40. Kapitel

Häusliche und Staats-Angelegenheiten

England ist seit einigen Wochen in einer schrecklichen Lage gewesen. Lord Coodle wollte demissionieren, Sir Thomas Doodle das Portefeuille nicht annehmen, und da in ganz Großbritannien außer Coodle und Doodle niemand nennenswerter war, gab es keine Regierung! Es war ein Segen des Himmels, daß aus dem eine Zeitlang unvermeidlich scheinenden Duell zwischen den beiden großen Männern nichts wurde. Angenommen, Coodle und Doodle hätten einander totgeschossen: England wäre ohne Regierung dagestanden und hätte warten müssen, bis der junge Coodle und der junge Doodle, die zur Zeit noch in Röckchen gingen, groß geworden wären. Dies unabsehbare Nationalunglück wurde Gott sei Dank dadurch abgewendet, daß Lord Coodle rechtzeitig entdeckte, daß, wenn er auch in der Hitze der Debatte behauptet habe, er verabscheue und verachte die ganze ehrlose Laufbahn Sir Thomas Doodles, er nur habe sagen wollen, daß ihn Parteistreitigkeiten nie verleiten würden, seinem Gegner den Tribut in offizieller wärmster Bewunderung vorzuenthalten. Ebenso rechtzeitig entdeckte man auf der andern Seite, daß Sir Thomas Doodle innerlich Lord Coodle für ein mustergültiges Beispiel von Mannesmut und Ehrenhaftigkeit halte.

Aber trotz alledem ist England doch einige Wochen lang von dem schrecklichen Verhängnis betroffen gewesen, keinen Lotsen zu haben, »um dem Sturme zu trotzen«, wie Sir Leicester Dedlock so schön zu bemerken pflegt. Das Wunderbare an der Sache ist nur, daß sich England darum gar nicht besonders gekümmert zu haben schien, denn es hat gegessen und getrunken und geheiratet wie die alte Welt in den Tagen vor der Sintflut. Aber Coodle erkannte die Gefahr, und Doodle desgleichen, und alle ihre Parteigenossen und Wähler erkannten die Gefahr auf das allerdeutlichste. Endlich hat sich Sir Thomas Doodle nicht nur herabgelassen, in das Ministerium einzutreten, sondern sich dabei sehr nobel benommen und alle seine Neffen, seine Vettern und seine Schwäger mitgebracht. So ist also wieder Hoffnung für das alte Schiff.

Doodle hat gefunden, daß er an das Land appellieren muß, besonders mit Sovereigns und Bier. Da Britannia sehr darauf brennt, Kandidat Doodle, fleischgeworden, in der Gestalt von Sovereigns in die Tasche zu stecken und ihn, geistgeworden, in Form von Bier hinunterzuschlucken und dabei falsch zu schwören, sie tue keines von beiden – offenbar zur Vermehrung ihres Ruhms und ihrer Moralität –, so nimmt die Londoner Saison ein plötzliches Ende, und alle Doodlianer und Coodlianer zerstreuen sich über ganz England, um Britannia bei diesen religiösen Feierlichkeiten zu unterstützen.

Daher sieht Mrs. Rouncewell, trotzdem sie noch keine Instruktionen empfangen hat, genau voraus, daß die Familie, begleitet von einem großen Schwarm von Vettern und andern Leuten, die in irgendeiner Weise bei dem großen politischen Werk mithelfen können, in Bälde zu erwarten ist. So nimmt die stattliche alte Dame die Zeit beim Schopf, geht die Treppen auf und ab, die Korridore und Treppen entlang, durch die Zimmer und Säle, um ohne Verzug und eignen Auges sich zu überzeugen, ob die Parkette gewichst sind, Teppiche gelegt, Vorhänge ausgeschüttelt, Betten geklopft und glatt gestrichen, Vorratskammer und Küche aufgeräumt ist und jedes Ding so hergerichtet, wie es das Ansehen der Dedlocks erfordert.

Als an diesem Sommerabend die Sonne untergeht, ist bereits alles fix und fertig. Öde und feierlich sieht das alte Haus aus, so wohnlich hergerichtet und noch von niemandem bewohnt, mit Ausnahme der gemalten Gestalten an den Wänden.

