Neunundzwanzigstes Kapitel
Mrs. Flintwinch fährt fort zu träumen.
Das Haus in der City bewahrte sein düsteres und finsteres Aussehen während all dieser Vorgänge, und die gebrechliche Frau, die darin wohnte, führte unverändert einen Tag wie den andern dasselbe Leben. Morgen, Mittag und Abend, Morgen, Mittag und Abend kehrten eins ums andere im Geleis seiner Einförmigkeit wieder, immer dieselbe widerwillige Rückkehr derselben Reihenfolge des mechanischen Treibens wie in dem Gehwerk einer Uhr.
Der Rollstuhl hatte seine Erinnerungen und Träumereien, kann man sich denken, wie jeder Ort sie hat, der zu einer Station eines menschlichen Wesens gemacht ist. Bilder von demolierten Straßen und veränderten Häusern, wie sie früher waren, als sie die Insassin des Stuhles noch kannte; Bilder von Menschen, wie auch diese einst ausgesehen, denen jedoch für die Zeit, seitdem man sie nicht mehr gesehen, wenig oder keine Veränderung eingeräumt worden war; dieser mußte eine große Zahl im langen Geschäftsleben finsterer Tage vorübergegangen sein. Die Uhr des geschäftigen Daseins um die Stunde zu stellen, wo man sich selbst davon ausgeschlossen hatte, zu glauben, daß die Menschen sich nicht mehr bewegen können, wenn wir zu einem Stillstand gebracht sind, außerstande zu sein, die Wechsel der Dinge, die über unsern Horizont hinaus liegen, nach einem größeren Maßstab als dem kleinlichen des eignen einförmigen und beschränkten Daseins zu messen – ist die Schwäche mancher gebrechlicher Menschen und die geistige Krankheit beinahe aller zurückgezogen Lebenden.
Welche Szenen und handelnden Personen die strenge Frau am meisten im Geiste an sich vorüberziehen ließ, wenn sie so von Jahr zu Jahr in ihrem dunklen Zimmer saß, wußte niemand, außer sie selbst. Mr. Flintwinch hätte mit seiner schiefen Gegenwart, die täglich wie eine außergewöhnliche mechanische Kraft auf sie wirkte, es vielleicht aus ihr herausgepreßt, wenn weniger Widerstand in ihr gewesen wäre. Aber sie war zu stark für ihn. Mistreß Affery, die beständig ihren Oberherrn und ihre kränkliche Herrin mit einem Gesicht voll kritikloser Bewunderung ansah, nach Einbruch der Dunkelheit mit der Schürze über dem Kopf im Hause umherging, immer auf unerklärliches Geräusch lauschte und bisweilen welches hörte, und nie aus ihrem geisterhaften, träumerischen, schlafwachen Zustande herauskam, hatte damit wirklich genug zu tun.
Es wurden sehr gute Geschäfte im Hause gemacht, wie Mistreß Affery merkte; denn ihr Gatte hatte in seinem kleinen Bureau außerordentlich viel zu schaffen, er sah mehr Leute, als sonst in vielen Jahren dahin gekommen waren. Das konnte leicht sein, da das Haus lange verlassen gestanden; aber er empfing Briefe und Besuche, führte die Bücher und die Korrespondenz. Er besuchte ferner selbst auch andre Kontore, die Kais, Docks, ferner das Zollhaus, Garraways Kaffeehaus, das Jerusalemer Kaffeehaus und die Börse, so daß er viel aus und ein ging. Er begann auch zuweilen am Abend, wenn Mistreß Clennam keinen besondern Wunsch nach seiner Gesellschaft aussprach, nach einem Wirtshaus in der Nähe zu gehen, um nach den Schiffsnachrichten und den Kurszetteln in den Abendzeitungen zu sehen und wohl auch kleinen geselligen Verkehr mit Kapitänen und Handelsschiffen, die dieses Etablissement besuchten, zu pflegen. Zu einer bestimmten Tageszeit hielten er und Mrs. Clennam Beratung in Geschäftsangelegenheiten, und es kam Affery, die immer lauschend und lauernd außen herumkroch, vor, als ob die beiden Gescheiten Geld machten.
