre, wenn ich einen festen und einsichtsvollen Vater gehabt hätte.«

Sein Gesicht war immer ausdrucksvoll, aber ich hatte noch nie einen so düstern Ernst darin bemerkt wie jetzt, wo er, in das Feuer schauend, so sprach.

»Soviel drum«, und er schnippte mit den Fingern und machte eine Handbewegung, als ob er ein Bild in der Luft verjagen wollte.

»Jetzt, wo es fort ist, bin ich wieder Mann, wie Macbeth sagt, und jetzt zum Essen, Daisy!«

»Ich möchte nur wissen, wo sie alle stecken«, sagte ich.

»Gott weiß«, sagte Steerforth. »Nachdem ich an der Fähre auf dich gewartet hatte, trat ich hier ein und fand das Haus leer. Und dann fing ich an zu grübeln, und so fandest du mich hier.«

Die Ankunft der Mrs. Gummidge mit einem Korbe erklärte, warum das Haus so lange leer gestanden. Sie war fortgegangen, um etwas zum Abendessen für Mr. Peggotty einzukaufen, wenn er mit der Flut zurückkehrte, und hatte für den Fall, daß Ham und die kleine Emly nach Hause kommen sollten, die Türe offenstehen lassen. Nachdem Steerforth Mrs. Gummidges Laune durch eine heitere Begrüßung und eine scherzhafte Umarmung sehr gehoben hatte, hängte er sich in mich ein und wir eilten fort.

Er war jetzt wieder guter Laune und unterhielt mich mit großer Lebhaftigkeit.

»Wir geben also morgen dieses Piratenleben auf, nicht wahr?« sagte er lustig.

»So haben wirs ausgemacht«, erwiderte ich, »und unsre Plätze in der Landkutsche sind schon bestellt.«

»Nun, dann kann man nichts mehr machen«, sagte Steerforth. »Ich habe fast vergessen, daß es noch etwas anderes auf der Welt zu tun gibt, als sich auf dem Meer draußen von den Wellen herumwerfen zu lassen. Ich wollte, es gäbe weiter nichts.«

»Solange die Sache neu ist«, sagte ich lachend.

»Leicht möglich«, erwiderte er, »obgleich für jemand, der so liebenswürdig und unschuldig ist wie mein junger Freund, die Bemerkung recht sarkastisch klingt. Ich weiß ja, ich bin ein launenhafter Mensch, David. Das weiß ich, aber solange das Eisen heiß ist, kann ich es auch tüchtig schmieden. Ich glaube, ich könnte schon ein ganz leidliches Examen als Lotse in diesen Gewässern ablegen.«

»Mr. Peggotty sagte, du wärest ein Wunder«, gab ich zur Antwort.

»Ein nautisches Phänomen, was!« lachte Steerforth.

»Freilich sagt er das und du weißt, mit welchem Recht, da du so eifrig betreibst, was du einmal angegriffen hast, und es so leicht bemeisterst. Was mich bei dir nur in Erstaunen versetzt, Steerforth, ist, daß du dich zufrieden gibst, deine Fähigkeiten so planlos zu verwenden.«

»Zufrieden?« antwortete er fröhlich. »Ich bin nie zufrieden, außer mit deiner Naivität, mein liebes Gänseblümchen. Und was die Planlosigkeit anbetrifft, so habe ich nie die Kunst gelernt, mich an eines der Räder, an denen sich unsre Tage herumdrehen, festzubinden. Ich habe es in einer schlechten Lehrzeit vergessen und jetzt ists mir einerlei. Du weißt doch, daß ich hier ein Boot gekauft habe?!«

»Was du für ein merkwürdiger Mensch bist«, rief ich aus und blieb stehen, denn ich hörte jetzt das erstemal davon. »Du kommst vielleicht in deinem Leben nicht wieder hierher!«

»Das weiß ich nicht gewiß. Ich habe Gefallen an dem Orte gefunden. Jedenfalls«, fuhr er fort und schlug einen hastigen Schritt ein, »habe ich ein Boot gekauft, das zum Verkauf stand. Einen Kutter nennt es Mr. Peggotty, und er wird es während meiner Abwesenheit unter seine Obhut nehmen.«

»Jetzt verstehe ich dich, Steerforth«, sagte ich frohlockend. »Du tust, als hättest du es für dich angeschafft, willst ihm aber im Grunde ein Geschenk damit machen. Das hätte ich gleich wissen können. Das sieht dir wieder ähnlich. Mein lieber Steerforth, ich kann dir gar nicht sagen, wie mich dein Edelsinn rührt.«

»Still!« sagte er und wurde rot. »Je weniger du Worte machst, desto besser.«

»Wußte ichs nicht?« rief ich aus, »sagte ich nicht, daß Freud und Leid dieser ehrlichen Herzen dir nicht gleichgültig bleiben können?«

»Ja, ja, ja«, antwortete er. »Alles das hast du gesagt, aber jetzt hör endlich auf.«

Besorgt, ihn zu verletzen, wenn ich länger bei diesem Thema verweilte, beschäftigte ich mich bloß in Gedanken damit, während wir noch rascher als vorhin unsern Weg zurücklegten.

»Das Boot muß neu getakelt werden«, fing Steerforth wieder an. »Ich werde Littimer zur Aufsicht dalassen, bis es ganz fertig ist. Habe ich dir schon gesagt, daß Littimer angekommen ist?«

»Nein.«

»Er kam diesen Morgen mit einem Brief von meiner Mutter.«

Als sich unsre Blicke begegneten, bemerkte ich, daß Steerforth blaß bis in die Lippen war, obwohl er mich fest ansah. Ich fürchtete, ein Streit zwischen ihm und seiner Mutter habe die Stimmung veranlaßt, die ich an ihm vorhin gesehen. Ich spielte darauf an.

»Ach nein«, sagte er, schüttelte den Kopf und lachte leise auf. »Nichts derart. Ja. Er ist angekommen. Mein Bedienter. Mein Macher.«

»Immer der alte?« fragte ich.

»Ganz der alte«, sagte Steerforth. »Kalt und still wie der Nordpol. Er soll Sorge tragen, daß das Boot umgetauft wird. Es heißt jetzt ›Sturmvogel‹. Was kümmert sich Mr. Peggotty um Sturmvögel. Ich will es umtaufen lassen.«

»Wie soll es heißen?« fragte ich.

»Die kleine Emly.«

Da er mich wieder so fest ansah, hielt ich es für einen Wink, daß er nicht gelobt zu sein wünschte. Ich konnte nicht umhin, meine Freude darüber auszudrücken, machte aber wenig Worte. Da ließ er wieder, wie gewöhnlich, sein Lächeln sehen und schien erleichtert zu sein.

»Aber schau nur«, rief er. »Da kommt die kleine Emly selbst und der Bursche mit ihr. Meiner Seel, er ist der reinste Ritter. Er verläßt sie nie.«

Ham war Schiffszimmermann geworden und hatte sich in diesem Handwerk ein großes Geschick angeeignet. Er trug seinen Arbeitsrock, sah rauh genug, aber doch sehr männlich aus und schien so recht ein passender Beschützer für das kleine blühende Wesen an seiner Seite zu sein. In seinem Gesicht lag eine Offenheit, die Ehrlichkeit und sichtlicher Stolz auf seine Braut, die ihm besser standen als ein schönes Gesicht. Ich dachte mir, als sie näherkamen, wie gut sie zueinander paßten.

Emly entzog Ham schüchtern ihre Hand, als wir stehenblieben, um sie zu begrüßen, und errötete, als sie sie Steerforth und mir gab. Als sie dann wieder weitergingen, legte sie ihre Hand nicht wieder in Hams Arm, sondern ging schüchtern mit gezwungenem Wesen neben ihm her. Mir kam das alles sehr hübsch und anziehend vor, und Steerforth schien dasselbe zu denken, als wir dem im Dämmerlicht des aufgehenden Mondes verschwindenden Paar nachsahen.

Plötzlich strich – offenbar jenen folgend – ein junges Weib an uns vorbei, dessen Näherkommen wir bisher nicht bemerkt hatten.

Sie war dünn angezogen, schäbig aufgeputzt und hatte ein hageres verlebtes Gesicht. Sie schien an weiter nichts zu denken, als jenen nachzugehen. Ebenso schnell wie die beiden andern war sie unsern Blicken in dem nebelhaften Dämmer entschwunden.

»Das ist ein schwarzer Schatten, der dem Mädchen da nachfolgt«, sagte Steerforth und blieb stehen. »Was bedeutet das?«

Er sprach mit so tonloser Stimme, daß es mich fast erschreckte.

»Sie wird sie anbetteln wollen«, sagte ich.«

»Eine Bettlerin wäre nichts Absonderliches«, meinte Steerforth, »aber es ist seltsam, daß die Bettlerin heute abend gerade diese Gestalt annehmen muß.«

»Warum?«

»Ich mußte an ein ähnliches Gesicht denken, als sie vorbeiging«, sagte er nach einer Pause. »Wo zum Teufel mag sie hergekommen sein?«

»Wahrscheinlich aus dem Schatten dieser Mauer«, sagte ich, als wir auf einen Weg traten, an dem eine Mauer hinlief.

»Es ist vorbei«, sagte er, über die Schulter blickend, »und möge alles Böse damit vorbei sein. Und jetzt zu Tisch!« Aber er sah sich noch ein paarmal nach der in der Ferne schimmernden See um und äußerte in abgerissenen Worten seine Verwunderung über die Erscheinung. Erst als wir darauf in dem einfachen Zimmer bei Kerzenschein fröhlich bei Tisch saßen, schien er zu vergessen.

Littimer war auch da und übte seine gewöhnliche Wirkung auf mich aus. Als ich ihn nach dem Befinden von Mrs. Steerforth und Miss Dartle fragte, antwortete er ehrerbietig, sie befänden sich leidlich wohl und ließen sich mir empfehlen. Weiter fügte er nichts hinzu, und doch schien er mir ganz deutlich damit verstehen zu geben: Sie sind sehr jung, Sir; über alle Maßen jung.

Wir hatten kaum das Diner beendet, als er an die Tafel herantrat und zu seinem Herrn sagte:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, Miss Mowcher ist hier.«

»Wer?« rief Steerforth ganz überrascht.

