Dreißigstes Kapitel.
Das Wort eines Gentleman.
Als Mr. und Mrs. Flintwinch nach dem Tor des alten Hauses im Zwielicht herankeuchten und Jeremiah kaum noch eine Sekunde von Affery entfernt war, fuhr der Fremde zurück. »Tod und Teufel!« rief er. »Wie kommen Sie hierher?«
Mr. Flintwinch, an den diese Worte gerichtet waren, zeigte sich nicht minder erstaunt über die Anwesenheit des Fremden. Er sah ihn höchst verwundert an, blickte sich dann um, als erwartete er jemanden zu sehen, den er bislang noch nicht hinter sich gewahrt, sah darauf wieder den Fremden an, in sprachloser Erwartung dessen, was er wollte. Er forderte von seiner Frau durch einen Blick eine Erklärung; und als diese nicht erfolgte, packte er sie und schüttelte sie so heftig, daß ihre Haube herunterfiel, während er mit grimmem Spott zwischen den Zähnen murmelte: »Affery, Frau, du mußt eine Dosis haben, Frau! Das ist einer von deinen Streichen! Du hast wieder geträumt, Weib. Was gibt es? Wer ist das? Was will er? Sprich, oder ich erwürge dich! Es ist die einzige Wahl, die ich dir lasse.«
Vorausgesetzt, daß Mistreß Affery in diesem Augenblick überhaupt die Kraft hatte zu wählen, so war ihre Wahl entschieden für das Erwürgen; denn sie antwortete nicht eine Silbe auf diese Beschwörung, sondern ergab sich, während ihr Kopf heftig vor- und rückwärts wackelte, in ihre Strafe. Der Fremde jedoch, der mit einer gewissen Galanterie ihre Haube aufhob, legte sich ins Mittel.
»Erlauben Sie«, sagte er, indem er die Hand auf Jeremiahs Schulter legte, der nun innehielt und sein Opfer losließ. »Danke. Entschuldigen Sie. Mann und Frau, wie ich aus diesem Scherz sehe. Haha! Immer angenehm, dieses Verhältnis auf so heitere Weise unterhalten zu sehen. Hören Sie! Darf ich Ihnen mitteilen, daß jemand oben im Dunkeln lebhaft zu wissen wünscht, was hier unten vorgeht?«
Dieser Hinweis auf Mrs. Clennams Stimme veranlaßte Mr. Flintwinch, in den Flur zu treten und die Treppe hinaufzurufen: »Es ist schon gut, ich bin hier, Affery kommt mit Ihrem Licht.« Dann sagte er zu dieser, die ganz zerzaust war und ihre Haube wieder aufsetzte: »Fort mit dir und die Treppe hinauf!« Endlich wandte er sich an den Fremden und sagte zu ihm: »Nun, mein Herr, was wünschen Sie?«
»Ich fürchte«, erwiderte der Fremde, »Sie wegen eines Lichtes bemühen zu müssen.«
»Ganz recht«, stimmte Jeremiah bei, »ich war im Begriff, eines zu holen. Bitte, bleiben Sie hier stehen, wo Sie sind, während ich eines herbeischaffe.«
Der Fremde stand in dem Torweg, trat jedoch etwas in die Dunkelheit des Hauses, als Mr. Flintwinch wegging, und verfolgte ihn mit seinen Blicken in dem kleinen Zimmer, wo er nach einer Zündhölzerbüchse suchte. Als er sie fand, war sie feucht oder sonst nicht in Ordnung, und Hölzchen um Hölzchen, das er strich, zündete so weit, um eine matte Helle über sein suchendes Gesicht zu verbreiten und seine Hände mit kleinen blassen Feuerflecken zu bespritzen, aber nicht genug, um das Licht anzuzünden. Der Fremde, der sich diese zufällige Beleuchtung seines Gesichtes zunutze machte, sah ihn aufmerksam und neugierig an. Als es Jeremiah endlich gelang, das Licht anzuzünden, hatte er das Gefühl, daß der letzte Schatten lauernder Beobachtung eben von jenem Antlitz verschwunden, da sich das zweifelhafte Lächeln, das ein wesentliches Moment seines Ausdrucks war, darauf zeigte.
»Haben Sie die Güte«, sagte Jeremiah, indem er die Tür schloß und nun seinerseits den lächelnden Fremden mit einem scharfen Blick ansah, »haben Sie die Güte, in mein Kontor einzutreten. Es ist alles in Ordnung, sage ich Ihnen ja!« antwortete er trotzig der Stimme oben, die noch immer nicht beruhigt war, obgleich Affery sich bei ihr befand und sie zu beruhigen suchte. »Ich sage Ihnen ja, es ist alles in Ordnung. Gott, die Frau, hat sie denn gar keine Vernunft!«
»Furchtsam?« bemerkte der Fremde.
»Furchtsam?« sagte Mr. Flintwinch, indem er den Kopf umdrehte, wie um den Vorwurf zurückzuweisen, während er mit dem Licht voranging. »Mutiger als neunzig von hundert Männern, Sir, will ich Ihnen sagen.«
»Obgleich eine kränkliche Frau?«
»Ja, seit vielen Jahren eine kränkliche Frau, Mrs. Clennam. Die einzige Person des Namens in diesem Hause jetzt. Meine Geschäftsteilhaberin.«
Indem er, während sie durch den Flur gingen, einige entschuldigende Worte sagte, daß sie um diese Zeit der Nacht gewöhnlich niemanden empfingen und immer eingeschlossen seien, führte Mr. Flintwinch den Fremden nach seinem Bureau, das ein ziemlich geschäftsmäßiges Aussehen hatte. Hier stellte er das Licht auf seinen Arbeitstisch und sagte mit seinem verdrehtesten Kopf: »Ihr Wunsch?«
»Mein Name ist Blandois.«
»Blandois. Kenne ich nicht«, sagte Jeremiah.
»Ich dachte«, fuhr der andere fort, »Sie hätten vielleicht von Paris einen Avis erhalten –«
»Wir haben keinen Avis von Paris wegen eines Blandois erhalten«, sagte Jeremiah.
