Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

Reisegenossen

»Hört man heute nichts mehr von dem gestrigen Geheul da drüben, Sir?«

»Ich habe nichts gehört.«

»Dann können Sie sicher sein, daß auch keines mehr ist. Wenn diese Leute heulen, so heulen sie, daß man es hören soll.«

»Das tun die meisten Menschen, glaube ich.«

»Aber diese Leute heulen in einem fort. Sie sind sonst nicht glücklich.«

»Meinen Sie die Marseiller?«

»Ich meine die Franzosen. Sie können es keinen Augenblick lassen. Was Marseille betrifft, so wissen wir, was Marseille ist. Es hat die aufrührerischste Melodie,1 die jemals komponiert wurde, in die Welt geschickt. Es könnte nicht existieren, ohne zu irgend etwas zu demonstrieren oder marschieren – zum Sieg oder Tod, zum Aufruhr oder zu sonst etwas.«

Der Sprecher, dessen Gesicht von wunderlich guter Laune zeugte, sah mit der größten Geringschätzung über die Brustwehr auf Marseille nieder, und dann eine entschlossene Haltung annehmend, indem er seine Hände in die Taschen steckte und mit seinem Geld rasselte, redete er die Stadt mit kurzem Lachen an:

»Allons, marschons, jawohl.2 Es wäre anständiger für dich, meine ich, wenn du andre Leute in ihrem rechtmäßigen Geschäfte alliieren und marschieren ließest, statt sie in die Quarantäne zu sperren!«

»Langweilig genug ist’s«, sagte der andere. »Aber wir werden heute entlassen.«

»Heute entlassen!« wiederholte der erste. »Es ist beinahe eine Erschwerung des Frevels, daß wir heute entlassen werden. Entlassen! Warum waren wir überhaupt eingesperrt?«

»Ich muß zugestehen, aus keinem triftigen Grunde! Da wir jedoch aus dem Orient kommen und der Orient die Heimat der Pest ist –«

»Der Pest!« wiederholte der andere. »Das ist eben mein Kummer. Ich habe beständig die Pest gehabt, seitdem ich hier bin. Mir ist wie einem Vernünftigen, den man in ein Irrenhaus sperrt; ich kann den Verdacht nicht ertragen. Ich kam so wohl und gesund hierher, wie ich je in meinem Leben gewesen, aber mich im Verdacht der Pest haben, heißt mir die Pest in den Leib jagen. Und ich hatte sie – und ich habe sie noch.«

»Sie sehen gut dabei aus, Mr. Meagles«, sagte der Teilnehmer an dem Gespräch lächelnd.

»Nein. Wenn Sie die wirkliche Sachlage kennten, so würde es Ihnen nicht in den Sinn kommen, die letztere Bemerkung zu machen. Ich bin eine Nacht um die andere aufgewacht und habe zu mir gesagt: jetzt habe ich sie, jetzt hat sie sich entwickelt, jetzt hat sie mich gepackt, jetzt haben die Burschen die Sache ausfindig gemacht und treffen ihre Vorsichtsmaßregeln. Wahrhaftig, ich möchte ebenso gern mit einer Nadel durch den Leib in einer Käfersammlung auf eine Papiertafel gesteckt sein, als das Leben führen, das ich hier geführt habe.«

»Nun, Mr. Meagles, sprechen wir nicht weiter davon, da es jetzt vorüber ist«, bat eine freundliche weibliche Stimme.

»Vorüber!« wiederholte Mr. Meagles, der, ohne alle Bösartigkeit, in jener eigentümlichen Stimmung zu sein schien, in der es uns immer wie eine neue Beleidigung vorkommt, wenn ein anderer das letzte Wort behält. »Vorüber! Und weshalb sollte ich nichts mehr darüber sagen, wenn es vorüber ist!«

Es war Mrs. Meagles, die Mr. Meagles angeredet hatte; und Mrs. Meagles war wie Mr. Meagles wohl und gesund; sie hatte ein angenehmes englisches Gesicht, das fünfundvierzig Jahre und mehr auf ein schlichtes einfaches Dasein geblickt und einen heiteren hellen Glanz über alles gegossen.

»Nun! Denke nicht mehr daran, Vater, denke nicht mehr daran!« sagte Mrs. Meagles. »Um der Güte willen, sei zufrieden mit Pet.«

»Mit Pet?“ erwiderte Mr. Meagles, und die Stirnader schwoll ihm. Pet aber, die dicht hinter ihm stand, tätschelte ihm auf die Schulter, und Mr. Meagles verzieh auf der Stelle Marseille vom Grund seines Herzens.

Pet war ungefähr zwanzig Jahre alt. Ein hübsches Mädchen mit reichem braunen Haar, das in natürlichen Locken um ihr Gesicht fiel. Ein liebliches Wesen, mit offenem Antlitz und wundervollen Augen, so groß, so sanft, so glänzend, so vollkommen mit ihrem anmutigen, freundlichen Gesicht harmonierend. Sie war rund und frisch, voll Grübchen; freilich etwas verzogen, aber sie besaß dabei doch in ihrem Wesen etwas Schüchternes und Abhängiges, was die beste Schwäche von der Welt war und ihr den einzigen höheren Reiz verlieh, den ein so hübsches und angenehmes Wesen entbehren konnte.

»Nun frage ich Sie«, sagte Mr. Meagles mit der schmeichelhaftesten Vertraulichkeit, indem er einen Schritt zurücktrat und seine Tochter einen Schritt vorschob, um seine Frage zu flüstern: »Ich frage Sie einfach, wie ein vernünftiger Mann den andern, haben Sie je von einem so verdammten Unsinn gehört wie der, Pet in die Quarantäne zu sperren?«

»Es hatte wenigstens die gute Folge, daß selbst die Quarantäne dadurch erfreulich wurde.«

»So!« sagte Mr. Meagles, »das ist allerdings etwas. Ich bin Ihnen für diese Bemerkung dankbar. Aber Pet, mein liebes Kind, du würdest jetzt besser tun, wenn du mit der Mutter gingest und dich für das Boot fertig machtest. Der Gesundheitsbeamte und eine Menge von Narren mit aufgekrempten Hüten werden kommen, um uns endlich hier herauszulassen. Wir gefangenen Vögel alle werden zusammen wieder in annähernd christlicher Weise frühstücken, ehe jeder nach seinem Bestimmungsort von dannen flieht. Tattycoram, gehe deiner jungen Herrin nicht von der Seite.«

Er richtete diese letzten Worte an ein hübsches Mädchen mit glänzend dunklem Haar und Augen, das sehr nett angezogen war und mit flüchtiger Verbeugung antwortete, während es im Gefolge von Mrs. Meagles und Pet vorüberging. Sie schritten alle drei über die kahle, sengend heiße Terrasse und verschwanden in einem grellweißen Torweg. Mr. Meagles‘ Reisegenosse, ein großer gebräunter Mann von vierzig Jahren, stand noch immer nach dem Torweg blickend da, als sie bereits längst verschwunden waren, bis ihn endlich Mr. Meagles auf den Arm klopfte.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er und erwachte aus seinen Träumereien.

»Keine Ursache«, sagte Mr. Meagles.

Sie gingen im Schatten an der Mauer schweigend auf und nieder und genossen auf der Höhe, wo die Quarantänebaracken liegen, die kühle Frische der Seeluft, soweit solche morgens um sieben Uhr vorhanden war. Mr. Meagles‘ Reisegenosse nahm das Gespräch wieder auf.

»Darf ich Sie fragen«, sagte er, »was bedeutet der Name –«

»Tattycoram?« fiel Mr. Meagles ein. »Ich habe nicht die mindeste Idee –«

»Ich meinte«, sagte der andere, »daß –«

»Tattycoram«, ergänzte Mr. Meagles abermals.

»Danke – daß Tattycoram ein Name sei; und ich habe mich häufig über seine Seltsamkeit gewundert.«

»Nun, die Sache ist die«, sagte Mr. Meagles, »Mrs. Meagles und ich, müssen Sie wissen, sind praktische Leute.«

»Das haben Sie des öfteren im Lauf unserer angenehmen und interessanten Gespräche während der Spaziergänge auf diesem Pflaster erwähnt«, sagte der andere, indem ein flüchtiges Lächeln durch den Ernst seines braunen Gesichts brach.

»Praktische Leute! Als wir nun eines Tages, vor ungefähr fünf oder sechs Jahren, Pet mit in die Kirche des Findelspitals in London nahmen – Sie hörten doch schon von dem Findelspital in London? Es ist dem Findelhaus in Paris ähnlich.«

»Ich habe es gesehen.«

»Nun gut! Als wir Pet einst mit in jene Kirche nahmen, um dort Musik zu hören – weil wir es als praktische Leute für unsere Aufgabe halten, ihr alles zu zeigen, was ihr Freude machen kann –, fing die Mutter (mein gewöhnlicher Name für Mrs. Meagles) so zu weinen an, daß ich sie hinausbringen mußte. ›Was gibt es, Mutter?‹ sagte ich, als wir etwas mit ihr gegangen waren, ›du erschreckst Pet, meine Liebe‹ – ›Ich weiß es wohl, Vater‹, sagte die Mutter, ›aber ich glaube, gerade weil ich sie so innig liebe, ist es mir in den Sinn gekommen‹ – ›Was kam dir denn in den Sinn, Mutter?‹ – ›O Gott!‹ rief die Mutter, wiederum in Tränen ausbrechend, ›als ich all diese Kinder in Reihen übereinander sitzen und von dem Vater auf Erden, den keines von ihnen je gesehen, sich an den größeren Vater von uns allen im Himmel wenden sah, da dachte ich: Kommt wohl auch einmal eine unglückliche Mutter hierher und sieht sich unter diesen jungen Gesichtern um, neugierig, welches das arme Kind sein möchte, das sie in diese verlassene Welt gebracht, damit es niemals in seinem ganzen Leben ihre Liebe, ihren Kuß, ihr Gesicht, ihre Stimme, ja nicht einmal ihren Namen kennenlernen soll?‹ Das war doch sehr praktisch von der Mutter, und ich sagte ihr es. Ich sagte nämlich: ›Mutter, das nenne ich praktisch!‹

Der andere stimmte ihm nicht ohne Rührung bei.

»So sagte ich am nächsten Tag: Ich habe dir einen Vorschlag zu machen, Mutter, den du sicher billigen wirst. Laß uns eins von den Kindern zu uns nehmen: es kann Pet Gesellschaft leisten. Wir sind praktische Leute. Wenn wir deshalb ihr Temperament etwas mangelhaft oder in irgendeiner Weise ihre Gewohnheiten von den unsern abweichend finden, so werden wir wissen, was wir in dieser Richtung in Rechnung zu stellen haben. Wir wissen, wie ungeheuer viel von all den Einflüssen und Erfahrungen, die persönlichkeitsbildend für uns waren, abgezogen werden muß – keine Eltern, kein Brüderchen oder Schwesterchen, keine wirkliche Heimat, kein gläserner Pantoffel oder keine Feenpatin!3 Und auf diese Weise kamen wir zu Tattycoram.«

»Und der Name selbst –«

»Bei St. Georg!« sagte Mr. Meagles, »ich vergaß den Namen. Nun, sie hieß in der Anstalt Harriet Beadle – natürlich ein willkürlich erfundener Name. Nun änderten wir Harriet in Hatty ab und dann in Tatty, weil wir als praktische Leute dachten, ein scherzhafter Name sei etwas Neues für sie und müsse einen wohltuenden und gewinnbringenden Eindruck auf sie machen, nicht wahr? Was nun den Namen Beadle betrifft, so brauche ich kaum zu sagen, daß er ganz außer dem Spiele blieb. Wenn es etwas gibt, was unter keiner Form zu ertragen ist, etwas, was der Typus amtswichtiger Anmaßung und Abgeschmacktheit ist, etwas, was in Röcken und Westen und dicken Stöcken unser englisches Festhalten am Unsinn, über den jedermann sonst hinaus ist, repräsentiert, so ist es ein Beadle (Kirchendiener). Haben Sie in letzter Zeit keinen Kirchendiener gesehen?«

»Als ein Engländer, der mehr als zwanzig Jahre in China war, nein!«

»Dann«, sagte Mr. Meagles, indem er seinen Zeigefinger mit großer Lebhaftigkeit auf seines Reisegenossen Brust legte, »dann weichen Sie jedem Kirchendiener, wo Sie nur können, aus. Wenn ich Sonntags einen Kirchendiener in vollem Staat an der Spitze einer Armenschule die Straße entlang kommen sehe, so muß ich umkehren und Reißaus nehmen; sonst würde ich ihm sicher eins versetzen. Da, wie gesagt, der Name Beadle ganz aus dem Spiele blieb und der Gründer der Anstalt für die armen Findlinge ein segensreicher Mann mit Namen Coram war, so gaben wir Pets kleiner Gespielin diesen Namen. Bald hieß sie nun Tatty, bald Coram, bis wir endlich beide Namen verbanden, und nun heißt sie immer Tattycoram.«

»Ihre Tochter«, sagte der andere, als sie wieder schweigend auf und ab gegangen und, nachdem sie einen Augenblick über der Mauer nach der See hinabgeblickt, ihren Spaziergang wieder begonnen: »Ihre Tochter ist Ihr einziges Kind, nicht wahr, Mr. Meagles? Darf ich wohl fragen – nicht aus unzarter Neugier, sondern weil es mir in Ihrer Gesellschaft so wohl gefallen, ich vielleicht nie wieder in diesem Labyrinth der Welt ein ruhiges Wort mit Ihnen sprechen kann und mir eine klare Erinnerung von Ihnen und den Ihren zu bewahren wünsche –, darf ich Sie fragen, habe ich nicht mit Recht aus den Worten Ihrer guten Frau geschlossen, daß sie noch andere Kinder gehabt?«

»Nein, nein«, sagte Mr. Meagles. »Nicht gerade andere Kinder. Nur ein anderes Kind.«

»Ich fürchte, ich habe unabsichtlich ein zu zartes Thema berührt.« »Es hat nichts zu sagen«, versetzte Nr. Meagles. »Wenn es mich ernst macht, so verursacht es mir doch nicht gerade Schmerzen. Ich werde vielleicht für einen Augenblick still, aber es macht mich nicht unglücklich. Pet hatte eine Zwillingsschwester, die starb, als wir gerade ihre Augen – ganz Pets Augen – über dem Tische sehen konnten, wenn sie auf den Zehen stand und sich an der Tischkante festhielt.«

»Wirklich? O, in der Tat?«

»Ja, und da wir praktische Leute sind, bildete sich nach und nach eine Vorstellung in Mrs. Meagles und mir, die Sie vielleicht verstehen werden – vielleicht auch nicht. Pet und ihre Zwillingsschwester sahen sich so außerordentlich ähnlich und waren so vollkommen eins, daß wir sie seitdem nicht mehr in unsern Gedanken trennen konnten. Es hätte fortan nichts genützt, wenn wir uns auch gesagt, unser totes Kind sei ein bloßes Kind geblieben. Dies Kind hat sich mit den Veränderungen des uns gebliebenen Kindes verändert und war uns immer nahe. Wie Pet wuchs, so wuchs auch dieses Kind; wie Pet verständiger und jungfräulicher wurde, so wurde auch ihre Schwester verständiger und jungfräulicher – alles in denselben Abstufungen. Man würde mich ebenso schwer überzeugen können, daß, wenn ich morgen in die andere Welt käme, ich nicht durch die Gnade Gottes von einer Tochter geradeso wie Pet empfangen werden sollte, wie man mich davon überzeugen könnte, daß Pet neben mir keine reelle Existenz sei.«

»Ich verstehe Sie«, sagte der andere freundlich.

»Was meine Tochter betrifft«, fuhr ihr Vater fort, »so hat der plötzliche Verlust ihres kleinen Ebenbildes und Gespielin und ihre frühzeitige Berührung mit jenem Mysterium, an dem wir alle unsern gleichen Teil haben, das aber nicht immer einem Kind so schroff entgegentritt, notwendigerweise einigen Einfluß auf ihren Charakter gehabt. Dann waren ihre Mutter und ich nicht mehr jung, als wir heirateten, und Pet führte immer das Leben von Erwachsenen mit uns, obgleich wir uns bemühten, uns ihrem kindlichen Ideenkreis anzuschmiegen. Da sie etwas kränklich war, so gab man uns mehr als einmal den Rat, sie sooft wie möglich in ein anderes Klima und in eine andere Luft zu bringen – namentlich in dem Alter, in dem sie jetzt steht – und ihr viel Zerstreuung zu schaffen. Und da ich es nun nicht mehr nötig habe, hinter dem Kontorpult zu stehen (obgleich ich früher sehr arm war, sonst hätte ich wahrhaftig Mrs. Meagles weit früher geheiratet), so reisen wir jetzt in der Welt umher. Aus diesem Grunde fanden Sie uns am Nil und bei den Pyramiden, bei den Sphinxen und in der Wüste und so weiter und so weiter; deshalb wird Tattycoram auch mit der Zeit eine größere Reisende als Kapitän Cook sein.«

»Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Vertrauen«, sagte der andere.

»Bitte sehr«, entgegnete Mr. Meagles, »es ist gerne geschehen. Und nun, Mr. Clennam, darf ich Sie wohl fragen, ob Sie schon zu einem Entschluß über Ihr nächstes Reiseziel gekommen sind?«

»Wahrhaftig, nein. Ich bin ein so herren- und willenloser Weltfahrer, daß ich mich von jeder Strömung forttreiben lasse.«

»Es kommt mir seltsam vor – entschuldigen Sie meine Freiheit, mit der ich das sage –, daß Sie nicht direkt nach London gehen«, sagte Mr. Meagles in dem Ton vertraulichen Rates.

»Vielleicht werde ich es doch wohl tun.«

»Ah! aber ich meine mit einem festen Ziel.«

»Ich habe kein Ziel. Das heißt«, dabei errötete er ein wenig, »beinahe keines, auf das ich hinarbeiten könnte. Von bloßer Gewalt erzogen; gebrochen, nicht gebeugt; festgekettet an einen Gegenstand, wegen dessen man mich nie befragte und der nie meines Herzens Sache war; an das andere Ende der Welt versetzt, ehe ich noch mündig geworden, und dorthin verbannt bis zu meines Vaters Tode, der vor einem Jahre eingetreten; immer in einer Mühle mahlend, die ich stets gehaßt; was kann man im reifen Mannesalter von mir erwarten? Willen, Absicht, Hoffnung! Alle diese Lichter sind in mir ausgelöscht worden, ehe ich ihre Namen aussprechen konnte.«

»Zünden Sie sie wieder an!« sagte Mr. Meagles.

»Ach! das ist leicht gesagt. Ich bin der Sohn eines harten Vaters und einer harten Mutter, Mr. Meagles. Ich bin das einzige Kind von Eltern, die alles wogen, maßen und abschätzten, für die, was nicht gewogen, gemessen und abgeschätzt werden konnte, keinen Wert hatte. Strenggläubige Leute, wie man es nennt. Bekenner einer finstern Religion, so daß selbst ihre Religion ein düstres Opfer von Neigungen und Sympathien war, die ihnen nicht eigen und die sie als Kaufsumme für die Sicherheit ihrer Besitztümer darbrachten. Strenge Gesichter, unerbittlich strenge Zucht, Buße in dieser Welt und Schrecken in der nächsten – nirgends ein Schimmer von sanfter Milde und Barmherzigkeit, und in meinem gebeugten Herzen öde Leere überall –, das war meine Kindheit, wenn es nicht ein Mißbrauch ist, dieses Wort auf einen solchen Lebensanfang anzuwenden.«

»Wirklich?« fragte Mr. Meagles, den das Bild, das vor seine Phantasie geführt wurde, in eine sehr unbehagliche Stimmung versetzte. »Das war ja ein schrecklicher Lebensanfang. Aber raffen Sie sich auf. Sie müssen nun auf jede Weise suchen, alles, was darüber hinausliegt, als praktischer Mann zu nützen.«

»Wenn die Leute, die man gewöhnlich praktisch nennt, in Ihrer Weise praktisch wären –«

»Nun, das sind sie auch!« sagte Mr. Meagles.

»Wirklich?«

»Ich denke wohl«, entgegnete Mr. Meagles, darüber nachsinnend. »Hm! Man muß praktisch sein, und Mrs. Meagles und ich sind wirklich praktisch.«

»Mein ungekannter Weg ist vielleicht angenehmer und hoffnungsreicher, als ich erwartet hatte«, sagte Clennam, mit ernstem Lächeln den Kopf schüttelnd. »Genug von mir. Hier ist das Boot!«

Das Boot war mit aufgestülpten Hüten angefüllt, gegen die Mr. Meagles eine nationale Antipathie hatte. Die Träger dieser aufgestülpten Hüte landeten und kamen die Treppe herauf, und die eingesperrten Reisenden drängten sich auf einen Haufen zusammen. Dann brachten die aufgestülpten Hüte eine Menge Papiere hervor und verlasen die Namen, worauf unterschrieben, gesiegelt, gestempelt, überschrieben und gesandelt wurde, was alles sehr verwischte, sandige und unentzifferbare Resultate hatte. Endlich war das Ganze nach der Ordnung geschehen, und die Reisenden konnten gehen, wohin sie wollten.

In der neuen Freude der wiedergewonnenen Freiheit kümmerten sie sich wenig um das starre, grelle Licht und den Glanz, der das Auge blendete, sondern fuhren in bunten Booten über den Hafen und fanden sich wieder in einem Hotel zusammen, von dem die Sonne durch geschlossene Läden abgehalten wurde, und wo nackte steinerne Böden, hohe Decken und hallende Korridore die glühende Hitze mäßigten. Bald war eine lange Tafel in einem großen Saale mit einem köstlichen Mahle reich besetzt, und die Quarantäneherberge erschien inmitten dieser üppigen Gerichte, dieser südlichen Früchte, dieser gekühlten Weine, dieser Rivierablumen, des Gletscherschnees und der Spiegel, die alle Farben des Regenbogens widerstrahlten, in höchst dürftigem Lichte.

»Aber ich trage jetzt keinen Haß mehr gegen jene eintönigen Mauern im Herzen«, sagte Mr. Meagles. »Man beginnt sich immer mit einem Orte zu versöhnen, sobald man ihn im Rücken hat; ich möchte behaupten, ein Gefangener beginnt mild von seinem Gefängnis zu denken, wenn er freigelassen ist.«

Es waren ungefähr dreißig Personen bei Tisch und alle miteinander im Gespräch, natürlich in Gruppen. Vater und Mutter Meagles saßen, mit ihrer Tochter zwischen sich, am einen Ende des Tisches; gegenüber Mr. Clennam; ein großer französischer Herr mit rabenschwarzem Haar und Bart, gebräunt und von unheimlichem, ich will nicht sagen diabolischem Aussehen, der sich aber als der sanfteste Mensch von der Welt erwiesen; und eine junge hübsche Engländerin, die ganz allein reiste, mit einem stolzen beobachtenden Gesicht: sie hatte sich entweder selbst von den übrigen zurückgezogen oder wurde von ihnen gemieden –, niemand, außer vielleicht sie selbst, konnte darüber entscheiden. Die übrige Gesellschaft bestand aus den gewöhnlichen Elementen. Geschäfts- und Vergnügungsreisende; beurlaubte Offiziere aus Indien; Kaufleute, die nach Griechenland und der Türkei Handel trieben; ein jung verheirateter englischer Geistlicher in einer eng anliegenden Zwangsjoppe, auf der Hochzeitsreise mit seiner jungen Frau; ein majestätisches englisches Ehepaar von Patriziergeschlecht, mit einer Familie von drei heranwachsenden Töchtern, die zum Unheil ihrer Mitmenschen ein Tagebuch führten; und eine taube alte Engländerin, die mit ihrer entschieden erwachsenen Tochter auf Reisen steif geworden. Diese Tochter zog skizzierend durch die Welt, in der Hoffnung, sich zuletzt selbst in den Ehestand hineinzuschattieren.

Die zurückhaltende Engländerin nahm Mr. Meagles‘ letzte Bemerkung auf und sagte langsam und mit einer gewissen Betonung:

»Glauben Sie, daß ein Gefangener je seinem Gefängnis verzeihen würde?«

»Das war so meine Ansicht, Miß Wade. Ich behaupte nicht, bestimmt zu wissen, wie ein Gefangener fühlt. Denn ich war noch nie in solcher Lage.«

»Mademoiselle zweifeln«, sagte der Franzose in seiner Muttersprache, »daß es so leicht sei zu vergeben?«

»Allerdings.«

Pet mußte diese Worte für Mr. Meagles übersetzen, da er niemals sich Kenntnis von der Sprache der Länder, die er durchreiste, zu erwerben gesucht. »Oh!« sagte er. »Mein Gott! Das ist schlimm, sehr schlimm!«

»Daß ich nicht so leichtgläubig bin?»sagte Miß Wade.

»Nein, nicht so! Setzen Sie das Wort anders. Daß Sie nicht glauben wollen, es sei leicht zu vergeben.»

»Meine Erfahrung», entgegnete sie ruhig, »hat seit Jahren meinen Glauben in mancher Beziehung geändert. Das ist der natürliche Fortschritt, den wir machen, hat man mir versichert.»

»Wohl, wohl! Aber es ist nicht natürlich, Groll zu hegen, hoffe ich?»sagte Mr. Meagles freundlich.

»Wenn ich irgendwo zu Pein und Qual eingeschlossen gewesen, würde ich den Ort ewig hassen und ihn niederbrennen oder dem Boden gleichmachen zu können wünschen. Das ist meine Ansicht.«

»Etwas stark, Sir!« sagte Mr. Meagles zu dem Franzosen; denn es war gleichfalls eine seiner Gewohnheiten, Individuen aller Nationen in echtem Englisch anzureden, fest überzeugt, daß sie verpflichtet seien, es zu verstehen. »Etwas stark von unsrer schönen Freundin, das werden Sie mir hoffentlich zugestehen?«

Der Franzose erwiderte höflich: »Plait-il?»worauf Mr. Meagels mit großer Befriedigung antwortete: »Sie haben recht. Ganz meine Meinung.»

Als das Diner nach und nach ins Stocken geriet, hielt Mr. Meagles der Gesellschaft eine Rede. Sie war kurz und vernünftig genug, wenn man bedenkt, daß es eine Rede war, ja sogar herzlich. Sie ging darauf aus, daß der Zufall sie alle zusammengeführt und sie gutes Einverständnis untereinander erhalten. Nun aber sei die Scheidestunde herangerückt und es sei nicht wahrscheinlich, daß sie sich je wieder alle zusammenfinden würden. So könnten sie nichts Besseres tun, als einander mit einem gemeinschaftlichen Glas kühlen Champagners rings um die Tafel Lebewohl zu sagen und glückliche Reise zu wünschen. Dies geschah denn auch; mit allgemeinem Händeschütteln brach die Gesellschaft auf und schied für immer.

Die alleinstehende junge Dame hatte die ganze Zeit nichts gesprochen. Sie stand mit den übrigen auf und ging schweigend nach einem entfernten Winkel des großen Saals, wo sie sich auf dem Sofa in einer Fensternische niederließ und die Reflexe des Wassers zu beobachten schien, die mit silbernem Glanze auf den Stäben der Jalousien zitterten. Sie saß von der ganzen Länge des Zimmers abgekehrt da, als wäre sie aus eigner stolzer Wahl allein. Und doch war es so schwer wie je, positiv zu unterscheiden, ob sie die übrigen mied oder ob diese sie mieden.

Der Schatten, in dem sie saß, fiel wie ein düstrer Schleier über ihre Stirn und harmonierte sehr gut mit dem Charakter ihrer Schönheit. Man konnte das ruhige und übermütige Gesicht kaum sehen, das durch die geschwungenen dunklen Brauen und die dunklen Haarflechten gehoben wurde, ohne sich neugierig zu fragen, welchen Ausdruck es wohl annehmen würde, wenn eine Veränderung darüber hinginge. Daß es sanfter und freundlicher werden könnte, schien beinahe unmöglich. Dagegen mußte es auf die meisten Beobachter den Eindruck machen, daß es sich zu Zorn und wildem Trotz verdüstern könne und daß es in dieser Richtung sich ändern müßte, wenn es sich überhaupt veränderte. Es war nicht dazu abgerichtet und zugestutzt, irgendeinen bloß zeremoniösen Ausdruck anzunehmen. Obgleich kein offnes Gesicht, war es doch auch keine Maske. Ich bin ich selbst und vertraue nur auf mich. Eure Meinung gilt mir gleich; ich kümmere mich nicht um euch und höre und sehe mit Verachtung an, was ihr redet und tut – das sprach sich offen in diesem Gesicht aus. Das sagten diese stolzen Augen, diese emporgezogenen Nasenflügel, dieser schöne, aber zusammengepreßte und sogar grausame Mund. Selbst wenn man zwei von diesen Quellen des Ausdrucks bedeckt haben würde, hätte der dritte allein noch dasselbe gesagt. Deckte man sie alle zu, so würde selbst die bloße Haltung des Kopfes eine unbeugsame Natur verraten haben.

Pet war zu ihr hinaufgegangen (das Fräulein war der Gegenstand der Bemerkungen für Pets Familie und Mr. Clennam gewesen, die allein im Saal zurückgeblieben) und stand nun neben ihr.

»Erwarten Sie hier jemanden, Miß Wade?« sagte Pet stotternd, als diese sich schon bei den ersten Worten nach ihr umwandte.

»Ich? Nein!«

»Vater schickt nach der Post. Werden Sie ihm das Vergnügen machen, daß er fragen lassen darf, ob keine Briefe für Sie angekommen?«

»Ich danke, aber ich weiß, daß keine solchen hier sein können.«

»Wir fürchten«, sagte Pet schüchtern und halb zärtlich, indem sie sich neben sie setzte, »daß Sie sich sehr verlassen fühlen werden, wenn wir alle fort sind.«

»Wirklich?«

»Nicht etwas, sagte Pet entschuldigend, da sie ihre Blicke verlegen gemacht, »nicht etwa, daß ich damit sagen wollte, wir seien eine Gesellschaft für Sie, oder daß wir glaubten, Sie unterhalten zu können, oder daß wir gar meinten, Sie wünschten das.«

»Ich hatte auch nicht die Absicht gehabt, einen solchen Wunsch zu bekunden.«

»Nein. Natürlich nicht. Aber – kurz«, sagte Pet, schüchtern ihre Hand berührend, die teilnahmlos zwischen ihnen auf dem Sofa lag, »wollen Sie dem Vater nicht gestatten, Ihnen irgendeinen kleinen Beistand oder Dienst zu leisten? Es würde ihn ungemein freuen.«

»Wirklich ungemein freuen«, sagte Mr. Meagles, mit seiner Frau und Mr. Clennam näher tretend. »Alles, mit Ausnahme des Französischsprechens, wird mir ein Vergnügen sein.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, entgegnete sie, »aber meine Arrangements sind bereits getroffen, und ich ziehe es vor, meinen eignen Weg und auf meine Weise zu gehen.«

»So?« sagte Mr. Meagles zu sich selbst und sah sie mit einem verdutzten Blick an. »Nun! Auch darin liegt Charakter.«

»Ich bin nicht an die Gesellschaft junger Damen gewöhnt und fürchte, ich möchte nicht imstande sein, Ihnen meine Verehrung so gut wie andere an den Tag legen zu können. Angenehme Reise!«

Sie hätte zweifelsohne ihre Hand nicht hingereicht, wenn Mr. Meagles nicht die seine so gerade vor sie hingehalten, daß sie nicht ausweichen konnte. Sie gab ihm die ihre, und sie lag so gleichgültig darin wie auf dem Sofa.

»Leben Sie wohl!« sagte Mr. Meagles. »Das ist das letzte Lebewohl auf der Liste; denn Mutter und ich haben gerade von Mr. Clennam Abschied genommen, und er wartet nur, um Pet Lebewohl zu sagen. Adieu. Wir sehen uns vielleicht nie wieder.«

»Auf unsrem Wege durchs Leben werden wir den Leuten begegnen, die uns zu begegnen voraus bestimmt sind, sie mögen kommen, woher sie wollen und auf welchem Wege sie wollen«, lautete die gefaßte Antwort, »und was uns bestimmt ist, daß wir ihnen tun sollen, und was ihnen bestimmt ist, daß sie uns tun sollen, das wird alles sicher geschehen.«

Es lag etwas in dem Ton dieser Worte, was Pets Ohr unangenehm berührte. Sie schienen sagen zu wollen, daß, was geschehen müsse, notwendig schlimm sei, und sie sagte unwillkürlich flüsternd: »O Vater!« und hing sich in ihrer kindisch verzogenen Weise fester an ihn. Der Sprecherin entging dies nicht.

»Ihre hübsche Tochter«, sagte sie, »erschrickt bei dem Gedanken. Aber«, fuhr sie fort und sah sie dabei lebhaft an, »Sie dürfen überzeugt sein, daß bereits Männer und Frauen unterwegs sind, die mit Ihnen zu tun haben werden und denen Sie nicht ausweichen können. Sie dürfen sich darauf verlassen, sie werden hundert, tausend Meilen übers Meer kommen; sie sind Ihnen vielleicht schon ganz nahe; sie kommen vielleicht, ohne daß Sie etwas davon wissen oder es zu verhindern etwas tun können, aus dem schlechtesten Kehricht dieser Stadt.«

Mit dem kältesten Lebewohl und mit einem gewissen überdrüssigen Ausdruck, der ihrer Schönheit, obgleich sie kaum in voller Blüte stand, einen Schein von Abgelebtheit gab, verließ sie das Zimmer.

Sie mußte über viele Treppen und Gänge gehen, wenn sie von diesem Teil des geräumigen Hauses nach dem Zimmer kommen wollte, das sie sich genommen. Als sie ihre Wanderung beinahe beendet hatte und durch den Gang ging, in dem sich ihr Zimmer befand, hörte sie ein ungestümes Murren und Seufzen. Eine Tür stand offen, und sie sah darin die Gesellschafterin des Mädchens, das sie soeben verlassen, die Zofe mit dem seltsamen Namen.

Sie blieb stehen, um sich die Zofe zu betrachten. Ein finstres, leidenschaftliches Mädchen! Ihr reiches schwarzes Haar hing über das Gesicht herein; dieses war gerötet und glühend, und während sie schluchzte und tobte, zupfte sie mit schonungsloser Hand an den Lippen.

»Selbstsüchtige rohe Menschen!« sagte das Mädchen seufzend und zuweilen tief aufatmend. »Kümmern sich nicht darum, was aus mir wird! Lassen mich hier hungern und dürsten und lassen mich elend verschmachten, ohne nach mir zu fragen! Bestien! Teufel! Scheusale!«

»Mein armes Mädchen, was ist Ihnen?«

Sie sah plötzlich mit geröteten Augen auf und ließ die Hände, die eben noch den durch große rote Blutflecken entstellten Hals zerfleischen wollten, sinken. »Das geht Sie nichts an, wie mir ist. Es geht niemanden etwas an.«

»O doch! Ihr Anblick schmerzt mich.«

»Sie haben keinen Schmerz«, sagte das Mädchen. »Sie sind vergnügt. Ja, Sie sind darüber vergnügt. Nur zweimal war ich drüben in der Quarantäne in diesem Zustand; und beide Male fanden Sie mich. Ich fürchte mich vor Ihnen.«

»Fürchten, und vor mir?«

»Ja. Sie erscheinen mir immer wie meine Wut, meine Bosheit, meine – was weiß ich. Aber ich werde mißhandelt, ich werde mißhandelt, ich werde mißhandelt.« Hier fing das Schluchzen und Weinen und das Zerfleischen mit der Hand, das seit der ersten Überraschung aufgehört hatte, wieder an.

Die Fremde betrachtete sie mit einem seltsam aufmerksamen Lächeln. Es war erstaunlich, zu sehen, welcher Kampf im Innern des Mädchens vorging und wie sie sich körperlich marterte, als ob sie von Dämonen zerrissen würde.

»Ich bin zwei oder drei Jahre jünger als sie, und doch muß ich alles für sie tun, als ob ich älter wäre, und sie ist es, die immer geliebkost und liebes Kind genannt wird! Ich verabscheue ihren Namen. Ich hasse sie. Sie machen eine Närrin aus ihr, sie verzärteln sie. Sie denkt nur an sich, denkt nicht mehr an mich, als wenn ich ein Stock oder Stein wäre.« So ging es fort.

»Sie müssen Geduld haben.«

»Ich will keine Geduld haben!«

»Wenn sie sich viel um sich kümmern und wenig oder gar nicht um Sie, so müssen Sie nicht darauf achten.«

»Ich will aber darauf achten.«

»St! Reden Sie klüger. Sie vergessen Ihre abhängige Stellung.«

»Was kümmere ich mich darum! Ich laufe fort. Ich will irgendein Unheil anrichten! Ich kann es nicht länger ertragen; ich will es nicht länger ertragen; ich würde sterben, wenn ich’s zu ertragen suchte!«

Die Fremde stand, die Hand auf die Brust gelegt, an der Tür und betrachtete das Mädchen wie ein Mensch, der einen kranken Körperteil hat und neugierig an der Sektion und Erörterung eines analogen Falles teilnimmt.

Das Mädchen wütete und rang mit aller Jugendkraft und allem Lebenstemperament, bis nach und nach ihre leidenschaftlichen Ausbrüche in ein gebrochenes Murren übergingen, als ob der Schmerz die Oberhand über sie gewänne. In entsprechenden Abstufungen sank sie in einen Stuhl, dann auf die Knie, dann auf den Boden neben dem Bett, indem sie die Decken mit sich zog, halb, um verschämt den Kopf und das nasse Haar darein zu hüllen, halb, wie es schien, um sie zu umarmen und wenigstens etwas an die reuige Brust zu drücken.

»Weichen Sie von mir! Weichen Sie von mir! Wenn mein böser Geist über mich kommt, bin ich eine Tolle. Ich weiß, ich könnte ihn von mir fernhalten, wenn ich nur wollte, und bisweilen gebe ich mir auch Mühe. Zu andern Zeiten aber will und tu ich’s nicht. Was habe ich gesagt! Ich wußte, als ich’s sagte, daß es lauter Lüge war. Sie glauben, irgend jemand werde wohl für mich gesorgt haben, und ich hätte, was ich brauchte. Sie sind stets gut gegen mich. Ich liebe sie von Herzen. Niemand könnte liebevoller gegen ein undankbares Geschöpf sein, als sie es immer gegen mich waren. Gehen Sie, ich fürchte mich vor Ihnen. Ich fürchte mich vor mir selbst, wenn mein böser Geist über mich kommt. Gehen Sie und lassen Sie mich beten und weinen, daß ich besser werde.«

Der Tag neigte sich, und wieder starrte sich das grelle Weiß müde. Die heiße Nacht lag auf Marseille, und die Gesellschaft von diesem Morgen zerstreute sich durch die Dunkelheit nach allen Richtungen. So ziehen wir ruhelosen Wanderer bei Tag und Nacht, unter Sonne und Sternen, an staubigen Hügeln hinan und über ermüdende Ebenen, zu Land und zur See, bald kommend, bald gehend, hinüber und herüber aufeinander einwirkend, durch die wunderbare Pilgerfahrt des Lebens.

  1. Die Marseillaise, das bekannte Revolutionslied, das übrigens in Straßburg von Rouget de Lisle komponiert wurde als Kampflied gegen Preußen und das später Parteilied der Jakobiner ward, die es zuerst in Marseille sangen.
  2. Wortspiel nach dem Anfang der Marseillaise: Die Marseillaise, das bekannte Revolutionslied, das übrigens in Straßburg von Rouget de Lisle komponiert wurde als Kampflied gegen Preußen und das später Parteilied der Jakobiner ward, die es zuerst in Marseille sangen.
  3. Anspielung auf Kindermärchen, die das Kindergemüt erziehlich beeinflussen.

Neunundzwanzigstes Kapitel


Neunundzwanzigstes Kapitel

Mrs. Flintwinch fährt fort zu träumen.

Das Haus in der City bewahrte sein düsteres und finsteres Aussehen während all dieser Vorgänge, und die gebrechliche Frau, die darin wohnte, führte unverändert einen Tag wie den andern dasselbe Leben. Morgen, Mittag und Abend, Morgen, Mittag und Abend kehrten eins ums andere im Geleis seiner Einförmigkeit wieder, immer dieselbe widerwillige Rückkehr derselben Reihenfolge des mechanischen Treibens wie in dem Gehwerk einer Uhr.

Der Rollstuhl hatte seine Erinnerungen und Träumereien, kann man sich denken, wie jeder Ort sie hat, der zu einer Station eines menschlichen Wesens gemacht ist. Bilder von demolierten Straßen und veränderten Häusern, wie sie früher waren, als sie die Insassin des Stuhles noch kannte; Bilder von Menschen, wie auch diese einst ausgesehen, denen jedoch für die Zeit, seitdem man sie nicht mehr gesehen, wenig oder keine Veränderung eingeräumt worden war; dieser mußte eine große Zahl im langen Geschäftsleben finsterer Tage vorübergegangen sein. Die Uhr des geschäftigen Daseins um die Stunde zu stellen, wo man sich selbst davon ausgeschlossen hatte, zu glauben, daß die Menschen sich nicht mehr bewegen können, wenn wir zu einem Stillstand gebracht sind, außerstande zu sein, die Wechsel der Dinge, die über unsern Horizont hinaus liegen, nach einem größeren Maßstab als dem kleinlichen des eignen einförmigen und beschränkten Daseins zu messen – ist die Schwäche mancher gebrechlicher Menschen und die geistige Krankheit beinahe aller zurückgezogen Lebenden.

Welche Szenen und handelnden Personen die strenge Frau am meisten im Geiste an sich vorüberziehen ließ, wenn sie so von Jahr zu Jahr in ihrem dunklen Zimmer saß, wußte niemand, außer sie selbst. Mr. Flintwinch hätte mit seiner schiefen Gegenwart, die täglich wie eine außergewöhnliche mechanische Kraft auf sie wirkte, es vielleicht aus ihr herausgepreßt, wenn weniger Widerstand in ihr gewesen wäre. Aber sie war zu stark für ihn. Mistreß Affery, die beständig ihren Oberherrn und ihre kränkliche Herrin mit einem Gesicht voll kritikloser Bewunderung ansah, nach Einbruch der Dunkelheit mit der Schürze über dem Kopf im Hause umherging, immer auf unerklärliches Geräusch lauschte und bisweilen welches hörte, und nie aus ihrem geisterhaften, träumerischen, schlafwachen Zustande herauskam, hatte damit wirklich genug zu tun.

Es wurden sehr gute Geschäfte im Hause gemacht, wie Mistreß Affery merkte; denn ihr Gatte hatte in seinem kleinen Bureau außerordentlich viel zu schaffen, er sah mehr Leute, als sonst in vielen Jahren dahin gekommen waren. Das konnte leicht sein, da das Haus lange verlassen gestanden; aber er empfing Briefe und Besuche, führte die Bücher und die Korrespondenz. Er besuchte ferner selbst auch andre Kontore, die Kais, Docks, ferner das Zollhaus, Garraways Kaffeehaus, das Jerusalemer Kaffeehaus und die Börse, so daß er viel aus und ein ging. Er begann auch zuweilen am Abend, wenn Mistreß Clennam keinen besondern Wunsch nach seiner Gesellschaft aussprach, nach einem Wirtshaus in der Nähe zu gehen, um nach den Schiffsnachrichten und den Kurszetteln in den Abendzeitungen zu sehen und wohl auch kleinen geselligen Verkehr mit Kapitänen und Handelsschiffen, die dieses Etablissement besuchten, zu pflegen. Zu einer bestimmten Tageszeit hielten er und Mrs. Clennam Beratung in Geschäftsangelegenheiten, und es kam Affery, die immer lauschend und lauernd außen herumkroch, vor, als ob die beiden Gescheiten Geld machten.

Der Gemütszustand, in den Mr. Flintwinchs geblendete Frau verfallen war, hatte sich nach und nach in allen ihren Blicken und Handlungen so deutlich ausgesprochen, daß sie in der Meinung der beiden Gescheiten sehr tief sank und als eine Person betrachtet wurde, die, nie von starken Geistesgaben, nun gar verrückt zu werden drohte. Vielleicht weil ihr Äußeres kein kaufmännisches Gepräge trug oder weil ihm vielleicht bisweilen die Besorgnis aufstieg, es möchte in den Augen seiner Kunden ein schiefes Licht auf seinen gesunden Verstand werfen, daß er sie zur Frau genommen, befahl ihr Mr. Flintwinch, daß sie außerhalb des häuslichen Trios von ihren ehelichen Beziehungen schweigen und ihn nicht mehr Jeremiah nennen solle. Ihr häufiges Vergessen dieser Ermahnung verschlimmerte ihr ängstliches Wesen, da Mr. Flintwinch die Gewohnheit hatte, sich an ihrer Saumseligkeit dadurch zu rächen, daß er ihr auf der Treppe nachsprang und sie strafte. Die Folge davon war, daß sie immer in der peinlichen Angst schwebte, es werde ihr irgendwo aufgelauert.

Klein-Dorrit hatte ein langes Tagewerk in Mrs. Clennams Zimmer beendet und war gerade damit beschäftigt, die Flickchen und Schnipsel zusammenzulesen, ehe sie nach Hause ging. Mr. Pancks, den Affery soeben hereingeführt, richtete an Mrs. Clennam die Frage nach ihrem Befinden, indem er bemerkte, daß er »zufällig an dem Hause vorüberkommend« vorgesprochen hätte, um von der Hausbesitzerin zu erfahren, wie sie sich befinde. Mrs. Clennam sah ihn mit scharf zusammengezogenen Augenbrauen an.

»Mr. Casby weiß«, sagte sie, »daß ich keinen Veränderungen unterworfen bin. Die Veränderung, die ich hier erwarte, ist die große Veränderung.«

»Wirklich, Ma’am?« versetzte Mr. Pancks und ließ seine Blicke nach der Gestalt der kleinen Näherin gleiten, die auf ihren Knien die Fäden und Abfälle ihrer Arbeit von dem Teppich auflas. »Sie sehen sehr gut aus, Ma’am.«

»Ich trage, was ich zu tragen habe. Tun Sie, was Sie angeht.«

»Danke, Ma’am«, sagte Mr. Pancks, »das ist mein Bemühen.«

»Sie kommen oft hier vorbei, nicht wahr?« fragte Mrs. Clennam.

»Allerdings, Ma’am«, sagte Pancks, »namentlich seit einiger Zeit; ich bin in letzter Zeit häufig bald aus der einen, bald aus der andern Ursache vorübergekommen.«

»Bitten Sie Mr. Casby und seine Tochter, sich nicht mit Schicken nach mir zu beunruhigen. Wenn sie mich zu sehen wünschen, so wissen sie, daß ich hier sie zu empfangen bereit bin. Sie brauchen sich nicht mit Schicken zu bemühen. Und Sie brauchen sich nicht zu bemühen, zu kommen.“

»Nicht die geringste Mühe«, sagte Mr. Pancks. »Sie sehen wirklich ungemein gut aus, Ma’am.«

»Danke. Guten Abend.«

Dieser Abschied und der ihn begleitende gerade nach der Tür ausgestreckte Finger waren so kurz und entschieden, daß Pancks keinen Ausweg wußte, wie er seinen Besuch verlängern sollte. Er strich sein Haar mit dem heitersten Ausdruck in die Höhe, blickte wieder nach der kleinen Gestalt, sagte: »Guten Abend, Ma’am; brauchen nicht mit mir zu gehen, Mrs. Affery; ich kenne den Weg zur Tür« und dampfte hinaus. Mrs. Clennam sah ihm, das Kinn auf die Hand gestützt, mit aufmerksamen und finster mißtrauischen Blicken nach, und Affery starrte sie an, als ob sie von einem Zauber gefesselt wäre.

Langsam und gedankenvoll wandten sich Mrs. Clennams Blicke von der Tür, durch die Pancks hinausgegangen war, nach Klein-Dorrit, die vom Teppich aufstand. Das Kinn schwerer auf die Hand sinken lassend und mit lauernden, gesenkten Blicken saß die kranke Frau da und sah sie an, bis sie ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Klein-Dorrit errötete bei ihrem Blick und sah zu Boden. Mrs. Clennam saß noch immer unverwandten Auges da.

»Klein-Dorrit«, sagte sie, als sie endlich das Schweigen brach, »was weißt du von diesem Mann?«

»Ich weiß nichts von ihm, Ma’am, als daß ich ihn irgendwo sah und daß er mit mir gesprochen.«

»Was hat er zu dir gesagt?«

»Ich verstehe nicht, was er zu mir gesagt, er ist so wunderlich. Aber nichts Rauhes und Unangenehmes.«

»Weshalb kommt er hierher, um dich zu sehen?«

»Ich weiß nicht, Ma’am«, sagte Klein-Dorrit mit größter Offenheit.

»Du weißt, daß er hierher kommt, um dich zu sehen?«

»Ich vermute es«, sagte Klein-Dorrit. »Aber weshalb er hierher kommt, Ma’am, das kann ich mir nicht denken.«

Mrs. Clennam schlug ihre Augen zu Boden und saß, das strenge, ruhige Gesicht so fest auf einen Gedanken in ihrem Innern gerichtet, daß es kaum noch auf die Gestalt gerichtet war, die aus ihren Blicken zu verschwinden schien. Sie blieb ganz in Gedanken versunken. Es vergingen einige Minuten, ehe sie aus diesem Grübeln erwachte und ihre strenge Fassung wiedergewann.

Klein-Dorrit hatte indessen gewartet, um zu gehen, fürchtete jedoch, sie durch eine Bewegung zu stören; sie wagte jetzt den Ort zu verlassen, wo sie gestanden, seit sie sich erhoben, und leise um den Räderstuhl her zu gehen. Dann blieb sie neben ihr stehen, um »gute Nacht, Ma’am!« zu sagen.

Mrs. Clennam streckte ihre Hand aus und legte sie auf ihren Arm. Klein-Dorrit, die diese Berührung verwirrt machte, stand zitternd da. Vielleicht trat eine flüchtige Erinnerung an die Geschichte von der Prinzessin vor ihre Seele.

»Sage mir, Klein-Dorrit«, sagte Mrs. Clennam. »Hast du jetzt viele Freunde?«

»Sehr wenige, Ma’am. Außer Ihnen nur Miß Flora und – noch einen.«

»Meinst du diesen Mann?« sagte Mrs. Clennam, indem sie wieder mit dem ausgestreckten Finger nach der Tür zeigte.

