30. Kapitel
Es zeigt sich, daß selbst in dem besten Familienleben die Harmonie gestört werden kann
Wie es die erste Sorge des Chirurgen ist, wenn er ein Glied amputiert hat, die Pulsadern, die sein grausames Messer durchschnitten, zu unterbinden, so ist es die Pflicht dieser Erzählung, die in ihrem schonungslosen Verlauf vom Pecksniffschen Rumpf den rechten Arm, nämlich Gratia, abgetrennt hat, nach dem väterlichen Stamm zu sehen und zu betrachten, wie dieser in allen seinen verschiedenen Verzweigungen sich ohne Stütze behalf.
Zuvörderst müssen wir von Mr. Pecksniff bemerken, daß er, nachdem er seine jüngere Tochter mit dem auserlesensten aller irdischen Güter, nämlich mit einem zärtlichen und nachsichtigen Gatten versehen und durch ihre glückliche Versorgung den heißesten Wunsch seines Vaterherzens befriedigt hatte, in neuer jugendlicher Kraft auflebte und sich, getragen von den Flügeln eines reinen Gewissens, zu jeder Art von Flug befähigt fühlte. Die guten Väter in den Theaterstücken pflegen, wenn sie ihren Töchtern die Männer ihrer Liebe gegeben haben, sich selber zu beglückwünschen und sich zu versichern, daß sie nun nichts mehr auf Erden zu tun haben und der Herr sie in Frieden zu sich nehmen könne, wenn sie sich auch selten beeilen, wirklich in die Grube zu fahren. Mr. Pecksniff war ein Vater von der weiseren und praktischeren Sorte und schien daher zu glauben, er müsse jetzt erst recht zu leben anfangen, und, da er sich einer Bequemlichkeit beraubt sah, sich mit einer andern umgeben.
Wie geneigt übrigens auch der Wackere war, scherzhaft zu tun und sich in den Gärten seiner Phantasie zu ergehen, so stand ihm doch fortwährend ein Hindernis im Wege. Die zarte Cherry, aufgestachelt von dem Bewußtsein, sie erfahre nur Verachtung und eine Unbill, die, statt mit der Zeit nachzulassen, nur immer üppiger und üppiger in ihrem Herzen wucherte – die zarte Cherry war in offener Rebellion begriffen. Sie führte erbittert Krieg gegen ihren teuern Papa und ließ den Ehrenmann sozusagen ein wahres Hundeleben führen – besser gesagt, es gab keinen Hund in seiner Hütte, im Stalle oder im Hause, dem es nur halb so schlimm ergangen wäre wie Pecksniff in der Nähe seines liebevollen Kindes.
Vater und Tochter saßen beim Frühstück; Tom hatte sich zurückgezogen, und sie waren allein. Mr. Pecksniff machte anfangs ein finsteres Gesicht, allmählich heiterte sich aber seine Miene auf, und er blickte verstohlen auf seine Tochter. Ihre Nase war sehr rot und hatte etwas Spitziges, Herausforderndes.
»Cherry«, begann Mr. Pecksniff milde, »was liegt denn eigentlich zwischen uns? Mein Kind, warum sind wir so entzweit?«
Miss Cherrys Antwort war keine rechte Erwiderung auf diesen Zärtlichkeitserguß, denn sie lautete: »Possen, dummes Zeug, Papa!«
»Possen? Dummes Zeug?« wiederholte Mr. Pecksniff angelegentlich und besorgt.
»Es ist zu spät, Papa«, entgegnete die Tochter ruhig, »so mit mir zu sprechen. Ich weiß ganz gut, was vorgeht und was ich davon zu halten habe.«
»Das ist hart«, rief Mr. Pecksniff, seine Tasse anredend. »Das ist sehr hart! Du bist doch mein Kind. Ich habe dich auf den Armen getragen, als du noch formlose Wollschuhe – ich möchte sagen ›Muffler‹ – trugst, und das ist schon viele Jahre her.«
»Du brauchst mich deshalb nicht zu verhöhnen, Papa«, versetzte Cherry indigniert, »ich bin nicht gar so viel älter als meine Schwester, die du ja jetzt glücklich an deinen Freund angebracht hast.«
»Ach, Menschennatur, Menschennatur, arme Menschennatur«, stöhnte Mr. Pecksniff, den Kopf über die Menschennatur schüttelnd, als ob er selbst ein viel höheres, weit über alle Menschennatur erhabenes Wesen sei. »Zu denken, daß dieser Zwist aus einer solchen Ursache entspringt. Du mein lieber Himmel!«
»Jawohl, aus einer solchen Ursache!« höhnte Cherry »Nenne lieber die Ursache beim wirklichen Namen, sonst tue ich’s! Jawohl ich! Und ich will und werde es!«
Vielleicht war die Energie, mit der sie diese Worte aussprach, ansteckend, jedenfalls änderte Mr. Pecksniff plötzlich Ton und Miene, wurde sehr böse – um nicht zu sagen »ingrimmig« – und rief: »Du willst und wirst es? Aber du hast es ja in einem fort getan! Gestern, heute, jetzt! Du lässest jeden Anstand beiseite und machst kein Geheimnis aus deiner Gemütsart. Hundertmal gewiß schon hast du dich Mr. Chuzzlewit gegenüber gehenlassen und kompromittiert!«
»Ich?!« rief Cherry mit bitterm Lächeln. »Oh, natürlich! Übrigens wenn auch! Ich mache mir nichts daraus.«
»Und auch mich hast du bloßgestellt«, sagte Mr. Pecksniff vorwurfsvoll.
Miss Cherry antwortete nur mit einem geringschätzigen Lächeln.
»Da es nun schon einmal zu einer Aussprache gekommen ist«, begann Mr. Pecksniff von neuem und schüttelte drohend das Haupt, »so laß dir ein für allemal gesagt sein, daß ich dergleichen nicht mehr zugeben werde. Keinen Unsinn jetzt mehr, Miss.«
»Ich werde tun«, sagte Cherry, wiegte sich auf ihrem Stuhle hin und her und erhob ihre Stimme zum lautesten Diskant, »ich werde tun, Papa, was mir beliebt und was ich bisher getan habe. Ich lasse mich nicht in allem und jedem unterdrücken, verlaß dich drauf. Man hat mich schmachvoller mißhandelt als irgend jemanden auf der Welt« – sie fing an zu weinen und zu schluchzen – »und ich kann mich auch weiterhin auf das Ärgste von deiner Seite gefaßt machen, das weiß ich. Aber ich mache mir nichts daraus; – nein, ich mache mir nichts daraus!«
Mr. Pecksniff geriet durch den lauten Ton, in dem sie sprach, so außer sich, daß er sich zuerst in wilder Unruhe umsah, ob er kein Mittel finden könne, sie zu beruhigen, dann aber stand er auf und schüttelte seine Tochter, bis die Schmachtlocke auf ihrer Frisur wie eine Feder hin und her nickte. Charitas war durch diesen Angriff so in Erstaunen versetzt, daß er damit wirklich den gewünschten Erfolg erzielt zu haben schien.