»Miss Mowcher, Sir.«

»Was, um Himmels willen, macht die hier?«

»Sie scheint aus dieser Gegend zu stammen, Sir. Sie sagte mir, sie mache jedes Jahr eine Geschäftsreise hierher. Ich traf sie heute nachmittag auf der Straße, und sie läßt fragen, ob sie sich die Ehre nehmen darf, Ihnen nach dem Essen ihre Aufwartung zu machen.«

»Kennst du die Riesin, Daisy?« fragte Steerforth.

Ich mußte leider gestehen und schämte mich wegen dieses Mangels vor Littimer, daß Miss Mowcher und ich einander nie vorgestellt worden waren.

»Dann sollst du sie kennenlernen. Sie ist eines der sieben Weltwunder. Wenn Miß Mowcher kommt, lassen Sie sie eintreten!«

Ich war sehr gespannt auf die Dame, besonders da Steerforth stets zu lachen anfing, wenn ich sie erwähnte, und sich entschieden weigerte, irgendeine Aufklärung zu geben. Ich war daher voller Erwartung, und wir saßen schon eine halbe Stunde beim Wein, als endlich die Tür aufging und Littimer in seiner gewohnten unerschütterlichen Ruhe meldete: »Miss Mowcher.«

Ich blickte nach der Türe und – sah nichts. Ich dachte gerade, Miss Mowcher lasse recht lang auf sich warten, als zu meinem unendlichen Erstaunen um die Ecke eines bei der Tür stehenden Sofas eine Zwergin gewackelt kam, vierzig bis fünfundvierzig Jahre alt, mit sehr großem Kopf und Gesicht, verschmitzten grauen Augen und so außerordentlich kurzen Armen, daß sie, um ihren Finger, wie sie es zu lieben schien, schelmisch an ihre Stumpfnase legen zu können, als sie mit Steerforth liebäugelte, ihrer Hand mit dem Kopf entgegenkommen mußte. Ihr Doppelkinn war so fett, daß die Bänder ihres Hutes samt der Schleife darin verschwanden. Der Hals fehlte, die Taille gleichfalls und die Beine schienen nicht der Rede wert. Wenn auch ihr Körper wie bei andern Menschen unten in ein paar Füße auslief, so war die Person doch so klein, daß sie vor einem gewöhnlichen Sessel wie vor einem Tische stand. In einem schlendrigen Stil gekleidet, den Zeigefinger an die Nase gelegt und eines der schlauen Augen zugekniffen, stand diese Dame eine Weile mit lustigem Gesicht noch vor uns und brach dann in einen Strom von Beredsamkeit aus.

»Was! Mein Blütenkind«, fing sie scherzend an und drohte Steerforth mit einem Schütteln ihres großen Kopfs. »Sie sind hier? So, so! O Sie nichtsnutziger Mensch, schämen Sie sich, was machen Sie so weit von Hause weg? Auf schlimmen Wegen, möcht ich wetten! O Sie sind mir ein Spitzbube, Steerforth. Ja, das sind Sie, und ich bin auch so was, nicht wahr? Hahaha. Sie hätten hundert Pfund gegen fünf gewettet, daß Sie mich hier nicht sehen würden, nicht wahr? Aber ich sage Ihnen, mein Jüngelchen, ich bin überall. Ich bin hier und dann wieder dort und wieder nirgends, ganz so, wie der Taler des Zauberkünstlers im Taschentuch der schönen Dame. Da wir grade von Taschentüchern sprechen und von Damen: was für ein Segen Sie für Ihre liebe Mutter sind! Nicht wahr, mein lieber Junge?«

Miss Mowcher band jetzt ihren Hut ab, warf die Bänder über die Schultern und setzte sich atemlos auf einen Fußschemel vor dem Kamin; und der Speisetisch bildete eine Art Mahagonilaube für sie.

»O du lieber Gott«, fuhr sie fort und schlug sich mit den Händen auf ihre kleinen Knie, mich listig von der Seite ansehend, »ich werde zu dick, das ist die Sache, Steerforth. Wenn ich eine Treppe hinaufsteige, wird mir jeder Atemzug so schwer wie ein Eimer Wasser. Wenn Sie mich aus einem Fenster im obersten Stockwerk herausblicken sehen, könnten Sie mich für eine schöne Frau halten, nicht wahr?«

»Ich würde Sie überall dafür halten«, antwortete Steerforth.

»Gehen Sie, Sie Schelm Sie«, rief das kleine Geschöpf und schlug nach ihm mit dem Taschentuch, mit dem sie sich eben das Gesicht abgewischt hatte, »und seien Sie nicht unverschämt. Aber in allem Ernst und auf Ehrenwort, ich war letzte Woche bei Lady Mithers, – ja, das ist eine Frau! Wie die sich trägt! – Und Mithers selbst kam in das Zimmer, in dem ich auf sie wartete, – ja, das ist ein Mann! Wie der sich trägt! Und seine Perücke dazu. Er hat sie jetzt schon zehn Jahre! Und er fing auch an, mir solche Komplimente zu machen, daß ich wirklich schon dachte, ich müßte klingeln. Hahaha. Er ist ein angenehmer Schwerenöter, aber er hat keine Grundsätze.«

»Was hatten Sie bei Lady Mithers zu tun?« fragte Steerforth.

»Das hieße ausplaudern, mein kleines Engelchen«, gab Miss Mowcher zur Antwort, legte wieder den Finger an die Nase, kniff das eine Auge zu und zwinkerte mit dem andern uns an wie ein Kobold von übernatürlicher Schlauheit. »Das geht Sie nichts an. Sie möchten wissen, ob ich ihr Haar vor dem Ausfallen bewahre oder ob ich es färben muß oder ihren Teint und ihren Augenbrauen nachhelfe, nicht wahr? Sie sollens erfahren, mein Liebling – wenn ich es Ihnen sage. Wissen Sie, wie mein Urgroßvater hieß?«

»Nein«, sagte Steerforth.

»Aufsitzer hieß er, mein Herzblättchen«, erwiderte Miß Mowcher, »und er stammt von einer ganzen Reihe von Aufsitzern ab. Und von ihnen habe ich die Fähigkeit gelernt, die Leute aufsitzen zu lassen.«

Etwas Derartiges, wie Miss Mowcher das Auge zukniff, war mir noch nicht vorgekommen. Sie hatte eine wunderliche Art, den Kopf schlau auf eine Seite zu legen, wenn sie auf eine Antwort wartete, und das Auge nach oben zu drehen wie eine Elster. Ich war ganz außer mir vor Erstaunen und starrte sie, allen Gesetzen der Höflichkeit zuwider, ununterbrochen an.

Sie hatte jetzt den Stuhl an sich herangezogen und holte geschäftig aus einem Beutel eine Anzahl Fläschchen, Schwämme, Kämme, Bürsten, Flanelläppchen und Brenneisen hervor, jedesmal ihren kurzen Arm bis an die Schulter in den Sack tauchend, und häufte die Sachen auf dem kleinen Stuhl auf. Plötzlich hielt sie inne und sagte zu Steerforth zu meiner großen Verlegenheit: »Wie heißt Ihr Freund?«

»Mr. Copperfield«, sagte Steerforth. »Er möchte Sie gerne kennenlernen.«

»O das kann er! Er sah mir schon lang danach aus«, erwiderte Miss Mowcher und wackelte lächelnd auf mich zu. »Ein Gesicht wie ein Pfirsich!« Ich saß auf einem Stuhl, trotzdem mußte sie sich noch auf Zehenspitzen stellen, um mich in die Wange zu kneifen. »Ordentlich verführerisch! Ich habe Pfirsiche sehr gern. Ich schätze mich glücklich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Copperfield!«

Ich sagte, daß das Glück nur meinerseits sei.

»O du meine Güte, wie höflich wir sind!« rief Miss Mowcher aus und machte einen komischen Versuch, ihr großes Gesicht mit ihrer kleinen Hand zu bedecken. »Es ist eine Welt voll blauen Dunstes, nicht wahr?«

Das galt uns beiden. Dann vergrub sie wieder ihren Arm in den Beutel.

»Wie meinen Sie das, Miss Mowcher?« fragte Steerforth.

»Hahaha! Was für eine erquickliche Sorte Schwindler wir sind, nicht wahr, mein Süßer«, erwiderte die Zwergin und kramte, den Kopf auf eine Seite geneigt, das eine Auge nach der Decke gerichtet, wieder in dem Strickbeutel herum. »Schauen Sie mal her.« Und sie nahm etwas heraus. »Schnitzel von den Nägeln des russischen Prinzen! Prinz ›A bis Z durcheinander‹ nenne ich ihn, denn sein Name ist ein Mischmasch von allen Buchstaben.«

»Der russische Prinz ist Ihre Kundschaft, nicht wahr?«

»So ists, mein Herzblättchen. Ich halte ihm die Nägel in Ordnung. Zweimal die Woche. Finger und Zehen.«

»Hoffentlich zahlt er gut«, sagte Steerforth.

»Er bezahlt, wie er spricht, mein liebes Kind – durch die Nase –« entgegnete Miss Mowcher. »Das ist keiner von den Glattrasierten wie Ihr; der Prinz. Das würden Sie zugeben, wenn Sie seinen Schnurrbart sähen. Rot von Natur, schwarz durch die Kunst.«

»Durch Ihre Kunst natürlich?«

Miss Mowcher nickte. »Mußte nach mir schicken. Konnte nicht anders. Das Klima veränderte seine Farbe. In Rußland gings noch, aber hier nicht. So einen rostigen Prinzen haben Sie Ihr Lebtag nicht gesehen. Wie altes Eisen.«

»Und deswegen nennen Sie ihn einen Schwindler?« fragte Steerforth.

»Sie wären mir der rechte«, antwortete Miss Mowcher und schüttelte heftig den Kopf. »Ich meinte doch, daß wir Schwindler sind, – wir Menschen im allgemeinen, – und zeigte Ihnen zum Beweis die Schnitzel von den Nägeln des Prinzen. Diese Nägel empfehlen mich bei den vornehmen Familien besser als alle meine Talente zusammengenommen. Ich trage sie stets bei mir. Sie sind die beste Empfehlung. Wenn Miss Mowcher dem Fürsten die Nägel schneidet, dann muß sie etwas können! Ich schenke sie den jungen Damen. Ich glaube wahrhaftig, sie legen sie in ihre Albums. Hahaha! Wahrhaftig, das ganze soziale System, wie es die Leute nennen, wenn sie Reden im Parlament halten, ist ein System aus Prinzennägeln«, sagte die winzige Frau und versuchte ihre kleinen Arme zu verschränken und nickte ernsthaft mit ihrem großen Kopf. Dann schlug sie sich auf die Knie, stand auf und rief: »Das nenne ich nicht Geschäfte betreiben. Kommen Sie her, Steerforth, lassen Sie uns die Polarregionen untersuchen, und dann haben Sies überstanden.«

Sie suchte sich zwei oder drei ihrer kleinen Werkzeuge heraus und ein Fläschchen und fragte zu meinem Erstaunen, ob der Tisch sie wohl tragen würde. Auf Steerforths bejahende Antwort schob sie einen Stuhl daran, und die Hilfe meiner Hand erbittend, stieg sie rasch hinauf wie auf eine Bühne.

