33. Kapitel

Wie sich die Dinge in Eden weiter entwickelten. Martin gehen allmählich die Augen auf

Der Übergang von Mr. Moddle nach Eden ist leicht und natürlich. Mr. Moddle weilte, als er in der Atmosphäre von Miss Pecksniffs Liebe dahinlebte, in einem irdischen Paradies – und Eden war gleichfalls ein irdisches Paradies. Wenigstens behauptete das die Karte der Terraingesellschaft. Poetisch genommen, war die schöne Miss Pecksniff zu gut für die Menschheit angesichts ihres geknickten inneren Zustandes, und ein gleiches ließ sich auch hinsichtlich Edens behaupten, der blühenden Stadt, die Zephania Scadder, General Choke und andere Würdenträger und Federchen an den gewaltigen Fängen des amerikanischen Adlers, der stets himmelhoch im reinsten Äther schwebt und sich nie und nimmer mit beschmutzten Flügeln in den Kot herniederläßt, so über alle Maßen zu loben pflegten.

Als Mark Tapley, den Martin in dem »Landvermessungsbureau« in Eden zurückgelassen, sich durch genügende Betrachtung ihres gemeinsamen Mißgeschicks wirksam gestärkt und ermutigt hatte, ging er mit erneuter Heiterkeit daran, sich nach Hilfe umzusehen, und wünschte sich dabei unterwegs zu seiner beneidenswerten Lage, die ihm jetzt endlich zuteil geworden, Glück.

»Ich habe mir bisweilen gedacht«, sagte er sich, »eine verlassene Insel sei so das Richtige für mich, aber da hätte ich nur für mich allein zu sorgen gehabt, und weil ich von Natur aus leicht zufriedengestellt bin, hätte sich nicht viel Ehre dabei einlegen lassen. So muß ich jetzt mit für meinen Associé sorgen, und das ist so recht mein Fahrwasser. Ja, ja. Ich brauche offenbar einen Menschen, der beständig umfällt, wenn er aufrecht stehen sollte. Ich brauche einen Menschen, der in der Schule des Lebens so weit hinter mir zurück ist, daß er immer wieder ein großes ›A‹ in sein Schreibbuch malt, ohne weiterzukommen – einen Menschen, der sein eigener Mantel und Überzieher ist und sich beständig darin einwickelt. Und den habe ich jetzt«, fügte Mr. Tapley nach einer Pause hinzu. »Und das ist ein Riesenglück!«

Er hielt inne, um sich umzusehen, in welches der Blockhäuser er sich begeben sollte.

»Ich weiß wirklich nicht, wohin«, brummte er. »Man muß zugeben, das eine hat eine so gewinnende Außenseite wie das andere. Deshalb sind sie vermutlich auch innen alle gleich, ausgestattet mit allem Komfort, den sich ein Alligator im Naturzustand nur wünschen kann. – Wollen übrigens mal sehen. Der Bürger, der uns gestern abend begegnete, lebt sozusagen unter Wasser in dem Hundestall rechter Hand an der Ecke. Ich will ihn aber nicht belästigen, wenn es nicht unbedingt sein muß, den armen Kerl. Er ist ein gar zu trauriger Bursche. Doch da steht ja ein Haus mit einem Fenster! Ich fürchte, man wird drin sehr stolz sein; ich weiß nicht, ob nicht schon das Vorhandensein einer Türe allzu aristokratisch ist. Na, ich will’s mal mit der ersten versuchen.«

Und er ging nach der ersten Hütte und klopfte mit dem Finger an, Auf den Ruf »Herein!« öffnete er die Türe.

»Nachbar«, begann er, »– ich bin nämlich wirklich ein Nachbar, wenn Sie mich auch nicht kennen –, ich komme Sie um etwas bitten. Hallo! Hallo! Schlaf ich oder wach ich?«

Er hatte nämlich plötzlich seinen Namen nennen hören und sich von zwei kleinen Jungen am Rockschoß gefaßt gefühlt – und zwar von den beiden Kindern, die er an Bord des edlen und schnellsegelnden Paketschiffes jeden Morgen hergenommen, um ihnen die Gesichter zu waschen.

»Meine Augen müssen mich täuschen«, rief er. »Ich kann es nicht glauben! Nein, es kann doch nicht sein, daß das dieselbe Frau dort ist mit dem kleinen Mädchen, das jetzt gar so elend aussieht – und das ist doch ihr Mann, der nach New York kam, um sie zu holen!« Dann blickte er auf die beiden Jungen nieder und fügte hinzu: »Und das sollten die beiden jungen Stricke sein, die mich so gern gehabt haben? Nein, sie können ihnen nur ähnlich sein! Schlafe ich, oder bin ich wach?!«

In ihrer Freude, Mr. Tapley wiederzusehen, vergoß die Frau heiße Tränen, und der Mann drückte ihm beide Hände und wollte ihn gar nicht wieder loslassen. Die beiden Buben umarmten seine Beine, und das kranke Kind in den Armen der Mutter streckte seine fieberglühenden Fingerchen aus und murmelte mit heißer, trockener Kehle Marks unvergeßlichen Namen.

Es war dieselbe Familie – daran ließ sich nicht mehr zweifeln –, verändert zwar durch Edens gesunde Luft, aber trotzdem dieselbe.

»Das nenne ich mir eine Art von Morgenbesuch«, rief Mark tief aufatmend, »der alle andern weit hinter sich läßt. – Wart ein bissel. Ich komme gleich darüber hinweg. – Diese werten Gäste hier gehören nicht zu meinen Freunden. Stehen sie auf der Besuchsliste des Hauses?«

Seine Frage bezog sich auf ein paar dürre Schweine, die mit ihm hereingeschlüpft waren und jetzt den Hausinsassen zwischen den Beinen herumliefen. Da sie nicht zu den Bewohnern des Schlosses gehörten, wurden sie von den beiden kleinen Jungen unverzüglich wieder hinausgejagt.

»Ich teile zwar nicht die allgemeine Abneigung gegen Kröten«, fuhr Mark mit einem Blick auf den Boden fort, »aber wenn ich die zwei oder drei, die ich hier beisammen sehe, bewegen könnte, eine Weile hinauszuspazieren, meine jungen Freunde, so glaube ich, sie würden die freie Luft sehr erfrischend finden. Nicht, daß ich etwas gegen sie einzuwenden hätte – Kröten sind recht schmucke Tiere«, fügte Mr. Tapley hinzu und setzte sich auf einen Schemel. »Sie sind gefleckt um die Kehle herum, haben helle Augen, ein besonnenes Temperament und sind entzückend schlüpfrig, aber ich glaube dennoch, daß sie sich vorteilhafter vor der Türe draußen ausnehmen würden.«

Durch derartige Reden suchte sich Mark den Anschein von Heiterkeit und Sorglosigkeit zu geben, aber insgeheim ließ er seine Augen bekümmert umherschweifen. Das blasse und abgemagerte Aussehen der Familie, die Veränderung, die mit der armen Mutter vorgegangen war, das fieberkranke Kind auf ihrem Schoß, die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die auf allen Gesichtern lag, machten einen tiefen Eindruck auf ihn. Er überblickte dies alles so schnell und klar wie die rohen Gesimse, gestützt von Pflöcken, die zwischen den Balken staken, aus denen das Haus gezimmert war – das Mehlfaß in der Ecke, das als Tisch diente, die Decken, Tücher, die Spaten und andern Hausrat an der Wand, den Moder, der den Boden überzog, die dumpfe Feuchtigkeit überall und den Schwamm und Schimmel, die in jeder Spalte und Ritze der Hütte wucherten.