Der Gemütszustand, in den Mr. Flintwinchs geblendete Frau verfallen war, hatte sich nach und nach in allen ihren Blicken und Handlungen so deutlich ausgesprochen, daß sie in der Meinung der beiden Gescheiten sehr tief sank und als eine Person betrachtet wurde, die, nie von starken Geistesgaben, nun gar verrückt zu werden drohte. Vielleicht weil ihr Äußeres kein kaufmännisches Gepräge trug oder weil ihm vielleicht bisweilen die Besorgnis aufstieg, es möchte in den Augen seiner Kunden ein schiefes Licht auf seinen gesunden Verstand werfen, daß er sie zur Frau genommen, befahl ihr Mr. Flintwinch, daß sie außerhalb des häuslichen Trios von ihren ehelichen Beziehungen schweigen und ihn nicht mehr Jeremiah nennen solle. Ihr häufiges Vergessen dieser Ermahnung verschlimmerte ihr ängstliches Wesen, da Mr. Flintwinch die Gewohnheit hatte, sich an ihrer Saumseligkeit dadurch zu rächen, daß er ihr auf der Treppe nachsprang und sie strafte. Die Folge davon war, daß sie immer in der peinlichen Angst schwebte, es werde ihr irgendwo aufgelauert.
Klein-Dorrit hatte ein langes Tagewerk in Mrs. Clennams Zimmer beendet und war gerade damit beschäftigt, die Flickchen und Schnipsel zusammenzulesen, ehe sie nach Hause ging. Mr. Pancks, den Affery soeben hereingeführt, richtete an Mrs. Clennam die Frage nach ihrem Befinden, indem er bemerkte, daß er »zufällig an dem Hause vorüberkommend« vorgesprochen hätte, um von der Hausbesitzerin zu erfahren, wie sie sich befinde. Mrs. Clennam sah ihn mit scharf zusammengezogenen Augenbrauen an.
»Mr. Casby weiß«, sagte sie, »daß ich keinen Veränderungen unterworfen bin. Die Veränderung, die ich hier erwarte, ist die große Veränderung.«
»Wirklich, Ma’am?« versetzte Mr. Pancks und ließ seine Blicke nach der Gestalt der kleinen Näherin gleiten, die auf ihren Knien die Fäden und Abfälle ihrer Arbeit von dem Teppich auflas. »Sie sehen sehr gut aus, Ma’am.«
»Ich trage, was ich zu tragen habe. Tun Sie, was Sie angeht.«
»Danke, Ma’am«, sagte Mr. Pancks, »das ist mein Bemühen.«
»Sie kommen oft hier vorbei, nicht wahr?« fragte Mrs. Clennam.
»Allerdings, Ma’am«, sagte Pancks, »namentlich seit einiger Zeit; ich bin in letzter Zeit häufig bald aus der einen, bald aus der andern Ursache vorübergekommen.«
»Bitten Sie Mr. Casby und seine Tochter, sich nicht mit Schicken nach mir zu beunruhigen. Wenn sie mich zu sehen wünschen, so wissen sie, daß ich hier sie zu empfangen bereit bin. Sie brauchen sich nicht mit Schicken zu bemühen. Und Sie brauchen sich nicht zu bemühen, zu kommen.“
»Nicht die geringste Mühe«, sagte Mr. Pancks. »Sie sehen wirklich ungemein gut aus, Ma’am.«
»Danke. Guten Abend.«
Dieser Abschied und der ihn begleitende gerade nach der Tür ausgestreckte Finger waren so kurz und entschieden, daß Pancks keinen Ausweg wußte, wie er seinen Besuch verlängern sollte. Er strich sein Haar mit dem heitersten Ausdruck in die Höhe, blickte wieder nach der kleinen Gestalt, sagte: »Guten Abend, Ma’am; brauchen nicht mit mir zu gehen, Mrs. Affery; ich kenne den Weg zur Tür« und dampfte hinaus. Mrs. Clennam sah ihm, das Kinn auf die Hand gestützt, mit aufmerksamen und finster mißtrauischen Blicken nach, und Affery starrte sie an, als ob sie von einem Zauber gefesselt wäre.