»O nein, Ma’am!«

»Einen Freund von ihm vielleicht?«

»Nein, Ma’am.« Klein-Dorrit schüttelte ernstlich den Kopf. »O nein! Keinen, der ihm entfernt ähnlich oder mit ihm befreundet wäre.«

»Gut!« sagte Mrs. Clennam beinahe lächelnd. »Es geht mich nichts an. Ich frage, weil ich Interesse an dir nehme: und weil ich glaube, ich war deine Freundin, als du keine andre hattest, die dir helfen konnte. Ist das so?«

»Ja, Ma’am: das ist wirklich so. Ich war oft hier. Wenn Sie und die Arbeit, die Sie mir gaben, nicht gewesen wären, hätten wir alles entbehren müssen.«

»Wir«, wiederholte Mrs. Clennam, nach der Uhr sehend, die einst ihrem verstorbenen Mann gehört hatte und nun beständig auf ihrem Tische lag. »Seid ihr viel Personen zu Haus?«

»Nur mein Vater und ich, jetzt. Ich meine, nur Vater und ich haben gewöhnlich von dem zu leben, was wir verdienen.«

»Hast du viele Entbehrungen ertragen müssen, du und dein Vater, und wer sonst noch zu dir gehört?« fragte Mrs. Clennam in bedächtigem Ton, während sie nachdenklich die Uhr hin und her drehte.

»Bisweilen war unser Leben ziemlich hart«, sagte Klein-Dorrit mit ihrer sanften Stimme und in ihrer ängstlichen Weise, die Klagen gern vermied: »aber ich halte es – in dieser Beziehung – nicht für härter, als es viele Leute finden.«

»Das ist gut gesprochen!« versetzte Mrs. Clennam lebhaft. »Das ist die Wahrheit! Du bist ein gutes, gescheites Mädchen. Und du bist dabei ein dankbares Mädchen, wenn ich mich nicht in dir täusche.«

»Das ist ja ganz natürlich. Es ist kein Verdienst dabei, das zu sein«, sagte Klein-Dorrit. »Ich bin es wirklich.«

Mrs. Clennam zog mit einer sanften Güte, deren die träumerische Affery sie nie im Traume für fähig gehalten hätte, das Gesicht der kleinen Näherin zu sich herab und küßte sie auf die Stirn.

»Nun gehe, Klein-Dorrit«, sagte sie, »es wird sonst für dich zu spät, armes Kind.«

In all den Träumen, die Mistreß Affery aufgehäuft, seit sie sich dieser Beschäftigung widmete, hatte sie nichts Merkwürdigeres als dies geträumt. Ihr Kopf schmerzte sie bei dem Gedanken, daß sie das nächste Mal sehen würde, wie der andere Gescheite Klein-Dorrit küßte und dann die beiden Gescheiten sich umarmten und sich in Tränen des Mitgefühls für das ganze Menschengeschlecht auflösten. Der Gedanke machte sie ganz betäubt, als sie die leichten Schritte die Treppe hinabbegleitete, damit die Haustür sicher verschlossen würde.

Als sie dieselbe öffnete, um Klein-Dorrit hinauszulassen, sah sie Mr. Pancks, statt seiner Wege gegangen zu sein, wie man wohl an jedem minder merkwürdigen Ort und unter weniger merkwürdigen Umständen hätte von ihm erwarten können, im Hof vor dem Hause unruhig auf und ab gehen. In dem Augenblick, als er Klein-Dorrit sah, kam er rasch an ihr vorüber, sagte, den Finger an seiner Nase (wie Mistreß Affery deutlich hörte): »Pancks der Zigeuner, beim Wahrsagen« und verschwand.

»Der Herr schütze uns, hier ist ein Zigeuner und ein Wahrsager dabei!« rief Mistreß Affery. »Was weiter?«

Sie stand an der offenen Tür, erschrocken über dieses Rätsel. Es war ein regnerischer Gewitterabend. Die Wolken trieben dichtgeballt über ihren Häuptern hin, der Wind wehte in heftigen Stößen, schüttelte die Läden in der Nachbarschaft, die losgegangen waren, drehte die rostigen Kaminkappen und Wetterhähne im Wirbel und stürmte durch einen kleinen benachbarten Kirchhof, als ob er im Sinne hätte, die toten Bürger aus ihren Gräbern zu wecken. Der dumpfe Donner, der aus allen vier Enden des Himmels grollte, schien Rache zu künden für diese versuchte Entweihung und zu murmeln: »Laß sie ruhen! Laß sie ruhen!«

Mistreß Affery, deren Furcht vor Donner und Blitz nur die Bangigkeit vor dem unheimlichen Haus mit seiner frühzeitigen und außernatürlichen Dunkelheit gleichkam, stand unentschieden da, ob sie hineingehen sollte oder nicht, bis die Frage für sie dadurch entschieden wurde, daß die Tür durch einen heftigen Windstoß ihr vor der Nase zuschlug und sie ausgeschlossen war. »Was ist jetzt zu machen, was ist jetzt zu machen?« rief Mistreß Affery in diesem letzten ihr unheimlichen Traum. »Sie ist ja ganz allein drinnen und kann so wenig herauskommen, um zu öffnen, wie die Toten auf dem Kirchhofe!«

In diesem Dilemma lief Mistreß Affery, die Schürze als Kapuze über dem Kopf, um den Regen abzuhalten, mehrmals jammernd in dem öden gepflasterten Hofe auf und nieder. Warum sie sich dann bückte und zum Schlüsselloch in der Tür hineinsah, als ob das Auge sie öffnen könnte, wäre schwer zu sagen gewesen. Aber trotzdem würden die meisten Leute in dieser Lage das gleiche getan haben, und das war es denn auch, was sie tat.

Aus dieser Stellung fuhr sie plötzlich mit einem leichten Schrei auf, als sie etwas auf ihrer Schulter fühlte. Es war die Berührung einer Hand, einer Männerhand.

Der Mann war wie ein Reisender gekleidet: er hatte eine mit Pelz verbrämte Mütze auf und trug einen weiten Mantel. Er sah wie ein Ausländer aus. Er hatte langes Haar und einen dicken Schnurrbart – onyxschwarz, mit Ausnahme der zottigen Spitzen, die etwas rötlich waren – und eine hohe Habichtsnase. Er lachte über Mistreß Afferys Schreck und Schrei; und als er lachte, bäumte sich sein Schnurrbart unter der Nase, und seine Nase kam über den Schnurrbart herab.

»Was gibt es?« fragte er in reinem Englisch. »Wovor fürchten Sie sich?«

»Vor Ihnen!« keuchte Affery.

»Vor mir, Madame?«

»Und dem schauerlichen Abend und – und vor allem«, sagte Affery, »und hier! Der Wind hat die Tür zugeschlagen, und ich kann nicht hineinkommen.«

»Ha!« sagte der Fremde, der dies sehr kalt aufnahm. »Wahrhaftig! Kennen Sie einen Namen wie Clennam hier in der Nähe?«

»Der Herr sei uns gnädig, ich sollte wohl denken, sollte wohl denken!« rief Affery, bei dieser Frage von neuem verzweiflungsvoll die Hände ringend.

»Wo ist er, der so heißt?«

»Wo?« rief Affery zu einem neuen Blick in das Schlüsselloch angespornt. »Wo anders, als in diesem Haus hier? Und sie ist ganz allein in ihrem Zimmer und kann ihre Glieder nicht gebrauchen, kann sich nicht bewegen, um sich selbst oder mir zu helfen, und der andre Gescheite ist ausgegangen; der Herr vergebe mir,« rief Affery, durch diese gehäuften Betrachtungen zu einem wahnwitzigen Herumhüpfen getrieben, »wenn ich nicht plötzlich wahnsinnig werde!«

Ein wärmeres Interesse für die Sache gewinnend, da sie ihn selbst berührte, trat der Fremde zurück, um an dem Haus hinaufzusehen, und seine Blicke ruhten bald auf dem langen schmalen Fenster des kleinen Zimmers neben der Gangtür.

»Wo mag die Dame sein, die den Gebrauch ihrer Glieder verloren, Madame?« fragte er mit jenem eigentümlichen Lächeln, das die Blicke von Mistreß Affery unwillkürlich fesselte.

»Dort oben!« sagte Affery. »Die beiden Fenster.«

»Ha! Ich bin von einer hübschen Größe, aber ich könnte doch nicht die Ehre haben, mich in jenem Zimmer vorzustellen, ohne eine Leiter. Nun, Madame, offen gesagt – Offenheit ist ein Zug meines Charakters – soll ich die Tür für Sie öffnen?«

»Ja, allerdings, mein lieber Herr, und tun Sie es nur gleich«, rief Affery, »denn sie ruft mich vielleicht schon in diesem Augenblick oder setzt sich ans Feuer und verbrennt sich zu Tode. Man weiß nicht, was ihr alles geschehen kann, ich komme von Sinnen, wenn ich nur daran denke.«

»Warten Sie, meine gute Madame.« Er dämpfte ihre Ungeduld mit einer sanften weißen Hand. »Geschäftsstunden, fürchte ich, sind für heute vorüber?«

»Ja, ja, ja!« rief Affery. »Schon lange.«

»Lassen Sie mich Ihnen denn einen billigen Vorschlag machen. Billigkeit ist ein Zug meines Charakters. Ich bin soeben mit dem Dampfboot gelandet, wie Sie vielleicht sehen.« Er zeigte ihr, daß sein Mantel sehr naß und seine Stiefel mit Wasser getränkt waren; sie hatte vorher schon bemerkt, daß er zerzaust und blaß, wie von einer beschwerlichen Reise, und so erkältet war, daß ihm unwillkürlich die Zähne klapperten. »Ich bin soeben mit dem Dampfboot gelandet, Madame, und von dem Wetter zurückgehalten worden; das verdammte Wetter! Infolgedessen, Madame, ist ein notwendiges Geschäft, das ich hier sonst in den gewöhnlichen Stunden erledigt hätte (ein notwendiges Geschäft, weil Geldgeschäft), noch abzumachen. Wenn Sie nun eine bevollmächtigte Person, die hier in der Nähe ist, für mein Öffnen der Tür herbeischaffen wollten, um das Geschäft abmachen zu können, so werde ich die Tür öffnen. Wenn Sie jedoch Einwendungen dagegen zu machen haben, so werde ich –« und mit demselben Lächeln machte er eine bezeichnende Bewegung des Weggehens.

Mistreß Affery, herzlich froh über den versprochenen Vertrag, gab bereitwillig ihre Zustimmung. Der Fremde bat sie sofort, ihm die Gefälligkeit zu erweisen, seinen Mantel zu halten, eilte nach dem schmalen Fenster, sprang auf die Fensterbank, kletterte an den Ziegelsteinen hinauf, hatte in einem Augenblick seine Hand an dem Schiebfenster und hob es in die Höhe. Seine Augen hatten einen so unheimlichen Ausdruck, als er seinen Fuß in das Zimmer streckte und sich nach Mistreß Affery umsah, daß es ihr kalt den Rücken hinauflief, und sie dachte, wenn er jetzt geradeswegs zu der Kranken hinaufginge, um sie zu morden, was könnte sie tun, um ihn daran zu hindern?

Glücklicherweise hatte er keine solche Absicht; denn er erschien einen Augenblick später wieder an der Haustür. »Jetzt, meine liebe Madame«, sagte er, als er seinen Mantel wieder nahm und ihn anzog, »wenn Sie die Güte haben wollen – was zum Teufel ist das?«

Das seltsamste Geräusch. Offenbar dicht bei ihnen, nach dem eigentümlichen Stoß, den er der Luft mitteilte und der doch gedämpft war, als käme er aus der Ferne. Ein Zittern, ein Rumpeln und ein Fallen von einer leichten, harten Sache.

»Was zum Teufel ist das?«

»Ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe Ähnliches schon dann und wann gehört«, sagte Affery, die ihn am Arm ergriffen hatte.

Er könne kaum ein sehr mutiger Mann sein, dachte sie in ihrem traumhaften Schreck: denn seine zitternden Lippen hatten sich ganz entfärbt. Nachdem er einige Augenblicke gelauscht, gab er sich das Ansehen, als ob er sich nichts daraus machte.

»Ach was! Nichts! Nun, meine liebe Madame, ich glaube, Sie sprachen von einer gescheiten Person, Wollen Sie so gut sein und mich mit jenem Genie zusammenbringen?« Er hielt die Tür in seiner Hand, als wollte er sie wieder abschließen, für den Fall, daß sie ihr Versprechen nicht erfülle.

»Werden Sie nichts von der Tür und mir sagen?« flüsterte Affery.

»Kein Wort.«

»Und werden Sie sich auch nicht vom Platz rühren oder sprechen, wenn sie ruft, während ich um die Ecke gehe?«

»Madame, ich bin eine Statue.«

Affery hatte eine so lebhafte Furcht, er möchte verstohlenerweise die Treppe hinaufgehen, wenn sie ihm den Rücken kehrte, daß sie, sobald sie ihm aus dem Gesicht war, nach dem Torweg zurückkehrte, um ihn zu beobachten. Als sie ihn jedoch auf der Schwelle stehen sah, mehr außer als in dem Hause, als ob er keine besondere Vorliebe für die Dunkelheit hätte und keinen Wunsch fühlte, ihre Geheimnisse zu ergründen, eilte sie in die nächste Straße und schickte jemanden in das Gasthaus zu Mr. Flintwinch, der sogleich herauskam. Als die beiden miteinander zurückkehrten – die Dame voraus und Mr. Flintwinch ihr auf den Fersen hinterdrein, von der Hoffnung angespornt, sie noch durchschütteln zu können, ehe sie das Haus erreichte –, sahen sie den Herrn noch an demselben Platze in der Dunkelheit stehen und hörten die strenge Stimme von Mrs. Clennam aus ihrem Zimmer herabrufen: »Wer ist da? Was gibt es? Warum antwortet niemand? Wer ist unten?«

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Das Wort eines Gentleman.

Als Mr. und Mrs. Flintwinch nach dem Tor des alten Hauses im Zwielicht herankeuchten und Jeremiah kaum noch eine Sekunde von Affery entfernt war, fuhr der Fremde zurück. »Tod und Teufel!« rief er. »Wie kommen Sie hierher?«

Mr. Flintwinch, an den diese Worte gerichtet waren, zeigte sich nicht minder erstaunt über die Anwesenheit des Fremden. Er sah ihn höchst verwundert an, blickte sich dann um, als erwartete er jemanden zu sehen, den er bislang noch nicht hinter sich gewahrt, sah darauf wieder den Fremden an, in sprachloser Erwartung dessen, was er wollte. Er forderte von seiner Frau durch einen Blick eine Erklärung; und als diese nicht erfolgte, packte er sie und schüttelte sie so heftig, daß ihre Haube herunterfiel, während er mit grimmem Spott zwischen den Zähnen murmelte: »Affery, Frau, du mußt eine Dosis haben, Frau! Das ist einer von deinen Streichen! Du hast wieder geträumt, Weib. Was gibt es? Wer ist das? Was will er? Sprich, oder ich erwürge dich! Es ist die einzige Wahl, die ich dir lasse.«

Vorausgesetzt, daß Mistreß Affery in diesem Augenblick überhaupt die Kraft hatte zu wählen, so war ihre Wahl entschieden für das Erwürgen; denn sie antwortete nicht eine Silbe auf diese Beschwörung, sondern ergab sich, während ihr Kopf heftig vor- und rückwärts wackelte, in ihre Strafe. Der Fremde jedoch, der mit einer gewissen Galanterie ihre Haube aufhob, legte sich ins Mittel.

»Erlauben Sie«, sagte er, indem er die Hand auf Jeremiahs Schulter legte, der nun innehielt und sein Opfer losließ. »Danke. Entschuldigen Sie. Mann und Frau, wie ich aus diesem Scherz sehe. Haha! Immer angenehm, dieses Verhältnis auf so heitere Weise unterhalten zu sehen. Hören Sie! Darf ich Ihnen mitteilen, daß jemand oben im Dunkeln lebhaft zu wissen wünscht, was hier unten vorgeht?«

Dieser Hinweis auf Mrs. Clennams Stimme veranlaßte Mr. Flintwinch, in den Flur zu treten und die Treppe hinaufzurufen: »Es ist schon gut, ich bin hier, Affery kommt mit Ihrem Licht.« Dann sagte er zu dieser, die ganz zerzaust war und ihre Haube wieder aufsetzte: »Fort mit dir und die Treppe hinauf!« Endlich wandte er sich an den Fremden und sagte zu ihm: »Nun, mein Herr, was wünschen Sie?«

»Ich fürchte«, erwiderte der Fremde, »Sie wegen eines Lichtes bemühen zu müssen.«

»Ganz recht«, stimmte Jeremiah bei, »ich war im Begriff, eines zu holen. Bitte, bleiben Sie hier stehen, wo Sie sind, während ich eines herbeischaffe.«

Der Fremde stand in dem Torweg, trat jedoch etwas in die Dunkelheit des Hauses, als Mr. Flintwinch wegging, und verfolgte ihn mit seinen Blicken in dem kleinen Zimmer, wo er nach einer Zündhölzerbüchse suchte. Als er sie fand, war sie feucht oder sonst nicht in Ordnung, und Hölzchen um Hölzchen, das er strich, zündete so weit, um eine matte Helle über sein suchendes Gesicht zu verbreiten und seine Hände mit kleinen blassen Feuerflecken zu bespritzen, aber nicht genug, um das Licht anzuzünden. Der Fremde, der sich diese zufällige Beleuchtung seines Gesichtes zunutze machte, sah ihn aufmerksam und neugierig an. Als es Jeremiah endlich gelang, das Licht anzuzünden, hatte er das Gefühl, daß der letzte Schatten lauernder Beobachtung eben von jenem Antlitz verschwunden, da sich das zweifelhafte Lächeln, das ein wesentliches Moment seines Ausdrucks war, darauf zeigte.

»Haben Sie die Güte«, sagte Jeremiah, indem er die Tür schloß und nun seinerseits den lächelnden Fremden mit einem scharfen Blick ansah, »haben Sie die Güte, in mein Kontor einzutreten. Es ist alles in Ordnung, sage ich Ihnen ja!« antwortete er trotzig der Stimme oben, die noch immer nicht beruhigt war, obgleich Affery sich bei ihr befand und sie zu beruhigen suchte. »Ich sage Ihnen ja, es ist alles in Ordnung. Gott, die Frau, hat sie denn gar keine Vernunft!«

»Furchtsam?« bemerkte der Fremde.

»Furchtsam?« sagte Mr. Flintwinch, indem er den Kopf umdrehte, wie um den Vorwurf zurückzuweisen, während er mit dem Licht voranging. »Mutiger als neunzig von hundert Männern, Sir, will ich Ihnen sagen.«

»Obgleich eine kränkliche Frau?«

»Ja, seit vielen Jahren eine kränkliche Frau, Mrs. Clennam. Die einzige Person des Namens in diesem Hause jetzt. Meine Geschäftsteilhaberin.«

Indem er, während sie durch den Flur gingen, einige entschuldigende Worte sagte, daß sie um diese Zeit der Nacht gewöhnlich niemanden empfingen und immer eingeschlossen seien, führte Mr. Flintwinch den Fremden nach seinem Bureau, das ein ziemlich geschäftsmäßiges Aussehen hatte. Hier stellte er das Licht auf seinen Arbeitstisch und sagte mit seinem verdrehtesten Kopf: »Ihr Wunsch?«

»Mein Name ist Blandois.«

»Blandois. Kenne ich nicht«, sagte Jeremiah.

»Ich dachte«, fuhr der andere fort, »Sie hätten vielleicht von Paris einen Avis erhalten –«

»Wir haben keinen Avis von Paris wegen eines Blandois erhalten«, sagte Jeremiah.

»Nicht?«

»Nein.«

Jeremiah stand in seiner Lieblingsstellung. Der lächelnde Mr. Blandois, der seinen Mantel geöffnet, um seine Hand in die Brusttasche zu stecken, hielt einen Augenblick inne und sagte dann, während seine glänzenden Augen, die Mr. Flintwinch etwas zu nahe beieinander zu stehen schienen, einen lächelnden Ausdruck annahmen:

»Sie sehen einem meiner Freunde sehr ähnlich. Nicht so ganz und gar gleich, wie ich glaubte, als ich Sie in der Dunkelheit im ersten Augenblick für diesen hielt – ich sollte mich eigentlich deshalb entschuldigen; erlauben Sie mir, daß ich dies hiermit tue; Bereitwilligkeit, meine Fehler einzugestehen, ist, glaube ich, ein Teil der Offenheit meines Charakters –, und doch wirklich ungewöhnlich ähnlich.«

»Wirklich?« sagte Jeremiah verlegen. »Aber ich habe keinen Avisbrief von irgendwoher wegen irgendeines mit Namen Blandois erhalten.«

»Wirklich nicht?« fragte der Fremde.

»Wirklich nicht!« antwortete Jeremiah.

Mr. Blandois, den diese Versäumnis seitens des Korrespondenten des Hauses Clennam und Co. nicht im geringsten aus der Fassung brachte, nahm sein Notizbuch aus der Brusttasche, suchte einen Brief darinnen und händigte ihn Mr. Flintwinch ein. »Ohne Zweifel sind Sie mit dieser Handschrift wohlbekannt. Vielleicht spricht der Brief für sich selbst, und es braucht keines Avis. Sie sind ein weit kompetenterer Richter in solchen Dingen als ich. Es ist mein Unglück, nicht so sehr ein Geschäftsmann zu sein, als was die Welt (willkürlich) einen Gentleman nennt.«

Mr. Flintwinch nahm den Brief und las unter dem Datum von Paris: »Wir haben die Ehre, Ihnen, auf Empfehlung eines sehr geschätzten Korrespondenten unserer Firma, Mr. Blandois von hier zu präsentieren usw. usw. Jede Hilfe, die er wünschen mag, und alle Aufmerksamkeit, die in Ihrer Macht liegt usw. usw. Auch haben wir hinzuzufügen, daß, wenn Sie Mr. Blandois‘ Tratte nach Sicht bis zum Betrag von sage fünfzig Pfund Sterling (£. 50) honorieren wollen« usw. usw.

»Sehr gut«, sagte Mr. Flintwinch, »nehmen Sie einen Stuhl. In allem, was unser Haus tun kann – wir haben ein stilles, altmodisches, einförmiges Geschäft, Sir –, werden wir uns glücklich fühlen, Ihnen unsere beste Unterstützung angedeihen zu lassen. Ich bemerke aus dem Datum dieses Schreibens, daß wir noch nicht avisiert sein konnten. Vermutlich kamen Sie mit der verspäteten Post an, die uns den Avis bringen sollte.«

»Daß ich mit der verspäteten Post ankam, Sir«, versetzte Mr. Blandois, indem er mit seiner weißen Hand über die scharfgebogene Nase strich, »weiß ich leider auf Kosten meines Kopfes und Magens. Das abscheuliche und unerträgliche Wetter hat sie beide tüchtig gemartert. Sie sehen mich in dem Anzug, in dem ich aus dem Dampfboot vor einer halben Stunde stieg. Ich hätte schon vor mehreren Stunden hier sein sollen, dann brauchte ich mich auch nicht zu entschuldigen – erlauben Sie, daß ich mich entschuldige –, weil ich mich zu so unpassender Zeit einfinde und die geschätzte Dame, Mrs. Clennam, in ihrem Krankenzimmer oben in Schrecken versetzte – nein, Sie sagten ja, daß ich sie nicht in Schrecken versetzen könne; erlauben Sie, daß ich mich entschuldige.«

Schwadronieren und die Miene berechtigter Herablassung taten so viel, daß Mr. Flintwinch bereits anfing, ihn für eine sehr vornehme Person zu halten. Trotzdem gab er seine Starrköpfigkeit nicht auf, kratzte an seinem Kinn und sagte: was er heute abend, nachdem die Geschäftsstunde vorüber, noch für Mr. Blandois zu tun die Ehre haben könnte?

»Aber ich bitte Sie«, versetzte der Gentleman, mit den vom Mantel bedeckten Achseln zuckend. »Ich muß meine Kleider wechseln, und essen und trinken und irgendwo mich einquartieren. Haben Sie die Freundlichkeit, da ich hier gänzlich fremd bin, mich irgendwohin zu weisen – es ist vollständig gleichgültig, was es kostet –, wo ich bis morgen wohnen kann. Je näher, je besser. Im nächsten Hause, wenn es möglich ist.«

Mr. Flintwinch begann langsam: »Für einen Gentleman von Ihren Gewohnheiten ist in der nächsten Umgebung kein Hotel«, als Mr. Blandois ihm ins Wort fiel:

»Was Gewohnheiten! mein lieber Sir«, sagte er mit den Fingern schnalzend. »Ein Weltbürger hat keine Gewohnheiten. Daß ich auf meine arme Weise ein Gentleman bin, beim Himmel, das will ich nicht leugnen, aber ich habe keine unverträglichen vorurteilsvollen Gewohnheiten. Ein reinliches Zimmer, warmes Essen und eine Flasche nicht ganz und gar vergifteten Weins ist alles, was ich für heute brauche. Aber das brauche ich sehr, nur möcht‘ ich nicht unnötig weiter gehen als bis dahin, wo ich es bekomme.«

»Da ist«, sagte Mr. Flintwinch mit mehr als gewöhnlicher Bedächtigkeit, als er Mr. Blandois‘ blitzenden Augen, die ruhelos umherwanderten, für einen Moment begegnete, »da ist ein Kaffeehaus und Gasthaus ganz in der Nähe, das ich ziemlich empfehlen kann, aber es hat keine rechte Art.«

»Ich schenke ihm die rechte Art!« sagte Mr. Blandois mit der Hand abwehrend. »Erweisen Sie mir die Ehre, mir das Haus zu zeigen und mich dort einzuführen (wenn ich Ihnen nicht zuviel Mühe mache), ich werde Ihnen unendlich verbunden sein.«

Mr. Flintwinch sah bei diesen Worten nach seinem Hut und leuchtete Mr. Blandois wieder durch die Flur. Als er das Licht auf eine Leiste stellte, wo die alte dunkle Pannelierung als Auslöscher dienen konnte, überlegte er es sich, daß er hinaufgehen und der kranken Frau sagen wolle, er werde kaum fünf Minuten abwesend sein.

»Haben Sie die Güte«, sagte der Fremde, als Jeremiah ihm seine Absicht kundgab, »ihr meine Visitenkarte zu überreichen. Seien Sie ferner so freundlich hinzuzufügen, daß ich glücklich sein würde, wenn ich Mrs. Clennam meine Aufwartung machen könnte, und entschuldigen Sie mich, daß ich eine Störung in dieser stillen Klause hervorgerufen habe. Bitte, fragen Sie sie, ob es ihr bequem wäre, für einige Augenblicke einen Fremden zu empfangen, sobald er seine nassen Kleider gewechselt und sich mit etwas Speise und Trank gestärkt hat.«

Jeremiah beeilte sich und sagte bei seiner Rückkehr: »Sie wird sich freuen, Sie zu empfangen, Sir; da sie jedoch wohl weiß, daß ihr Krankenzimmer nichts Anziehendes hat, so bittet sie mich, Ihnen zu sagen, daß sie Sie Ihres Anerbietens entbinde, falls Sie sich eines andern besinnen sollten.«

»Sich eines andern besinnen«, versetzte der höfliche Blandois, »hieße eine Dame geringachten; eine Dame geringachten, wäre ein Mangel an Ritterlichkeit gegen das andere Geschlecht; und Ritterlichkeit gegen dieses Geschlecht ist ein Zug meines Charakters!« So sprechend zog er den schmutzigen Zipfel seines Mantels über die Schulter und begleitete Mr. Flintwinch nach dem Wirtshaus, indem er unterwegs einen Träger mitnahm, der außen an dem Torweg mit seinem Koffer wartete.

Das Haus war sehr schlicht eingerichtet und die Herablassung von Mr. Blandois deshalb unendlich groß. Sie schien bis zur Unfüglichkeit den kleinen Schenktisch auszufüllen, hinter dem die verwitwete Wirtin und ihre zwei Töchter ihn empfingen. Sie war viel zu aufgeblasen für das enge getäfelte Zimmer mit einem kleinen Tisch, das anfangs für seine Aufnahme vorgeschlagen wurde. Sie überschwemmte endlich vollständig das kleine festtägliche Privatzimmer der Familie, das ihm zuletzt eingeräumt wurde. Hier, in trockenen Kleidern und parfümiertem Linnen, mit geglättetem Haar, einem großen Ring an jedem Zeigefinger und einer massiven Uhrkette, sah Mr. Blandois, als er so nachlässig die Knie hinaufgezogen in einem Fenstersitz lungerte (trotz des Unterschieds in bezug auf die Juwelen), einem gewissen Rigaud schrecklich und wunderbar ähnlich, der einst so auf sein Frühstück wartend in der Fensternische der eisernen Vergitterung einer Zelle in einem schlechten Gefängnis zu Marseille gelegen hatte.

Seine Gier beim Essen selbst war gerade so groß, wie die Gier des Monsieur Rigaud bei jenem Frühstück. Seine geizige Manier, alles Eßbare um sich her zu sammeln und den einen Bissen mit den Augen zu verschlingen, während er den andern Bissen mit den Kinnbacken verarbeitete, war ganz ebenso. Seine stolze Verachtung anderer Leute, die sich in der Art aussprach, wie er den kleinen weiblichen Hausrat hin- und herwarf, Lieblingskissen, um bequemer auszuruhen, unter seine Füße schleuderte und zarte Decken mit seinem schwerfälligen Körper und seinem großen schwarzen Kopf zerdrückte, entsprang aus derselben rohen Selbstsucht. Die weichen Bewegungen der Hände, die so geschäftig unter den Speisen hin und her gingen, hatten noch ihre alte Leichtigkeit und Gewandtheit, mit der sie sich an dem Gitter ehedem festgehalten. Und als er nichts mehr essen konnte und seine zarten Finger einen nach dem andern ableckte und sie an einem Tuche abwischte, fehlte nichts, als daß man sich Weinlaub statt des Tuches denkt, um das Bild zu vollenden.

Diesem Mann mit seinem sich bäumenden Schnurrbart und seiner sich herabsenkenden Nase, welche Gebärde sich stets bei dem unheimlichsten Lächeln zeigte, und mit den vorstehenden Augen, die aussahen, als ob sie zu seinen gefärbten Haaren gehörten und als ob ihre natürliche Kraft, das Licht zu spiegeln, durch einen ähnlichen Prozeß gebrochen wäre, hatte die ewig wahre und nie vergeblich wirkende Natur die Warnung für andere Mitmenschen aufgeprägt: »Hüte dich!« Es war nicht ihre Schuld, wenn die Warnung wirkungslos blieb. Die Natur ist in keinem derartigen Fall zu tadeln.

Als Mr. Blandois sein Mahl beendet und seine Finger gereinigt hatte, nahm er eine Zigarre aus seiner Tasche und rauchte sie, sich wieder an das Fenster setzend, mit Muße zu Ende, indem er den Rauch, der von seinen dünnen Lippen in dünnen Wölkchen wegdampfte, dann und wann anredete:

»Blandois, du wirst der Gesellschaft den Tisch drehen, mein kleiner Junge. Haha! Heiliges Blau, du hast gut angefangen, Blandois! Im Fall der Not ein ausgezeichneter Meister im Englischen und Französischen; ein Mann für den Schoß der Familie. Du hast eine rasche Auffassungsgabe, du hast Humor, du hast Gewandtheit, du hast einschmeichelnde Manieren, du hast ein günstiges Äußere; kurz, du bist ein Gentleman! Als Gentleman sollst du leben, mein kleiner Junge, als Gentleman sollst du sterben. Du wirst gewinnen, wie das Spiel auch fällt. Sie werden alle dein Verdienst anerkennen, Blandois. Du wirst die Gesellschaft, die dir schmählich Unrecht getan hat, deinem Stolz beugen. Tod und Teufel, du bist von Natur und Rechts wegen stolz, mein Blandois!« Zu solch schmeichelhaftem Gemurmel rauchte dieser Gentleman seine Zigarre zu Ende und trank seine Flasche Wein aus. Als beides geschehen, warf er sich in eine sitzende Lage, und mit der schließlichen ernsten Anrede: »Mut denn! Blandois, du gescheiter Junge, nimm all deine fünf Sinne zusammen!« stand er auf und ging nach dem Hause von Clennam und Co. zurück.

Er wurde an der Tür von Mistreß Affery empfangen, die nach den Instruktionen ihres Herrn zwei Lichter im Gang und ein drittes auf der Treppe angezündet hatte und ihn nach dem Zimmer von Mrs. Clennam führte. Dort stand der Tee bereit, und es waren jene kleinen Arrangements getroffen, wie sie beim Empfang von erwarteten Besuchen im Hause üblich sind. Sie waren selbst bei der wichtigsten Veranlassung unbedeutend und gingen nie über die Aufstellung des chinesischen Teeservices und das Ueberziehen des Bettes mit einer nüchternen und traurigen Draperie hinaus. Sonst war nichts im Zimmer als das bahrenartige Sofa, mit dem Block darauf, und die Gestalt in dem Witwenkleid, wie zur Hinrichtung angezogen. Das Feuer war umgeben von einem Damm angefeuchteter Asche, das Gitter mit seinem zweiten kleinen Aschendamm; der Kessel und der Geruch waren von schwarzer Farbe; alles, wie es vor fünfzehn Jahren gewesen.

Mr. Flintwinch stellte den an Clennam und Co. empfohlenen Gentleman vor. Mrs. Clennam, die den Brief vor sich liegen hatte, verbeugte sich und bat ihn sich zu setzen. Sie sahen einander fest an. Es war nur natürliche Neugier.

»Ich danke Ihnen, Sir, daß Sie an eine schwache Frau wie mich denken. Wenige Menschen, die in Geschäftssachen hierherkommen, denken daran, sich um ein so sehr aus dem Gesichtskreis gerücktes Wesen zu kümmern. Es wäre vergeblich, etwas anderes zu erwarten. Aus den Augen, aus dem Sinn. Wenn ich dankbar für die Ausnahme bin, beklage ich mich nicht über die Regel.«

Mr. Blandois drückte in seiner höflichsten Weise die Befürchtung aus, er möchte sie gestört haben, indem er sich unglücklicherweise zu so ungünstiger Zeit bei ihr einfinde. Er habe sich bereits bei Mr. – er bat um Entschuldigung – aber er habe nicht die Ehre, den Namen –

»Mr. Flintwinch ist seit vielen Jahren mit dem Hause als Kompagnon verbunden.«

Mr. Blandois war Mr. Flintwinchs gehorsamer Diener. Er bat Mr. Flintwinch, die Versicherung der tiefsten Achtung zu empfangen.

»Seit mein Mann tot ist«, sagte Mrs. Clennam, »und mein Sohn eine andre Geschäftsbranche vorzog, hat unser altes Haus keinen andern Repräsentanten als Mr. Flintwinch.«

»Wie nennen Sie sich dann selbst?« lautete die grämliche Frage dieses Mannes. »Sie haben den Geist von zwei Männern.«

»Mein Geschlecht macht mich unfähig«, fuhr sie fort, indem sie die Augen nur leicht nach Jeremiah umwandte, »einen verantwortlichen Teil des Geschäfts zu übernehmen, wenn ich auch die Fähigkeit dazu hätte. Einige unsrer alten Freunde jedoch (vorzüglich die Schreiber dieses Briefes) haben die Freundlichkeit, unserer nicht zu vergessen, und wir erhalten uns die Fähigkeit, was sie uns auftragen, so tatkräftig zu tun, wie wir es immer getan haben. Das kann Sie jedoch nicht interessieren. Sie sind Engländer, Sir?«

»Offen gesagt, Madame, nein; ich bin in England weder geboren noch erzogen. Ich gehöre wirklich keinem Lande an«, sagte Mr. Blandois, sein Bein ausstreckend und darauf schlagend, »ich stamme von einem halben Dutzend Ländern ab.«

»Sie sind viel in der Welt herumgekommen?«

»Es ist wahr. Beim Himmel, Madame, ich war hier und dort und überall!«

»Sie haben wahrscheinlich keine Familienbande? Sind nicht verheiratet?«

»Madame«, sagte Blandois, mit einem häßlichen Senken seiner Augbrauen, »ich bete Ihr Geschlecht an, aber ich bin nicht verheiratet – ich war es nie.«

Mistreß Affery, die neben ihm am Tisch stand, sah, indem sie den Tee eingoß, zufällig in ihrem traumhaften Zustand den Fremden an, als er diese Worte sprach, und glaubte einen Ausdruck in seinen Augen zu bemerken, der ihre Augen so gewaltig fesselte, daß sie sich nicht losreißen konnte. Die Wirkung dieser Einbildung war, daß sie ihn, mit der Teekanne in der Hand, nicht bloß zu ihrem eigenen Mißbehagen, sondern offenbar auch zu dem seinigen, und durch sie beide zu dem von Mrs. Clennam und Mr. Flintwinch unverwandt anstarrte. Auf diese Weise traten einige geisterhafte Augenblicke ein, während deren sie sich alle verwirrt, und nicht wissend warum, ansahen.

»Affery«, sagte ihre Herrin, zuerst die Pause unterbrechend, »was ist mit dir?«

»Ich weiß nicht«, sagte Mistreß Affery, indem sie ihre unbeschäftigte linke Hand nach dem Fremden ausstreckte. »Ich bin es nicht. Er ist es!«

»Was meint diese gute Frau?« rief Mr. Blandois blaß und heiß werdend, indem mit einem Blicke so tödlichen Zornes aufstand, daß dieser seltsam mit dem schwachen Ausdruck seiner Worte kontrastierte. »Wie ist es möglich, dieses gute Geschöpf zu verstehen?«

»Es ist nicht möglich«, sagte Mr. Flintwinch, indem er sich rasch nach ihr umdrehte. »Sie weiß nicht, was sie will. Sie ist eine blödsinnige Frau, eine Schwärmerin in ihrem Sinne. Sie soll eine Dosis Arznei haben, sie soll eine tüchtige Dosis haben. Mache, daß du fortkommst, Frau«, fügte er, leise ihr ins Ohr flüsternd, hinzu, »mache, daß du fortkommst, solange du noch weißt, daß du Affery bist, und ich dich noch nicht zu Schaum geschüttelt.«

Mistreß Affery, besorgt für die Gefahr, in der ihre Identität stand, ließ die Teekanne los, als ihr Gatte sie ergriff, nahm die Schürze über den Kopf und war in einem Nu verschwunden. Der Fremde brach nach und nach in ein Lachen aus und setzte sich wieder nieder.

»Sie werden sie entschuldigen, Mr. Blandois«, sagte Jeremiah, indem er den Tee selbst eingoß; »sie ist geistesschwach und zerstreut; daran fehlt’s. Nehmen Sie Zucker, Sir?«

»Danke; keinen Tee für mich. – Verzeihen Sie meine Bemerkung, aber das ist eine sehr merkwürdige Uhr.«

Der Teetisch war in die Nähe des Sofas gestellt, mit einem geringen Zwischenraum zwischen diesem und Mrs. Clennams eigenem besonderen Tisch. Mr. Blandois war in seiner Galanterie aufgestanden, um der Dame den Tee zu reichen (ihre gerösteten Brotschnitten standen bereits vor ihr), und während er so die Tasse in passende Entfernung von ihr stellte, zog die Uhr, die wie immer vor ihr lag, seine Aufmerksamkeit auf sich. Mrs. Clennam sah plötzlich zu ihm auf.

»Ist es erlaubt? Danke. Eine schöne altertümliche Uhr«, sagte er und nahm sie in seine Hand. »Schwer für den Gebrauch, aber massiv und echt. Ich habe eine besondere Liebhaberei für alles Echte. Ich bin selbst, so wie ich bin, durchaus echt. Ha! Eines Gentleman Uhr mit zwei Gehäusen nach der alten Fasson. Darf ich sie aus dem äußeren Gehäuse nehmen? Danke. Ah! ein altes seidenes Uhrfleckchen mit Perlen gestickt? Ich habe dergleichen oft bei alten Holländern und Belgiern gesehen. Niedliche Dinge!«

»Sie sind auch sehr altmodisch«, sagte Mrs. Clennam.

»Sehr. Aber das ist, wie mir scheint, nicht so alt wie die Uhr.«

»Ich glaube nicht.«

»Eigentümlich, wie sich diese Chiffern ineinander zu verschlingen pflegten«, gemerkte Blandois und sah mit seinem bekannten Lächeln auf. »Wie, heißt das nicht D.N.F.? Es könnte beinahe alles sein.«

»Das sind die Buchstaben.«

Mr. Flintwinch, der die ganze Zeit beobachtend, mit einer Tasse Tee in der Hand und den Mund geöffnet, um den Inhalt zu verschlingen, dasaß, begann endlich zu trinken: er war gewöhnt, immer seinen Mund ganz zu füllen, ehe er ihn auf einen Schluck leerte, und immer zuvor mit sich zu Rate zu gehen, ehe er ihn wieder füllte.

»D.N.F. war ohne Zweifel ein zartes, liebenswürdiges, bezauberndes, hübsches Geschöpf«, bemerkte Blandois, indem er das Gehäuse wieder aufnahm. »Ich bete sie schon an, wenn ich nur daran denke. Unglücklicherweise bete ich, für den Frieden meiner Seele, nur zu leicht an. Es mag ein Fehler, es mag eine Tugend sein, aber Anbetung weiblicher Schönheit und Vorzüge bilden drei Teile meines Charakters, Madame.«

Mr. Flintwinch hatte sich indessen eine weitere Tasse Tee eingeschenkt, die er in Schlucken wie zuvor verschlang, während seine Blicke auf die kranke Frau gerichtet waren.

»Ihr Herz kann hier ruhig sein, Sir«, versetzte sie, an Blandois gewandt. »Diese Buchstaben bilden, glaube ich, nicht die Initialen eines Namens.« »Vielleicht eines Motto«, sagte Blandois einwerfend.

»Einer Sentenz. Sie standen, glaube ich, immer für ›Do Not Forget‹ (vergiß nicht)!«

»Aber natürlich«, sagte Mr. Blandois, indem er die Uhr wieder an ihren Ort legte und zu seinem Stuhle zurückging, »Sie vergessen auch nicht.«

Mr. Flintwinch, der jetzt vollends austrank, nahm nicht nur einen längeren Schluck als bisher, sondern machte die darauffolgende Pause auch unter neuen Umständen: das heißt, er hatte seinen Kopf zurückgeworfen und seine Tasse an den Lippen, während seine Augen noch immer auf der Kranken ruhten. Sie besaß jene Gewalt über ihr Gesicht und jene konzentrierte Kraft, ihre Festigkeit oder richtiger Halsstarrigkeit im Ausdruck zusammenzuhalten. In ihrem Fall ersetzte sie, was andre durch Gebärde und Geste ausgedrückt hätten, als sie in ihrer bedächtigen und entschiedenen Weise antwortete:

»Nein, Sir, ich vergesse nicht. Ein so monotones Leben wie das, das ich seit vielen Jahren führe, ist nicht der Weg zum Vergessen. Ein Leben der Selbstpeinigung ist nicht der Weg zum Vergessen. Zu fühlen, daß man (wie wir alle, jedes von uns, alle Kinder Adams!) Verfehlungen wieder gutzumachen und Frieden anzubahnen habe, rechtfertigt den Wunsch zu vergessen nicht. Deshalb habe ich längst darauf verzichtet und vergesse weder, noch wünsche ich zu vergessen.«

Mr. Flintwinch, der zuletzt den Satz am Boden seiner Teetasse umhergeschüttelt, schluckte ihn jetzt und richtete, indem er die Tasse, mit der er fertig war, auf das Teebrett stellte, die Blicke auf Mr. Blandois, als wollte er ihn fragen, was er davon denke?

»All das, Madame«, sagte Mr. Blandois mit seiner weichsten Verbeugung und die weiße Hand auf die Brust legend, »all das war durch das Wort ›Natürlich‹ ausgedrückt, das ich vorhin anzuwenden Scharfsinn und Takt (ohne Takt wäre ich nicht Blandois) genug besessen zu haben stolz bin.«

»Verzeihen Sie, Sir«, versetzte sie, »wenn ich die Wahrscheinlichkeit bezweifle, daß ein Mann des Vergnügens, des Glücks und der Galanterie, ein Mann, der zu schmeicheln und sich schmeicheln zu lassen gewöhnt ist –«

»O Madame! Wahrhaftig!«

»– wenn ich zweifle, daß ein solcher Charakter imstande sei, zu begreifen, was mir in meinen Umständen zukommt. Nicht als wollt‘ ich Ihnen eine Lehre aufdrängen«, sie sah nach dem großen Stoß schwerer verblichener Bücher vor sich, »(denn Sie gehen Ihren eigenen Weg, und die Folgen kommen über Ihr Haupt), ich sage nur so viel: ich steure meinen Weg mit Hilfe von Piloten, geprüften und erfahrenen Piloten, mit denen ich nicht Schiffbruch leiden kann – nicht Schiffbruch leiden kann –, und wenn ich der Mahnungen uneingedenk wäre, die mir diese drei Buchstaben bringen, würde ich nicht halb so sehr gestraft sein, wie ich es jetzt bin.«

Es war eigentümlich, wie sie die Gelegenheit ergriff, mit einem unsichtbaren Gegner zu disputieren. Vielleicht mit ihrem eigenen bessern Gefühl, das sich immer gegen sie und ihren Selbstbetrug wandte,

»Wenn ich die unwissentlichen Fehler vergäße, die ich während der Tage der Gesundheit und Freiheit beging, so würde ich über das Leben klagen, zu dem ich jetzt verdammt bin. Ich tue es aber nie und habe es nie getan. Wenn ich vergäße, daß dieser Schauplatz, die Erde, ein Schauplatz der Trübsal und Mühsal und finsterer Prüfung für die Geschöpfe zu sein bestimmt ist, die aus seinem Staube geschaffen sind, so möchte ich mich über die Eitelkeit derselben grämen. Aber ich kenne dieses Gefühl nicht. Wenn ich nicht wüßte, daß wir, jeder einzelne, der Gegenstand (höchst gerechterweise der Gegenstand) eines Zornes sind, der versöhnt werden muß und gegen den bloße Handlungen nichts bedeuten, so würde ich über den Unterschied zwischen mir, die hier gefangen sitzt, und den Leuten, die durch den Torweg drunten gehen, murren. Aber ich betrachte es als eine Gnade und Gunst vom Himmel, ausgewählt zu sein, die Versöhnung herbeizuführen, die ich hienieden anbahne; zu wissen, was ich hienieden als gewiß weiß, und zu erreichen, was ich hienieden erreicht habe. Mein Leiden hätte sonst keinen Sinn für mich. Deshalb möchte ich nichts vergessen, und ich vergesse nichts. Deshalb bin ich zufrieden und sehe, es ist besser mit mir als mit Millionen anderen.«

Während sie diese Worte sprach, legte sie ihre Hand auf die Uhr und schob sie wieder genau an den Ort auf ihrem kleinen Tisch, den diese gewöhnlich einnahm. Sie ließ die Hand unverwandt darauf ruhen und saß noch einige Momente, den Blick starr und halb verächtlich auf sie gerichtet, da.

Mr. Blandois war während dieser Auseinandersetzung ganz Ohr; er heftete die Augen auf die Dame und strich sich den Schnurrbart mit beiden Händen. Mr. Flintwinch war etwas unruhig geworden und fiel nun ins Wort:

»Ja, ja, ja!« sagte er. »Das versteht sich, Mrs. Clennam, und Sie haben fromm und gut gesprochen. Mr. Blandois, möcht‘ ich vermuten, neigt nicht besonders zur Frömmigkeit.«

»Im Gegenteil, Sir«, warf der Fremde protestierend ein, indem er mit seinen Fingern schnalzte. »Sie verzeihen! Es ist gerade eine Seite meines Charakters. Ich bin gefühlvoll, feurig, gewissenhaft und phantasiereich. Ein gefühlvoller, feuriger, gewissenhafter und phantasiereicher Mann, Mr. Flintwinch, muß das sein, oder er ist nichts.«

Es lag ein leichter Verdacht in Mr. Flintwinchs Gesicht, er möchte eben nichts sein, als der Fremde aus seinem Stuhl auffuhr (es war charakteristisch für diesen Mann wie für alle ähnlichen Persönlichkeiten, daß er alles, was er je tat, übertrieb, und wäre es auch nur um ein Haar breit) und näher trat, um von Mrs. Clennam Abschied zu nehmen.

»Was werden Sie von dem Egoismus einer kranken alten Frau denken, Sir«, sagte sie dann, »obgleich ich wirklich nur durch Ihre zufällige Anspielung auf mich und meine Schwächen dazu veranlaßt worden bin. Da Sie so rücksichtsvoll waren, mich zu besuchen, hoffe ich, werden Sie ebenso rücksichtsvoll sein, darüber hinwegzusehen. Sagen Sie mir aber bitte keine Artigkeit mehr.« Denn er war sichtlich im Begriff, dies zu tun. »Mr. Flintwinch wird sich außerordentlich freuen, Ihnen jeden Dienst zu erweisen, und ich hoffe, Ihr Aufenthalt in dieser Stadt soll Ihnen angenehm werden.«

Mr. Blandois dankte ihr und küßte ihre Hand mehrere Male. »Das ist ein altes Zimmer«, bemerkte er, indem er sich plötzlich lebhaft umsah, als er nach der Tür ging. »Ich war so in Gedanken, daß ich es gar nicht bemerkte, aber es ist ein echtes altes Zimmer.«

»Ja, es ist ein echtes altes Haus«, sagte Mrs. Clennam mit ihrem kalten Lächeln: »Ein Haus ohne alle Anmaßung, aber ein Stück Altertum.«

»Ganz gewiß!« rief der Fremde. »Wenn Mr. Flintwinch die Güte haben wollte, mich auf dem Wege hinaus durch die Zimmer zu führen, er könnte mir keinen größeren Dienst erweisen. Ein altes Haus ist eine Schwäche von mir. Ich habe manche Schwäche, aber keine größere. Ich liebe und studiere das Malerische in allen Richtungen. Ich bin selbst malerisch genannt worden. Es ist kein Verdienst, malerisch zu sein – ich habe vielleicht größere Verdienste –, aber ich mag es durch irgendeinen Zufall sein. Sympathie, Sympathie!«

»Ich sage Ihnen im voraus, Mr. Blandois, daß Sie es sehr dunkel und sehr leer finden werden«, sagte Jeremiah, indem er das Licht nahm. »Es ist des Ansehens nicht wert.« Mr. Blandois klopfte ihm jedoch freundlich auf den Rücken und lachte, statt zu antworten. Darauf warf Mr. Blandois Mrs. Clennam noch einige Kußhände zu, und sie verließen zusammen das Zimmer.