»Nicht?«
»Nein.«
Jeremiah stand in seiner Lieblingsstellung. Der lächelnde Mr. Blandois, der seinen Mantel geöffnet, um seine Hand in die Brusttasche zu stecken, hielt einen Augenblick inne und sagte dann, während seine glänzenden Augen, die Mr. Flintwinch etwas zu nahe beieinander zu stehen schienen, einen lächelnden Ausdruck annahmen:
»Sie sehen einem meiner Freunde sehr ähnlich. Nicht so ganz und gar gleich, wie ich glaubte, als ich Sie in der Dunkelheit im ersten Augenblick für diesen hielt – ich sollte mich eigentlich deshalb entschuldigen; erlauben Sie mir, daß ich dies hiermit tue; Bereitwilligkeit, meine Fehler einzugestehen, ist, glaube ich, ein Teil der Offenheit meines Charakters –, und doch wirklich ungewöhnlich ähnlich.«
»Wirklich?« sagte Jeremiah verlegen. »Aber ich habe keinen Avisbrief von irgendwoher wegen irgendeines mit Namen Blandois erhalten.«
»Wirklich nicht?« fragte der Fremde.
»Wirklich nicht!« antwortete Jeremiah.
Mr. Blandois, den diese Versäumnis seitens des Korrespondenten des Hauses Clennam und Co. nicht im geringsten aus der Fassung brachte, nahm sein Notizbuch aus der Brusttasche, suchte einen Brief darinnen und händigte ihn Mr. Flintwinch ein. »Ohne Zweifel sind Sie mit dieser Handschrift wohlbekannt. Vielleicht spricht der Brief für sich selbst, und es braucht keines Avis. Sie sind ein weit kompetenterer Richter in solchen Dingen als ich. Es ist mein Unglück, nicht so sehr ein Geschäftsmann zu sein, als was die Welt (willkürlich) einen Gentleman nennt.«
Mr. Flintwinch nahm den Brief und las unter dem Datum von Paris: »Wir haben die Ehre, Ihnen, auf Empfehlung eines sehr geschätzten Korrespondenten unserer Firma, Mr. Blandois von hier zu präsentieren usw. usw. Jede Hilfe, die er wünschen mag, und alle Aufmerksamkeit, die in Ihrer Macht liegt usw. usw. Auch haben wir hinzuzufügen, daß, wenn Sie Mr. Blandois‘ Tratte nach Sicht bis zum Betrag von sage fünfzig Pfund Sterling (£. 50) honorieren wollen« usw. usw.
»Sehr gut«, sagte Mr. Flintwinch, »nehmen Sie einen Stuhl. In allem, was unser Haus tun kann – wir haben ein stilles, altmodisches, einförmiges Geschäft, Sir –, werden wir uns glücklich fühlen, Ihnen unsere beste Unterstützung angedeihen zu lassen. Ich bemerke aus dem Datum dieses Schreibens, daß wir noch nicht avisiert sein konnten. Vermutlich kamen Sie mit der verspäteten Post an, die uns den Avis bringen sollte.«
»Daß ich mit der verspäteten Post ankam, Sir«, versetzte Mr. Blandois, indem er mit seiner weißen Hand über die scharfgebogene Nase strich, »weiß ich leider auf Kosten meines Kopfes und Magens. Das abscheuliche und unerträgliche Wetter hat sie beide tüchtig gemartert. Sie sehen mich in dem Anzug, in dem ich aus dem Dampfboot vor einer halben Stunde stieg. Ich hätte schon vor mehreren Stunden hier sein sollen, dann brauchte ich mich auch nicht zu entschuldigen – erlauben Sie, daß ich mich entschuldige –, weil ich mich zu so unpassender Zeit einfinde und die geschätzte Dame, Mrs. Clennam, in ihrem Krankenzimmer oben in Schrecken versetzte – nein, Sie sagten ja, daß ich sie nicht in Schrecken versetzen könne; erlauben Sie, daß ich mich entschuldige.«
Schwadronieren und die Miene berechtigter Herablassung taten so viel, daß Mr. Flintwinch bereits anfing, ihn für eine sehr vornehme Person zu halten. Trotzdem gab er seine Starrköpfigkeit nicht auf, kratzte an seinem Kinn und sagte: was er heute abend, nachdem die Geschäftsstunde vorüber, noch für Mr. Blandois zu tun die Ehre haben könnte?
»Aber ich bitte Sie«, versetzte der Gentleman, mit den vom Mantel bedeckten Achseln zuckend. »Ich muß meine Kleider wechseln, und essen und trinken und irgendwo mich einquartieren. Haben Sie die Freundlichkeit, da ich hier gänzlich fremd bin, mich irgendwohin zu weisen – es ist vollständig gleichgültig, was es kostet –, wo ich bis morgen wohnen kann. Je näher, je besser. Im nächsten Hause, wenn es möglich ist.«
Mr. Flintwinch begann langsam: »Für einen Gentleman von Ihren Gewohnheiten ist in der nächsten Umgebung kein Hotel«, als Mr. Blandois ihm ins Wort fiel:
»Was Gewohnheiten! mein lieber Sir«, sagte er mit den Fingern schnalzend. »Ein Weltbürger hat keine Gewohnheiten. Daß ich auf meine arme Weise ein Gentleman bin, beim Himmel, das will ich nicht leugnen, aber ich habe keine unverträglichen vorurteilsvollen Gewohnheiten. Ein reinliches Zimmer, warmes Essen und eine Flasche nicht ganz und gar vergifteten Weins ist alles, was ich für heute brauche. Aber das brauche ich sehr, nur möcht‘ ich nicht unnötig weiter gehen als bis dahin, wo ich es bekomme.«
»Da ist«, sagte Mr. Flintwinch mit mehr als gewöhnlicher Bedächtigkeit, als er Mr. Blandois‘ blitzenden Augen, die ruhelos umherwanderten, für einen Moment begegnete, »da ist ein Kaffeehaus und Gasthaus ganz in der Nähe, das ich ziemlich empfehlen kann, aber es hat keine rechte Art.«
»Ich schenke ihm die rechte Art!« sagte Mr. Blandois mit der Hand abwehrend. »Erweisen Sie mir die Ehre, mir das Haus zu zeigen und mich dort einzuführen (wenn ich Ihnen nicht zuviel Mühe mache), ich werde Ihnen unendlich verbunden sein.«
Mr. Flintwinch sah bei diesen Worten nach seinem Hut und leuchtete Mr. Blandois wieder durch die Flur. Als er das Licht auf eine Leiste stellte, wo die alte dunkle Pannelierung als Auslöscher dienen konnte, überlegte er es sich, daß er hinaufgehen und der kranken Frau sagen wolle, er werde kaum fünf Minuten abwesend sein.