Langsam und gedankenvoll wandten sich Mrs. Clennams Blicke von der Tür, durch die Pancks hinausgegangen war, nach Klein-Dorrit, die vom Teppich aufstand. Das Kinn schwerer auf die Hand sinken lassend und mit lauernden, gesenkten Blicken saß die kranke Frau da und sah sie an, bis sie ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Klein-Dorrit errötete bei ihrem Blick und sah zu Boden. Mrs. Clennam saß noch immer unverwandten Auges da.
»Klein-Dorrit«, sagte sie, als sie endlich das Schweigen brach, »was weißt du von diesem Mann?«
»Ich weiß nichts von ihm, Ma’am, als daß ich ihn irgendwo sah und daß er mit mir gesprochen.«
»Was hat er zu dir gesagt?«
»Ich verstehe nicht, was er zu mir gesagt, er ist so wunderlich. Aber nichts Rauhes und Unangenehmes.«
»Weshalb kommt er hierher, um dich zu sehen?«
»Ich weiß nicht, Ma’am«, sagte Klein-Dorrit mit größter Offenheit.
»Du weißt, daß er hierher kommt, um dich zu sehen?«
»Ich vermute es«, sagte Klein-Dorrit. »Aber weshalb er hierher kommt, Ma’am, das kann ich mir nicht denken.«
Mrs. Clennam schlug ihre Augen zu Boden und saß, das strenge, ruhige Gesicht so fest auf einen Gedanken in ihrem Innern gerichtet, daß es kaum noch auf die Gestalt gerichtet war, die aus ihren Blicken zu verschwinden schien. Sie blieb ganz in Gedanken versunken. Es vergingen einige Minuten, ehe sie aus diesem Grübeln erwachte und ihre strenge Fassung wiedergewann.
Klein-Dorrit hatte indessen gewartet, um zu gehen, fürchtete jedoch, sie durch eine Bewegung zu stören; sie wagte jetzt den Ort zu verlassen, wo sie gestanden, seit sie sich erhoben, und leise um den Räderstuhl her zu gehen. Dann blieb sie neben ihr stehen, um »gute Nacht, Ma’am!« zu sagen.
Mrs. Clennam streckte ihre Hand aus und legte sie auf ihren Arm. Klein-Dorrit, die diese Berührung verwirrt machte, stand zitternd da. Vielleicht trat eine flüchtige Erinnerung an die Geschichte von der Prinzessin vor ihre Seele.
»Sage mir, Klein-Dorrit«, sagte Mrs. Clennam. »Hast du jetzt viele Freunde?«
»Sehr wenige, Ma’am. Außer Ihnen nur Miß Flora und – noch einen.«
»Meinst du diesen Mann?« sagte Mrs. Clennam, indem sie wieder mit dem ausgestreckten Finger nach der Tür zeigte.
»O nein, Ma’am!«
»Einen Freund von ihm vielleicht?«
»Nein, Ma’am.« Klein-Dorrit schüttelte ernstlich den Kopf. »O nein! Keinen, der ihm entfernt ähnlich oder mit ihm befreundet wäre.«
»Gut!« sagte Mrs. Clennam beinahe lächelnd. »Es geht mich nichts an. Ich frage, weil ich Interesse an dir nehme: und weil ich glaube, ich war deine Freundin, als du keine andre hattest, die dir helfen konnte. Ist das so?«
»Ja, Ma’am: das ist wirklich so. Ich war oft hier. Wenn Sie und die Arbeit, die Sie mir gaben, nicht gewesen wären, hätten wir alles entbehren müssen.«
»Wir«, wiederholte Mrs. Clennam, nach der Uhr sehend, die einst ihrem verstorbenen Mann gehört hatte und nun beständig auf ihrem Tische lag. »Seid ihr viel Personen zu Haus?«
»Nur mein Vater und ich, jetzt. Ich meine, nur Vater und ich haben gewöhnlich von dem zu leben, was wir verdienen.«
»Hast du viele Entbehrungen ertragen müssen, du und dein Vater, und wer sonst noch zu dir gehört?« fragte Mrs. Clennam in bedächtigem Ton, während sie nachdenklich die Uhr hin und her drehte.