»Sie wollen wohl nicht in das obere Stockwerk gehen?« sagte Jeremiah auf der Schwelle.

»Im Gegenteil, Mr. Flintwinch; wenn es nicht ermüdend für Sie ist, würde es mich ungemein freuen!«

Mr. Flintwinch krümmte sich demzufolge die Treppe hinauf, und Mr. Blandois folgte ihm auf den Fersen. Sie stiegen nach dem großen Schlafzimmer im Dache, das Arthur am Abend seiner Rückkehr bewohnt hatte. »Hier, Mr. Blandois!« sagte Jeremiah, indem er es zeigte, »ich wünsche nun, Sie werden den Anblick der Mühe des Steigens wert erachten. Ich gestehe, mir wär‘ es nicht der Mühe wert.«

Da Mr. Blandois entzückt war, gingen sie noch durch andere Dachstuben und Gänge und kamen wieder die Treppe hinab. Inzwischen hatte Mr. Flintwinch bemerkt, daß der Fremde, nachdem er einen flüchtigen Blick umhergeworfen, nie mehr das Zimmer, sondern beständig ihn, Mr. Flintwinch, ansah. Nachdem er diese Entdeckung bei sich gemacht, drehte er sich auf der Treppe zu einer weiteren Probe um. Ihre Blicke begegneten sich alsbald; und in dem Augenblick, als sie sich aufeinander hefteten, lachte der Fremde mit jenem häßlichen Spiel der Nase und des Bartes (wie er es in jedem ähnlichen Augenblick, seit sie Mrs. Clennams Zimmer verlassen, getan) teuflisch vor sich hin.

Als ein weit kleinerer Mann, wie es der Fremde war, befand sich Mr. Flintwinch in dem physischen Nachteil, daß er auf diese unangenehme Weise von oben herab angeschielt wurde; und da er zuerst die Treppe hinunterging und gewöhnlich eine Stufe oder zwei tiefer als der andere stand, so war der Nachteil für den Augenblick noch größer. Er sah sich deshalb erst wieder nach Mr. Blandois um, als diese zufällige Ungleichheit durch den Eintritt in das Zimmer des verstorbenen Mr. Clennam aufgehoben war. Dann aber drehte er sich plötzlich nach ihm um, fand jedoch seinen Blick unverändert.

»Ein höchst merkwürdiges altes Haus«, lächelte Mr. Blandois. »So geheimnisvoll. Hören Sie nie ein unheimliches Geräusch hier?«

»Geräusch?« versetzte Mr. Flintwinch. »Nein.«

»Und sehen Sie auch keine Gespenster?«

»Nein«, sagte Mr. Flintwinch, indem er sich zornig nach dem Frager umwandte. »Keins, das sich unter diesem Namen und in dieser Eigenschaft einführte.«

»Haha! Ein Porträt hier, wie ich sehe?«

(Er sah immer noch Mr. Flintwinch an, als wäre er das Porträt.)

»Ein Porträt, Sir, wie Sie bemerkten.«

»Darf ich fragen, wen es vorstellt, Mr. Flintwinch?«

»Den seligen Mr. Clennam. Ihren Gemahl.«

»Vielleicht der frühere Besitzer jener merkwürdigen Uhr?« sagte der Fremde.

Mr. Flintwinch, der seine Blicke auf das Porträt geworfen, drehte sich wieder um und fand sich abermals als Gegenstand desselben Lächelns und Blickes. »Ja, Mr. Blandois«, antwortete er scharf. »Es war seine Uhr und seines Oheims vor ihm, und der Herr weiß, wessen noch vor ihm; das ist alles, was ich Ihnen von ihrem Stammbaum sagen kann.«

»Das ist ein scharf ausgeprägter Charakter, Mr. Flintwinch, unsere Freundin oben.«

»Ja, Sir«, sagte Jeremiah, sich wieder nach dem Fremden umdrehend, was er während dieses Gesprächs tat, wie eine Schraubenmaschine, die zu kurz eingreift, denn der andere änderte sich keinen Augenblick, und er sah sich immer gezwungen, etwas zurückzutreten. »Sie ist eine merkwürdige Frau. Großer Mut – große Stärke des Geistes.«

»Sie müssen sehr glücklich zusammen gewesen sein«, sagte Blandois.

»Wer?« fragte Flintwinch, indem er sich wieder umdrehte.

Mr. Blandois streckte den rechten Zeigefinger nach dem Krankenzimmer und seinen linken Zeigefinger nach dem Porträt aus; dann stemmte er die Arme in die Seite, streckte die Beine weit auseinander und sah lächelnd mit herabstrebender Nase und emporgezogenem Schnurrbart auf Mr. Flintwinch herab. »Vermutlich so glücklich wie die meisten andern Leute«, versetzte Mr. Flintwinch. »Ich kann’s nicht sagen. Ich weiß es nicht. Es gibt in allen Familien Geheimnisse.«

»Geheimnisse!« rief Mr. Blandois« lebhaft. »Sag‘ es noch einmal, mein Sohn.«

»Ich sage«, versetzte Mr. Flintwinch, gegen den er sich so plötzlich aufgebläht, daß Mr. Flintwinch durch die ausgedehnte Brust sein Gesicht beinahe gestreift fühlte. »Ich sage, es gibt Geheimnisse in allen Familien.«

»So, es gibt welche«, rief der andere, indem er ihm auf beide Schultern schlug und ihn vor- und rückwärts bog. »Haha! Sie haben recht. So, es gibt welche! Geheimnisse? Wahrhaftig, es gibt des Teufels eigene Geheimnisse in einigen Familien, Mr. Flintwinch.« Nachdem er Mr. Flintwinch mehrmals auf beide Schultern geklopft, als ob er sich gleichsam in freundlicher und humoristischer Weise über diesen Scherz lustig machte, den er zum besten gegeben, zog er seine Arme hinauf, warf seinen Kopf zurück, schwang die Hände hinter demselben ineinander und brach in ein lautes Lachen aus. Vergeblich suchte Mr. Flintwinch sich noch einmal gegen ihn aufzuschrauben. Er kam nicht gegen dieses Lachen an.

»Aber erlauben Sie mir einen Augenblick da Licht«, sagte Blandois, als er ausgelacht. »Wir wollen einen Blick auf den Gemahl jener merkwürdigen Frau werfen. Ha!« rief er, indem er das Licht einen Arm hoch hielt. »Auch hier große Entschiedenheit im Ausdruck, obwohl nicht von demselben Charakter. Blicke, als wollte er sagen – wie heißt es? Vergiß nicht – nicht wahr, Mr. Flintwinch? Beim Himmel, Sir, so sieht er aus!«

Als er ihm das Licht zurückgab, sah er ihn noch einmal an und erklärte dann, während er langsam mit ihm in den Flur hinausschritt, es sei wirklich ein reizendes altes Haus. Es habe ihm so sehr gefallen, daß er seine Besichtigung nicht für hundert Pfund missen möchte.

Trotz dieser eigentümlichen Vertraulichkeit seitens Mr. Blandois‘, die eine allgemeine Veränderung in seinem Benehmen in sich schloß, das dadurch weit gröber und rauher, weit ungestümer und kühner als früher wurde, bewahrte Mr. Flintwinch, dessen ledernes Gesicht dem Wechsel nicht sehr ausgesetzt war, seine Unbeweglichkeit unverändert bei. Ja, er sah in diesem Augenblick aus, als wenn er vielleicht etwas zu lange bis zu der freundschaftlichen Operation des Abschneidens gehangen – eine so gleichförmige Ruhe bewahrte er in seinem ganzen Wesen. Sie hatten ihre Rundschau mit einem kleinen Zimmer an der Seite der Flur geschlossen, und Mr. Flintwinch stand nun da und betrachtete Mr. Blandois.

»Ich freue mich, daß Sie so sehr befriedigt sind, Sir«, lautete seine kalte Bemerkung. »Ich erwartete es wirklich nicht. Sie scheinen in sehr guter Stimmung zu sein.«

»In herrlicher Stimmung«, versetzte Blandois. »Auf Ehre, ich war noch nie so angenehm erfrischt. Haben Sie immer Vorahnungen, Mr. Flintwinch?«

»Ich bin nicht gewiß, ob ich weiß, was Sie mit diesem Ausdruck meinen, Sir«, antwortete Jeremiah.

»Das heißt in diesem Fall, Mr. Flintwinch, unbestimmte Ahnungen von einem Vergnügen, das kommt.«

»Ich kann nicht behaupten, daß ich gegenwärtig ein solches Gefühl habe«, versetzte Mr. Flintwinch mit dem größten Ernst. »Wenn ich es nahen fühlen sollte, werde ich es Ihnen sagen.«

»Ich aber«, sagte Blandois, »ich, mein Sohn, habe heute abend eine Ahnung, daß wir gut miteinander bekannt werden. Fühlen Sie das auch kommen?«

»N – nein«, entgegnete Mr. Flintwinch, bedächtig bei sich überlegend. »Ich kann das nicht behaupten.«

»Ich habe ein starkes Vorgefühl, daß wir sehr intim miteinander bekannt werden. – Haben Sie noch kein Gefühl der Art?«

»Noch nicht«, sagte Mr. Flintwinch.

Mr. Blandois nahm ihn wieder bei beiden Schultern; wiegte ihn wieder in seiner heitern Weise wie zuvor; nahm ihn dann unter den Arm und lud ihn ein, mit ihm zu kommen und eine Flasche mit ihm zu trinken: er wolle seinen guten, schlauen, alten Jungen bei sich haben.

Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, nahm Mr. Flintwinch die Einladung an, und sie gingen durch den Regen, der seit Anbruch der Nacht an den Fenstern, Dächern und auf dem Pflaster gerüttelt hatte, nach dem Quartier, wo der Reisende wohnte. Donner und Blitz hatten schon lange aufgehört, aber der Regen floß außerordentlich heftig herab. Bei ihrer Ankunft in Mr. Blandois‘ Zimmer befahl dieser wackere Mann eine Flasche Portwein und kauerte sich dann (nachdem er alles, was er nur Weiches auftreiben konnte, zusammengepreßt, um es seiner zarten Person bequem zu machen) in dem Fenstersitz nieder, während Mr. Flintwinch einen Stuhl gegenüber von ihm nahm, so daß der Tisch zwischen ihnen stand. Mr. Blandois machte den Vorschlag, daß sie die größten Gläser, die im Hause seien, kommen lassen wollten, was Mr. Flintwinch billigte. Nachdem die Humpen gefüllt waren, klinkte Mr. Blandois in lärmender Heiterkeit mit der Spitze seines Glases an den Fuß von Mr. Flintwinchs Glas und trank auf die intime Freundschaft, die er kommen sah. Mr. Flintwinch tat ihm ernsthaft Bescheid und trank allen Wein, den er bekommen konnte, antwortete aber nichts. Sooft Mr. Blandois anstieß, was bei jedem Füllen der Fall war, tat Mr. Flintwinch willig Bescheid und würde den Wein seines Trinkgenossen, so gut wie den seinen, ausgetrunken haben: denn er war mit Ausnahme des Gaumens eine reine Tonne.

Kurz, Mr. Blandois fand, daß Portwein in den verschwiegenen Flintwinch zu gießen, ihn nicht öffnen, sondern zuschließen heiße. Ferner machte er den Eindruck, als ob er vollkommen imstande wäre, die ganze Nacht so fortzufahren, oder wenn sich Gelegenheit böte, den ganzen nächsten Tag und den ganzen nächsten Abend. Dagegen wurde sich Mr. Blandois bald deutlich bewußt, daß er zu stolz und keck renommiere. Er machte deshalb nach der dritten Flasche der Unterhaltung ein Ende. »Sie werden morgen auf uns ziehen, Sir?« sagte Mr. Flintwinch, indem er sich beim Weggehen ein geschäftliches Ansehen zu geben suchte.

»Lieber Kohlkopf«, erwiderte der andere, indem er ihn mit beiden Händen am Kragen faßte. »Ich werde auf Sie ziehen, haben Sie keine Furcht. Adieu, mein Flintwinch. Empfangen Sie beim Scheiden«, fuhr er fort, umarmte ihn mit südlichem Feuer und küßte ihn schmatzend auf beide Wangen, »empfangen Sie das Wort eines Gentleman! Bei allen tausend Donnern, Sie sollen mich wiedersehen!«

Er erschien am nächsten Tage nicht, obgleich der Avisbrief richtig ankam. Als Mr. Flintwinch abends nach ihm fragte, erfuhr er zu seinem großen Staunen, daß der Fremde seine Rechnung bezahlt hatte und über Calais nach dem Kontinent gegangen sei. Nichtsdestoweniger scharrte Jeremiah aus seinem nachdenklichen Gesicht die Überzeugung zusammen, daß Mr. Blandois in jedem Fall sein Wort halten und sich wieder sehen lassen werde.

Einunddreißigstes Kapitel.


Einunddreißigstes Kapitel.

Hochsinn.

Man kann jeden Tag in den von Menschen wimmelnden Straßen der Hauptstadt einem magern, runzligen, gelben, alten Mann begegnen (von dem man glauben möchte, es sei aus den Sternen gefallen, wenn irgendein Stern am Himmel dunkel genug wäre, um in Verdacht zu geraten, er habe eine so schwache Schnuppe ausgeworfen). Er schleicht mit scheuer Miene fort, als mache ihn das Geräusch und der Lärm unheimlich ängstlich. Dieser alte Mann ist immer ein kleiner alter Mann. Wenn er je ein großer alter Mann gewesen war, so ist er zu einem kleinen alten Mann zusammengeschrumpft; war er immer ein kleiner alter Mann, so ist er zu einem noch kleineren alten Mann zusammengeschwunden. Sein Rock ist von einer Farbe und einem Schnitt, die nie und nirgends Mode waren. Offenbar war er weder für ihn noch für irgendeinen Sterblichen gemacht. Ein Lieferant en gros maß dem Schicksal fünftausend Röcke solcher Qualität an, und das Schicksal lieh diesen alten Rock diesem alten Manne als einem Glied aus der langen unendlichen Kette vieler alten Männer. Er hat immer große dunkle Metallknöpfe, wie es sonst keine Metallknöpfe gibt. Dieser alte Mann trägt einen Hut, einen abgegriffenen und kahlen, aber hartnäckigen Hut, der sich nie an seinen alten Kopf angeschmiegt. Sein schmutziges Hemd und sein schmutziges Halstuch haben nicht mehr Persönliches als sein Rock und sein Hut; sie haben denselben Charakter, als ob sie nicht ihm gehörten, – als ob sie niemandem gehörten. Und doch trägt dieser alte Mann diese Kleider mit einem gewissen ungewohnten Gefühl, für die Straße angezogen und herausgeputzt zu sein, als wenn er den größeren Teil seines Lebens in einer Nachtmütze und in einem Schlafrock zugebracht. So geht dieser alte Mann durch die Straße einher wie die Feldmaus im zweiten Hungerjahr, wenn sie die Stadtmaus besucht und ängstlich ihren Weg zur Wohnung dieser durch eine Stadt von Katzen sucht.16

Bisweilen wird man ihn an Festtagen gegen Abend noch etwas unsicherer einherschreiten sehen, und seine Augen werden wie ein feuchtes und sumpfiges Licht glänzen. Dann ist der alte Mann betrunken. Ein sehr kleines Maß wird ihn umwerfen; ein Viertelliter vermag seine unsicheren Beine aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ein mitleidiger Bekannter – er stößt sehr häufig auf Bekannte – hat ihm den schwachen Magen mit Bier erwärmt, und die Folge ist, daß es länger als gewöhnlich dauert, bis er wieder vorüberkommt. Denn der kleine alte Mann geht heim in das Armenhaus; und trotz seiner guten Aufführung lassen sie ihn nicht oft heraus (obgleich sie das meiner Ansicht nach doch sollten, wenn man die wenigen Jahre in Anschlag bringt, die er unter der Sonne noch aus- und einzugehen hat); und wegen seiner schlechten Aufführung schließen sie ihn fester als je mit einem Haufen von zwei Schock und neunzehn alten Männern ein, von denen jeder nach allen übrigen riecht.

Mrs. Plormishs Vater – ein armer, kleiner alter Mann mit einer rauhen Stimme – wie ein ausgesungener Vogel – war, wie er es nannte, Musikbinder gewesen, hatte vieles Unglück erlebt, und selten war es ihm gelungen, irgendwo sein Glück zu machen, oder zu wissen, was er machen solle, oder zu bezahlen, oder irgend etwas anderes zu tun, als nicht zu wissen, wo hinaus. Mrs. Plornishs Vater hatte sich bei der Pfändung, die Mr. Plornish nach dem Marschallgefängnis gebracht hatte, freiwillig in das Armenhaus zurückgezogen, das durch das Gesetz der barmherzige Samariter seines Distriktes (ohne die zwei Pence, eine schlechte Staats-Sparsamkeit) zu sein bestimmt war. Ehe die Verlegenheiten seines Schwiegersohnes diese Höhe erreichten, hatte der »alte Nandy« (so wurde er immer an seinem gesetzlichen Ruhesitz genannt, unter den »blutenden Herzen« hieß er der »alte Herr Nandy«) in einer Ecke am Kamine der Plornishs gesessen und seine Bedürfnisse an Speise und Trank aus dem Speiseschrank der Plornishs genommen. Er hoffte noch immer, diese häusliche Stellung wieder einzunehmen, wenn das Glück seinem Schwiegersohn lächeln sollte. In der Zwischenzeit bewahrte er sich eine unerschütterliche Fassung und war einer jener kleinen alten Männer in einem Haufen von alten kleinen Männern mit jenem gemeinschaftlichen Geruch und beschloß es auch zu bleiben.

Aber keine Armut, die auf ihm lastete, und kein nie in der Mode gewesener Rock, den er trug, und keine Altemännerwache vor seiner Wohnung konnte die Bewunderung seiner Tochter beeinträchtigen. Mrs. Plornish war so stolz auf ihres Vaters Talente, wie sie es hätte etwa sein können, wenn man ihren Vater zum Lord-Kanzler gemacht. Sie hatte einen so festen Glauben an die Feinheit und den Anstand feiner Manieren, wie sie es hätte haben können, wenn er Lord-Oberhofmeister gewesen. Der arme, kleine alte Mann kannte einige verblichene und abgelebte Lieder von Chloë und Phyllis und von Strephon, der von dem Sohn der Venus verwundet wurde. Diese Lieder waren längst verschollen. Für Mrs. Plornish gab’s in der Oper selbst keine solche Musik, wie das schwächliche innere Zittern und Zirpen, mit dem der Alte diese Liedchen wie eine schwache, kleine, zerbrochene Drehorgel, die ein Wickelkind dreht, zum besten gab. An seinen ›Ausgehtagen‹, jenen Lichtpunkten in seiner flachen Aussicht auf die gekappten Bäume der alten Männer, war es Mrs. Plornishs Lust und Anliegen, wenn er tüchtig gegessen und für einen vollen halben Penny Porter getrunken, den alten Mann aufzufordern: ›Sing uns ein Lied, Vater!‹

Dann sang er ihnen gewöhnlich Chloë, und wenn er in besonders guter Stimmung war, auch Phyllis – zu Strephon war er kaum mehr zu bewegen, seit er sich auf seinen Ruhesitz zurückgezogen, und dann erklärte Mrs. Plornish gewöhnlich, sie glaube nicht, daß je ein solcher Sänger wie der Vater existierte, und rieb sich dazu die Augen.

Wenn er bei solchen Gelegenheiten von Hof gekommen wäre, ja, wenn er der edle ›Kühler‹ gewesen, der triumphierend von einem fremden Hofe heimgekehrt ist, um sich nach seinem letzten furchtbaren Mißlingen vorstellen und befördern zu lassen, hätte ihn Mrs. Plornish nicht mit größerer Begeisterung im Hof zum blutenden Herzen an der Hand umherführen können. ›Hier ist der Vater‹, sagte sie dann gewöhnlich, wenn sie ihn einem Nachbar vorstellte. ›Vater wird jetzt bald wieder für immer bei uns sein. Sieht Vater nicht gut aus? Vater singt angenehmer als je. Sie würden es in Ihrem ganzen Leben nicht mehr vergessen, wenn Sie ihn eben gehört hätten.‹ Mr. Plornish hatte diese Glaubensartikel geheiratet, als er Mr. Nandys Tochter zur Frau nahm, und wunderte sich nur, wie es kam, daß ein so begabter alter Mann nicht sein Glück gemacht hatte. Nach vielem Hin- und Hersinnen schrieb er es dem Umstand zu, daß sein musikalisches Genie nicht in der Jugend wissenschaftlich entwickelt worden war. ›Warum‹, argumentierte Mr. Plornish, ›warum Musik einbinden, wenn man sie in sich hat? Darin liegt’s nach meiner Ansicht.‹

Der alte Nandy hatte einen Gönner: einen Gönner. Er hatte einen Gönner, der, auf eine gewisse pompös-prunkhafte Weise, auf eine zugleich entschuldigende Weise, als ob er ständig eine bewundernde Zuhörerschaft als Zeugen anriefe, daß er wirklich freundlich mit diesem alten Jungen sein könne, mehr als sie nach seiner Einfachheit und Armut erwartet haben dürften –, er hatte einen Patron, wie gesagt, der in solcher Weise außerordentlich gut gegen ihn war. Der alte Nandy war verschiedene Male im Marschallgefängnis gewesen und hatte mit seinem Schwiegersohn während seines kurzen Aufenthaltes dort verkehrt. Dadurch war er so glücklich, sich die Gönnerschaft des Vaters dieses Nationalinstituts zu erwerben, und hatte sie nach und nach im Verlauf der Zeit bedeutend gemehrt.

Mr. Dorrit hatte die Gewohnheit, diesen alten Mann zu empfangen, als wenn er in irgendeiner feudalen Lehensabhängigkeit von ihm stünde. Er gab ihm kleine Gastmähler und Tees, als wenn er mit seiner Huldigung von einem an der Grenze liegenden Distrikt käme, wo die Lehensleute noch in ihrem Urzustände seien. Es war, als ob es Augenblicke gäbe, in denen er nicht anders geschworen hätte, als daß der alte Mann einer seiner ehemaligen Vasallen sei, der sich durch seine Treue Verdienste erworben. Wenn er ihn erwähnte, so sprach er gewöhnlich als von seinem alten Pensionär. Er empfand eine ungemeine Befriedigung, wenn er ihn sah und über seinen herabgekommenen Zustand Bemerkungen machen konnte, sobald er gegangen. Es schien ihm erstaunlich, daß er überhaupt seinen Kopf aufrecht tragen konnte, der arme Mensch. »Im Armenhause, Sir, in der Union: keine Abgeschiedenheit, keine Besuche, keine Stellung, kein Respekt, keine Besonderheit für sich. Sehr traurig!«

Es war der Geburtstag des alten Nandy, und sie ließen ihn heraus. Er sagte nichts davon, daß sein Geburtstag sei; sonst hätten sie ihn vielleicht drinnen behalten; denn solche alten Leute sollten gar nicht geboren sein. Er ging durch die Straßen wie gewöhnlich nach dem Hof zum blutenden Herzen, nahm das Mittagmahl mit seinem Schwiegersohn und seiner Tochter ein und gab ihnen Phyllis zum besten. Er hatte kaum geschlossen, als Klein-Dorrit hereinsah, um zu hören, wie es ihnen allen gehe.

»Miß Dorrit«, sagte Mrs. Plornish, »hier ist der Vater! Sieht er nicht gut aus? Und was er für eine Stimme hat!«

Klein-Dorrit gab ihm ihre Hand und sagte lächelnd, sie hätte ihn schon so lange nicht mehr gesehen.

»Nein, sie sind ziemlich hart gegen den Vater«, sagte Mrs. Plornish mit einem länger werdenden Gesicht, »und lassen ihm nicht halb soviel Abwechslung und frische Luft zugute kommen, wie ihm wohltun würde. Aber er wird bald wieder ganz nach Hause kommen. Nicht wahr, Vater?«

»Ja, meine Liebe, ich hoffe es. Bald, wenn es Gott gefällt.«

Hier hielt Mr. Plornish eine Rede, die er gewöhnlich bei allen solchen Gelegenheiten, Wort für Wort dasselbe sagend, zum besten gab. Sie bestand in folgenden Ausdrücken:

»John Edward Nandy. Sir, solange eine Unze Speise oder Getränke irgendeiner Art unter diesem Dach sind, sollen Sie mir herzlich willkommen sein, sie mit uns zu teilen. Solange eine Handvoll Feuer oder ein Mundvoll Bett unter diesem Dach sind, sollen Sie mir herzlich willkommen sein, beides mit mir zu teilen. Sollte aber nichts mehr unter diesem Dache vorhanden sein, so werden Sie mir so willkommen sein, es zu teilen, als wenn es etwas mehr oder weniger wäre. Und das ist’s, was ich meine, und so betrüge ich Sie nicht, und folglich, was da ist, können Sie fordern, und weshalb es nicht tun?«

Auf diese glänzende Anrede, die Mr. Plornish immer in einer Weise zum besten gab, als hätte er sie, was ohne Zweifel auch der Fall war, mit ungeheurer Anstrengung verfaßt, antwortete Mrs. Plornishs Vater in pfeifendem Ton:

»Ich danke Ihnen freundlich, Thomas, ich kenne Ihre Absichten wohl, was eben die Sache ist, für die ich Ihnen freundlich danke. Doch nein, Thomas, ehe solche Zeiten kommen, wie sie noch nicht da sind, wo ich’s nicht aus ihrer Kinder Mund nähme, was geschieht, wenn ich’s nehme, und nennen Sie’s auch, wie Sie wollen, es bleibt immer dasselbe und ist eine Beraubung, wenn sie auch kommen, und so bald können sie nicht kommen, nein, Thomas, nein!«

Mrs. Plornish, die ihr Gesicht etwas abgewandt hatte und eine Ecke ihrer Schürze in der Hand hielt, mischte sich wieder in das Gespräch, indem sie Miß Dorrit mitteilte, daß Vater über die Themse gehen wolle, um seine Aufwartung zu machen, wenn sie nicht aus irgendeinem Grunde wüßte, daß es nicht angenehm wäre.

Ihre Antwort lautete: »Ich gehe gerade nach Hause, und wenn er mit mir kommen will, so werde ich mit Vergnügen für ihn sorgen – mit großem Vergnügen«, sagte Klein-Dorrit, die immer für die Schwachen besorgt war, »werde ich in seiner Gesellschaft gehen.«

»Hier, Vater!« rief Mrs. Plornish. »Wirst du nicht wieder jung und munter, daß du mit Miß Dorrit gehen darfst? Ich will dir dein Halstuch in einen regelmäßigen Knoten binden; denn du bist selbst ein rechter Stutzer, Vater, wenn es je einen solchen gab.«

Mit diesem kindlichen Scherze putzte ihn seine Tochter heraus und umarmte ihn herzlich, während sie an der Tür, mit dem schwachen Kinde auf dem Arme, stand, indes der stärkere Knabe die Treppe hinabrutschte. Sie sah ihrem kleinen alten Vater nach, der, seinen Arm in den von Miß Dorrit hängend, fortschwankte.

Sie gingen langsam, und Klein-Dorrit führte ihn über die Iron Bridge, ließ ihn dort sitzen, daß er sich ausruhe, und sie sahen über das Wasser hin und sprachen von Schiffahrt. Dabei sagte der alte Mann, was er tun würde, wenn er ein Schiff voll Gold hätte, das heimkehrte (sein Plan war, eine noble Wohnung für die Plornishs und sich selbst in einem Teegarten zu nehmen und dort ihr ganzes Leben, von dem Kellner bedient, zu wohnen). Es war diesmal wirklich ein ausgezeichneter Geburtstag für den alten Mann. Sie waren noch fünf Minuten von dem Ort ihrer Bestimmung entfernt, als sie an der Ecke ihrer Straße auf Fanny in ihrem neuen Hut stießen, die nach demselben Hafen hinsteuerte.

»Wie, ums Himmels willen, Amy!« rief das junge Mädchen erschrocken. »Du wirst doch nicht!«

»Was nicht, liebe Fanny?«

»Nein! Ich hätte viel von dir geglaubt«, versetzte die junge Dame mit glühender Entrüstung, »aber ich kann mir nicht denken, daß ich das, selbst von dir, für möglich gehalten hätte.«

»Fanny!« rief Klein-Dorrit verwundert und erstaunt.

»Oh, nenne mich nicht Fanny, du armseliges, kleines Ding, nenne mich nicht so. Welch ein Gedanke, auf offener Straße am hellen Tage mit einem Armenhäusler zu gehen!« Das Wort Armenhäusler schoß sie ab, als wäre es eine Kugel au« einer Luftkanone.

»Oh, Fanny!«

»Ich sage dir, du sollst mich nicht Fanny nennen; denn ich werde es nicht dulden. Ich kenne ein solches Geschöpf nicht. Die Art, wie du entschlossen bist, uns bei allen Gelegenheiten zu beschimpfen, ist wahrhaft abscheulich. Du schlechtes, kleines Ding!«

»Beschimpft das irgend jemand«, sagte Klein-Dorrit äußerst sanft, »wenn ich auf diesen armen, alten Mann achte?«

»Ja, Miß«, versetzte die Schwester, »und Sie sollten das wissen. Und Sie wissen es. Und Sie tun es, weil Sie’s wissen. Das Hauptvergnügen Ihres Lebens ist es, Ihre Familie an ihr Unglück zu erinnern. Und das nächste große Vergnügen Ihres Leben« ist, sich in niederer Gesellschaft zu bewegen. Wenn Sie jedoch kein Gefühl für Distanz haben, so habe ich es. Sie werden mir gefälligst erlauben, unbelästigt auf der andern Seite der Straße zu gehen.«

Damit hüpfte sie nach dem entgegengesetzten Trottoir. Der alte Schandfleck, der sich untertänig verbeugend ein paar Schritte zurückgetreten war (denn Klein-Dorrit hatte in ihrem Staunen seinen Arm losgelassen, als Fanny über sie herzufallen begann) und der von den ungeduldigen Vorübergehenden gestoßen und verwünscht worden war, weil er ihnen den Weg versperrte, trat ziemlich taumelig wieder zu seiner Begleiterin und sagte: »Ich hoffe, es ist doch Ihrem geehrten Vater kein Unglück geschehen, Miß? Ich hoffe, es ist nichts in der geehrten Familie geschehen?«

»Nein, nein«, versetzte Klein-Dorrit, »nein, ich danke Ihnen. Geben Sie mir wieder Ihren Arm, Mr. Nandy. Wir werden bald zu Hause sein.«

So sprach sie denn wieder mit ihm, wie sie früher gesprochen, und sie kamen nach dem Pförtnerstübchen; Mr. Chivery öffnete ihnen, und sie traten ein. Da geschah es denn, daß der Vater des Marschallgefängnisses gerade nach dem Pförtnerstübchen schlenderte, als sie, Arm in Arm in das Gefängnis tretend, aus jenem herauskamen. Als er dieses Schauspiel gewahrte, sah man ihn in die fürchterlichste Aufregung geraten und bangen Kleinmut sein Herz erfassen. Ganz und gar des alten Nandy nicht achtend, der, seine Reverenz machend, mit dem Hut in der Hand dastand, wie er es immer in dieser gnädigen Gegenwart tat –, drehte er sich um und eilte nach seinem Torweg und die Treppe hinauf.

Den alten Unglücklichen loslassend, den sie in einer schlimmen Stunde unter ihren Schutz genommen, eilte Klein-Dorrit mit dem flüchtigen Versprechen, sogleich wieder zurückzukommen, ihrem Vater nach und sah Fanny auf der Treppe ihr folgen und mit beleidigter Würde einherstolzieren. Alle drei kamen beinahe zu gleicher Zeit in das Zimmer, und der Vater setzte sich in seinen Stuhl, begrub sein Gesicht in seine Hände und stöhnte laut.

»Wirklich«, sagte Fanny. »Sehr hübsch. Armer, gekränkter Vater! Nun, hoffe ich, glauben Sie mir, Miß!«

»Was ist dir, Vater?« rief Klein-Dorrit und beugte sich über ihn herab. »Habe ich dich unglücklich gemacht, Vater? Hoffentlich nicht ich!«

»Du hoffst wirklich! Ei seht doch! O du –« Fanny hielt inne, um dem Folgenden den gehörigen Nachdruck zu geben – »du niedrig denkende, kleine Amy! Du bist ein echtes Gefängniskind!«

Er tat diesen zornigen Vorwürfen Einhalt, indem er mit der Hand winkte und aufseufzte, während er seinen Blick erhob und sein melancholisches Haupt gegen seine jüngere Tochter schüttelte: »Amy, ich weiß, daß du keine böse Absicht hattest. Aber du hast mir ins Herz geschnitten.«

»Keine böse Absicht!« warf die unversöhnliche Fanny ein. »Eine elende Absicht! Eine gemeine Absicht! Eine die Familie erniedrigende Absicht!«

»Vater!« rief Klein-Dorrit, blaß und zitternd, »ich bin sehr unglücklich. Bitte, vergib mir. Sage mir, worum es sich handelt, daß ich es nicht wieder tue!«

»Was es ist, du pflichtvergessene Kreatur!« rief Fanny. »Du weißt, worum es sich handelt. Ich habe es dir bereits gesagt; keine Ausflüchte im Angesicht der Vorsehung, indem du es abzuleugnen suchst!«

»St! Amy!« sagte der Vater und fuhr mehrmals mit seinem Taschentuch über sein Gesicht. Dann preßte er das Tuch krampfhaft mit der Hand zusammen, die über sein Knie fiel. »Ich habe getan, was in meinen Kräften stand, dich in einer gebührenden gesellschaftlichen Stellung zu bewahren; ich habe getan, was ich konnte, um dir hier eine Stellung zu bewahren. Es mag mir gelungen sein oder nicht. Du magst es wissen oder nicht. Ich spreche keine Meinung aus. Ich habe hier alles erduldet, außer Demütigung. Davor wurde ich – bis zu diesem Tag glücklich bewahrt.«

Hier öffnete sich seine krampfhaft zusammengepreßte Hand, und er brachte sein Taschentuch wieder an seine Augen. Klein-Dorrit, die neben ihm auf dem Boden kniete und die Hand bittend auf seinem Arm ruhen hatte, betrachtete ihn reuevoll. Als er sich endlich wieder etwas gefaßt, ergriff er noch einmal sein Taschentuch. »Vor Demütigung wurde ich glücklich bis heute bewahrt. Mitten in all meinen Widerwärtigkeiten war jene Würde in mir und jene – jene Unterwerfung unter denselben, wenn ich mich so ausdrücken darf, in meiner Umgebung, die mir jede Demütigung ersparte. Aber heute, in diesem Augenblick, habe ich sie tief gefühlt.«

»Natürlich! Wie konnte es anders sein!« rief die unerbittliche Fanny. »Mit einem Armenhäusler auf der Straße einherzustolzieren!« Neue Luftkanone.

»Aber, lieber Vater«, rief Klein-Dorrit, »ich will mich nicht von der Schuld lossprechen, daß ich dein teures Herz verwundet – nein! Der Himmel weiß, ich tue es nicht!« Sie rang die Hände in mächtigem Kampfe. »Ich kann nichts tun, als dich bitten und anflehen, dich zu beruhigen und darüber hinwegzusehen. Wenn ich jedoch nicht gewußt hätte, daß du selbst freundliche Gesinnungen für den alten Mann hegst und dich viel um ihn kümmerst und dich immer freutest, ihn zu sehen, wäre ich nicht mit ihm hierhergekommen, gewiß nicht. Was ich zu tun so unglücklich gewesen, war ein Mißgriff von mir. Ich wollte nicht absichtlich eine Träne deinen Augen entlocken, lieber Vater!« sagte Klein-Dorrit, und ihr Herz war nahe daran zu brechen, »um alles nicht, was die Welt mir geben oder nehmen könnte.«

Fanny begann nun mit einem halb zornigen, halb reuigen Seufzer selbst zu weinen und sagte – was diese junge Dame immer sagte, wenn sie halb in der Leidenschaft, halb bei Vernunft, halb feindselig gegen sich und halb feindselig gegen jedermann war –, sie wünschte, sie wäre tot.

Der Vater des Marschallgefängnisses zog indes seine jüngere Tochter an seine Brust und streichelte ihr den Kopf.

»So, so! Sage nichts mehr, Amy, sage nichts mehr, mein Kind. Ich will es so bald vergessen, wie ich kann. Ich« – fuhr er mit gemachter Munterkeit fort, »ich – werde es bald zu vergessen imstande sein. Es ist vollkommen wahr, mein liebes Kind, daß ich mich immer freue, meinen alten Pensionär als solchen, als solchen zu sehen – und daß ich so viel Schutz und Güte diesem – hm – zerstoßenen Rohr – ich glaube ihn wohl so nennen zu dürfen – angedeihen lasse, als ich in meinen Umständen vermag. Es ist ganz wahr, daß dies der Fall ist, mein liebes Kind. Zu gleicher Zeit bewahre ich jedoch – während ich dies tue, wenn ich – ha – wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf – meine Würde. Die gebührende Würde. Und es gibt Dinge, die«, er seufzte dazwischen, »die damit unvereinbar sind und sie verletzen, tief verletzen. Nicht dies, daß ich meine gute Amy aufmerksam und – hm – herablassend gegen meinen alten Pensionär gesehen, nicht dies ist es, was mich kränkt, sondern vielmehr – wenn ich, um der Sache ein Ende zu machen, deutlich sein soll –, daß ich mein Kind, mein eignes Kind, meine eigne Tochter von der offenen Straße – lächelnd! lächelnd! in unser Institut Arm in Arm – o mein Gott! mit einer Armenhauskleidung kommen sah!« Diese Anspielung auf den Rock von keinem Schnitt und keiner Zeit brachte der alte Mann mit kaum hörbarer Stimme und sein zusammengedrücktes Taschentuch vor sich hinhaltend hervor. Seine aufgeregten Gefühle würden einen weiteren schmerzlichen Ausdruck gefunden haben, wenn nicht an die Tür gepocht worden wäre, was bereits schon zweimal geschehen. Darauf rief Fanny (die noch immer wünschte, sie wäre tot, und nun sogar so weit ging, hinzuzufügen, begraben): »Herein!«

»Ah, der junge John!« sagte der Vater in einem andern und ruhigeren Tone. »Was gibt es, lieber John?«

»Ein Brief für Sie, Sir, der soeben im Pförtnerstübchen abgegeben wurde, und eine Botschaft, die ich, da ich zufällig gerade anwesend war, selbst in Ihr Zimmer heraufbringen zu wollen dachte.« Die Aufmerksamkeit des Sprechenden wurde durch den mitleidweckenden Anblick Klein-Dorrits, die zu den Füßen ihres Vaters lag und den Kopf abgewandt hatte, bedeutend zerstreut.

»Wirklich, John? Danke Ihnen.«

»Der Brief ist von Mr. Clennam, Sir – es ist die Antwort –, und die Botschaft, Sir, lautet, Mr. Clennam lasse sich Ihnen empfehlen und sagen, daß er sich selbst das Vergnügen machen werde, heute abend vorzusprechen in der Hoffnung, Sie zu sehen und auch«, die Aufmerksamkeit wurde noch mehr als zuvor abgelenkt, »Miß Amy.«

»Oh!« Als der Vater in den Brief blickte (es befand sich eine Banknote darin), errötete er ein wenig und streichelte Amy wieder auf den Kopf. »Danke Ihnen, lieber John. Ganz gut. Sehr verbunden für Ihre Aufmerksamkeit. Wartet niemand?«

»Nein, Sir, es wartet niemand.«

»Danke, John. Wie befindet sich Ihre Mutter, lieber John?«

»Danke, mein Herr, sie ist nicht ganz so wohl, wie wir es wünschten – im ganzen ist keines von uns, ausgenommen der Vater, wohl –, aber sie ist ziemlich wohl, Sir.«

»Sagen Sie ihr gefälligst, wir lassen uns empfehlen, wollen Sie? Sagen Sie ihr gefälligst, recht freundlich empfehlen, lieber John.«

»Danke, mein Herr, ich werde das ausrichten.« Und Mr. Chivery junior ging weg, nachdem er unwillkürlich auf der Stelle eine gänzlich neue Grabschrift für sich verfaßt hatte, die ungefähr so lautete: »Hier liegt die irdische Hülle John Chiverys, der so und so alt geworden, das Ideal seines Lebens in Schmerz und Tränen gesehen hatte, der außerstande, dieses herzzerreißende Schauspiel zu ertragen, sogleich nach der Wohnung seiner untröstlichen Eltern zurückkehrte und seinem Leben durch seine eigne rasche Hand ein Ende machte.«

»Nun, nun, Amy!« sagte der Vater, als der junge John die Tür hinter sich geschlossen, »wir wollen nicht mehr davon sprechen.« Die letzten wenigen Minuten hatten seine Stimmung wesentlich gebessert, und er war wieder ganz heiter. »Wo bleibt mein alter Pensionär die ganze Zeit? Wir dürfen ihn nicht länger sich selbst überlassen. Sonst möchte er glauben, er sei nicht willkommen, und das würde mich peinigen. Willst du ihn holen, mein Kind, oder soll ich es tun?«

»Wenn dir’s nicht beschwerlich fällt, Vater«, sagte Klein-Dorrit, indem sie ihrem Schluchzen ein Ende zu machen suchte.

»Nein, ich werde gehen, meine Liebe. Ich vergaß, deine Augen sind ziemlich rot. Ermuntre dich, Amy. Gräme dich nicht um mich. Ich bin ganz wieder ich selbst, meine Liebe, ganz ich selbst. Geh in dein Zimmer, Amy, und mach‘, daß du wieder hübsch und heiter aussiehst, um Mr. Clennam empfangen zu können.«

»Ich möchte lieber auf meinem Zimmer bleiben, Vater«, versetzte Klein-Dorrit, die schwerer als früher ihre Fassung wiederzugewinnen vermochte. »Ich möchte viel lieber Mr. Clennam nicht sehen.«

»O pfui, pfui, meine Liebe, das ist Narrheit. Mr. Clennam ist ein sehr netter Mann. Etwas zurückhaltend manchmal; aber ich muß gestehen, außerordentlich artig und fein. Ich könnte mir’s nicht denken, daß du nicht hier wärest, um Mr. Clennam zu empfangen, meine Liebe, namentlich heute abend. Geh deshalb und mache dich wieder frisch, Amy; geh und mache dich wieder frisch, mein gutes Kind.«

Auf diesen Wink stand Klein-Dorrit pflichtgetreu auf und gehorchte. Einen Augenblick blieb sie jedoch stehen, als sie aus dem Zimmer ging, um ihrer Schwester einen Kuß zur Versöhnung zu geben. Diese junge Dame aber, die sich sehr niedergedrückt fühlte und für den Augenblick den Wunsch, mit dem sie es sonst erleichterte, erschöpft hatte, kam auf den glänzenden Gedanken, zu wünschen, der alte Nandy wäre lieber tot, als daß er als ein widerlicher, langweiliger, trauriger Mensch hierherkäme, sie quälte und Unfrieden zwischen den beiden Schwestern säte.

Der Vater des Marschallgefängnisses ging sogar summend und die schwarze Samtmütze etwas schief auf dem Kopf (so viel hatte sich seine Stimmung gebessert) in den Hof hinab und fand seinen alten Pensionär mit dem Hut in der Hand im Tore stehend, wie er die ganze Zeit gestanden hatte. »Kommen Sie, Nandy!« sagte er mit großer Weichheit. »Kommen Sie herauf, Nandy; Sie kennen ja den Weg! Warum kommen Sie nicht herauf?« Er tat bei dieser Gelegenheit sein Äußerstes, indem er ihm seine Hand gab und sagte: »Wie geht es Ihnen, Nandy? Sind Sie ganz wohl?« worauf dieser greise Sänger antwortete: »Ich danke Ihnen, geehrter Herr, ich befinde mich um viel besser, wenn ich Sie sehe.« Als sie durch den Hof gingen, stellte der Vater des Marschallgefängnisses ihn einem Kollegen von neuerem Datum vor. »Ein alter Bekannter von mir, Sir, ein alter Pensionär.« Dann sagte er mit großer Aufmerksamkeit: »Bedecken Sie sich, mein guter Nandy; setzen Sie Ihren Hut auf.« Seine Gönnerschaft blieb dabei nicht stehen; denn er beauftragte Maggy, den Tee bereit zu halten, und instruierte sie, einige Teekuchen, frische Butter, Eier, kalten Schinken und Krabben zu kaufen; zum Ankauf dieses Imbisses gab er ihr eine Zehnpfundnote, indem er ihr ans Herz legte, vorsichtig beim Wechseln zu sein. Diese Vorbereitungen waren ziemlich weit vorgeschritten und seine Tochter Amy mit ihrer Arbeit zurückgekommen, als Clennam eintrat. Er empfing ihn außerordentlich freundlich und bat ihn, an ihrem Mahl teilzunehmen.

»Amy, mein liebes Kind, du kennst Mr. Clennam sogar besser, als ich das Glück habe. Fanny, mein gutes Kind, du kennst Mr. Clennam gleichfalls.« Fanny bejahte stolz, denn die Voraussetzung, von der sie in allen solchen Fällen stillschweigend ausging, war die, daß eine große Verschwörung bestehe, die die Familie beleidigen wolle, indem man sie nicht zu verstehen oder sich nicht gehörig ihr unterwerfen zu wollen den Anschein gebe; und hier war einer von den Verschworenen. »Dies, Mr. Clennam, müssen Sie wissen, ist ein alter Pensionär von mir, der alte Nandy, ein sehr treuer, alter Mann.« (Er sprach stets von ihm als einem sehr alten Gegenstand, und doch war er zwei bis drei Jahre jünger als er selbst.) »Lassen Sie mich sehen. Sie kennen Plornish, denke ich? Ich glaube, meine Tochter Amy hat mir gesagt, daß Sie den armen Plornish kennen?«

»O ja!« sagte Arthur Clennam.

»Nun, Sir, das ist Mrs. Plornishs Vater.«

»Wirklich? Ich freue mich, ihn kennenzulernen.«

»Sie würden sich noch mehr freuen, wenn Sie seine zahlreichen guten Eigenschaften kennten, Mr. Clennam.«

»Ich hoffe, sie dadurch kennenzulernen, daß ich ihn kenne«, sagte Arthur und bemitleidete innerlich die gebeugte und demütige Gestalt.

»Es ist heute ein Festtag für ihn, und er kommt, seine alten Freunde zu besuchen, die sich immer freuen, ihn zu sehen«, bemerkte der Vater des Marschallgefängnisses. Dann fügte er hinter seiner Hand hinzu: »In der Union, der arme, alte Bursche. Durfte heute ausgehen.«

Maggy hatte inzwischen in der Stille, von ihrem Mütterchen unterstützt, den Tisch gedeckt, und das Mahl stand bereit. Da es heißes Wetter und das Gefängnis sehr eng war, stand das Fenster so weit offen, wie man es öffnen konnte. »Wenn Maggy diese Zeitung auf die Fensterbank legen will, meine Liebe«, bemerkte der Vater gelassen und halb flüsternd gegen Klein-Dorrit, »so kann mein alter Pensionär dort seinen Tee nehmen, während wir hier trinken.“

Wahrend so eine Kluft von ungefähr einem Fuß Breite, Originalmaß, zwischen ihm und der guten Gesellschaft geschaffen war, wurde Mrs. Plornishs Vater gut bewirtet. Clennam hatte nie etwas Ähnliches gesehen wie die großherzige Protektion dieses andern Vaters, des vom Marschallgefängnisse, und war ganz in die Betrachtung ihrer vielen Merkwürdigkeiten versunken. Das Merkwürdigste von alledem aber war vielleicht die selbstgefällige Art, wie er die Schwächen und Fehler des Pensionärs bemerkte, als wenn er ein herablassender Wärter wäre und einen fortlaufenden Kommentar zu dem traurigen Zustand des harmlosen Tiers gäbe, die er zeigte.

»Nicht Lust zu noch etwas Schinken, Nandy? Nun, wie langsam Sie essen!« (»Seine letzten Zähne«, erklärte er der Gesellschaft, »fallen aus, der arme Junge.«)

Ein andermal fragte er: »Keine Krabben, Nandy?« und als er nicht sogleich antwortete, bemerkte er: (»Sein Gehör ist sehr mangelhaft geworden. Er wird nächstens taub sein.«)

Nieder ein andermal fragte er ihn: »Gehen Sie viel innerhalb der Mauern im Hofe Ihres Hauses spazieren?«

»Nein, Sir, nein. Ich habe keine große Liebhaberei dafür.«

»Nun ja«, pflichtete er bei. »Ganz natürlich.« Dann unterrichtete er insgeheim den Kreis: (»Die Beine können nicht mehr recht gehen.«)

Einmal wandte er sich an den Pensionär mit seiner gewöhnlichen Huld, die nur irgend etwas fragte, um ihn flott zu erhalten, wie alt sein jüngerer Enkel sei?

»John Edward«, sagte der Pensionär, indem er langsam Messer und Gabel niederlegte, um sich zu besinnen: »Wie alt, Sir? Lassen Sie mich etwas nachdenken.«

Der Vater des Marschallgefängnisses berührte seine Stirn. (»Das Gedächtnis wird schwach.«)

»John Edward, Sir. Ja, ich habe wirklich vergessen. Ich könnt es in diesem Augenblick nicht sagen, ob er zwei Jahre und zwei Monate, oder zwei Jahre und fünf Monate alt ist. Eins oder das andere.«

»Beunruhigen Sie sich nicht dadurch, daß Sie Ihren Kopf anstrengen«, entgegnete jener mit unendlicher Nachsicht. (»Die geistigen Fähigkeiten lassen sichtlich nach – der alte Mann versauert bei dem Leben, das er führt!«)

Je mehr solche Entdeckungen er bei dem Pensionär zu machen sich überredete, desto besser schien er ihm zu gefallen; und als er nach dem Tee von seinem Stuhl aufstand, um dem Pensionär guten Abend zu sagen, da dieser zu verstehen gab, er fürchte, seine Zeit sei um, richtete er sich so hoch und stolz auf, wie es ihm nur immer möglich war.