»Wie sind denn Sie hierhergekommen?« fragte der Mann, als die ersten Ausbrüche des Erstaunens vorüber waren.

»Nun, wir sind vorige Woche mit dem Dampfer angekommen«, erklärte Mark. »Unsere Absicht ist, so geschwind wie möglich unser Glück zu machen und uns ein großes Vermögen zu erwerben. Aber wie geht’s denn Ihnen? Sie sehen ja vortrefflich aus.«

»Wir sind nur noch ein wenig krank«, seufzte die arme Frau und beugte sich über ihr Kind. »Aber es wird schon gehen, wenn wir uns erst an das Klima gewöhnt haben.« Es gibt hier so manchen, dachte Mark, der den ganzen Rest seines Lebens dazu aufbraucht, sich daran zu gewöhnen.

Dann sagte er heiter:

»Freilich – natürlich wird’s besser kommen. Bei uns allen! Wir dürfen nur den Mut nicht verlieren und müssen gute Nachbarn bleiben. Es wird schon noch alles wieder recht werden. Übrigens, so nebenbei: Das erinnert mich, daß mein Associé ziemlich schlimm daran ist. Ich kam hierher, um für ihn um Hilfe zu bitten. Ich wollte, Sie gingen mit mir hinüber und gäben mir einen Rat, Meister.«

Es hätte eine sehr unvernünftige Bitte sein müssen, die Mr. Tapley abgeschlagen worden wäre, da man seiner freundlichen Dienstleistungen an Bord des Schiffes nur zu dankbar gedachte. Sofort erhob sich der Mann, um ihn zu begleiten. Ehe sie gingen, nahm Mark das kranke Kind in seine Arme und versuchte die Mutter zu trösten, aber er erkannte, daß der Tod bereits seine Hand auf das arme kleine Geschöpf gelegt hatte.

Sie fanden Martin in seine Bettdecke eingewickelt und auf dem Boden liegend. Allem Anschein nach war er wirklich sehr krank, denn er schauderte und schüttelte sich fürchterlich, nicht, wie es bei Leuten der Fall ist, die frieren, sondern in heftigen Krämpfen, die seinen ganzen Körper erschütterten. Marks Freund erkannte die Krankheit sofort als eine böse Art von Wechselfieber, die hierzulande sehr häufig sei und sich noch so manchen Tag steigern und steigern werde. Er selbst habe mehrere Jahre daran gelitten und könne Gott nicht genug danken, daß er mit dem Leben davongekommen sei. So manchen seiner Nachbarn habe er daran sterben sehen.

»Na, vom Leben ist dir wahrhaft nicht viel übriggeblieben«, brummte Mark und betrachtete sorgenvoll die ausgemergelte Gestalt des Mannes. »Eden hoch, für immer!«

Sie hatten einige Arzeneien in ihren Koffern mitgebracht, und der Mann konnte dank seiner traurigen Erfahrungen Mark angeben, wie sie angewendet werden müßten und wie man Martins Leiden am besten erleichtern könne. In seiner Aufmerksamkeit begnügte er sich jedoch nicht damit, lief fleißig ab und zu und leistete Mark in allen seinen Versuchen, die Lage seines Associés erträglicher zu machen, nach Kräften Beistand. Trost für die Zukunft konnte er ihm freilich nicht spenden; die Jahreszeit war ungesund und die Ansiedlung, genau genommen, ein großes Grab. Noch in derselben Nacht starb sein Kind, und Mark half es ihm am nächsten Tage unter einem Baum beerdigen.

Bei all seinen mannigfaltigen Krankenwärterpflichten gegenüber Martin – dieser wurde immer anspruchsvoller, je mehr sich sein Übel verschlimmerte – arbeitete Mark Tapley dennoch von früh bis spät, teils innerhalb, teils außerhalb des Hauses, und es gelang ihm mit Beihilfe seines Freundes sowohl als anderer Nachbarn, das erkaufte Landstück ein bißchen wenigstens herzurichten. Nicht, daß er vielleicht auf die Zukunft Hoffnung gesetzt oder in diesem Sinne gearbeitet hätte. Innerlich hielt er die Lage für ganz verzweifelt, aber gerade deswegen glaubte er »Ehre einzulegen«.

»Ich gebe die Hoffnung auf, mich so emporzuarbeiten, wie ich wohl wünschen möchte«, vertraute er Martin in einem freien Augenblick an, das heißt, an einem Abend, als er nach hartem Tagewerk die Wäsche des Hauses wusch. »Ich sehe nur, daß es endlich so gekommen ist, wie ich mir schon lange gewünscht habe.«

»Wollen Sie vielleicht, daß es uns noch schlechter gehe als gegenwärtig?« stöhnte Martin unter seiner Decke hervor.

»Na, sehen Sie doch nur, wie leicht es schlimmer hätte kommen können, Sir«, sagte Mark, »wenn nicht das neidische Schicksal immer hinter mir her wäre, um mir ein Bein zu stellen. In der Nacht, in der wir ankamen, glaubte ich schon, die Sachen ließen sich recht hübsch an, das will ich nicht leugnen.«

»Und wie machen sie sich denn jetzt?« seufzte Martin.

»Ach!« rief Mark. »Gar nicht so, wie Sie vielleicht fürchten. Gehe ich da den ersten Morgen, den ich frei habe, aus, und was geschieht? Ich begegne der Familie, die wir kennen. Von diesem Augenblick an unterstützen uns die Leute fortwährend und auf alle mögliche Weise. Wäre ich über eine Schlange gestolpert und von ihr gebissen worden oder auf sonst einen Patrioten von der stärksten Sorte gestoßen oder hätte ich ein Bowie-Messer in den Leib bekommen oder ein Trupp »Sympathizers« mit umgeklappten Halskragen hätten mich zum »Löwen« ernannt, da hätte ich mich vielleicht noch auszeichnen und gewissermaßen Ehre einlegen können, so aber scheint mir das große Ziel meiner Reise vollständig verfehlt. Es wird mir eben nie so gehen, wie ich möchte, das sehe ich schon. Wie geht es Ihnen übrigens heute abend, Sir?«

»Schlimmer als je«, klagte der arme Martin.