»So wie ich sind auch die andern gekommen und gegangen«, hätte der jeweilig herrschende Dedlock sagen können, als er durch die Zimmer schritt. »So sahen sie diese Galerie, trüb und verlassen, wie ich sie jetzt sehe. So wie ich jetzt, dachten sie an die Lücke, die ihr Scheiden einst in diesem Reiche verursachen würde. So wie mir jetzt wurde ihnen zu glauben schwer, daß es ohne sie bestehen könnte. Sie verließen meine Welt, wie ich jetzt die ihre verlasse, wenn ich die Tür dumpfhallend ins Schloß werfe.«

Durch einige der unverhangnen, im Sonnenuntergang glühenden Fenster in dem Hause, das in dieser Stunde nicht mehr aus dunklem grauem Stein, sondern aus glitzerndem Gold zu bestehen scheint, strömt das Licht herein, voll, reich, im Überfluß, wie alles im Sommer auf dem Lande. Jetzt tauen die gefrornen Dedlocks auf. Ein seltsames Leben tritt auf ihre Züge, wie die Schatten der Blätter darauf spielen. Ein ernster Richter in einer Ecke läßt sich zu einem Augenzwinkern verführen. Ein glotzäugiger Baronet mit einem Feldherrnstab bekommt ein Grübchen in der Wange. In den Busen einer steinharten Schäferin stiehlt sich ein Strahl Licht und Wärme, der ihr schon vor hundert Jahren gut getan haben würde. Eine Ahne Volumnias auf hohen Absätzen und ihr sehr ähnlich – sie wirft den Schatten ihres jungfräulichen Daseins volle zwei Jahrhunderte voraus – verschmilzt in einen Glorienschein und wird zu einer Heiligen. Eine Hofdame Karls II. mit runden Augen und andern dazu passenden Reizen scheint sich in einer leuchtenden, sich kräuselnden Wasserflut zu baden.

Aber bald erstirbt die Flammenpracht der Sonne. Schon ist der Fußboden dunkel, und Schatten steigen langsam die Wände hinauf und suchen die Dedlocks heim wie Alter und Tod. Jetzt fällt auf das Bild von Mylady über dem großen Kamin ein unheimlicher Schatten von einem alten Baum, der ihm die Farben raubt und es aufgeregt aussehen macht. Wie ein großer Arm scheint es eine dunkle Decke in die Höhe zu halten, auf eine Gelegenheit wartend, sie ihr über das Haupt zu werfen. Höher und dunkler kriecht der Schatten die Wand hinauf, läßt nur noch eine Weile an der Decke eine rote Glut, und dann ist die Flamme ganz erloschen.

Die Landschaft, die von der Terrasse so nahe aussah, hat sich feierlich in die Ferne zurückgezogen und ist zu einem unerreichbaren Phantom geworden wie so manches, das anfangs so nahe aussieht und dann weit, weit weg liegt. Leichte Nebel erheben sich, der Tau fällt, und die Düfte des Gartens hängen in der Luft. Die Wälder werden zu einer dichten Masse – wie zu einem einzelnen, riesenhaften Baum. Und jetzt steigt der Mond empor, um sie wieder aufzulösen und da und dort schimmernde Streifen hinter ihren Stämmen hervorzuwerfen und die Allee zu einem Pfade des Lichts und einer hohen phantastisch geformten Kathedrale zu machen.

Jetzt steht er hoch am Himmel, und das große Haus gleicht einem Körper ohne Leben. Man kann nur mit Bangen, wenn man sich durch die Korridore stiehlt, an die Lebendigen denken, die in den einsamen Schlafzimmern gelegen haben. Von den Toten ganz zu schweigen. Das ist die Stunde für das wachsende Dunkel, wo jeder Winkel eine kleine Höhle ist und jede Stufe eine Fußangel, wo sich die gemalten Glasscheiben mit blassen Farben auf dem Fußboden widerspiegeln und man in den schweren Balken der Decke alles sehen kann, nur ihre wirkliche Form nicht. Auf den Rüstungen blinken trübe Lichter, die es einem scheinen machen, als herrsche hier eine leise, kaum merkliche, gespenstische Beweglichkeit, und beim Anblick der Helme mit den herabgelassenen Visieren muß man voll Grauen an Köpfe denken, die darin stecken könnten.

Aber von allen Schatten in Chesney Wold fällt der Schatten in dem großen Salon auf Myladys Bild zuerst und verschwindet zuletzt. Um diese Stunde und bei diesem Lichtschein wird er zu dräuend erhobenen Händen, die dem schönen Antlitz nahendes Unheil künden bei jedem Hauch, der sich regt.