»Haben Sie die Güte«, sagte der Fremde, als Jeremiah ihm seine Absicht kundgab, »ihr meine Visitenkarte zu überreichen. Seien Sie ferner so freundlich hinzuzufügen, daß ich glücklich sein würde, wenn ich Mrs. Clennam meine Aufwartung machen könnte, und entschuldigen Sie mich, daß ich eine Störung in dieser stillen Klause hervorgerufen habe. Bitte, fragen Sie sie, ob es ihr bequem wäre, für einige Augenblicke einen Fremden zu empfangen, sobald er seine nassen Kleider gewechselt und sich mit etwas Speise und Trank gestärkt hat.«
Jeremiah beeilte sich und sagte bei seiner Rückkehr: »Sie wird sich freuen, Sie zu empfangen, Sir; da sie jedoch wohl weiß, daß ihr Krankenzimmer nichts Anziehendes hat, so bittet sie mich, Ihnen zu sagen, daß sie Sie Ihres Anerbietens entbinde, falls Sie sich eines andern besinnen sollten.«
»Sich eines andern besinnen«, versetzte der höfliche Blandois, »hieße eine Dame geringachten; eine Dame geringachten, wäre ein Mangel an Ritterlichkeit gegen das andere Geschlecht; und Ritterlichkeit gegen dieses Geschlecht ist ein Zug meines Charakters!« So sprechend zog er den schmutzigen Zipfel seines Mantels über die Schulter und begleitete Mr. Flintwinch nach dem Wirtshaus, indem er unterwegs einen Träger mitnahm, der außen an dem Torweg mit seinem Koffer wartete.
Das Haus war sehr schlicht eingerichtet und die Herablassung von Mr. Blandois deshalb unendlich groß. Sie schien bis zur Unfüglichkeit den kleinen Schenktisch auszufüllen, hinter dem die verwitwete Wirtin und ihre zwei Töchter ihn empfingen. Sie war viel zu aufgeblasen für das enge getäfelte Zimmer mit einem kleinen Tisch, das anfangs für seine Aufnahme vorgeschlagen wurde. Sie überschwemmte endlich vollständig das kleine festtägliche Privatzimmer der Familie, das ihm zuletzt eingeräumt wurde. Hier, in trockenen Kleidern und parfümiertem Linnen, mit geglättetem Haar, einem großen Ring an jedem Zeigefinger und einer massiven Uhrkette, sah Mr. Blandois, als er so nachlässig die Knie hinaufgezogen in einem Fenstersitz lungerte (trotz des Unterschieds in bezug auf die Juwelen), einem gewissen Rigaud schrecklich und wunderbar ähnlich, der einst so auf sein Frühstück wartend in der Fensternische der eisernen Vergitterung einer Zelle in einem schlechten Gefängnis zu Marseille gelegen hatte.
Seine Gier beim Essen selbst war gerade so groß, wie die Gier des Monsieur Rigaud bei jenem Frühstück. Seine geizige Manier, alles Eßbare um sich her zu sammeln und den einen Bissen mit den Augen zu verschlingen, während er den andern Bissen mit den Kinnbacken verarbeitete, war ganz ebenso. Seine stolze Verachtung anderer Leute, die sich in der Art aussprach, wie er den kleinen weiblichen Hausrat hin- und herwarf, Lieblingskissen, um bequemer auszuruhen, unter seine Füße schleuderte und zarte Decken mit seinem schwerfälligen Körper und seinem großen schwarzen Kopf zerdrückte, entsprang aus derselben rohen Selbstsucht. Die weichen Bewegungen der Hände, die so geschäftig unter den Speisen hin und her gingen, hatten noch ihre alte Leichtigkeit und Gewandtheit, mit der sie sich an dem Gitter ehedem festgehalten. Und als er nichts mehr essen konnte und seine zarten Finger einen nach dem andern ableckte und sie an einem Tuche abwischte, fehlte nichts, als daß man sich Weinlaub statt des Tuches denkt, um das Bild zu vollenden.
Diesem Mann mit seinem sich bäumenden Schnurrbart und seiner sich herabsenkenden Nase, welche Gebärde sich stets bei dem unheimlichsten Lächeln zeigte, und mit den vorstehenden Augen, die aussahen, als ob sie zu seinen gefärbten Haaren gehörten und als ob ihre natürliche Kraft, das Licht zu spiegeln, durch einen ähnlichen Prozeß gebrochen wäre, hatte die ewig wahre und nie vergeblich wirkende Natur die Warnung für andere Mitmenschen aufgeprägt: »Hüte dich!« Es war nicht ihre Schuld, wenn die Warnung wirkungslos blieb. Die Natur ist in keinem derartigen Fall zu tadeln.
Als Mr. Blandois sein Mahl beendet und seine Finger gereinigt hatte, nahm er eine Zigarre aus seiner Tasche und rauchte sie, sich wieder an das Fenster setzend, mit Muße zu Ende, indem er den Rauch, der von seinen dünnen Lippen in dünnen Wölkchen wegdampfte, dann und wann anredete:
»Blandois, du wirst der Gesellschaft den Tisch drehen, mein kleiner Junge. Haha! Heiliges Blau, du hast gut angefangen, Blandois! Im Fall der Not ein ausgezeichneter Meister im Englischen und Französischen; ein Mann für den Schoß der Familie. Du hast eine rasche Auffassungsgabe, du hast Humor, du hast Gewandtheit, du hast einschmeichelnde Manieren, du hast ein günstiges Äußere; kurz, du bist ein Gentleman! Als Gentleman sollst du leben, mein kleiner Junge, als Gentleman sollst du sterben. Du wirst gewinnen, wie das Spiel auch fällt. Sie werden alle dein Verdienst anerkennen, Blandois. Du wirst die Gesellschaft, die dir schmählich Unrecht getan hat, deinem Stolz beugen. Tod und Teufel, du bist von Natur und Rechts wegen stolz, mein Blandois!« Zu solch schmeichelhaftem Gemurmel rauchte dieser Gentleman seine Zigarre zu Ende und trank seine Flasche Wein aus. Als beides geschehen, warf er sich in eine sitzende Lage, und mit der schließlichen ernsten Anrede: »Mut denn! Blandois, du gescheiter Junge, nimm all deine fünf Sinne zusammen!« stand er auf und ging nach dem Hause von Clennam und Co. zurück.