»Wenn einer von Ihnen meine Knöchel gesehen hat«, rief sie, als sie sicher oben stand, »so sagen Sie es, und ich gehe nach Hause und bringe mich um.«

»Ich habe nichts gesehen«, bekannte Steerforth.

»Ich auch nicht«, sagte ich.

»Also gut. Dann kann ich ja noch weiter leben«, rief Miss Mowcher. »Nun komm, Hühnchen, zu Mrs. Strick und laß dich töten!«

Das war eine Einladung an Steerforth. Er setzte sich demgemäß mit dem Rücken gegen den Tisch, sein lachendes Gesicht mir zugewendet, und ließ sich den Kopf untersuchen – offenbar zu keinem andern Zweck als zu unserer Unterhaltung. Übrigens, Miss Mowcher auf dem Tisch stehen zu sehen, wie sie Steerforths reiches braunes Haar durch ein großes rundes Vergrößerungsglas besichtigte, war wirklich ein wunderlicher Anblick.

»Sie sind mir ein netter Junge«, sagte sie nach kurzer Untersuchung. »Wenn ich nicht wäre, hätten Sie in einem Jahr eine Glatze wie ein Mönch. Nur eine halbe Minute, junger Freund, und ich will Ihren Locken eine Frisur geben, die die nächsten zehn Jahre vorhält.«

Mit diesen Worten goß sie ein paar Tropfen auf ein Flanellfleckchen, rieb damit eine ihrer kleinen Bürsten ein, und fing an, Steerforths Kopf in der geschäftigsten Weise zu bearbeiten.

»Sie kennen doch Charley Pyegrave, den Sohn des Herzogs, nicht wahr?«

»Ein wenig«, sagte Steerforth.

»Das ist ein Mann! Der hat einen Backenbart! Können Sie sich vorstellen, der versucht es ohne mich – und ist noch dazu in der Garde!«

»Verrückt«, sagte Steerforth.

»Sollte man glauben. Aber verrückt oder nicht, er hats versucht. Wissen Sie, was er tut. Geht hin zu einem Parfümeur und verlangt eine Flasche Macassaröl.«

»Das tut Charley?« fragte Steerforth.

»Ja, Charley! Aber sie haben kein Macassaröl.«

»Was ist das? – Etwas zu trinken?« fragte Steerforth.

»Zu trinken«, erwiderte Miss Mowcher und gab ihm scherzhaft einen Klaps auf die Hand. »Um seinem Schnauzbart damit aufzuhelfen! Das wissen Sie recht gut. Im Laden war eine Frau, ein ältliches Frauenzimmer, fast schon ein Drache, die noch nie von so etwas gehört hatte. ›Ich bitte um Entschuldigung‹, sagt dieser Drache zu Charley, ›ist es nicht – nicht – nicht Schminke?‹ ›Was zum Teufel soll ich mit Schminke tun?‹ war die Antwort. ›Es war nicht bös gemeint‹, sagte die Frau. ›Es wird bei uns unter so viel Namen danach gefragt, daß ich dachte, es könnte Schminke sein.‹ – Sehen Sie, mein Kind, das ist wieder so ein Beispiel erquicklichen Humbugs! Ja, ja, hierherum frägt man nach solchen Dingen nicht viel. Das bringt mich wieder auf etwas. Ich habe kein hübsches Mädchen gesehen, seitdem ich hier bin, Jammy.«

»Nicht?« sagte Steerforth.

»Nicht den Schatten von einem«, erwiderte Miss Mowcher.

»Wir könnten ihr eine lebendige zeigen, glaube ich«, sagte Steerforth und drehte mir seine Augen zu, »nicht wahr, Daisy?«

»Allerdings«, gab ich zu.

»Aha!« rief das kleine Geschöpf und sah erst mich und dann Steerforth mit schlauem Blick an, »hüm!«

Der erste Ausruf klang wie eine Frage an uns beide, der zweite schien nur Steerforth zu gelten. Sie schien auf beide keine Antwort zu finden, sondern fuhr fort zu reiben, den Kopf auf eine Seite gelegt und ein Auge der Decke zugewandt, als ob sie von dort her eine Auskunft erhoffte.

»Eine Schwester von Ihnen, Mr. Copperfield?« fing sie nach einer kleinen Pause wieder an, »wie?«

»Nein«, sagte Steerforth, ehe ich antworten konnte, »nichts von der Sorte. Im Gegenteil! Mr. Copperfield war ein großer Bewunderer von ihr, wenn ich nicht irre.«

»So? Und ist es jetzt nicht mehr?« entgegnete Miss Mowcher. »Ist er unbeständig? O, pfui. Schwebt er von Blume zu Blume, bis Polly seine Zärtlichkeit erwidern wird? Heißt sie nicht Polly?« Die koboldartige Schnelligkeit, mit der sie mich mit diesen Fragen überfiel, und ihr forschender Blick brachten mich für einen Augenblick ganz außer Fassung.

»Nein, Miss Mowcher«, antwortete ich. »Sie heißt Emily.«

»Ah?« rief die Zwergin wie vorhin, »hem? Hem? Was für eine Plaudertasche ich bin, nicht wahr, Mr. Copperfield?«

In ihrem Blick und Ton lag etwas, was in Verbindung mit diesem Thema mir nicht paßte, deshalb sagte ich ernster, als bisher einer von uns gesprochen hatte:

»Sie ist ebenso schön wie tugendhaft und mit einem vortrefflichen Mann von gleichem Stande verlobt. Ich schätze sie wegen ihrer Verständigkeit ebensosehr, wie ich ihre Schönheit bewundere.«

»Sehr gut gesagt«, rief Steerforth. »Hört, hört, hört! Jetzt will ich die Neugier dieser kleinen Fatme, mein liebes Gänseblümchen, dadurch befriedigen, daß ich ihr nichts zu erraten übriglasse; also: sie ist augenblicklich in der Lehre bei Omer & Joram, Mützenmacher und so weiter und so weiter, hier in der Stadt. Verstehen Sie wohl? Omer & Joram! Verlobt ist sie mit ihrem Vetter, Ham Peggotty, Beruf Schiffszimmermann, Aufenthalt Yarmouth. Sie wohnt bei einem Verwandten, Vorname unbekannt, Familienname Peggotty, Beruf Schiffer – ebenfalls hier. Sie ist die hübscheste kleine Hexe von der Welt. Ich bewundere sie ebensosehr wie Mr. Copperfield. Ich möchte nicht, weil es mein Freund nicht gern sieht, ihrem Bräutigam unrecht tun, aber mir scheint sie zu gut für ihn zu sein. Ich bin überzeugt, sie könnte einen bessern finden, und ich möchte schwören, sie ist zu einer vornehmen Dame geboren.«

Miss Mowcher hörte mit unveränderter Kopfhaltung genau zu. Dann fuhr sie mit wunderbarer Schnelligkeit fort zu plaudern: »O das ist alles?« und ihre kleine Schere blitzte in allen Richtungen um Steerforths Kopf. »Sehr, sehr gut! Eine lange Geschichte! Sollte eigentlich enden: und sie wurden glücklich für ihr ganzes Leben, was? Wie heißt es im Pfänderspiel: Ich liebe meine Geliebte mit einem E, weil sie ›E‹ntzückend ist, ich hasse sie mit einem E, weil sie ›E‹ingenommen ist (für einen andern), ich halte sie für die ›E‹inzige und ›E‹ntführe sie. Ihr Name ist ›E‹mily und sie wohnt zu ›E‹bner ›E‹rde. Hahaha, Mr. Copperfield, was halten Sie von der Wankelmütigkeit?«

Sie sah mich mit ausnehmender Schlauheit an, wartete aber keine Antwort ab und fuhr in einem Atem fort:

»So! Wenn je ein Nichtsnutz wiederhergerichtet worden ist, so sind Sies, Steerforth. Wenn ich einen Kopf auf der Welt verstehe, ist es der Ihrige. Hören Sie genau, was ich Ihnen sage, mein Liebling: Ich verstehe den Ihren«, und sie spähte ihm ins Gesicht. »So, jetzt können Sie sich ›drücken‹, Jammy, wie wir bei Hof sagen. Und wenn Mr. Copperfield Platz nehmen will, so will ich ihn bearbeiten.«

»Was meinst du dazu, Daisy?« fragte Steerforth lachend und bot mir seinen Platz an. »Willst du dich herrichten lassen?«

»Ich danke Ihnen, Miss Mowcher, heute nicht!«

»Sagen Sie nicht nein«, entgegnete die kleine Frau und sah mich mit Kennermiene an. »Ein bißchen mehr Augenbrauen?«

»Ich danke Ihnen«, erwiderte ich. »Ein andermal.«

»Ein Viertelzoll weiter nach den Schläfen zu«, sagte Miss Mowcher, »läßt sich in vierzehn Tagen machen.«

»Nein, ich danke Ihnen. Jetzt nicht.«

»Nur beim Ohrläppchen nehmen«, drang sie in mich, »nicht? Nun, so wollen wir den Grundstein zu einem Backenbart legen!«

Ich konnte nicht anders, ich mußte erröten, als ich es ausschlug, denn ich fühlte, daß sie meine schwache Seite berührt hatte.

Als Miss Mowcher sah, daß ich jetzt wenigstens von ihrer Kunstfertigkeit keinen Gebrauch machen wollte und ungerührt von dem Anblick des kleinen Fläschchens blieb, das sie mir in ihrer Überredungskunst vor die Augen hielt, sagte sie, wir würden schon eines schönen Morgens anfangen, und bat mich, ihr vom Tische herabzuhelfen. Auf meine Hand gestützt sprang sie mit großer Gewandtheit herunter und band sich ihr Doppelkinn in ihren Hut.