»Sie ist unpäßlich, Maam«, sagt ein Stallknecht in Mrs. Rouncewells Sprechzimmer.

»Mylady unpäßlich? Was fehlt ihr?«

»Nun, ich meine, sie hat sich schon, als sie zuletzt hier war, nicht besonders wohl befunden… Ich meine nicht, wie sie mit der Familie hier war, Maam, sondern wie sie durchkam wie ein Zugvogel. Mylady ist gegen sonst nicht viel ausgewesen und hat hübsch lange ihr Zimmer gehütet.«

»Chesney Wold«, entgegnet die Haushälterin mit Stolz und Befriedigung, »wird Mylady bald wieder zu Kräften bringen, Thomas. Es gibt keine schönere Luft und keinen gesünderen Ort auf der ganzen Welt.«

Thomas mag so seine besondere Meinung darüber haben, deutet sie vielleicht dadurch an, wie er sich seinen runden Kopf vom Nacken nach den Schläfen zu streichelt, aber er hütet sich, noch mehr zu sagen, und zieht sich in das Bedientenzimmer zurück, um sich an kalter Fleischpastete und Ale gütlich zu tun.

Dieser Stallknecht ist der Lotsenfisch, der vor dem edlen Hai einherschwimmt. Morgen abend kommen Sir Leicester und Mylady mit ihrem ganzen Troß und Gefolge. Es kommen die Vettern und Basen aus allen Strichen der Windrose. Von jetzt an, manche Woche, eilen geheimnisvolle Personen ohne Namen hin und her und fliegen in allen Orten des Landes herum, wo sich Doodle gerade in einem Gold- oder Bierregen zeigt, aber sie sind weiter nichts als Leute von ruhelosem Charakter, die nirgends etwas Besonderes zu tun haben.

Bei solchen nationalen Veranlassungen findet Sir Leicester die Vettern ganz nützlich. Einen bessern Jagdgesellschafter bei Tisch als Bob Stahles, Hochwohlgeboren, kann es in der Welt nicht geben. Besser angezogne Herren als die andern Vettern, um da und dort mit ihnen zu den Wahlbühnen zu reisen, um sich an Englands rechter Seite zu zeigen, würden schwer zu finden sein. Volumnia ist zwar ein bißchen verblaßt, aber von direkter Abstammung, und es gibt viele, die ihre sprühende Unterhaltung, ihre französischen Wortspiele, die so alt sind, daß sie fast schon wieder neu sind, und die Ehre, eine Dedlock zu Tisch führen zu dürfen, und gar erst das Privilegium, mit ihr zu tanzen, sehr zu würdigen wissen. Bei solchen nationalen Veranlassungen kann das Tanzen geradezu zu einer patriotischen Pflicht werden, und ununterbrochen kann man Volumnia herumhopsen sehen zum Besten eines undankbaren und pensionskargen Vaterlandes.

Mylady gibt sich nicht viel Mühe, die zahlreiche Schar der Gäste in Chesney Wold zu unterhalten, und da sie immer noch unpäßlich ist, erscheint sie auch selten früh. Aber bei all den melancholischen Diners, den bleiernen Frühstücken, den basiliskenhaften Bällen und andern trübseligen Festlichkeiten ist ihre bloße Erscheinung schon ein Trost. Was Sir Leicester betrifft, so hält er es für ganz und gar unmöglich, daß sich irgend jemand, der das große Glück hat, in diesem Haus empfangen zu werden, noch unbehaglich fühlen könne. Und er bewegt sich in einem Zustand sublimer Selbstzufriedenheit in der Gesellschaft umher wie eine großartige Kühlmaschine.

Täglich traben die Vettern durch den Staub und galoppieren über den Rasen an der Landstraße zu den Wahlbühnen hinüber – mit dänischen Handschuhen und Hetzpeitschen für die Grafschaften und Glacehandschuhen und Reitstöcken für die Landstädte –, und täglich bringen sie Berichte zurück, über die dann Sir Leicester nach dem Essen Reden hält. Täglich täuschen diese unruhigen Menschen, die im Leben nichts zu tun haben, vor, viel beschäftigt zu sein. Täglich plaudert Kusine Volumnia vertraulich über die Lage der Nation, woraus Sir Leicester zu schließen geneigt ist, daß Volumnia eine weitblickendere Frau ist, als er geglaubt hätte.