»So werde ich dir jedesmal kommen«, rief Mr. Pecksniff nach Luft schnappend und nahm seinen Sitz wieder ein, »wenn du dich noch mal unterstehst, mit mir in so lauter Weise zu sprechen. Was willst du eigentlich damit sagen, daß du von schmählicher Behandlung sprichst? Wenn Jonas deine Schwester vorzog, so möchte ich gerne wissen, wer das hätte ändern können. – Was geht denn die ganze Geschichte mich an?«
»Hat man mich vielleicht nicht als Handhabe benutzt und meine Gefühle mit Füßen getreten? Hat er nicht zuerst mir den Hof gemacht?« schluchzte Cherry und rang die Hände. »Oh, daß ich eine derartige Behandlung erleben mußte!«
»Du wirst sie noch einmal erleben«, beteuerte Mr. Pecksniff, »wenn du mich so weit treibst und ich kein anderes Mittel mehr habe, den Anstand in diesem bescheidenen Hause aufrechtzuerhalten. Ich verstehe dich nicht. Ich muß mich wahrhaftig wundern, daß du so wenig Einsicht und Verstand beweist. Wenn Jonas sich nichts aus dir machte, wie kannst du jetzt noch wünschen, ihn zu besitzen?«
»Ich ihn besitzen wollen!« stöhnte Cherry. »Ich ihn besitzen wollen! Papa!«
»Nun also, wozu machst du dann einen solchen Spektakel?« rief Mr. Pecksniff. »Wenn du nichts mehr von ihm wissen willst?«
»Weil man falsch und hinterlistig an mir gehandelt hat!« schrie Cherry. »Und weil mein eigner Vater und meine leibliche Schwester sich gegen mich verschworen haben. Auf sie bin ich nicht böse«, setzte sie hinzu und machte ein bitterböses Gesicht. – »Ich bemitleide sie; ich bedaure sie; weiß ich doch, was für ein Schicksal ihrer harrt – bei dem Schuft!«
»Mr. Jonas wird nicht daran sterben, daß du ihn einen Schuft nennst«, sagte Pecksniff mit steigender Ergebung. »Nenne ihn meinetwegen, wie du willst, aber mach der Sache jetzt ein Ende!«
»Nein, kein Ende, Papa!« kreischte Charitas. »Nein, kein Ende! Es ist das auch nicht das einzige, was zwischen uns liegt. Ich will und werde mich nicht darein fügen, und es ist besser, wenn du das ein für allemal jetzt erfährst. Nein, ich will und werde mich nicht darein fügen; ich bin nicht blind oder blödsinnig! Alles, was ich zu sagen habe, ist: – ich will nicht!«
Was Miss Cherry nun auch damit sagen wollte, jedenfalls fühlte sich Mr. Pecksniff erschüttert, und sein armseliger Versuch, eine würdevolle Miene aufzusetzen, scheiterte kläglich. Sein Zorn verwandelte sich im Handumdrehen in Demut, und seine Worte wurden schmeichlerisch.
»Meine Liebe«, lenkte er ein, »wenn ich in der Aufregung eines zornigen Augenblicks zu einem nicht zu rechtfertigenden Mittel meine Zuflucht nahm, um einen Gefühlsausbruch zu unterdrücken, der darauf hinausgelaufen wäre, sowohl dich wie mich herabzuwürdigen, so bitte ich dich um Verzeihung. Ein Vater, der sein Kind um Verzeihung bittet!« rief Mr. Pecksniff. »Ich dächte, das müßte ein Anblick sein, der selbst die wildeste Natur zu besänftigen vermochte!«
Miss Cherry besänftigte er nun aber ganz und gar nicht – wahrscheinlich, weil ihre Natur nicht wild genug war. Sie bestand im Gegenteil wiederholt auf ihrer Behauptung, sie sei nicht blödsinnig oder blind und werde »es« unter gar keinen Umständen weiter ruhig mit ansehen.
»Du mußt in einem Irrtum befangen sein, mein Kind«, versuchte Mr. Pecksniff auszuweichen, »aber ich will nicht weiter fragen, was du meinst; ich verlange es auch nicht zu wissen. Nein, bitte«, sagte er, mit der Hand abwehrend, und wieder stieg ihm das Blut in die Wangen, »lassen wir das Thema fallen, mein Kind. Sei es, wie es wolle.«
»Es ist nicht mehr als recht und billig, daß das Thema zwischen uns vermieden werden soll«, versetzte Cherry; »aber um imstande zu sein, es vermeiden zu können, muß ich dich zuvörderst bitten, mir ein Heim zu geben.«
Mr. Pecksniff sah sich gedrückt im Zimmer um und fragte: »Ein Heim, mein Kind?«
»Ein anderes Heim, Papa«, wiederholte Cherry mit düsterer Feierlichkeit. »Verschaffe mir bei Mrs. Todgers oder sonstwo eine Unterkunft. Hier kann und will ich nicht länger wohnen bleiben, wenn es schon einmal so weit gekommen ist.«
Möglich, daß in Miss Pecksniffs Geist bei dem Gedanken an Mrs. Todgers ein Traumgesicht von allerlei verliebten Herren auftauchte, die danach schmachteten, ihr anbetend zu Füßen zu fallen, möglich auch, daß Mr. Pecksniff bei seiner neu erwachenden Jugendlichkeit den Hinweis auf das gedachte Etablissement als willkommenes Mittel betrachtete, eine drückende, hemmende Bürde loszuwerden, jedenfalls klang der Vorschlag seinem aufmerksamen Ohr durchaus nicht wie etwa ein Totengeläute aller Hoffnungen.
Aber er war ein Mann von tiefem Gefühl und höchster Empfindsamkeit, er drückte daher sein Taschentuch mit beiden Händen gegen die Augen, wie Leute seines Schlages es gern zu tun pflegen. Besonders, wenn sie sich beobachtet wissen. »Eins meiner Täubchen«, schluchzte er, »hat mich bereits verlassen und sich an die Brust eines Gatten geschmiegt, und das andere will seinen Flug jetzt zu Mrs. Todgers nehmen! Ach, was soll aus mir werden? Ich weiß es nicht! Doch, was liegt daran – –?«
Selbst diese Bemerkung, die noch pathetischer dadurch wurde, daß er von Schmerz übermannt mitten darin abbrach, machte auf Charitas keinerlei Eindruck. Sie blieb mürrisch, starr und unbeugsam.