»Das ist immerhin etwas«, meinte Mark, »aber noch immer nicht genug. Ich müßte erst selbst mal recht krank werden und doch fidel dabei bleiben bis zum letzten Augenblick – dann glaube ich, könnte ich sagen: so, jetzt bin ich zufrieden.«

»Um Gottes willen, reden Sie nicht so«, sagte Martin entsetzt. »Was sollte ich denn anfangen, Mark, wenn auch Sie noch krank würden?«

Wenn diese Bemerkung auch nicht besonders schmeichelhaft war, so schien sie doch Mr. Tapleys gute Laune sehr zu erhöhen. Lustig fuhr er fort zu waschen und bemerkte, »sein Barometer steige«.

»Ein Gutes wenigstens hat dieser Ort, Sir, was mich zur Heiterkeit stimmt«, fing er wieder an und rieb drauflos, »nämlich, daß der Ort an und für sich so eine Art kleine Vereinigte Staatenrepublik ist. Es sind noch zwei oder drei amerikanische Ansiedler hier übriggeblieben, und die nehmen immer noch so das Maul voll, als ob Eden der gesündeste und lieblichste Ort der Welt wäre. Sie sind wie der Hahn, der sich versteckt hat, um nicht geschlachtet zu werden, aber das Krähen trotzdem nicht lassen kann. Sie können das Maul nicht halten; sie sind dazu geboren und können nicht anders, was auch daraus folgen möge.«

Noch während er das sagte, blickte er von seiner Arbeit auf und nach der Türe und entdeckte dort einen hagern Kerl in blauem Kittel und Strohhut, eine kurze schwarze Pfeife im Mund und einen über und über mit Knoten bedeckten Hickory-Stock in der Hand. Der Mensch rauchte und kaute gleichzeitig Tabak und spuckte so häufig aus, daß eine ganze Allee von braunen Klecksen den Weg frankierte, den er gekommen war. »Aha, da ist schon einer!« rief Mark. »Hannibal Chollop!«

»Fordern Sie ihn nicht auf, einzutreten«, bat Martin mit matter Stimme.

»Wird nicht nötig sein«, meinte Mark, »der kommt schon von selbst, Sir.«

Und seine Bemerkung erwies sich auch als vollständig richtig. Das Gesicht des Kerls war so eckig und knotig wie sein Stock, und ein gleiches ließ sich auch von seinen Händen sagen. Sein Haarschopf sah aus wie ein alter, schwarzer Scheuerbesen. Ohne den Hut abzunehmen, setzte sich der Mann auf die Kiste, schlug ein Bein über das andere, schielte Mark an und begann mit der Pfeife im Munde:

»Na, Mr. Co, wie bringen Sie’s vorwärts, Sir?«

– Mr. Tapley hatte sich nämlich allen Fremden unter dem Namen »Mr. Co« vorgestellt. –

»So so la la, Sir. Ziemlich leidlich«, versetzte Mark.

»Was? Ist das nicht Mr. Chuzzlewit?« fragte der Yankee. »Wie geht’s Ihnen, Sir?«

Martin schüttelte stumm den Kopf und zog unwillkürlich die Decke über die Ohren. Er fühlte, daß Hannibal im Begriff stand, auszuspucken, und sozusagen auf ihn zielte.

»Sie brauchen auf mich keine Rücksicht zu nehmen, Sir«, bemerkte Mr. Chollop selbstgefällig. »Ich bin gefeit gegen alle Arten von Fieber. Fürchte keine Ansteckung.«

»Mein Beweggrund war egoistischer Natur«, sagte Martin, unter seiner Decke hervorblickend, »ich fürchte, Sie könnten –«

»Seien Sie unbesorgt, Sir«, beruhigte ihn Mr. Chollop. »Ich spucke auf einen Zoll genau.«

Und sofort lieferte er einen Beweis dieser höchst erfreulichen Fertigkeit.

»Ich brauche höchstens«, fuhr Hannibal fort, »zwei Fuß freien Platz im Umkreis und kann mich verpflichten, nie darüber hinauszugehen. Ich habe schon einmal zehn Fuß weit gespuckt, aber damals galt es eine Wette.«

»Hoffentlich haben Sie die gewonnen, Sir?« fragte Mark.

»Gewiß, Sir, selbstverständlich habe ich die Wette gewonnen«, rief Mr. Chollop. Dann schwieg er eine Weile, eifrig bemüht, um die Kiste, auf der er saß, einen magischen Kreis zu spucken. Als ihm dies gelungen, begann er wieder:

»Wie gefällt Ihnen unser Land, Sir?« Dabei blickte er Martin lauernd an.

»Durchaus nicht«, lautete die Antwort.

Ohne im mindesten die Miene zu verziehen, fuhr Mr. Chollop fort zu rauchen, bis ihn endlich wieder die Lust anwandelte zu reden. Dann nahm er die Pfeife aus dem Munde und sagte:

»Wundert mich nicht, etwas Derartiges von Ihnen zu hören; es bedarf einer gewissen geistigen Erhebung, sozusagen einer Zustutzung des Verstandes, in Amerika zu leben. Der menschliche Geist ist nicht sofort für die Freiheit vorbereitet, Mr. Co.«

Er wandte sich an Mark, da er sah, daß Martin die Augen geschlossen hatte und sich unruhig auf seiner Lagerstätte hin und her wälzte. In seiner Qual wünschte der arme Kranke den Besuch zu allen Teufeln, und da er sowieso schon halb wahnsinnig war von fieberhafter Aufregung, fiel ihm die dröhnende Stimme dieses neuen Schreckbildes geradezu unerträglich auf die Nerven.

»Eine kleine körperliche Erhebung könnte auch nicht schaden, glauben Sie nicht, Sir?« meinte Mark. »Wo man mit einem so feinen alten Sumpf wie diesem hier zu tun hat.«

»Sie nennen das einen Sumpf, Sir?« rief Chollop würdevoll.

»Natürlich, was denn sonst?« entgegnete Mark. »Ich für meinen Teil bin hinsichtlich dieses Punktes über jeden Zweifel hinaus.«

»Diese Ansicht klingt wieder mal echt europäisch!« sagte »Major« Chollop, »und überrascht mich auch weiter nicht. Was würde England drüben wohl sagen, wenn’s son Sumpf aufzuweisen hätte, Sir?«

»Ich schätze, es würde sagen, es sei ein scheußlicher Sumpf«, versetzte Mark, »und daß es sich das Fieber lieber auf irgend eine andere Art einimpfen lassen wollte.«

»Europäisch!« höhnte Mr. Chollop mit sardonisch mitleidigem Lächeln. »Echt europäisch.«

Und dann saß er wieder da – stumm und ungeniert, als sei er zu Hause, dabei fortwährend rauchend wie ein Schlot.