»Wie steht es mit uns?« fragt Miß Volumnia und klatscht in die Hände. »Sind wir sicher?«

– Das gewaltige Geschäft nähert sich nämlich jetzt seinem Ende, und Doodle wird in wenigen Tagen aufhören, an das Land zu appellieren. Sir Leicester ist nach dem Diner soeben in den großen Salon getreten. Ein heller Stern ersten Ranges, von Wolken von Vettern umgeben. –

»Volumnia«, entgegnet Sir Leicester, der ein Verzeichnis in der Hand hat. »Es steht ganz leidlich.«

»O, nur leidlich!«

Obgleich es warmes Sommerwetter ist, läßt sich Sir Leicester doch stets abends seinen eignen Kamin heizen. Er nimmt seinen gewohnten durch einen Ofenschirm geschützten Platz nicht weit davon ein und wiederholt mit großer Bestimmtheit, wenn auch ein wenig unzufrieden, als wolle er sagen, ich bin doch kein gewöhnlicher Mensch, und wenn ich das Wort »leidlich« gebrauche, so darf man das nicht für einen gewöhnlichen Ausdruck auffassen:

»Volumnia, es geht leidlich.«

»Wenigstens haben Sie keine Opposition?« klopft Volumnia zuversichtlich auf den Busch.

»Nein, Volumnia. Unser schwergeprüftes Land hat in mancher Hinsicht den Verstand verloren, muß ich leider sagen, aber ganz von Sinnen ist es denn doch noch nicht.«

»Es freut mich, das zu hören.«

Die letzten Worte Volumnias setzen sie wieder in Gunst bei Sir Leicester. Er neigt gnädig das Haupt und scheint damit sagen zu wollen: Im großen ganzen ein recht verständiges Frauenzimmer, wenn auch mitunter etwas vorlaut.

In der Tat war die Frage der schönen Dedlock nach der Opposition ganz überflüssig, denn wenn Sir Leicester kandidiert, so ist das dasselbe, als wenn er eine Engrosbestellung einschickte, die augenblicklich auszuführen ist. Zwei andre kleine Parlamentssitze, auf die er Anspruch hat, pflegt er als Detailbestellung von geringerer Wichtigkeit zu behandeln, indem er bloß seine Leute hinschickt und den Wählern zu verstehen gibt wie Schneidern: Machen Sie mir aus diesem Stoff zwei Parlamentsmitglieder und schicken Sie sie mir zu, wenn sie fertig sind.

»Ich bedaure, konstatieren zu müssen, Volumnia, daß an vielen Orten das Volk eine schlechte Gesinnung bewiesen hat und die Opposition gegen die Regimentspartei auf das entschiedenste und unversöhnlichste aufgetreten ist.«

»Schurrrken«, sagt Volumnia.

»Selbst«, fährt Sir Leicester mit einem Blick auf die ringsum auf Sofas und Ottomanen verstreuten Vettern fort, »selbst in vielen – das heißt, in den meisten – der Wahldistrikte, wo das Ministerium gegen eine Faktion durchgedrungen ist…«

– Die Coodlianer sind nämlich in den Augen der Doodlianer stets eine Faktion, und umgekehrt. –

«… selbst in solchen Distrikten – zur Schande Englands sei es gesagt – hat die Partei nicht ohne enorme Unkosten gesiegt. Hundert, äh«, sagt Sir Leicester und sieht die Wände mit steigendem Selbstgefühl und wachsender Entrüstung an, »Hunderttausende von Pfunden!«

– Wenn Volumnia einen Fehler hat, so ist es der, ein klein wenig unschuldig zu sein. Es würde recht gut zu einer hellblauen Schärpe und einem Schürzchen passen, harmoniert aber nicht besonders mit der Schminke und dem Perlenhalsband. –

In einem solchen Unschuldsanfall fragt sie jetzt:

»Wofür?«

»Volumnia!!« mahnt Sir Leicester mit äußerster Strenge. »Volumnia!«

»Nein, nein, ich meine nicht, wofür«, verbessert sich Volumnia mit ihrem kleinen Lieblingsschrei. »Wie gedankenlos von mir. Ich meine, wie schade!«

»Es freut mich, daß Sie meinen, wie schade«, entgegnet Sir Leicester.

Volumnia beeilt sich, die Meinung auszusprechen, das abscheuliche Volk solle wegen Landesverrats vor Gericht gestellt und direkt gezwungen werden, die Partei zu unterstützen.