»Stets habe ich«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »stets habe ich meiner Kinder Glück dem meinigen – ich will sagen: das meinige dem meiner Kinder aufgeopfert, und ich werde nicht so spät noch beginnen, mein Leben nach anderen Grundsätzen einzurichten. Wenn du bei Mrs. Todgers glücklicher sein zu können glaubst als im Hause deines Vaters, so gehe zu Mrs. Todgers! Denke nicht dabei an mich, mein Kind!« setzte er mit Rührung hinzu. »Ich werde mich auch mit der Einsamkeit abzufinden trachten.«
Miss Charitas wußte ganz genau, daß ihr Vorschlag ihrem Vater in Wirklichkeit große Freude bereitete, sie unterdrückte daher ihre eigene und begann auf die näheren Bedingungen einzugehen. Mr. Pecksniffs Äußerungen darüber waren anfangs so abweisend, daß ein nochmaliger Streit und vielleicht sogar ein nochmaliges Schütteln zu folgen drohte, aber allmählich kamen sie zu einer Art von Verständigung, und der Sturm ging leichter vorüber, als es anfangs den Anschein hatte. In Wirklichkeit bot Miss Charitas‘ Vorschlag so viel Annehmlichkeiten für beide Teile, daß es seltsam hätte zugehen müssen, wenn sie nicht zu einer Einigung gekommen wären. Sie beschlossen daher, das Projekt für alle Fälle vorerst einmal zu versuchen, und zwar sogleich. Unpäßlichkeit, der Wunsch nach Ortsveränderung sowie die Sehnsucht, ihrer Schwester nahe zu sein, sollten als Entschuldigung für Cherrys Abreise vor Mr. Chuzzlewit und Mary dienen, die beide die junge Dame ohnehin seit einiger Zeit für sehr nervös erregt hielten. Nachdem dies Abkommen getroffen war, gab Mr. Pecksniff seiner Tochter seinen Segen mit aller Würde eines selbstlosen Vaters, der zwar ein schweres Opfer gebracht hat, sich aber mit dem Gedanken tröstet, daß jede gute Tat den Lohn in sich selbst trägt.
So waren sie zum erstenmal wieder versöhnt seit jener verhängnisvollen Nacht, wo Mr. Jonas, die ältere Schwester verschmähend, seine Leidenschaft für die jüngere eingestanden und Mr. Pecksniff ihm darin – aus moralischen Gründen – Vorschub geleistet hatte.
Aber wie ging es – im Namen der sieben Weltwunder – zu, daß Mr. Pecksniff und Cherry sich jetzt so plötzlich voneinander trennen wollten? Was hatte ihr Verhältnis zueinander so sehr getrübt? Warum gab Miss Pecksniff mit solcher Emphase zu verstehen, daß sie weder blind noch blödsinnig sei und nicht länger mehr ruhig zusehen wolle? Es war doch ausgeschlossen, daß Mr. Pecksniff noch einmal daran dachte zu heiraten? Oder sollte wirklich seine Tochter mit dem scharfen Auge einer alten Jungfer einen solchen Plan in seinem Hirn durchschaut haben?
Gehen wir der Sache einmal nach.
Mr. Pecksniff, als Mann ohne Fehl und Tadel, als ein Charakter, an dem der Hauch der Verleumdung spurlos verging wie gemeiner Hauch an einer polierten Fläche, konnte sich erlauben, was sich gewöhnliche Menschen nicht gestatten durften: Er kannte die Reinheit seiner eigenen Beweggründe, und wenn eine Triebfeder in ihm tätig war, ließ er sie walten und wirken, wie es nur ein sehr guter (oder ein sehr schlechter) Mann imstande ist. Hatte er starke und auf der Hand liegende Gründe, ein zweites Weib zu freien? Ja, allerdings! Und nicht bloß etwa einen oder zwei, sondern eine ganze Menge.
In dem alten Martin Chuzzlewit war allmählich eine große Veränderung vor sich gegangen. Schon in jener Nacht, wo er so zur Unzeit in Mr. Pecksniffs Hause erschienen, war er gegen früher außerordentlich zahm und leicht zu behandeln. Dies schrieb Mr. Pecksniff dem tiefen Eindruck zu, den des Bruders Tod auf ihn gemacht haben mußte. Von jener Stunde an aber schien sich Mr. Chuzzlewits Charakter nach und nach vollständig umgewandelt und beinah bis zu einer stumpfen Gleichgültigkeit gegenüber jedermann, Mr. Pecksniff ausgenommen, herabgemildert zu haben. Sein Aussehen glich zwar so ziemlich seinem frühern, aber sein Geist war nicht mehr der alte. Nicht, daß diese oder jene Leidenschaft stärker oder schwächer geworden wäre, nein, das Kolorit des ganzen Mannes war sozusagen verblichen. Wenn ein Zug verschwand, trat kein anderer an seine Stelle. Zu gleicher Zeit nahmen auch seine Sinne ab; er hatte ein weniger scharfes Gesicht, war bisweilen schwerhörig, achtete nicht viel auf das, was um ihn herum vorging, und konnte oft tagelang stumm vor sich hinbrüten. Diese Veränderung nahm einen so schnellen Verlauf, daß man sie kaum bemerkte, als sie bereits vollkommen gediehen war. Mr. Pecksniff nahm sie zuerst wahr, und da ihm ein ähnlicher Vorgang bei Anthony Chuzzlewit noch frisch in Erinnerung war, glaubte er in dessen Bruder Martin denselben Prozeß rapiden Alterns zu erkennen.
Bei Mr. Pecksniffs Zartgefühl bedeutete dies für ihn einen sehr traurigen Anblick. Er sah voraus, daß sein geschätzter Verwandter das Opfer hinterlistiger Personen werden und sein Reichtum in unwürdige Hände fallen mußte. Und das berührte ihn so schmerzlich, daß er sich vornahm, die Erbschaft für sich selbst zu sichern, all das schleicherische Pack fernzuhalten und das Ei, wie man zu sagen pflegt, für sich selbst auszubrüten. Nach und nach begann er zu versuchen, ob Mr. Chuzzlewit ein fügsames Werkzeug in seiner Hand zu werden verspreche. Da dies der Fall zu sein schien – ja, da Martin sich sogar sehr geschmeidig und weich wie Wachs in seinen Händen erwies und sich nach Belieben kneten ließ, so machte er es sich in seiner Herzensgüte zur Aufgabe, jeden fremden, ihm feindlichen Einfluß zu unterbinden und alle leitenden Fäden selbst in die Hand zu bekommen. Und als schließlich jede kleine Probe, auf die er Mr. Chuzzlewit zu stellen wagte, über Erwarten günstig ausfiel, so glaubte er schon des alten Mannes harte Taler in seinen eignen, nichts weniger als weltlich gesinnten Taschen klimpern zu hören. Aber sooft er über dieses Thema nachdachte – und er tat es in seiner eifrigen Weise wirklich recht oft –, und wenn er sich mit himmelwärts jubelndem Herzen die Verkettung der Umstände vergegenwärtigte, die den alten Herrn zur Strafe für die Übeltäter und zum Triumph der Gerechtigkeit in seine Hand gegeben, stets fühlte er, daß Mary Graham einen hindernden Faktor in seiner ganzen Berechnung bilde. Mochte man sagen, was man wollte, Mr. Pecksniff erkannte ganz genau, daß Martin sie liebte. Er erriet es durch tausend kleine Anzeichen. Stets hatte sie der alte Herr gern um sich, und nie war er ruhig, wenn er sie abwesend wußte. Daß er wirklich das Gelübde getan habe, ihr in seinem Testamente nichts zu vermachen, daran zweifelte Mr. Pecksniff sehr, und selbst wenn er es getan hätte, so gab es ja tausenderlei Mittel, um das Gelübde zu umgehen und um sein Gewissen zu beruhigen. Auch wußte Pecksniff, daß Marys schutzlose Stellung in der Welt eine Qual für die Denkungsweise des alten Mannes bedeuten mußte. Martin hatte es ihm oft genug angedeutet. »Was nun«, sagte sich Mr. Pecksniff, »wenn ich sie heiratete? Wie wäre das?«
Er strich sich das Haar in die Höhe und warf einen Blick auf seine Büste von Spoker: »Was, wenn ich mich zuerst seiner Zustimmung versicherte – er ist ziemlich geistesschwach, der Ärmste – und sie dann heiratete?«
Mr. Pecksniff hatte ein großes Verständnis für Schönheit, besonders an Frauen, und verstand es, besonders bei Frauen, sich einzuschmeicheln. Wie bereits erwähnt, ließ er Mrs. Todgers gegenüber seinerzeit auch nicht den geringfügigsten Anlaß ungenutzt, sie zu umarmen – es war dies so eine Art Gewohnheit von ihm, ein Teil des sanften Edelmutes seines Charakters.