»Bisweilen war unser Leben ziemlich hart«, sagte Klein-Dorrit mit ihrer sanften Stimme und in ihrer ängstlichen Weise, die Klagen gern vermied: »aber ich halte es – in dieser Beziehung – nicht für härter, als es viele Leute finden.«
»Das ist gut gesprochen!« versetzte Mrs. Clennam lebhaft. »Das ist die Wahrheit! Du bist ein gutes, gescheites Mädchen. Und du bist dabei ein dankbares Mädchen, wenn ich mich nicht in dir täusche.«
»Das ist ja ganz natürlich. Es ist kein Verdienst dabei, das zu sein«, sagte Klein-Dorrit. »Ich bin es wirklich.«
Mrs. Clennam zog mit einer sanften Güte, deren die träumerische Affery sie nie im Traume für fähig gehalten hätte, das Gesicht der kleinen Näherin zu sich herab und küßte sie auf die Stirn.
»Nun gehe, Klein-Dorrit«, sagte sie, »es wird sonst für dich zu spät, armes Kind.«
In all den Träumen, die Mistreß Affery aufgehäuft, seit sie sich dieser Beschäftigung widmete, hatte sie nichts Merkwürdigeres als dies geträumt. Ihr Kopf schmerzte sie bei dem Gedanken, daß sie das nächste Mal sehen würde, wie der andere Gescheite Klein-Dorrit küßte und dann die beiden Gescheiten sich umarmten und sich in Tränen des Mitgefühls für das ganze Menschengeschlecht auflösten. Der Gedanke machte sie ganz betäubt, als sie die leichten Schritte die Treppe hinabbegleitete, damit die Haustür sicher verschlossen würde.
Als sie dieselbe öffnete, um Klein-Dorrit hinauszulassen, sah sie Mr. Pancks, statt seiner Wege gegangen zu sein, wie man wohl an jedem minder merkwürdigen Ort und unter weniger merkwürdigen Umständen hätte von ihm erwarten können, im Hof vor dem Hause unruhig auf und ab gehen. In dem Augenblick, als er Klein-Dorrit sah, kam er rasch an ihr vorüber, sagte, den Finger an seiner Nase (wie Mistreß Affery deutlich hörte): »Pancks der Zigeuner, beim Wahrsagen« und verschwand.
»Der Herr schütze uns, hier ist ein Zigeuner und ein Wahrsager dabei!« rief Mistreß Affery. »Was weiter?«
Sie stand an der offenen Tür, erschrocken über dieses Rätsel. Es war ein regnerischer Gewitterabend. Die Wolken trieben dichtgeballt über ihren Häuptern hin, der Wind wehte in heftigen Stößen, schüttelte die Läden in der Nachbarschaft, die losgegangen waren, drehte die rostigen Kaminkappen und Wetterhähne im Wirbel und stürmte durch einen kleinen benachbarten Kirchhof, als ob er im Sinne hätte, die toten Bürger aus ihren Gräbern zu wecken. Der dumpfe Donner, der aus allen vier Enden des Himmels grollte, schien Rache zu künden für diese versuchte Entweihung und zu murmeln: »Laß sie ruhen! Laß sie ruhen!«
Mistreß Affery, deren Furcht vor Donner und Blitz nur die Bangigkeit vor dem unheimlichen Haus mit seiner frühzeitigen und außernatürlichen Dunkelheit gleichkam, stand unentschieden da, ob sie hineingehen sollte oder nicht, bis die Frage für sie dadurch entschieden wurde, daß die Tür durch einen heftigen Windstoß ihr vor der Nase zuschlug und sie ausgeschlossen war. »Was ist jetzt zu machen, was ist jetzt zu machen?« rief Mistreß Affery in diesem letzten ihr unheimlichen Traum. »Sie ist ja ganz allein drinnen und kann so wenig herauskommen, um zu öffnen, wie die Toten auf dem Kirchhofe!«
In diesem Dilemma lief Mistreß Affery, die Schürze als Kapuze über dem Kopf, um den Regen abzuhalten, mehrmals jammernd in dem öden gepflasterten Hofe auf und nieder. Warum sie sich dann bückte und zum Schlüsselloch in der Tür hineinsah, als ob das Auge sie öffnen könnte, wäre schwer zu sagen gewesen. Aber trotzdem würden die meisten Leute in dieser Lage das gleiche getan haben, und das war es denn auch, was sie tat.