»Es freut mich, Volumnia«, wiederholt Sir Leicester, ohne ihre Beschwichtigungsäußerungen zu beachten, »es freut mich, daß Sie meinen, wie schade. Es ist eine Schande für die Wähler. Aber da Sie, wenn auch unabsichtlich, mich fragten, wofür, so möchte ich Ihnen darauf antworten: Zu notwendigen Ausgaben! Ich traue Ihrem richtigen Gefühl zu, Volumnia, daß Sie hier wie anderswo dieses Thema nicht weiter verfolgen werden.«

Sir Leicester hält es für seine Pflicht, Volumnia gegenüber eine zermalmende Miene aufzusetzen, geht doch sowieso schon das Gerücht, solche notwendigen Ausgaben in etwa zweihundert Wahldistrikten könnten gar leicht mit dem Wort Bestechung in Einklang gebracht werden. Ein paar freche Witzbolde haben bereits vor einiger Zeit den Rat gegeben, aus dem Kirchengebet die das Parlament betreffende Stelle wegzulassen und statt dessen eine Bitte um Genesung für sechshundertachtundfünfzig notleidende Herren einzuschalten.

»Ich vermute«, bemerkt Volumnia, nachdem sie eine Weile gebraucht hat, um sich von der letzten Zurechtweisung wieder zu erholen, »ich vermute, daß Mr. Tulkinghorn sich zu Tode gearbeitet hat.«

»Ich wüßte nicht«, sagt Sir Leicester mit erstaunten Augen, »warum. Mr. Tulkinghorn hat mit den Wahlen nichts zu schaffen. Er ist nicht Kandidat.«

Volumnia hatte geglaubt, er habe vielleicht irgend etwas dabei zu tun und sei von irgend jemandem beschäftigt. Sir Leicester scheint wissen zu wollen, von wem und wozu. Abermals beschämt, meint Volumnia: »Nun, von irgend jemandem, um Rat zu erteilen und Arrangements zu treffen.« Sir Leicester wüßte nicht, welcher Klient von Mr. Tulkinghorn darin irgendeines Beistandes bedürft hätte.

Lady Dedlock, die an einem offnen Fenster sitzt, den Arm auf das Polster gelegt und auf die den Park einhüllenden Abendschatten hinaussehend, scheint bei Nennung des Namens aufmerksam zu werden.

Ein entfernter Vetter mit einem Schnurrbart und von äußerst hinfälligem Aussehen lispelt von seinem Ruhebett aus, jemand habe gestern gesagt, Mr. Tulkinghorn sei nach Eisenhütten jereist, um wejen irjendwas ’n Rechtsjutachten, äh, erteilen, äh, und daß es recht hübsch wäre, wenn heute, wo Wahl vorüber, Tulkinghorn mit Nachricht käme, äh, Gegner von Coodle unterlegen.

Einen Augenblick später teilt der den Kaffee servierende Merkur Sir Leicester mit, daß Mr. Tulkinghorn angekommen sei und soeben diniere. Mylady wendet einen Augenblick das Gesicht ins Zimmer und sieht dann wieder hinaus wie vorher.

Volumnia ist entzückt, zu hören, daß ihr Herzblatt angekommen ist. »Er ist so originell, ein so närrischer Kauz, der alles mögliche weiß und nichts verrät!« Volumnia ist überzeugt, daß er Freimaurer ist, wahrscheinlich Meister vom Stuhl, kleine Schürzchen trägt und sich mit Kerzen und Kellen zu einem wahren Götzenbild herausstaffiert.

Diese geistreichen Bemerkungen äußert die schöne Dedlock in jugendlicher Naivität und häkelt dabei an einer Börse.

»Seit meiner Ankunft ist er nicht ein einziges Mal hier gewesen«, setzt sie hinzu. »Ich dachte schon, seine Unbeständigkeit würde mir das Herz brechen. Ich machte mich schon fast damit vertraut, er wäre tot.«

»Mr. Tulkinghorn«, sagt Sir Leicester, »ist hier immer willkommen – und immer diskret, wo er sich auch befindet. Ein wirklich wertvoller Mensch und verdientermaßen geachtet.«

Der hinfällig aussehende Vetter vermutet, daß er ein scheußlich bejüterter Jeselle sei.