Ehe noch der Gedanke in ihm auftauchte, sich wieder zu verheiraten, hatte er Mary bereits manchen Beweis seiner höchsten Bewunderung gegeben. Sie hatte es nicht mit Unwillen aufgenommen; das war nun wohl weiter nicht von Bedeutung; – aber, wie diese Idee in ihm allmählich heranreifte, wurden diese Beweise zu lebhaft, um dem scharfsichtigen Auge Cherrys zu entgehen, die mit einem Mal den Plan durchschaute. In Wirklichkeit aber hatte Pecksniff von Anbeginn die Gewalt von Marys Reizen empfunden. So vereinigten sich also Neigung und Eigennutz und lenkten das Wägelchen seiner Pläne.
Mr. Pecksniff war viel zu weichherzig und versöhnlich, als daß man von ihm hätte erwarten können, er gebe vielleicht irgendeinem Gedanken Raum, sich an dem jungen Martin wegen der unverschämten Ausdrücke, die dieser sich beim Abschiede erlaubt, zu rächen und ihn womöglich noch gründlicher von aller Hoffnung auf eine Wiederversöhnung mit seinem Großvater auszuschließen. Vor einer Zurückweisung seiner eigenen Person von seiten Marys war ihm nicht bange, denn er fühlte sich vollkommen überzeugt, daß ihre Lage trostlos sein müsse, wenn sie ihn und Mr. Chuzzlewit gegen sich habe. Und was die Wünsche ihres eigenen Herzens betraf, so fanden diese kein Verständnis in Mr. Pecksniffs moralischer Anschauung. Er war sich bewußt, was für ein rechtschaffener Mann er war und welchen Segen er für jede Frau auf Erden bedeuten müsse. Seine Tochter hatte jetzt rücksichtslos das Thema zur Sprache gebracht und bewiesen, daß sie die Sachlage durchschaute. Es blieb ihm daher nichts weiter übrig, als lediglich seinen Plan so gewandt wie möglich und so schlau wie nur irgend denkbar zu verfolgen.
»Nun, mein wertgeschätzter Herr«, sagte er eines Tages zu dem alten Martin, als dieser im Garten umherschlenderte, wie er zu tun pflegte, wenn er Lust dazu hatte, »wie steht das werte Befinden an diesem köstlichen Morgen?«
»Meinen Sie mich?« fragte der alte Mann.
»Aha«, murmelte Mr. Pecksniff, »er hat heute wieder seinen tauben Tag. – Wen könnt ich denn sonst meinen, mein werter Herr?«
»Sie hätten auch Mary meinen können«, brummte der alte Mann.
»Allerdings. Sehr richtig. Ich dürfte doch gewiß auch von ihr wie von einer teuern, lieben Freundin sprechen, nicht wahr«, sondierte Mr. Pecksniff.
»Selbstverständlich«, entgegnete der alte Martin, »und ich denke, sie verdient es auch.«
»Sie denken?!« rief Mr. Pecksniff. »Sie denken bloß, Mr. Chuzzlewit?«
»Ich kann Sie nicht recht verstehen«, versetzte Martin. »Bitte, reden Sie doch lauter.«
»Er wird auch von Tag zu Tag tauber«, brummte Pecksniff. – – »Also, ich wollte sagen, mein werter Herr, ich fürchte, daß ich mich auf eine Trennung von Cherry gefaßt machen muß.«
»Was hat sie denn angestellt?« fragte Mr. Chuzzlewit.
»Oh, nichts. Gar nichts!« beteuerte Mr. Pecksniff, beinahe schreiend. – »Er ist heute ganz kindisch. – Er wird jeden Tag marastischer«, brummte er in sich hinein.
»Also warum soll sie dann fort?«
»Sie fühlt sich nicht recht wohl. Die beiden Schwestern liebten einander aufs zärtlichste von der Wiege an, und ich denke, ich will Cherry der Abwechslung wegen nach London schicken – und zwar für ziemlich lange Zeit, Sir, wenn ich sehe, daß es ihr dort gut gefällt.«
»Sehr gut«, versetzte Martin, »und sehr verständig.«
»Es freut mich von Herzen, das von Ihnen zu hören. – – Ich hoffe, ich darf Ihnen doch während der traurigen Zeit ihrer Abwesenheit ein wenig Gesellschaft leisten?« fragte Mr. Pecksniff.
»Ich habe durchaus nicht vor, mich derselben zu entziehen«, lautete Martins Antwort.
»Warum wollen Sie übrigens«, flötete Mr. Pecksniff, zog den Arm des alten Herrn durch den seinigen und ging langsam neben ihm her; »warum wollen Sie eigentlich, mein werter Herr, nicht zu mir ziehen und bei mir bleiben? Ich bin überzeugt, ich könnte Sie mit mehr Komfort umgeben, so bescheiden auch mein Dach sein mag – mit mehr Komfort, als sie in dem Dorfwirtshause drüben werden finden können. Und verzeihen Sie mir, Mr. Chuzzlewit, verleihen Sir mir, wenn ich sage, daß ein Haus wie der ›Drache‹ trotz der Ordnung, die dort waltet – und soviel ich weiß, gehört Mrs. Lupin zu den würdigsten Wirtinnen dieser Gegend –, kaum ein passendes Heim für Miss Graham bedeutet.«
Martin sann einen Augenblick nach, drückte dann seinem Begleiter die Hand und erwiderte:
»Ja, Sie haben ganz recht.«
»Schon der Anblick der Kegelbahn«, fuhr Mr. Pecksniff beredt fort, »steht durchaus nicht im Einklang mit einer so zarten und feinen Natur.«
»Freilich«, gab der alte Herr zu. »Es ist eine ordinäre Belustigung fürs Volk.«
»Für das allergemeinste Volk!« verbesserte Mr. Pecksniff. »Warum wollen Sie also Miss Graham nicht hierher bringen, Sir? Hier steht Ihnen doch mein Haus zur Verfügung. Ich bewohne es allein, denn Tom Pinch zähle ich nicht. Unsere liebe Freundin soll das Zimmer meiner Tochter bekommen, und Sie selbst können sich ein beliebiges anderes auswählen. Wir werden uns diesbezüglich schon einigen.«
»Ja, das glaube ich auch«, murmelte Martin.