Er wurde an der Tür von Mistreß Affery empfangen, die nach den Instruktionen ihres Herrn zwei Lichter im Gang und ein drittes auf der Treppe angezündet hatte und ihn nach dem Zimmer von Mrs. Clennam führte. Dort stand der Tee bereit, und es waren jene kleinen Arrangements getroffen, wie sie beim Empfang von erwarteten Besuchen im Hause üblich sind. Sie waren selbst bei der wichtigsten Veranlassung unbedeutend und gingen nie über die Aufstellung des chinesischen Teeservices und das Ueberziehen des Bettes mit einer nüchternen und traurigen Draperie hinaus. Sonst war nichts im Zimmer als das bahrenartige Sofa, mit dem Block darauf, und die Gestalt in dem Witwenkleid, wie zur Hinrichtung angezogen. Das Feuer war umgeben von einem Damm angefeuchteter Asche, das Gitter mit seinem zweiten kleinen Aschendamm; der Kessel und der Geruch waren von schwarzer Farbe; alles, wie es vor fünfzehn Jahren gewesen.
Mr. Flintwinch stellte den an Clennam und Co. empfohlenen Gentleman vor. Mrs. Clennam, die den Brief vor sich liegen hatte, verbeugte sich und bat ihn sich zu setzen. Sie sahen einander fest an. Es war nur natürliche Neugier.
»Ich danke Ihnen, Sir, daß Sie an eine schwache Frau wie mich denken. Wenige Menschen, die in Geschäftssachen hierherkommen, denken daran, sich um ein so sehr aus dem Gesichtskreis gerücktes Wesen zu kümmern. Es wäre vergeblich, etwas anderes zu erwarten. Aus den Augen, aus dem Sinn. Wenn ich dankbar für die Ausnahme bin, beklage ich mich nicht über die Regel.«
Mr. Blandois drückte in seiner höflichsten Weise die Befürchtung aus, er möchte sie gestört haben, indem er sich unglücklicherweise zu so ungünstiger Zeit bei ihr einfinde. Er habe sich bereits bei Mr. – er bat um Entschuldigung – aber er habe nicht die Ehre, den Namen –
»Mr. Flintwinch ist seit vielen Jahren mit dem Hause als Kompagnon verbunden.«
Mr. Blandois war Mr. Flintwinchs gehorsamer Diener. Er bat Mr. Flintwinch, die Versicherung der tiefsten Achtung zu empfangen.
»Seit mein Mann tot ist«, sagte Mrs. Clennam, »und mein Sohn eine andre Geschäftsbranche vorzog, hat unser altes Haus keinen andern Repräsentanten als Mr. Flintwinch.«
»Wie nennen Sie sich dann selbst?« lautete die grämliche Frage dieses Mannes. »Sie haben den Geist von zwei Männern.«
»Mein Geschlecht macht mich unfähig«, fuhr sie fort, indem sie die Augen nur leicht nach Jeremiah umwandte, »einen verantwortlichen Teil des Geschäfts zu übernehmen, wenn ich auch die Fähigkeit dazu hätte. Einige unsrer alten Freunde jedoch (vorzüglich die Schreiber dieses Briefes) haben die Freundlichkeit, unserer nicht zu vergessen, und wir erhalten uns die Fähigkeit, was sie uns auftragen, so tatkräftig zu tun, wie wir es immer getan haben. Das kann Sie jedoch nicht interessieren. Sie sind Engländer, Sir?«
»Offen gesagt, Madame, nein; ich bin in England weder geboren noch erzogen. Ich gehöre wirklich keinem Lande an«, sagte Mr. Blandois, sein Bein ausstreckend und darauf schlagend, »ich stamme von einem halben Dutzend Ländern ab.«
»Sie sind viel in der Welt herumgekommen?«
»Es ist wahr. Beim Himmel, Madame, ich war hier und dort und überall!«
»Sie haben wahrscheinlich keine Familienbande? Sind nicht verheiratet?«
»Madame«, sagte Blandois, mit einem häßlichen Senken seiner Augbrauen, »ich bete Ihr Geschlecht an, aber ich bin nicht verheiratet – ich war es nie.«
Mistreß Affery, die neben ihm am Tisch stand, sah, indem sie den Tee eingoß, zufällig in ihrem traumhaften Zustand den Fremden an, als er diese Worte sprach, und glaubte einen Ausdruck in seinen Augen zu bemerken, der ihre Augen so gewaltig fesselte, daß sie sich nicht losreißen konnte. Die Wirkung dieser Einbildung war, daß sie ihn, mit der Teekanne in der Hand, nicht bloß zu ihrem eigenen Mißbehagen, sondern offenbar auch zu dem seinigen, und durch sie beide zu dem von Mrs. Clennam und Mr. Flintwinch unverwandt anstarrte. Auf diese Weise traten einige geisterhafte Augenblicke ein, während deren sie sich alle verwirrt, und nicht wissend warum, ansahen.
»Affery«, sagte ihre Herrin, zuerst die Pause unterbrechend, »was ist mit dir?«
»Ich weiß nicht«, sagte Mistreß Affery, indem sie ihre unbeschäftigte linke Hand nach dem Fremden ausstreckte. »Ich bin es nicht. Er ist es!«
»Was meint diese gute Frau?« rief Mr. Blandois blaß und heiß werdend, indem mit einem Blicke so tödlichen Zornes aufstand, daß dieser seltsam mit dem schwachen Ausdruck seiner Worte kontrastierte. »Wie ist es möglich, dieses gute Geschöpf zu verstehen?«
»Es ist nicht möglich«, sagte Mr. Flintwinch, indem er sich rasch nach ihr umdrehte. »Sie weiß nicht, was sie will. Sie ist eine blödsinnige Frau, eine Schwärmerin in ihrem Sinne. Sie soll eine Dosis Arznei haben, sie soll eine tüchtige Dosis haben. Mache, daß du fortkommst, Frau«, fügte er, leise ihr ins Ohr flüsternd, hinzu, »mache, daß du fortkommst, solange du noch weißt, daß du Affery bist, und ich dich noch nicht zu Schaum geschüttelt.«
Mistreß Affery, besorgt für die Gefahr, in der ihre Identität stand, ließ die Teekanne los, als ihr Gatte sie ergriff, nahm die Schürze über den Kopf und war in einem Nu verschwunden. Der Fremde brach nach und nach in ein Lachen aus und setzte sich wieder nieder.