»Ich bezweifle nicht, daß ihn materielle Interessen an die Sache des Landes fesseln. Er wird selbstverständlich ausgezeichnet bezahlt und verkehrt mit der vornehmsten Gesellschaft fast wie gleichberechtigt.«

Plötzlich fahren alle auf. Dicht vor den Fenstern ist ein Schuß gefallen.

»O Gott, was ist das!« schreit Volumnia mit ihrem dünnen verwelkten Kreischen.

»Eine Ratte«, sagt Mylady. »Sie haben sie totgeschossen.«

Mr. Tulkinghorn tritt ein, gefolgt von einigen Merkuren mit Lampen und Lichtern.

»Nein, nein, noch kein Licht«, sagt Sir Leicester. »Ich glaube wenigstens. Ist Mylady die Dämmerstunde unangenehm?«

Im Gegenteil, Mylady hat sie gern.

»Und Ihnen, Volumnia?«

O, nichts erscheint Volumnia so köstlich, als im Dunkeln zu sitzen und zu plaudern.

»Tragen Sie alles wieder hinaus«, befiehlt Sir Leicester. »Tulkinghorn, ich bitte um Verzeihung. Wie geht es Ihnen?«

Mr. Tulkinghorn ist mit seiner gewohnten gemessenen Ruhe eingetreten, hat im Vorübergehen Mylady seine Huldigung dargebracht, schüttelt Sir Leicester jetzt die Hand und setzt sich in einen Stuhl an der andern Seite des kleinen Zeitungstisches, der neben dem Baronet steht. Sir Leicester fürchtet, Mylady könne sich, da sie sich noch nicht ganz wohl befinde, an dem offnen Fenster erkälten. Mylady dankt ihm, möchte aber der frischen Luft wegen lieber dort sitzen bleiben. Sir Leicester steht auf, richtet ihr den Umhang zurecht und kehrt auf seinen Platz zurück. Mr. Tulkinghorn hat unterdessen eine Prise genommen.

»Nun«, fragt Sir Leicester, »wie ist die Wahl verlaufen?«

»Ach, faul von Anfang an. Aussichtslos. Sie haben ihre beiden Kandidaten durchgebracht. Sie sind aussichtslos geschlagen. Drei zu eins!«

Es liegt in Mr. Tulkinghorns System, nie Meinungen zu haben, geschweige denn gar politische. Deshalb sagt er: »Sie« sind geschlagen, und nicht: »Wir«.

Sir Leicesters Zorn ist majestätisch. Volumnia traut ihren Ohren nicht. Der hinfällig aussehende Vetter ist der Meinung, daß so etwas stets jeschehen müsse, solange Pöbel, äh, Stimmrecht.

»Es ist der Distrikt, Sie wissen, wo man Mrs. Rouncewells Sohn als Kandidaten aufstellen wollte«, erklärt Mr. Tulkinghorn, als die andern wieder schweigen.

– Die Dunkelheit nimmt rasch zu. –

»Ein Vorschlag, den zurückzuweisen er Takt und Schicklichkeitsgefühl genug hatte, wie Sie damals ganz richtig sagten«, bemerkt Sir Leicester. »Ich kann nicht sagen, daß ich die Meinungen, die Mr. Rouncewell einmal während eines halbstündigen Besuches hier aussprach, irgendwie billige, aber in seinem Vorgehen bewies er ein Schicklichkeitsgefühl, das ich gern anerkenne.«

»Na!« sagt Mr. Tulkinghorn. »Es hielt ihn aber doch nicht ab, bei der Wahl sehr tätig einzugreifen.«

Sir Leicester schnappt deutlich nach Luft. Er kann kaum Worte finden.

»Verstehe ich Sie recht? Sagten Sie, Mr. Rouncewell habe bei der Wahl tätig eingegriffen?«

»Ungemein tätig.«

»Gegen…«

»Natürlich gegen Sie! Er ist ein vorzüglicher Redner. Er spricht einfach und mit Nachdruck, Seine Rede wirkte vernichtend, und er hat großen Einfluß. In der Auseinandersetzung des geschäftlichen Teils der Sache schlug er alle aus dem Felde.«

Die ganze Gesellschaft weiß genau, wenn sie es auch nicht sehen kann, daß Sir Leicester flammende Augen macht.

»Und sein Sohn leistete ihm vielen Beistand«, setzt Mr. Tulkinghorn als Schlußeffekt hinzu.

»Sein Sohn, Sir?« wiederholt Sir Leicester mit Bangen erregender Höflichkeit.