Mr. Pecksniff drückte ihm die Hand. »Ich sehe, wir verstehen uns, mein werter Herr.« – Ich kann ihn um den kleinen Finger wickeln dachte er innerlich mit Jubel.
»Die Entschädigungssumme müssen Sie mir überlassen«, sagte der alte Mann nach einer Pause von ungefähr einer Minute.
»Reden Sie nicht von Entschädigung!« bat Mr. Pecksniff flehentlich.
»Ich frage Sie aber«, wiederholte Martin mit einem Anflug seiner alten Hartnäckigkeit, »ob Sie die Entschädigungssumme mir überlassen wollen oder nicht.«
»Wenn Sie es wünschen, muß ich es wohl, mein werter Herr«, gab Mr. Pecksniff betrübt zu.
»Ich bestehe darauf. Sie wissen, daß ich auf dergleichen immer bestehe. Ich will bezahlen, wenn ich irgendwo wohne; auch wenn es bei Ihnen ist. Außerdem behalte ich mir vor, eines Tages noch anderweitigen verwandtschaftlichen Pflichten nachzukommen, Pecksniff.«
Der würdige Architekt war viel zu ergriffen, um ein Wort sprechen zu können. Er versuchte eine Träne auf die Hand seines Gönners niederträufeln zu lassen, konnte aber in seiner ausgetrockneten Gefühlsretorte nicht genug Feuchtigkeit aufbringen.
»Möge dieser Tag noch ferne sein«, lautete sein frommer Ausruf. »Ach, wenn ich nur Worte finden könnte, um Ihnen zu sagen, welch tiefes Interesse ich an Ihnen und den Ihrigen nehme! – – Ich meine damit unsere schöne verwaiste junge Freundin.« »Sehr wahr«, erwiderte Martin. »Sehr wahr! Sie bedarf allerdings eines Menschen, der sich für sie interessiert. Ich habe unrecht getan, daß ich sie in dieser Weise an mich fesselte. Obgleich sie eine Waise ist, würde sie doch jemanden gefunden haben, der sie beschützt und dessen Gefühle sie erwidert hätte. Als sie noch ein Kind war, gefiel ich mir in dem Gedanken, ich erwiese ihr eine Wohltat, während ich doch nur meiner Laune nachging, als ich sie als Schranke zwischen mich und falschherzige Schurken setzte. Jetzt, wo sie ein Weib ist, habe ich diesen Trost nicht mehr. Sie hat keine andere Stütze als sich selbst. Ich habe sie in eine so schiefe Stellung zur Welt gebracht, daß jeder Hund sie anbellen oder vor ihr kriechen kann, je nachdem er Lust dazu hat. Ihre Lage verdient in der Tat die größte Berücksichtigung.«
»Und was, wenn ihre Stellung verändert und festgestellt würde?« deutete Mr. Pecksniff an.
»Wie könnte das sein? Soll ich sie vielleicht Näherin oder Gouvernante werden lassen?«
»Gott behüte!« rief Mr. Pecksniff. »Nein, mein werter Herr, es gibt noch andere Mittel. Es gibt wirklich noch andere. Ich fühle mich jetzt zu sehr aufgeregt und verstimmt und möchte das Thema nicht weiter verfolgen; ich weiß kaum, wie ich die Worte stellen soll. Erlauben Sie mir, die Sache ein andermal wieder zur Sprache zu bringen?«
»Sie sind doch nicht unwohl?« fragte Martin besorgt.
»Nein, nein!« versicherte Pecksniff. »Nein! Erlauben Sie mir nur, das Thema ein andermal wieder zur Sprache zu bringen. Ich möchte jetzt zu meiner Beruhigung ein wenig Spazierengehen. – Gott zum Gruß!«
Der alte Herr erwiderte den frommen Wunsch und drückte dem würdigen Vetter die Hand. Als er sich umwandte und langsam dem Hause zuschritt, blieb Mr. Pecksniff stehen und blickte ihm nach. Er hatte sich merkwürdig rasch von seiner soeben an den Tag gelegten Aufregung erholt, die man bei jedem andern als ihm für einen bloßen Kunstgriff hätte halten können, um dem alten Martin in gewisser Hinsicht auf den Puls zu fühlen. Der Wechsel, der in dem alten Herrn vorgegangen, sprach sich jetzt so augenfällig in dessen äußerer Erscheinung aus, daß Pecksniff, als er ihm nachblickte, nicht umhin konnte, vor sich hinzumurmeln:
»Ich kann ihn wahrhaftig bereits um den kleinen Finger wickeln. Wer hätte das gedacht!«
Der alte Martin sah sich in diesem Augenblick wieder um und grüßte freundlich. Pecksniff winkte zurück.
»Und wie lange ist es her«, murmelte Mr. Pecksniff, »daß er mich nicht einmal ansehen wollte! Wie wohltuend diese Veränderung wirkt! Knetbar wie Wachs ist das menschliche Herz und verwickelt der Prozeß seiner Läuterung. Äußerlich ist der Mensch ganz der alte, und doch kann ich ihn um den kleinen Finger wickeln! Wer hätte das gedacht!«
Und in der Tat schien es wirklich nichts mehr zu geben, was Mr. Pecksniff mit dem alten Herrn nicht hätte anfangen können. Mochte er tun oder sagen, was er wollte, alles war recht, und was er anriet, geschah. Martin war nur den Schlichen so vieler dürftiger Glücksjäger entronnen und in der Höhle seines Argwohns und Mißtrauens so viele Jahre dahingewelkt, um das Werkzeug und Spielzeug dieses rechtschaffenen Mannes zu werden. Mit dem Ausdruck glückseliger Überzeugung auf dem strahlenden Antlitz setzte der würdige Architekt seinen Morgenspaziergang fort.
Das Sommerwetter in seiner Brust spiegelte sich auch in der Natur ab. Durch tiefgrüne Fernsichten, wo sich die Zweige zu Laubengängen verschlangen und sich das Sonnenlicht in schimmernde Strahlenbündel verwandelte, durch betautes Farnkraut, wo die Hasen erschreckt bei der Annäherung von menschlichen Schritten aufsprangen und flohen, an umgrünten, stillen Lachen vorbei, über umgestürzte Baumstämme und tief hinab in träumerische Schluchten durch raschelndes altes Laub, dessen bloßer Duft Erinnerung bedeutete, schlenderte Mr. Pecksniff friedlich dahin. Durch Wiesen, Pförtchen und Hecken, von wilden Rosen duftend, an Hütten mit Strohdächern vorüber, deren Bewohner sich demütig vor ihm neigten wie vor einem Mann, der zugleich gut und weise ist, wandelte der würdige Architekt in stiller Betrachtung einher. Bienen flogen dahin, summend bei ihrer Arbeit, die müßigen Mücken drehten sich bald in engern, bald in weitern Kreisen oder tanzten lustig in der Luft vor ihm her. Die Farbe des hohen Grases kam und ging, von den Wolken beschattet oder dem Lichte erhellt, je nachdem der Himmel sein Antlitz wechselte. Die Vögel sangen fröhlich auf den Zweigen, und Mr. Pecksniff huldigte der Schönheit des Tages dadurch, daß er im Gehen seinen Plänen nachhing.