Aus dieser Stellung fuhr sie plötzlich mit einem leichten Schrei auf, als sie etwas auf ihrer Schulter fühlte. Es war die Berührung einer Hand, einer Männerhand.
Der Mann war wie ein Reisender gekleidet: er hatte eine mit Pelz verbrämte Mütze auf und trug einen weiten Mantel. Er sah wie ein Ausländer aus. Er hatte langes Haar und einen dicken Schnurrbart – onyxschwarz, mit Ausnahme der zottigen Spitzen, die etwas rötlich waren – und eine hohe Habichtsnase. Er lachte über Mistreß Afferys Schreck und Schrei; und als er lachte, bäumte sich sein Schnurrbart unter der Nase, und seine Nase kam über den Schnurrbart herab.
»Was gibt es?« fragte er in reinem Englisch. »Wovor fürchten Sie sich?«
»Vor Ihnen!« keuchte Affery.
»Vor mir, Madame?«
»Und dem schauerlichen Abend und – und vor allem«, sagte Affery, »und hier! Der Wind hat die Tür zugeschlagen, und ich kann nicht hineinkommen.«
»Ha!« sagte der Fremde, der dies sehr kalt aufnahm. »Wahrhaftig! Kennen Sie einen Namen wie Clennam hier in der Nähe?«
»Der Herr sei uns gnädig, ich sollte wohl denken, sollte wohl denken!« rief Affery, bei dieser Frage von neuem verzweiflungsvoll die Hände ringend.
»Wo ist er, der so heißt?«
»Wo?« rief Affery zu einem neuen Blick in das Schlüsselloch angespornt. »Wo anders, als in diesem Haus hier? Und sie ist ganz allein in ihrem Zimmer und kann ihre Glieder nicht gebrauchen, kann sich nicht bewegen, um sich selbst oder mir zu helfen, und der andre Gescheite ist ausgegangen; der Herr vergebe mir,« rief Affery, durch diese gehäuften Betrachtungen zu einem wahnwitzigen Herumhüpfen getrieben, »wenn ich nicht plötzlich wahnsinnig werde!«
Ein wärmeres Interesse für die Sache gewinnend, da sie ihn selbst berührte, trat der Fremde zurück, um an dem Haus hinaufzusehen, und seine Blicke ruhten bald auf dem langen schmalen Fenster des kleinen Zimmers neben der Gangtür.
»Wo mag die Dame sein, die den Gebrauch ihrer Glieder verloren, Madame?« fragte er mit jenem eigentümlichen Lächeln, das die Blicke von Mistreß Affery unwillkürlich fesselte.
»Dort oben!« sagte Affery. »Die beiden Fenster.«
»Ha! Ich bin von einer hübschen Größe, aber ich könnte doch nicht die Ehre haben, mich in jenem Zimmer vorzustellen, ohne eine Leiter. Nun, Madame, offen gesagt – Offenheit ist ein Zug meines Charakters – soll ich die Tür für Sie öffnen?«
»Ja, allerdings, mein lieber Herr, und tun Sie es nur gleich«, rief Affery, »denn sie ruft mich vielleicht schon in diesem Augenblick oder setzt sich ans Feuer und verbrennt sich zu Tode. Man weiß nicht, was ihr alles geschehen kann, ich komme von Sinnen, wenn ich nur daran denke.«
»Warten Sie, meine gute Madame.« Er dämpfte ihre Ungeduld mit einer sanften weißen Hand. »Geschäftsstunden, fürchte ich, sind für heute vorüber?«
»Ja, ja, ja!« rief Affery. »Schon lange.«
»Lassen Sie mich Ihnen denn einen billigen Vorschlag machen. Billigkeit ist ein Zug meines Charakters. Ich bin soeben mit dem Dampfboot gelandet, wie Sie vielleicht sehen.« Er zeigte ihr, daß sein Mantel sehr naß und seine Stiefel mit Wasser getränkt waren; sie hatte vorher schon bemerkt, daß er zerzaust und blaß, wie von einer beschwerlichen Reise, und so erkältet war, daß ihm unwillkürlich die Zähne klapperten. »Ich bin soeben mit dem Dampfboot gelandet, Madame, und von dem Wetter zurückgehalten worden; das verdammte Wetter! Infolgedessen, Madame, ist ein notwendiges Geschäft, das ich hier sonst in den gewöhnlichen Stunden erledigt hätte (ein notwendiges Geschäft, weil Geldgeschäft), noch abzumachen. Wenn Sie nun eine bevollmächtigte Person, die hier in der Nähe ist, für mein Öffnen der Tür herbeischaffen wollten, um das Geschäft abmachen zu können, so werde ich die Tür öffnen. Wenn Sie jedoch Einwendungen dagegen zu machen haben, so werde ich –« und mit demselben Lächeln machte er eine bezeichnende Bewegung des Weggehens.