»Sein Sohn.«

»Der Sohn, der Myladys Kammerjungfer heiraten wollte?«

»Derselbe. Er hat bloß einen.«

»Dann, auf Ehre«, sagt Sir Leicester nach einer beängstigenden Pause, während der man ihn schnauben hörte, »dann, auf Ehre, bei meinem Leben, bei meinem Ruf, bei meinen Grundsätzen, dann sind wirklich die Dämme der Gesellschaft gebrochen, und die Wogen haben – uff – den Fuß des Gerüstes, das die Welt zusammenhält, unterspült.«

Allgemeiner Entrüstungsausbruch bei den Vettern. Volumnia meint, es sei denn doch wahrhaftig höchste Zeit, daß jemand, der die Gewalt in der Hand habe, eingreife und etwas Entscheidendes tue. Der hinfällig aussehende Vetter meint –, Vaterland, jehe, zum Deubel – mit Flachrennenjeschwindichkeit.

»Nur kein Kommentar gefälligst«, verbittet sich Sir Leicester noch ganz atemlos. »Nur kein weiterer Kommentar über diesen Vorfall! Kommentar ist überflüssig. Mylady, erlauben Sie mir, in bezug auf die Kammerjungfer zu sagen…«

»Ich beabsichtige nicht, mich von ihr zu trennen«, kommt ihm Mylady von ihrem Fenster her in leisem, aber entschiednem Ton zuvor.

»Das wollte ich nicht sagen«, entschuldigt sich Sir Leicester. »Im Gegenteil, es freut mich, das zu hören. Ich meinte nur, Sie sollten Ihren Einfluß auf das Mädchen geltend machen, um so mehr, als Sie es Ihrer Gunst für wert halten, Ihren Einfluß darauf wenden, sie nicht in so gefährliche Hände fallen zu lassen… Sie könnten ihr vor Augen führen, wie man in solcher Umgebung ihren Pflichten und Prinzipien Gewalt antun würde, und sie für ein besseres Schicksal aufsparen. Sie könnten ihr vielleicht Winke geben, daß sie wahrscheinlich auch in Chesney Wold einen Gatten finden würde, einen Gatten, der sie nicht…« – fügt Sir Leicester nach einem Augenblick Besinnen hinzu – »von den Altären ihrer Ahnen wegreißen würde.«

Diese Bemerkungen bringt er mit der stets sich gleichbleibenden Höflichkeit und Ehrerbietung vor, die er an den Tag legt, wenn er mit seiner Gemahlin redet. Sie neigt als Antwort nur den Kopf. Der Mond geht auf, und wo sie sitzt, fällt ein schmaler Streifen kaltes bleiches Licht herein auf ihr Gesicht.

»Es ist vielleicht erwähnenswert«, mischt sich Mr. Tulkinghorn ein, »daß diese Leute in ihrer Art sehr stolz sind.«

»Stolz!?« Sir Leicester glaubt sich verhört zu haben.

»Es sollte mich nicht wundern, wenn sie alle freiwillig das Mädchen aufgeben würden – ja, der Bräutigam und alle übrigen, anstatt umgekehrt –, vorausgesetzt, daß das Mädchen unter solchen Umständen überhaupt in Chesney Wold bliebe.«

»Nun«, sagt Sir Leicester mit zitternder Stimme. »Nun! Sie müssen es wissen, Mr. Tulkinghorn. Sie haben sich unter ihnen bewegt.«

»Ja, ja, Sir Leicester, ich spreche nur von Tatsachen«, entgegnet der Advokat. »Ich könnte Ihnen sogar darüber eine Geschichte erzählen –, wenn es Lady Dedlock erlaubt.«

– Mit einer Neigung ihres Kopfes erteilt sie die Bewilligung, und Volumnia ist entzückt. Eine Geschichte! O, endlich will er etwas erzählen! Ein Gespenst wird darin vorkommen, hofft Volumnia. –

»Nein, nur Fleisch und Bein.« Mr. Tulkinghorn hält einen Augenblick inne und wiederholt mit etwas mehr Nachdruck, als er sonst anzuwenden pflegt: »Wirklichkeit, Fleisch und Bein, Miß Dedlock! – Sir Leicester, ich habe erst vor kurzem die Einzelheiten erfahren. Es ist in wenig Worten erzählt. Die Geschichte ist eine Erläuterung zu dem, was ich eben sagte. Ich verschweige für jetzt die Namen. Lady Dedlock wird mich deshalb nicht der Unhöflichkeit zeihen, hoffe ich.«

– Beim Schimmer des Feuers, das nur schwach brennt, kann man ihn nach dem Mondlichtstreif blicken sehen. Vollkommen ruhig sitzt Lady Dedlock dort. –

»Ein Mitbürger dieses Mr. Rouncewell, ein Mann in ebensolchen Verhältnissen wie er, wie ich hörte, hatte das Glück, eine Tochter zu besitzen, die die Beachtung einer vornehmen Dame auf sich zog.