»Das Honorar«, sagte Steerforth, »beträgt?«

»Fünf blanke«, erwiderte Miss Mowcher, »und es ist spottbillig, mein Hühnchen. Bin ich nicht ein lockerer Zeisig, Mr. Copperfield?«

Ich antwortete höflich: »Durchaus nicht.« Aber ich dachte mirs doch, als sie die beiden halben Kronen in die Luft warf, wieder auffing und sie dann in die Tasche fallen ließ.

»Das ist die Kasse«, erklärte sie und schlug sich auf die Tasche, und dann steckte sie ihre sieben Sachen wieder in den Strickbeutel.

»Habe ich alle meine Fuchsfallen? Ich kann es doch nicht machen wie der lange Ned Bedwood, als sie ihn in die Kirche schleppten, um ihn mit jemand zu trauen, und dabei die Braut vergaßen. Hahaha, ein böser Kerl, der Ned. Aber drollig. Nun, ich weiß schon, ich breche Ihnen jetzt das Herz, aber ich muß Sie verlassen. Sie müssen alle Ihre Kraft zusammennehmen und zusehen, wie Sies tragen können. Adieu, Mr. Copperfield! Hüten Sie sich, Jockey von Norfolk! Was habe ich nur alles zusammengeschwatzt?! Aber da seid Ihr beiden Ungeheuer dran schuld. Ich verzeihe Euch. ›Bob schwor‹, wie der Engländer sagte, statt Bon soir nach der ersten französischen Lektion. ›Bob schwor‹, meine Hühnchen.«

Den Beutel über dem Arm wackelte sie hinaus, blieb aber noch einmal in der Türe stehen und fragte, ob sie uns nicht eine Locke zum Andenken dalassen sollte. Dann ging sie.

Steerforth lachte so sehr, daß ich mitlachen mußte, obwohl mir nicht danach zumute war. Dann erzählte er mir, daß Miss Mowcher einen großen Kundenkreis habe und sich vielen Leuten auf mancherlei Weise nützlich mache. Einige behandelten sie als ein bißchen verrückt, aber sie sei eine scharfe Beobachterin und ebenso weitblickend wie kurzarmig.

Ich wollte wissen, ob sie bösartig sei oder gutherzig. Aber da ich mich vergeblich bemühte, seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt zu lenken, ließ ich davon ab. Dagegen erzählte er mir mit großer Redelust von ihrem Geschick und ihren Einkünften, und daß sie das Schröpfen wissenschaftlich betriebe. Für den Fall, daß ich jemals ihrer Dienste bedürfen sollte!

Sie bildete den Hauptgegenstand unserer Unterhaltung während des Abends, und als ich für die Nacht von ihm schied, rief er mir noch ›Bob schwor‹, wie der Engländer sagte, nach.

Als ich Mr. Barkis‘ Haus erreichte, fand ich zu meiner großen Verwunderung Ham vor demselben auf und ab gehen und vernahm, daß die kleine Emly drin sei.

»Ja, sehen Sie, Masr Davy«, sagte Ham zögernd, »Emly möt drin mit jemand snaken.«

»Ich sollte meinen«, sagte ich lächelnd, »das wäre grade ein Grund für Sie, drin zu sein, Ham.«

»Im allgemeinen freilich, Masr Davy«, sagte er leise, »sollte woll sin. Ein Mächen, Sir, ein junges Mächen, das Emly mal kannte und eigentlich nicht mehr kennen sollte –«

Bei diesen Worten fiel mir plötzlich die Gestalt ein, die ich vor ein paar Stunden hatte von der Mauer kommen sehen.

»Is een armes Wurm, Masr Davy«, sagte Ham. »Wird von allen unner de Foit treten in der Stadt. In den Gräbern auf dem Kirchhof liegt keiner, vor dem sich die Leute mehr scheuten.«

»Bin ich ihr heut abend nicht begegnet, Ham, als wir euch trafen?«

»Woll möglich. Weiß es freilich nich, Masr Davy. Aber nicht lange drauf kam sie zu Emly ans Fenster geschlichen und flüsterte: ›Emly, Emly, um Christi willen, hab ein weiblich Herz für mich. Ich war einst wie du!‹ Das waren feierliche Worte, Masr Davy!«

»Gewiß wohl, Ham. Und was tat Emly?«

»Emly sagte: ›Marta, bist dus? Marta, bist dus wirklich?‹ Sie hatten manchen Tag bei Mr. Omer gearbeitet.«

»Ja, ich entsinne mich ihrer«, rief ich, denn ich erinnerte mich an eins der beiden Mädchen, die ich einst bei meinem ersten Besuch dort gesehen hatte. »Ich entsinne mich ihrer jetzt genau.«

»Marta Endell« sagte Ham, »zwei oder drei Jahre älter als Emly. War ihre Schulfreundin.«

»Ihren Namen kenne ich nicht«, sagte ich. »Ich wollte Sie nicht unterbrechen.«

»Was das betrifft, Masr Davy«, erwiderte Ham, »is allens mit den Worten gesagt: ›Emly, um Christi willen, hab ein weiblich Herz für mich. Ich war einmal so wie du! –‹ Sie wollte mit Emly sprechen; Emly konnte nicht – dort, denn Onkel war nach Hause gekommen, und er wollte nicht – nein, Masr Davy, – so gut und weichherzig er ist, so konnte er doch nicht um alle Schätze, die im Meer liegen, die beiden nebeneinander sehen.«

Ich fühlte, wie wahr das sei, und empfand es so deutlich wie Ham.

»Emly schreibt also mit Bleistift einen Zettel und reicht ihn ihr durchs Fenster hinaus. ›Zeig das meiner Tante, Mrs. Barkis, und sie wird dich aus Liebe zu mir aufnehmen, bis der Onkel ausgegangen ist und ich kommen kann.‹ Nach und nach erzählt sie mirs, Masr Davy, und bittet mich, sie herzubringen. Was kann ich tun? Freilich sollte sie so eine nicht kennen, aber ich kann ihr nichts abschlagen, wenn sie weint.«

Er griff in die Brust seiner zottigen Jacke und zog sehr sorglich eine kleine, hübsche Börse hervor.

»Und wenn ichs ihr nicht abschlagen konnte, als ihr die Tränen im Auge standen, Masr Davy«, sagte Ham, »wie könnt ichs ihr abschlagen, als sie mir das zu tragen gab, – da ich doch wußte, wozu – son lütt Spielzeuch und so wenig Geld drin! Meine liebe Emly!«

Ich schüttelte ihm warm die Hand, – es tat mir wohler als Worte, und wir gingen ein paar Minuten schweigend auf und ab. Da öffnete sich die Türe, und Peggotty winkte Ham, einzutreten. Ich wollte mich entfernen, aber sie kam mir nach und bat mich ebenfalls hereinzukommen. Da die Tür unmittelbar in die Küche führte, stand ich, eh ich mir dessen recht bewußt war, mitten unter ihnen.

Das Mädchen – dasselbe, das ich auf den Dünen gesehen, – kniete nicht weit vom Feuer auf dem Fußboden und hatte den Kopf und den Arm auf einen Stuhl gelegt. Aus ihrer Stellung erriet ich, daß Emly eben erst aufgestanden war, und daß Kopf und Arm auf ihrem Schoße geruht hatten.

Ich konnte nicht viel von dem Gesicht des Mädchens sehen, denn es war halb von dem gelösten Haar bedeckt, das zerrauft aussah, als ob sie es sich zerwühlt hätte. Ich konnte nur erkennen, daß sie jung und blond war.

Peggotty hatte geweint. Die kleine Emly ebenfalls. Niemand sprach ein Wort. Die Schwarzwälderuhr schien in dem Schweigen doppelt so laut zu ticken wie gewöhnlich.

Emly redete zuerst.

»Marta möchte nach London gehen«, sagte sie zu Ham.

Er stand zwischen beiden und sah auf das kniende Mädchen mit einem Gemisch von Mitleid und Besorgnis, sie möchte in zu nahe Berührung mit ihr kommen, die er so liebte. Alle sprachen, als ob sie krank wäre, fast im Flüsterton.

»Besser dort als hier«, sagte eine dritte Stimme laut. Es war Marta; aber sie regte sich nicht dabei. »Niemand kennt mich dort. Hier kennt mich jeder.«

»Was will sie dort?« fragte Ham.

Das Mädchen hob den Kopf empor und sah einen Augenblick schmerzlich auf. Dann ließ sie ihn wieder sinken wie ein Weib im tiefsten Schmerz.

»Sie wird versuchen, ordentlich zu sein«, sagte die kleine Emly. »Du weißt nicht, wie sie zu uns gesprochen hat! Nicht wahr, Tante.«

Peggotty nickte mitleidig mit dem Kopf.

»Ich will es versuchen«, sagte Marta, »wenn Ihr mir von hier fort helft. Schlimmer als hier kann es nicht werden. Vielleicht wird es besser. O«, sagte sie mit angstvollem Schaudern, »bringt mich fort von diesen Straßen, wo die ganze Stadt von Kindheit an mich kennt.«

Als Emly Ham ihre Hand hinhielt, sah ich, wie er ihr einen kleinen Leinwandbeutel hineinlegte. Sie nahm ihn in der Meinung, es sei ihre Börse, bemerkte aber bald den Irrtum. »Is allens dien, Emly«, hörte ich ihn sagen. »Habe nichts in der Welt, was nicht dein ist, mein Herz! Es macht mir nur deinetwegen Freude.«

Die Tränen traten Emly von neuem in die Augen, aber sie wandte sich ab und ging zu Marta hin. Was sie ihr gab, weiß ich nicht. Ich hörte sie nur flüsternd fragen: »Reicht es?«

»Mehr als genug«, sagte das Mädchen, ergriff Emlys Hand und küßte sie. Dann stand sie auf, nahm ihr Tuch zusammen, bedeckte sich das Gesicht damit und ging laut weinend nach der Türe. Auf der Schwelle blieb sie einen Augenblick stehen, als wollte sie noch etwas sagen oder umkehren, aber kein Wort kam über ihre Lippen. In das Tuch schluchzend, ging sie hinaus. Als die Tür zufiel, sah die kleine Emly uns drei aufgeregt an, verbarg dann ihr Gesicht in den Händen und fing an zu schluchzen.