Hannibal Chollop gehörte selbstverständlich ebenfalls zu den »hervorragendsten Köpfen« des Landes. Aber außerdem war er noch eine wirklich berühmte Person. Seine Freunde im Süden und Westen pflegten ihn für gewöhnlich ein »Prachtexemplar aus echtem Schrot und Korn« zu nennen, und überdies stand er in hoher Achtung wegen seiner Begeisterung für die Freiheit, zu deren besserer Betätigung er stets ein paar Revolver in der Rocktasche trug. Außer andern ähnlichen Spielereien führte er noch einen Stockdegen, den er gewöhnlich den »Nasenstäuber« nannte, und ein großes Messer bei sich, dem er die Bezeichnung »Magenputzer« als Anspielung auf die vielen nützlichen Dienste, die es ihm bei verschiedenen kleinen Streitigkeiten zu leisten pflegte, gegeben hatte. Alle diese Waffen hatte er bei mehreren Gelegenheiten, die gebührend in den Zeitungen hervorgehoben worden waren, mit ausnehmend gutem Erfolge gebraucht, und er selbst stand in hohem Ansehen wegen seiner Ritterlichkeit, um so mehr, als er einmal einem andern Gentleman das Auge »herausgeputzt«, als dieser ein wenig zudringlich an seine Haustüre geklopft hatte.

Mr. Chollop erfreute sich eines ausgesprochenen Hanges zum Nomadenleben, und in einem weniger fortgeschrittenen Staate wäre er vielleicht verkannt und als gefährlicher Vagabund eingesperrt worden. In einem Weltteil jedoch, wo er so viele geistesverwandte Genossen hatte, wurden seine hervorragenden Eigenschaften natürlich geschätzt und gewürdigt. Er war eben unter einem glücklichen Stern geboren, was man nicht von allen Menschen sagen kann, die ihrer Zeit vorauseilen. Er liebte es, schon wegen seines Hanges zum »Nasenstübern« und zum »Magenputzen«, sich an den äußersten Grenzen der gesellschaftlichen Welt, nämlich in den Städten und Marktflecken des Innern herumzutreiben. Von einem Ort zum andern wandernd, fing er überall ein Geschäft an – gewöhnlich eine Zeitung –, das er dann sogleich wieder verkaufte; und gewöhnlich schloß er den Handel damit, daß er den neuen Herausgeber, ehe dieser noch sein Eigentum angetreten, provozierte, erstach, erschoß oder ihm mit dem Daumen ein Auge herausquetschte.

Zu ähnlichen Spekulationen war er auch nach Eden gekommen, hatte sie jedoch bald aufgegeben und stand jetzt im Begriff, die »Stadt« zu verlassen. Jedem neuen Bekannten stellte er sich als einen geradezu fanatischen Anhänger der »Freiheit« vor. Konsequent vertrat er die Sache der Sklaverei und des Lynchgesetzes und empfahl in Wort und Schrift, unwandelbar jeden unpopulären Menschen, dessen Ansichten von den seinigen abweichen sollten, zu »federn« oder zu »teeren«. Das nannte er das »Banner der Zivilisation in den wilderen Gärten des Vaterlandes aufpflanzen«.

Zweifellos hätte Mr. Chollop dieses Banner auch in Eden auf Marks Unkosten aufgepflanzt – zum Dank für dessen Freimut, aber die Ansiedlung war gar zu öde und verfallen, und überdies wollte er selbst bald abreisen. Er begnügte sich daher, Mark einen seiner Revolver zu zeigen und zu fragen, was er von einer solchen Waffe halte.

»Es ist noch nicht lange her, daß ich einen Kerl in Illinois damit niederknallte«, bemerkte er kühl.

»So«, sagte Mark ebenso kühl, »sehr liberal gedacht von Ihnen und sehr unverfroren.«

»Ich knallte ihn nieder, Sir«, fuhr Mr. Chollop fort, »da er im ›Spartanischen Porticus‹, einem bekannten Wochenblatt, behauptete, die alten Athener seien über das jetzige Locofoco-Programm hinausgegangen.«

»Und was ist denn da weiter dabei?« fragte Mark.

»Echt europäisch, das wieder einmal nicht zu wissen«, brummte Mr. Chollop und rauchte wütend weiter. »Echt europäisch.«

Nachdem er eine Weile wieder an seinem magischen Kreis gearbeitet, fing er von neuem an:

»Sie fühlen sich in Eden also nicht besonders zu Hause, was?«

»Nein«, lachte Mark, »könnte ich nicht sagen.«

»Sie vermissen vermutlich die Belastungen Ihres Landes – die Häusersteuern?«

»Nein, vor allem die Häuser«, meinte Mark.

»Fenstersteuern gibt’s hier auch nicht«, fuhr Mr. Chollop fort.

»Aber auch keine Fenster, die man besteuern könnte«, meinte Mark.

»Und keine Scheiterhaufen, keine Kerker, keine Prügelprofose, keine Schafotte, keine Daumenschrauben und keinen Pranger«, knurrte Mr. Chollop.

»Dagegen Revolver und Bowie-Messer«, erwiderte Mark. »Aber was will das weiter sagen! Bagatelle!«

In diesem Augenblick kam der Nachbar, der ihnen am Abend ihrer Ankunft begegnet war, zur Türe gewankt und warf einen Blick herein.

»Nun, Sir«, redete ihn Mr. Chollop an, »und wie kommen Sie voran?«

Offenbar sehr mäßig – – der Mann gab es mit einem Brummen zu verstehen.

»Mr. Co und ich«, erklärte Mr. Chollop, »disputieren gerade ein wenig miteinander; man sollte ihn mal ’n bißchen zahm machen, da er es wagt, zwischen der alten Welt und der neuen gewisse Vergleiche anzustellen, meinen Sie nicht auch?«

»Nun ja«, gab der armselige Schatten zu, »vielleicht.«

»Ich habe nur behauptet, Sir«, wandte sich Mark an den neuen Gast, »daß ich die Stadt, in der zu leben wir die Ehre haben, für – sumpfig halte. Was ist Ihre Ansicht?«

»Ich schätze wohl, daß sie zu gewissen Zeiten ziemlich feucht ist«, gab der Mann zögernd zu.

»Aber nicht so dumpfig wie England«, rief Mr. Chollop mit grimmiger Miene.

»Oh, so dumpfig wie England natürlich nicht. Das liegt schon in den verschiedenartigen Institutionen der Länder«, rief der Mann.