»Wir nennen das nicht einen Schilling, Nandy, Sie wissen es«, sagte er, indem er ihm einen solchen in die Hand steckte. »Wir nennen es Tabak.«

»Edler Herr, ich danke Ihnen. Ich werde mir Tabak dafür kaufen. Meinen Dank und mein Kompliment, Miß Amy und Miß Fanny. Ich wünsche Ihnen gute Nacht, Mr. Clennam.«

»Und vergessen Sie uns nicht, Nandy, nicht wahr«, sagte der Vater. »Sie müssen wiederkommen, merken Sie sich’s, wenn Sie wieder einen Nachmittag frei haben. Sie dürfen nicht ausgehen, ohne uns zu besuchen, sonst werden wir eifersüchtig. Gute Nacht, Nandy. Geben Sie gut acht, wenn Sie die Treppen hinuntergehen; sie sind ziemlich uneben und ausgetreten.« Während er dies sagte, stand er auf der obersten Stufe der Treppe und sah dem alten Mann nach. Als er wieder in das Zimmer zurückkam, sagte er mit feierlicher Selbstzufriedenheit: »Ein melancholischer Anblick das, Mr. Clennam, wenn man auch den Trost hat, daß er selbst es nicht fühlt. Der arme, alte Junge ist ein trauriges Wrack. Der Geist gebrochen und dahin – zu Staub zermalmt – vollständig aus ihm herausgepreßt, Sir!«

Da Clennam die Absicht hatte zu bleiben, so sagte er, was er eben auf diese Gefühle antworten konnte, und stand am Fenster mit dem, der sie geäußert, während Maggy und ihr Mütterchen das Teeservice reinigten und wegschafften. Er bemerkte, daß dieser Mann, mit dem er sich hier unterhielt, mit der Miene eines herablassenden und gnädigen Souveräns am Fenster stand und daß, wenn jemand von den Leuten im Hofe unten heraufsah, die Art, wie er ihren Gruß erwiderte, wenig anders als wie ein Segenausteilen aussah.

Als Klein-Dorrit mit ihrer Arbeit am Tische und Maggy mit der ihrigen auf dem Bett beschäftigt war, begann Fanny den Hut als Vorbereitung zu ihrem Weggange zu binden. Arthur, der noch immer dieselbe Absicht hatte, blieb. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, ohne daß vorher gepocht worden wäre, und Mr. Tip trat ein. Er küßte Amy, als sie aufsprang, um ihm entgegenzugehen, nickte Fanny zu, nickte seinem Vater zu, sah den Fremden finster an, ohne sich weiter bekannt zu machen, und setzte sich nieder.

»Lieber Tip«, sagte Klein-Dorrit, die dies gekränkt hatte, in mildem Tone, »siehst du nicht –«

»Ja, ich sehe, Amy. Wenn du damit auf die Anwesenheit eines Besuchs, den du hier hast – ich sage, wenn du darauf anspielst«, antwortete Tip, indem er seinen Kopf energisch nach Clennams Seite warf, »so sehe ich wohl!«

»Ist das alles, was du sagst?«

»Das ist alles, was ich sage. Und ich vermute«, fügte der stolze junge Mann nach einer kurzen Pause hinzu, »der Fremde wird mich verstehen, wenn ich sage, das sei alles, was ich sage. Kurz, ich glaube, der Fremde wird verstehen, daß er mich nicht wie ein Gentleman behandelt.«

»Ich verstehe das nicht«, bemerkte die strafbare Person, von der die Rede war, mit größter Ruhe.

»Nicht? Nun denn, um es Ihnen klarer zu machen, Sir, gestatten Sie mir Ihnen zu bemerken, daß, wenn ich eine gutgesetzte Ansprache, eine dringende Ansprache – um eine kleine zeitweilige Unterstützung, die ihm leicht wird – sehr leicht wird, merken Sie sich das! – an jemanden richte, und dieser Jemand schreibt mir zurück, er bitte, ihn zu entschuldigen, so scheint es mir, er behandelt mich nicht als einen Gentleman.«

Der Vater des Marschallgefängnisses, der seinen Sohn schweigend beobachtete, hörte nicht sobald dieses Gefühl äußern, als er in zornigem Ton sagte:

»Wie kannst du es wagen –«

Aber sein Sohn unterbrach ihn. »Frage mich nicht, wie ich das wagen kann, Vater; denn es ist nichts. Was die Richtschnur meines Benehmens betrifft, das ich gegen die gegenwärtige Person zu wählen für gut fand, so solltest du stolz sein, daß ich Selbstgefühl an den Tag lege.«

»Allerdings!« rief Fanny.

»Ein Selbstgefühl?« sagte der Vater. »Ja, ein schönes Selbstgefühl, ein passendes Gefühl! Ist es so weit gekommen, daß mein Sohn mich – mich – lehrt, was Würde ist?«

»Laß uns nicht darüber streiten, Vater, sonst könnte es Spektakel geben. Ich habe mir’s nun mal in den Kopf gesetzt, daß mich gegenwärtiges Individuum nicht wie ein Gentleman behandelt hat. Und damit basta.«

»Nein, damit nicht basta, mein Herr«, versetzte der Vater. »Es soll damit nicht basta sein. Du hast dir’s in den Kopf gesetzt?«

»Ja, allerdings. Wozu das nochmals wiederholen?«

»Weil«, versetzte der Vater in großer Hitze, »du kein Recht hast, dir in den Kopf zu setzen, was widernatürlich – was – ha – unmoralisch, was – hm – vatermörderisch ist. Nein, Mr. Clennam, ich bitte Sie, Sir. Verlangen Sie nicht, daß ich davon abstehe; es handelt sich hier – hm – um Grundsätzliches – das selbst über die Rücksichten der Gastfreundschaft wegsehen muß. Ich muß mich der Behauptung meines Sohnes widersetzen. Ich – ha – weise sie persönlich zurück.«

»Nun, was geht es denn dich an, Vater?« versetzte der Sohn von oben her.

»Was es mich angeht, mein Herr! Ich habe eine – hm – Würde, Sir, die es nicht dulden will. Ich«, er nahm sein Taschentuch wieder heraus und wischte sich sein Gesicht, »ich bin beschimpft und beleidigt. Lassen Sie mich den Fall setzen, daß ich selbst einmal – ja – oder mehrmals eine Ansprache, eine gutgesetzte Ansprache, und eine feinfühlige Ansprache, und eine dringende Ansprache wegen einer zeitweiligen Unterstützung an jemanden gerichtet hätte. Lassen Sie mich den Fall setzen, daß diese Unterstützung leicht hätte gewährt werden können und nicht gewährt worden wäre, und dieser Jemand nur mitteilte, er bitte ihn zu entschuldigen. Soll ich mir deshalb von meinem eigenen Sohne sagen lassen, ich sei auf eine eines Gentlemans unwürdige Weise behandelt worden, und ich hätte mich – ha – zufrieden gegeben?«

Seine Tochter Amy suchte ihn sanft zu beruhigen, aber er wollte um keinen Preis beruhigt sein. Er sagte, seine Würde sei verletzt und er wolle das nicht dulden.

Ob er sich von seinem eignen Sohne, an seinem eignen Herd, das ins Gesicht sagen lassen müsse, wollte er wissen. Ob diese Demütigung ihm von seinem eignen Blute widerfahren dürfe? »Du spielst das auf dich selbst hinüber, Vater, und redest dich freiwillig in all diese Beleidigungen hinein«, sagte der junge Mensch mürrisch. »Was ich mir in den Kopf gesetzt, hat nichts mit dir zu tun. Warum mußt du andrer Leute Hüte ausprobieren?«

»Ich antworte, es hat alles wohl mit mir zu tun«, versetzte der Vater. »Ich gebe dir mit Entrüstung zu bedenken, daß – hm – die – ha – besondere und eigentümliche Stellung deines Vaters, wenn auch nichts andre, dich zum Schweigen bringen und dich solch – ha – unnatürliche Grundsätze aufzugeben zwingen sollte. Und dann, wenn du auch keine kindlichen Gefühle hegst, wenn du diese Pflicht aus den Augen lassest, bist du nicht wenigstens – hm – ein Christ? Bist du – ha – ein Atheist? Und ist es christlich, möcht‘ ich dich fragen, eine Person zu brandmarken und zu denunzieren, weil sie diesmal zu entschuldigen bat, während dasselbe Individuum das nächste Mal – ha – die erbetene Unterstützung gewährt? Ist es denn nicht die Aufgabe des Christen – hm – ihn noch einmal auf die Probe zu stellen?« Er hatte sich förmlich in einen religiösen Feuereifer hineingeredet.

»Ich sehe wohl«, sagte Tip und stand auf, »daß ich heute abend keine Überzeugungskraft besitze: deshalb ist es das beste, der Sache ein Ende zu machen. Gute Nacht, Amy. Laß es dich nicht grämen. Ich fürchte wirklich, daß du dich darüber grämst, und daß du gerade hier, bei meiner Seele, schmerzt mich; aber ich kann, selbst um deinetwillen, liebes Mädchen, auf meine Würde nicht verzichten.«

Mit diesen Worten setzte er seinen Hut auf und ging in Begleitung von Miß Fanny weg, die es ihrer Würde schuldig zu sein glaubte, den Gast mit keiner geringeren Bekundung ihrer Abneigung zu verlassen, als daß sie ihn mit einem starren Blick ansah, der die Bedeutung in sich schloß, daß sie ihn immer als einen von der großen Korporation der Verschwörer gekannt.

Als sie fortgegangen, war der Vater des Marschallgefängnisses anfangs geneigt, wieder in Kleinmut zu verfallen, und es wäre das wohl auch geschehen, wenn nicht glücklicherweise eine Minute später oder zwei ein Kollege heraufgekommen, um ihn in die Snuggery abzuholen. Es war derselbe, den Clennam in der Nacht seiner eigenen zufälligen Gefangenschaft gesehen, und der jenen unaussprechlichen Schmerz wegen des Schatzes geäußert, den der Marschall sich unrechtmäßigerweise angeeignet, um sich damit gütlich zu tun. Er stellte sich als Deputation vor, die den Vater zum Präsidentenstuhl abholen sollte, da es eine Gelegenheit sei, zu der er versprochen, den versammelten Kollegen bei der Belustigung einer kleinen Geselligkeit zu präsidieren.

»Sehen Sie, Mr. Clennam«, sagte der Vater, »das sind die Ungereimtheiten meiner hiesigen Stellung. Aber es ist eine öffentliche Pflicht! Ich bin jedoch überzeugt, niemand würde eine öffentliche Pflicht bereitwilliger anerkennen als Sie.«

Clennam bat ihn, keinen Augenblick zu zögern. »Amy, mein liebes Kind, wenn du Mr. Clennam zu überreden vermagst, länger zu bleiben, so kann ich dir mit Vertrauen die Honneurs unseres dürftigen Hauses überlassen, und vielleicht gelingt es dir, etwas dazu beitragen, den verdrießlichen und unangenehmen Zwischenfall, der sich seit dem Tee ereignet, in Mr. Clennams Erinnerung zu verwischen.«

Clennam versicherte ihn, daß er keinen Eindruck auf ihn gemacht und es deshalb keines Verwischens bedürfe.

»Mein lieber Herr«, sagte der Vater, indem er seine schwarze Mütze abnahm und Clennams Hand ergriff, wodurch er den richtigen Empfang seines Briefes nebst Einlage am heutigen Nachmittag andeuten wollte, »der Himmel segne Sie!«

So war endlich Clennams Absicht, zu bleiben, erreicht, und er konnte Klein-Dorrit ohne Zeugen sprechen. Maggy zählte für niemand; sie war dabei.

  1. Bezieht sich auf das bekannte Märchen von Feldmaus und Stadtmaus.

Zweiunddreißigstes Kapitel.


Zweiunddreißigstes Kapitel.

Mehr Wahrsagerei.

Maggy saß in ihrer großen weißen Haube mit der Masse undurchsichtiger Krausen, die verbargen, was sie an Profil hatte (sie hatte keinen Überfluß daran), an ihrer Arbeit, und ihr dienstfähiges Auge besorgte an der Fensterseite des Zimmers ihre Geschäfte. Durch ihre schlaff herabhängende Haube und ihr dienstunfähiges Auge aber war sie ganz geschieden von ihrem Mütterchen, das auf der entgegengesetzten Seite, entfernt vom Fenster, saß. Die Tritte und das Geschlürfe der Füße auf dem Pflaster des Hofes hatten sich bedeutend vermindert, seit der Präsidentenstuhl besetzt worden war, da die Flut der Kollegen sich stark nach der Richtung der Geselligkeit bewegte. Einige wenige, die keine Musik in ihrem Herzen oder kein Geld in ihren Taschen hatten, trieben sich noch umher, und das alte Schauspiel weiblicher Besuche und niedergedrückter, noch nicht abgelagerter Gefangener war noch immer in Ecken und Winkeln zu sehen, wie sich zerrissene Spinngewebe und dergleichen unscheinbare Trostlosigkeiten in Ecken und Winkeln anderer Orte im Staub herumziehen. Es war die ruhigste Zeit, die das Kollegium kannte, mit Ausnahme der Nachtstunden, wenn die Kollegen sich der Wohltat des Schlafes erfreuten. Das dann und wann hörbare Beifallsgerassel auf den Tischen der Snuggery deutete den glücklichen Schluß eines Stückes Festprogramms oder die entsprechende Aufnahme eines Toastes oder eines Trinkspruchs des Vaters von seiten der versammelten Kinder an. Bisweilen belehrte ein sonorer Gesang, der hier an der Tagesordnung war, den Zuhörer, daß ein prahlerischer Baß auf der blauen See, oder auf der Jagd, oder hinter einem Renntier her, oder auf den Bergen, oder in der Heide war; aber der Marschall des Marshalsea wußte es besser und hielt ihn hinter Schloß und Riegel fest. Als Arthur Clennam sich näherte, um sich neben Klein-Dorrit zu setzen, zitterte sie so sehr, daß sie Mühe hatte, ihre Nadel festzuhalten. Clennam legte sanft die Hand auf ihre Arbeit und sagte: »Liebe Klein-Dorrit, lassen Sie mich das weglegen.«

Sie ließ es zu, und er legte die Arbeit beiseite. Ihre Hände waren ängstlich ineinander geschlungen, aber er nahm eine derselben.

»Wie selten habe ich Sie in letzter Zeit gesehen, Klein-Dorrit!«

»Ich war beschäftigt, Sir!«

»Aber ich hörte erst heute«, sagte Clennam, »durch einen reinen Zufall, daß Sie bei den guten Leuten dicht neben mir waren. Warum besuchten Sie mich nicht?«

»Ich – ich weiß nicht. Oder vielmehr, ich dachte, auch Sie würden viel beschäftigt sein. Sie sind es doch jetzt gewöhnlich, nicht wahr?«

Er sah ihre zitternde kleine Gestalt und ihr gesenktes Gesicht und die Augen im selben Augenblick wieder niedergeschlagen, in dem sie sich zu den seinigen erhoben – er sah sie beinahe mit ebenso viel Unruhe wie Zärtlichkeit an.

»Mein Kind, Ihr Wesen ist so verändert!«

Nun ihres Zitterns nicht mehr Herr, entzog sie ihm sanft ihre Hand, legte sie in die andere und saß mit gesenktem Haupt vor ihm, während ihre ganze Gestalt zitterte.

»Meine liebe Klein-Dorrit«, sagte Clennam teilnahmsvoll.

Sie brach in Tränen aus. Maggy sah sich plötzlich um und betrachtete sie wenigstens eine Minute; aber sie mischte sich nicht darein. Clennam wartete einen kurzen Augenblick, ehe er wieder sprach.

»Ich kann es nicht ertragen«, sagte er dann, »Sie weinen zu sehen: aber ich hoffe, das wird ein übervolles Herz erleichtern.«

»Gewiß, Sir. Ganz gewiß!«

»Nun, nun! Ich fürchtete, Sie würden sich’s zu sehr zu Herzen nehmen, was soeben hier vorgegangen. Es ist von keiner Bedeutung; nicht der geringsten Bedeutung. Ich bedaure nur, eine Störung gemacht zu haben. Lassen Sie es mit diesen Tränen vergessen sein. Es ist nicht eine einzige wert. Nicht eine einzige! Solch eine nichtige Sache sollte, mit meiner freudigen Zustimmung, fünfzigmal des Tages wiederholt werden, wenn Ihnen der Schmerz eines Augenblicks damit erspart würde, Klein-Dorrit.«

Sie hatte jetzt Mut gefaßt und antwortete weit mehr in ihrer gewöhnlichen Weise: »Sie sind so gut! Aber wenn auch nichts sonst dabei wäre, worüber man sich zu grämen oder zu schämen hätte, es ist eine so schlechte Vergeltung –«

»Ach wo!« sagte Clennam lächelnd und berührte ihre Lippen mit seiner Hand. »Vergessen bei Ihnen, die Sie so mancherlei und so treu in Ihrem Gedächtnis bewahren, wäre wahrlich neu. Soll ich Sie daran erinnern, daß ich nichts anderes bin und nie war als der Freund, dem Sie zu trauen versprachen? Nun, Sie erinnern sich dessen, nicht wahr?«

»Ich suche es zu tun, sonst hätte ich das Versprechen eben jetzt gebrochen, als mein im Irrtum befindlicher Bruder hier war. Sie werden in Betracht ziehen, daß er hier erzogen worden, und werden den armen Jungen, ich weiß es, nicht hart beurteilen!« Indem sie bei diesen Worten ihre Augen erhob, betrachtete sie sein Gesicht noch näher als bisher und sagte mit einer lebhaften Änderung des Tones: »Sie waren doch nicht unwohl, Mr. Clennam?«

»Nein.«

»Haben Sie vielleicht Kummer und Sorgen? Wurden von der Welt verletzt?« fragte sie ihn besorgt.

Clennam wußte in diesem Augenblick seinerseits nicht, was er antworten sollte. Endlich erwiderte er:

»Aufrichtig gesagt, ich hatte einigen Kummer, aber es ist vorüber. Zeige ich es denn so offen? Ich sollte mehr Charakterstärke und Selbstbeherrschung besitzen. Ich glaubte, ich hätte sie. Ich muß das von Ihnen lernen. Wer könnte es mich besser lehren?«

Er hätte nie gedacht, daß sie in seinem Innern sehe, was niemand sonst sehen konnte. Er dachte nie, daß in der ganzen Welt je Augen seien, die mit demselben Licht und derselben Stärke wie die ihren auf ihn sähen.

»Aber das führt mich auf etwas, was ich sagen wollte«, fuhr er fort, »und deshalb will ich mit meinem Gesicht nicht hadern, daß es Geschichten erzählt und mir ungetreu ist. Auch ist es ein Privilegium und ein Vergnügen für mich, auf meine Klein-Dorrit zu vertrauen. Lassen Sie mich Ihnen denn gestehen, daß ich, vergessend, wie gesetzt ich war, und wie alt ich war, und wie die Zeit für solche Dinge bei mir mit den vielen eintönigen und wenig glücklichen Jahren, in denen sich mein langes Leben verzehrte, ohne eine Spur zurückzulassen, – daß ich, all dies vergessend, mir einbildete, ich liebe jemanden.«

»Kenne ich sie, Sir?« fragte Klein-Dorrit.

»Nein, mein Kind.«

»Nicht die Dame, die um Ihretwillen freundlich gegen mich war?«

»Flora. Nein, nein. Dachten Sie –«

»Ich dachte das nie so eigentlich,« sagte Klein-Dorrit, mehr zu sich selbst, als zu ihm. »Ich wunderte mich immer ein wenig darüber.«

»Nein!« sagte Clennam, in das Gefühl versunken, das ihn in jener Allee zur Nacht der Rosen ergriffen hatte, das Gefühl, daß er ein älterer Mann sei, der mit dieser sentimentalen Periode des Lebens abgeschlossen: »Ich habe meinen Irrtum erkannt, und ich dachte ein wenig – ja, ziemlich viel – darüber nach und wurde klüger. Klüger geworden, zählte ich meine Jahre und betrachtete, was ich bin, und sah rückwärts und sah vorwärts und fand, daß ich bald grau werden würde. Ich fand, daß ich den Hügel erklommen und die Hochebene hinter mir habe und nun rasch hinabsteige.«

Wenn er gewußt, welch herben Schmerz er dem geduldigen Herzen verursachte, als er so sprach! Und er tat es doch mit der Absicht, sie zu beruhigen und ihr zu dienen.

»Ich fand, daß der Tag, wo irgend etwas der Art in mir wertvoll, oder gut, oder Hoffnung erweckend, oder glückbringend für mich, oder irgend sonst etwas hätte durch mich sein können, untergegangen ist und mir nie wieder leuchten wird.«

O, wenn er gewußt, wenn er gewußt hätte! Wenn er den Dolch in seiner Hand und die grausamen Wunden hätte sehen können, die er in die treue blutende Brust seiner Klein-Dorrit wühlte!

»All das ist vorbei, und ich habe mein Gesicht davon abgewandt. Warum spreche ich davon mit Klein-Dorrit? Warum zeige ich Ihnen, mein Kind, die Kluft von Jahren, die zwischen uns ist, und erinnere Sie daran, daß ich um die ganze Summe von Jahren, die Sie zählen, älter bin als Sie?«

»Weil Sie mir hoffentlich vertrauen. Weil Sie wissen, daß nichts Sie berühren kann, was nicht auch mich berührt. Daß nichts Sie glücklich oder unglücklich machen kann, was nicht auch mich, die Ihnen zu so großem Dank verpflichtet ist, glücklich oder unglücklich machte.«

Er vernahm das Zittern in ihrer Stimme, sah den Ernst in ihrem Gesicht, sah in ihre klaren, wahren Augen, sah den bewegten Busen, der sich freudig vor ihm niedergeworfen hätte, um den Todesstoß, der auf seine Brust gezückt war, mit dem sterbenden Ausruf: »Ich liebe ihn!« zu empfangen, und auch die entfernteste Ahnung der Wahrheit tauchte nicht in ihm auf. Nein. Er sah dies hingebende, kleine Geschöpf mit ihren abgetragenen Schuhen, in ihrer dürftigen Kleidung, in ihrer Gefängnisheimat; ein schwaches Kind an Leib, eine starke Heldin an Seele: und das Licht ihrer häuslichen Geschichte ließ ihm alles andere dunkel erscheinen.

»Aus diesem Grunde allerdings, Klein-Dorrit, aus keinem andern. So entfernt, so verschieden und so viel älter, bin ich um so besser zu Ihrem Freund und Ratgeber geeignet. Ich glaube, man kann mir um so leichter vertrauen; und jeder kleine Zwang, den Sie vor einem andern fühlen, kann vor mir verschwinden. Warum sind Sie so fern von mir geblieben? Sagen Sie mir.«

»Ich bin besser hier. Mein Platz ist hier, hier kann ich nützen. Ich bin weit besser hier«, sagte Klein-Dorrit halblaut.

»So sagten Sie an jenem Tag auf der Brücke. Ich dachte später oft daran. Haben Sie mir kein Geheimnis anzuvertrauen, dessen Mitteilung Ihnen Hoffnung und Beruhigung einflößte?«

»Geheimnis? Nein, ich habe kein Geheimnis«, sagte Klein-Dorrit in einiger Verlegenheit.

Sie sprachen leise miteinander; mehr, weil es natürlich war, zu dem, was sie sich mitteilten, diesen Ton anzuschlagen, als weil sie besorgt gewesen, es vor Maggy, die an ihrer Arbeit saß, geheimzuhalten. Plötzlich sah Maggy sie starr an und sagte jetzt:

»Höre! Mütterchen!«

»Ja, Maggy.«

»Wenn du ihm kein Geheimnis von dir selbst zu sagen hast, so erzähle ihm das von der Prinzessin. Sie hat ein Geheimnis, weißt du.«

»Die Prinzessin hat ein Geheimnis?« sagte Clennam etwas überrascht. »Was für eine Prinzessin war das, Maggy?« »Na, na! Wie Sie das alles untereinander bringen«, sagte Maggy, »und fassen das arme Ding von zehn Jahren. Wer sagte denn, daß die Prinzessin ein Geheimnis hat? Ich habe das nicht gesagt.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Ich meinte, Sie sagten das.«

»Nein, ich nicht. Wie kann ich auch, da sie es war, die verlangte, daß man es enträtsle? Die kleine Frau war es, die das Geheimnis hütete, und sie spann immer an ihrem Rade. Und da sagt sie zu ihr, warum bewahrst du es da? Und da sagt die andere zu ihr, nein, ich tue es nicht; und so sagt die andere zu ihr, ja, du tust es; und dann gehen sie beide zu dem Speiseschrank, und da ist es. Und sie wollte nicht ins Hospital gehen, und so starb sie. Du weißt, Mütterchen, erzähle ihm das. Und es war gar ein schönes rechtes Geheimnis, das!« rief Maggy sich selbst umarmend.

Arthur sah Klein-Dorrit bittend an, daß sie es ihm verstehen helfe, was Maggy gesagt hatte, und war betroffen, da er sie verlegen und rot werden sah. Als sie ihm jedoch sagte, daß es nur eine Feengeschichte sei, die sie eines Tages für Maggy ersonnen, und daß nichts darin, was sie sich schämen würde, jedem wieder zu erzählen, wenn sie sich derselben erinnern könnte, ließ er die Sache auf sich beruhen.

Er begann dagegen wieder von seiner eigenen Sache zu sprechen und bat sie zuerst, ihn öfter zu besuchen und nicht zu vergessen. Er sagte, daß niemand ein größeres Interesse an ihrem Wohlergehen nehme als er und mehr bereit sei, es zu fördern, als er. Als sie lebhaft antwortete, sie wisse das wohl, sie habe das nie vergessen, berührte er den zweiten und zarteren Punkt – den Verdacht, der in ihm aufgestiegen war.

»Klein-Dorrit«, sagte er, indem er ihre Hand nahm und leiser sprach, als er bisher gesprochen, so daß selbst Maggy in dem kleinen Zimmer ihn nicht hören konnte, »noch ein Wort. Ich habe sehr verlangt, Ihnen dies zu sagen: ich habe nur auf eine Gelegenheit gelauert. Achten Sie nicht auf mich, der den Jahren nach Ihr Vater oder Ihr Oheim sein könnte. Betrachten Sie mich immer als einen alten Mann. Ich weiß, daß all Ihre Hingebung sich auf diesen Raum beschränkt und daß nichts bis ans Ende Sie je von den Pflichten, die Sie hier erfüllen, abbringen wird. Wenn ich dessen nicht gewiß wäre, würde ich Sie schon früher gebeten haben und Ihren Vater gebeten haben, mir zu erlauben, Ihnen an einem passenderen Ort eine Stellung zu verschaffen. Aber Sie haben vielleicht ein Interesse – ich will nicht sagen, obwohl auch das möglich ist – haben vielleicht später einmal ein Interesse für sonst jemanden, ein Interesse, das mit Ihrer Liebe hier nicht unvereinbar ist.«

Sie wurde sehr, sehr blaß und schüttelte schweigend den Kopf.

»Es ist vielleicht doch der Fall, liebe Klein-Dorrit.«

»Nein, nein, nein.« Sie schüttelte nach jeder langsamen Wiederholung des Wortes den Kopf mit einem Ausdruck ruhiger Verzweiflung, dessen er sich noch lange erinnerte. Die Zeit kam, wo er sich noch lange nachher innerhalb dieser Gefängnismauern, ja innerhalb dieses Zimmers selbst daran erinnerte.

»Aber wenn es je so wäre, so sagen Sie es mir, mein liebes Kind, vertrauen Sie mir die Wahrheit an, bezeichnen Sie mir den Gegenstand solchen Interesses, und ich werde mit allem Eifer, aller Verehrung, Freundschaft und Achtung, die ich für Sie, gute Klein-Dorrit, in meinem Herzen nähre, versuchen, Ihnen einen dauernden Dienst zu erweisen.«

»Ich danke Ihnen, danke Ihnen! Nein, nein, nein!« Sie sagte das, indem sie die von der Arbeit mageren Hände ineinander legte und ihn ansah, mit demselben resignierten Ton wie zuvor.

»Ich dringe auf kein Geständnis in diesem Augenblick. Ich bitte Sie nur, ein rückhaltloses Vertrauen in mich zu setzen.«

»Kann ich weniger tun als das, während Sie so gut gegen mich sind?«

»So werden Sie Ihr volles Vertrauen in mich setzen? Werden keinen geheimen Kummer, keine Besorgnis mir verheimlichen?«

»Beinahe keine.«

»Und Sie haben jetzt keinen Kummer?«

Sie schüttelte den Kopf. Aber sie war sehr blaß.

»Wenn ich zur Nacht mich niederlege, und meine Gedanken schweifen – wie dies der Fall sein wird, da sie es jede Nacht tun, auch wenn ich Sie nicht gesehen – nach diesem traurigen Ort zurück, darf ich dann glauben, daß hier in diesem Zimmer und unter seinen gewöhnlichen Bewohnern kein Kummer weilt, der an Klein-Dorrits Herzen nagt?«

Sie schien nach diesen Worten zu haschen – was er sich gleichfalls lange nachher erinnerte – und sagte heiterer: »Ja, Mr. Clennam; ja. Sie dürfen das!«

Die schwache Treppe, die gewöhnlich nicht faul war, bemerklich zu machen, wenn jemand hinauf- oder hinabging, ächzte jetzt unter einem raschen Tritt, und man vernahm noch ein weiteres Geräusch auf ihr; als wenn eine kleine Dampfmaschine mit mehr Dampf, denn sie zu verbrauchen weiß, nach dem Zimmer sich hinarbeitete. Als sie nahte, was sie sehr rasch tat, arbeitete sie mit vergrößerter Energie. Nachdem an die Tür gepocht worden, glaubte man zu hören, wie sie sich herabbeugte und in das Schlüsselloch hineinschnaubte.

Ehe Maggy die Tür öffnen konnte, stand Mr. Pancks, der sie von außen geöffnet hatte, ohne Hut und mit dem bloßen Kopf in wilder Unordnung auf der Schwelle und sah Clennam und Klein-Dorrit über ihre Schulter an. Er hatte eine angezündete Zigarre in seiner Hand und brachte Bier- und Tabakgeruch mit sich.

»Pancks der Zigeuner«, sagte er außer Atem, »beim Wahrsagen.«

Er stand mit einer ungemein seltsamen Miene da, lächelte schmutzig und atmete ihnen ins Gesicht. Er sah aus, als wenn er, statt seines Eigentümers Ausjäter, der triumphierende Eigentümer des Marschallgefängnisses, des Marschalls, aller Schließer und aller Kollegen wäre. In seiner großen Selbstzufriedenheit brachte er die Zigarre an seine Lippe (er war sichtlich kein Raucher) und nahm, während er das rechte Auge zu diesem Zweck fest schloß, einen solchen Zug, daß er krampfhaft zusammenfuhr und schauerte. Aber auch mitten in diesem Krampf suchte er noch seine Lieblingsweise sich vorzustellen zu wiederholen: »Pa–-ancks, der Zi–geuner, beim Wahr–sagen.«

»Ich bringe den Abend mit den andern zu«, sagte Pancks. »Ich habe gesungen. Ich habe eine Partie ›weißen Sand und grauen Sand‹ gemacht. Ich verstehe nichts davon, tut nichts. Ich mache bei allem mit. Es ist alles eins, wenn man nur laut genug ist.«

Anfangs glaubte Clennam, er sei berauscht. Aber er bemerkte bald, daß, wenn ihm auch etwas schlimmer (oder besser) durch das Bier geworden, der Sturm seiner Aufregung nicht aus Malz gebraut oder aus irgendeiner Beere oder einem Korn destilliert war.

»Wie geht es Ihnen, Miß Dorrit?« sagte Pancks. »Ich dachte, Sie würden nicht übelnehmen, wenn ich hier auf einen Augenblick vorspreche. Mr. Clennam, hörte ich von Mr. Dorrit, sei hier. Wie geht es Ihnen, Sir?«

Clennam dankte ihm und sagte, er freue sich, ihn so heiter zu sehen.

»Heiter!« sagte Pancks. »Ich bin in herrlicher Gesellschaft, Sir. Ich kann keinen Augenblick bleiben, sonst vermißt man mich, und ich will nicht, daß man mich vermisse – hm, Miß Dorrit?«

Er schien ein unersättliches Vergnügen daran zu finden, sie anzureden und sie anzusehen, während sein Haar zu gleicher Zeit starr in die Höhe stand wie die Federn einer dunklen Art von Kakadu.

»Ich bin noch nicht eine halbe Stunde hier. Ich wußte, daß Mr. Dorrit im Präsidentenstuhl sitzt, und ich sagte: Ich will gehen und ihn unterstützen. Ich sollte eigentlich im Hof zum blutenden Herzen drunten sein: aber ich kann sie morgen quälen. – Hm, Miß Dorrit?«

Seine kleinen schwarzen Augen funkelten elektrisch. Sein Haar sogar schien Funken zu sprühen, wenn er durch dasselbe strich. Er war in einem so aufgeregten Zustande, daß man hätte glauben können, er werde Funken und Schläge von sich geben, wenn man einen Muskel an irgendeinen Teil seines Körpers halte.

»Eine Kapitalgesellschaft hier«, sagte Pancks. – »Nicht wahr, Miß Dorrit?«

Halb fürchtete sie sich vor ihm, halb war sie unentschlossen, was sie sagen sollte. Er lachte und nickte Clennam zu.

»Seien Sie seinetwegen unbesorgt, Miß Dorrit. Er ist einer von den Unsrigen. Wir kamen überein, daß Sie vor den Leuten mich nicht kennen sollten. Aber wir meinen damit nicht Mr. Clennam. Er ist einer von den Unsrigen, Er hält zu uns. Nicht wahr, Mr. Clennam? – Hm, Miß Dorrit?«

Die Aufregung dieses seltsamen Menschen war nahe daran, sich auf Clennam zu übertragen. Klein-Dorrit sah dies mit Verwunderung und bemerkte, daß sie lebhafte Blicke wechselten.

»Ich machte eine Bemerkung«, sagte Pancks, »aber ich erkläre, daß ich vergesse, was es war. Oh, ich weiß! Eine Kapitalgesellschaft hier. Ich habe sie sämtlich bewirtet. – Hm, Miß Dorrit?« »Sehr freigebig von Ihnen«, versetzte sie, indem sie wieder einen der lebhaften Blicke zwischen den beiden bemerkte.

»Keineswegs«, sagte Pancks. »Sprechen Sie nicht davon. Ich komme in mein Eigentum, das ist die Sache. Ich kann gut freigebig sein. Ich denke, ich will sie bewirten. Die Tische werden im Hof gedeckt. Brot in Haufen. Pfeifen in Bündeln. Tabak in Heulasten. Roastbeef und Plumpudding für jeden. Ein Quart Doppelbier für den Kopf. Ein Viertel Wein dazu, wenn sie Lust haben und die Vorgesetzten es erlauben. – Hm, Miß Dorrit?«

Sie war durch sein Benehmen oder vielmehr durch Clennams wachsendes Verständnis seines Wesens so verwirrt (denn sie sah ihn nach jeder neuen Anrede und Kakadudemonstration des Mr. Pancks wieder an), so daß sie nur ihre Lippen zur Antwort bewegte, aber kein Wort hervorbrachte.

»Ja, ja, nach und nach!« sagte Pancks. »Sie sollen es erleben, daß Sie es sehen, was hinter uns auf Ihrer kleinen Hand ist. Das werden, das werden Sie, mein Liebling. – Hm, Miß Dorrit?«

Er hielt plötzlich inne. Woher er all die schwarzen Zinken bekam, die jetzt an seinem Kopf emporstarrten wie die Myriaden Spitzen, die im letzten Augenblick eines großen Feuerwerks hervorbrechen; das war ein unerklärliches Geheimnis.

»Aber man wird mich vermissen«, sagte er, darauf zurückkommend, »und ich möchte nicht, daß man mich vermißt. Mr. Clennam, Sie und ich machten einen Pakt. Ich sagte, Sie sollen finden, daß ich fest daran halte, und Sie werden finden, daß ich jetzt fest daran halte, Sir, wenn Sie einen Augenblick mit mir hinaus vor das Zimmer kommen wollen. Miß Dorrit, ich wünsche Ihnen gute Nacht. Miß Dorrit, ich wünsche Ihnen viel Glück.«

Er schüttelte ihr rasch beide Hände und fuhr die Treppen hinunter. Arthur folgte ihm so eilig, daß er auf dem letzten Absatz beinahe über ihn gestolpert wäre und ihn in den Hof hinausgeschleudert hätte.

»Was gibt es, um des Himmels willen?« fragte Arthur, als sie beide hinausstürzten.

»Warten Sie einen Augenblick, Sir. Mr. Rugg. Erlauben Sie mir, daß ich ihn vorstelle.«

Mit diesen Worten stellte er einen Mann vor ohne Hut, auch mit einer Zigarre, und gleichfalls mit einem Bier- und Tabakgeruch. Dieser Mann befand sich, obgleich nicht aufgeregt wie er selbst, in einem Zustand, der mit der Mondsucht verwandt gewesen, wenn er nicht im Vergleich zu Mr. Pancks‘ Ausschweifung nüchtern erschienen wäre.

»Mr. Clennam, Mr. Rugg«, sagte Pancks. »Warten Sie einen Augenblick. Kommen Sie zu der Pumpe.«

Sie begaben sich nach der Pumpe. Mr. Pancks hielt augenblicklich seinen Kopf unter die Röhre und bat Mr. Rugg tüchtig zu pumpen. Da Mr. Rugg seinen Wunsch wörtlich erfüllte, so kam Mr. Pancks schnaubend und blasend darunter hervor und trocknete sich mit seinem Taschentuch ab. »Ich sehe jetzt um so klarer«, fauchte er Clennam an, der erstaunt dastand. »Aber, auf Ehre, ihren Vater Reden im Präsidentenstuhl halten zu hören, wahrend wir wissen, was wir wissen, und sie droben in einem solchen Zimmer, in einem solchen Kleid zu sehen, während wir wissen, was wir wissen, das ist genug, und – geben Sie mir noch eins in den Nacken, Mr. Rugg, – etwas höher, Sir – das wird recht sein!«

Dann und hier, auf diesem Pflaster des Marschallgefängnisses, in der Abenddämmerung, flog Mr. Pancks, in eigener Person, über Kopf und Schultern von Mr. Rugg von Pentonoille, dem Generalagenten, Rechnungsführer und Schuldeneintreiber. Als er wieder auf seine Füße herabkam, nahm er Clennam am Knopfloch, führte ihn hinter die Pumpe und brachte keuchend ein Bündel Papiere aus der Tasche. Rugg brachte gleichfalls keuchend ein Bündel Papiere aus der Tasche.

»Ha!« sagte Clennam flüsternd. »Sie haben eine Entdeckung gemacht?« –

Mr. Pancks antwortete salbungsvoll, wie sie keine Sprache wiederzugeben vermag: »Wir glauben, ja.«

»Wird jemand dadurch kompromittiert?«

»Wie kompromittiert?«

»Durch eine Unterdrückung oder eine schlechte Handlung irgendwelcher Art?«

»Keineswegs.«

»Gott sei Dank!« sagte Clennam bei sich. »Nun, zeigen Sie mir.«

»Sie müssen wissen«, schnaubte Panck«, fieberhaft die Papiere entfaltend, indem er in kurzgestoßenen Sätzen sprach: »Wo ist der Stammbaum? Wo ist das Verzeichnis Nummer vier, Mr. Rugg? Ja, ganz recht! Hier sind wir. – Sie müssen wissen, daß wir eben heute tatsächlich fort sind. Rechtlich werden wir’s erst in zwei bis drei Tagen sein. Nehmen Sie höchstens eine Woche an. Wir waren, ich weiß nicht wie lange, Tag und Nacht bei der Sache. Mr. Rugg, Sie wissen, wie lange. Tut nichts zur Sache. Brauchen’s nicht zu sagen. Sie wollen mich nun verwirren. Sie werden es ihr sagen, Mr. Clennam. Aber nicht eher, als bis wir es Ihnen erlauben. Wo ist die rohe Bilanz, Mr. Rugg? Oh! Hier sind wir. Da, mein Herr. Das ist’s, was Sie ihr zu eröffnen haben. Dieser Mann ist Ihr Vater des Marschallgefängnisses.«

Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Die Maschinerie in Bewegung.

Mr. Meagles betrieb die Unterhaltung mit Daniel Doyce, die Clennam ihm übertragen, mit so tätigem Eifer, daß er die Sache ehestens in Gang brachte und eines Morgens um neun Uhr bei Clennam vorsprach, um ihm seinen Bericht zu erstatten.

»Doyce ist höchlich erfreut über Ihre gute Meinung«, sagte er, »und wünscht nichts so sehr, als daß Sie die Sachen selbst untersuchen und sich genau von dem Stande derselben unterrichten. Er hat mir die Schlüssel zu allen seinen Papieren und Büchern eingehändigt – hier in dieser Tasche rasseln sie –, und der einzige Auftrag, den er mir gegeben, ist: ›Verschaffen Sie Mr. Clennam die Mittel, sich ganz auf den gleichen Standpunkt mit mir zu stellen, daß er alles wisse, was ich weiß. Wenn es am Ende zu nichts kommen sollte, wird er mein Vertrauen achten. Wenn ich dessen nicht zum voraus gewiß wäre, möchte ich nichts mit ihm zu tun haben.‹ Und damit«, sagte Mr. Meagles, »haben Sie Daniel Doyce, wie er ist.« »Ein sehr achtungswerter Charakter.« »O ja, gewiß. Kein Zweifel. Wunderlich, aber sehr achtungswert. Freilich sehr wunderlich. Sollten Sie es glauben, Clennam«, sagte Mr. Meagles mit herzlicher Freude über seines Freundes Enthusiasmus, »daß ich einen ganzen Morgen auf dem, wie heißt er nur, Yard –« »Bleeding Heart14« »Einen ganzen Morgen auf dem Bleeding Heart Yard zubrachte, ehe ich ihn überreden konnte, sich nur auf die Sache einzulassen?« »Wieso das?« »Wieso das kam, mein Freund? Ich hatte kaum Ihren Namen in Verbindung mit der Sache genannt, als er erklärte, nichts davon wissen zu wollen.« »Nichts davon wissen zu wollen, meinetwegen?« »Ich hatte kaum Ihren Namen genannt, Clennam, als er sagte: ›Das wird nicht gehen!‹ Was er damit meine? fragte ich ihn. ›Nichts, Meagles; das wird nicht gehen.‹ Warum würde es nicht gehen? Sie werden es kaum glauben, Clennam«, sagte Mr. Meagles innerlich lachend, »aber es kam endlich heraus, es werde nicht gehen, weil Sie und er auf dem Wege nach Twickenham in ein freundliches Gespräch sich miteinander eingelassen hätten, in dessen Verlauf er auf seine Absicht, einen Kompagnon anzunehmen, zu sprechen gekommen, da er damals angenommen, daß Sie so fest und dauernd etabliert seien wie die Paulskirche. ›Nun könnte Mr. Clennam‹, sagte er, ›vielleicht glauben, wenn ich auf seinen Vorschlag einginge, ich hätte bei dem, was ein offenes, ehrliches Wort war, ein absichtsvolles und schlaues Motiv gehabt. Das kann ich nicht ertragen‹, sagte er, ›ich bin wirklich zu stolz, das zu ertragen.‹« »Ich könnte ebensogut glauben –« »Natürlich«, unterbrach ihn Mr. Meagles, »das sagt‘ ich ihm auch. Aber es bedurfte eines ganzen Morgens, bis ich diese Mauer erstiegen, und ich zweifle, ob es irgend jemandem außer mir (er liebt mich seit langer Zeit) gelungen wäre, seinen Fuß hinüberzusetzen. Nun, Clennam, nachdem dieses geschäftliche Hindernis überwunden, bedingte er, daß, ehe ich die Sache mit Ihnen wieder aufnehmen würde, ich die Bücher durchsähe und mir eine Ansicht bilde. Ich sah die Bücher durch und bildete mir eine Ansicht. ›Ist sie im ganzen dafür und dagegen?‹ sagte er. ›Für‹ sagte ich. ›Dann‹, sagte er, ›mögen Sie, mein guter Freund, Mr. Clennam die Mittel an die Hand geben, sich selbst eine Ansicht zu bilden. Um ihn in den Stand zu setzen, dies ohne alle Parteilichkeit und mit vollkommener Freiheit tun zu können, werde ich auf eine Woche die Stadt verlassen.‹ Und er ist fort«, sagte Mr. Meagles, „das ist der glückliche Ausgang der Sache.«

»Er gibt mir dadurch«, sagte Clennam, »einen hohen Begriff, ich muß gestehen, von seiner Redlichkeit und seiner –“

»Wunderlichkeit«, warf Mr. Meagles ein. »Das will ich glauben.«

Es war nicht gerade das Wort auf Clennams Lippen; er unterließ es jedoch, seinen gut aufgelegten Freund zu unterbrechen.

»Und jetzt«, fügte Mr. Meagles hinzu, »können Sie, sobald es Ihnen beliebt, einen Blick in die Sachen werfen. Ich habe es übernommen, Aufklärung zu geben, wo Sie solcher bedürfen sollten, jedoch streng unparteiisch zu sein und nicht darüber hinauszugehen.«

Sie begannen ihre Untersuchungen noch am selben Vormittag im Bleeding Heart Yard. Kleine Seltsamkeiten ließen sich von erfahrenen Augen leicht in der Art, wie Mr. Doyce seine Sachen besorgte, entdecken, aber sie bargen beinahe immer eine sinnige Vereinfachung einer Schwierigkeit und einen ebenen Weg zu dem gewünschten Ziel in sich. Daß er mit seinen Büchern im Rückstande und einer Unterstützung benötigt war, um die Ertragfähigkeit seines Geschäfts zu entwickeln, war klar genug; alle Resultate seiner Unternehmungen während vieler Jahre jedoch lagen offen zu Tage und waren leicht nachzuweisen. Nichts war im Hinblick auf eine schwebende Untersuchung getan, alles trug das ursprüngliche Arbeiterkleid und war in einer gewissen holperigen Ordnung. Die Berechnungen und Einträge von seiner eignen Hand, und deren war eine große Zahl, waren plump geschrieben und ohne besonders große Genauigkeit, aber immer einfach und erfüllten vollständig den Zweck. Es kam Arthur vor, als ob eine weit ausgearbeitetere und hübscher in die Augen fallende Geschäftsführung – wie sie die Bücher der Circumlocution Office vielleicht auswiesen – weit weniger den Zweck erfüllten, da ihre Art und Weise weit weniger verständlich gemacht wäre.

Drei bis vier Tage angestrengten Fleißes ließen ihn all der Tatsachen Herr werden, deren Kenntnis wesentlich für ihn war. Mr. Meagles war immer zur Hand, stets bereit, jeden dunklen Punkt mit der hellen kleinen Sicherheitslampe zu beleuchten, die zu den Wagschalen und Geldschaufeln gehörte. Sie kamen unter sich über die Summe überein, die sie für die Hälfte Anteil an dem Geschäft anzubieten für recht und billig hielten; dann entsiegelte Mr. Meagles ein Papier, in dem Daniel Doyce notiert hatte, wie hoch er den Betrag schätze, welche Summe sogar etwas geringer war. So fand Daniel, als er zurückkam, die Sache so gut wie abgeschlossen.

»Und ich darf nun gestehen, Mr. Clennam«, sagte er und schüttelte ihm herzlich die Hand, »daß, wenn ich mich rechts und links nach einem Geschäftsteilhaber umgesehen, ich kaum glaube, daß ich einen hätte finden können, der mehr nach meinem Sinn gewesen wäre.«

»Ich sage das gleiche«, versetzte Clennam.

»Und ich sage von Ihnen beiden«, fügte Mr. Meagles hinzu, »daß Sie vortrefflich füreinander taugen. Sie halten ihn mit Ihrem klaren Verstand im Schach, Clennam, und Sie betreiben die Arbeit, dann, mit Ihrem –«

»Unklaren Verstand?« ergänzte Daniel mit sanftem Lächeln.

»Sie mögen es so nennen, wenn Sie wollen – und jeder von Ihnen wird dem andern eine rechte Hand sein. Hier gebe ich, als ein praktischer Mann, darauf meine eigne rechte Hand jedem von Ihnen.«

Der Handel war in einem Monat abgeschlossen. Arthur blieb dadurch im Besitze von persönlichen Mitteln, die einige hundert Pfund nicht überschritten; aber das Geschäft eröffnete ihm eine tätige und vielversprechende Karriere. Die drei Freunde dinierten aus diesem glücklichen Anlaß, die Arbeiter und die Frauen und Kinder der Arbeiter machten einen Feiertag und speisten gleichfalls; sogar der Bleeding Heart Yard speiste und war voll Essen. Kaum waren im ganzen zwei Monate verflossen, als der Hof wieder so an gewöhnliche Hausmannskost gewöhnt war, daß niemand mehr an das Traktament dachte, und nichts schien an der Genossenschaft mehr neu als die gemalte Inschrift auf dem Türpfosten: Doyce und Clennam; ja selbst Clennam glaubte, die Angelegenheiten der Firma seit Jahren im Kopfe mit sich herumgetragen zu haben.

Das kleine Kontor, das für ihn eingerichtet worden, bestand aus einem Zimmer aus Holz und Glas am Ende einer langen, niedern Werkstatt, die mit Werktischen, Schraubstöcken, Werkzeugen, Riemen und Rädern angefüllt war, die, wenn sie mit der Dampfmaschine in Verbindung gebracht wurden, zerrten und rissen, als hätten sie die selbstmörderische Mission, das Geschäft zu Staub zu zermalmen und die Manufaktur in Stücke zu zerreißen. Große Falltüren im Boden und an der Decke, die die Werkstätte oben und die Werkstätte unten in Verbindung setzten, brachten ein Streiflicht in diese Perspektive, das Clennam an das alte Kinderbilderbuch erinnerte, wo ähnliche Strahlen die Zeugen von Abels Mord waren. Das Geräusch war entfernt genug von dem Kontor, um wie ein geschäftiges Summen zu klingen, das ab und zu durch ein Geklirr oder einen Schlag unterbrochen wurde. Die geduldigen Gestalten an der Arbeit waren durch die Eisen- und Stahlfeilspäne geschwärzt, die auf jedem Werktisch tanzten und durch jede Ritze in den Bohlen wirbelten. Zur Werkstätte gelangte man aus dem äußern Hof unten über eine Stufenleiter, die als Dach für einen großen Schleifstein diente, an dem die Werkzeuge geschärft wurden. Das Ganze hatte in Clennams Augen zu gleicher Zeit ein phantastisches und praktisches Aussehen, was eine willkommene Abwechslung war; und sooft er seinen Blick von dem ersten Versuch, die große Reihe von Geschäftspapieren vollständig in Ordnung zu bringen, erhob, sah er mit einem gewissen behaglichen Gefühl auf diese Dinge, die ihm neu waren.