»Weine nicht, Emly«, sagte Ham und klopfte ihr milde auf die Schulter. »Du sollst nicht so weinen, liebes Herz.«

»Ach Ham«, rief sie immer noch bitterlich schluchzend aus, »ich bin nicht so, wie ich sein sollte. Ich bin manchmal nicht so dankbar, wie ich sein sollte.«

»Doch, doch, bist es immer, ich weiß es«, sagte Ham.

»Nein, nein, nein«, schrie die kleine Emly und schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht so gut, wie ich sein sollte!«

Und wieder weinte sie, als ob ihr das Herz brechen müßte.

»Ich mute deiner Liebe zu viel zu, ich weiß, daß ichs tue. Ich quäle dich oft und bin launisch gegen dich, immer, wenn ich ganz anders sein sollte. Du bist niemals so gegen mich. Warum kann ich nur so sein, wo ich doch an nichts weiter denken sollte, als wie ich mich dir dankbar zeigen und dich glücklich machen könnte.«

»Du machst mich immer glücklich, mein Herz!« sagte Ham. »Ich bin glücklich, wenn ich dich sehe. Ich bin den ganzen Tag glücklich, wenn ich an dich denke.«

»Weil du so gut bist!« rief sie aus. »Ach Ham! Es wäre besser für dich, wenn du eine andere liebtest, eine die beständiger und deiner würdiger ist als ich. Die ganz in dir aufginge und niemals launenhaft wäre wie ich!«

»Armes, kleines Weichherz!« sagte Ham leise. »Marta hat sie außer sich gebracht.«

»Bitte, Tante«, schluchzte Emly, »komm her und laß mich meinen Kopf auf deinen Schoß legen. Ach, ich bin heute sehr unglücklich, Tante. Ich bin nicht so gut, wie ich sein sollte. Noch lange nicht, ich weiß es wohl.«

Peggotty setzte sich auf den Stuhl neben das Feuer. Emly schlang ihre Arme um sie, kniete neben ihr nieder und sah ihr flehend ins Gesicht.

»Ach bitte, Tante, versuch mir beizustehen. Lieber Ham, versuch mir beizustehen. Mr. David, der alten Zeiten wegen, bitte, helfen Sie mir. Ich muß besser werden! Ich muß hundertmal dankbarer werden, als ich jetzt bin. Ich muß mehr fühlen, welches Glück es ist, die Frau eines braven Mannes zu werden und ein friedvolles Leben zu führen. O Gott, o Gott, ach mein Herz, mein Herz!«

Sie verbarg ihr Gesicht an der Brust meiner alten Kindsfrau, hörte mit ihrer Klage, die in ihrem Schmerz etwas Kindliches hatte, auf und weinte stumm, während Peggotty sie zu beruhigen suchte, wie ein kleines Kind.

Allmählich wurde sie ruhiger, und dann sprachen wir ihr Trost zu, bis sie wieder aufblickte und mit uns redete. Dann unterhielten wir sie, bis sie wieder lächeln konnte und dann lachen, und sich zuletzt halb beschämt wieder aufrecht setzte, während Peggotty ihr die Locken zurechtstrich, ihr die Augen trocknete und sie wieder hübsch machte, damit der Onkel beim Nachhausekommen nicht frage, warum sein Liebling geweint habe.

Sie tat heute etwas, was ich noch nie bei ihr gesehen hatte, sie küßte ihren Bräutigam unschuldig auf die Backen und drängte sich dicht an seine derbe Gestalt, als wäre er ihre beste Stütze. Als sie in dem matten Mondlicht zusammen fortgingen, und ich ihnen nachblickte und dabei an Marta denken mußte, sah ich, wie sie seinen Arm mit beiden Händen umklammerte und sich immer noch dicht an ihn drängte.

23. Kapitel Ich sehe, daß Mr. Dick recht hatte, und wähle einen Beruf


23. Kapitel Ich sehe, daß Mr. Dick recht hatte, und wähle einen Beruf

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, dachte ich viel an die kleine Emly und ihre große Aufregung gestern abend nach Martas Fortgehen. Ich hatte das Gefühl, daß es unrecht sei, Steerforth von der erlebten Szene etwas zu verraten. Gegen niemand fühlte ich eine zartere Empfindung als gegen das liebliche Geschöpf, das meine Gespielin gewesen und das ich auf das hingehendste liebte. Etwas zu erzählen, was mir der Zufall und die Fülle ihrer Herzensregung offenbart, kam mir wie eine Roheit vor, unwürdig meiner selbst, unwürdig des Glanzes unserer reinen Kinderjahre, der immer noch ihr Haupt umgab. Ich faßte daher den Entschluß, es als Geheimnis in meiner Brust zu bewahren, und das verlieh Emlys Bild einen neuen Reiz.

Während wir frühstückten, erhielt ich einen Brief von meiner Tante, dessen Inhalt derart war, daß ich glaubte, Steerforth werde mir einen Rat erteilen können. So beschloß ich, mit ihm darüber während unserer Heimreise zu sprechen. Vorderhand nahm der Abschied von unsern Freunden genug Zeit in Anspruch. Mr. Barkis war in seinem Schmerz über unsere Abreise nicht der letzte. Ich glaube, er hätte seinen Geldkoffer noch einmal aufgesperrt und eine zweite Guinee geopfert, wenn er uns dadurch achtundvierzig Stunden in Yarmouth hätte zurückhalten können. Peggotty und ihre ganze Familie waren voll Schmerz über unsere Abreise. Das ganze Geschäft Omer & Joram stand unter der Türe, um uns Lebewohl zu sagen. So viel Schiffer waren zu Steerforth gekommen, um unsere Koffer an den Wagen zu bringen, daß das Gepäck eines ganzen Regiments hätte befördert werden können. Mit einem Wort, wir reisten zum allgemeinen Bedauern ab und ließen viele Leute sehr betrübt zurück.

»Bleiben Sie lange hier, Littimer?« fragte ich, als der Wagen auf die Abfahrt wartete.

»Nein, Sir. Wahrscheinlich nicht sehr lange.«

»Er kann es jetzt noch nicht wissen«, bemerkte Steerforth leichthin. »Er weiß, was er zu tun hat, und wird es schon besorgen.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte ich.

Littimer griff bei meinem Kompliment an den Hut, und ich kam mir etwa acht Jahre alt vor. Er griff noch einmal an den Hut und wünschte uns glückliche Reise. Und wir sahen ihn noch von weitem auf dem Trottoir stehen, ein so ehrwürdiges Geheimnis wie eine ägyptische Pyramide.

Eine kleine Weile sprachen wir nicht. Steerforth war ungewöhnlich stumm, und ich hatte genug zu tun mit meinen Gedanken, die sich mit den alten Plätzen und den Veränderungen, die während meiner Abwesenheit vielleicht zu Hause vorgekommen sein mochten, beschäftigten. Schließlich wurde Steerforth plötzlich wieder fröhlich und gesprächig, wie das so seine Art war, faßte mich am Arm und fragte: »Sprich doch, David! Was ists mit dem Brief, den du heute beim Frühstück erwähntest?«

»Richtig«, sagte ich und griff in die Tasche. »Er ist von meiner Tante.«

»Und was schreibt sie? Ist es von Belang?«

»Sie erinnert mich daran, daß der Zweck meiner Reise war, mich ein wenig umzusehen und ein wenig nachzudenken.«

»Was du natürlich getan hast.«

»Eigentlich nur zum Teil. Um die Wahrheit zu sagen, ich fürchte, ich habe es vergessen.«

»Nun so sieh dich jetzt um und hole das Versäumte nach«, sagte Steerforth. »Dort rechts hast du flaches Land und viel Sumpf darin, und links wirst du dasselbe sehen. Schau gradeaus, und du wirst keinen Unterschied finden. Und hinter uns ists gradeso.«

Ich lachte und erwiderte, daß ich aus dem Anblick solcher Einförmigkeit allerdings keinen Anhaltspunkt für einen geeigneten Beruf gewinnen könnte.

»Was meint deine Tante weiter?« fragte Steerforth und blickte auf den Brief in meiner Hand. »Schlägt sie dir etwas vor?«

»O ja. Sie fragt mich, was ich davon halte, Proktor zu werden. Was hältst du davon?«

»Ach, ich weiß nicht«, antwortete Steerforth gleichgültig. »Du kannst, denke ich, das ebenso gut werden wie irgend etwas anderes.« Ich mußte wieder lachen, weil ihm alles so vollständig gleichgültig schien, und sagte es ihm.

»Was ist überhaupt ein Proktor, Steerforth?«

»Na. Das ist so eine Art mönchischer Anwalt. Er ist das bei einigen vermoderten Gerichtshöfen, in Doctors‘ Commons – einem alten, stillen Winkel beim St. Pauls-Kirchhof, was ein Solicitor beim gewöhnlichen Zivilgericht ist. Er bekleidet ein Amt, das von Rechts wegen schon vor zwei Jahrhunderten hätte aufhören sollen. Ich kann dirs am besten erklären, wenn ich dir erzähle, was Doctors‘ Commons ist. Es ist ein kleiner Ort in einem abgelegenen Winkel, wo sie nach sogenanntem Kirchenrecht vorgehen, allerhand Kniffe handhaben nach uralten Ungeheuern von Parlamentsakten, von denen drei Viertel der Welt überhaupt nichts weiß, während das andere Viertel der Meinung ist, man hätte sie bereits in fossilem Zustande ausgegraben. Es ist ein Ort, der ein altes Monopol hat für Rechtsstreitigkeiten über Erbschafts- und Heiratsangelegenheiten und Prozesse wegen Schiff- und Bootsfahrt.«

»Dummes Zeug, Steerforth!« rief ich aus. »Zwischen Kirchenrecht und Seerecht besteht doch keine Verwandtschaft.«

»Gewiß nicht, mein Lieber, aber tatsächlich wird in beiden in Doktors Commons von ein und denselben Richtern geurteilt und entschieden. Wenn du erst einmal dort bist, wirst du sie über die Hälfte der nautischen Wörter in Youngs Marine Lexikon stolpern hören in Sachen der ›Nancy‹ gegen die ›Sarah Jane‹ wegen Beschädigung durch Zusammenstoß, oder weil Mr. Peggotty und die Schiffer von Yarmouth während eines Sturms dem Ostindienfahrer ›Nelson‹ mit Anker und Rettungsleinen zu Hilfe gefahren sind. Und kommst du ein anderes Mal hin, wirst du sie vertieft finden in die Zeugenaussagen gegen einen wegen schlechter Führung angeklagten Geistlichen, und der Richter in dem Schiffsprozeß ist vielleicht Advokat in der Sache des Geistlichen oder umgekehrt. Sie sind wie die Schauspieler. Sind einmal Richter, einmal Advokaten, dann wieder gar nichts von beiden, aber immer ist es ein sehr angenehmes, rentables kleines Privattheatergeschäft, das vor einer ungewöhnlich erlesenen Zuhörerschaft seine Vorstellung gibt.«