»Ich will nicht hoffen, daß es in ganz Amerika einen Sumpf gibt, der nicht diese ganze, jämmerliche Insel von Dreck und Sirup drüben aufwöge«, bemerkte Chollop mit Entschiedenheit. »Sie haben doch aus freiem Antrieb und direkt von Scadder gekauft, Sir, nicht?« wandte er sich wieder an Mark.

Mr. Tapley bejahte.

Mr. Chollop blinzelte dem andern »Bürger« zu. »Scadder ist ein famoser Bursche; einer, der’s noch weit bringen wird; einer, der in die Höhe kommen wird und immer auf die richtige Seite fällt, nie auf die beschmierte. Was?« Und abermals blinzelte er dem andern »Bürger« zu.

»Wenn’s nach mir ginge, käme er so hoch, daß er mit dem Kopf am Galgen hinge«, sagte Mark.

Mr. Chollop war so entzückt über die Gerissenheit seines vortrefflichen Landsmannes, der die beiden Engländer so gut hineingelegt, daß er sich nicht länger zurückhalten konnte und in ein wieherndes Gelächter ausbrach.

Am seltsamsten aber war, daß jetzt die amerikanische Vaterlandsliebe auch bei dem andern hervorbrach – bei dem kranken, elenden Schatten von einem Menschen. Er schien über Scadders Spitzbüberei so begeistert zu sein, daß er sein eigenes Unglück ganz vergaß und laut hinausjohlte. Mr. Scadder sei ein pfiffiger Bursche, sagte er, und habe schon eine ganze Menge englisches Geld auf diese Weise an sich gebracht. Das sei so sicher wie daß die Sonne aufgehe.

Mr. Hannibal Chollop ergötzte sich weidlich an dem Spaß, blieb aber sitzen, rauchte unentwegt drauflos und umspuckte den magischen Kreis, ohne ein Wort an die andern zu richten oder Miene zum Aufbruch zu machen. Offenbar litt er unter der üblichen amerikanischen Einbildung, es sei die größte Aufmerksamkeit, die ein treuer und erlauchter Bürger der Vereinigten Staaten jemandem erweisen könne, wenn er ein fremdes Haus auf zwei oder drei Stunden in einen Spucknapf verwandelte. Endlich erhob er sich aber doch.

»Ich werde mich jetzt sachte auf die Socken machen«, brummte er.

Mark ersuchte ihn, sich nur ja zu schonen und sich in acht zu nehmen, daß er sich draußen kein Bein bräche.

»Bevor ich gehe«, unterbrach ihn Mr. Hannibal streng, »möchte ich Ihnen noch ein Wörtchen sagen. Sie sind verdammt scharf, das muß man Ihnen lassen.«

Mark bedankte sich für das Kompliment.

»Aber ein bißchen gar zu scharf, als daß man Ihnen das Handwerk nicht einmal legen würde. Sie werden noch mal so viel Revolverkugeln in den Leib kriegen, daß Sie aussehen wie ein Sieb, darauf möchte ich wetten.«

»Weshalb?« fragte Mark. »Wir lassen nicht mit uns spaßen, Sir«, rief Chollop in drohendem Tone, »wir leben hier nicht in einem despotischen Land. Wir sind ein Vorbild für die Welt, und mit uns darf man sich keine Witze erlauben, merken Sie sich das!«

»Was! Rede ich etwas zu frei?« fragte Mark spöttisch.

»Ich habe schon wegen einer geringern Sache einen niedergeknallt«, brummte Mr. Chollop mit finsterm Blick. »Und habe stärkere Männer gekannt, die sich wegen größerer Kleinigkeiten haben dünne machen müssen. Wegen viel geringerer Kleinigkeiten habe ich Leute gelyncht werden sehen und in tausend Fetzen gehauen werden von unsern Bürgern. Wir repräsentieren die Intelligenz der Menschheit und sind das Salz der Erde und die Blüte der sittlichen Kraft. Wollt ihr dahinten in England vielleicht aufmucken? Wir haben verdammt scharfe Zähne, das kann ich Ihnen sagen. Also nehmen Sie sich in acht, Sir.«

Mit dieser Warnung schied Mr. Chollop samt Messer, Revolver und Stockdegen, zu Hieb, Stich und Schuß bereit bei dem leisesten Widerspruch.

»Kommen Sie nur unter der Decke hervor jetzt, Sir«, sagte Mark, »er ist fort. – Was ist das?« fügte er halblaut hinzu, kniete nieder, um seinem Associé ins Gesicht zu sehen, und ergriff dessen fiebernde Hand, »das kommt von dem albernen Geschwätz, jetzt phantasiert er und kennt mich nicht.«

Martin war in der Tat gefährlich krank – ja sogar dem Tode nahe. – In diesem Zustand blieb er viele Tage lang, während welcher Zeit Mark ihn ohne Rücksicht auf sich selbst pflegte. Abgemattet an Leib und Seele, den ganzen Tag angestrengt arbeitend, die ganze Nacht über wachend, erschöpft von den ungewohnten Strapazen, umgeben von grauenvollen Bildern und entmutigenden Szenen, klagte Mark dennoch nicht mit einer Silbe. Wenn er je Martin für selbstsüchtig gehalten hatte, für unüberlegt, bloß anfallsweise energisch und dann wieder zu indolent in ihrer verzweifelten Lage, so vergaß er das jetzt alles, dachte nur an die bessern Eigenschaften seines Schicksalsgefährten und blieb ihm mit Leib und Seele ergeben.

Viele Wochen vergingen, ehe Martin wieder kräftig genug war, von Marks Arm und einem Stock unterstützt umherzuwanken, und dann ging es mit seiner Genesung mangels gesunder Luft und guter Nahrung sehr langsam vonstatten. Er befand sich noch in sehr geschwächtem Zustand, als das Unglück eintrat, das er so sehr befürchtet. Mark erkrankte gleichfalls.

Wohl kämpfte der tapfere Bursche lange dagegen an, aber die Krankheit war stärker als er. Alle seine Bemühungen waren umsonst.

»Für den Augenblick auf den Boden geschmissen, Sir«, sagte er eines Morgens und sank auf sein Bett zurück, »aber nur immer fidel!«

Ja, allerdings niedergestreckt, und zwar durch ein schweres Fieber.

Wenn Marks Freunde sich schon gegen Martin liebevoll gezeigt, um so teilnahmsvoller benahmen sie sich jetzt gegen Mark. Und nun kam die Reihe an Martin, zu arbeiten, an dem Krankenlager zu wachen und während der langen Nächte auf jeden Laut in der düstern Wildnis draußen zu lauschen. Der arme Mr. Tapley lag delirierend da, schob im Geiste im »Drachen« Kegel, machte Mrs. Lupin Liebeserklärungen, wähnte an Bord der »Schraube« zu sein, wanderte mit dem alten Tom Pinch auf englischen Landstraßen dahin und verbrannte in Eden Baumstümpfe.