Als er so eines Tages seine Augen aufschlug, war er erstaunt, einen Damenhut sich an der Treppenleiter heraufarbeiten zu sehen. Der ungewöhnlichen Erscheinung folgte ein zweiter Hut. Er gewahrte dann, daß der erste auf dem Kopfe von Mr. Finchings Tante saß, und daß der zweite Floras Kopf angehörte, die ihr Legat mit beträchtlicher Schwierigkeit die steilen Stufen heraufgebracht zu haben schien.

Obgleich nicht besonders entzückt von dem Anblick dieses Besuches, verlor Clennam keine Zeit, die Kontortür zu öffnen und sie aus der Werkstätte loszuwickeln; eine Rettung, die um so notwendiger war, als Mr. Finchings Tante bereits über ein Hindernis stolperte und die Dampfkraft als Institut mit einem steinharten Ridikül bedrohte, das sie trug.

»Mein Gott, Arthur, – wollte sagen Mr. Clennam, weit passender – was war das für ein beschwerliches Heraufklettern, und wie da wieder hinabkommen ohne eine Feuerleiter, und Mr. Finchings Tante, die beständig auf den Stufen ausgleitet und am ganzen Leibe zerquetscht ist, und Sie in einer Maschinenfabrik und Gießerei, wer hätte sich das gedacht, und Sie ließen uns auch nicht das geringste davon wissen!«

So sagte Flora außer Atem. Mr. Finchings Tante rieb indes ihr beschädigtes Schienbein mit dem Sonnenschirm und glühte vor Rache.

»Sehr unfreundlich, daß Sie uns seit jenem Tage nicht mehr besucht haben, obgleich wir natürlich durchaus nicht erwarten konnten, daß irgend etwas Anziehendes in unsrem Hause sein werde, und Sie sicherlich weit angenehmer beschäftigt waren, und ich möchte wissen, ob sie blond oder dunkel ist; hat sie blaue Augen oder schwarze, nicht daß ich erwartete, sie werde etwas anderes sein als der vollständige Gegensatz zu mir in allen Einzelheiten, denn ich bin eine Enttäuschung, wie ich ganz wohl weiß, und Sie haben ohne Zweifel ganz recht, ihr ergeben zu sein, und lassen Sie sich das gleichgültig sein, Arthur, was ich da sage, ich weiß es ja selbst kaum, lieber Gott!«

Während dieser Zeit hatte er ihnen im Kontor Stühle hingestellt. Als Flora sich niederließ, warf sie ihm den alten Blick zu.

»Und dann Doyce und Clennam, wer kann dieser Doyce sein?« sagte Flora: »ohne Zweifel ein herrlicher Mann und vielleicht verheiratet, und er hat vielleicht eine Tochter, wirklich? Dann versteht man die Genossenschaft und weiß alles, sagen Sie mir nichts davon, denn ich weiß, ich habe keinen Anspruch, diese Frage zu stellen, nachdem die goldene Kette, die einst geschmiedet worden, entzweigesprungen, was ganz natürlich.«

Flora legte ihre Hand zärtlich auf die seine und warf ihm einen zweiten Blick aus ihrer Jugend zu.

»Lieber Arthur – Macht der Gewohnheit, Mr. Clennam wäre immerhin zarter und für die obwaltenden Umstände passender – ich muß um Entschuldigung bitten, daß ich mir die Freiheit nehme, so bei Ihnen einzudringen, aber ich dachte, ich dürfte mir auf die vergangenen Zeiten hin, die für immer verschwunden, um nie wieder zu blühen, herausnehmen, mit Mr. Finchings Tante bei Ihnen vorzusprechen, um zu gratulieren und Ihnen meine besten Wünsche auszusprechen. Um ein bedeutendes besser als China, nicht zu leugnen, und weit näher, obgleich höher hinauf!«

»Ich freue mich außerordentlich, Sie zu sehen«, sagte Clennam, »und ich danke Ihnen, Flora, herzlich für Ihre gütige Erinnerung.«

»Mehr als ich jedenfalls selbst sagen kann«, versetzte Flora, »denn ich hätte zwanzig verschiedene Male hintereinander tot und begraben sein können, und kein Zweifel, was auch früher der Fall gewesen war, Sie hätten sich kaum meiner oder irgend etwas dergleichen erinnert, dessenungeachtet möchte ich eine letzte Bemerkung machen, eine letzte Erklärung abgeben –«

»Meine liebe Mrs. Finching«, warf Arthur in der Verlegenheit ein.

»Oh, nicht diesen unangenehmen Namen, sagen Sie Flora!«

»Flora, ist es der Mühe wert, sich aufs neue durch Erklärungen zu quälen? Ich versichere Ihnen, es sind keine nötig. Ich bin zufrieden – ich bin vollkommen zufrieden.«

Hier wurden sie von dem Gegenstand abgelenkt, denn Mr. Finchings Tante machte folgende unerbittliche und schreckliche Bemerkung:

»Es gibt Meilensteine auf dem Wege nach Dover!«

Mit solch tödlicher Feindschaft gegen das Menschengeschlecht schoß sie diesen Pfeil ab, daß Clennam gar nicht wußte, wie er sich verteidigen sollte; um so mehr, als er bereits durch die Ehre des Besuchs dieser ehrwürdigen Dame in Verlegenheit war, denn sie hatte offenbar den größten Widerwillen gegen ihn. Er konnte sie nur mit der äußersten Verwirrung ansehen, wie sie so dasaß mit Bitterkeit und Zorn auf den Lippen und meilenweit fortstierte. Flora jedoch nahm die Bemerkung hin, als wäre sie von der passendsten und angenehmsten Art, indem sie laut billigend bemerkte, Mr. Finchings Tante habe sehr viel Geist. Sei es nun durch dieses Kompliment, oder durch die glühende Entrüstung gereizt, fügte diese herrliche Frau hinzu: »Er soll ihn ansehen, wenn er kann.« Und mit einer heftigen Bewegung ihres Ridiküls (ein Anhängsel von großem Umfang und versteinertem Aussehen) gab sie zu verstehen, daß Clennam der Mann sei, an den die Herausforderung gerichtet war.

»Eine letzte Bemerkung«, fuhr Flora fort, »sagte ich, wünsche ich zu machen, eine letzte Erklärung abzugeben. Mr. Finchings Tante und ich würden uns nicht zur Geschäftsstunde in das Kontor gedrängt haben, da Mr. Finching auch Geschäftsmann war, und obgleich der Weinhandel ein stilles Geschäft ist, ist er wie jedes andere, und Geschäftsgewohnheiten sind immer dieselben, wovon, Mr. Finching selbst ein Zeugnis ist – da er seine Pantoffel immer zehn Minuten vor sechs Uhr nachmittags auf der Matte hatte und seine Stiefel innerhalb des Kamingitters zehn Minuten vor acht Uhr morgens auf den Punkt bei jeder Witterung, schön oder regnerisch –, wir würden nicht hier eingedrungen sein ohne einen Beweggrund, der freundlich gemeint, hoffentlich auch freundlich aufgenommen wird, Arthur, Mr. Clennam weit passender gesagt, oder geschäftlicher Doyce und Clennam.“

»Bitte, sagen Sie nichts zu Ihrer Entschuldigung«, bat Arthur. »Sie sind stets willkommen.«

»Sehr höflich von Ihnen so zu sprechen, Arthur – kann mich des Worts Mr. Clennam nicht erinnern, bis es heraus ist, so stark ist die Gewohnheit der für immer verrauschten Zeit und so wahr ist es, daß oft in der stillen Nacht, ehe die Kette des Schlummers die Menschen fesselt, die Erinnerung das Licht vergangener Tage über sie ergießt – sehr höflich, aber höflicher als wahr, fürchte ich, denn, wenn man in ein Maschinengeschäft eintritt, ohne auch nur eine Zeile oder eine Karte an Papa zu senden, – ich mag nicht mir sagen, obgleich es eine Zeit gab, aber diese ist vorbei, und strenge Wirklichkeit, mein Gott, hat jetzt, ich schweige davon – das sieht wirklich nicht danach aus, das müssen Sie zugestehen.“

Sogar Floras Kommata schienen bei dieser Gelegenheit entflohen zu sein; um so viel unzusammenhängender und gesprächiger war sie als bei der ersten Begegnung.

»Freilich«, fuhr sie unaufhaltsam fort, »es war nichts anderes zu erwarten, und warum sollte es zu erwarten gewesen sein, und wenn es nicht zu erwarten war, warum sollte es sein, und ich bin weit entfernt, Ihnen oder irgend jemandem einen Vorwurf zu machen. Als Ihre Mama und mein Papa uns zu Tode quälten und die goldene Kelle – wollte sagen Kette zerbrachen, aber ich hoffe, Sie wissen, was ich meine, und wenn Sie’s nicht wissen, verlieren Sie nicht viel und werden sich wenig darum kümmern, wage ich hinzuzusetzen – als sie die goldene Kette zerbrochen, die uns verband, und uns in eine Stimmung versetzten, daß wir auf dem Sofa beinahe vor Weinen erstickten, zum mindesten ich, da war alles verändert, und als ich meine Hand Mr. Finching reichte, weiß ich, daß ich es mit offenen Augen tat, aber es war ein so schwankender Charakter und von so niedergedrücktem Geiste, daß er in der Zerstreuung auf den Fluß anspielte, wenn nicht gar auf Öl oder etwas dergleichen vom Chemiker, und ich tat mein Bestes.«

»Meine gute Flora, wir hatten das zuvor schon abgemacht. Es war ganz gut.«

»Es ist ganz klar. Sie denken so«, versetzte Flora, »denn Sie fassen die Sache sehr kalt auf; wenn ich nicht gewußt, es wäre China, ich hätte die Polarregionen vermutet, lieber Mr. Clennam, Sie haben ganz recht, und ich kann Sie nicht tadeln, aber was Doyce und Clennam betrifft, so hörten wir davon, da der Hof Papas Eigentum ist, durch Pancks, und ohne ihn würden wir, davon bin ich überzeugt, nie ein Wort vernommen haben.«

»Nein, nein, sagen Sie das nicht.«

»Warum soll ich es nicht sagen, Arthur – Doyce und Clennam – leichter und weniger peinlich für mich, als Mr. Clennam –, da ich es doch weiß, und Sie wissen es auch und können es nicht leugnen.«

»Aber ich leugne es, Flora. Ich würde Ihnen ehestens einen freundschaftlichen Besuch gemacht haben.«

»Ah!« sagte Flora, ihren Kopf schüttelnd. »Wirklich!« und sie warf ihm wieder einen von ihren alten Blicken zu. »Als uns Pancks jedoch davon sagte, entschloß ich mich, mit Mr. Finchings Tante Sie zu besuchen, weil, als Papa – was vordem geschah – zufällig ihren Namen mir gegenüber erwähnte und sagte, Sie interessierten sich für sie, ich augenblicklich erwiderte: Mein Gott, warum sie nicht zu uns nehmen, wenn irgend etwas zu tun ist, statt es aus dem Hause zu geben.«

»Wenn Sie sagen ›sie‹«, bemerkte Clennam, der indessen sehr stark verwirrt geworden, »meinen Sie Mr. Finchings –«

»Du meine Güte, Arthur – Doyce und Clennam wirklich leichter für mich bei den alten Erinnerungen –, wer hörte je von Mr Finchings Tante, daß sie Näherin sei und im Tagelohn arbeite?«

»Im Tagelohn arbeite? Sprechen Sie von Klein-Dorrit?«

»Nun natürlich!« versetzte Flora; »von allen seltsamen Namen, die ich je gehört, der seltsamste, der klingt, wie der Name eines Ortes auf dem Lande mit einem Schlagbaum, oder eines Lieblingsponys, oder eines Jungen, oder eines Vogels, oder etwas aus einem Samenladen, das man in einen Garten oder Blumentopf steckt und das dann gefleckt aufgeht.«

»Liebe Flora«, sagte Arthur, der plötzlich ein Interesse für die Unterhaltung bekam, »so war Mr. Casby denn so freundlich, Klein-Dorrit bei Ihnen zu erwähnen, wirklich? Was sagte er?«

»Oh, Sie wissen, wie Papa ist«, erwiderte Flora, »und wie schwerfällig er dasitzt, ein herrlicher Anblick, und seine Daumen umeinander dreht, bis man schwindlig wird, wenn man seine Augen auf ihn heftet, er sagte, als wir von Ihnen sprachen – ich weiß nicht, wer Arthur (Doyce und Clennam) zur Sprache brachte, aber ich bin gewiß, daß ich es nicht war, wenigstens hoffe ich es nicht, aber Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich nicht mehr über diesen Punkt sage.«

»Gewiß«, sagte Arthur. »Jedenfalls.«

»Sie sind sehr bereitwillig«, schmollte Flora, die in gewinnender Schüchternheit plötzlich innehielt,«das muß ich einräumen, Papa sagte, Sie hätten sehr ernst von ihr gesprochen, und ich sagte, was ich Ihnen erzählte und das ist alles.“ 272 »Das ist alles?« sagte Arthur etwas enttäuscht.

»Ausgenommen daß, als Pancks uns sagte, Sie hätten sich in dieses Geschäft eingelassen, und nur mit Mühe uns überzeugen konnte, Sie seien es wirklich, ich zu Mr. Finchings Tante sagte, dann wollten wir hierher gehen und Sie fragen, ob es für alle Teile angenehm wäre, daß wir sie bei uns beschäftigten, wenn wir sie brauchen, denn ich weiß, sie kommt oft zu Ihrer Mama, und ich weiß, daß Ihre Mama ein reizbares Temperament hat, Arthur – Doyce und Clennam – sonst hätte ich niemals Mr. Finching geheiratet und wäre in diesem Augenblicke – aber ich schwatze da Unsinn.«

»Es war sehr freundlich von Ihnen, Flora, daran zu denken.«

Die arme Flora erwiderte mit offener Aufrichtigkeit, die ihr weit besser stand als ihre jüngsten Blicke, sie sei sehr erfreut, daß er so dächte. Sie sagte es mit so viel Herz, daß Clennam viel gegeben, wenn er seine alte Ansicht von ihr auf der Stelle hätte zurückhaben und sie und die Sirene auf immer hätte fortwerfen können.

»Ich denke, Flora«, sagte er, »daß die Beschäftigung, die Sie Klein-Dorrit geben, und die Güte, die Sie ihr beweisen können –«

»Ja, ich will es«, sagte Flora lebhaft.

»Ich bin überzeugt – es wird ihr eine große Stütze und Erleichterung sein. Ich glaube nicht das Recht zu haben, Ihnen zu sagen, was ich von ihr weiß, denn diese Kenntnis ist mir im Vertrauen geworden und unter Umständen, die mich zu schweigen zwingen. Aber ich habe ein Interesse für die kleine Kreatur und einen Respekt vor ihr, den ich Ihnen nicht auszudrücken vermag. Ihr Leben war so voll Prüfungen und Hingebung und von solch ruhiger Güte, daß Sie keine Vorstellung davon haben können. Ich kann kaum an sie denken, noch viel weniger von ihr sprechen, ohne gerührt zu sein. Lassen Sie dies Gefühl ersetzen, was ich Ihnen sagen könnte, und sie an Ihre Güte mit meinem Dank empfehlen.«

Noch einmal bot er der armen Flora offen seine Hand; noch einmal konnte die arme Flora sie nicht offen annehmen, fand es auch nicht der Mühe wert und mußte die alte Intrige, das alte Geheimnis daraus machen. Ebensosehr zu ihrer eigenen Befriedigung als zu seinem Verdruß bedeckte sie sie mit einer Ecke ihres Schals, als sie dieselbe nahm. Dann rief sie, als sie nach der Glasfront des Kontors blickte und zwei Gestalten nahen sah, mit unendlicher Freude: »Papa! St! Arthur, um’s Himmels Willen!« und taumelte in ihren Stuhl zurück, indem sie mit staunenswürdigem Talent eine herannahende Ohnmacht heuchelte, die eine Folge von heftiger Überraschung und mädchenhafter Verwirrung sein sollte.

Der Patriarch steuerte indessen in Pancks‘ Kielwasser mit nichtssagendem Strahlen des Gesichts auf das Kontor zu. Pancks öffnete die Tür für ihn, schleppte ihn hinein und ging selbst in einer Ecke vor Anker. »Ich hörte von Flora«, sagte der Patriarch mit seinem wohlwollenden Lächeln, »daß sie Besuch machen wollte, Besuch machen wollte. Und da ich gerade aus war, dacht‘ ich, ich wollte auch Besuch machen, dacht‘ ich, ich wollte auch Besuch machen.«

Die wohlwollende Weisheit, die er durch seine blauen Augen, seine langen, weißen Haare und sein leuchtendes Haupt in diese Erklärung ausströmte (die an und für sich nicht tief war), machte großen Eindruck. Sie schien würdig, unter die edelsten Gefühle, die die besten Männer ausgesprochen, gestellt zu werden. Auch als er zu Clennam sagte, indem er sich in den dargebotenen Stuhl setzte: »Und Sie sind in einem neuen Geschäfte, Mr. Clennam? Ich wünsche Ihnen Glück, Sir, ich wünsche Ihnen Glück!« schien er Wunder von Wohlwollen verrichtet zu haben.

»Mrs. Finchings hat mir gesagt, Sir«, versetzte Arthur, nachdem er die Tatsache zugegeben, während die Hinterlassene des verstorbenen Mr. Finching mit einer Gebärde gegen den Gebrauch dieses ehrenwerten Namens protestierte, »sie werde bei Gelegenheit die Dienste der jungen Näherin, die Sie meiner Mutter empfohlen, in Anspruch nehmen, wofür ich ihr meinen Dank ausgesprochen.«

Der Patriarch dreht schwankend den Kopf nach Pancks um; der Begleiter steckte das Notizbuch ein, in das er vertieft gewesen, und nahm ihn ins Schlepptau.

»Sie haben sie nicht empfohlen«, sagte Pancks, »wie konnten Sie auch? Sie wußten ja nichts von ihr, nein, wirklich nicht. Der Name wurde vor Ihnen genannt, und Sie gingen darüber hinweg. Das ist’s, was Sie taten.«

»Nun«, sagte Clennam, »da sie jede Empfehlung rechtfertigt, ist es ja eins.«

»Sie freuen sich, daß sie sich so gut anläßt«, sagte Pancks, »aber es wäre ja nicht Ihre Schuld gewesen, wenn sie sich schlecht angelassen. Der gute Ruf ist, wie die Sachen stehen, nicht Ihre Schuld, und die Schande ebenfalls wäre Ihre Schuld nicht gewesen, wenn es anders stände. Sie haben ja keine Garantie zu leisten. Sie wußten nichts von ihr.«

»So sind Sie also mit keinem Gliede der Familie bekannt?« sagte Arthur, eine Frage aufs Geratewohl wagend.

»Mit keinem Gliede der Familie bekannt?« versetzte Pancks. »Wie sollten Sie mit einem Gliede der Familie bekannt sein? Sie hörten ja nie von ihnen. Sie können nicht mit Leuten bekannt sein, von denen Sie niemals hörten, nicht wahr? Sie sind meiner Ansicht?«

Die ganze Zeit über saß der Patriarch feierlich lächelnd da, indem er mit dem Kopf wohlwollend schüttelte und nickte, je nachdem es der Fall erforderte.

»Was die Verweisung an einen Schiedsrichter betrifft«, sagte Pancks, »so wissen Sie – im allgemeinen, was das heißen will. Ihr eignes Auge ist’s! Sehen Sie auf Ihre Mietsleute in dem

Hofe hinab. Sie würden alle einer für den andern stehen, wenn Sie’s annähmen. Aber was würde die Folge davon sein? Zwei statt eines können keine Befriedigung gewähren, einer genügt. Ein Mann, der nicht bezahlen kann, treibt einen andern auf, der nicht bezahlen kann, um dafür zu garantieren, daß er bezahlen kann. Wie ein Mensch mit zwei hölzernen Beinen, der einen andern Menschen mit zwei hölzernen Beinen auftreibt, um dafür zu garantieren, daß er zwei natürliche Beine bekomme. Es setzt keinen von beiden in den Stand, einen Wettlauf zu machen. Und vier hölzerne Beine setzen mehr in Verlegenheit als zwei, wenn man gar keines braucht.« Mr. Pancks schloß, indem er seinen bekannten Dampf ausblies.

Ein augenblickliches Schweigen, das eingetreten war, wurde von Mr. Finchings Tante unterbrochen, die seit ihrer letzten öffentlichen Bemerkung in einem Zustand von Starrsucht aufrecht dasaß. Sie bekam einen neuen heftigen Stoß, der darauf berechnet war, eine bestürzende Wirkung auf die Nerven der Uneingeweihten zu machen, und sie bemerkte mit der fürchterlichsten Feindschaft:

»Sie können nicht einen Kopf und Hirn aus einem Messingknopf machen, in dem nichts ist. Sie könnten es selbst dann nicht tun, wenn Ihr Onkel George am Leben wäre; um so weniger, da er tot ist.«

Mr. Pancks antwortete sogleich mit seiner gewöhnlichen Ruhe: »Wirklich, Ma’am? Gott schütze mich! Ich bin erstaunt, das zu hören.« Trotz seiner Geistesgegenwart jedoch brachten die Worte von Mr. Finchings Tante einen peinlichen Eindruck auf die kleine Gesellschaft hervor; erstlich, weil es unmöglich war, sich zu verhehlen, daß Clennams harmloser Kopf dieser verachtete Tempel der Vernunft sei, und zweitens, weil niemand bei all diesen Gelegenheiten wußte, auf welchen Onkel George angespielt wurde, oder welche Gespenstererscheinung unter diesem Namen zitiert wurde.

Deshalb sagte Flora, obgleich nicht ohne ein gewisses Prahlen und einen Stolz auf ihr Legat, Mr. Finchings Tante sei heute sehr aufgeregt und sie denke, es sei besser, wenn sie gehen. Aber Mr. Finchings Tante gab äußerst lebhaft zu erkennen, daß sie diesen Wink übel aufnehme, und erklärte nicht gehen zu wollen, indem sie mit verschiedenen beleidigenden Ausdrücken hinzufügte, daß wenn »er«, womit sie offenbar Clennam meinte, – sie los sein wolle, so möge er sie die Wendeltreppe hinabstoßen; indem sie dringend den Wunsch hinzufügte, »ihn« diesen Akt vollziehen zu sehen.

In diesem Dilemma ergriff Mr. Pancks, dessen Rettungsmittel für jedes Ereignis in den patriarchalischen Wassern auszureichen schienen, seinen Hut, schlüpfte zur Kontortür hinaus und schlüpfte einen Augenblick später mit einer künstlichen Frische in seinem Wesen, als wenn er einige Wochen auf dem Lande gewesen, wieder herein. »Nun, Gott schütze mich, Ma’am!« sagte Pancks, sein Haar vor Erstaunen in die Höhe richtend, »sind Sie da? Wie befinden Sie sich, Ma’am? Sie sehen heute reizend aus! Es freut mich ungemein, Sie zu sehen. Vergönnen Sie mir Ihren Arm, Ma’am, wir wollen etwas miteinander spazierengehen, wenn Sie mir die Ehre Ihrer Gesellschaft gönnen wollen.« Damit geleitete er Mr. Finchings Tante die Privattreppe des Kontors mit großer Galanterie und vielem Erfolg hinab. Der patriarchalische Mr. Casby erhob sich dann mit der Miene, als hätte er es selbst getan, und folgte lächelnd, indem er seiner Tochter Zeit ließ, während sie ihrerseits folgte, ihrem früheren Liebhaber in verwirrtem Flüstern (was ihr große Freude machte) zu bemerken, daß sie den Becher des Lebens bis zur Hefe geleert; und ihm ferner den geheimnisvollen Wink zu geben, daß der verstorbene Mr. Finching auf dem Boden desselben sitze.

Als sich Clennam wieder allein sah, wurde er abermals eine Beute seiner alten Zweifel in Beziehung auf seine Mutter und Klein-Dorrit, und er erwog die alten Gedanken und Verdachtsgründe wieder und wieder. Sie waren ihm alle lebendig vor die Seele getreten, indem sie sich mit den Pflichten, die er mechanisch erfüllte, vermischten, als ein Schatten, der auf seine Papiere fiel, ihn veranlaßte, nach der Ursache aufzusehen. Diese war Mr. Pancks. Den Hut auf das Ohr zurückgezogen, als ob seine Drahtspitzen von Haaren wie Springfedern emporgeschnellt wären und ihn abgeworfen, mit seinen achatschwarzen, neugierig scharfen Augenkügelchen, die Finger seiner rechten Hand im Munde, um die Nägel abzubeißen, und die Finger seiner Linken in der Tasche als Reserve zu einem neuen Gang, warf Mr. Pancks seinen Schatten durch die Scheibe auf Bücher und Papiere.

Mr. Pancks fragte mit einer kleinen fragenden Wendung des Kopfes, ob er hereinkommen dürfe? Clennam antwortete mit einem Nicken des Kopfes bejahend. Mr. Pancks arbeitete sich hinein, legte an der Seite des Pultes an, warf Anker, indem er seine Arme darauf lehnte und begann das Gespräch mit Pusten und Schnauben.

»Mr. Finchings Tante ist hoffentlich beruhigt?« sagte Clennam.

»Gewiß, Sir«, sagte Pancks.

»Ich bin so unglücklich, eine große Animosität in der Brust dieser Dame erweckt zu haben« , sagte Clennam. »Wissen Sie weshalb?«

»Weiß sie, weshalb?« sagte Pancks.

»Ich vermute, nein.«

»Ich vermute auch nicht« , sagte Pancks.

Er zog sein Notizbuch heraus, öffnete es, ließ es in seinen Hut fallen, der neben ihm auf dem Pulte stand, und sah hinein, während es auf dem Boden des Hutes lag: alles mit großer Wichtigkeit.

»Mr. Clennam«, begann er dann, »ich brauche eine Notiz, Sir.«

»Die mit der Firma in Beziehung steht?« fragte Clennam.

»Nein« , sagte Pancks.

»Womit denn, Mr. Pancks? Das heißt, vorausgesetzt, daß Sie sie von mir wollen.«

»Ja, Sir; ja, ich wünsche sie von Ihnen« , sagte Pancks, »wenn ich Sie veranlassen kann, sie mir zu geben. A, B, C, D. Da, De, Di, Do. Nach der Wörterbuchfolge. Dorit. Das ist der Name, Sir.« Mr. Pancks ließ wieder sein eigentümliches Geräusch hören und fiel über seine Nägel von der rechten Hand her. Arthur sah ihn forschend an; er erwiderte den Blick.

»Ich verstehe Sie nicht, Mr. Pancks.«

»Das ist der Name, über den ich die Notiz wünschte.«

»Und was wünschen Sie zu wissen?«

»Was Sie mir nur immer sagen können und wollen.« Dieser umfassende Inbegriff seiner Wünsche wurde nicht ohne schwere Arbeit von Mr. Pancks‘ Maschine zutage gefördert.

»Das ist ein eigentümlicher Besuch, Mr. Pancks, Es fällt mir außerordentlich auf, daß Sie mit solch einer Angelegenheit zu mir kommen.«

»Es mag ganz außerordentlich sein«, versetzte Mr. Pancks, »es mag ganz außer dem gewöhnlichen Lauf der Dinge liegen und doch ein Geschäft sein. Kurz, es ist ein Geschäft. Ich bin ein Geschäftsmann. Welches Geschäft habe ich in dieser Welt, als mich an das Geschäft zu halten? Kein anderes Geschäft.«

Mit seinem früheren Zweifel, ob dieser trockene, harte Mensch die Sache ernstlich meine, richtete Clennam seinen Blick wieder aufmerksam auf sein Gesicht. Es war so ruppig und schmutzig wie je, und so ungestüm und lebhaft wie je, und er konnte nichts Lauerndes in demselben sehen, das einen verborgenen Spott verraten, den er aus dem Ton seiner Worte vernehmen zu müssen glaubte.

»Nun«, sagte Pancks, »um dieses Geschäft ins richtige Geleise zu bringen, sage ich im voraus, daß es nicht das meines Herrn ist.«

»Verstehen Sie unter diesem Herrn Mr. Casby?«

Pancks nickte. »Mein Herr. Setzen Sie einen Fall. Gesetzt, ich höre bei meinem Herrn den Namen – einer jungen Person, der Mr. Clennam zu dienen wünscht. Gesetzt, der Name würde bei meinem Herrn zuerst von Plornish, der im Hofe wohnt, erwähnt. Gesetzt, ich gehe zu Plornish. Gesetzt, ich bitte Plornish geschäftlich um Auskunft. Gesetzt, Plornish, obgleich mit der Bezahlung meines Herrn sechs Wochen im Rückstand, weigert sich. Gesetzt, auch Mrs. Plornish weigert sich. Gesetzt, beide beziehen sich auf Mr. Clennam. Setzen Sie den Fall.«

»Nun?«

»Nun, Sir«, versetzte Pancks. »Gesetzt, ich komme zu ihm. Gesetzt ich bin hier.«

Während die Haarzinken an seinem ganzen Kopfe emporstanden und sein Atem schwer und kurz kam und ging, trat der geschäftige Pancks einen Schritt zurück (in der Schleppermetapher gesprochen, machte eine halbe Wendung mit dem Stern), als wollte er seinen schmutzigen Rumpf ganz zeigen, steuerte dann wieder vorwärts und warf seinen lebhaften Blick bald in seinen Hut, wo sein Notizbuch lag, bald auf Clennam.

»Mr. Pancks, um nicht auf Ihren geheimnisvollen Ton einzugehen, will ich so offen gegen Sie sein, wie ich kann. Lassen Sie mich zwei Fragen an Sie richten. Erstens –«

»Schon gut!« sagte Pancks, indem er seinen schmutzigen Zeigefinger mit dem zerbrochenen Nagel emporhielt. »Ich merke schon! ›Was ist Ihr Beweggrund?‹«

»Ganz recht!«

»Beweggrund«, sagte Pancks, »gut. Nichts zu schaffen mit meinem Herrn. Im Augenblick nicht auseinanderzusetzen: wäre lächerlich, wenn ich’s im Augenblick auseinandersetzen wollte; aber gut. Ich wünsche einer jungen Person, namens Dorrit, zu dienen«, sagte Pancks, den Zeigefinger noch immer als eine Bürgschaft emporhaltend. »Besser, wir nehmen den Beweggrund als gut an.«

»Zweitens und letztens, was wünschen Sie zu wissen?«

Mr. Pancks fischte sein Notizbuch auf, ehe diese Frage gestellt war, und indem er dasselbe sorgfältig in einer inneren Brusttasche festknüpfte und die ganze Zeit Clennam starr ansah, antwortete er nach einer Pause pustend: »Ich wünsche irgendeine ergänzende Notiz.«

Clennam konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als der schnaubende kleine Dampfschlepper, der dem schwerfälligen Schiff »der Casby« so nützlich war, ihn ins Auge faßte und beobachtete, als harrte er auf seine Gelegenheit hineinzusteuern und alles bei ihm zu plündern, was er brauchte, ehe er seinen Manövern Widerstand leisten könnte; obgleich auch wieder in Mr. Pancks‘ Ungestüm etwas war, was manchen wunderbaren Gedanken in ihm wachrief. Nach kurzem Bedenken beschloß er, Mr. Pancks allgemeine Auskunft zu liefern, soweit es in seiner Macht stand, sie ihm an die Hand zu geben; wohl wissend, daß Mr. Pancks, wenn er bei seiner gegenwärtigen Nachforschung fehlging, sicher andere Mittel zu finden imstande sein würde, um sich die nötigen Notizen zu verschaffen.

Nachdem er deshalb zuerst Mr. Pancks aufgefordert, sich seiner freiwilligen Erklärung zu erinnern, daß sein Herr kein Teil an dieser Sache habe und daß seine eigenen Absichten gut seien (zwei Erklärungen, die dieser kohlige, kleine Mann mit dem größten Eifer wiederholte), sagte er ihm offen, daß er bezüglich des Geschlechtes der Dorrit und ihres früheren Aufenthaltes keinen Aufschluß geben könne und seine Kenntnis von der Familie sich nicht über das Faktum hinaus erstrecke, daß sie jetzt auf fünf Glieder reduziert zu sein scheinen; nämlich zwei Brüder, von denen der eine ledig, der andere ein Witwer mit drei Kindern sei. Das Alter der ganzen Familie teilte er Mr. Pancks mit, soweit er es wenigstens vermuten konnte; und endlich beschrieb er ihm die Lage des Vaters des Marschallgefängnisses und den Gang der Dinge und Ereignisse, durch die er mit diesem Mann näher bekannt geworden. Auf all dies horchte Mr. Pancks, der immer unglücksschwangerer blies und schnaubte, je mehr die Sache sein Interesse fesselte, mit großer Aufmerksamkeit; indem er die angenehmsten Empfindungen aus den peinlichsten Teilen der Erzählung zu ziehen und besonders durch die Schilderung der langen Gefangenschaft William Dorrits ergötzt zu sein schien.

»Zum Schluß, Mr. Pancks«, sagte Arthur, »habe ich Ihnen nur so viel zu sagen. Ich habe mehr als persönliche Gründe, so wenig wie möglich von der Familie Dorrit zu sprechen, besonders in meiner Mutter Haus« (Mr. Pancks nickte) »und so viel zu erfahren, wie ich kann. Ein so eifriger Geschäftsmann wie Sie – hm?«

Denn Mr. Pancks hatte plötzlich mit ungewöhnlicher Kraft jene Anstrengung mit Blasen gemacht.

»Nichts«, sagte Pancks.

»Ein so eifriger Geschäftsmann wie Sie versteht ganz wohl, was ein guter Handel ist. Ich möchte einen guten Handel mit Ihnen machen, nämlich, daß Sie mir bezüglich der Familie Dorrit Aufklärungen verschaffen, wenn es in Ihrer Macht liegt, wie ich Ihnen Aufklärungen gegeben. Es wird Ihnen keinen besonders schmeichelhaften Begriff von meinem Geschäftsverfahren geben, daß ich meine Bedingungen vorher zu stellen versäumte«, fuhr Clennam fort, »aber ich ziehe es vor, eine Ehrensache daraus zu machen. Ich habe so viele Geschäfte nach scharfbegrenzten Grundsätzen machen sehen, daß ich, offen gesagt, Mr. Pancks, derselben müde bin.«

Mr. Pancks lachte. »Es ist abgemacht, Sir«, sagte er. »Sie sollen mich fest daran halten sehen.«

Nach diesen Worten sah er Clennam einige Zeit an und biß an allen zehn Nägeln herum, während er offenbar in seinen Gedanken fixierte, was man ihm erzählt, und fuhr dann sorgfältig darüber hin, ehe die Mittel, eine Kluft in seinem Gedächtnis auszufüllen, nicht mehr zur Hand wären. »So ist’s recht«, sagte er endlich, »und nun will ich Ihnen guten Tag wünschen, da heute Sammeltag im Hofe ist. Im Vorbeigehen jedoch. Ein lahmer Fremder mit einem Stock.«

»Ah, ah, Sie nehmen, wie ich sehe, bisweilen eine Bürgschaft an?« sagte Clennam.

»Wenn dieser Bürge bezahlen kann«, versetzte Panck«. »Nimm alles, was du bekommen kannst, und behalte alles, was du nicht genötigt werden kannst, aufzugeben. Das ist Geschäft. Der lahme Fremde mit dem Stock wünscht ein oberes Zimmer in dem Hofe. Ist er gut dafür?«

»Ich bin es«, sagte Clennam. »Ich sage für ihn gut.«

»Das genügt. Was ich vom Bleeding Heart Yard haben muß, ist mein Schein«, sagte Pancks, indem er eine Notiz über die Sache in sein Buch machte. »Ich brauche, wie Sie sehen, meinen Schein. Bezahle oder zeige deinen Besitz! Das ist die Losung im Hofe drunten. Der lahme Fremde mit dem Stock behauptete, Sie schickten ihn; aber er könnte ebensogut behaupten (soweit es geht), daß der Großmogul ihn schickt. Er war, glaube ich, im Spital?«

»Ja. Es ist ihm ein Unglück begegnet. Er wurde soeben entlassen.«

»Der wird ein armer Teufel, Sir, wurde mir gesagt, den man in ein Hospital bringt«, sagte Pancks. Und stieß wieder jenen merkwürdigen Ton aus.

»Dasselbe ist bei mir der Fall«, sagte Clennam kalt.

Mr. Pancks, der sich indes zum Fortgehen fertiggemacht, ging einen Augenblick später unter Segel und schnaubte ohne weiteres Signal oder irgendwelche Zeremonie die Stufenleiter hinab und war bereits in voller Tätigkeit im Bleeding Heart Yard, ehe er noch recht aus dem Kontor zu sein schien.

Den übrigen Teil des Tages war Bleeding Heart Yard in Bestürzung, da der mürrische Pancks darin kreuzte; er fuhr die Bewohner an, wenn sie Ausflüchte wegen des Bezahlens machten, forderte, daß sie ihren Verpflichtungen nachkämen, ließ Bemerkungen von Ausziehen oder Exekution fallen, bohrte Wortbrüchige in den Boden, schickte eine Brandung von Schrecken vor sich her und ließ den Hof in seinem Kielwasser. Knäuel von Menschen, durch eine schlimme Anziehungskraft getrieben, lauerten vor jedem Hause, von dem man wußte, daß er sich darin befand, und lauschten, um Bruchstücke seiner Gespräche mit den Inwohnern zu erhaschen; und konnten sich, wenn es hieß, er komme, häufig nicht rasch genug zerstreuen, so daß er, ehe man sich’s versah, mitten unter ihnen stand und ihre eignen Rückstände forderte, und sie wie an den Boden gefesselt dastanden. Den ganzen übrigen Tag klang Pancks‘: »Wozu sie gesonnen seien?« und »Was sie damit wollten?« durch den Hof. Mr. Pancks wollte nichts von Entschuldigungen hören, nichts von Klagen hören, nichts von Ersatz hören, nichts als von unbedingter Bezahlung hören. Schwitzend und pustend und in exzentrischen Richtungen umherstürmend und immer heißer und schmutziger werdend, peitschte er den Strom des Hofes, daß er immer wilder und aufgeregter wurde. Volle zwei Stunden, nachdem man ihn auf der Höhe der Treppe an dem Horizonte wegdampfen gesehen, hatten sich die Wellen des Stromes noch nicht wieder geglättet.

Es fanden in jener Nacht mehrere kleine Versammlungen von blutenden Herzen an den gewöhnlichen Zusammenkunftsorten auf dem Hofe statt, bei denen die Ansicht herrschend war, mit Mr. Pancks sei sehr schwer zu tun zu haben und es sei sehr zu bedauern, wirklich sehr zu bedauern, daß ein Mann wie Mr. Casby die Eintreibung seiner Einkünfte in die Hände dieses Menschen gebe und ihn nicht in seinem wahren Lichte kenne. Denn (sagten die blutenden Herzen), wenn ein Mann mit diesem weißen Haupte und diesen Augen seine Einkünfte selbst verwaltete, so hätte man nichts von diesen Quälereien und Zerrereien zu dulden, und die Sachen stünden ganz anders.

Am selben Abend zur gleichen Stunde und Minute zappelte der Patriarch – der am Vormittag vor der Plünderung feierlich durch den Hof gesegelt, mit der ausdrücklichen Absicht, die volle Zuversicht zu seinem glänzenden Schädel und seidenen Haaren zu wecken – zur gleichen Stunde und Minute zappelte dieser Humbug erster Klasse von tausend Kanonen heftig in das kleine Dock seines erschöpften Schleppers und sagte, indem er die Daumen umeinander drehte:

»Ein sehr schlechtes Geschäft für einen Tag, Pancks, ein sehr schlechtes Geschäft für einen Tag. Es scheint mir, Sir, und ich muß, um mir selbst gerecht zu werden, die Bemerkung nachdrücklich wiederholen, daß Sie weit mehr Geld hätten heimbringen müssen, weit mehr Geld.«

  1. Die englischen Ortsnamen (Straßen, Plätze usw.) können der Originalität halber nicht immer verdeutscht werden.

Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Wahrsagerei.

Klein-Dorrit erhielt am selben Abend einen Besuch von Mr. Plornish, der, nachdem er seinen Wunsch, im geheimen mit ihr zu sprechen, durch so vieles und so deutliches Räuspern zu verstehen gegeben, daß er den Gedanken bestätigte, ihr Vater sei bezüglich ihrer Näherinnenbeschäftigung eine Illustration des Grundsatzes, es gebe keine so stockblinden Menschen als die, die nicht sehen wollen, eine Audienz von ihr vor der Tür auf der großen Treppe erhielt.

»Es war heute eine Dame bei uns, Miß Dorrit«, brummte Plornish, »und noch eine andere war bei ihr, eine alte Hexe, wie mir nur je eine zu Gesicht gekommen. Und die Art, wie sie einen anschrie, puh!«

Der sanfte Plornish war anfangs gar nicht imstande, seine Gedanken von Mr. Finchings Tante loszureißen. »Denn«, sagte er, um sich selbst zu entschuldigen, »ich versichere Sie, sie ist die kratzbürstigste Person, die man sich denken kann.«

Endlich machte er sich mit der größten Anstrengung so weit von diesem Gegenstand los, um zu bemerken: »Aber sie ist im Augenblick weder hier noch dort. Die andere Dame ist Mr. Casbys Tochter; und wenn es Mr. Casby nicht gut geht, so ist das nicht Pancks‘ Schuld. Denn Pancks gibt sich alle Mühe, wirklich alle Mühe, wahrhaftig alle Mühe!«

Mr. Plornish war nach seiner gewöhnlichen Manier etwas dunkel, aber gewissenhaft emphatisch.

»Und weshalb sie zu uns kam«, fuhr er fort, »war zu hinterlassen, daß, wenn Miß Dorrit zu dieser Adresse kommen wolle – nämlich Mr. Casbys Haus, Pancks hat ein Bureau hinten hinaus, wo er mehr, als man glaubt, arbeitet –, so würde sie sie mit Vergnügen beschäftigen. Sie sei eine alte und intime Freundin von Mr. Clennam – sagte sie ganz ausdrücklich – und hoffe sich seiner Freundin als eine nützliche Freundin zu erweisen. Das waren ihre Worte. Da sie zu wissen wünschte, ob Sie morgen früh kommen könnten, sagte ich, ich wolle Sie besuchen, Miß, und fragen und heute abend Bescheid sagen, daß, oder wenn Sie bereits versagt sind, wann Sie kommen könnten.«

»Ich kann morgen kommen, ich danke Ihnen«, sagte Klein-Dorrit. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, aber so sind Sie immer.«

Mr. Plornish öffnete, mit einer bescheidenen Ablehnung seiner Verdienste, die Zimmertür, um sie wieder einzulassen, und folgte ihr mit so ungemein keckem Anschein, als ob er gar nicht draußen gewesen, daß ihr Vater es hätte bemerken müssen, auch wenn er nicht mißtrauisch gewesen wäre. Der aber in seiner liebenswürdigen Gleichgültigkeit achtete nicht darauf. Nach einem kleinen Gespräch, in dem Plornish seine frühere Stellung als Kollege mit seinem gegenwärtigen Privilegium als ergebener Freund vermischte, das durch seine niedrige Stellung als Gipser eingeschränkt war, nahm er Abschied; ehe er jedoch ging, machte er noch die Tour durch das Gefängnis und sah einen Kegelspiel zu, mit den gemischten Gefühlen eines alten Insassen, der seine Privatgründe hatte zu glauben, daß es seine Bestimmung sei, wieder hierherzukommen.

Frühzeitig am Morgen begab sich Klein-Dorrit, Maggy bei ihren wichtigen häuslichen Beschäftigungen zurücklassend, nach dem Zelt des Patriarchen. Sie ging über die Iron Bridge, obgleich es ihr einen Penny kostete, und legte einen Teil ihres Weges langsamer zurück als alle andern. Fünf Minuten vor acht ruhte ihre Hand auf dem Klopfer des Patriarchen, der gerade so hoch war, daß sie ihn erreichen konnte.

Sie gab Mrs. Finchings Karte dem jungen Mädchen, das die Tür öffnete, und das junge Mädchen sagte ihr, daß »Miß Flora« – Flora hatte bei ihrer Rückkehr unter das väterliche Dach den Titel wieder angenommen, unter dem sie dort gelebt, – ihr Schlafzimmer noch nicht verlassen habe, aber es sei ihr vielleicht gefällig, sich in Miß Floras Arbeitszimmer zu begeben. Sie ging in Miß Floras Arbeitszimmer, als zur Arbeit bestellt, und fand dort einen Frühstückstisch behaglich für zwei hergerichtet, mit einem weiteren Gedeck für eine dritte Person. Das junge Mädchen, das für einige Augenblicke verschwand, kehrte zurück und sagte, sie möchte gefälligst einen Stuhl ans Feuer rücken, ihren Hut abnehmen und es sich bequem machen. Aber Klein-Dorrit, die sehr schüchtern und nicht gewohnt war, sich’s bei solchen Gelegenheiten bequem zu machen, wußte nicht, wie das anfangen; so saß sie noch in der Nähe der Tür, den Hut auf dem Kopf, als Flora eine halbe Stunde später in großer Eile erschien.

Flora bedauerte so sehr, sie habe warten zu lassen und, du liebe Zeit, warum sie in der Kälte sitze, während sie erwartet hatte, daß sie sie beim Kamin mit der Zeitung finden würde und ob das vergeßliche Mädchen ihr die Botschaft nicht überbracht und ob sie die ganze Zeit den Hut aufbehalten und »bitte um aller Güte willen, lassen Sie Flora denselben abnehmen!« Als Flora ihn in der freundlichsten Art von der Welt abnahm, war sie so erstaunt über das Gesicht, das sie enthüllte, daß sie sagte: »Was ein gutes kleines Geschöpf Sie sind, meine Liebe!« und drückte ihr Gesicht zwischen ihre beiden Hände, wie es nur die liebenswürdigste Frau tun kann.

Es war das Wort und die Tat eines Augenblicks. Klein-Dorrit hatte kaum Zeit zu denken, wie freundlich das sei, als Flora voll Geschäftigkeit auf den Frühstückstisch zueilte und sich Hals über Kopf in das Schwatzen stürzte.

»Wirklich sehr leid, daß ich zufälligerweise heute morgen später daran bin als sonst je, weil es meine Absicht und mein Wunsch war, bereit zu sein, Sie zu empfangen, wenn Sie kämen, und Ihnen zu sagen, daß jedermann, den Arthur Clennam auch nur halb soviel interessierte, mich gleichfalls interessieren müsse, und daß ich Sie aufs herzlichste willkommen heiße und so froh sei, statt dessen haben sie mich nicht gerufen und ich schnarchte wahrhaftig noch immer darf ich sagen und wünschen Sie nicht gern kaltes Geflügel oder warmen gekochten Schinken was viele Leute nicht mögen wie die Juden, das sind Gewissensskrupel die wir alle achten müssen, obwohl ich sagen möchte, ich wünschte, sie hätten ein ebenso zartes Gewissen, wenn sie uns falsche Artikel für echte verkaufen die sicherlich das Geld nicht wert sind, es würde mir leid tun«, sagte Flora.

Klein-Dorrit dankte ihr und sagte schüchtern, Brot und Butter und Tee sei alles, was sie gewöhnlich –

»Oh, Possen, mein liebes Kind, ich kann das nicht hören«, sagte Flora, die Teemaschine in der sorglosesten Weise umdrehend, während sie blinzeln mußte, da ihr das heiße Wasser in die Augen spritzte, als sie sich herabbeugte, um in den Teetopf zu blicken. »Sie wissen, Sie sind in der Stellung einer Freundin, Gesellschafterin hierhergekommen, wenn Sie erlauben, daß ich mir diese Freiheit nehme und ich würde mich wirklich vor mir selber schämen, wenn Sie in irgendeiner andern Stellung hierherkämen auch sprach Arthur Clennam in solchen Ausdrücken von Ihnen – Sie sind müde meine Liebe?«

»Nein, Ma’am.«

»Sie werden so blaß, Sie sind zu weit gegangen vor dem Frühstück und wohnen wahrscheinlich weit entfernt und hätten fahren sollen«, sagte Flora, »mein liebes, liebes Kind, könnte ich Ihnen mit irgend etwas dienen?«

»Ich bin wirklich ganz wohl, Ma’am. Ich danke Ihnen vielmals, aber ich bin ganz wohl.«

»Dann nehmen Sie wenigstens gleich Ihren Tee, ich bitte«, sagte Flora, »und diesen Flügel von einem Huhn und ein Stück Schinken, achten Sie nicht auf mich und warten Sie nicht auf mich, denn ich bringe immer selbst Mr. Finchings Tante das Frühstück weil sie es im Bett nimmt, eine liebenswürdige alte Dame und sehr gescheit, Porträt von Mr. Finching hinter der Tür und sehr ähnlich obgleich zu viel Stirn und was den Pfeiler mit dem Marmorboden und der Balustrade und den Bergen betrifft so sah ich ihn nie in solcher Umgebung auch ist die Situation für ein Weingeschäft unwahrscheinlich, ein ausgezeichneter Mann, aber durchaus nicht in solcher Stellung.«

Klein-Dorrit sah das Porträt an, folgte aber nur flüchtig den Andeutungen über dieses Kunstwerk.