In seiner Gedankenfülle strauchelte er zufällig über die im Wege liegenden Wurzeln eines alten Baumes. Er erhob seine frommen Augen, um den Boden vor sich zu mustern, und stutzte ein wenig, als er das verkörperte Abbild seiner Grübeleien nicht weit vor sich erblickte. Mary selbst. Und allein!
Einen Augenblick blieb er stehen, unwillkürlich, wie um umzukehren; sein nächster Impuls jedoch war, näherzutreten, und er tat das auch mit raschem Schritt. Dabei trällerte er so süß und mit soviel Unschuld vor sich hin, daß ihm nur die Federn und Schwingen fehlten, um ein Vögelein zu sein.
Als Mary die holden Töne hinter sich hörte, die nicht den Sängern des Waldes angehörten, blickte sie sich um. Mr. Pecksniff küßte seine Fingerspitzen und war im Nu an ihrer Seite.
»Am Busen der Natur?« säuselte er mild. »Auch mir geht es so.« – Mary erwiderte, der Morgen sei so schön, daß sie sich habe weiter in den Park verlocken lassen, als ihre ursprüngliche Absicht gewesen. Sie wolle übrigens jetzt umkehren. Mr. Pecksniff flötete, daß das gleiche bei ihm zutreffe und er sie deshalb begleiten wolle.
»Nehmen Sie meinen Arm, süßes Mädchen«, sagte er.
Mary lehnte ab und schlug einen so raschen Schritt ein, daß er sich genötigt sah, es ihr sanft zu verweisen.
»Sie hatten doch gar keine Eile, als ich auf Sie zukam! Warum sind Sie denn jetzt so grausam und eilen so? Sie fürchten sich doch nicht vor mir?«
»Allerdings will ich Ihnen ausweichen«, antwortete Mary und wandte ihm ihr zornglühendes Antlitz zu. »Sie wissen ganz gut, daß ich Ihnen ausweiche. Lassen Sie mich los, Mr. Pecksniff, Ihre Berührung ist mir unangenehm!«
Seine Berührung! Unangenehm! Was? Diese keusche, patriarchalische Berührung, die Mrs. Todgers – gewiß eine zartfühlende Dame – nicht nur ohne Widerrede, sondern bestimmt mit offenkundigem Vergnügen geduldet hätte! Es mußte hier ein Irrtum obwalten. Mr. Pecksniff bedauerte tief, solche Worte hören zu müssen.
»Wenn Sie noch nicht bemerkt haben, daß es so ist, so bitte ich Sie, diese Versicherung jetzt von meinen Lippen entgegenzunehmen. Wenn Sie ein Gentleman sind, fahren Sie nicht fort, mich weiter zu belästigen«, rief Mary.
»Ich verstehe«, sagte Mr. Pecksniff milde. »Ich würde ein solches Benehmen an einer meiner Töchter nur löblich finden, warum sollte ich es an einem so schönen Wesen tadeln? Freilich, es ist hart, es schneidet mir in die Seele, aber ich kann Ihnen trotzdem nicht böse sein, Mary.«
Miss Graham wollte sagen, daß es ihr leid tue, ihn vielleicht verletzt zu haben, brach aber in Tränen aus. Abermals näherte sich ihr Mr. Pecksniff, ergriff ihre Hand, küßte ihr sie und fuhr folgendermaßen fort:
»Es freut mich, daß wir uns begegnet sind; es freut mich von Herzen. Bin ich doch imstande, jetzt mein Herz von einer schweren Last zu erleichtern und im Vertrauen mit Ihnen zu sprechen. Mary«, fügte er mit seinen zartesten Tönen hinzu – so zart, daß er beinahe quiekste, »Mary, mein Leben, ich liebe dich!«
Eine ärgerliche Sache, diese jungfräuliche Ziererei! Mary tat jetzt gar, als ob sie schauderte!
»Ich liebe Sie«, wiederholte Mr. Pecksniff, »mein süßes Leben. Mit einer Innigkeit, die sogar mir völlig überraschend kommt. Ich glaubte, daß dieses Gefühl mit einer Frau zu Grabe getragen worden sei, die an Vorzügen des Körpers und des Geistes Ihnen glich. Aber ich finde, daß ich im Irrtum war.«
Mary suchte ihre Hand loszumachen, sie hätte sich aber ebensowenig den Umarmungen einer zärtlichen Boa Constrictor entziehen können, wenn man etwas so Greuliches mit dem trefflichen Architekten vergleichen darf.
»Obgleich ich Witwer bin«, fuhr Mr. Pecksniff, die Ringe an Marys Fingern betrachtend und mit seinem fetten Daumen einer zarten blauen Ader folgend, fort, »Witwer mit zwei Töchtern, so bin ich dennoch frei. Eine davon ist, wie Sie wissen, verheiratet, und die andere steht im Begriffe – ich gestehe es – warum sollte ich auch nicht –, in der Voraussicht, daß sich meine Lage verändern wird, das Vaterhaus zu verlassen. Ich bin ein Mann von Charakter, hoffe ich, und wie ich höre, sprechen die Leute gut von mir; auch glaube ich annehmen zu dürfen, daß meine Persönlichkeit und meine Manieren nichts von einem Ungeheuer an sich haben. Ach, du schlimme Hand«, fügte er zärtlich hinzu, die widerstrebende Beute anredend, »warum hast du mich in Fesseln geschlagen? Warte du!«
Und er klopfte die Hand, um sie zu strafen, drückte sie aber dann voll Versöhnlichkeit an seine Weste, um sie wieder zu trösten.
»Gesegnet mit den nötigsten irdischen Gütern und in der Gesellschaft unseres verehrungswürdigen Freundes, meine Teuerste«, fuhr er fort, »werden wir glücklich sein; und wenn ›er‹ dereinst eingeht in den Hafen der ewigen Ruhe, werden wir uns zu trösten wissen, mein schönes Himmelsschlüsselchen; was meinen Sie dazu?«
»Vielleicht«, erwiderte Mary hastig, »sollte ich Ihnen für diesen Beweis Ihres Vertrauens dankbar sein, aber ich kann nicht sagen, daß ich es wirklich wäre. Ich will annehmen, daß Sie meinen Dank wenigstens verdienen. So nehmen Sie ihn denn und verlassen Sie mich jetzt gefälligst, Mr. Pecksniff.«
Mit einem salbungsvollen Lächeln zog der Vortreffliche ihre Hand wieder an seine Brust.