Aber sooft ihm Martin Medizin einflößte oder ihn auf sonstige Weise pflegte oder von irgendeiner Arbeit nach Hause kam, heiterten sich seine Mienen auf, und er rief: »Fidel, Sir, nur immer fidel!«

Und als nun Martin darüber nachzudenken begann und Mark betrachtete, wie er dalag, ohne ihm auch nur mit der leisesten Klage oder einem Seufzer Vorwürfe zu machen, und fortwährend bemüht, männlich und standhaft zu erscheinen, fragte er sich, warum dieser Mensch, den Erziehung und äußere Umstände so wenig begünstigt hatten, soviel besser sei als er selbst, dem bisher alle Hindernisse aus dem Wege geräumt worden waren. An einem Krankenbett zu sitzen, besonders am Krankenbett eines Menschen, den man voller Lebenskraft und Energie zu sehen gewohnt ist, das weckt das Nachdenken wie nicht so bald etwas anderes auf der Welt. Deshalb fing auch Martin an, sich zu fragen, worin sie beide denn so verschieden seien.

Sich diese Frage zu beantworten, wurde ihm sehr erleichtert durch die öftern Besuche von Marks guter Freundin, ihrer Reisegefährtin auf der »Schraube«. Erinnerte es ihn doch daran, wie sehr verschieden die Art, in der er und andererseits Mark sich benommen, gewesen war. Auch Tom Pinch fiel ihm ein. Mit Recht nahm er an, daß Tom unter ähnlichen Umständen sich wohl genau so wie Mark benommen haben würde, und er fragte sich, wie zwei so sehr voneinander verschiedene Menschen dennoch in gewissen Dingen einander ähnlich und ihm so unähnlich sein konnten. Auf den ersten Blick hatten diese Betrachtungen nichts Betrübendes, aber dennoch wirkten sie niederdrückend auf ihn.

Martin war von Natur offen und hochherzig, allein er war bei seinem Großvater aufgewachsen und wie gewöhnlich in solchen Fällen verpflanzte sich der Fehler des einen gerade auf den, der am meisten darunter litt. Von der Selbstsucht gilt dies ganz besonders, ebenso von Mißtrauen, Hinterhältigkeit und Habgier. Martin hatte als Kind unbewußt geschlossen: mein Erzieher denkt soviel an sich, daß ich, wenn ich’s nicht ebenso mache, bald ganz unterdrückt sein werde, und so wurde er denn schließlich selber selbstsüchtig.

Aber er war sich dessen nie bewußt geworden. Hätte ihm jemand seinen Egoismus vorgeworfen, so würde er diese Beschuldigung unwillig zurückgewiesen und den Betreffenden für einen Verleumder gehalten haben. Er hätte es nie einzusehen gelernt. Aber erst vor kurzem fast vom Tode auferstanden, um jetzt jemanden zu bewachen, der selber dem Grabe nahe war, fühlte er, wie wenig daran gefehlt hatte, um ihn selbst unter die Erde zu bringen, und was für ein armes elendes Ding der Mensch ist.

Es war natürlich, daß er – er hatte monatelang Muße dazu – über seine eigene Genesung und Marks jetzige Gefahr nachdachte. Dies brachte ihn auf den Gedanken, wer von ihnen beiden denn eher entbehrlich sei und aus welchem Grunde. Da lüftete sich der geistige Vorhang ein wenig, und das wahre Ich begann sich zu zeigen.

Außerdem fragte er sich, als er Mr. Tapleys Tod stündlich erwartete, ob er denn auch seine Pflicht gegen ihn getan und Marks Eifer und Treue verdient und gehörig vergolten habe. Nein. So kurz ihr Zusammensein gewesen, so erinnerte er sich doch so manchen Falles, in dem er sich durchaus nicht untadelig benommen, und als er sich weiter fragte, warum nicht, erhob sich der Vorhang noch ein wenig mehr, und das wahre Ich brach in vollem Glanze hervor.

Es währte ziemlich lange, ehe er sein Inneres so ganz kennengelernt hatte und die volle Wahrheit einzusehen begann. Aber in der furchtbaren Einsamkeit dieses entsetzlichsten aller Orte, wo alle Hoffnung so ferngerückt, aller Ehrgeiz erstickt war und der Tod an der Tür lauerte, da kam das Nachdenken über ihn, und er fühlte und erkannte die Fehler seines Lebens und sah deutlich, welch häßlicher Fleck darauf lag.

Eden war eine harte Schule, um eine so harte Lektion zu lernen, aber die Lehrer, nämlich der Sumpf, der Busch und die verpestete Luft hatten ihre besondere rauhe Methode.

Feierlich nahm Martin sich vor, wenn seine Kräfte je wiederkehren sollten, an der gewonnenen Erkenntnis festzuhalten und die Selbstsucht in seiner Brust unter allen Umständen auszurotten. Er hegte, und mit Recht, so viel Mißtrauen gegen sich, daß er sogar beschloß, nicht ein Wort eitler Reue oder guter Vorsätze zu Mark zu sagen, sondern fest und im stillen an der Ausführung seines Entschlusses zu arbeiten. Und dennoch lag nicht ein Gran von Stolz darin; – nichts als wahre Demut und Beharrlichkeit, das beste Rüstzeug, das er tragen konnte. So weit ihn Eden körperlich heruntergebracht, so hoch hatte es ihn innerlich erhoben.

Nach langwieriger Krankheit, in deren schlimmsten Stadien Mark oft nicht ein Wort sprechen konnte und nur mit zitternder Hand imstande war, sein »fidel« auf eine Schiefertafel zu schreiben, stellten sich endlich Symptome wiederkehrender Gesundung ein. Sie kamen und gingen. Das Leben flackerte einige Zeit hin und her, aber zuletzt begann der Kranke, sich entschieden besser zu fühlen und mit jedem Tag kräftiger zu werden. Als er sich wohl genug fühlte, um ohne sofortige Erschöpfung sprechen zu können, beriet sich Mark mit ihm über einen Plan, den er noch vor einigen Monaten sofort in Vollzug gesetzt haben würde, ohne einen andern Kopf als den eigenen damit zu behelligen.