»Aber Advokat und Proktor sind doch nicht ein und dasselbe«, fragte ich etwas verwirrt, »oder doch?«

»Nein«, erwiderte Steerforth, »Die Advokaten müssen auf der Universität den Doktor machen. Deshalb weiß ich auch von ihnen etwas. Die Proktoren sind von den Advokaten beschäftigt. Beide beziehen sehr hübsche Honorare und machen im allgemeinen recht gemütliche Geschäftchen miteinander. Ich möchte dir überhaupt anempfehlen, dich für Doctors‘ Commons zu entscheiden, David. Sie brüsten sich dort mit ihrer Vornehmheit, wenn dir das etwas ausmacht.«

Ich zog bei dem etwas karikierten Bilde, das Steerforth eben entworfen hatte, seine Ansichten in gehörigen Betracht und fühlte mich, wenn ich an das altertümliche und würdevolle Aussehen dachte, das ich unwillkürlich mit dem alten, stillen Winkel nicht weit vom St. Pauls-Kirchhof verband, gar nicht abgeneigt, auf den Plan meiner Tante einzugehen. Sie überließ mir übrigens ganz die Entscheidung und sagte mir ganz offen, daß es ihr kürzlich beim Besuch ihres Proktors, als sie ihr Testament zu meinen Gunsten habe umändern lassen, eingefallen sei.

»Es ist jedenfalls ein sehr löbliches Vorhaben deiner Tante«, sagte Steerforth, »und verdient Aufmunterung. Daisy; mein Rat ist, daß du dich für Doctors‘ Commons entscheidest.«

Mein Entschluß stand jetzt fest. Ich erzählte Steerforth weiter, daß mich meine Tante in der Stadt erwarte und sich auf eine Woche in einem Privathotel in Lincolns Inns Fields, das eine steinerne Treppe und eine Eingangstür im Dach aufzuweisen habe, eingemietet hätte. Meine Tante war nämlich fest überzeugt, daß jedes Haus in London Nacht für Nacht von einer Feuersbrunst bedroht sei.

Wir vollendeten den Rest unserer Reise in größter Heiterkeit und kamen des öftern auf Doctors‘ Commons zu sprechen und versetzten uns im Geiste in ferne Zeit, wo ich einst Proktor sein würde, was Steerforth so drollig auszumalen wußte, daß wir beide sehr lustig waren. Als wir unser Reiseziel erreichten, versprach er mir, mich übermorgen zu besuchen, und ich fuhr nach Lincolns Inns Fields, wo mich meine Tante bereits mit dem Abendessen erwartete.

Wenn ich während der Zeit meiner Abwesenheit eine Reise um die Welt gemacht haben würde, hätten wir uns nicht freudiger begrüßen können. Meine Tante weinte fast, als sie mich umarmte, und sagte unter geheucheltem Lächeln, daß, wenn meine arme Mutter noch am Leben wäre, sie gewiß Tränen vergossen haben würde.

»Du hast also Mr. Dick zu Hause gelassen, Tante? Das tut mir leid! – Ach, Janet, wie gehts?«

Als Janet mit einem Knix dankte, fiel mir auf, daß das Gesicht meiner Tante sehr lang wurde.

»Auch mir tut es sehr leid«, fuhr meine Tante fort und rieb sich die Nase. »Ich habe keine Ruhe gehabt, Trot, seit ich hier bin.«

Ehe ich noch fragen konnte, fuhr sie bereits fort:

»Ich bin überzeugt« – sie legte die Hand in bekümmerter Entschlossenheit auf den Tisch –, »daß Dicks Charakter nicht geeignet ist, die Esel fernzuhalten. Es fehlt ihm an der nötigen Entschlossenheit. Ich hätte lieber Janet zu Hause lassen sollen und wäre dann vielleicht ruhiger gewesen. Wenn je ein Esel über meinen Rasen gegangen ist«, sagte sie mit Nachdruck, »dann war es heute nachmittag um vier Uhr. Ein kalter Schauder überfiel mich vom Scheitel bis zur Zehe, und ich weiß genau, es war ein Esel.«

Ich wollte es ihr ausreden, aber sie wies jeden Trost zurück.

»Es war ein Esel«, sagte sie, »und es war der mit dem gestutzten Schweif, auf dem die ›Mordschwester‹ damals ritt, als sie zu uns kam.« – Sie nannte Miss Murdstone nie anders. – »Wenn es einen Esel in Dover gibt, dessen Frechheit ich am wenigsten ertragen kann, so ist es dieser«, und sie schlug auf den Tisch.

Auch Janet versuchte sie zu beruhigen und sagte, der betreffende Esel sei zur Zeit mit Sand- und Kiesfahren beschäftigt und somit keiner Übertretung fähig. Meine Tante aber wollte nichts hören.

Das Abendessen war gut und wurde ganz heiß serviert, obgleich die Zimmer meiner Tante sehr hoch lagen, – ich weiß nicht, ob sie für ihr Geld so viel steinerne Stufen wie möglich beanspruchte oder nur in nächster Nähe der Tür im Dache sein wollte, – und bestand aus einem Huhn, Beefsteak und Gemüse; alles war ausgezeichnet. Meine Tante hatte so ihre eignen Ansichten über Londoner Lebensmittel und aß nur wenig.

»Ich glaube, dieses arme Huhn ist in einem Keller ausgekrochen«, sagte sie, »und nicht an die Luft gekommen außer auf einen Droschkenstand. Ich hoffe, das Beefsteak ist Rindfleisch, aber ich glaube es nicht. Nichts ist echt in dieser Stadt, nur der Schmutz.«

»Kann denn das Huhn nicht vom Lande sein, Tante?« fragte ich.

»Ausgeschlossen! Es würde einem Londoner Kaufmann kein Vergnügen machen, etwas Echtes zu verkaufen.«

Ich wagte nicht, diese Meinung zu bestreiten, ließ mir jedoch das Abendessen gut schmecken, was meiner Tante sehr zur Befriedigung gereichte. Als der Tisch abgeräumt war, half ihr Janet das Haar aufstecken, damit sie ihre Nachtmütze aufsetzen konnte, die kleiner war als gewöhnlich – wegen der Möglichkeit einer Feuersbrunst. Dann nahmen wir am Kamin Platz. Nach gewissen feststehenden Regeln, von denen nicht die leiseste Abweichung geduldet wurde, bereitete ich ihr ein Glas weißen Glühwein und schnitt eine Scheibe Toast in lange dünne Streifen. Damit sollte der Rest des Abends vergehen. Sie saß mir gegenüber, trank ihren Glühwein und tunkte die Röstschnitten hinein und sah mich unter dem Besatz ihrer Nachtmütze hervor wohlwollend an.

»Nun, Trot«, fing sie an, »was sagst du zu der Idee mit dem Proktor? Oder hast du noch nicht darüber nachgedacht?«

»Ich habe sogar sehr viel darüber nachgedacht, liebe Tante, und lange darüber mit Steerforth beraten. Ich finde sehr großen Gefallen daran. Ganz außerordentlichen Gefallen.«

»Aber das ist ja herrlich!«

»Nur ein Bedenken hätte ich, Tante.«

»Nur heraus damit, Trot.«

»Schau, ich möchte dich fragen, Tante, da es doch ein privilegierter Beruf ist, ob mein Eintritt nicht sehr teuer zu stehen kommen wird.«

»Dich einschreiben zu lassen, kostet gerade tausend Pfund.«

»Das macht mir wirklich viel Sorge«, sagte ich und rückte meinen Stuhl näher an sie heran. »Das ist sehr viel Geld. Du hast schon so viel für meine Erziehung ausgegeben und mich in jeder Hinsicht so freigebig ausgestattet wie nur möglich. Es gibt gewiß manchen Beruf, den ich ohne besondere Auslagen anfangen könnte und in dem ich doch Aussicht hätte, es mit Fleiß und Ausdauer zu etwas zu bringen. Glaubst du nicht, daß es besser wäre, es auf diese Weise zu versuchen? Weißt du bestimmt, daß du so viel Geld auslegen kannst und daß es recht ist, es auf diese Weise auszugeben? Ich bitte dich, – dich, meine zweite Mutter, das wohl zu überlegen. Bist du dir darüber klar?«

Meine Tante aß die Röstschnitte, die sie angebissen hatte, zuerst ruhig zu Ende, wobei sie mich fest ansah, dann setzte sie das Glas auf den Kamin, faltete die Hände über ihr Knie und sagte:

»Trot, mein Kind, wenn ich einen Lebenszweck habe, so ist es der, dich zu einem glücklichen und verständigen Menschen zu machen. Ich habe es mir vorgenommen. Und auch Dick. Ich wünschte, gewisse Leute könnten Dicks Meinung über diese Sache hören. Sein Scharfblick ist wunderbar. Aber kein Mensch außer mir weiß, was dieser Mann für einen Verstand hat.« Sie hielt einen Augenblick inne, um meine Hand zu ergreifen, und fuhr fort:

»Man soll nur an die Vergangenheit denken, wenn man daraus Nutzen für die Gegenwart ziehen kann. Vielleicht hätte ich mich mit deinem armen Vater besser vertragen können, vielleicht auch mit deiner Mutter, dem armen Kind, selbst damals noch, als sie mich mit deiner Schwester Betsey Trotwood so enttäuschte. Als du zu mir kamst, als kleiner fortgelaufner Junge, ganz staubig und die Füße vom Weg zerrissen, dachte ich es mir. Von dem Tag an bis heute, Trot, bist du immer mein Stolz und meine Freude gewesen. Niemand anders hat auf mein Vermögen Anspruch – wenigstens –« hier stockte sie zu meiner Verwunderung und wurde verlegen – »nein, niemand anders hat darauf Anspruch, und du bist mein Adoptivkind. Sei mir, wenn ich alt bin, ein liebevoller Sohn und nimm es mit meinen Launen nicht so genau, und du wirst mehr tun für eine alte Frau, deren beste Lebenszeit nicht so glücklich und zufrieden war, wie sie hätte sein können, als diese Frau für dich tut.«

Es war das erste Mal, daß ich meine Tante von ihrer frühern Lebensgeschichte sprechen hörte. In der anspruchslosen Weise, wie sie es tat und dann schnell abbrach, lag eine Großherzigkeit, die meine Liebe und Verehrung zu ihr womöglich noch vermehrte.