Mistreß Affery, herzlich froh über den versprochenen Vertrag, gab bereitwillig ihre Zustimmung. Der Fremde bat sie sofort, ihm die Gefälligkeit zu erweisen, seinen Mantel zu halten, eilte nach dem schmalen Fenster, sprang auf die Fensterbank, kletterte an den Ziegelsteinen hinauf, hatte in einem Augenblick seine Hand an dem Schiebfenster und hob es in die Höhe. Seine Augen hatten einen so unheimlichen Ausdruck, als er seinen Fuß in das Zimmer streckte und sich nach Mistreß Affery umsah, daß es ihr kalt den Rücken hinauflief, und sie dachte, wenn er jetzt geradeswegs zu der Kranken hinaufginge, um sie zu morden, was könnte sie tun, um ihn daran zu hindern?
Glücklicherweise hatte er keine solche Absicht; denn er erschien einen Augenblick später wieder an der Haustür. »Jetzt, meine liebe Madame«, sagte er, als er seinen Mantel wieder nahm und ihn anzog, »wenn Sie die Güte haben wollen – was zum Teufel ist das?«
Das seltsamste Geräusch. Offenbar dicht bei ihnen, nach dem eigentümlichen Stoß, den er der Luft mitteilte und der doch gedämpft war, als käme er aus der Ferne. Ein Zittern, ein Rumpeln und ein Fallen von einer leichten, harten Sache.
»Was zum Teufel ist das?«
»Ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe Ähnliches schon dann und wann gehört«, sagte Affery, die ihn am Arm ergriffen hatte.
Er könne kaum ein sehr mutiger Mann sein, dachte sie in ihrem traumhaften Schreck: denn seine zitternden Lippen hatten sich ganz entfärbt. Nachdem er einige Augenblicke gelauscht, gab er sich das Ansehen, als ob er sich nichts daraus machte.
»Ach was! Nichts! Nun, meine liebe Madame, ich glaube, Sie sprachen von einer gescheiten Person, Wollen Sie so gut sein und mich mit jenem Genie zusammenbringen?« Er hielt die Tür in seiner Hand, als wollte er sie wieder abschließen, für den Fall, daß sie ihr Versprechen nicht erfülle.
»Werden Sie nichts von der Tür und mir sagen?« flüsterte Affery.
»Kein Wort.«
»Und werden Sie sich auch nicht vom Platz rühren oder sprechen, wenn sie ruft, während ich um die Ecke gehe?«
»Madame, ich bin eine Statue.«
Affery hatte eine so lebhafte Furcht, er möchte verstohlenerweise die Treppe hinaufgehen, wenn sie ihm den Rücken kehrte, daß sie, sobald sie ihm aus dem Gesicht war, nach dem Torweg zurückkehrte, um ihn zu beobachten. Als sie ihn jedoch auf der Schwelle stehen sah, mehr außer als in dem Hause, als ob er keine besondere Vorliebe für die Dunkelheit hätte und keinen Wunsch fühlte, ihre Geheimnisse zu ergründen, eilte sie in die nächste Straße und schickte jemanden in das Gasthaus zu Mr. Flintwinch, der sogleich herauskam. Als die beiden miteinander zurückkehrten – die Dame voraus und Mr. Flintwinch ihr auf den Fersen hinterdrein, von der Hoffnung angespornt, sie noch durchschütteln zu können, ehe sie das Haus erreichte –, sahen sie den Herrn noch an demselben Platze in der Dunkelheit stehen und hörten die strenge Stimme von Mrs. Clennam aus ihrem Zimmer herabrufen: »Wer ist da? Was gibt es? Warum antwortet niemand? Wer ist unten?«