»Unser Fall ist verzweifelt«, begann er, »das unterliegt keiner Frage. Der Ort ist eine Einöde, die Zustände hier werden inzwischen genügend bekannt geworden sein, und wir dürfen daher nicht hoffen, das verkaufen zu können, was man uns so niederträchtigerweise aufgeschwatzt hat, selbst wenn wir es mit unserm Gewissen zu vereinigen vermöchten. Wir haben unsere Heimat einem tollen Unternehmen zuliebe verlassen und unser Ziel verfehlt. Es bleibt uns daher nur noch eine einzige Hoffnung, auf die wir lossteuern müssen, und sie besteht darin, diese Ansiedlung zu verlassen und nach England zurückzukehren. Gleichviel, durch welche Mittel wir es zustande bringen, aber zurück müssen wir, Mark!«

»Ja, das ist’s, Sir«, rief Mr. Tapley voller Nachdruck, »um das handelt sich’s, um weiter nichts.«

»Nun haben wir –« fuhr Martin fort – »auf dieser Seite des Ozeans nur einen einzigen Freund, der uns helfen könnte, und das ist Mr. Bevan.«

»Habe auch schon an ihn gedacht, als Sie damals krank lagen«, sagte Mark.

»Wenn England nicht so furchtbar weit wäre, so würde ich an meinen Großvater schreiben«, sagte Martin, »und ihn um Geld anflehen, um uns aus dieser Wolfsfalle zu befreien, in die wir so tückischerweise gelockt worden sind. Soll ich es erst mit Mr. Bevan versuchen, was meinen Sie?«

»Ich dächte, ja«, riet Mark. »Er war ein sehr freundlicher Herr.«

»Die wenige Habe, in die wir unser Geld gesteckt haben«, nahm Martin seine Rede wieder auf, »würde, wenn wir sie verkauften, immerhin etwas einbringen, und was sich daraus erzielen läßt, soll ihm augenblicklich zurückgezahlt werden. Aber hier können wir nichts an den Mann bringen.«

»Nein, hier gibt’s nur Tote«, stimmte Mr. Tapley bei und schüttelte traurig den Kopf, »und Schweine. Und die kaufen beide nichts.«

»Soll ich ihm das schreiben und ihn um soviel Geld bitten, daß wir auf die billigste Weise New York oder irgendeinen andern Hafen zu erreichen imstande sind, wo wir hoffen können, durch Dienst an Bord freie Überfahrt nach Hause zu bekommen? Soll ich ihm nicht zugleich auch meine Verhältnisse schildern und sagen, daß ich ihn sofort nach unserer Ankunft in England, und müßte ich mich auch an meinen Großvater wenden, bezahlen will?«

»Freilich«, rief Mark, »höchstens sagt er ›nein‹. Aber es wäre sehr wünschenswert, daß er ›ja‹ sagte. Wenn Sie sich also nicht genieren, es mit ihm zu versuchen, Sir –«

»Genieren?!« rief Martin. »Es ist doch meine Schuld, daß wir hierher verschlagen wurden, und ich muß wahrhaftig alles tun, damit wir wieder fortkommen. Voller Schmerz denke ich an die Vergangenheit zurück. Hätte ich auf Ihren Ratschlag gehört, Mark, so würden wir jetzt nicht hier sein.«

Mr. Tapley war höchlichst erstaunt über dieses freimütige Eingeständnis, beteuerte aber mit großem Eifer, daß dies kein Haar an der Sache geändert hätte, denn er allein habe sofort beschlossen, nach Eden zu gehen, kaum daß der Name zum erstenmal gefallen war.

Sodann las ihm Martin ein Schreiben an Mr. Bevan vor, das er bereits aufgesetzt hatte. Es war offenherzig und freimütig gehalten und schilderte ihre Lage und alles andere ohne die mindeste Beschönigung. Er erzählte darin Mr. Bevan, was sie für Ungemach ausgestanden, und trug ihm seine Bitte in bescheidenen, aber dennoch dringlichen Ausdrücken vor. Mark billigte begeistert den Inhalt, und so beschlossen sie, den Brief mit dem nächsten Dampfboot, das in Eden Holz einnehmen würde – denn daran war wirklich kein Mangel –, abzuschicken. Da Martin Mr. Bevans Wohnort nicht kannte, so adressierte er ihn an Mr. Norris in New York und schrieb auf das Kuvert die Bitte: »nachsenden«. Es dauerte länger als eine Woche, ehe ein Dampfboot erschien, aber endlich wurden sie eines Morgens durch das Geschnaufe des »Esau Slodge« geweckt – ein Name, den das Schiff einem der »bedeutendsten Köpfe« des Landes verdankte. Sie eilten zum Landungsplatz und warfen den Brief in den Schiffspostbeutel. Neugierig, die Abfahrt des »Esau Slodge« zu sehen, blieben sie auf der Laufplanke stehen und brachten dadurch eine solche »Verkehrsstockung« hervor, daß der Kapitän ihnen wünschte, zu feinem Mehl gesiebt und zu kleinen Spänen verschnitzelt zu werden, wenn sie nicht wie der Blitz verschwänden. Er wolle sie mit Eimern hinunterspülen, schimpfte er, wenn sie sich nicht sofort zum Teufel scherten.

Vor acht oder zehn Wochen frühestens durften sie unter keinen Umständen auf eine Antwort hoffen. Mit der letzten Kraft, die ihnen noch geblieben, widmeten sie sich in der Zwischenzeit einem Versuch, das Grundstück zu beackern und ein Stück davon urbar zu machen und zu gemeinnützigen Zwecken vorzubereiten. So ungeheuer mangelhaft ihre Bewirtschaftung auch war, so war sie immer noch weit besser als die ihrer Nachbarn. Mark besaß einige praktische Kenntnisse darin, und Martin lernte von ihm, während die andern Einsiedler untätig auf ihrem faulen Sumpf sitzen blieben und sämtlich hierher gekommen zu sein schienen in der Meinung, daß das Landbebauen eine allen Menschen angeborene Fähigkeit sei. Sie halfen einander zwar nach ihrer Weise und wo sie konnten, vollbrachten ihre Arbeit aber so hoffnungslos wie deportierte Verbrecher.

Oft sprachen Mark und Martin, wenn sie abends allein beisammen saßen, von der Heimat, von trauten Plätzen zu Hause und von Leuten, die sie gemeinsam kannten, bisweilen voller Hoffnung, sie wiederzusehen, dann wieder verzagt, als ob bereits alles vorüber sei. Bei solchen Anlässen war Mr. Tapley immer sehr erstaunt, Martin so gänzlich verändert zu sehen.

Ich weiß nicht, was ich daraus machen soll, dachte er eines Nachts; er ist so ganz anders, als ich ihn mir anfangs vorgestellt habe. Er denkt nicht halb soviel an sich selbst, als ich annahm. Ich muß ihn mir einmal genauer ansehen. – »Hallo! Schlafen Sie, Sir?«

»Nein, Mark.«

»Sie denken wohl an zu Hause, Sir?«

»Jawohl, Mark.« »Ich auch, Sir. Ich denke gerade, was Mr. Pinch und Mr. Pecksniff jetzt wohl machen mögen.«

»Der arme Tom«, seufzte Martin gedankenvoll.