»Wir sind also soweit einig, Trot«, sagte sie, »und brauchen nicht weiter davon zu reden. Gib mir einen Kuß. Wir wollen morgen nach dem Frühstück zu Doctors‘ Commons gehen.«

Wir plauderten noch lange beim Feuer, ehe wir zu Bett gingen.

Mein Schlafzimmer befand sich mit dem meiner Tante auf einem Flur, und es störte mich ein wenig, daß sie in der Nacht oft bei mir anklopfte, wenn Fiaker in der Ferne rollten, und mich fragte, ob ich die Feuerspritzen hörte. Aber gegen Morgen schlief sie fester und ließ mich in Ruhe. Mittags machten wir uns auf den Weg nach der Kanzlei der Herren Spenlow & Jorkins in Doktors‘ Commons. Meine Tante hatte noch eine andere vorgefaßte Meinung von London und sah in jedem Menschen einen Taschendieb. Deshalb gab sie mir ihre Börse mit zehn Guineen und etwas Silbergeld zum Tragen.

Wir waren fast am Ziel, als sie plötzlich ihre Schritte beschleunigte und ganz erschreckt aussah. Es fiel mir auf, daß ein ärmlich gekleideter, verdächtig aussehender Mann, der uns eine Weile aufmerksam angestarrt, jetzt schnell hinter uns herging, als wolle er meine Tante anrempeln.

»Trot, lieber Trot!« flüsterte sie mir erschrocken zu und preßte meinen Arm. »Ich weiß nicht, was ich tun soll!«

»Beunruhige dich nicht«, sagte ich. »Es ist kein Grund dazu. Tritt in einen Laden, und ich werde mit dem Burschen sehr schnell fertig sein.«

»Nein, nein, Kind«, entgegnete sie, »um alles in der Welt, sprich nicht mit ihm. Ich bitte dich, ich befehle es dir!«

»Aber lieber Himmel, Tante!« sagte ich. »Er ist nichts als ein frecher Bettler.«

»Du weißt nicht, wer er ist«, entgegnete meine Tante. »Du weißt nicht, was du sprichst.«

Wir waren mittlerweile in einen Torweg getreten, und der Mann war ebenfalls stehengeblieben.

»Sieh ihn nicht an«, sagte meine Tante, als ich mich zornig umdrehte. »Bitte besorge mir eine Droschke, mein Kind, und erwarte mich auf dem Paulskirchhof.«

»Dich erwarten?« wiederholte ich.

»Ja«, antwortete meine Tante. »Ich muß mit ihm gehen.«

»Mit ihm, Tante? Mit diesem Mann?«

»Ich bin vollständig bei Sinnen«, antwortete sie, »und ich sage dir, ich muß. Hole mir eine Droschke.«

Sosehr mich ihr Benehmen in Erstaunen versetzte, fühlte ich doch, daß ich kein Recht hatte, einen so entschieden ausgesprochenen Wunsch abzuschlagen. Ich ging eilig ein paar Schritte und rief einen leer vorbeifahrenden Fiaker an. Ich hatte kaum Zeit, den Tritt herabzulassen, als meine Tante schon hineinstieg und der Mann ihr folgte. Sie winkte mir mit der Hand so ernstlich, zu gehen, daß ich unwillkürlich sofort gehorchte. Ich hörte noch, wie sie zu dem Kutscher sagte: »Fahren Sie los, ganz gleichgültig wohin!«

Es fiel mir wieder ein, was mir Mr. Dick erzählt und was ich damals für eine Sinnestäuschung von ihm gehalten hatte. Ohne Zweifel war der Unbekannte, von dem er gesprochen, derselbe, obgleich ich mir nicht im mindesten denken konnte, welcher Art sein Einfluß auf meine Tante sein mochte. Nach einer halben Stunde Wartens auf dem Kirchhof sah ich den Wagen wieder kommen, und meine Tante saß allein drin.

Sie hatte sich noch nicht genügend von ihrer Aufregung erholt, um den beabsichtigten Besuch sogleich machen zu können. Ich mußte zu ihr einsteigen, und wir fuhren eine Weile langsam die Straße auf und ab. Sie sagte weiter nichts: »Mein liebes Kind, frage mich niemals, was eben geschehen ist, und sprich nicht davon.«

Als sie ihre Fassung endlich wiedergewonnen hatte, sagte sie, sie sei jetzt wieder ganz ruhig und wir könnten aussteigen. Als sie mir ihre Börse gab, damit ich den Kutscher bezahle, bemerkte ich, daß die Guineen nicht mehr drin waren; nur noch das Silbergeld.

Ein kleiner niedriger Torweg führte uns zu Doctors‘ Commons. Schon nach ein paar Schritten schien mir das Geräusch der Stadt wie durch Zauber in weite Ferne gerückt. Ein paar stille Höfe und schmale Gänge brachten uns zu der Kanzlei von Spenlow & Jorkins, die Oberlicht hatte und in deren Vorzimmer drei oder vier Schreiber tätig waren. Einer derselben, ein kleiner vertrockneter Mann mit einer steifen, braunen Perücke, die wie aus Pfefferkuchen aussah, stand auf, um meine Tante zu begrüßen, und wies uns in Mr. Spenlows Zimmer.

»Mr. Spenlow ist bei Gericht, Ma’am«, sagte er, »er hat Tagfahrt im Archivgericht, aber es ist gleich daneben, und ich werde sofort um ihn schicken.«

Während wir warteten, benutzte ich die Gelegenheit, mich umzusehen. Das Mobiliar des Zimmers war altmodisch und verstaubt. Das grüne Tuch auf dem Schreibtisch hatte die Farbe ganz verloren und sah welk und bleich aus wie ein Findelkind. Es lagen viele beschriebene Rollen darauf, einige bezeichnet mit Konsistorial-, andere mit Archivgericht, andere mit Prerogativ- und Admiralitätsgericht, noch andere mit Delegiertengericht, so daß ich mich erstaunt fragte, wie viel Gerichte es wohl überhaupt geben möge und wie lange es wohl dauern würde, bis ich das alles verstünde. Außerdem bemerkte ich mehrere außerordentlich dicke Bücher mit notariell aufgenommenen Zeugenaussagen, stark gebunden und in Reihen gestellt, immer eine Reihe für je einen Rechtsfall. Alles das sah sehr einträglich aus und gab mir einen angenehmen Begriff von den Geschäften eines Proktors. Ich musterte mit zunehmendem Wohlgefallen diese und andere ähnliche Gegenstände, als man draußen eilige Schritte hörte und Mr. Spenlow in einem schwarzen, mit weißem Pelz besetzten Talar hereintrat.

Er war ein kleiner, hellblonder Gentleman mit tadellosen Stiefeln und einem weißen Halskragen von der steifsten Sorte. Sehr knapp und sorgfältig zugeknöpft schien er sich sehr viel Mühe mit der Pflege seines sorgfältig gelockten Backenbarts gegeben zu haben. Seine goldne Uhrkette war so schwer, daß mich die spaßhafte Vermutung beschlich, ob er, um sie herauszuziehen, nicht auch einen so starken, goldnen Arm haben müßte, wie er über den Läden der Goldschmiede zu sehen ist. Er war so sorgfältig angezogen und so steif, daß er sich kaum verbeugen konnte, und wenn er ein paar Papiere auf seinem Pult ansehen wollte, sich aus der Hüfte heraus verneigen mußte wie eine Gliederpuppe.

Meine Tante stellte mich vor. Er begrüßte mich mit großer Höflichkeit und sagte dann:

»Sie gedenken also, Mr. Copperfield, sich unserm Beruf zu widmen. Ich erwähnte neulich zufällig Miss Trotwood, als ich das Vergnügen hatte, mit ihr zu sprechen – er machte eine höfliche Gliederpuppenverbeugung –, daß bei uns eine Stelle vakant sei. Miss Trotwood war so freundlich zu bemerken, daß sie einen Neffen habe, für den sie eine gute Stellung suche. Diesen Neffen habe ich jetzt wahrscheinlich das Vergnügen?« – wieder Puppenverbeugung.

Ich verbeugte mich ebenfalls und erwiderte, meine Tante habe es mir mitgeteilt; ich könnte aber jetzt noch nicht sagen, wie es mir gefallen würde, ehe ich nicht mehr davon kennengelernt hätte, und daß ich voraussetzte, ich würde sozusagen versuchsweise eintreten dürfen.

»O gewiß, gewiß!« sagte Mr. Spenlow. »Wir schlagen in unserm Geschäft immer einen Monat vor – einen Probemonat. Ich würde mich glücklich schätzen, zwei Monate oder drei oder eine unbestimmte Zeit anzubieten, aber ich habe einen Kompagnon, Mr. Jorkins.«

»Und die Gebühr beträgt tausend Pfund, Sir?« fragte ich weiter.

»Die Gebühr, Stempel eingerechnet, beträgt tausend Pfund. Wie ich schon zu Miss Trotwood erwähnte, werde ich nie von gewinnsüchtigen Rücksichten bestimmt oder gewiß weniger als die meisten Menschen. Mr. Jorkins hat jedoch seine Ansichten über die Sache, und ich halte es für meine Pflicht, Mr. Jorkins‘ Meinung zu respektieren. Mr. Jorkins hält tausend Pfund sogar für zuwenig.«

»Ich nehme an«, sagte ich, immer noch in der Hoffnung, meiner Tante Ausgaben ersparen zu können, »daß Sie sicherlich einem eingeschriebenen Angestellten, wenn er sich besonders nützlich macht und seinen Beruf gründlich erfüllt« – ich mußte erröten, denn es klang so sehr wie Selbstlob –, »in den letzten Jahren seiner Lehrzeit –«

Mr. Spenlow beeilte sich, meinem Wort »Salär« zuvorzukommen, und hob mit großer Anstrengung seinen Kopf so weit über den Halskragen, um ihn schütteln zu können.