»Sie werden sie entschuldigen, Mr. Blandois«, sagte Jeremiah, indem er den Tee selbst eingoß; »sie ist geistesschwach und zerstreut; daran fehlt’s. Nehmen Sie Zucker, Sir?«
»Danke; keinen Tee für mich. – Verzeihen Sie meine Bemerkung, aber das ist eine sehr merkwürdige Uhr.«
Der Teetisch war in die Nähe des Sofas gestellt, mit einem geringen Zwischenraum zwischen diesem und Mrs. Clennams eigenem besonderen Tisch. Mr. Blandois war in seiner Galanterie aufgestanden, um der Dame den Tee zu reichen (ihre gerösteten Brotschnitten standen bereits vor ihr), und während er so die Tasse in passende Entfernung von ihr stellte, zog die Uhr, die wie immer vor ihr lag, seine Aufmerksamkeit auf sich. Mrs. Clennam sah plötzlich zu ihm auf.
»Ist es erlaubt? Danke. Eine schöne altertümliche Uhr«, sagte er und nahm sie in seine Hand. »Schwer für den Gebrauch, aber massiv und echt. Ich habe eine besondere Liebhaberei für alles Echte. Ich bin selbst, so wie ich bin, durchaus echt. Ha! Eines Gentleman Uhr mit zwei Gehäusen nach der alten Fasson. Darf ich sie aus dem äußeren Gehäuse nehmen? Danke. Ah! ein altes seidenes Uhrfleckchen mit Perlen gestickt? Ich habe dergleichen oft bei alten Holländern und Belgiern gesehen. Niedliche Dinge!«
»Sie sind auch sehr altmodisch«, sagte Mrs. Clennam.
»Sehr. Aber das ist, wie mir scheint, nicht so alt wie die Uhr.«
»Ich glaube nicht.«
»Eigentümlich, wie sich diese Chiffern ineinander zu verschlingen pflegten«, gemerkte Blandois und sah mit seinem bekannten Lächeln auf. »Wie, heißt das nicht D.N.F.? Es könnte beinahe alles sein.«
»Das sind die Buchstaben.«
Mr. Flintwinch, der die ganze Zeit beobachtend, mit einer Tasse Tee in der Hand und den Mund geöffnet, um den Inhalt zu verschlingen, dasaß, begann endlich zu trinken: er war gewöhnt, immer seinen Mund ganz zu füllen, ehe er ihn auf einen Schluck leerte, und immer zuvor mit sich zu Rate zu gehen, ehe er ihn wieder füllte.
»D.N.F. war ohne Zweifel ein zartes, liebenswürdiges, bezauberndes, hübsches Geschöpf«, bemerkte Blandois, indem er das Gehäuse wieder aufnahm. »Ich bete sie schon an, wenn ich nur daran denke. Unglücklicherweise bete ich, für den Frieden meiner Seele, nur zu leicht an. Es mag ein Fehler, es mag eine Tugend sein, aber Anbetung weiblicher Schönheit und Vorzüge bilden drei Teile meines Charakters, Madame.«
Mr. Flintwinch hatte sich indessen eine weitere Tasse Tee eingeschenkt, die er in Schlucken wie zuvor verschlang, während seine Blicke auf die kranke Frau gerichtet waren.
»Ihr Herz kann hier ruhig sein, Sir«, versetzte sie, an Blandois gewandt. »Diese Buchstaben bilden, glaube ich, nicht die Initialen eines Namens.« »Vielleicht eines Motto«, sagte Blandois einwerfend.
»Einer Sentenz. Sie standen, glaube ich, immer für ›Do Not Forget‹ (vergiß nicht)!«
»Aber natürlich«, sagte Mr. Blandois, indem er die Uhr wieder an ihren Ort legte und zu seinem Stuhle zurückging, »Sie vergessen auch nicht.«
Mr. Flintwinch, der jetzt vollends austrank, nahm nicht nur einen längeren Schluck als bisher, sondern machte die darauffolgende Pause auch unter neuen Umständen: das heißt, er hatte seinen Kopf zurückgeworfen und seine Tasse an den Lippen, während seine Augen noch immer auf der Kranken ruhten. Sie besaß jene Gewalt über ihr Gesicht und jene konzentrierte Kraft, ihre Festigkeit oder richtiger Halsstarrigkeit im Ausdruck zusammenzuhalten. In ihrem Fall ersetzte sie, was andre durch Gebärde und Geste ausgedrückt hätten, als sie in ihrer bedächtigen und entschiedenen Weise antwortete:
»Nein, Sir, ich vergesse nicht. Ein so monotones Leben wie das, das ich seit vielen Jahren führe, ist nicht der Weg zum Vergessen. Ein Leben der Selbstpeinigung ist nicht der Weg zum Vergessen. Zu fühlen, daß man (wie wir alle, jedes von uns, alle Kinder Adams!) Verfehlungen wieder gutzumachen und Frieden anzubahnen habe, rechtfertigt den Wunsch zu vergessen nicht. Deshalb habe ich längst darauf verzichtet und vergesse weder, noch wünsche ich zu vergessen.«
Mr. Flintwinch, der zuletzt den Satz am Boden seiner Teetasse umhergeschüttelt, schluckte ihn jetzt und richtete, indem er die Tasse, mit der er fertig war, auf das Teebrett stellte, die Blicke auf Mr. Blandois, als wollte er ihn fragen, was er davon denke?