»Er ist ein schwacher Mensch«, warf Mr. Tapley hin. »Er spielt die Orgel umsonst, Sir. Denkt niemals an sich.«

»Ich wünschte auch, er dächte ein bißchen mehr an sich«, gab Martin zu; »wenn ich auch nicht sagen kann, warum ich das wünschte. Wir würden ihn dann vielleicht nicht halb so gern haben.«

»Er läßt sich von andern ausnutzen, Sir«, warf Mark wieder einen Brocken hin.

»Ja, allerdings«, sagte Martin nach einer kleinen Pause. »Ich weiß es ganz gut, Mark.«

Es klang soviel Ruhe durch seine Worte durch, daß sein Kompagnon das Thema fallenließ und eine Weile lang schwieg, bis ihm wieder etwas einfiel.

»Ach, Sir«, murmelte er und seufzte. »Sie haben der jungen Dame wegen viel aufs Spiel gesetzt.«

»Nun, ich will Ihnen was sagen – davon bin ich doch nicht so ganz überzeugt, Mark«, rief Martin, und zwar so energisch und hastig, daß er sich eigens dazu in seinem Bette aufsetzte. – »Die Sache ist durchaus nicht so klar. Sie können sich darauf verlassen, daß Mary sehr unglücklich ist. Sie hat mir den Frieden ihrer Seele aufgeopfert und auch ihre Interessen sehr gefährdet. Dabei ist sie nicht mal in der Lage, von denen fortlaufen zu können, die sie so eifersüchtig bewachen und ihr alle möglichen Hindernisse in den Weg legen. Sie hat wahrhaftig viel zu leiden, die Ärmste, und dabei sind ihr noch dazu die Hände gebunden. Bei mir war es ein anderer Fall. Ich fange überhaupt an zu glauben, daß sie mehr zu dulden hat, als es je bei mir der Fall war. Wirklich, meiner Seel, ich zweifle keinen Moment daran.«

Mr. Tapley machte im Finstern große Augen, ohne jedoch den Sprecher zu unterbrechen.

»Da wir gerade bei diesem Thema halten«, fuhr Martin fort, »so will ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Jener Ring –«

»Welcher Ring, Sir?« fragte Mark und riß die Augen noch weiter auf. »Der Ring, den sie mir zum Abschied gab. – Sie hat ihn gekauft; – sie wußte ganz gut, daß ich trotz meiner Armut stolz war (Gott behüte mich – stolz!) und vielleicht einmal Geld brauchen könnte.«

»Wer hat Ihnen denn das gesagt, Sir?« fragte Mark.

»Ich sage es. Ich weiß es. Ich habe wohl hundertmal daran gedacht, lieber Freund, und ich nahm das Geschenk von ihrer Hand wie ein Vieh und ließ mir in dem Augenblick, als ich mich von ihr trennte, nicht im Traume einfallen, wie sich die Sache verhielt, während doch schon damals eine schwache Ahnung der Wahrheit in mir hätte aufdämmern sollen. Aber es ist schon spät«, setzte Martin innehaltend hinzu, »und ich weiß, daß Sie schwach und müde sind. Sie reden ja nur, um mich aufzuheitern. Gute Nacht! Gott behüte Sie, Mark.«

Gott behüte mich – da war ich gut auf dem Holzweg, dachte Mr. Tapley und drehte sich mit glücklichem Gesichte zur Wand. Ist das ein Leim! In einen derartigen Dienst wäre ich mein Lebtag nicht getreten. Da ist wenig Ehre einzulegen, wenn man lustig ist.

Die Zeit entschwand, und andere Dampfboote erschienen aus der Richtung, in der die beiden alle ihre Hoffnungen konzentrierten, aber immer noch traf keine Antwort auf ihren Brief ein. Regen, Hitze und die schädlichen Bodenausdünstungen mit allen ihren Übeln bekamen langsam Oberhand über sie. Die Erde, die Luft, die Pflanzenwelt und das Wasser, das sie tranken – alles war gesättigt mit tödlichen Keimen. Ihre gemeinsame Reisegefährtin hatte schon vorher zwei ihrer Kinder verloren und begrub jetzt ihr letztes. Doch derartige Sachen sind viel zu gewöhnlich und in der weiten Welt zu bekannt, um überhaupt noch Teilnahme zu erregen. Die großen Bürger werden reich, und freundlose Opfer siechen dahin, sterben und werden vergessen. Das ist alles.

Endlich kam ein Boot schnaubend den scheußlichen Fluß herauf und machte bei Eden halt. Mark erwartete seine Ankunft bei der Holzhütte und erhielt an Bord einen Brief, den er sogleich an Martin trug. Zitternd sahen sie einander an.

»Er fühlt sich schwer an«, stammelte Martin. Und als er ihn öffnete, fiel ein kleines Paket mit Dollarnoten auf den Boden.

Was sie anfangs sagten, taten oder fühlten, konnte keiner von ihnen später recht angeben. Alles, was Mark jemals zu berichten vermochte, lief darauf hinaus, er sei atemlos an das Ufer zurückgeeilt und habe dem Kapitän, noch ehe das Zeichen zur Abfahrt gegeben, die Frage gestellt, wann das Boot wieder zurückkehren und hier anhalten werde.

»In zehn oder zwölf Tagen«, lautete die Antwort.

Dessenungeachtet begannen sie aber schon am selben Abend ihre ganze Habe zusammenzupacken. Als dieses Stadium der Aufregung vorüber war, glaubte jeder von ihnen, zuverlässig sterben zu müssen, ehe der Dampfer wieder zurückkehren werde. Doch lebten sie immer noch, als endlich nach Verlauf von drei entsetzlich langen Wochen das Schiff Eden anlief.

Bei Sonnenaufgang an einem Herbsttag standen sie auf dem Verdeck.

»Nur Mut, wir werden uns wiedersehen!« rief Martin und winkte den zwei abgezehrten Gestalten am Ufer zu. »In der alten Welt.«

»Oder in der nächsten«, murmelte Mark vor sich hin. »Sie so Seite an Seite stehen zu sehen, ist beinahe das Schlimmste von allem.«

Dann setzte sich das Schiff in Bewegung. Mark und Martin sahen einander an und blickten dann zurück nach dem Landungssteg, der immer weiter und weiter im Hintergrund verschwand.

Das Blockhaus mit der offenen Türe und den sich darüber neigenden Bäumen – der trübe Morgendunst und die Sonne jenseits mit ihrem düsterroten Licht – die Dünste, die von Wasser und Land aufstiegen – der rasche Strom, der die ekelhaften Ufer zerwusch und dadurch nur noch flacher und langweiliger machte, wie oft kehrte nicht alles das in ihren Träumen wieder –, und jedesmal atmeten sie wie befreit auf, wenn sie erwachten und erkannten, daß es nur das Schattenspiel der Erinnerung gewesen.