»Mr. Finching war mir so ergeben, daß er mich nie aus seinen Augen lassen wollte«, sagte Flora. »Freilich bin ich nicht imstande zu sagen wie lange das gedauert haben würde wenn er nicht plötzlich vom Tode abberufen wäre während ich noch ein neuer Besen war, ein würdiger Mann aber unpoetisch und männliche Prosa aber keine Romantik.«

Klein-Dorrit sah das Porträt wieder an. Der Künstler hatte ihm einen Kopf gegeben, dessen oberer Teil in intellektueller Richtung, selbst für Shakespeare, zu bedeutend gegenüber dem unteren gewesen wäre.

»Die Romantik jedoch«, fuhr Flora fort, das Frühstück für Mr. Finchings Tante geschäftig arrangierend, »wie ich offen zu Mr. Finching sagte als er mir seinen Antrag machte und Sie werden staunen wenn ich Ihnen sage, daß er mir siebenmal seinen Antrag machte einmal in einer Mietkutsche einmal in einem Boot einmal in einem Kirchstuhl einmal auf einem Esel in Tunbridge Wells (Badeort) und die übrigen Male auf den Knien, die Romantik war mit den frühen Tagen Arthur Clennam’s entflohen, unsere Eltern rissen uns auseinander, wir wurden Marmor und strenge Wirklichkeit usurpierte den Thron, Mr. Finching sagte sehr zu seinem Vorteil, daß er das ganz wohl wisse und diesen Stand der Dinge sogar vorziehe, demzufolge wurde das Fiat ausgesprochen und das ist nun das Leben wie Sie sehen und doch brechen wir nicht sondern biegen nur, bitte lassen Sie sich das Frühstück schmecken während ich mit dem Teebrett hineingehe.«

Sie verschwand und Klein-Dorrit konnte nun über die Bedeutung ihrer zerstreuten Worte nachdenken. Sie kam bald wieder zurück und begann endlich selbst ihr Frühstück zu verzehren, indem sie die ganze Zeit über sprach.

»Sie sehen, meine Liebe«, sagte Flora, indem sie einen bis zwei Löffel von einer braunen Flüssigkeit, die wie Branntwein roch, in den Tee goß, »ich muß genau den Anordnungen meines Arztes folgen, obgleich der Geruch nichts weniger als angenehm ist; ich bin ein armes Geschöpf und habe mich vielleicht nicht mehr von dem Schlage erholt, den ich in der Jugend erlitt, indem ich mich im nächsten Zimmer zu sehr dem Weinen hingab als ich von Arthur getrennt wurde, kennen Sie ihn schon lange?«

Sobald Klein-Dorrit merkte, daß diese Frage an sie gerichtet sei – wozu Zeit nötig war, da der galoppierende Schritt ihrer neuen Gönnerin sie weit hinter sich gelassen –, antwortete sie, sie kenne Mr. Clennam seit seiner Rückkehr.

»Allerdings konnten Sie ihn nicht früher gekannt haben, da Sie sonst hätten in China gewesen sein oder mit ihm korrespondiert hätten, wovon weder das eine noch das andere wahrscheinlich«, versetzte Flora. »Denn Reisende werden gewöhnlich mehr oder weniger mahagonibraun und das sind Sie durchaus nicht und was das Korrespondieren betrifft worüber sollten Sie? Wirklich, außer Tee, so war’s also bei seiner Mutter, daß Sie ihn zuerst kennenlernten, – sehr gescheit und fest, aber fürchterlich streng – sollte die Mutter des Mannes mit der eisernen Maske sein.«

»Mrs. Clennam war sehr freundlich gegen mich«, sagte Klein-Dorrit.

»Wirklich? Es freut mich in der Tat sehr das zu hören weil es natürlich angenehm für mein Gefühl ist, von Arthurs Mutter eine bessere Meinung zu haben als ich früher hatte, obgleich ich, was sie von mir denkt, wenn ich so fortschwatze, was ich sicher stets tun werde, und sie mich wie das Fatum in einem Rollwagen anglotzt – wirklich ein seltsamer Vergleich – daß sie gebrechlich ist nicht ihre Schuld – nicht weiß und mir auch nicht denken kann.«

»Werde ich meine Arbeit irgendwo finden, Ma’am?« fragte Klein-Dorrit, schüchtern um sich her sehend; »kann ich sie bekommen?«

»Sie fleißige kleine Fee«, versetzte Flora, indem sie in eine zweite Tasse Tee eine zweite der vom Arzte vorgeschriebenen Dosen goß, »es hat nicht die geringste Eile und es ist besser, daß wir damit beginnen, uns vertrauliche Mitteilungen über unsern gemeinschaftlichen Freund zu machen – ein zu kaltes Wort für mich wenigstens ich meine das nicht, sehr passender Ausdruck gemeinschaftlicher Freund – statt daß ich, nicht Sie durch lauter Formalitäten wie der Spartanische Knabe mit dem Fuchs werde, der ihn biß. Sie werden entschuldigen, daß ich das auf das Tapet bringe, aber vor allen langweiligen Jungen, die in alle Arten von Gesellschaften hineinstolpern, ist dieser Junge der langweiligste.«

Klein-Dorrit setzte sich mit sehr blassem Gesichte wieder nieder, um zu lauschen. »Könnte ich nicht besser indessen arbeiten?« fragte sie. »Ich kann arbeiten und doch zuhören. Ich möchte es lieber, wenn ich dürfte.«

Es sprach sich in ihrem ernsten Tone so deutlich das Gefühl aus, daß ihr nicht wohl sei, wenn sie nicht arbeite, daß Flora antwortete: »Nun, meine Liebe, wie es Ihnen beliebt«, und einen Korb voll weißer Taschentücher brachte. Klein-Dorrit stellte ihn vergnügt neben sich, zog ihr kleines Taschenetui heraus, fädelte ihre Nadel ein und begann zu nähen.

»Was für flinke Finger Sie haben«, sagte Flora, »aber fühlen Sie sich auch gewiß wohl?«

»Oh, ja, gewiß!«

Flora stellte ihren Fuß auf den Schemel und bereitete sich auf eine durch und durch romantische Enthüllung vor. Sie fuhr bisweilen zusammen, schüttelte den Kopf, seufzte höchst ausdrucksvoll, machte häufigen Gebrauch von ihren Augenbrauen und sah dann und wann, aber nicht oft, in das ruhige Gesicht, das über die Arbeit herabgebeugt war.

»Sie müssen wissen, meine Liebe«, sagte Flora, »und ich zweifle nicht, daß Sie es bereits wissen, nicht nur weil ich die Sache obenhin erwähnt, sondern weil ich fühle, daß mir sein Name mit glühenden Lettern auf der Stirn geschrieben steht, daß ehe ich mit dem verstorbenen Mr. Finching bekannt wurde, ich ein Verhältnis mit Arthur Clennam hatte – Mr. Clennam vor den Leuten wo Zurückhaltung notwendig, Arthur hier – wir waren einander alles es war der Morgen des Lebens es war eine Seligkeit es war Wahnsinn es war alles andere der Art in der höchsten Steigerung, als wir auseinandergerissen und zu Stein wurden in welchem Zustande Arthur nach China ging und ich die Marmorbraut des verstorbenen Mr. Finching wurde.«

Flora, die diese Worte mit tiefer Stimme sprach, freute sich ungemein darüber.

»Die Gemütsbewegungen jenes Morgens zu schildern«, sagte sie, »als alles Marmor war und Mr. Finchings Tante in einem Glaswagen folgte der wie zu vermuten steht sich in schändlichem Zustande befunden sonst hatte er nicht zwei Straßen von dem Hause zerbrechen können, weshalb man Mr. Finchings Tante wie den fünften November15 in einem Binsenstuhl heimbringen mußte will ich nicht zu schildern suchen, es genüge zu sagen, daß die leere Form des Frühstücks in dem Speisezimmer drunten stattfand, daß Papa zuviel gesalzenen Salm aß wovon er wochenlang krank wurde und daß Mr. Finching und ich uns auf eine Reise nach dem Kontinent über Calais begaben, wo die Leute auf dem Damm sich um uns stritten, bis sie uns getrennt hatten, obgleich nicht für immer das sollte noch nicht geschehen.«

Die Marmorbraut, die sich kaum Zeit zum Atemholen ließ, fuhr mit der größten Wohlgefälligkeit in wildem Durcheinander der Gedanken, die zuweilen nach Fleisch und Blut schmeckten, fort:

»Ich will einen Schleier über dieses traumartige Leben werfen, Mr. Finching war gut aufgeräumt sein Appetit war vortrefflich er schätzte die Kocherei er hielt den Wein für schmackhaft und alles ging gut, wir kehrten in die unmittelbare Nachbarschaft zurück Nummer dreißig Little Gosling Street London Docks und ließen uns dort häuslich nieder, ehe wir aber noch sicher herausgebracht, daß das Stubenmädchen die Federn aus dem Reservebett verkaufte, schwang sich die in den Kopf getretene Gicht mit Mr. Finching aufwärts in eine andere Sphäre.«

Seine Hinterlassene schüttelte mit einem Blick auf sein Bild den Kopf und wischte ihre Augen.

»Ich ehre das Andenken Mr. Finchings als eines achtungswerten Mannes und höchst entgegenkommenden Gatten, man durfte nur Spargel erwähnen und sie erschienen augenblicklich oder irgendein kleines delikates Getränk und es kam wie durch einen Zauber in einer Schoppenflasche, es war nichts Begeisterndes, aber es war Komfort, ich kehrte unter Papas Dach zurück und lebte abgeschlossen wenn nicht glücklich einige Jahre lang bis Papa eines Tages sanft hereinkam und sagte Arthur Clennam erwarte mich unten, ich ging hinab und fand ihn, fragen Sie mich nicht wie ich ihn gefunden, außer daß er noch unverheiratet, noch unverändert war.«

Das dunkle Geheimnis, in das sich Flora hüllte, würde andre Finger als die geschäftigen, die neben ihr arbeiteten, zur Ruhe gebracht haben. Diese arbeiteten jedoch unausgesetzt fort, und der geschäftige Kopf, der über sie herabgebeugt war, betrachtete die Stiche.

»Fragen Sie mich nicht«, sagte Flora, »ob ich ihn noch liebe oder ob er mich noch liebt oder was daraus werden soll oder wann das Ende davon sein wird, wir sind von Späheraugen umgeben und es kann der Fall sein, daß wir bestimmt sind uns getrennt voneinander abzuhärmen, wir sollen vielleicht nie wieder vereinigt werden, nicht ein Wort nicht ein Atemzug nicht ein Blick soll uns verraten, alles soll ein Geheimnis bleiben wie das Grab, wundern Sie sich deshalb nicht, daß selbst wenn ich verhältnismäßig kalt gegen Arthur und Arthur verhältnismäßig kalt gegen mich scheinen sollte, wir haben schlimme Gründe dazu, es genügt, wenn wir sie kennen. Pst!«

All dies sagte Flora mit so ungestümer Heftigkeit, als glaubte sie wirklich daran. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß, wenn sie sich sogar in die Situation einer Sirene hineingearbeitet, sie wirklich geglaubt hätte, was sie als solche gesagt.

»Pst!« wiederholte Flora, »ich habe Ihnen jetzt alles gesagt, Vertrauen ist zwischen uns gegründet. Pst! um Arthurs willen werde ich stets eine Freundin für Sie sein, mein liebes Mädchen, und um Arthurs willen mögen Sie immer auf mich vertrauen.«

Die emsigen Finger legten die Arbeit beiseite und die kleine Gestalt erhob sich und küßte Floras Hand. »Sie sind sehr kalt«, sagte Flora, in den ihr eigenen natürlichen und herzlichen Ton verfallend und durch diesen Wechsel bedeutend gewinnend. »Arbeiten Sie heute nicht, ich bin überzeugt, Sie sind nicht wohl, ich bin überzeugt, Sie sind nicht stark.«

»Ich fühle mich nur etwas überwältigt durch Ihre Güte und durch die Güte Mr. Clennams, der mich einem Wesen anempfohlen, das er so lange gekannt und geliebt.«

»Ja, wirklich mein Kind«, sagte Flora, die die entschiedene Absicht hatte, ehrlich zu sein, wenn sie sich die Zeit ließ, darüber nachzudenken, »wir wollen das jedoch lieber unberührt lassen, da ich jetzt doch nicht imstande wäre, Ihnen die Sache auseinanderzusetzen, aber es hat nichts zu bedeuten, legen Sie sich ein wenig nieder.«

»Ich war immer stark genug, zu tun, was meine Pflicht war, und ich werde mich bald wieder gefaßt haben«, versetzte Klein-Dorrit mit einem flüchtigen Lächeln. »Sie haben mich mit Güte überwältigt, das ist alles. Wenn ich einen Augenblick am Fenster stehe, werde ich sogleich wieder bei voller Kraft sein.«

Flora öffnete ein Fenster, setzte sie in einen Stuhl daneben und begab sich bedächtig wieder an ihren früheren Platz. Es war ein windiger Tag, und die Luft, die über Klein-Dorrits Gesicht hinstrich, rief rasch wieder die frühere Röte auf demselben hervor. Wenige Minuten später kehrte sie zu ihrem Arbeitskorb zurück, und ihre emsigen Finger waren so emsig wie je.

Ruhig fortarbeitend fragte sie Flora, ob Mr. Clennam ihr gesagt, wo sie wohne? Als Flora verneinend antwortete, sagte Klein-Dorrit, sie verstehe, weshalb er so zartfühlend gewesen, sie sei jedoch überzeugt, er würde es billigen, wenn sie Flora ihr Geheimnis anvertraue, und daß sie es deshalb mit Floras Erlaubnis tun wolle. Sie erhielt eine ermutigende Antwort und drängte die Erzählung ihres Lebens auf wenige dürftige Worte von sich und eine glühende Lobrede auf ihren Vater zusammen, und Flora nahm alles mit einem natürlichen Zartgefühl auf, das die Sache wohl verstand, und in dem nichts Unzusammenhängendes war.

Als die Essenszeit kam, schlang Flora den Arm ihres neu anvertrauten Gutes durch den ihren, führte sie die Treppe hinab und stellte sie dem Patriarchen und Mr. Pancks vor, die bereits im Speisezimmer auf den Beginn des Mahles warteten. (Mr. Finchings Tante mußte für den Augenblick gewöhnlich das Zimmer hüten.) Sie wurde von den beiden Herren je nach dem Charakter jedes einzelnen empfangen; der Patriarch gab sich das Ansehen, als ob er ihr einen unschätzbaren Dienst erweise, indem er sagte, er freue sich, sie zu sehen, freue sich, sie zu sehen; und Mr. Pancks stieß seinen Lieblingston als Willkomm aus.

In dieser neuen Gesellschaft wäre sie unter allen Umständen schon schüchtern genug gewesen, namentlich, als Flora sie drängte, daß sie ein Glas Wein trinken und von dem Besten, was da sei, essen solle; ihr Unbehagen wurde jedoch durch Mr. Pancks noch bedeutend vermehrt. Das Benehmen dieses Mannes flößte ihr anfangs die Vermutung ein, daß er ein Porträtmaler sei, so aufmerksam betrachtete er sie und so häufig blickte er in das kleine Notizbuch, das er neben sich hatte. Als sie jedoch bemerkte, daß er keine Skizze machte und daß er nur von Geschäften sprach, begann der Verdacht in ihr zu erwachen, es sei ein Gläubiger ihres Vaters, dessen Schuld in jenem Taschenbuche stehe. Von diesem Gesichtspunkte aus drückte Mr. Pancks‘ Pusten Herausforderung und Ungeduld aus, und jedes lautere Schnauben wurde zu einer Zahlungsforderung.

Hierüber wurde sie jedoch durch ein anomales und ungereimtes Benehmen von seiten Mr. Pancks‘ enttäuscht. Sie hatte den Tisch bereits eine halbe Stunde verlassen und saß allein bei der Arbeit. Flora war gegangen, »um sich im nächsten Zimmer niederzulegen«, und infolge dieses Zurückziehens hatte der Geruch eines Getränks das Haus durchduftet. Der Patriarch war im Speisezimmer, den philanthropischen Mund weit geöffnet, unter einem gelben Taschentuch fest eingeschlafen. Zu dieser stillen Stunde erschien Mr. Pancks höflich nickend vor ihr.

»Finden es wohl etwas langweilig. Miß Dorrit?« fragte Pancks mit leiser Stimme.

»Nein, durchaus nicht, Sir«, sagte Klein-Dorrit.

»Beschäftigt, wie ich sehe«, bemerkte Mr. Panck«, indem er sich zollweise in das Zimmer schlich. »Was ist das, Miß Dorit?«

»Taschentücher.«

»Wirklich so!« sagte Panck«. »Ich hätte das in der Tat nicht gedacht.« Dabei sah er nicht einen Augenblick auf die Tücher, sondern beständig auf Klein-Dorrit. »Vielleicht möchten Sie wissen, wer ich bin. Soll ich es Ihnen sagen? Ich bin ein Wahrsager.«

Klein-Dorrit begann nun zu glauben, er sei toll.

»Ich gehöre mit Leib und Seele meinem Herrn«, sagte Pancks. »Sie sahen meinen Herrn beim Diner oben. Aber ich tue auch ein wenig in anderer Richtung; im stillen, sehr im stillen, Miß Dorrit.«

Klein-Dorrit sah ihn zweifelhaft und nicht ohne Unruhe an. »Ich wünschte, Sie zeigten mir das Innere Ihrer Hand. Lassen Sie sich nicht stören.«

Er störte insofern, als man ihn gar nicht hier wünschte, aber sie legte einen Augenblick ihre Arbeit in den Schoß und hielt ihm die Linke mit dem Fingerhut hin.

»Jahre voll Mühe, hm?« sagte Pancks sanft, indem er sie mit seinem plumpen Zeigefinger berührte. »Aber wozu sind wir sonst da? Nichts. Ha!« rief er, in die Linien blickend. »Was ist das mit den Eisenstäben? Es ist ein Kollege! Und was ist das mit einem grauen Rock und einer schwarzen Samtmütze? Es ist ein Vater! Und was ist das mit einer Klarinette? Es ist ein Onkel! Und was ist das in Tanzschuhen? Es ist eine Schwester! Und was ist das müßig Herumstreifende? Es ist ein Bruder! Und was ist das für sie alle Denkende? Nun, das sind Sie, Miß Dorrit!«

Ihre Blicke begegneten den seinen, als sie ihm staunend ins Gesicht sah, und sie dachte, obgleich seine Augen stechend waren, er sehe doch hübscher und gütiger aus, als er ihr beim Mittagessen vorgekommen. Seine Blicke ruhten bald wieder auf ihrer Hand, und die Gelegenheit, diesen Eindruck zu erhöhen oder zu verbessern, war vorbei.

»Jetzt ist der Henker darin«, murmelte Pancks, mit seinen plumpen Fingern eine Linie in ihrer Hand verfolgend, »wenn das in der Ecke nicht ich bin? Was tue ich hier? Was ist hinter mir?«

Er fuhr mit dem Finger langsam nach dem Handgelenk und um das Handgelenk und gab sich den Anschein, als suche er auf dem Rücken der Hand, was hinter ihm sei.

»Ist es irgend etwas Schlimmes?« fragte Klein-Dorrit lächelnd.

»Verwünscht!« sagte Pancks. »Was halten Sie davon?«

»Ich sollte das Sie fragen. Ich bin nicht der Wahrsager.«

»Allerdings,« sagte Pancks. »Was das bedeutet? Sie werden leben, um zu sehen, Miß Dorrit.«

Indem er ihre Hand langsam und stückweise losriß, strich er all seine Finger durch die Zinken seiner Haare, daß sie in ihrer ungeheuerlichsten Weise emporstarrten, und wiederholte langsam: »Vergessen Sie nicht, was ich sage, Miß Dorrit, Sie werden leben, um zu sehen.«

Sie konnte nicht umhin, ihr Staunen zu zeigen, wäre es auch nur, daß er so viel von ihr wußte.

»Ah! Das ist’s!« sagte Pancks auf sie deutend. »Miß Dorrit, nicht immer, nein!« Noch erstaunter denn zuvor und noch etwas geängstigter sah sie ihn an, als erwartete sie eine Erklärung seiner letzten Worte.

»Nicht das«, sagte Pancks, indem er mit dem größten Ernst gleichfalls sich den Schein des Erstaunens in Blick und Miene gab, was wider seine Absicht etwas grotesk aussah. »Tun Sie das nicht! Niemals, wenn Sie mich sehen, es mag sein, wann oder wo es will. Ich bin niemand, tun Sie nicht, als wenn Sie mich kennten. Nehmen Sie keine Notiz von mir. Wollen Sie das, Miß Dorrit?«

»Ich weiß kaum, was ich sagen soll«, versetzte Klein-Dorrit ganz betäubt. »Weshalb?«

»Weil ich ein Wahrsager bin, Pancks, der Zigeuner. Ich habe Ihnen noch nicht so viel von Ihrem Schicksal mitgeteilt, Miß Dorrit, daß ich Ihnen gesagt, was hinter mir auf dieser kleinen Hand ist. Ich habe Ihnen gesagt, Sie würden leben, um zu sehen. Ist es zugestanden, Miß Dorrit?«

»Zugestanden, daß ich – –«

»Keine Notiz von mir außerhalb dieses Zimmers nehmen, es sei denn, daß ich es zuerst tue. Nicht auf mich zu achten, wenn ich komme und gehe. Es ist sehr leicht. Es ist kein Verlust, ich bin nicht schön, ich bin keine gute Gesellschaft, ich bin nur meines Herrn Ausjäter. Sie dürfen nur denken: ›Ah! Pancks der Zigeuner bei seinem Wahrsagen – er wird mir einst den Nest meines Schicksals sagen – ich werde leben, um es zu erfahren.‹ Ist das zugestanden, Miß Dorrit?«

»Ja«, stammelte Klein-Dorrit, die er in große Verwirrung brachte, »ich denke, solange Sie nichts Böses tun.«

»Gut!« Mr. Pancks sah nach der Wand des anstoßenden Zimmers und trat vorwärts. »Ehrliches Geschöpf, Mädchen von großen Eigenschaften, aber auch eine ebenso unvorsichtige und leichtsinnige Plauderin, Miß Dorrit.« Damit rieb er seine Hände, als wenn die Begegnung sehr befriedigend für ihn ausgefallen, schnaubte fort nach der Tür und entfernte sich wieder mit höflichen Verbeugungen.

Wenn Klein-Dorrit durch dieses seltsame Benehmen von seiten ihrer neuen Bekanntschaft und dadurch, daß sie sich in diese eigentümliche Geschichte verwickelt sah, sich schon ungewöhnlich verwirrt fühlte, so verringerte sich keineswegs diese Verwirrung durch die nachfolgenden Umstände. Außerdem, daß Mr. Pancks jede Gelegenheit ergriff, die ihm in Mr. Casbys Haus geboten war, um sie bedeutungsvoll anzusehen und anzuschnauben – was nicht viel heißen wollte, nach dem, was er bereits getan – begann er nun auch ihr tägliches Leben zu durchkreuzen. Sie sah ihn beständig auf der Straße. Wenn sie zu Mr. Casby ging, war er immer da. Wenn sie zu Mrs. Clennam ging, kam er unter irgendeinem Vorwand, als wenn er sie nicht aus den Augen verlieren wollte. Es war noch keine Woche vergangen, so fand sie ihn immer abends im Pförtnerstübchen, mit dem diensttuenden Schließer, der allem Anschein nach zu seinen Vertrauten gehörte, im Gespräch begriffen. Ihr nächstes Erstaunen war, ihn auch ganz behaglich im Gefängnis zu finden; zu hören, daß er sich unter den Besuchen bei ihres Vaters Sonntagsempfang befunden, ihn Arm in Arm mit einem gefangenen Freund auf dem Hof gehen zu sehen; durch Hörensagen zu erfahren, daß er sich eines Abends bei dem gesellschaftlichen Klub, der seine Zusammenkünfte in der Snuggery hielt, bedeutend hervorgetan, indem er an die Mitglieder dieses Instituts eine Rede hielt, ein Lied sang und die Gesellschaft mit fünf Gallonen Ale traktierte – das Gerücht fügte verkehrterweise eine große Menge Seegarnelen hinzu. Die Wirkung, die diese Erscheinungen, von denen er bei seinen treulichen Besuchen Augenzeuge wurde, auf Mr. Plornish hatten, machte einen Eindruck auf Klein-Dorrit, der dem nachstand, den diese Erscheinungen selbst hervorbrachten. Sie schienen ihn durch eine Mundsperre am Sprechen zu hindern und zu binden. Er konnte nur starren und bisweilen leise murmeln, man würde es im Bleeding Heart Yard gar nicht glauben, daß das Pancks sei, aber er sagte nie ein Wort, noch machte er ein Zeichen, selbst nicht gegenüber von Klein-Dorrit. Mr. Pancks setzte seinem geheimnisvollen Verfahren die Krone auf, indem er sich auf eine unerklärte Art mit Tip bekannt machte und an einem Sonntag an dem Arme dieses jungen Mannes in das Kolleg schlenderte. Er nahm jedoch die ganze Zeit nicht die geringste Notiz von Klein-Dorrit, ausgenommen ein- oder zweimal, wo es ihm gelang, ganz in ihre Nähe zu kommen, und niemand dabei war; bei welcher Gelegenheit er im Vorbeigehen mit einem freundlichen Blick und einem ermutigenden Pusten zu ihr sagte: »Pancks der Zigeuner – wahrsagen.«

Klein-Dorrit arbeitete mit angestrengtem Fleiß, wie gewöhnlich, indem sie sich über all dies wunderte, aber ihr Staunen in ihrer eigenen Brust bewahrte, wie sie seit frühster Zeit schon manche schwerere Last mit sich herumgetragen. Eine Veränderung war mit dem geduldigen Herzen vorgegangen und ging noch mit ihm vor. Mit jedem Tag wurde sie zurückhaltender. Unbemerkt im Gefängnisse aus- und einzugehen und auch sonst übersehen und vergessen zu werden, waren ihre Hauptwünsche.

Es war ihre Freude, sich, sooft sie nur konnte, ohne deshalb ihre Pflicht zu versäumen, in ihr Zimmer, das für ihre zarte Jugend und ihren Charakter etwas seltsam eingerichtet war, zurückzuziehen. Es gab Nachmittagsstunden, in denen sie unbeschäftigt war, in denen Besuche zu ihrem Vater kamen, die ein Kartenspiel mit ihm machen wollten, wobei sie entbehrt werden konnte und besser fort war. Dann eilte sie durch den Hof, stieg die paar Treppen hinauf, die zu ihrem Zimmer führten, und stellte ihren Stuhl an das Fenster. Die Spitzen auf der Mauer nahmen mancherlei Gestalten an, manche leichte Formen wob das schwere Eisen, manches goldene Streiflicht fiel auf den Rost, während Klein-Dorrit sinnend dasaß. Neue Zickzacks sprangen bisweilen in das grausame Muster, wenn sie durch einen Strom von Tränen daraufblickte; aber verschönert oder verdüstert, ob darüber oder darunter oder durch dasselbe, wohl oder übel, sie mußte in ihrer Einsamkeit darauf hinblicken und alles mit jenem unverwischbaren Brandmal sehen.

Eine Dachstube, und zwar eine Marschallgefängnisdachstube ohne Vergleich, war Klein-Dorrits Zimmer. Es war schön gehalten, obgleich an und für sich noch häßlich, und hatte wenig außer Reinlichkeit und Luft, womit es glänzen konnte; denn aller Zierat, den sie je hatte kaufen können, ging nach ihres Vaters Zimmer. Wie dem aber auch sei, sie zeigte für diesen dürftigen Ort eine stets wachsende Liebe; und allein in ihrem Zimmer zu sitzen, wurde ihre Lieblingsruhe.

Und dies in solchem Grade, daß, als sie eines Nachmittags während der Pancksgeheimnisse an ihrem Fenster saß und Maggys wohlbekannten Schritt die Treppe heraufkommen hörte, sie durch die Befürchtung, abgerufen zu werden, nicht wenig in Unruhe kam. Als Maggys Schritt sich näherte, zitterte sie und schwankte; und es war alles, daß sie sprechen konnte, als Maggy endlich erschien.

»Bitte, Mütterchen«, sagte Maggy nach Luft schnappend, »du mußt herunterkommen und ihn sehen. Er ist hier.«

»Wer, Maggy?«

»Wer? Natürlich Mr. Clennam. Er ist in deines Vaters Zimmer und sagte zu mir: ›Maggy, wollen Sie so gut sein, zu gehen und ihr zu sagen, daß nur ich es bin.‹«

»Ich bin nicht ganz wohl. Es wäre besser, ich ginge nicht. Ich will mich niederlegen. Sieh! ich lege mich nieder, um meinen Kopf auszuruhen. Sage ihm mit einer dankbaren Empfehlung, daß du mich so verlassen, sonst würde ich gekommen sein.«

»Gut, aber es ist nicht besonders höflich, Mütterchen«, sagte Maggy und stierte sie an, »dein Gesicht so wegzuwenden!«

Maggy war sehr empfindlich für persönliche Hintansetzungen und sehr erfinderisch in Auffindung solcher. »Und beide Hände vor das Gesicht zu tun!« fuhr sie fort. »Wenn du die Blicke eines armen Dinges nicht ertragen kannst, wäre es besser, es ihr gleich zu sagen und sie nicht so von sich zu stoßen, indem man ihre Gefühle verletzt und ihr zehnjähriges Herz bricht, dem armen Ding!«

»Ich will ja nur meinen Kopf ausruhen, Maggy!«

»Gut, und wenn du meinst, um deinen Kopf zu erleichtern, Mütterchen, so laß mich auch weinen. Behalte nicht das Weinen für dich allein«, heischte Maggy, »du mußt nicht so gierig sein.« Und augenblicklich begann sie zu weinen, daß ihr die Backen anschwollen.

Es kostete einige Mühe, sie zu veranlassen, mit der Entschuldigung zurückzukehren; aber das Versprechen, daß sie ihr eine Geschichte erzählen werde – von je ihr größtes Vergnügen – unter der Bedingung, daß sie all ihre Geistesfähigkeit auf diese Botschaft konzentriere und ihre kleine Herrin auf eine Stunde allein lasse, in Verbindung mit der Besorgnis auf seiten Maggys, sie möchte ihren guten Humor unten an der Treppe zurückgelassen haben, überwog. So ging sie weg, die Botschaft den ganzen Weg über vor sich hinmurmelnd, um sie nicht zu vergessen, und kam zur bestimmten Stunde zurück.

»Er war sehr besorgt, kann ich dir sagen«, kündigte sie an, »und wollte zu einem Arzt schicken. Und morgen will er wiederkommen, ja, und ich glaube nicht, daß er heute nacht gut schläft, nachdem er von deinem Kopfleiden weiß, Mütterchen. O Gott! Hast du nicht geweint?«

»Ich glaube, ich habe ein wenig geweint, Maggy.«

»Ein wenig! Oh!«

»Aber es ist jetzt vorbei – ganz vorbei und wieder gut, Maggy. Und mein Kopf ist weit besser und kühler, und ich fühle mich ganz wohl. Ich bin recht froh, daß ich nicht hinunterging.«

Ihr großes, staunendes Kind umarmte sie zärtlich; und nachdem sie ihr Haar geglättet und ihre Stirn und ihre Augen mit kaltem Wasser gebadet (Dienste, in denen ihre linkischen Hände geschickt wurden), umarmte sie sie wieder, frohlockte über die freudigeren Blicke und führte sie wieder nach dem Stuhl am Fenster. Gegenüber von diesem Stuhl rückte Maggy mit krampfhaften Anstrengungen, die durchaus nicht notwendig waren, die Kiste, auf der sie gewöhnlich saß, während Geschichten erzählt wurden, setzte sich darauf, umarmte ihre eignen Knie und sagte mit Ungeduld auf Geschichten und mit weit geöffneten Augen:

»Nun, Mütterchen, jetzt aber eine gute!«

»Wovon soll sie handeln, Maggy?«

»Oh, von einer Prinzessin«, sagte Maggy, »und von einer rechten. Ganz unglaublich, du weißt schon.«

Klein-Dorrit bedachte sich einen Augenblick, und mit einem ziemlich traurigen Lächeln, das vom Sonnenuntergang mit seiner Röte übergossen wurde, begann sie:

»Maggy, es war einmal ein edler König, der hatte alles, was er nur wünschen mochte, und noch weit mehr. Er hatte Gold und Silber, Diamanten und Rubinen, Reichtümer aller Art. Er hatte Paläste und hatte –«

»Hospitäler«, unterbrach sie Maggy, noch immer ihre Knie wiegend. »Er soll auch Hospitäler haben, weil sie so angenehm sind, mit Abgaben von Hühnern.«

»Ja, er hatte eine Masse dergleichen, und er hatte eine Masse von allem.«

»Eine Masse gebratener Kartoffeln zum Beispiel?« sagte Maggy.

»Eine Masse von allem.“

»Gluck, gluck!« lockte Maggy, indem sie ihre Knie umarmte. »War das nicht herrlich!«

»Dieser König hatte eine Tochter, die die weiseste und schönste Prinzessin war, die je gelebt. Als sie noch ein Kind war, wußte sie alle ihre Lektionen, ehe die Lehrer sie dieselben lehrten; und als sie erwachsen war, war sie das Wunder der Welt. Nun stand in der Nähe des Palastes, wo die Prinzessin wohnte, eine Hütte, in der eine arme winzig kleine Frau wohnte, die ganz allein lebte.«

»Eine alte Frau«, sagte Maggy mit einem fettigen Schnalzen ihrer Lippen.

»Nein, nicht eine alte Frau. Eine ganz junge Frau.«

»Ich möchte wissen, ob sie sich nicht fürchtete«, sagte Maggy. »Bitte, fahre fort.«

»Die Prinzessin kam beinahe jeden Tag an der Hütte vorüber, und sooft sie in ihrem schönen Wagen vorbeifuhr, sah sie die arme winzig kleine Frau an ihrem Rade spinnen, und sie sah die winzig kleine Frau an, und die winzig kleine Frau sah sie an. So ließ sie den Kutscher eines Tages kurz vor der Hütte halten und stieg aus und ging näher und sah zur Tür hinein. Da war wie gewöhnlich die winzig kleine Frau, die an ihrem Rade spann, und sie sah die Prinzessin an, und die Prinzessin sah sie an.«

»Als wollten sie einander wegstarren«, sagte Maggy. »Bitte, fahre fort, Mütterchen.«

»Die Prinzessin war so eine wunderbare Prinzessin, daß sie die Kraft hatte, Geheimnisse zu wissen, und sie sagte zu der winzig kleinen Frau: ›Warum bewahrst du es hier?‹ Dies zeigte ihr augenblicklich, daß die Prinzessin wisse, warum sie an diesem Rade spinnend allein wohne, und sie fiel der Prinzessin zu Füßen und bat sie, sie nicht zu verraten. Die Prinzessin sagte: ›Ich werde dich nicht verraten. Laß mich es sehen.‹ Die winzig kleine Frau schloß den Laden des Hüttenfensters und verriegelte die Tür, und von Kopf bis zu Fuß zitternd, aus Furcht, es möchte jemand Verdacht schöpfen, öffnete sie einen sehr geheimen Platz und zeigte der Prinzessin einen Schatten.«

»Puh!« sagte Maggy.

»Es war der Schatten von jemand, der längst dahingegangen; von einem, der weit fortgegangen außer allem Bereich, um nimmer, nimmer wiederzukehren. Es war ein glänzender Anblick: und als die winzig kleine Frau es der Prinzessin zeigte, war sie von ganzem Herzen darauf stolz, als auf einen großen, großen Schatz. Als die Prinzessin es eine kurze Zeitlang betrachtet, sagte sie zu der winzig kleinen Frau: ›Und du bewachst das Tag und Nacht?‹ Und sie schlug die Augen nieder und flüsterte: ›Ja‹. Dann sagte die Prinzessin: ›Erkläre mir, warum.‹ Worauf die andere antwortete: es sei niemand so Gutes und Freundliches je diesen Weg gekommen, und das sei anfangs der Grund gewesen. Auch sagte sie, daß niemand es vermisse, daß niemand deshalb schlimmer daran sei, daß jener jemand zu denen gegangen sei, die ihn erwarteten –«

»So ist der jemand also ein Mann?« warf Maggy ein.

Klein-Dorrit sagte schüchtern Ja, sie glaube wohl, und fuhr dann fort:

»Zu denen gegangen sei, die ihn erwarteten, und daß diese Erinnerung niemandem gestohlen oder vorenthalten sei. Die Prinzessin antwortete: ›Ah! Aber wenn die Bewohnerin der Hütte stürbe, so würde man es ja finden.‹ Die winzig kleine Frau sagte ihr Nein: wenn diese Zeit käme, würde es ruhig in ihr Grab sinken und nicht mehr zu finden sein.«

»Gewiß«, sagte Maggy, »fahre fort, bitte!«

»Die Prinzessin war sehr erstaunt, das zu hören, wie du dir denken kannst, Maggy.«

»Das mußte sie auch sein«, sagte Maggy.

»Sie beschloß deshalb, die winzig kleine Frau zu beobachten und zu sehen, was daraus entstünde. Jeden Tag fuhr sie in ihrem schönen Wagen an der Tür der Hütte vorüber und sah dort die winzig kleine Frau immer allein an ihrem Spinnrade sitzen. Und sie sah die winzig kleine Frau an, und die winzig kleine Frau sah sie an. Endlich stand eines Tages das Rad still, und die winzig kleine Frau war nicht zu sehen. Als die Prinzessin fragte, warum das Rad sich nicht mehr bewege, und wo die winzig kleine Frau sei, unterrichtete man sie, daß das Rad sich nicht mehr bewege, weil niemand da sei, der es drehe, da die winzig kleine Frau gestorben.«

(»Sie hätten sie ins Hospital bringen sollen«, sagte Maggy, »dann würde sie sicherlich davongekommen sein.«)

»Nachdem die Prinzessin ganz kurze Zeit über den Verlust der winzig kleinen Frau geweint, trocknete sie ihre Augen und stieg aus dem Wagen an dem Platz, wo sie ihn hatte früher halten lassen, und ging nach der Hütte und schaute zur Tür hinein. Da war jedoch niemand, der sie angesehen hätte, und niemand, den sie hätte ansehen können; sie trat deshalb ein, um nach dem wertvollen Schatten zu sehn, aber es war nirgend eine Spur von ihm zu finden; da wußte sie, daß die winzig kleine Frau ihr die Wahrheit gesagt, und daß es niemanden mehr beunruhigen würde, und daß es ruhig in sein eignes Grab gesunken, und daß sie und der Schatten miteinander zur Ruhe gekommen.«

»Das ist alles, Maggy.«

Der Sonnenuntergang ergoß eine solche Glut auf Klein-Dorrits Gesicht, als sie an das Ende ihrer Geschichte kam, daß sie mit ihrer Hand die Augen beschattete.

»Ist sie alt geworden?« fragte Maggy.

»Die winzig kleine Frau?«

»Ja!«

»Ich weiß es nicht«, sagte Klein-Dorrit. „Aber es wäre ganz das gleiche gewesen, und wenn sie noch so alt geworden.«

»Wirklich?« sagte Maggy. „Ich vermute, es ist der Fall.« Und dabei saß sie mit stierem Sinnen da.

Sie saß so lange mit weit geöffneten Augen da, daß Klein-Dorrit am Ende, um sie von ihrer Kiste wegzulocken, aufstand und zum Fenster hinaussah. Als sie in den Hof hinabblickte, sah sie Pancks hereinkommen und mit dem Winkel seines Auges, während er vorüberging, heraufschielen. »Wer ist das, Mütterchen?« sagte Maggy. Sie war zu ihr ans Fenster getreten und lehnte an ihrer Schulter. »Ich sehe ihn oft aus- und eingehen.«

»Ich hörte draußen, er sei ein Wahrsager«, erwiderte Klein-Dorrit. »Aber ich zweifle, ob er vielen Leuten selbst ihre Vergangenheit und Gegenwart weissagen könnte.«

»Hätte er der Prinzessin nicht das ihrige sagen können?« fragte Maggy.

Klein-Dorrit, die sinnend in das dunkle Tal des Gefängnisses hinabsah, schüttelte den Kopf.

»Auch der winzig kleinen Frau nicht?« fragte Maggy.

»Nein«, sagte Klein-Dorrit, und der Sonnenuntergang beleuchtete hell ihr Gesicht. »Aber laß uns vom Fenster weggehen!«

  1. Guy Fawkes Tag, an dem eine Strohpuppe überall in England verbrannt wird zum Andenken an die Pulververschwörung 6. November 1605.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Verschworene und andere Leute.

Die Privatwohnung von Mr. Pancks war in Pentonville, wo er auf außerordentlich bescheidenem Fuß im zweiten Stock bei einem Rechtsgelehrten hauste, der eine innere Tür hinter der Straßentür hatte, die auf einer Feder ruhte und mit einem Klirren wie eine Falle aufsprang. An dem fächerartigen Fenster stand geschrieben: Rugg, Generalagent, Rechnungsführer und Schuldeneintreiber.

Dieser Streifen, majestätisch in seiner strengen Einfachheit, bestrahlte ein schmales Stück Garten vor dem Hause, der an die durstige Landstraße stieß, wo einige von den staubigsten Blättern ihre traurigen Häupter hängen ließen und ein verschmachtendes Leben führten. Ein Professor der Kalligraphie bewohnte den ersten Stock und belebte das Gartengitter durch Glaskasten, die ausgewählte Proben von dem enthielten, was seine Zöglinge vor sechs Lektionen gewesen, als seine junge Familie am Tische rüttelte, und was sie nach sechs Lektionen geworden, als die Familie sich ruhig verhielt. Der Raum, den Mr. Pancks innehatte, beschränkte sich auf ein luftiges Schlafzimmer, er war jedoch mit Mr. Rugg, seinem Hausherrn, übereingekommen, daß er gegen Entrichtung einer gewissen genau bestimmten Skala von Bezahlungen und nach zuvor gegebener mündlicher Notiz das Frühstück, Mittagessen, den Tee oder das Nachtessen, eines von diesen oder alle zusammen bei Mr. und Miß Rugg, seiner Tochter, im hintern Zimmer sollte einnehmen dürfen.

Miß Rugg war eine Dame von ein wenig Vermögen, das sie sich mit großer Auszeichnung in der Nachbarschaft dadurch erworben, daß ihr Herz schwer zerrissen und ihre Gefühle tief verletzt worden waren, und zwar durch einen in der Nähe wohnenden Bäcker von mittlerem Alter, gegen den sie durch die Vermittlung Mr. Ruggs einen Entschädigungsprozeß wegen Bruchs eines Heiratsversprechens einzuleiten für nötig befunden. Der Bäcker, der bei dieser Gelegenheit durch den Anwalt der Miß aussaugerisch auf den vollen Betrag von zwanzig Guineen angeklagt wurde, achtzehn Pence pro Titel, und zu entsprechender Entschädigung verurteilt worden, hatte von der Jugend von Pentonville auch noch gelegentlich Verfolgungen auszustehen. Miß Rugg dagegen, von der Majestät des Gesetzes umgeben und besorgt, ihr Geld in Staatspapieren anzulegen, wurde mit großer Achtung behandelt.

In der Gesellschaft von Mr. Rugg, der ein rundes, weißes Gesicht hatte, als wäre ihm längst alle Röte entzogen, und einen zerzausten, gelben Kopf wie ein alter Flederwisch, und in der Gesellschaft von Miß Rugg, die kleine Nankingflecke wie Hemdknöpfe über das ganze Gesicht verbreitet hatte, und deren gelbe Haare mehr ruppig als üppig waren, hatte Mr. Pancks seit einigen Jahren gewöhnlich Sonntags gespeist und ungefähr zweimal in der Woche ein Abendessen, bestehend aus Brot, holländischem Käse und Porter eingenommen. Mr. Pancks war einer von den sehr wenigen heiratsfähigen jungen Männern, vor denen sich Miß Rugg nicht fürchtete; die Gründe, mit denen sie sich beruhigte, waren zweierlei Art, nämlich erstlich: »daß es nicht zweimal anginge«, und zweitens: »daß er’s nicht wert wäre.« Mit dieser doppelten Waffe ausgerüstet, konnte sich Miß Rugg leicht von Mr. Pancks anschnauben lassen. Bis zu dieser Zeit hatte Mr. Pancks wenig oder kein Geschäft in seinem Quartier in Pentonville besorgt, außer dem des Schlafens; aber jetzt, da er Wahrsagerei trieb, saß er oft nach Mitternacht mit Mr. Rugg in seinem kleinen Bureau, das nach vorn ging; und sogar nach dieser späten Stunde brannte Talglicht in seinem Schlafzimmer. Obgleich seine Obliegenheiten als Ausjäter seines Herrn in keiner Weise sich vermindert hatten, und obschon dieser Dienst keine größere Ähnlichkeit mit einem Rosenbeet hatte als die, die sich in seinen vielen Dornen entdecken ließ, nahm ihn doch irgendein neuer Industriezweig beständig in Anspruch. Wenn er sich am Abend von dem Patriarchen losband, geschah es nur, um eine ungetaufte Barke ins Schlepptau zu nehmen und in andern Gewässern wieder frisch draufloszuarbeiten. Der Schritt von einer persönlichen Bekanntschaft mit dem ältern Mr. Chivery zu einer Bekanntschaft mit seiner liebenswürdigen Frau und seinem trostlosen Sohn mochte leicht gewesen sein; aber leicht oder nicht, Mr. Pancks machte ihn sehr bald. Eine Woche oder zwei nach seinem ersten Erscheinen im Kollegium nistete er bereits in dem Tabakgeschäft und suchte hauptsächlich ein gutes Einverständnis mit dem jungen John herbeizuführen. Dies gelang ihm in solchem Grade, daß er den sich abquälenden Schäfer von den Hainen weglockte und ihm geheimnisvolle Missionen gab, bei welchen Gelegenheiten dieser dann in unbestimmten Zeiträumen für zwei bis drei Tage zu verschwinden begann. Die kluge Mrs. Chivery, die über diese Veränderung höchlich erstaunt war, würde dagegen, als etwas dem Hochländlerbild an dem Türpfosten Widerstrebendes protestiert haben, wenn sie nicht zwei zwingende Gründe gehabt hätte: erstens, daß ihr Sohn lebhaftes Interesse an dem Geschäft zu nehmen gezwungen war, das diese Reisen fördern mußten, – und das hielt sie gut für seine gebeugten Geister; zweitens, daß Mr. Pancks im Vertrauen ihr das Versprechen machte, für die Zeit, die ihr Sohn ihm widme, die hübsche Summe von sieben Schillingen und sechs Pence für den Tag zu bezahlen. Der Vorschlag, der von ihm selbst kam und in die energischen Worte gekleidet wurde: »Wenn Ihr Sohn schwach genug ist, Ma’am, es nicht zu nehmen, so ist das noch kein Grund, warum Sie das auch sein sollten, nicht wahr? Somit ganz unter uns: das Geschäft ist abgemacht!«

Was Mr. Chivery von diesen Sachen dachte und wieviel oder wie wenig er von denselben wußte, war nicht zu erfahren. Es ist bereits von ihm bemerkt worden, daß er ein Mann von wenigen Worten war; und es mag hier erwähnt werden, daß er von seinem Geschäft die Gewohnheit angenommen, alles zu verschließen. Er verschloß sich selbst so sorgfältig wie die Schuldner im Marschallgefängnis. Selbst seine Gewohnheit, sein Essen zu verriegeln, mag ein Teil eines gleichförmigen Ganzen gewesen sein, aber es ist keine Frage, daß er in allen andern Dingen seinen Mund verschloß, wie er das Marschallgefängnis verschloß. Er öffnete ihn nie ohne Veranlassung. Wenn es notwendig war, sich über etwas zu äußern, öffnete er ihn ein wenig, hielt ihn so lange offen, wie für den Zweck genügte, und schloß ihn dann wieder. Gerade wie er seine Mühe an der Tür des Marschallgefängnisses sparte und einen Fremden, der hinausgehen wollte, einige Augenblicke warten ließ, wenn er einen andern Fremden den Hof herabkommen sah, so daß ein Umdrehen des Schlüssels für beide genügte, ähnlich behielt er häufig eine Bemerkung zurück, wenn er eine andere auf dem Wege zu seinen Lippen bemerkte, und entließ sie dann beide zu gleicher Zeit. Suchte man in seinem Gesicht irgendeinen Schlüssel zur Kenntnis seines Innern, so war der Marschallgefängnisschlüssel ein ebenso leserlicher Index der Charaktere und Geschichten, die er verschloß.

Daß Mr. Pancks sich veranlaßt sehen sollte, irgend jemand nach Pentonville einzuladen, war ein Fall, der in seinem Kalender noch nicht bemerkt war. Er lud jedoch den jungen John zum Mittagessen und brachte ihn in die Schußweite des gefährlichen (weil sehr verschwenderischen) Zaubers von Miß Rugg. Das Bankett war auf einen Sonntag bestimmt, und Miß Rugg füllte bei dieser Gelegenheit mit eigener Hand einen Hammelbraten mit Austern und schickte ihn zum Bäcker, nicht zu dem Bäcker, sondern zu einem Gegner desselben. Große Vorräte von Orangen, Apfel und Nüssen wurden gleichfalls aufgekauft. Auch Rum brachte Mr. Pancks Samstag abend nach Hause, um das Herz des Gastes zu erfreuen.

Dieser Überfluß an körperlichen Labsalen war nicht das Wichtigste bei dem Empfang des Fremden. Sein wesentlicher Zug war die vorhergängige Vertraulichkeit und Sympathie der Familie. Als der junge John um halb zwei Uhr ohne die Elfenbeinhand und die Weste mit den Goldzweigen erschien, wie eine Sonne, die durch tückische Wolken ihrer Strahlen beraubt ist, stellte ihn Mr. Pancks den gelbhaarigen Ruggs als den so oft erwähnten jungen Mann vor, der Miß Dorrit liebe.

»Ich freue mich«, sagte Mr. Rugg, ihn hauptsächlich in dieser Richtung anredend, »das außerordentliche Vergnügen zu haben, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir. Ihre Gefühle machen Ihnen Ehre. Sie sind jung; mögen Sie nie Ihre Gefühle überleben. Sollte ich je meine Gefühle überleben, Sir«, sagte Mr. Rugg, der ein Mann von vielen Worten war und für einen sehr gewandten Sprecher galt, »sollte ich meine Gefühle überleben, so würde ich in meinem Testament fünfzig Pfund dem Manne aussetzen, der mich aus dem Leben schaffte.«

Miß Rugg seufzte tief auf.