»Bitte, bitte, lassen Sie mich los, Mr. Pecksniff«, rief das junge Mädchen, »ich kann Sie nicht weiter anhören und Ihren Antrag nicht annehmen. Es gibt gewiß viele junge Damen, denen er sicher erwünscht wäre, aber bei mir ist das durchaus nicht der Fall. Ich muß daher von Ihnen als einen Akt der Freundlichkeit und des Anstandes verlangen, daß Sie mich endlich loslassen.«
Mr. Pecksniff ging ruhig weiter neben ihr her, den Arm um ihre Taille gelegt, so zufrieden, als wenn alles in bester Ordnung und sie in wahrhafter Liebe miteinander verbunden wären.
»Wenn Sie mich durch Ihre überlegene Kraft zwingen wollen«, sagte Mary, als sie sah, daß gute Worte nicht die geringste Wirkung auf Pecksniff ausübten, jetzt mit offenem Unwillen, »wenn Sie mich als der Stärkere zwingen, Sie zu begleiten und unterwegs Ihren Unverschämtheiten als Zielscheibe zu dienen, so soll es Ihnen wenigstens nicht möglich sein zu verhindern, daß ich Ihnen offen heraus meine Meinung sage. Ich empfinde den tiefsten Abscheu vor Ihnen, denn ich kenne Ihren wahren Charakter und verachte Sie aus dem tiefsten Grund meines Herzens.«
»Nicht doch«, wehrte Mr. Pecksniff süß ab, »nein, nein, nein!«
»Welchen Kunstgriffen oder unglücklichen Zufällen Sie Ihren Einfluß über Mr. Chuzzlewit verdanken, weiß ich nicht«, fuhr Mary fort, »er mag vielleicht stark genug sein, sogar den Eindruck dieses Vorganges auszutilgen, wenn ich die ganze Sache Mr. Chuzzlewit erzählen sollte, aber verlassen Sie sich darauf, ich werde meinen väterlichen Freund trotzdem von allem, was vorgefallen ist, unterrichten.«
Mr. Pecksniff hob langsam und schmachtend seine schweren Augenlider und senkte sie dann wieder. Es war soviel, als sage er mit vollkommenster Seelenruhe: ja, ja, in der Tat!
»Ist es nicht genug«, fuhr Mary fort, »daß Sie sein Wesen verkehren und an seinem Charakter rütteln, daß Sie alle seine Vorurteile Ihren eigenen schlimmen Zwecken anpassen und ein von Natur aus wohlwollendes Herz verhärten, indem Sie die Wahrheit davon fernhalten und nur lügenhaften und berechnenden Ansichten Zutritt gestatten? Ist es nicht genug, daß Sie Ihre Macht zu solchen Dingen mißbrauchen, müssen Sie auch noch roh, grausam und niederträchtig gegen mich handeln?«
Noch immer führte Mr. Pecksniff sie ruhig weiter und blickte so milde drein wie ein Lamm auf der Weide.
»Ist denn nichts imstande, Sie zu rühren, Sir!?« rief Mary.
»Meine Teuerste«, begann Mr. Pecksniff mit einem ruhigen Lächeln, »die Gewohnheit der Selbstprüfung und die Übung der – soll ich Tugend sagen?«
»Der Heuchelei«, verbesserte Mary.
»Nein, nein«, rief Mr. Pecksniff und drückte und liebkoste die gefangene Hand vorwurfsvoll, »der Tugend – der Tugend – haben mich befähigt, so auf der Hut zu sein gegen mich selbst, daß es wirklich schwerhält, mich aus der Fassung zu bringen. Es ist vielleicht eine wunderliche Tatsache, aber seien Sie überzeugt, daß es jedermann schwer finden wird, mich zu reizen. Und konnte sie glauben«, fügte Mr. Pecksniff, die Hand fester anfassend, neckisch hinzu, »daß sie dazu imstande sein werde?! Wie wenig kennt sie mein Herz.«
Das war allerdings richtig! Marys Gefühl war so seltsam beschaffen, daß sie die Liebkosungen einer Kröte oder Natter, vielleicht sogar die Umarmung eines Bären Mr. Pecksniffs Zärtlichkeit vorgezogen haben würde.
»Nun, nun, nun«, fuhr der Treffliche fort, »ein paar Worte werden alles wieder ins Gleichgewicht bringen und das beste Einverständnis zwischen uns herstellen. Nein, ich bin Ihnen nicht böse, meine Liebe.«
»Sie nicht böse!«
»Nein«, versicherte Mr. Pecksniff, »ich bin es nicht, Sie dürfen mir’s aufs Wort glauben. Und auch Sie sind es mir nicht.«
An seinem Arme aber pochte ein Herz, das ein anderes Lied sang. – »Ich bin überzeugt, Sie sind es nicht«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »und ich will Ihnen den Grund sagen, warum. Es gibt zwei Martin Chuzzlewits, meine Liebe, und wenn Sie aus Übereilung und Zorn dem einen etwas sagen, so kann man nicht wissen, was für ernste Folgen das für den andern haben könnte. Sie wünschen doch dem jüngeren von beiden nicht zu schaden, wie?«
Mary zitterte heftig und blickte Mr. Pecksniff mit so stolzer Verachtung an, daß er seine Augen abwandte – ohne Zweifel bloß, um nicht gegen die Überzeugung seines bessern Selbsts sich von ihr beleidigt zu fühlen.
»Ein schlecht begrabener Zwist, mein Herzchen, kann sich leicht in lodernden Haß verwandeln, bedenken Sie das«, fuhr der Treffliche langsam fort. »Es wäre gewiß höchst bedauerlich, einem beinahe enterbten jungen Mann in seinen auf sehr schwachen Füßen stehenden Aussichten noch mehr zu schaden, aber wie leicht ist das getan. Ach, wie leicht! Sie glauben, ich hätte wirklich Einfluß auf unsern verehrungswürdigen Freund? Nun, vielleicht ist es so – vielleicht ist es so.« Dabei erhob er seinen Blick zu dem ihrigen und nickte ihr mit einer wahrhaft bezaubernd neckischen Miene zu.
»Nein«, schloß er gedankenvoll, »an Ihrer Stelle, mein süßes Herzchen, würde ich um alles in der Welt mein Geheimnis für mich behalten. Ich bin durchaus nicht überzeugt – bin im Gegenteil weit davon entfernt –, ob es überhaupt unsern Freund überraschen würde. Er und ich haben erst diesen Morgen ein Gespräch miteinander gehabt, und er verlangt sehnlichst, höchst sehnlich danach, Sie entsprechend versorgt zu wissen. Wie dem übrigens auch sein mag, die Folgen Ihrer Mitteilung würden stets dieselben bleiben und Martin junior könnte dadurch ernstlich zu Schaden kommen. Sie wissen, ich bemitleide Martin junior«, säuselte Pecksniff mit überzeugendem Lächeln. »Obgleich er es nicht verdient, so empfinde ich dennoch Mitleid mit ihm.«
Mary weinte jetzt so bitterlich und war so betrübt, daß der Treffliche es für geraten hielt, sie von seiner Umarmung zu befreien und bloß an der Hand zu halten.