»All das, Madame«, sagte Mr. Blandois mit seiner weichsten Verbeugung und die weiße Hand auf die Brust legend, »all das war durch das Wort ›Natürlich‹ ausgedrückt, das ich vorhin anzuwenden Scharfsinn und Takt (ohne Takt wäre ich nicht Blandois) genug besessen zu haben stolz bin.«
»Verzeihen Sie, Sir«, versetzte sie, »wenn ich die Wahrscheinlichkeit bezweifle, daß ein Mann des Vergnügens, des Glücks und der Galanterie, ein Mann, der zu schmeicheln und sich schmeicheln zu lassen gewöhnt ist –«
»O Madame! Wahrhaftig!«
»– wenn ich zweifle, daß ein solcher Charakter imstande sei, zu begreifen, was mir in meinen Umständen zukommt. Nicht als wollt‘ ich Ihnen eine Lehre aufdrängen«, sie sah nach dem großen Stoß schwerer verblichener Bücher vor sich, »(denn Sie gehen Ihren eigenen Weg, und die Folgen kommen über Ihr Haupt), ich sage nur so viel: ich steure meinen Weg mit Hilfe von Piloten, geprüften und erfahrenen Piloten, mit denen ich nicht Schiffbruch leiden kann – nicht Schiffbruch leiden kann –, und wenn ich der Mahnungen uneingedenk wäre, die mir diese drei Buchstaben bringen, würde ich nicht halb so sehr gestraft sein, wie ich es jetzt bin.«
Es war eigentümlich, wie sie die Gelegenheit ergriff, mit einem unsichtbaren Gegner zu disputieren. Vielleicht mit ihrem eigenen bessern Gefühl, das sich immer gegen sie und ihren Selbstbetrug wandte,
»Wenn ich die unwissentlichen Fehler vergäße, die ich während der Tage der Gesundheit und Freiheit beging, so würde ich über das Leben klagen, zu dem ich jetzt verdammt bin. Ich tue es aber nie und habe es nie getan. Wenn ich vergäße, daß dieser Schauplatz, die Erde, ein Schauplatz der Trübsal und Mühsal und finsterer Prüfung für die Geschöpfe zu sein bestimmt ist, die aus seinem Staube geschaffen sind, so möchte ich mich über die Eitelkeit derselben grämen. Aber ich kenne dieses Gefühl nicht. Wenn ich nicht wüßte, daß wir, jeder einzelne, der Gegenstand (höchst gerechterweise der Gegenstand) eines Zornes sind, der versöhnt werden muß und gegen den bloße Handlungen nichts bedeuten, so würde ich über den Unterschied zwischen mir, die hier gefangen sitzt, und den Leuten, die durch den Torweg drunten gehen, murren. Aber ich betrachte es als eine Gnade und Gunst vom Himmel, ausgewählt zu sein, die Versöhnung herbeizuführen, die ich hienieden anbahne; zu wissen, was ich hienieden als gewiß weiß, und zu erreichen, was ich hienieden erreicht habe. Mein Leiden hätte sonst keinen Sinn für mich. Deshalb möchte ich nichts vergessen, und ich vergesse nichts. Deshalb bin ich zufrieden und sehe, es ist besser mit mir als mit Millionen anderen.«
Während sie diese Worte sprach, legte sie ihre Hand auf die Uhr und schob sie wieder genau an den Ort auf ihrem kleinen Tisch, den diese gewöhnlich einnahm. Sie ließ die Hand unverwandt darauf ruhen und saß noch einige Momente, den Blick starr und halb verächtlich auf sie gerichtet, da.
Mr. Blandois war während dieser Auseinandersetzung ganz Ohr; er heftete die Augen auf die Dame und strich sich den Schnurrbart mit beiden Händen. Mr. Flintwinch war etwas unruhig geworden und fiel nun ins Wort:
»Ja, ja, ja!« sagte er. »Das versteht sich, Mrs. Clennam, und Sie haben fromm und gut gesprochen. Mr. Blandois, möcht‘ ich vermuten, neigt nicht besonders zur Frömmigkeit.«
»Im Gegenteil, Sir«, warf der Fremde protestierend ein, indem er mit seinen Fingern schnalzte. »Sie verzeihen! Es ist gerade eine Seite meines Charakters. Ich bin gefühlvoll, feurig, gewissenhaft und phantasiereich. Ein gefühlvoller, feuriger, gewissenhafter und phantasiereicher Mann, Mr. Flintwinch, muß das sein, oder er ist nichts.«
Es lag ein leichter Verdacht in Mr. Flintwinchs Gesicht, er möchte eben nichts sein, als der Fremde aus seinem Stuhl auffuhr (es war charakteristisch für diesen Mann wie für alle ähnlichen Persönlichkeiten, daß er alles, was er je tat, übertrieb, und wäre es auch nur um ein Haar breit) und näher trat, um von Mrs. Clennam Abschied zu nehmen.
»Was werden Sie von dem Egoismus einer kranken alten Frau denken, Sir«, sagte sie dann, »obgleich ich wirklich nur durch Ihre zufällige Anspielung auf mich und meine Schwächen dazu veranlaßt worden bin. Da Sie so rücksichtsvoll waren, mich zu besuchen, hoffe ich, werden Sie ebenso rücksichtsvoll sein, darüber hinwegzusehen. Sagen Sie mir aber bitte keine Artigkeit mehr.« Denn er war sichtlich im Begriff, dies zu tun. »Mr. Flintwinch wird sich außerordentlich freuen, Ihnen jeden Dienst zu erweisen, und ich hoffe, Ihr Aufenthalt in dieser Stadt soll Ihnen angenehm werden.«
Mr. Blandois dankte ihr und küßte ihre Hand mehrere Male. »Das ist ein altes Zimmer«, bemerkte er, indem er sich plötzlich lebhaft umsah, als er nach der Tür ging. »Ich war so in Gedanken, daß ich es gar nicht bemerkte, aber es ist ein echtes altes Zimmer.«
»Ja, es ist ein echtes altes Haus«, sagte Mrs. Clennam mit ihrem kalten Lächeln: »Ein Haus ohne alle Anmaßung, aber ein Stück Altertum.«
»Ganz gewiß!« rief der Fremde. »Wenn Mr. Flintwinch die Güte haben wollte, mich auf dem Wege hinaus durch die Zimmer zu führen, er könnte mir keinen größeren Dienst erweisen. Ein altes Haus ist eine Schwäche von mir. Ich habe manche Schwäche, aber keine größere. Ich liebe und studiere das Malerische in allen Richtungen. Ich bin selbst malerisch genannt worden. Es ist kein Verdienst, malerisch zu sein – ich habe vielleicht größere Verdienste –, aber ich mag es durch irgendeinen Zufall sein. Sympathie, Sympathie!«
»Ich sage Ihnen im voraus, Mr. Blandois, daß Sie es sehr dunkel und sehr leer finden werden«, sagte Jeremiah, indem er das Licht nahm. »Es ist des Ansehens nicht wert.« Mr. Blandois klopfte ihm jedoch freundlich auf den Rücken und lachte, statt zu antworten. Darauf warf Mr. Blandois Mrs. Clennam noch einige Kußhände zu, und sie verließen zusammen das Zimmer.
»Sie wollen wohl nicht in das obere Stockwerk gehen?« sagte Jeremiah auf der Schwelle.