»Meine Tochter, Sir«, sagte Mr. Rugg. »Anastasia, dir sind die Gefühle dieses jungen Mannes nicht fremd. Meine Tochter hatte auch ihre Prüfungen« (Mr. Rugg hätte das Wort ruhig in der Einzahl brauchen sollen), »und sie kann mit Ihnen fühlen.«

Der junge John, beinahe betäubt von dieser rührenden Art des Empfangs, gab dies durch einige Worte zu erkennen.

»Um was ich Sie beneide, Sir«, sagte Mr. Rugg, »– erlauben Sie, daß ich Ihren Hut nehme, wir haben etwas wenig Haken, ich will ihn in die Ecke stellen, niemand wird dort darauf treten – um was ich Sie beneide, Sir, ist der Reichtum Ihrer Empfindungen. Ich gehöre zu einem Stande, dem dieser Reichtum bisweilen versagt ist.«

Der junge John antwortete, indem er seinen Dank aussprach, daß er die Hoffnung hege, er tue, was recht sei und was beweise, wie sehr er Miß Dorrit ergeben sei. Er wünsche, unselbstsüchtig zu sein, und hoffe es zu sein. Er wünsche, alles, was in seiner Macht stünde, zu tun, um Miß Dorrit zu dienen, indem er sich dabei ganz aus den Augen setzte; und er hoffe, daß dies der Fall sei. Es sei nur wenig, was er tun könne, über er wünsche es zu tun.

»Sir«, sagte Mr. Rugg, indem er ihn bei der Hand nahm. »Sie sind ein junger Mann, dem zu begegnen einem wohltut. Sie sind ein junger Mann, den ich auf die Zeugenbank setzen möchte, um die Herren vom Recht menschlicher zu machen. Ich hoffe, Sie haben Appetit mitgebracht und beabsichtigen, eine gute Klinge zu schlagen?«

»Ich danke, Sir«, versetzte der junge John, »ich esse gegenwärtig nicht viel.«

Mr. Rugg zog ihn ein wenig auf die Seite. »Ganz meiner Tochter Fall«, sagte er, »als sie, um ihre verletzten Gefühle und ihr Geschlecht zu rächen, in Sachen Ruggs gegen Bawkins klagbar wurde. Ich glaube, Mr. Chivery, ich hätte, wofern ich es der Mühe wert gehalten, mit Beweisen belegen können, daß das Gewicht solider Nahrungsmittel, die meine Tochter zu jener Zeit konsumierte, zehn Unzen wöchentlich nicht überstieg.«

»Ich glaube, etwas darüber hinauszugehen, Sir«, versetzte der andere zögernd, als ob er mit einer gewissen Scham dies Geständnis machte.

»Aber in Ihrem Falle ist auch kein Teufel in Menschengestalt im Spiel«, sagte Mr. Rugg, mit einem Lächeln und einer Handbewegung, die seinen Ausspruch bekräftigten. »Bemerken Sie wohl, Mr. Chivery, kein Teufel in Menschengestalt!«

»Nein, Sir, allerdings nicht«, fügte der junge John einfach hinzu, »es würde mir auch großen Kummer machen, wenn das der Fall wäre.«

»Dieses Gefühl«, sagte Mr. Rugg, »konnte ich nach Ihren bekannten Grundsätzen erwarten. Es würde meine Tochter sehr rühren, Sir, wenn sie das hörte. Da ich den Hammelbraten rieche, so bin ich froh, daß sie es nicht gehört. Mr. Pancks, bitte, setzen Sie sich bei dieser Gelegenheit mir gegenüber. Meine Liebe, nimm gegenüber von Mr. Chivery Platz. Für das, was wir zu genießen im Begriff sind, dürfen wir (und Miß Dorrit) wahrhaft dankbar sein!«

Ohne die scheinbar ernste Schalkhaftigkeit, die in Mr. Ruggs Art, das Mahl einzuleiten, lag, hätte es scheinen können, man erwarte, Miß Dorrit werde mit von der Partie sein. Pancks anerkannte den Einfall in seiner gewöhnlichen Weise und nahm seine Provisionen in der gewöhnlichen Weise. Miß Rugg, die vielleicht einige von ihren Rückständen tilgen wollte, hielt sich gleichfalls sehr freundlich an den Hammelbraten, der rasch bis auf den Knochen zusammenschwand. Ein Brot- und Butterpudding verschwand ganz und gar, und eine beträchtliche Masse Käse und Rettiche verschwanden in gleicher Weise. Dann kam das Dessert.

Bald erschien, noch ehe der Grog angegriffen worden, auch Mr. Pancks‘ Notizbuch. Die folgenden Geschäftsverhandlungen waren kurz, aber seltsam und hatten viel Ähnliches mit einer Verschwörung. Mr. Pancks beschäftigte sich eifrig mit seinem Notizbuch, das nach und nach voll wurde, und machte kleine Auszüge, die er auf einzelne Zettel auf dem Tisch schrieb. Mr. Rugg sah ihn indes mit großer Aufmerksamkeit an, während der junge John sein auf nichts Bestimmtes gerichtetes Auge in den Nebeln der Beschaulichkeit umherschweifen ließ. Als Mr. Pancks, der die Rolle eines Hauptverschwörers spielte, seine Auszüge vollendet hatte, überschaute er sie, korrigierte sie, steckte sie in sein Notizbuch und hielt sie eine Zeitlang wie ein Spiel Karten in der Hand.

»Na, da ist ein Kirchhof in Bedfordshire«, sagte Pancks. »Wer nimmt ihn?«

»Ich will ihn nehmen«, erwiderte Mr. Rugg, »wenn niemand darauf bietet.«

Mr. Pancks teilte ihm seine Karte zu und sah wieder auf seine Hand.

»Da ist eine Nachfrage in York zu machen«, sagte Pancks. »Wer übernimmt diese?«

»Ich tauge nicht für York«, sagte Mr. Rugg.

»Dann werden Sie vielleicht so gut sein, John Chivery«, fuhr Pancks fort.

Der junge John erklärte sich bereit. Pancks teilte ihm seine Karte zu und blickte wieder auf seine Hand.

»Da ist eine Kirche in London; die kann ich ebensogut übernehmen. Ferner eine Familienbibel, die kann ich auch übernehmen. Das ist zweierlei für mich. Zweierlei für mich«, wiederholte Pancks, tief aufatmend über seinen Karten. »Hier ist ein Kaufmannsdiener in Durham für Sie, John, und ein alter Seekapitän in Dunstable für Sie, Mr. Rugg. Zwei für mich, nicht wahr? Ja, zwei für mich. Hier ist ein Grabstein: drei Sachen für mich. Und ein totgeborenes Kind: vier Sachen für mich. Das ist alles für den Augenblick.«

Als er so seine Karten verteilt, was alles sehr ruhig und mit gedämpftem Tone geschah, steuerte Mr. Pancks pustend in seine Brusttasche und schleppte ein Leinwandsäckchen heraus, aus dem er mit zögernder Hand das Geld für die Reisekosten in zwei kleinen Portionen abzählte. »Die Kasse leert sich schnell«, sagte er ängstlich, indem er seinen beiden männlichen Geschäftsgenossen eine Portion zuschob, »sehr schnell.«

»Ich kann Sie nur versichern, Mr. Pancks«, sagte der junge John, »daß ich tief bedauere, in Verhältnissen zu sein, die mir nicht gestatten, meine Auslagen selbst zu bestreiten, und daß es nicht ratsam ist, mir die nötige Zeit zu nehmen, den Weg zu Fuß zu machen. Denn nichts würde mir größere Befriedigung gewähren, als mir ohne Lohn und Entschädigung die Beine abzulaufen.«

Die Uneigennützigkeit dieses jungen Mannes erschien in Miß Ruggs Augen so lächerlich, daß sie sich genötigt sah, sich eiligst aus der Gesellschaft zu entfernen und auf die Treppe zu setzen, bis sie sich ausgelacht. Indessen drehte Mr. Pancks, indem er nicht ohne Mitleid auf den jungen John sah, langsam und nachdenklich sein Leinwandsäckchen zusammen, als ob er ihm den Hals umdrehte. Die Dame, die gerade zurückkam, als er ihn in die Tasche steckte, mischte Rum und Wasser für die Gesellschaft, des eignen lieben Ichs nicht vergessend, und reichte jedem ein Glas. Als alle versehen waren, stand Mr. Rugg auf, und sein Glas armlang über die Mitte des Tisches haltend, lud er schweigend durch diese Gebärde die drei andern ein, anzustoßen und sich zu einem allgemeinen verschwörerischen Klingen zu vereinigen. Die Zeremonie war bis zu einem gewissen Grade effektvoll und wäre dies ganz und gar gewesen, wenn Miß Rugg, während sie ihr Glas, um den Schwur zu vollenden, zu den Lippen erhob, nicht zufällig auf den jungen John gesehen, dessen wirklich lächerliche Uneigennützigkeit wieder einen so überwältigend komischen Eindruck auf sie machte, daß sie einige ambrosische Tropfen Grog verschüttete und sich in Verlegenheit davonschlich. Das war das Mahl, ohne vorgängiges Beispiel, das Pancks in Pentonville gab; und dies das geschäftige und seltsame Leben, das Pancks führte. Die einzigen wachen Momente, in denen er von seinen Sorgen sich zu zerstreuen und sich zu erholen schien, indem er dahin und dorthin ging und dies und jenes schwatzte, ohne einen bestimmten Zweck im Auge zu haben, waren die, wo er ein dämmerndes Interesse für den lahmen Fremden mit dem Stock hatte, der im Hof zum blutenden Herzen wohnte.

Der Fremde, der Johann Baptist Cavaletto hieß – sie nannten ihn Mr. Baptist auf dem Hofe –, war solch ein piepsender, leichter, hoffnungsvoller kleiner Bursche, daß die Anziehungskraft, die er für Pancks hatte, wahrscheinlich in der Stärke des Kontrastes lag. Einsam, schwach und spärlich bekannt mit den notwendigsten Worten der einzigen Sprache, in der er mit den Leuten um ihn her verkehren konnte, schwamm er heiter, wie es in diesen Regionen neu war, mit dem Strome des Schicksals. Mit wenig zu essen und noch weniger zu trinken und nichts sich zu kleiden, als was er auf dem Leibe trug oder in dem kleinsten Bündel, das je gesehen worden, zusammengeschnallt mitgebracht, machte er ein so fröhliches Gesicht, als ob er sich in den glänzendsten Umständen befände, als er zum erstenmal auf dem Hofe auf- und niederhumpelte und mit seinen weißen Zähnen sich demütig das allgemeine Wohlwollen erbat.

Es war keine geringe Sache für einen Fremden, lahm oder gesund, mit den »blutenden Herzen« fortzukommen. Erstens waren sie der unklaren Überzeugung, daß jeder Fremde ein Messer bei sich habe; zweitens hielten sie es für ein gesundes konstitutionell-nationales Axiom, daß er sich in seine Heimat scheren solle. Sie dachten nicht daran, zu untersuchen, wie viele von ihren eigenen Landsleuten von den verschiedenen Teilen der Welt zurückgeschickt werden würden, wenn dieser Grundsatz allgemeine Anerkennung fände; sie betrachteten ihn als besonders und spezifisch englisch. Drittens hatten sie die Ansicht, daß es eine Art göttlicher Heimsuchung für den Fremden sei, kein Engländer zu sein, und daß sein Land von allen Arten von Unglücksfällen heimgesucht wurde, weil es Dinge tat, die England nicht tat, und Dinge unterließ, die England tat. In diesem Glauben waren sie lange von den Barnacles und Stiltstalkings erzogen worden, die ihnen immer amtlich und nichtamtlich verkündeten, daß kein Land, das versäumte, sich diesen beiden großen Familien zu unterwerfen, hoffen könne, unter dem Schutze der Vorsehung zu stehen; und die, wenn sie es glaubten, sie privatim als das vorurteilsvollste Volk unter der Sonne verschrien.

Dies konnte deshalb eine politische Stellung der blutenden Herzen genannt werden, aber sie hatten noch andere Einwürfe dagegen, daß Fremde auf dem Hofe wohnten. Sie glaubten, daß Fremde sich stets übel befänden, und obgleich sie selbst sich so übel befanden, wie sie nur wünschen konnten, so schwächte dies doch die Kraft des Einwurfes nicht ab. Sie glaubten, daß Fremde mit Dragonern und Bajonetten behandelt werden mußten, und obgleich ihre eigenen Schädel bald eingeschlagen wurden, wenn sie irgendeine üble Laune zeigten, so geschah dies doch mit einem stumpfen Instrument, und das zählte nicht. Sie glaubten, Fremde seien immer unmoralisch, und obgleich sie zuweilen einen Gerichtstag zu Hause hatten und dann und wann einen Scheidungsfall oder dergleichen, so hatte das nichts damit zu schaffen. Sie glaubten, Fremde hätten keinen Unabhängigkeitssinn, weil sie nie herdenweise von Lord Decimus Tite Barnacle mit fliegenden Fahnen und im Takt von Rule Britannia nach der Wahlurne getrieben wurden. Um nicht langweilig zu werden, sagen wir, sie hatten noch gar manche Glaubensartikel der Art.

Gegen diese Vorurteile mußte der Fremde mit dem Stock sich so gut stemmen, wie er konnte; er war dabei nicht ganz verlassen, weil Mr. Arthur Clennam ihn an die Plornishs empfohlen (er wohnte im Dachgeschoß desselben Hauses), aber immerhin war es eine schwierige Sache. Die blutenden Herzen waren indes gute Herzen; und als sie den kleinen Mann mit wohlgelauntem Gesicht heiter umhergehen sahen und merkten, daß er niemand etwas Böses zufügte, keine Messer zog, keine furchtbaren Unsittlichkeiten beging, hauptsächlich von Mehl- und Milchspeisen lebte und abends mit den Kindern von Mr. Plornish spielte, begann die Ansicht in ihnen aufzutauchen, obgleich er nie der Hoffnung sich hingeben könnte, je ein Engländer zu werden, würde es doch hart sein, dieses Unglück an ihm heimzusuchen. Sie begannen sich seinem Gesichtskreise anzubequemen, indem sie ihn Mr. Baptist nannten, ihn jedoch wie ein Wickelkind behandelten und unbändig über sein lebhaftes Mienenspiel und sein kindisches Englisch lachten – mehr vielleicht, weil er selbst sich nichts daraus machte und auch darüber lachte. Sie sprachen sehr laut mit ihm, als ob er stocktaub wäre. Sie bildeten Sätze, um ihm die Sprache in ihrer Reinheit beizubringen, wie sie die Wilden an Kapitän Cook oder Freitag an Robinson richteten.

Mrs. Plornish war besonders erfinderisch in dieser Kunst und gewann eine solche Berühmtheit, indem sie sagte: »Ik offen, daß Ihr Pein bald kesund«, daß man im Hof glaubte, das sei nur noch wenig vom Italienischen entfernt. Ja, Mrs. Plornish selbst begann zu glauben, sie habe eine natürliche Begabung für diese Sprache. Als er beliebter wurde, brachte man Haushaltungsgegenstände herbei, um ihm einen reichhaltigeren Wörterschatz zu verschaffen; und sooft er im Hofe erschien, kamen die Mädchen an ihre Türen und riefen: »Mr. Baptist – Teekanne!« – »Mr. Baptist – Kehrichtkorb!« – »Mr. Baptist – Mehlstreubüchse!« – »Mr. Baptist – Kaffeesack!« Dabei zeigten sie ihm diese Gegenstände und erfüllten ihn mit dem Gefühl der enormen Schwierigkeiten der angelsächsischen Sprache.

In diesem Stadium seiner Fortschritte und ungefähr in der dritten Woche seiner Beschäftigung mit der Sprache wurde Mr. Pancks‘ Phantasie auf den kleinen Mann gerichtet. Begleitet von Mrs. Plornish als Dolmetscherin, stieg er zu seinem Kämmerchen hinauf und fand Mr. Baptist ohne alle andern Möbel als sein Bett auf dem Boden, einen Tisch und einen Stuhl, wie er mit Hilfe einiger weniger einfache Werkzeuge in der heitersten Weise Schnitzereien machte.

»Na, alter Junge«, sagte Mr. Pancks, »bezahle.«

Er hatte sein Geld, in ein Stück Papier gewickelt, in Bereitschaft und händigte es ihm lachend ein; dann streckte er mit einer freien Aktion so viele Finger seiner rechten Hand in die Höhe, als es Schillinge waren, und machte dann einen Hieb kreuzweise in die Luft, für den Sixpence darüber.

»Oh!« sagte Pancks, indem er ihn staunend beobachtete. »Soviel ist’s, nicht wahr? Du bist ein pünktlicher Kunde. Es ist ganz recht. Ich dachte nicht, daß ich’s bekommen würde.«

Mrs. Plornish mischte sich hier mit großer Herablassung in die Sache und erklärte sie Mr. Baptist. »Er große Freude. Er froh sein Geld kriegen.«

Der kleine Mann lächelte und nickte. Sein heiteres Gesicht schien eine ungewöhnliche Anziehungskraft für Mr. Pancks zu haben. »Wie geht es ihm mit seinem Bein?« fragte er Mrs. Plornish.

»Oh, er ist viel besser, Sir«, sagte Mrs. Plornish. »Wir hoffen, daß er nächste Woche imstande sein wird, seinen Stock ganz missen zu können.« Da die Gelegenheit zu günstig war, um sie zu verlieren, so legte sie ihre große Geschicklichkeit an den Tag, indem sie mit verzeihlichem Stolz Mr. Baptist verdolmetschte: »Er offen, Ihr Pein werden bald kesund sein.«

»Er ist außerdem ein lustiger Bursche«, sagte Pancks, indem er ihn bewunderte, als wäre er eine mechanische Spielpuppe. »Wovon lebt er denn?«

»Nun, Sir«, erwiderte Mrs. Plornish, »er scheint sehr geschickt im Blumenschnitzeln, womit Sie ihn eben beschäftigt sehen.« Mr. Baptist, der ihre Gesichter beobachtet, während sie sprachen, hielt seine Arbeit in die Höhe. Mrs. Plornish verdolmetschte in ihrer italienischen Manier zugunsten Mr. Pancks‘: »Gefällt ihm. Sehr gut.«

»Kann er davon leben?« fragte Pancks.

»Er hat sehr wenig Bedürfnisse, Sir, und es ist zu erwarten, daß er mit der Zeit imstande sein wird, sich ein gutes Auskommen zu verdienen. Mr. Clennam verschaffte ihm diese Arbeit und gibt ihm noch mancherlei sonst zu tun in der Werkstätte nebenan, kurz, sorgt für ihn, wenn er weiß, daß er’s braucht.«

»Und was fängt er an, solange er noch nicht viel zu tun hat?« sagte Pancks.

»Nun, für jetzt nicht viel, Sir, vermutlich, weil er nicht imstande ist, viel zu gehen; aber er spaziert im Hofe herum und plaudert, ohne besonders viel verstanden zu werden oder die Leute zu verstehen, oder spielt mit den Kindern und sitzt in der Sonne – er würde sich überall hinsetzen, als wär’s ein Armstuhl – und singt und lacht.«

»Lacht!« wiederholte Mr. Pancks. »Er kommt mir vor, als ob jeder Zahn in seinem Munde beständig lachte.« »Aber sooft er auf die oberste Stufe am andern Ende des Hofes kommt«, sagte Plornish, »guckt er in der wunderlichsten Weise von der Welt hinaus! So daß einige von uns es sich nicht nehmen lassen, er sehe nach der Stelle, wo sein Vaterland ist; andere denken wieder, er schaue sich nach jemandem um, den er nicht zu sehen wünscht, und wiederum andere wissen nicht, was sie denken sollen.«

Baptist schien im allgemeinen zu verstehen, was sie sagte; oder vielleicht bemerkte sein Scharfblick die flüchtige Gebärde des Sichumschauens und machte sich seine Folgerungen. Genug, er schloß die Augen und warf den Kopf zurück mit der Miene eines Mannes, der genügend Gründe zu dem hat, was er tut, und sagte in seiner Muttersprache, es habe nichts zu bedeuten. Altro!

»Was ist Altro?« fragte Pancks.

»Hm! ’s ist ein Ausdruck für alles mögliche, Sir«, sagte Mrs. Plornish.

»So?« sagte Pancks. »Nun denn Altro, alter Junge. Guten Abend. Altro!«

Mr. Baptist wiederholte das Wort in seiner lebhaften Weise mehrmals. Mr. Pancks gab es ihm in seiner düsteren Art einmal zurück. Von dieser Zeit an wurde es eine stehende Gewohnheit bei Pancks dem Zigeuner, wenn er abends ermüdet heimging, den Weg an dem Bleeding Heart Yard vorüber zu nehmen, ruhig die Treppe hinaufzugehen, in Mr. Baptists Zimmer hineinzusehen und, wenn er ihn drinnen fand, zu sagen: »Holla, alter Junge, Altro!« Worauf dann Mr. Baptist mit unermüdlichem Nicken und Lächeln antwortete: »Altro, Signore, altro, altro, altro!« Nach dieser sehr gedrängten Unterhaltung ging Mr. Pancks gewöhnlich seiner Wege, wie es schien, ungemein erleichtert und erfrischt.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Niemandes Gemütszustand.

Wenn Arthur Clennam nicht zu dem klugen Entschluß gekommen wäre, sich streng von jeder Liebe zu Pet fernzuhalten, würde er in einem Zustand großer Unruhe gelebt haben, der manchen schwierigen Kampf mit seinem Herzen in sich geschlossen. Nicht der geringste von diesen wäre der beständige Kampf zwischen der Neigung, Mr. Henry Gowan nicht zu lieben, wo nicht gar ihn mit entschiedenem Widerwillen zu betrachten, und einer inneren Stimme gewesen, diese Neigung sei eine unwürdige. Eine edle Natur ist keiner starken Abneigungen fähig, ja, sie vermag sich ihnen kaum vorübergehend hinzugeben, wenn dies Uebelwollen jedoch den Sieg über eine solche Natur davonträgt und sie bisweilen findet, daß der Ursprung nicht leidenschaftslos war, so wird sie unglücklich.

Deshalb würde sich auch Clennams Gemüt umwölkt haben und Mr. Henry Gowan weit öfter ihm gegenwärtig gewesen sein als angenehmere Personen und Dinge, wenn er nicht die große Klugheit besessen, jenen früher erwähnten Entschluß zu fassen. Wie die Sachen standen, schien Mr. Gowan in Daniel Doyces Geist versetzt; jedenfalls geschah es, daß gewöhnlich Mr. Doyce und nicht Clennam in den freundschaftlichen Unterhaltungen, die sie miteinander hatten, von ihm sprach. Diese Gespräche waren jetzt an der Tagesordnung, da die beiden Handelsgenossen einen Teil eines geräumigen Hauses in den ernsten altväterischen Citystraßen miteinander bewohnten, das nicht weit von der Bank entfernt war, nämlich bei London Wall.

Mr. Doyce hatte den Tag in Twickenham zugebracht. Clennam hatte sich entschuldigt. Mr. Doyce war soeben nach Hause gekommen. Er steckte seinen Kopf in die Tür von Clennams Wohnzimmer, um gute Nacht zu sagen.

»Kommen Sie herein, kommen Sie herein!« sagte Clennam.

»Ich sah Sie lesen«, versetzte Doyce, indem er eintrat, »und glaubte, Sie wollten nicht gestört sein.«

Wenn er nicht den bekannten Entschluß gefaßt, würde Clennam wirklich nicht gewußt haben, was er gelesen; hätte wirklich nicht die ganze Stunde seine Augen in dem Buche gehabt, obgleich es offen vor ihm lag. Er schloß es ziemlich rasch.

»Sind sie wohl?« fragte er.

»Ja«, sagte Doyce: »sie sind wohl. Sie sind alle wohl!«

Daniel hatte eine alte arbeitermäßige Gewohnheit, sein Taschentuch in seinem Hut zu tragen. Er nahm es heraus, wischte sich die Stirn damit, indem er langsam wiederholte: »Sie sind alle wohl. Miß Minnie sah namentlich, wie mir schien, gut aus.«

»Keine Gesellschaft auf dem Landhause?«

»Nein, keine Gesellschaft.«

»Und was taten Sie vier?« fragte Clennam heiter.

»Wir waren unsrer fünf«, versetzte sein Associé. »Jener, wie heißt er nur, war da. Er war da.«

»Wer ist er?« sagte Clennam.

»Mr. Henry Gowan.«

»Ah, natürlich!« rief Clennam ungewöhnlich lebhaft. »Ja! – ich vergaß ihn.«

»Wie ich erwähnte, Sie werden sich erinnern«, sagte Daniel Doyce, »er ist jeden Sonntag da.«

»Ja, ja«, versetzte Clennam, »ich erinnnere mich jetzt.«

Daniel Doyce, der sich noch immer die Stirn wischte, wiederholte tiefsinnig: »Ja. Er war da, er war da. O ja, er war da. Und sein Hund. Er war auch da.«

»Miß Meagles hängt sehr an – dem – Hunde«, bemerkte Clennam.

»Allerdings«, pflichtete sein Associé bei, »sie hält mehr von dem Hund, als ich von seinem Herrn.«

»Sie meinen, Mr. –?«

»Ich meine natürlich Mr. Gowan«, sagte Daniel Doyce sehr bestimmt.

Es entstand eine Pause in dem Gespräch, die Clennam dazu benutzte, seine Uhr aufzuziehen.

»Vielleicht sind Sie etwas voreilig in Ihrem Urteil«, sagte er. »Unsre Urteile – ich setze einen allgemeinen Fall –«

»Natürlich«, sagte Doyce.

»Werden so leicht von mancherlei Rücksichten beeinflußt, die, ohne daß wir es wissen, unlauter sind, daß es notwendig wird, sehr auf der Hut zu sein. Zum Beispiel, Mr. –«

„Gowan«, sagte Doyce, auf den beinahe immer das Aussprechen des Namens gewälzt wurde, mit größter Ruhe.

»Ist jung und hübsch, ungezwungen und lebhaft, hat Talent und hat eine Menge Dinge im Leben gesehen. Es möchte schwierig sein, einen unselbstsüchtigen Grund für das Eingenommensein gegen ihn anzugeben.«

»Ich glaube, daß es für mich nicht schwierig ist, Clennam«, versetzte sein Associé. »Ich sehe, wie er schon jetzt Befürchtungen und, ich fürchte, für die Zukunft Kummer in das Haus meines alten Freundes bringen wird. Ich sehe, wie er tiefere Linien in meines Freundes Gesicht zieht, je näher er dem Gesicht seiner Tochter kommt und je öfter er hineinblickt. Kurz, ich sehe, wie er das hübsche und liebevolle Geschöpf, das er nie glücklich machen wird, mit einem Netz umgarnt.«

»Wir wissen auch nicht«, sagte sein Associé, »ob die Erde noch leidenden Mannes, ob er sie nicht glücklich machen wird.«

»Wir wissen auch nicht«, sagte sein Associe, »ob die Erde noch hundert Jahre dauern wird, aber wir halten es für ungemein wahrscheinlich.«

»Schon gut, schon gut«, sagte Clennam, »wir müssen hoffen und wenigstens versuchen, wenn nicht großmütig, doch gerecht zu sein (zum erstem ist freilich in diesem Falle kein Grund). Wir wollen diesen Gentleman nicht herabsetzen, weil er in seinen Bewerbungen bei dem schönen Gegenstand seiner Wünsche glücklich ist, und wollen ihr das natürliche Recht nicht bestreiten, ihre Liebe dem, den sie derselben würdig findet, zuzuwenden.«

»Mag sein, mein Freund«, sagte Doyce. »Mag aber auch sein, daß sie zu jung und verwöhnt, zu vertrauend und unerfahren ist, um genau unterscheiden zu können.«

»Das besser zu machen«, sagte Clennam, »würde ja doch weit über unsre Kräfte gehen.«

Daniel Doyce schüttelte ernst den Kopf und fügte hinzu: »Ich fürchte auch.«

»Deshalb, mit einem Worte«, sagte Clennam, »wir sollten einsehen, daß es unsrer nicht würdig ist, irgend etwas Schlimmes von Mr, Gowan zu sagen. Es wäre armselig, ein Vorurteil gegen ihn zu begünstigen, und ich bin entschlossen, meinesteils ihn nicht herabzusetzen.«

»Ich bin meiner nicht ganz so sicher und behalte mit deshalb das Recht vor, gegen ihn zu sprechen«, versetzte der andere. »Aber wenn ich meiner auch nicht sicher bin, so bin ich doch Ihrer sicher, Clennam, und ich weiß, welch ein aufrichtiger Mann Sie sind und wie sehr zu respektieren. Gute Nacht, mein Freund und Associé!« Er schüttelte ihm in einer Weise die Hand, indem er dies sagte, als ob ihr Gespräch einen ernsten Hintergrund gehabt; und sie trennten sich.

Sie hatten inzwischen die Familie zu verschiedenen Malen besucht und immer bemerkt, daß eine flüchtige Anspielung auf Mr. Henry Gowan, wenn er nicht unter ihnen war, die Wolke wieder heraufbeschwor, die Mr. Meagles‘ Sonnenschein an dem Morgen der zufälligen Begegnung auf der Fähre verdunkelt hatte. Wenn sich Clennams je die verbotene Leidenschaft bemächtigt hätte, so wäre diese Zeit eine Zeit wirklicher Prüfung gewesen: unter den obwaltenden Umständen war es freilich nichts – nichts.

Auch wäre, wenn sein Herz diesen verbotenen Gast beherbergt, sein stilles Kämpfen, um sich einen Weg durch die Gemütsstimmung dieser Periode zu bahnen, etwas verdienstlicher gewesen. In dem beharrlichen Ringen, sich nicht in eine neue Phase dieser bedrängenden Sünde, die er aus der Erfahrung kannte, der Verfolgung selbstsüchtiger Zwecke durch niedere und kleinliche Mittel hinreißen zu lassen, und statt dessen an dem erhabenen Prinzip der Ehre und Großherzigkeit festzuhalten, hätte etwas mehr Verdienst gelegen. In dem Entschluß, nicht mal Mr. Meagles‘ Haus zu meiden, damit er nicht in egoistischem Schonen seiner selbst den leichtesten Kummer über die Tochter bringe, indem er sie zur Ursache einer Entfremdung mache, die, wie er glaubte, den Vater schmerzen würde, – in diesem Entschlusse hätte etwas Verdienst gelegen. In der bescheidenen Wahrhaftigkeit, den größeren Vorzug von Mr. Gowans Jahren und der größeren Anziehungskraft seiner Persönlichkeit und seiner Umgangsformen beständig im Auge zu behalten, hätte ein kleines Verdienst gelegen. Wenn er all dies und noch weit mehr in vollkommen unbefangener Weise und mit einer männlichen und gefaßten Beharrlichkeit getan, während der Schmerz in seinem Innern (der eigentümlich wie sein Leben und sein Schicksal) den schärfsten Stachel angesetzt, – darin hätte sich eine ruhige Stärke des Charakters entwickelt. Aber nach dem Entschlusse, den er gefaßt, konnte er natürlich keine solchen Verdienste, wie die eben erwähnten, haben; in diesem Gemütszustand war niemand – niemand.

Mr Gowan kümmerte sich wenig darum, ob jemand oder niemand sich in diesem Gemütszustande befand. Er behielt bei allen Gelegenheiten seine vollkommene Heiterkeit und Unbefangenheit, als wäre die Möglichkeit, daß Clennam sich herausnähme, die große Frage zu verhandeln, zu fernliegend und lächerlich, um in Betracht zu kommen. Er hatte Clennam immer irgend etwas Freundliches zu sagen oder ihm eine Gefälligkeit zu erweisen, was an und für sich (in dem eingebildeten Falle, daß er diesen scharfsinnigen Weg nicht eingeschlagen) ein sehr unbehagliches Element in diesem Gemütszustände gewesen wäre.

»Ich bedaure sehr, daß Sie gestern nicht bei uns waren«, sagte Mr. Henry Gowan, als er am andern Morgen bei Clennam vorsprach. »Wir verlebten dort am Flusse einen sehr angenehmen Tag.«

Das habe er gehört, sagte Arthur.

»Von Ihrem Sozius?« versetzte Henry Gowan. »Das ist ein herrlicher alter Wann.«

»Ich schätze ihn sehr.«

»Beim Zeus, er ist der vortrefflichste Mensch!« sagte Gowan. »So frisch, so munter, glaubt an so seltsame Dinge.«

Das war einer von den vielen kleinen unangenehmen Punkten, die Clennams Ohr beleidigten. Er schob ihn deshalb einfach dadurch auf die Seite, daß er wiederholte, er schätze Mr. Doyce sehr.

»Er ist reizend. Wenn man sich ihn denkt, wie er so durch das Leben bis heutigentags fortschlendert, nichts im Vorbeigehen fallen lassend, nichts im Vorbeigehen aufhebend, das ist allerliebst. Es erwärmt einen. Solch eine unverdorbene, einfache, gute Seele! Wahrhaftig, Mr. Clennam, man fühlt sich verzweifelt weltlich und verdorben im Vergleich mit solch einer unschuldigen Natur. Ich spreche von mir, muß ich hinzufügen, ohne Sie einzuschließen. Sie sind ebenfalls echt und unverfälscht.«

»Ich danke Ihnen für das Kompliment«, sagte Clennam, der sich etwas unbehaglich fühlte: »Sie sind es hoffentlich auch?«

»Soso«, erwiderte der andere. »Um aufrichtig gegen Sie zu sein, ziemlich. Ich bin kein großer Betrüger. Kaufen Sie eines von meinen Bildern, und ich versichere Sie im Vertrauen, daß es das Geld nicht wert ist. Kaufen Sie eines von irgend jemand – von einem großen Professor, der mich über die Achsel ansieht –, und es läßt sich wetten, daß je mehr Sie ihm geben, desto mehr wird er Sie betrügen. Das tun sie alle.«

»Alle Maler?«

»Maler, Schriftsteller, Patrioten und alle, die Buden auf dem Markte haben. Geben Sie, wenn Sie wollen, jedem, den ich kenne, zehn Pfund, und er wird Sie in entsprechendem Betrage betrügen; tausend Pfund – in entsprechendem Betrage; zehntausend Pfund – in entsprechendem Betrage. So groß der Erfolg, so groß der Betrug. Es ist eine herrliche Welt!« rief Gowan mit warmem Enthusiasmus. »Eine heitere, vortreffliche, liebenswürdige Welt!«

»Ich hätte eher gedacht«, sagte Clennam, »daß nach dem Prinzip, das Sie erwähnen, mehr die –«

»Barnacles handeln?« unterbrach ihn Gowan lachend.

»Die politischen Herren, die sich herablassen, das Circumlocution Office zu unterhalten.«

»Ah! Seien Sie nicht hart gegen die Barnacles«, sagte Gowan und lachte aufs neue, »es sind liebe Jungen. Sogar der arme kleine Clarence, der Idiot der Familie, ist der angenehmste und reizendste Dummkopf. Und beim Zeus, er besitzt dabei eine Gewandtheit, die Sie in Erstaunen setzen würde.«

»Allerdings, sehr«, sagte Clennam trocken.

»Und trotz alledem«, rief Gowan mit jenem eigentümlich charakteristischen Abwägen, das alles in der weiten Welt auf dasselbe leichte Gewicht reduzierte, »obgleich ich nicht leugnen kann, daß das Circumlocution Office zuletzt alles und jeden an den Strand werfen wird, so wird das doch nicht in unserer Zeit geschehen – und es ist eine Schule für Gentlemen.«

»Es ist eine sehr gefährliche, unbefriedigende und kostbare Schule für die Leute, die ihre Kinder dorthin schicken, so fürchte ich wenigstens«, sagte Clennam, den Kopf schüttelnd.

»Ach! Sie sind ein schrecklicher Mensch«, versetzte Gowan heiter. »Ich begreife, wie Sie jenen kleinen Esel, den Clarence, das schätzenswerteste aller Mondkälber (den ich wirklich lieb habe), vor Schreck fast um den Verstand gebracht haben. Aber genug von ihm und allen übrigen. Ich möchte Sie meiner Mutter vorstellen, Mr. Clennam. Bitte, tun Sie mir die Gefälligkeit, mir die Gelegenheit dazu zu geben.«

In keiner Gemütsstimmung hätte es etwas geben können, was Clennam weniger gewünscht, aber auch nichts, dem er weniger auszuweichen vermocht.

»Meine Mutter wohnt in urväterlicher Weise in jenem traurigen Ziegelsteinkerker von Hampton Court«, sagte Gowan. »Wenn Sie wollen, so bitte ich Sie, den Tag zu nennen, an dem ich Sie dorthin zu Tisch abholen darf: Sie werden sich allerdings langweilen, aber meine Mutter wird eine außerordentlich große Freude haben. So stehen wirklich die Dinge.«

Was konnte Clennam darauf sagen? Sein zurückhaltender Charakter war zum großen Teil die reine Einfalt im besten Sinne des Wortes, weil er unbewandert und ungeübt war; und in seiner Einfachheit und Bescheidenheit konnte er nichts anderes sagen, als daß er sich glücklich fühle, sich zu Mr. Gowans Verfügung zu stellen. Deshalb sagte er es auch, und der Tag wurde festgesetzt. Es war für ihn ein Tag, vor dem er sich fürchtete, und ein sehr unwillkommener Tag, als er endlich erschien und sie miteinander nach Hampton Court gingen.

Die ehrwürdigen Bewohner jenes ehrwürdigen Gebäudes schienen sich zu jener Zeit wie eine Art zivilisierter Zigeuner hier gelagert zu haben. Ihre Wohnungen trugen das Gepräge von vorübergehenden Niederlassungen und machten den Eindruck, als ob die Insassen sie verlassen wollten, sobald sie etwas Besseres bekommen konnten: auch sie selbst hatten ein mißvergnügtes Aussehen, als ob sie es sehr übel aufnähmen, daß sie nicht bereits etwas Besseres bekommen. Vornehm aussehende Verhüllungen und Notbehelfe waren mehr oder weniger sichtbar, sobald ihre Türen geöffnet wurden; spanische Wände, nicht halb hoch genug, die Speisezimmer aus gewölbten Gängen machten und dunkle Winkel verbargen, wo des Nachts Bediente zwischen Messern und Gabeln schliefen; Vorhänge, die den Anspruch machten, man solle ihnen glauben, es werde nichts durch sie verborgen; Glasscheiben, die einen baten, sie nicht anzusehen; mancherlei Gegenstände von verschiedener Gestalt, die sich stellten, als ob sie nicht in der geringsten Verbindung mit dem verbrecherischen Geheimnis, das sie verbargen, einem Bett nämlich, stünden; verkleidete Löcher in den Wänden, die offenbar Kohlenkeller waren; künstlich verstellte Gänge, die Zugänge zu kleinen Küchen sein mußten. Geistige Vorbehalte und künstliche Geheimnisse mußten aus diesen Dingen erwachsen. Besuche, die fest in die Augen derer sahen, die den Besuch empfingen, taten, als ob sie es nicht röchen, daß drei Schritte von ihnen gekocht wurde; Leute, die zufällig offen gelassenen Zimmern gegenüberzustehen kamen, gaben sich den Anschein, als ob sie keine Flaschen sähen; Fremde, die mit dem Kopf gegen eine Scheidewand von dünnem Kanevas saßen, hinter der sich ein Bedienter und ein junges Mädchen zankten, machten glauben, daß sie von einem paradiesischem Schweigen umgeben seien. Der kleinen gesellschaftlichen Rücksichtswechsel, die diese Zigeuner der vornehmen Welt beständig aufeinander zogen und gegenseitig akzeptierten, war kein Ende.

Einige von diesen Zigeunern waren von reizbarem Temperament, da sie beständig von zwei Gegenständen des Verdrusses gepeinigt und gequält wurden: einerseits nämlich durch das Bewußtsein, daß sie nie genug vom Publikum bekommen, und anderseits durch das Bewußtsein, daß das Publikum in das Gebäude zugelassen wurde. Unter dem letzteren großen Unrecht litten einige schrecklich – besonders an Sonntagen, wo sie eine Zeitlang hofften, die Erde werde sich auftun und das Publikum verschlingen; dieses wünschenswerte Ereignis war jedoch infolge einer tadelnswerten Lässigkeit in den Einrichtungen des Weltalls noch niemals eingetreten.

An Mr. Gowans Tür stand ein Diener der Familie, der bereits verschiedene Dienstjahre zählte und sein eigenes Hühnchen mit dem Publikum zu pflücken hatte, bezüglich einer Stellung im Post Office, die er seit längerer Zeit zu bekommen hoffte und noch nicht bekommen hatte. Er wußte ganz wohl, daß das Publikum ihn nicht hineinbringen konnte, aber er wiegte sich doch mit dem peinlichen Gedanken, daß das Publikum ihn davon ausgeschlossen habe. Unter dem Einfluß dieser Kränkung (und vielleicht etwas geringer Genauigkeit und Unpünktlichkeit in Sachen des Dienstlohnes) war er nachlässig an seiner Person und mürrischen Geistes geworden. Und da er nun in Clennam ein Glied der verdorbenen Korporation seiner Unterdrücker sah, empfing er ihn höchst unfreundlich.

Mrs. Gowan jedoch nahm ihn mit großer Herablassung auf. Er fand in ihr eine vornehme alte Frau, die früher eine Schönheit gewesen sein mußte und noch hübsch genug war, um des Puders auf der Nase und einer gewissen, unmöglich von der Natur erzeugten Blüte unter jedem Auge entbehren zu können. Sie tat etwas großartig gegen ihn; ebenso benahm sich auch eine andere alte Dame mit dunklen Augbrauen und hochgebogener Nase, die jedoch etwas Reelles an sich gehabt haben mußte, sonst hätte sie nicht existieren können: wiewohl es sicher weder ihr Haar, noch ihre Zähne, noch ihr Gesicht, noch ihre Farbe waren; ebenso benahm sich endlich ein grauer alter Herr von würdevollem, finsterem Aussehen; beide waren zum Essen gekommen. Da sie jedoch alle bei der britischen Gesandtschaft in verschiedenen Teilen der Erde gewesen waren und eine britische Gesandtschaft sich bei dem Circumlocution Office nicht besser anschreiben kann, als daß sie ihre Landsleute mit unbegrenzter Verachtung behandelt (sonst würde sie ja den Gesandtschaften anderer Länder gleichen), so fühlte Clennam, daß sie ihn im ganzen leidlich behandelten.

Der würdige alte Mann war Lord Lancaster Stiltstalking, der von dem Circumlocution Office viele Jahre lang als Repräsentant der britischen Majestät an fremden Höfen verwendet worden. Diese edle Eismaschine hatte verschiedene europäische Höfe seiner Zeit gefrieren machen, und zwar mit so großem Erfolg, daß schon der bloße Name Engländer den Magen der Ausländer erkältete, die die ausgezeichnete Ehre hatten, sich seiner aus einem Vierteljahrhundert früher zu erinnern.

Er lebte jetzt von Geschäften zurückgezogen; so war er denn (in einer schweren weißen Krawatte, die wie eine steife Schneewehe aussah) so gütig, das Essen zu beschatten. Es war ein Anflug von dem vorherrschend zigeunerhaften Charakter in der exotischen Art, wie die Tafel besetzt war, in den seltsamen Arten von Platten und Speisen; aber der edle Kühler, unendlich viel besser als Silbergerät oder Porzellan, machte es prächtig. Er beschattete das Essen, kühlte die Weine, würzte die Soßen, machte die Gemüse frisch.

Es war nur noch eine weitere Person im Zimmer: ein mikroskopisch kleiner Laufbursche, der dem übelwollenden Mann, der keinen Dienst bei der Post bekommen, zur Hand ging. Auch dieser junge Mensch würde, wenn seine Weste aufgeknöpft und sein Herz bloßgelegt worden wäre, als ein entfernter Anhänger der Familie Barnacle erkannt worden sein, der bereits auf eine Stellung bei der Regierung rechnen konnte.

Mrs. Gowan, deren Stirn eine sanfte Melancholie umschleierte, die durch ihres Sohnes Stellung hervorgerufen wurde, da sie ihn zwang, dem gemeinen Publikum als Jünger der niedrigen Künste zu huldigen, statt sein Geburtsrecht geltend zu machen und als ein anerkannter Barnacle einen Ring durch die Nase des Publikums zu stecken, begann das Tischgespräch mit den schlechten Zeiten, und Clennam erfuhr jetzt zum erstenmal, um welch kleinliche Angeln diese große Welt sich dreht.

»Wenn John Barnacle«, sagte Mrs. Gowan, nachdem die Entartung der Zeiten vollkommen festgestellt war, »wenn John Barnacle nur seine unglückliche Idee aufgegeben, den Pöbel versöhnen zu wollen, alles würde gut stehen, und ich glaube, das Land wäre gerettet gewesen.«

Die alte Dame mit der hohen Nase stimmte bei, fügte jedoch hinzu, daß wenn Augustus Stiltstalking ohne weiteres die Kavallerie mit der Instruktion zu schießen beordert, sie glaube, das Land wäre gerettet gewesen.

Der edle Kühler stimmte bei, fügte jedoch hinzu, wenn William Barnacles und Stiltstalkings gerettet werden müsse; wie es jedoch ewig denkwürdige Koalition bildeten, den Zeitungen einen tüchtigen Maulkorb angelegt und für jeden Herausgeber eine Strafe festgesetzt hätten, falls er sich herausnähme, die Handlungsweise irgendeiner öffentlichen Persönlichkeit im Ausland oder in der Heimat zu besprechen, dann glaubte er, würde das Land gerettet gewesen sein.

Man erkannte an, daß das Land (ein andres Wort für die Barnacles und Stiltstalkings) gerettet werden müsse, wie es jedoch kam, daß es der Rettung bedurfte, war nicht so klar. Es war nur klar, daß die Frage sich einzig um John Barnacle, Augustus Stiltstalking, William Barnacle und Tudor Stiltstalking, Tom, Dick oder Harry Barnacle oder Stiltstalking drehe; denn alles übrige war Pöbel. Das war das Gepräge der Unterhaltung, die auf Clennam, der nicht daran gewöhnt war, einen unangenehmen Eindruck machte. Er war im Zweifel, ob es ganz recht sei, hier zu sitzen und schweigend anzuhören, wie man von einer großen Nation in so geringen Ausdrücken spreche. Da er sich jedoch erinnerte, daß in den Parlamentsdebatten, mochte es sich nun um das leibliche oder geistige Leben dieser Nation handeln, die Frage sich auch gewöhnlich nur um John Barnacle, Augustus Stiltstalking, William Barnacle und Tudor Stiltstalking, Tom, Dick oder Harry Barnacle oder Stiltstalking und niemanden sonst drehte und von diesen allein verhandelt wurde, so sagte er nichts zugunsten des Pöbels, da er bedachte, daß der Pöbel ja daran gewöhnt sei. Mr. Henry Gowan schien ein boshaftes Vergnügen daran zu finden, die drei an der Unterhaltung Beteiligten gegeneinander aufzuhetzen und Clennam durch das, was sie sagten, in Erstaunen versetzt zu sehen. Da er eine ebenso außerordentliche Verachtung gegen die Klasse besaß, die ihn verstoßen, wie die Klasse, die ihn nicht aufgenommen, so beunruhigte ihn das alles, was vorging, nicht im mindesten persönlich. Sein gesunder Gemütszustand schien im Gegenteil sogar einen Genuß in der verlegenen und isolierten Stellung Clennams unter dieser guten Gesellschaft zu finden; und wenn Clennam in jener Lage gewesen, mit der jener Niemand unaufhörlich rang, so würde er das vermutet und mit dem Verdacht als einer Gemeinheit gekämpft haben, selbst jetzt, solange er am Tisch saß.

Im Verlauf eines zweistündigen Gesprächs ging der edle Kühler, der nie weniger als hundert Jahre hinter der gegenwärtigen Periode zurück war, ungefähr um fünf Jahrhunderte zurück und ließ feierliche politische Orakel vernehmen, die auf diese Periode paßten. Er schloß damit, daß er eine Tasse Tee für seinen eignen Gebrauch gefrieren machte und sich in seine niederste Temperatur zurückzog.

Dann lud Mrs. Gowan, die in den Tagen ihres Glanzes gewohnt gewesen, einen leeren Armstuhl neben sich stehen zu haben, auf den sie die ihr ergebenen Sklaven, einen nach dem andern, zu kurzen Audienzen als Zeichen ihrer besondern Gunst berief, Clennam mit einer Bewegung ihres Fächers ein, sich ihr zu nähern. Er gehorchte und setzte sich auf den Dreifuß, den Lord Lancaster Stiltstalking soeben verlassen.

»Mr. Clennam«, sagte Mrs. Gowan, »abgesehen von dem Glück, das mir durch Ihre Bekanntschaft zuteil geworden, die ich leider in diesem abscheulich unangenehmen Ort – einer wahren Baracke – machen mußte, liegt mir unaussprechlich viel daran, mit Ihnen über eine gewisse Angelegenheit zu sprechen. Es ist nämlich der Gegenstand, in dessen Verbindung mein Sohn, wie ich glaube, zuerst das Vergnügen hatte, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Clennam verbeugte sich, als allgemein entsprechende Antwort auf das, was er noch nicht ganz verstand.