»Was unsern eigenen Anteil an diesem kostbaren Geheimnisse betrifft, so wollen wir’s für uns behalten, nur unter uns besprechen, und Sie werden sich die Sache überlegen. Ich weiß, mein Herz, Sie werden mir recht geben; ich weiß es bestimmt. Denken Sie jetzt, wie Sie wollen, darüber, aber Sie werden es tun. Ich glaube mich zu erinnern – ich weiß in der Tat nicht mehr, wo oder wie ich es gehört habe«, setzte Pecksniff mit bezaubernder Offenherzigkeit hinzu, »daß Sie und Martin junior in kindlichem Alter eine Art von zärtlicher Zuneigung zueinander empfanden. Wenn wir einmal verheiratet sind, werden Sie mit Vergnügen daran zurückdenken, daß diese Liebe zu Martins Bestem nicht weitergedauert hat, sondern zu seinem Heil und zu seinem Vorteil im Sande verlief. Und dann wollen wir sehen, was wir tun können, um Martin junior mit einer Kleinigkeit im Leben weiterzuhelfen. Habe ich also wirklich einigen Einfluß bei unserm verehrungswürdigen Freund? – Nun, vielleicht ist es so, wer weiß.«
Das Gehölz, in dem dieses zärtliche Gespräch geführt wurde, stieß dicht an Mr. Pecksniffs Haus. Sie waren jetzt so nahe davor, daß er stehenblieb, Marys kleinen Finger nahm und in scherzhaftem Tone wie zum Abschied sagte:
»Soll ich hineinbeißen?«
Da er keine Antwort erhielt, küßte er den Finger, beugte sich nieder, neigte sein aufgedunsenes, welkes Gesicht zu Mary herab und entließ sie gnädigst mit einem Segenswunsch, der aus einem solchen Munde vollständig hinreichen mußte, sie von Stund an für ihr ganzes übriges Leben glücklich zu machen.
Galanterie im wahren Sinne des Wortes soll einen Mann erheben und veredeln, und wirklich hat die Liebe schon so manchen Cimon verschönt, aber an Mr. Pecksniff schien sie, vielleicht weil sie für ein so erhabenes Wesen eine gar zu irdische Erscheinung war, keine ungewöhnliche Veränderung hervorzubringen. Im Gegenteil, er schien sich in sich selbst verkriechen zu wollen und unglücklich darüber zu sein, daß es ihm nicht recht gelingen wollte, sich schön zu fühlen. Seine Schuhe schienen ihm zu groß, seine Ärmel zu lang, seine Haare zu schütter, sein Hut zu klein, seine Züge zu ordinär. Sein bloßer Hals kam ihm vor, als würde ihm ein Strick ausgezeichnet stehen. Einige Minuten lang wurde ihm abwechselnd heiß und kalt; – er fühlte sich beklommen, blamiert, kurz, alles, nur nicht pecksniffisch. Aber bald faßte er sich wieder und lenkte mit so wohlwollender Miene seine Schritte dem Hause zu, als sei er der Hohepriester der Sommermorgenfeier gewesen.
Mit den Worten: »Ich habe bereits alles für meine morgige Abreise vorbereitet«, empfing ihn Charitas.
»So bald gedenkst du mich zu verlassen, mein Kind?«
»Unter den bewußten Umständen kann ich nicht bald genug fortkommen«, versetzte Charitas. »Ich habe an Mrs. Todgers geschrieben, mir die näheren Bedingungen eines Unterkommens für mich anzugeben, und habe sie gebeten, mich jedenfalls an der Postkutsche zu erwarten, wenn ich ankomme. – Sie werden jetzt ganz Ihr eigener Herr sein, Mr. Pinch.«
– Mr. Pecksniff hatte einen Augenblick das Zimmer verlassen, und Tom war eingetreten. –
»Mein eigener Herr?« wiederholte Tom.
»Ja. Es wird niemand mehr in Ihre Verhältnisse eingreifen, wenigstens hoffe ich das. Hem! Was für eine wandelbare Welt unser Erdenleben doch ist!«
»Wie? Wollen – wollen Sie sich auch verheiraten, Miss Pecksniff?« fragte Tom höchlichst überrascht.
»Das nicht gerade«, stotterte Cherry. »Ich bin noch zu keinem Entschluß gekommen, – obschon ich glaube, daß ich’s könnte, wenn ich wollte, Mr. Pinch.« »Natürlich können Sie es«, versicherte Tom und sagte damit die volle Wahrheit, denn er glaubte tief innerlich fest daran.
»Nein«, sagte Cherry, »mir ist’s nicht ums Heiraten zu tun, denn es hat mir bisher noch keiner gefallen. – Hm! – Aber ich will nicht mehr länger bei Papa bleiben. Ich habe gewisse Gründe dazu, die jedoch vorderhand noch ein Geheimnis bleiben müssen. Ich versichere Ihnen, daß ich Ihrer stets in Freundschaft gedenken werde, schon um des Mutes willen, den Sie in jener Nacht bewiesen haben. Was also Sie und mich betrifft, so scheiden wir als die besten Freunde.«
Tom dankte ihr für ihre Freundschaft und ihr Vertrauen, obwohl sie so geheimnisvoll tat, daß es ihn förmlich verwirrte. In seiner unbegrenzten Zuneigung zu der Familie hatte er schon Gratias Verlust lebhafter empfunden, als irgendein Mensch begreifen konnte, der nicht wußte, daß Pinch die Ursachen aller erlittenen Kränkungen nur seinem eigenen Mangel an Verdiensten zuschrieb. Er hatte sich kaum in den Abgang der jüngeren Schwester hineinfinden können, und nun sollte er auch noch erleben, daß er Charitas verlor! Sie war sozusagen unter seinen Augen aufgewachsen. Beide Schwestern bildeten einen Teil von Mr. Pecksniff und einen Teil von ihm – waren die Mittelpunkte von Mr. Pecksniffs Liebe und seinen eigenen Dienstleistungen. Nein, das war zu viel! – Vor lauter Brüten über diese schrecklichen Veränderungen konnte Tom in der nächsten ganzen Nacht kaum zwei Stunden schlafen. Als der Morgen graute, meinte er, er müsse von Unmöglichkeiten geträumt haben; aber nein, als er die Treppe hinunterging, sah er mit eigenen wachen Augen, daß die Koffer gepackt, die Hutschachteln zusammengeschnürt und andere Vorbereitungen, die den ganzen Tag in Anspruch nahmen, für Miss Charitas‘ Abreise getroffen wurden.
Als die Zeit des Abschieds gekommen war, legte Miss Charitas die Haushaltsschlüssel mit großer Würde auf den Tisch, sagte dem ganzen Hause Lebewohl und verließ ihr väterliches Heim – zur heimlichen Wonne des Dienstmädchens, das, wie gewisse Lästerzungen später behaupteten, am nächsten Sonntagsgottesdienst deswegen ein besonders inniges Dankgebet zum Himmel schickte.