»Im Gegenteil, Mr. Flintwinch; wenn es nicht ermüdend für Sie ist, würde es mich ungemein freuen!«
Mr. Flintwinch krümmte sich demzufolge die Treppe hinauf, und Mr. Blandois folgte ihm auf den Fersen. Sie stiegen nach dem großen Schlafzimmer im Dache, das Arthur am Abend seiner Rückkehr bewohnt hatte. »Hier, Mr. Blandois!« sagte Jeremiah, indem er es zeigte, »ich wünsche nun, Sie werden den Anblick der Mühe des Steigens wert erachten. Ich gestehe, mir wär‘ es nicht der Mühe wert.«
Da Mr. Blandois entzückt war, gingen sie noch durch andere Dachstuben und Gänge und kamen wieder die Treppe hinab. Inzwischen hatte Mr. Flintwinch bemerkt, daß der Fremde, nachdem er einen flüchtigen Blick umhergeworfen, nie mehr das Zimmer, sondern beständig ihn, Mr. Flintwinch, ansah. Nachdem er diese Entdeckung bei sich gemacht, drehte er sich auf der Treppe zu einer weiteren Probe um. Ihre Blicke begegneten sich alsbald; und in dem Augenblick, als sie sich aufeinander hefteten, lachte der Fremde mit jenem häßlichen Spiel der Nase und des Bartes (wie er es in jedem ähnlichen Augenblick, seit sie Mrs. Clennams Zimmer verlassen, getan) teuflisch vor sich hin.
Als ein weit kleinerer Mann, wie es der Fremde war, befand sich Mr. Flintwinch in dem physischen Nachteil, daß er auf diese unangenehme Weise von oben herab angeschielt wurde; und da er zuerst die Treppe hinunterging und gewöhnlich eine Stufe oder zwei tiefer als der andere stand, so war der Nachteil für den Augenblick noch größer. Er sah sich deshalb erst wieder nach Mr. Blandois um, als diese zufällige Ungleichheit durch den Eintritt in das Zimmer des verstorbenen Mr. Clennam aufgehoben war. Dann aber drehte er sich plötzlich nach ihm um, fand jedoch seinen Blick unverändert.
»Ein höchst merkwürdiges altes Haus«, lächelte Mr. Blandois. »So geheimnisvoll. Hören Sie nie ein unheimliches Geräusch hier?«
»Geräusch?« versetzte Mr. Flintwinch. »Nein.«
»Und sehen Sie auch keine Gespenster?«
»Nein«, sagte Mr. Flintwinch, indem er sich zornig nach dem Frager umwandte. »Keins, das sich unter diesem Namen und in dieser Eigenschaft einführte.«
»Haha! Ein Porträt hier, wie ich sehe?«
(Er sah immer noch Mr. Flintwinch an, als wäre er das Porträt.)
»Ein Porträt, Sir, wie Sie bemerkten.«
»Darf ich fragen, wen es vorstellt, Mr. Flintwinch?«
»Den seligen Mr. Clennam. Ihren Gemahl.«
»Vielleicht der frühere Besitzer jener merkwürdigen Uhr?« sagte der Fremde.
Mr. Flintwinch, der seine Blicke auf das Porträt geworfen, drehte sich wieder um und fand sich abermals als Gegenstand desselben Lächelns und Blickes. »Ja, Mr. Blandois«, antwortete er scharf. »Es war seine Uhr und seines Oheims vor ihm, und der Herr weiß, wessen noch vor ihm; das ist alles, was ich Ihnen von ihrem Stammbaum sagen kann.«
»Das ist ein scharf ausgeprägter Charakter, Mr. Flintwinch, unsere Freundin oben.«
»Ja, Sir«, sagte Jeremiah, sich wieder nach dem Fremden umdrehend, was er während dieses Gesprächs tat, wie eine Schraubenmaschine, die zu kurz eingreift, denn der andere änderte sich keinen Augenblick, und er sah sich immer gezwungen, etwas zurückzutreten. »Sie ist eine merkwürdige Frau. Großer Mut – große Stärke des Geistes.«
»Sie müssen sehr glücklich zusammen gewesen sein«, sagte Blandois.
»Wer?« fragte Flintwinch, indem er sich wieder umdrehte.
Mr. Blandois streckte den rechten Zeigefinger nach dem Krankenzimmer und seinen linken Zeigefinger nach dem Porträt aus; dann stemmte er die Arme in die Seite, streckte die Beine weit auseinander und sah lächelnd mit herabstrebender Nase und emporgezogenem Schnurrbart auf Mr. Flintwinch herab. »Vermutlich so glücklich wie die meisten andern Leute«, versetzte Mr. Flintwinch. »Ich kann’s nicht sagen. Ich weiß es nicht. Es gibt in allen Familien Geheimnisse.«
»Geheimnisse!« rief Mr. Blandois« lebhaft. »Sag‘ es noch einmal, mein Sohn.«
»Ich sage«, versetzte Mr. Flintwinch, gegen den er sich so plötzlich aufgebläht, daß Mr. Flintwinch durch die ausgedehnte Brust sein Gesicht beinahe gestreift fühlte. »Ich sage, es gibt Geheimnisse in allen Familien.«
»So, es gibt welche«, rief der andere, indem er ihm auf beide Schultern schlug und ihn vor- und rückwärts bog. »Haha! Sie haben recht. So, es gibt welche! Geheimnisse? Wahrhaftig, es gibt des Teufels eigene Geheimnisse in einigen Familien, Mr. Flintwinch.« Nachdem er Mr. Flintwinch mehrmals auf beide Schultern geklopft, als ob er sich gleichsam in freundlicher und humoristischer Weise über diesen Scherz lustig machte, den er zum besten gegeben, zog er seine Arme hinauf, warf seinen Kopf zurück, schwang die Hände hinter demselben ineinander und brach in ein lautes Lachen aus. Vergeblich suchte Mr. Flintwinch sich noch einmal gegen ihn aufzuschrauben. Er kam nicht gegen dieses Lachen an.
»Aber erlauben Sie mir einen Augenblick da Licht«, sagte Blandois, als er ausgelacht. »Wir wollen einen Blick auf den Gemahl jener merkwürdigen Frau werfen. Ha!« rief er, indem er das Licht einen Arm hoch hielt. »Auch hier große Entschiedenheit im Ausdruck, obwohl nicht von demselben Charakter. Blicke, als wollte er sagen – wie heißt es? Vergiß nicht – nicht wahr, Mr. Flintwinch? Beim Himmel, Sir, so sieht er aus!«
Als er ihm das Licht zurückgab, sah er ihn noch einmal an und erklärte dann, während er langsam mit ihm in den Flur hinausschritt, es sei wirklich ein reizendes altes Haus. Es habe ihm so sehr gefallen, daß er seine Besichtigung nicht für hundert Pfund missen möchte.