»Fürs erste«, sagte Mrs. Gowan, »ist sie denn wirklich hübsch?«

Wenn er sich in der schwierigen Lage befunden, in der sich niemand befand, so würde es ihm schwer geworden sein, zu antworten; wirklich sehr schwer, zu lächeln und zu antworten: »Wer?«

»Oh! Sie wissen ja!“ versetzte sie. »Diese Flamme Henrys. Diese unglückliche Phantasie. Da! Wenn es eine Ehrensache ist, daß ich den Namen herausbringe – Miß Mickles – Miggles.«

»Miß Meagles«, sagte Clennam, »ist sehr schön.«

»Die Männer täuschen sich oft über solche Dinge«, versetzte Mrs. Gowan, den Kopf schüttelnd, »ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich mich auch jetzt durchaus noch nicht über diesen Punkt beruhigt fühle, obgleich es etwas ist, wenn Henrys Aussage mit so viel Ernst und Nachdruck bestärkt wird. Er las diese Leute, glaube ich, in Rom auf?«

Diese Frage würde jenen Niemand schwer verletzt haben. Clennam antwortete jedoch: »Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, ob ich Sie recht verstanden.«

»Er las die Leute auf«, sagte Mrs. Gowan, indem sie mit den Stäben ihres geschlossenen Fächere (eines großen grünen, den sie als Handschirm benutzte) auf den kleinen Tisch klopfte. »Stieß auf sie. Fand sie. Stolperte über sie.«

»Die Leute?«

»Ja, die Miggles.«

»Ich weiß wirklich nicht«, sagte Clennam, »wo mein Freund, Mr. Meagles, zuerst Mr. Henry Gowan seiner Tochter vorstellte.«

»Ich bin ganz gewiß, er las sie in Rom auf: aber gleichgültig wo – irgendwo. Doch – diese Frage ganz unter uns – ist sie sehr plebejisch?«

»Wahrhaftig, Ma’am«, versetzte Clennam, »ich bin selbst so unzweifelhaft plebejisch, daß ich mich nicht imstande fühle zu antworten.«

»Sehr hübsch!« sagte Mrs. Gowan, ihren Schirm kaltblütig öffnend. »Sehr gut! Ich muß daraus schließen, daß Sie im stillen ihre Manieren ihrem Gesicht gleich schätzen.« Clennam verbeugte sich, nachdem er einen Moment steif dagesessen.

»Das ist sehr angenehm, und ich hoffe, Sie haben recht. Sagte mir nicht Henry, Sie seien mit ihnen gereist?«

»Ich reiste einige Monate lang mit meinem Freunde Mr. Meagles und seiner Frau und Tochter.« (Das Herz jenes Niemand würde wahrscheinlich durch diese Erinnerung sehr gequält worden sein.)

»Wirklich sehr angenehm, weil Sie sie auf diese Weise genau kennenlernten. Sie sehen, Mr. Clennam, diese Sache spielt schon lange, und ich finde nicht, daß sie Fortschritte macht. Deshalb ist es eine große Erleichterung für mich, die Gelegenheit zu haben, mit einem von der Sache so gut unterrichteten Manne wie Sie zu sprechen. Eine wahre Wohltat. Wahrhaftig ein Glück.«

»Verzeihen Sie«, versetzte Clennam, »aber ich genieße nicht das Vertrauen Mr. Henry Gowans. Ich bin weit entfernt, so gut davon unterrichtet zu sein, wie Sie glauben. Ihr Irrtum macht meine Stellung zu einer äußerst fatalen. Es ist nie zwischen Mr. Henry Gowan und mir von dieser Sache die Rede gewesen.«

Mrs. Gowan blickte nach dem andern Ende des Zimmers, wo ihr Sohn auf einem Sofa saß und mit der alten Dame, die für einen Kavallerieangriff war, Ecarté spielte.

»Genießen nicht sein Vertrauen? Nicht?« sagte Mrs. Gowan. »Keine Rede zwischen Ihnen davon gewesen? Nein? Das kann ich mir denken. Aber es gibt Geständnisse ohne Worte, Mr. Clennam; und da Sie sehr intim mit diesen Leuten befreundet sind, so kann ich nicht zweifeln, daß eine Vertraulichkeit dieser Art in vorliegendem Falle existiert. Vielleicht haben Sie gehört, daß es mir den größten Kummer verursacht, daß Henry einen Beruf ergriffen, der – nun!« sagte sie die Achseln zuckend, »einen sehr ehrenwerten Beruf, ich gebe es zu, und einzelne Künstler haben als Künstler eine sehr hohe Stellung: – aber wir sind in unserer Familie doch nie über den Amateur hinausgegangen, und es ist eine verzeihliche Schwäche, sich etwas –«

Als Mrs. Gowan abbrach, um tief aufzuseufzen, konnte Clennam, obwohl er entschlossen war, großherzig zu sein, den Gedanken nicht unterdrücken, daß selbst unter so bewandten Umständen außerordentlich wenig Gefahr vorhanden sei, die Familie werde je über den Amateur hinauskommen.

»Henry«, fuhr die Mutter fort, »ist eigenwilligen und entschlossenen Charakters; und da diese Leute jede Sehne anspannen, um ihn zu fangen, so kann ich wenig Hoffnung hegen, Mr. Clennam, daß die Sache abzubrechen sei. Ich fürchte, daß das Vermögen des Mädchens sehr klein ausfallen wird; Henry hätte weit bessere Partien machen können. Es ist kaum etwas da, was bei dieser Verbindung das Gleichgewicht herstellte; aber er handelt ganz für sich; und wenn ich nicht in kurzer Zeit Besserung sehe, so weiß ich nicht, was mir übrig bliebe, als zu resignieren und mich so gut es geht in diese Leute zu finden. Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, was Sie mir gesagt.«

Während sie mit den Achseln zuckte, verbeugte sich Clennam wieder steif vor ihr. Mit der Röte der Verlegenheit auf seinen Wangen und einem gewissen Zögern in seinem Benehmen sagte er dann in einem noch leiseren Ton, als er ihn schon angenommen: »Mrs. Gowan, ich weiß kaum, wie ich es aussprechen soll, und ich fühle doch, daß es meine Pflicht ist. Jedenfalls muß ich Sie um Ihre gütige Nachsicht bitten, wenn ich mir erlaube, meine Meinung an den Tag zu legen. Ein Irrtum von Ihrer Seite, ein sehr großer Irrtum, wenn ich es so nennen darf, scheint einer Berichtigung zu bedürfen. Sie sind der Meinung, Mr. Meagles und seine Familie spanne jede Sehne an – ich glaube, so sagten Sie –«

»Jede Sehne«, wiederholte Mrs. Gowan, indem sie ihn, den grünen Fächer zwischen Gesicht und Feuer haltend, mit ruhiger Hartnäckigkeit ansah.

»Um sich Mr. Henry Gowans zu versichern?«

Die Dame gab ruhig ihre Zustimmung.

»Das ist nicht im mindesten der Fall«, sagte Arthur. »Ich weiß sogar, Mr. Meagles ist sehr unglücklich über die Sache und hat ihr alle vernünftigen Hindernisse in den Weg gelegt, in der Hoffnung, ihr ein Ende zu machen.«

Mrs. Gowan schloß ihren großen grünen Fächer, schlug sich damit auf den Arm und tätschelte dann ihre lächelnden Lippen. »Nun, ja«, sagte sie, »ganz was ich meine.«

Arthur suchte in ihrem Gesicht zu lesen, was sie damit meinte.

»Ist das wirklich Ihr Ernst, Mr. Clennam? Sehen Sie denn nicht?«

Arthur sah nicht und sagte es. ‚

»Nun, ich sollte meinen Sohn nicht kennen und nicht wissen, daß das gerade die Art und Weise ist, ihn zu halten?« sagte Mrs.

»Nun, sollte ich meinen Sohn nicht kennen und nicht wissen, mindestens so gut, wie ich es weiß? Oh, es sind geriebene Leute, Mr. Clennam; ganz sicherlich Geschäftsleute! Ich glaube, Mr. Miggles war bei einer Bank angestellt. Es hätte eine sehr profitable Bank sein sollen, wenn er viel mit ihrer Leitung zu tun gehabt hätte. Das ist sehr gut angelegt.«

»Ich bitte und ersuche Sie, Ma’am –« warf Arthur ein.

»Oh, Mr. Clennam, können Sie wirklich so leichtgläubig sein?«

Es machte einen so peinlichen Eindruck auf ihn, sie in diesem hochmütigen Ton sprechen zu hören und sie ihre verachtungsvollen Lippen mit ihrem Fächer tätscheln zu sehen, daß er sehr ernst sagte: »Glauben Sie mir, Ma’am, das ist ein ungerechter, ein ganz grundloser Verdacht.«

»Verdacht?« wiederholte Mrs. Gowan. »Nicht Verdacht, Mr. Clennam, Gewißheit. Es ist wirklich sehr geschickt angezettelt, und man scheint auch Sie vollständig überlistet zu haben.« Sie lachte und tätschelte sich wieder die Lippen mit dem Fächer und schüttelte ihren Kopf, als wenn sie sagen wollte: »Sprechen Sie mir nicht davon. Ich weiß, solche Leute tun alles für die Ehre einer solchen Verbindung.« In diesem günstigen Augenblick wurden die Karten hingeworfen, und Mr. Henry Gowan kam durch das Zimmer, indem er sagte: »Mutter, wenn Sie jetzt Mr. Clennam entbehren könnten, wir haben einen weiten Weg zu machen, und es wird spät.« Mr. Clennam erhob sich, da er keine andere Wahl hatte, und Mrs. Gowan zeigte ihm bis zum letzten Moment denselben Blick und dieselben getätschelten spöttischen Lippen.

»Sie hatten ja eine schrecklich lange Audienz bei meiner Mutter«, sagte Gowan, als die Tür sich hinter ihnen schloß. »Ich hoffe von Herzen, daß sie Sie nicht gelangweilt?«

»Durchaus nicht«, sagte Clennam.

Sie hatten einen kleinen offenen Phaeton für den Tag und waren bald wieder auf dem Heimweg. Gowan, der kutschierte, zündete sich eine Zigarre an; Clennam lehnte die ihm angebotene ab. Er ließ ihn gewähren und verfiel in eine solche Geistesabwesenheit, daß Gowan wieder sagte: »Ich muß sehr fürchten, daß meine Mutter Sie gelangweilt hat?« Er riß sich aus seinen Träumen los, um zu antworten: »Durchaus nicht«, verfiel aber alsbald wieder in sein Brüten.

In diesem Gemütszustand, der niemandem zur Last fiel, richteten sich seine Gedanken vielleicht vorzüglich auf den Mann zu seiner Seite. Er dachte vielleicht an den Morgen, als er ihn zuerst die Steine mit dem Absatz hatte heraushacken sehen, und fragte sich vielleicht: »Wird er mich in derselben gleichgültigen, grausamen Weise aus dem Weg schleudern?« Er dachte vielleicht, ob diese Einführung bei seiner Mutter durch ihn veranlaßt worden sei, weil er wußte, was sie sagen würde, und so seine Stellung einem Rivalen klarmachen und ihn eindringlich warnen könnte, ohne selbst ein Wort des Vertrauens mit ihm darüber zu wechseln? Er dachte vielleicht, ob, wenn auch kein Plan der Art vorgewaltet hätte, er ihn nicht hierhergebracht, um mit seinen unterdrückten Gefühlen zu spielen und ihn zu quälen? Der Strom dieser Gedanken wurde vielleicht bisweilen durch einen plötzlichen Anlauf von Scham gehemmt, wobei sich seine eigene offne Natur vorwarf: solchen Verdacht zu hegen, heiße, selbst nur für einen vorübergehenden Augenblick, nicht den hohen neidlosen Standpunkt festzuhalten, auf den er sich zu stellen vorgenommen. In solchen Augenblicken war der Kampf vielleicht am härtesten; und wenn er aufgesehen und Gowans Blicken begegnet wäre, würde er vielleicht erschrocken sein, als wenn er ihm Unrecht getan.

Wenn er dann auf den dunklen Weg und die verschwimmenden Gegenstände sah, wurde er vielleicht wieder in den Gedanken hineingerissen: »Ich möchte wissen, wohin wir fahren, er und ich, auf dem dunkleren Weg des Lebens? Wie wird es in der dunklen Zukunft mit uns und ihr stehen?« Wenn er an sie dachte, quälte ihn vielleicht aufs neue der schwere Vorwurf, daß es nicht mal treu gegen sie handeln heiße, ihn nicht zu mögen, und daß, wenn er sich leicht zu

Vorurteilen gegen ihn geneigt zeige, er ihrer weniger würdig sei als anfangs.

»Sie sind offenbar schlechter Laune«, sagte Gowan, »ich fürchte wirklich sehr, daß meine Mutter Sie schrecklich gelangweilt hat.«

»Glauben Sie mir, durchaus nicht«, sagte Clennam, »es ist nichts – nichts!«

Siebenundzwanzigstes Kapitel.


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Fünfundzwanzig

Ein häufig wiederkehrender Zweifel, ob Mr. Pancks‘ Wunsch, sich Notizen über die Familie Dorrit zu sammeln, irgendwelche Bestätigung der Besorgnisse bringen könnte, die er seiner Mutter bei seiner Rückkehr aus dem langen Exil mitgeteilt hatte, verursachte Arthur Clennam zu jener Zeit viel Unruhe. Was Mr. Pancks bereits von der Familie Dorrit wußte, was er noch weiter herausbekommen wollte, und warum er seinen vielbeschäftigten Kopf überhaupt damit abquälte, waren Fragen, die ihn oft plagten. Mr. Pancks war nicht der Mann, der seine Zeit vergeudete und sich mit Nachforschungen, die von bloßer Neugier veranlaßt waren, abquälte. Daß er einen spezifischen Zweck hatte, darüber hegte Clennam keinen Zweifel. Und ob die Erreichung dieses Zweckes durch Mr. Pancks‘ ausdauerndes Mühen auf unangenehme Weise geheime Gründe zutage bringen würde, die seine Mutter veranlaßten, sich Klein-Dorrits anzunehmen, war ein Gegenstand ernster Erwägung.

Nicht, daß er je in seinem Wunsch oder in seinem Entschluß gewankt, ein Unrecht wieder gutzumachen, das zu seines Vaters Zeiten jemandem zugefügt worden, sobald dieses Unrecht an den Tag kam und wieder gutzumachen war. Der Schatten eines vermuteten Unrechts, der seit seines Vaters Tod auf ihm ruhte, war vag und formlos. Diese Vorstellung von dem Unrecht konnte weit entfernt von den wirklichen Tatsachen sein. Wenn seine Besorgnisse jedoch sich als wohlbegründet erweisen sollten, so war er jeden Augenblick bereit, alles hinzugeben, was er hatte, und von neuem zu beginnen. Da die strenge und dunkle Lehre seiner Jugend nie in sein Herz gedrungen, so war es der erste Artikel in seinem Sittengesetz, daß er auf Erden mit praktischer Demut, den Blick zu Boden gerichtet, beginnen müsse, und daß er nicht auf den Flügeln des Wortes sich zum Himmel emporschwingen könne. Pflichterfüllung auf Erden, Vergeltung auf Erden, Tätigkeit auf Erden: diese zuerst als die ersten steilen Stufen aufwärts. Eng war die Pforte und schmal der Weg; weit enger und schmaler als die breite Heerstraße, die mit eitlen Versicherungen und Wiederholungen, Splittern aus andrer Leute Augen und bereitwilliger Auslieferung anderer an das Gericht gepflastert ist – lauter billigen Dingen, die absolut nichts kosten.

Nein. Es war kein selbstsüchtiges Fürchten oder Zögern, was ihn beunruhigte, sondern das Mißtrauen, Pancks möchte seinen Teil am Vertrage zwischen ihnen nicht erfüllen und, wenn er irgendeine Entdeckung machte, Schritte tun, ohne ihn daran teilnehmen zu lassen. Wenn er auf der andern Seite an sein Gespräch mit Pancks und den geringen Grund dachte, den er zu der Vermutung hatte, daß irgendeine Wahrscheinlichkeit vorhanden, dieser seltsame Mensch möchte überhaupt jener Spur folgen, so mußte er sich bisweilen wundern, daß er soviel Aufhebens davon machte. In dieser See sich abmühend, wie alle Barken, die auf einer stürmischen See mit einander durchkreuzenden Wellen sich abmühen, wurde er hin- und hergeworfen und gelangte in keinen Hafen.

Die Entfernung Klein-Dorrits aus ihrem gewohnten Kreise besserte die Sache nicht. Sie war so viel außer dem Haus und so viel auf ihrem eigenen Zimmer, daß er sie zu vermissen und eine Leere an ihrem Platz zu finden begann. Er hatte an sie geschrieben, um zu fragen, ob sie sich besser befinde, und sie hatte ihm sehr dankbar und ernst zurückgeschrieben, daß er ihretwegen nicht unruhig sein dürfe, denn sie sei ganz wohl. Aber er hatte sie, wie es ihm im Vergleich mit ihrem sonstigen Verkehr erschien, lange nicht gesehen.

Er kam eines Abends von einem Besuch bei ihrem Vater zurück, der ihm gesagt, daß sie zu Besuch aus sei – was er immer sagte, wenn sie auswärts angestrengt arbeitete, um sein Nachtessen zu verdienen –, und fand Mr. Meagles in aufgeregtem Zustand in seinem Zimmer auf und nieder gehend. Als er die Tür öffnete, blieb Mr. Meagles stehen, sah sich um und sagte:

»Clennam! – Tattycoram!«

»Was ist damit?«

»Verloren!«

»Wie, gerechter Gott!« rief Clennam bestürzt. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Wollte nicht fünfundzwanzig zählen, Sir; konnte nicht dazu gebracht werden, blieb bei acht stehen und machte sich auf und davon.«

»Hat Ihr Haus verlassen?«

»Um nimmer wiederzukommen«, sagte Mr. Meagles seinen Kopf schüttelnd. »Sie kennen den leidenschaftlichen und stolzen Charakter dieses Mädchens nicht. Ein Gespann Pferde würde sie nicht mehr zurückzubringen vermögen; die Querbalken und Riegel der alten Bastille könnten sie nicht halten.«

»Wie kam das? Bitte, setzen Sie sich und erzählen Sie.«

»Das ›Wie‹ das geschah, ist nicht so leicht zu erzählen, weil Sie das unglückliche Temperament dieses armen heftigen Mädchens haben müßten, um die Sache ganz zu verstehen. Aber es geschah ungefähr folgendermaßen: Pet und Mutter und ich hatten in letzter Zeit lange Verhandlungen miteinander. Ich will Ihnen nicht verhehlen, Clennam, daß diese Verhandlungen nicht gerade so freundlicher Art waren, wie Sie wohl wünschen möchten. Sie bezogen sich auf unser Wiederweggehen. Bei diesem Vorschlag hatte ich allerdings einen bestimmten Zweck.«

Niemands Herz schlug lebhaft. »Einen Zweck«, sagte Mr. Meagles nach einer kurzen Pause, »den ich Ihnen auch nicht verhehlen will, Clennam. Mein Kind hat eine Neigung, die mich sehr besorgt macht. Vielleicht ahnen Sie die Person. Henry Gowan.«

»Ich war nicht unvorbereitet, das zu hören.«

»Gut!« sagte Mr. Meagles mit einem schweren Seufzer, »ich wünschte bei Gott, Sie hätten das nie zu hören brauchen. Nun ist es aber mal so. Mutter und ich haben alles getan, was in unsern Kräften stand, um die Sache abzuwenden. Clennam, wir haben es mit zärtlichen Mahnungen versucht, wir haben es mit der heilenden Zeit versucht, wir haben es mit Entfernung versucht, alles vergeblich. Unsere letzten Gespräche drehten sich nun um eine Reise von mindestens einem Jahr, um eine vollständige Trennung und ein Abbrechen der Sache herbeizuführen. Diese Frage machte Pet unglücklich, und natürlich waren Mutter und ich gleichfalls unglücklich.«

Clennam sagte, daß er das gerne glauben wolle.

»Gut!« fuhr Mr. Meagles im Ton der Entschuldigung fort: »Ich gebe als praktischer Mann zu und bin überzeugt, Mutter wird als praktische Frau gleichfalls zugeben, daß wir in Familien unsere Besorgnisse vergrößern und Berge aus unsern Maulwurfshügeln machen und das in einer Weise, die für Leute, die zusehen, für bloße außerhalb Stehende, sehr unangenehm ist, Clennam. Aber Pets Glück oder Unglück ist eine Lebensfrage für uns, und wir werden hoffentlich entschuldigt sein, wenn wir viel Aufhebens davon machen. Jedenfalls hätte sich Tattycoram darein fügen sollen. Sind Sie nicht auch meiner Ansicht?«

»Allerdings«, versetzte Clennam, dieser äußerst bescheiden ausgesprochenen Erwartung aufs nachdrücklichste entsprechend.

»Nein, Sir«, sagte Mr. Meagles, den Kopf traurig schüttelnd. »Sie konnte es nicht ertragen. Das Toben und Sprühen des Mädchens, das Zerren und Zerfleischen der eignen Brust war der Art, daß ich, sooft ich an ihr vorüberging, leise zu ihr sagte: ›Fünfundzwanzig, Tattycoram, fünfundzwanzig!‹ Ich wünschte von Herzen, es wäre ihr gelungen, fünfundzwanzig Tag und Nacht zu zählen, es wäre alles gut gegangen.«

Mr. Meagles fuhr mit einer verzweifelten Miene, in der sich die Güte seines Herzens sogar noch mehr aussprach als in den Zeiten seines ungetrübten Glückes, von der Stirn bis zum Kinn über sein Gesicht und schüttelte abermals den Kopf.

»Ich sagte zu Mutter (nicht daß es nötig gewesen; denn sie würde es alles selbst gedacht haben), wir sind praktische Leute, meine Liebe, und wir kennen ihre Lebensgeschichte: wir sehen in diesem unglücklichen Mädchen einen Widerschein von dem, was in dem Herzen ihrer Mutter tobte, ehe eine Kreatur, wie dieses arme Ding, in der Welt war. Wir wollen ihr Temperament beschönigen, Mutter, wir wollen für den Augenblick gar nicht darauf achten, meine Liebe, wir wollen eine bessere Stimmung bei ihr abwarten. Wir sagten deshalb nichts. Aber wir mochten tun, was wir wollten, es schien so sein zu müssen, wie es war; sie brach eines Nachts heftig los.«

»Wie und warum?«

»Wenn Sie mich fragen, warum«, sagte Mr. Meagles etwas verlegen durch die Frage; denn er war weit mehr geneigt, ihre Sache als die der Familie zu mildern, »so kann ich Sie nur auf das verweisen, was ich Ihnen soeben als ziemlich dieselben Worte wiederholte, die ich zu Mutter sagte. Was das Wie betrifft, so hatten wir Pet (ich muß gestehen, sehr warm) in ihrer Gegenwart gute Nacht gesagt, und sie hatte Pet die Treppe hinaufbegleitet – Sie erinnern sich, sie war ihre Zofe. Vielleicht mag Pet, die etwas aufgeregt war, etwas rücksichtsloser als gewöhnlich Dienste von ihr verlangt haben. Aber ich weiß nicht, ob ich das der Wahrheit gemäß behaupten darf; sie war immer aufmerksam und sanft.«

»Die sanfteste Dame von der Welt.«

»Ich danke Ihnen, Clennam«, sagte Mr. Meagles, ihm die Hand schüttelnd. »Sie haben sie oft zusammen gesehen. Gut! Wir hörten bald darauf die unglückliche Tattycoram laut und zornig sprechen, und ehe wir noch fragen konnten, was es gebe, kam Pet zitternd zurück, indem sie sagte, sie fürchte sich vor ihr. Gleich hinterdrein kam Tattycoram in fürchterlicher Aufregung. ›Ich hasse Sie alle drei!‹ sagte sie, mit dem Fuße stampfend. ›Ich berste vor Haß gegen das ganze Haus.‹«

»Worauf Sie –«

»Ich?« sagte Mr. Meagles mit einer einfachen Offenheit, die selbst Mrs. Gowan zum Glauben genötigt, »ich sagte, zähle fünfundzwanzig, Tattycoram.«

Mr. Meagles strich sich wieder über das Gesicht und schüttelte den Kopf mit dem Ausdruck tiefer Trauer.

»Sie war so daran gewöhnt, Clennam, daß sie selbst in diesem Augenblick, ein Bild der Leidenschaft, wie Sie noch keines gesehen, plötzlich innehielt, mir offen ins Gesicht sah und (wie ich verstand) bis auf acht zählte. Aber es war ihr unmöglich, weiter zu zählen. Damit war’s zu Ende, und sie überließ die übrigen siebenzehn den vier Winden. Dann brach sie los. Sie verachte uns, sie sei unglücklich bei uns, sie könne es nicht aushalten, sie wollte es nicht länger ertragen, sie sei entschlossen fortzugehen. Sie sei jünger als ihre junge Herrin, und sie könne es nicht ertragen, diese beständig als das einzige Geschöpf behandelt zu sehen, das jung und interessant sei und gehätschelt und geliebt zu werden verdiene. Nein, das wolle sie nicht, wolle sie nicht, wolle sie nicht. Was wir wohl glauben, daß sie, Tattycoram, geworden, wenn man sie in ihrer Kindheit wie ihre junge Herrin gehätschelt und gepflegt? So gut wie sie. Ha! Vielleicht fünfzigmal so gut. Wenn wir behaupteten, einander so lieb zu haben, so triumphierten wir über sie: das sei es, was wir täten, wir triumphierten über sie und höhnten sie. Und alle im Hause täten dasselbe. Sie sprächen von ihren Vätern und Müttern und Brüdern und Schwestern; sie schleppten sie mit außerordentlicher Freude vor ihr Gesicht. Erst gestern habe Mrs. Tickit, als sie ihr kleines Enkelchen bei sich gehabt, sich darüber amüsiert, daß es sie (Tattycoram) bei dem verketzerten Namen rief, den wir ihr gäben, und habe über den Namen gelacht. Freilich, wer tue das nicht? und wer wir seien, daß wir ein Recht haben sollten, sie wie einen Hund oder eine Katze zu nennen? Aber es sei gleichgültig. Sie wolle keine Wohltaten mehr von uns annehmen: sie wolle uns ihren Namen wieder ins Gesicht werfen und gehen. Sie wolle uns noch in derselben Minute verlassen. Niemand solle sie aufhalten, und wir sollten nie wieder von ihr hören.«

Mr. Meagles hatte all das mit so lebhafter Erinnerung an sein Original erzählt, daß er während der Zeit beinahe ebenso rot und heiß war, wie er sie beschrieben.

»Ah, ja!« sagte er und wischte sich das Gesicht. »Es war vergebliche Mühe, diesem heftigen, keuchenden Geschöpf (der Himmel weiß, was ihrer Mutter Lebensgeschichte gewesen sein mag) Vernunft beibringen zu wollen. Ich sagte ihr deshalb einfach, daß sie nicht zu so später Stunde der Nacht gehen dürfe, und gib ihr meine Hand, führte sie nach ihrem Zimmer und schloß die Haustür. Aber heute morgen war sie fort.«

»Und Sie wissen nichts weiter von ihr?«

»Gar nichts«, erwiderte Mr. Meagles, »ich bin den ganzen Tag herumgerannt. Sie muß sehr früh und in größter Stille sich davongemacht haben. Ich fand keine Spur von ihr im Hause.«

»Halt! Sie möchten sie doch wiedersehen«, sagte Clennam nach kurzem Nachdenken. »Ich darf das wohl annehmen?«

»Ja, allerdings; ich möchte ihr eine Gelegenheit geben; Mutter und Pet möchten ihr auch noch eine Gelegenheit geben. Ja, Sie selbst«, sagte Mrs. Meagles voll Überzeugung, als ob er durchaus keine Ursache hatte, zornig zu sein, »möchten dem armen leidenschaftlichen Mädchen noch eine Gelegenheit geben, ich weiß es, Clennam.«

„Es wäre allerdings seltsam und hart, wenn ich es nicht täte«, sagte Clennam, »während Sie alle so geneigt sind zu vergeben. Was ich Sie fragen wollte, war, haben Sie an jene Miß Wade gedacht?«

»Allerdings. Ich dachte nicht an sie, bis ich unsere ganze Nachbarschaft durchstreift; und ich weiß nicht, ob sie mir auch dann eingefallen wäre, wenn ich nicht Mutter und Pet bei meinem Nachhausekommen voll von dem Gedanken gefunden, Tattycoram müsse zu ihr gegangen sein. Denn natürlich erinnerte ich mich, was sie bei Tisch sagte, als Sie zum ersten Male bei uns waren.«

»Haben Sie irgendeine Idee, wo Miß Wade zu finden ist?«

»Offen gesagt«, versetzte Mr. Meagles, »Sie finden mich hier auf Sie wartend, weil ich einen dunklen Schatten von Kunde über dieses Wesen habe. Es existiert in meinem Hause einer jener seltsamen Eindrücke, die oft auf geheimnisvolle Weise in Häuser kommen, die aber niemand in einer bestimmten Form von jemandem aufgefaßt und die doch jeder Mensch von irgend jemandem flüchtig empfangen und weitergegeben zu haben scheint, daß sie da herum wohnt oder wohnte.« Mr. Meagles übergab ihm einen Fetzen Papier, auf dem der Name einer der dunklen Nebenstraßen in der Grosvenor Region, nahe bei Park Lane, stand.

»Hier ist keine Nummer«, sagte Arthur, indem er darauf hinblickte.

»Keine Nummer, mein lieber Clennam«, versetzte sein Freund. »Nein, nichts! Der Name der Straße selbst muß in der Luft geschwebt haben: denn, wie ich Ihnen versichere, niemand von meinen Leuten kann sagen, woher sie den Namen haben. Die Sache ist jedoch einer Nachfrage wert; und da ich diese lieber in Gesellschaft als allein machen möchte, und da Sie gleichfalls mit diesem gefühllosen Frauenzimmer gereist sind, so dacht‘ ich, vielleicht –« Clennam endigte die Worte für ihn, indem er seinen Hut wieder nahm und sagte, er sei bereit.

Es war Sommer: ein grauer, heißer, staubiger Abend. Sie fuhren ans Ende der Oxford Street, wo sie ausstiegen und sich in die großen Straßen von melancholischer Pracht und in die kleinen Straßen verloren, die ebenso prachtvoll sein wollen, denen es aber nur gelingt, noch melancholischer auszusehen. Von ihrer Sorte grenzt ein ganzes Labyrinth an Park Lane. Wildnisse von Eckhäusern, mit barbarischen Toren und Zieraten, schauderhafte Figuren, die dem Kopf einer abgeschmackten Person in einer abgeschmackten Zeit entsprungen, dennoch die blinde Verwunderung aller folgenden Generationen forderten und entschlossen waren, dies solange zu tun, bis sie zusammenstürzten, sahen finster in das Zwielicht. Schmarotzerische kleine Häuser mit dem Krampf in der ganzen Gestalt von der zwerghaften Hallentür an dem Riesenmodell Seiner Gnaden auf dem Square bis zu dem gedrückten Fenster des Boudoirs, das auf die Misthaufen in den Hintergäßchen hinaussah, machten den Abend höchst traurig. Verkrüppelte Wohnungen von unzweifelhaft modischem Wesen, aber für nichts bequem als für einen häßlichen Geruch, sahen wie die letzten kränklichen Geburten der großen Adelshäuser aus. Wo ihre kleinen Altane und Balkone von dünnen eisernen Säulen getragen wurden, schienen sie skrofulös auf Krücken zu ruhen. Da und dort sah ein Wappen, das die ganze Wissenschaft der Heraldik in sich schloß, auf die Straße herab wie ein Erzbischof, der über die Eitelkeit predigt. Die Läden, wenig an Zahl, machten kein Gepränge, denn die öffentliche Meinung war ihnen gleichgültig. Der Pastetenbäcker wußte, wer in seinen Büchern stand, und konnte in diesem Bewußtsein ruhig sein: ihm genügten deshalb einige Glaszylinder mit Witwenpfefferminztropfen in seinem Fenster und ein halbes Dutzend alter Sorten gangbaren Obstgelees. Einige Orangen bildeten die ganze Konzession des Obsthändlers an die öffentliche Meinung. Ein einzelnes Körbchen von Moos, das einst Eier von einem Regenpfeifer enthalten, umfaßte alles, was der Geflügelhändler zum Pöbel zu sagen hatte. Jedermann in diesen Straßen schien zu Tisch ausgegangen zu sein (was zu dieser Stunde und Jahreszeit immer der Fall ist), und niemand schien die Diners zu geben, zu denen sie gegangen. Auf den Türstufen lungerten Lakaien mit glänzendem, buntfarbigem Gefieder und weißen Köpfen wie eine ausgestorbene Rasse von ungeheueren Vögeln und Haushofmeister, einsame Menschen von verschlossenem Wesen, die gegen jeden andern Haushofmeister mißtrauisch zu sein schienen. Das Rollen der Wagen im Park war für heute verstummt; die Straßenlampen brannten. Wichte von kleinen Grooms in knapp anliegenden und passenden Kleidern, die Beine verdreht, wie ihre Köpfe verdreht waren, standen paarweise herum, indem sie Stroh kauten und sich betrügerische Geheimnisse anvertrauten. Die gefleckten Hunde, die die Wagen begleiteten, und die wir im Geist so eng mit glänzenden Equipagen zu verbinden gewöhnt sind, daß es wie eine Herablassung von seiten dieser Tiere aussieht, ohne sie zu erscheinen, begleiteten die Stallgehilfen bei ihren Ausgängen. Da und dort war ein bescheidenes Gasthaus, das nicht verlangte, auf die Schultern des Volkes sich zu stützen, und wo man nach Herren ohne Livree nicht besonders verlangte.

Solcherlei Entdeckung machten die beiden Freunde im Verfolg ihrer Nachforschungen. Nirgends war etwas von einer Person wie Miß Wade in Verbindung mit der Straße bekannt, die sie suchten. Es war eine der Schmarotzerstraßen; lang, regelmäßig, schmal, düster und finster wie ein Backstein- und Mörtelleichenzug. Sie fragten an verschiedenen kleinen Vorhoftoren, wo ein trauriger junger Mensch stand, der sein Kinn auf die Spitzen des Geländers einer schroffen hölzernen Treppe drückte, konnten aber keine Auskunft erhalten. Sie gingen an der einen Seite der Straße hinauf und an der andern Seite herab, während zwei laut schreiende Zcitungsverkäufer ein außerordentliches Ereignis ausriefen, das sich nie begeben hat und niemals begeben wird. Sie ließen ihre rauhen Stimmen in die stillen Zimmer hineindröhnen, aber ohne Erfolg. Endlich standen sie an der Ecke, von der sie ausgegangen; es war sehr dunkel, und sie waren um nichts klüger geworden.

In der Straße waren sie zu verschiedenen Malen an einem schmutzigen Hause vorübergekommen, das augenscheinlich leer stand. An den Fenstern befanden sich Zettel, die ankündigten, daß es zu vermieten war. Die Zettel, die eine Abwechslung in dem Leichenzug bildeten, waren beinahe ein Schmuck zu nennen. Vielleicht, weil das Haus vereinzelt in ihrer Erinnerung dastand, vielleicht auch, weil Mr. Meagles und er selbst zweimal im Vorübergehen zueinander gesagt hatten: »Es ist klar, hier wohnt sie nicht« , machte Clennam jetzt den Vorschlag, sie wollten zurückgehen und es mit dem Hause probieren, ehe sie ganz weggingen. Mr. Meagles war dazu bereit, und sie gingen zurück.

Sie klopften einmal und läuteten einmal, ohne eine Antwort. »Leer« , sagte Mr. Meagles lauschend. »Noch einmal« , sagte Clennam und klopfte wieder. Nach diesem Pochen hörten sie eine Bewegung innen und glaubten jemanden nach der Tür schlürfen zu hören.

Der schmale Eingang war so dunkel, daß es unmöglich wurde, genau zu unterscheiden, was für eine Person die Tür öffnete; es schien jedoch eine alte Frau zu sein. »Entschuldigen Sie, daß wir Sie bemühen«, sagte Clennam. »Bitte, können Sie uns sagen, wo Miß Wade wohnt?« Die Stimme in der Dunkelheit antwortete unerwarteterweise: »Hier.«

»Ist sie zu Hause?«

Als keine Antwort erfolgte, sagte Mr. Meagles wieder: »Bitte, ist sie zu Hause?«

Nach einer zweiten Pause sagte die Stimme abgebrochen: »Ich glaube wohl. Sie würden besser tun einzutreten: ich will inzwischen fragen.«

Sie wurden ohne weitere Umstände in das enge schwarze Haus eingeschlossen, und die Gestalt sagte, indem sie hinwegrauschte, von einer höheren Stelle aus: »Kommen Sie gefälligst herauf. Sie können über nichts stolpern.« Sie krochen ihren Weg die Treppen hinauf nach einem matten Licht, das sich als die Straßenlaterne, die durch das Fenster schien, erwies, und die Gestalt ließ sie in einem stickigen Zimmer eingeschlossen zurück.

»Das ist seltsam, Clennam«, sagte Mr. Meagles leise.

»Sehr seltsam«, stimmte Clennam in demselben Ton bei; »aber wir haben unsern Zweck erreicht, das ist die Hauptsache. Da kommt Licht!«

Das Licht war eine Lampe, und die Trägerin war eine alte Frau: sehr schmutzig, sehr verrunzelt und welk. »Sie ist zu Hause«, sagte sie (und die Stimme war dieselbe, die zuvor gesprochen): »sie wird augenblicklich kommen.« Nachdem sie die Lampe auf den Tisch gesetzt, rieb die alte Frau ihre Hände an ihrer Schürze ab, was sie beständig hätte tun können, ohne sie deshalb rein zu machen, sah die Fremden dann mit ein paar trüben Augen an und ging rückwärts hinaus.

Die Dame, die sie zu sprechen gekommen waren, schien, wenn sie die gegenwärtige Bewohnerin dieses Hauses war, ihr Quartier hier gleichsam wie in einer orientalischen Karawanserei aufgeschlagen zu haben. Ein kleiner viereckiger Teppich in der Mitte des Zimmers, einige Möbel, die offenbar nicht zu dem Zimmer gehörten, und ein Wirrwarr von Koffern und Reiseartikeln bildeten ihre ganze Umgebung. Unter einem früheren ansässigen Bewohner hatte das erstickende Zimmer mit einem Pfeilerspiegel und einem vergoldeten Tisch geprangt. Aber die Vergoldung war so verblichen, wie Blumen vom letzten Jahre, und das Glas so trübe, daß es mit magischem Zauber all das neblige und schlechte Wetter, das es je widergegeben hatte, in sich gebannt zu haben schien. Die Fremden hatten eine Minute oder zwei Zeit gehabt, sich umzusehen, als die Tür aufging und Miß Wade eintrat.

Sie war noch ganz dieselbe wie damals, als sie voneinander geschieden. Ebenso hübsch, ebenso höhnisch, ebenso zurückhaltend. Sie bat sie, sich zu setzen, und indem sie es ablehnte, selbst einen Sitz einzunehmen, ersparte sie ihnen die Einleitung zu ihrem Anliegen, indem sie sogleich sagte:

»Ich glaube die Ursache zu wissen, die Sie mir die Ehre eines Besuches erzeigen läßt, wir können deshalb sogleich darauf eingehen.«

»Die Ursache, Ma’am«, sagte Mr. Meagles, »ist Tattycoram.«

»Das vermutete ich.«

»Miß Wade«, sagte Mr. Meagles, »wollen Sie so freundlich sein, uns zu sagen, ob Sie etwas von ihr wissen oder nicht?«

»Gewiß. Ich weiß, sie ist hier bei mir.«

»Dann, Ma’am«, sagte Mr. Meagles, »erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich glücklich sein würde, wenn sie wieder zu mir zurückkäme, und daß meine Frau und Tochter glücklich sein würden, wenn sie wieder zurückkäme. Sie war lange Zeit bei uns, wir vergessen ihre Ansprüche an uns nicht, und ich glaube, wir wissen, daß man es nicht so genau nehmen darf.«

»Sie glauben zu wissen, daß man es nicht so genau nehmen darf?« versetzte sie in gemessenem Ton. »Was?«

»Ich glaube, mein Freund wollte sagen, Miß Wade«, warf Arthur Clennam ein, der sah, daß Mr. Meagles nicht wußte, was er sagen sollte, »mit dem leidenschaftlichen Wesen, das das Mädchen bisweilen überkommt, wenn sie sich im Nachteil fühlt, was bisweilen bessere Gefühle in den Hintergrund drängt.«

Die Dame brach in ein Gelächter aus, als sie ihre Blicke auf ihn richtete. »Wirklich?« war alles, was sie darauf antwortete.

Sie stand so vollkommen ruhig und still nach dieser Antwort auf seine Bemerkung bei dem Tisch, daß Mr. Meagles sie wie verhext anstarrte und nicht mal Clennam ansehen konnte, um ihn zu einer andern Äußerung zu veranlassen. Nachdem er einige Augenblicke linkisch genug gewartet, sagte Arthur:

»Vielleicht wäre es gut, wenn Mr. Meagles sie sehen könnte, Miß Wade?«

»Das ist leicht getan«, sagte sie. »Komm‘ herein, Kind.« Sie hatte eine Tür geöffnet, während sie dies sagte, und führte nun das Mädchen an der Hand herein. Es war wirklich wunderlich, sie beieinander stehen zu sehen: das Mädchen, das mit seinen freien Fingern den Busen ihres Kleides halb unschlüssig, halb leidenschaftlich faltete; Miß Wade, die mit ihrem ruhigen Gesicht sie aufmerksam betrachtete und einem Beobachter von außerordentlichem Scharfblick gerade in ihrer Ruhe die nicht zu stillende Leidenschaftlichkeit ihres Wesens enthüllte (wie ein Schleier die Formen ahnen läßt, die er bedeckt).

»Sehen Sie«, sagte sie in derselben gemessenen Weise wie früher, »hier ist Ihr Herr, Ihr Meister. Er ist willens, Sie wieder mit sich zu nehmen, meine Liebe, wenn Sie empfänglich für diese Gunst sind und Lust zu gehen haben. Sie können wieder eine Folie für seine hübsche Tochter, eine Sklavin für ihren liebenswürdigen Eigensinn und ein Spielzeug sein, das die Güte der Familie zeigt. Sie können Ihren drolligen Namen wieder haben, der Sie mutwillig dem Spott aussetzt und Sie an den Pranger stellt. (Ihre Geburt, Sie wissen, Sie müssen nicht Ihre Geburt vergessen.) Harriet, Sie können dieses Herrn Tochter wieder als eine lebendige Erinnerung an ihren Vorrang und ihre gnädige Herablassung gezeigt und vorgehalten werden. Sie können all diese Vorteile wiedergewinnen und noch manche andere ähnlicher Art, die vermutlich in Ihrem Gedächtnis auftauchen werden, während ich spreche, und deren Sie verlustig gehen, wenn Sie Ihre Zuflucht zu mir nehmen – Sie können sie jedoch alle wiederhaben, wenn Sie diesen Herren sagen, wie demütig und bußfertig Sie seien, und mit ihnen zurückgehen, daß man Ihnen verzeihe. Was sagen Sie, Harriet? Wollen Sie gehen?«

Das Mädchen, das unter dem Einfluß dieser Worte immer zorniger geworden und dessen Wangen sich immer röter färbten, antwortete, indem sie ihre leuchtenden schwarzen Augen für einen Augenblick erhob und ihre Hand auf den Falten, die sie zusammengerunzelt, ballte: »Ich möchte lieber sterben!«

Miß Wade, die, noch immer ihre Hand haltend, neben ihr stand, blickte ruhig umher und sagte mit einem Lächeln: »Gentlemen! Was sagen Sie darauf?«

Die unaussprechliche Bestürzung des alten Meagles, als er seine Motive und Handlungen so verdrehen hörte, hatte ihn bis jetzt gehindert, ein Wort einzuwerfen: nun aber gewann er seine Macht zu sprechen wieder.

»Tattycoram«, sagte er, »denn ich will dich noch immer bei diesem Namen nennen, mein liebes Mädchen, da ich mir bewußt bin, daß ich nur Freundliches dabei im Sinne hatte, als ich ihn dir gab, und überzeugt bin, daß du es weißt.«

»Ich weiß es nicht!« sagte sie, wieder aufblickend und sich mit derselben ungestüm wühlenden Hand fast zerfleischend.

»Nein, vielleicht jetzt nicht«, sagte Mr. Meagles, »nicht, solange die Augen dieser Dame so fest auf dich gerichtet sind, Tattycoram«, sie blickte im Augenblick auf sie, »und solange diese Macht dich beherrscht, die sie auf dich ausübt. Tattycoram, ich werde diese Dame nicht fragen, ob sie das glaubt, was sie gesagt hat, selbst in dem Zorn und Unmut, in dem, wie ich und mein Freund hier gleich gut wissen, sie eben gesprochen hat, obgleich sie sich mit einer Entschlossenheit hinstellt, die jeder, der sie einmal gesehen, wohl nie wieder vergessen wird. Ich will dich nicht fragen, ob du, wenn du dich an mein Haus und alles, was dazu gehört, erinnerst, das glaubst. Ich will nur sagen, daß du weder mir noch den Meinen ein Bekenntnis abzulegen und ebensowenig um Verzeihung zu bitten hast; und daß alles in der Welt, um was ich dich bitten möchte, darin besteht, daß du fünfundzwanzig zählst, Tattycoram.«

Sie sah ihn einen Augenblick an und sagte dann, indem sie die Stirn runzelte: »Ich will nicht, führen Sie mich weg, Miß Wade, bitte.«

Der Kampf, der diesem Augenblick in ihr raste, hatte nichts Milderndes. Es war ein Kampf zwischen leidenschaftlichem Trotz und unbeugsamem Trotz. Ihre lebhafte Röte, ihr rasches Blut, ihr ungestümer Atem stemmten sich alle gegen die Gelegenheit, ihren Schritt rückgängig zu machen. »Ich will nicht. Ich will nicht. Ich will nicht!« wiederholte sie mit leiser, tiefer Stimme. »Man muß mich erst in Stücke reißen. Ich würde mich selbst vorher in Stücke reißen!«

Miß Wade, die sie losgelassen, legte ihre Hand einen Augenblick schützend auf des Mädchens Nacken und sagte dann, indem sie mit ihrem frühern Lächeln umhersah und genau in ihrem frühern Ton sprach: »Gentlemen! was wollen Sie nach dieser Erklärung noch?«

»O, Tattycoram, Tattycoram!« rief Mr. Meagles, indem er sie mit erhobener Hand beschwor: »Höre die Stimme dieser Dame, sieh dieser Dame ins Gesicht, erwäge, was in dem Herzen dieser Dame vorgeht, und bedenke, was für eine Zukunft vor dir liegt! Mein Kind, was du auch immer denken magst, solange du unter dem Einfluß dieser Dame stehst – es ist erstaunlich für uns, und ich werde wohl nicht zu weit gehen, wenn ich sage, schrecklich für uns, es zu sehen –, alles beruht auf einer Leidenschaft, die stärker als die deine, und auf einem Temperament, das heftiger als das deine. Was könnt ihr einander sein? Was kann davon kommen?«

»Ich bin hier allein, Gentlemen«, bemerkte Miß Wade, ohne ihren Ton oder ihr Wesen zu verändern. »Sagen Sie alles, was Sie wollen.«

»Die Höflichkeit nötigt mich, gegen dieses mißleitete Mädchen in ihrem gegenwärtigen Zustand nachzugeben, Ma’am«, sagte Mr. Meagles, »obgleich ich sie nicht ganz aus den Augen zu lassen gedenke, selbst bei den Beleidigungen, die Sie mir in so herbem Tone vor ihr zufügen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie, in ihrer Gegenwart, daran erinnere – ich muß es sagen – daß Sie uns allen ein Geheimnis waren und mit keinem von uns etwas gemein hatten, als sie Ihnen unglückseligerweise in den Weg kam. Ich weiß nicht, was Sie sind, aber Sie verbergen es nicht, können es nicht verbergen, was für ein finsterer Geist in Ihnen wohnt. Wenn Sie eine von den Damen sein sollten, die aus irgendwelchem Grund ein seltsames Vergnügen daran finden, eine Mitschwester so elend zu machen, wie sie selbst ist (ich bin alt genug, um schon davon gehört zu haben), so warne ich sie vor Ihnen und warne Sie vor sich selbst.«

»Gentlemen!« sagte Miß Wade ruhig. »Wenn Sie zu Ende sind – Mr. Clennam, vielleicht werden Sie Ihren Freund veranlassen –«

»Nicht ohne noch einen Versuch«, sagte Mr. Meagles standhaft. »Tattycoram, mein armes, liebes Mädchen, zähle fünfundzwanzig.«

»Weisen Sie die Hoffnung, die Gewißheit nicht von sich, die dieser freundliche Mann Ihnen bietet«, sagte Clennam mit leisem, aber eindringlichem Ton. »Kehren Sie zu den Freunden zurück, die Sie nicht vergessen. Bedenken Sie sich!«

»Ich will nicht! Miß Wade«, sagte das Mädchen, und ihr Busen schwoll, während sie beim Sprechen die Hand an ihren Hals legte, »nehmen Sie mich weg.«

»Tattycoram«, sagte Mr. Meagles, »noch einmal. Das einzige, was ich von dir in der Welt verlange, mein Kind: zähle fünfundzwanzig!«

Sie legte ihre Hand fest auf die Ohren, während ihr schönes schwarzes Haar bei der Heftigkeit, mit der sie es tat, verwirrt herabgezerrt wurde, und richtete den Blick entschlossen nach der Wand. Miß Wade, die sie während dieser letzten Aufforderung mit demselben seltsam aufmerksamen Lächeln beobachtet hatte, wie damals in Marseille, als jene in leidenschaftlichem Kampfe mit sich selbst rang, schlang jetzt den Arm um ihre Hüfte, als wollte sie von ihr für alle Zeiten Besitz ergreifen.

Es lag ein sichtbarer Triumph in ihrem Gesicht, als sie es den Fremden zuwandte, um sich zu verabschieden.

»Da es das letztemal ist, daß ich diese Ehre habe«, sagte sie, »und da Sie davon gesprochen haben, daß Sie nicht wissen, wer ich sei, und woher mein Einfluß bei diesem Mädchen stamme, so mögen Sie denn wissen, daß er sich auf eine gemeinschaftliche Ursache gründet. Was Ihr zerbrochenes Spielzeug in bezug auf Geburt ist, bin auch ich. Sie hat keinen Namen, ich habe keinen Namen. Ihre Unbill ist meine Unbill. Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen.«

Diese Worte waren an Mr. Meagles gerichtet, der traurig wegging. Als Clennam ihm folgte, sagte sie mit derselben äußerlichen Fassung und demselben gemessenen Ton, aber mit einem Lächeln, das man nur auf grausamen Gesichtern sieht: einem sehr schwachen Lächeln, das die Nasenflügel hebt, die Lippen kaum berührt und nicht langsam sich verliert, sondern augenblicklich wieder aufhört, sobald es seinen Zweck erfüllt:

»Ich hoffe, die Frau Ihres lieben Freundes, Mr. Gowan, wird in dem Kontrast, in dem ihre vornehme Abkunft zu der dieses Mädchens und der meinen steht, sowie in dem großen Glück, das sie erwartet, sich wirklich glücklich fühlen.«