»Nein! Ich will nicht sagen, wie ich über diesen Punkt denken würde, wenn ich nicht gebunden wäre. Mr. Jorkins ist unerbittlich.«

Mir wurde ordentlich angst vor diesem schrecklichen Mr. Jorkins. Später fand ich, daß er ein sehr sanfter Mann von etwas trägem Temperament war, der im Geschäft selbst stets unbemerkt im Hintergrund blieb, aber immer als der hartnäckigste und unbarmherzigste Mensch vorgeschoben wurde. Wenn ein Schreiber höheres Gehalt haben wollte, zeigte sich Mr. Jorkins unerbittlich. War ein Klient langsam im Bezahlen der Kosten, so bestand Mr. Jorkins hartherzig darauf, und so höchst unangenehm diese Sachen für Mr. Spenlows Gefühle sein mochten, – Mr. Jorkins bestand auf seinem Schein. Das Herz und die Hand des guten Engels Spenlow wären immer offen gewesen ohne den Dämon Jorkins. Im spätem Alter habe ich noch manche Kanzlei kennengelernt, die nach dem Prinzip Spenlow & Jorkins vorging.

Es wurde vereinbart, daß ich meinen Probemonat anfangen sollte, sobald es mir beliebe, und daß bis zu seinem Ablauf meine Tante ruhig in Dover bleiben könne, da ihr der Kontrakt ohne Schwierigkeiten zur Unterschrift nach Hause geschickt werden würde. Als wir das abgemacht hatten, erbot sich Mr. Spenlow, mich im Gerichtshof herumzuführen. Ich nahm es sehr gerne an, und wir gingen fort, ließen aber meine Tante zurück, da sie sich, wie sie sagte, an solche Orte nicht wagte. Sie schien Gerichtshöfe für eine Art Pulvermühlen, die jeden Augenblick auffliegen könnten, zu halten.

Mr. Spenlow führte mich durch einen gepflasterten, von ernsten Ziegelsteingebäuden umgebenen Hof – nach den Schildern an den Türen und den Namen der Doktoren zu schließen, Amtswohnungen der studierten Advokaten, von denen Steerforth gesprochen, – und dann in einen großen dunkeln Saal linker Hand, der fast wie eine Kapelle aussah.

Der rückwärtige Teil des Raumes war durch ein Gitter abgesperrt. Drin saßen an beiden Seiten einer erhöhten Bühne in Hufeisenform auf altmodischen Speisezimmerlehnstühlen in roten Talaren und grauen Perücken die erwähnten Doktoren. In der Rundung des Hufeisens zwinkerte über einem kleinen Pult, das wie eine Kanzel aussah, ein alter Herr hervor, den ich, wenn er in einem Vogelkäfig gesessen hätte, für eine Eule gehalten haben würde, der aber nur, wie ich erfuhr, der Vorsitzende Richter war. Innerhalb des Hufeisens, etwas niedriger – sozusagen zu ebner Erde –, saßen verschiedne andere Herren von Mr. Spenlows Rang, wie er in schwarze, mit weißem Pelz verbrämte Amtstracht gekleidet. Ihre Kragen waren durchweg sehr steif und ihre Blicke sehr hochfahrend; aber in letzterer Hinsicht bemerkte ich, daß ich ihnen unrecht getan hatte, als zwei oder drei von ihnen aufzustehen und eine Frage des Vorsitzenden Richters zu beantworten hatten. Noch nie sah ich etwas Schafsmäßigeres.

Das Publikum, bestehend aus einem Burschen mit einem langen Umhängtuch und einem schäbig eleganten Herrn, der heimlich Brotkrumen aus seinen Rocktaschen aß, wärmte sich an einem Ofen in der Mitte des Saales. Die schläfrige Stille des Ortes wurde nur durch das Knistern des Ofenfeuers oder die Stimme eines der Doktoren unterbrochen, wenn einer von diesen Herren langsam durch die ganze Bibliothek von Zeugenaussagen wanderte und nur unterwegs manchmal zur Erquickung bei irgend einem kleinen Argument einkehrte.

Mein ganzes Leben lang habe ich nie einer so gemütlichen, schläfrigen, altmodischen, zeitvergessenen, kleinen Familiensitzung beigewohnt. Ich fühlte, es mußte auf jeden Mann beruhigend wie ein Opiat wirken, ausgenommen auf einen Klienten.

Sehr befriedigt von dem träumerischen Charakter des Ortes gab ich Mr. Spenlow zu verstehen, daß ich vorläufig genug gesehen hätte, und wir begaben uns wieder zu meiner Tante, mit der ich sodann Commons verließ. Noch beim Herausgehen bei Spenlow & Jorkins sah ich, wie die Schreiber einander anstießen und mit ihren Federn auf mich deuteten, was mir meine große Jugend wieder sehr lebhaft vor Augen führte.

Wir erreichten Lincolns Inns Fields ohne neue Abenteuer, außer, daß wir einem unglücklichen Esel vor einem Obstkarren begegneten, der in meiner Tante peinliche Erinnerungen erweckte. Wir führten noch eine lange Unterhaltung über meine Zukunft, als wir in unserer Wohnung angekommen waren. Da ich wußte, wie sehr sie sich nach Hause sehnte und geplagt von ihren wunderlichen Gedanken über Feuer, Taschendiebe und Nahrungsmittel sich keine halbe Stunde in London glücklich fühlen konnte, drang ich in sie, sich meinetwegen keine Sorge zu machen, sondern mich ruhig mir selbst zu überlassen.

»Ich habe auch schon dran gedacht, liebes Kind, und bin nicht umsonst eine Woche hier gewesen. Eine kleine möblierte Wohnung ist in Adelphi zu vermieten, Trot! Sie würde wunderbar für dich passen!«

Damit holte sie aus ihrer Tasche eine aus einer Zeitung sorgfältig herausgeschnittene Anzeige, daß in der Buckingham Straße in Adelphi einige möblierte Zimmer als elegante Wohnung für einen jungen Herrn der Rechtshörerschaft zu vermieten und gleich zu beziehen seien. Der Preis war billig, hieß es, und die Wohnung könnte auch für einen Monat überlassen werden.

»Ja, das ist das Wahre, Tante«, sagte ich, ganz erregt von der Aussicht, eine eigne Wohnung zu beziehen.

»Also komm«, erwiderte meine Tante und setzte sogleich wieder ihren Hut auf, den sie eben erst abgelegt hatte. »Wir wollens uns ansehen.«

Wir gingen aus. Die Anzeige wies uns an eine gewisse Mrs. Crupp, und wir zogen die Hausglocke. Erst nach drei- bis viermaligem Läuten konnten wir Mrs. Crupp in Gestalt einer beleibten Dame, deren flanellner Unterrock unter einem Nankingkleid hervorguckte, zu Gesicht bekommen.

»Bitte zeigen Sie uns Ihre Zimmer, Ma’am«, sagte meine Tante.

»Für diesen jungen Herrn?« fragte Mrs. Crupp und suchte in der Tasche nach dem Schlüssel.

»Ja, für meinen Neffen.«

»Is a wunderschöne Wohnung für so an Herrn«, sagte Mrs. Crupp.

Wir folgten ihr die Treppe hinauf.

Die Wohnung befand sich im obersten Stock des Hauses, ein großer Vorzug in den Augen meiner Tante – wegen der Feuersgefahr –, und bestand aus einem kleinen Eintrittszimmer, so dunkel, daß man kaum etwas sehen konnte, einem kleinen stockfinstern Vorratszimmer, in dem man überhaupt nichts sehen konnte, einem Wohnzimmer und einer Schlafkammer. Die Möbel waren recht verschossen, aber gut genug für mich. Und unten floß der Fluß vorbei.

Da mir die Wohnung gefiel, zogen sich meine Tante und Mrs. Crupp in die Speisekammer zurück, um über die Bedingungen zu verhandeln, während ich im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen blieb und kaum an die Möglichkeit zu denken wagte, der Mieter eines so vornehmen Quartiers zu werden. Nach einem Zweikampf von einiger Dauer kehrten sie zurück, und ich las zu meiner Freude an ihren Gesichtern, daß die Sache abgemacht sei.

»Sind das die Möbel des letzten Mieters?« fragte meine Tante.

»Ja, Ma’am.«

»Was ist aus ihm geworden?«

Mrs. Crupp wurde von einem quälenden Husten befallen, zwischen dem sie mit großer Schwierigkeit hervorstieß: »Er wurde krank hier, Ma’am, und – und – uch, uch, uch, mein Gott, – er starb.«

»Ha! Woran starb er?«

»Er starb vom Trinken und vom Rauchen.«

»Rauchen? Sie meinen doch nicht Ofenrauch?« fragte meine Tante.

»Nein, Ma’am. Von Zigarren und Pfeifen.«

»Das ist wenigstens nicht ansteckend, Trot«, bemerkte meine Tante sich zu mir wendend.

»Nein«, sagte ich, »allerdings nicht.«

Mit einem Wort, da meine Tante sah, wie sehr mir die Wohnung gefiel, nahm sie sie, vorläufig auf einen Monat, und wenn dann keine Kündigung erfolgen sollte, für das ganze Jahr. Mrs. Crupp hatte die Wäsche und das Kochen zu besorgen; alles andere war bereits abgemacht, und Mrs. Crupp verpflichtete sich ausdrücklich, daß sie mich stets wie einen Sohn lieben werde. Ich sollte übermorgen einziehen, und sie sagte, sie danke dem Himmel, daß sie wieder für jemand zu sorgen habe.

Auf dem Heimwege gab meine Tante der Hoffnung Ausdruck, das Leben, das ich jetzt zu beginnen im Begriffe stehe, werde mir einen selbständigen und festen Charakter geben; weiter verlange sie nichts. Sie wiederholte das noch mehrere Male am folgenden Tag, während wir die Hersendung meiner Bücher und Sachen von Mr. Wickfield regelten. Ich schrieb bei dieser Gelegenheit einen langen Brief an Agnes, den meine Tante zu besorgen versprach.

Sie sorgte für alle meine möglichen Bedürfnisse während des Probemonats auf das reichlichste und freute sich schon auf die bevorstehende Demütigung der Esel in Dover. Zu ihrer und meiner großen Überraschung erschien Steerforth nicht und, als die Kutsche fort war, wandte ich mich dem Adelphi zu und mußte an die Tage denken, wo ich durch seine unterirdischen Bogengänge streifte, und an die glücklichen Veränderungen, die mich wieder ans Licht gebracht.