Trotz dieser eigentümlichen Vertraulichkeit seitens Mr. Blandois‘, die eine allgemeine Veränderung in seinem Benehmen in sich schloß, das dadurch weit gröber und rauher, weit ungestümer und kühner als früher wurde, bewahrte Mr. Flintwinch, dessen ledernes Gesicht dem Wechsel nicht sehr ausgesetzt war, seine Unbeweglichkeit unverändert bei. Ja, er sah in diesem Augenblick aus, als wenn er vielleicht etwas zu lange bis zu der freundschaftlichen Operation des Abschneidens gehangen – eine so gleichförmige Ruhe bewahrte er in seinem ganzen Wesen. Sie hatten ihre Rundschau mit einem kleinen Zimmer an der Seite der Flur geschlossen, und Mr. Flintwinch stand nun da und betrachtete Mr. Blandois.
»Ich freue mich, daß Sie so sehr befriedigt sind, Sir«, lautete seine kalte Bemerkung. »Ich erwartete es wirklich nicht. Sie scheinen in sehr guter Stimmung zu sein.«
»In herrlicher Stimmung«, versetzte Blandois. »Auf Ehre, ich war noch nie so angenehm erfrischt. Haben Sie immer Vorahnungen, Mr. Flintwinch?«
»Ich bin nicht gewiß, ob ich weiß, was Sie mit diesem Ausdruck meinen, Sir«, antwortete Jeremiah.
»Das heißt in diesem Fall, Mr. Flintwinch, unbestimmte Ahnungen von einem Vergnügen, das kommt.«
»Ich kann nicht behaupten, daß ich gegenwärtig ein solches Gefühl habe«, versetzte Mr. Flintwinch mit dem größten Ernst. »Wenn ich es nahen fühlen sollte, werde ich es Ihnen sagen.«
»Ich aber«, sagte Blandois, »ich, mein Sohn, habe heute abend eine Ahnung, daß wir gut miteinander bekannt werden. Fühlen Sie das auch kommen?«
»N – nein«, entgegnete Mr. Flintwinch, bedächtig bei sich überlegend. »Ich kann das nicht behaupten.«
»Ich habe ein starkes Vorgefühl, daß wir sehr intim miteinander bekannt werden. – Haben Sie noch kein Gefühl der Art?«
»Noch nicht«, sagte Mr. Flintwinch.
Mr. Blandois nahm ihn wieder bei beiden Schultern; wiegte ihn wieder in seiner heitern Weise wie zuvor; nahm ihn dann unter den Arm und lud ihn ein, mit ihm zu kommen und eine Flasche mit ihm zu trinken: er wolle seinen guten, schlauen, alten Jungen bei sich haben.
Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, nahm Mr. Flintwinch die Einladung an, und sie gingen durch den Regen, der seit Anbruch der Nacht an den Fenstern, Dächern und auf dem Pflaster gerüttelt hatte, nach dem Quartier, wo der Reisende wohnte. Donner und Blitz hatten schon lange aufgehört, aber der Regen floß außerordentlich heftig herab. Bei ihrer Ankunft in Mr. Blandois‘ Zimmer befahl dieser wackere Mann eine Flasche Portwein und kauerte sich dann (nachdem er alles, was er nur Weiches auftreiben konnte, zusammengepreßt, um es seiner zarten Person bequem zu machen) in dem Fenstersitz nieder, während Mr. Flintwinch einen Stuhl gegenüber von ihm nahm, so daß der Tisch zwischen ihnen stand. Mr. Blandois machte den Vorschlag, daß sie die größten Gläser, die im Hause seien, kommen lassen wollten, was Mr. Flintwinch billigte. Nachdem die Humpen gefüllt waren, klinkte Mr. Blandois in lärmender Heiterkeit mit der Spitze seines Glases an den Fuß von Mr. Flintwinchs Glas und trank auf die intime Freundschaft, die er kommen sah. Mr. Flintwinch tat ihm ernsthaft Bescheid und trank allen Wein, den er bekommen konnte, antwortete aber nichts. Sooft Mr. Blandois anstieß, was bei jedem Füllen der Fall war, tat Mr. Flintwinch willig Bescheid und würde den Wein seines Trinkgenossen, so gut wie den seinen, ausgetrunken haben: denn er war mit Ausnahme des Gaumens eine reine Tonne.
Kurz, Mr. Blandois fand, daß Portwein in den verschwiegenen Flintwinch zu gießen, ihn nicht öffnen, sondern zuschließen heiße. Ferner machte er den Eindruck, als ob er vollkommen imstande wäre, die ganze Nacht so fortzufahren, oder wenn sich Gelegenheit böte, den ganzen nächsten Tag und den ganzen nächsten Abend. Dagegen wurde sich Mr. Blandois bald deutlich bewußt, daß er zu stolz und keck renommiere. Er machte deshalb nach der dritten Flasche der Unterhaltung ein Ende. »Sie werden morgen auf uns ziehen, Sir?« sagte Mr. Flintwinch, indem er sich beim Weggehen ein geschäftliches Ansehen zu geben suchte.
»Lieber Kohlkopf«, erwiderte der andere, indem er ihn mit beiden Händen am Kragen faßte. »Ich werde auf Sie ziehen, haben Sie keine Furcht. Adieu, mein Flintwinch. Empfangen Sie beim Scheiden«, fuhr er fort, umarmte ihn mit südlichem Feuer und küßte ihn schmatzend auf beide Wangen, »empfangen Sie das Wort eines Gentleman! Bei allen tausend Donnern, Sie sollen mich wiedersehen!«
Er erschien am nächsten Tage nicht, obgleich der Avisbrief richtig ankam. Als Mr. Flintwinch abends nach ihm fragte, erfuhr er zu seinem großen Staunen, daß der Fremde seine Rechnung bezahlt hatte und über Calais nach dem Kontinent gegangen sei. Nichtsdestoweniger scharrte Jeremiah aus seinem nachdenklichen Gesicht die Überzeugung zusammen, daß Mr. Blandois in jedem Fall sein Wort halten und sich wieder sehen lassen werde.