Ich spreche von einer wirklich vornehmen Dame, nicht bloß vornehm in seinen Augen, sondern vermählt mit einem Gentleman Ihres Standes, Sir Leicester.«

Sir Leicester sagt herablassend: »Ich verstehe, Mr. Tulkinghorn«, und deutet damit an, wie groß erst die Dame in den Augen eines Hüttenbesitzers erscheinen müßte.

»Die Dame war reich und schön, hatte eine Vorliebe für das Mädchen, behandelte es mit großer Güte und ließ es nicht von ihrer Seite. Nun behütete diese Dame trotz ihrer hohen Stellung ein Geheimnis seit vielen Jahren. Sie war nämlich in früher Jugend mit einem jungen Roué verlobt gewesen, einem Kapitän in der Armee, der jeden, der sich mit ihm einließ, ins Unglück brachte. Sie war nie mit ihm verheiratet, aber sie gebar ein Kind, dessen Vater er war.«

– Beim Schein des Feuers kann man Mr. Tulkinghorn nach dem Mondlichtstreifen blicken sehen. Das Profil Lady Dedlocks ist regungslos wie aus Stein gehauen. –

»Als der Kapitän gestorben war, hielt sie sich für sicher. Aber eine Verkettung von Umständen, mit denen ich Sie nicht zu behelligen brauche, führte eine Entdeckung herbei. Sie soll mit einer Unvorsichtigkeit ihrerseits angefangen haben, als sie sich einmal bei einer überraschten Miene ertappen ließ, und das zeigt wieder, wie schwer es selbst für den Festesten von uns ist – und sie hatte einen sehr festen Charakter –, stets auf der Hut zu sein. Sie können sich denken, welches Entsetzen im Hause herrschte, und sich selbst ausmalen, Sir Leicester, wie groß der Schmerz ihres Gatten war. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Als Mr. Rouncewells Mitbürger von der Entdeckung hörte, duldete er ebensowenig, daß das Mädchen von der Dame weiter patronisiert werde, wie er geduldet hätte, daß man sie vor seinen Augen mit Füßen getreten haben würde. Sein Stolz war so groß, daß er sie entrüstet wegnahm, wie um sie vor der Ansteckung, von Befleckung und Schande zu bewahren. Er hatte kein Verständnis für die Ehre, die ihm und seiner Tochter durch die Herablassung der vornehmen Dame zuteil geworden war. Die Stellung des Mädchens kam ihm entehrend vor, gerade so, als ob die Dame nicht vornehm, sondern eine der allergewöhnlichsten Frauen gewesen wäre. Das ist die Geschichte. Ich hoffe, Lady Dedlock wird ihren peinlichen Charakter entschuldigen.«

Es werden verschiedne Meinungen über die Geschichte laut, die alle mehr oder weniger von Volumnias Ansicht abweichen. Diese schöne Jungfrau kann nämlich durchaus nicht glauben, daß es jemals eine solche Dame gegeben haben könne, und verweist von vornherein die ganze Geschichte in das Gebiet der Fabel. Die Majorität schließt sich dem Urteil des hinfällig aussehenden Vetters an, das in wenigen Worten abgetan ist: »Jeht lediglich blödsinnigen Mitbürger Rouncewells an.« Sir Leicester denkt im stillen an Wat Tyler bösen Angedenkens und malt sich aus, wie alles sein müßte, wenn es nach ihm ginge.

Die Unterhaltung stockt, denn man ist in Chesney Wold schon seit einiger Zeit lang aufgeblieben.

Es ist zehn Uhr vorüber, als Sir Leicester Mr. Tulkinghorn bittet, um Kerzen zu klingeln. Der Streifen Mondlicht ist inzwischen zu einem See angeschwollen, und Lady Dedlock reckt sich jetzt zum erstenmal. Sie steht auf und tritt an einen Tisch, um ein Glas Wasser zu trinken. Blinzelnde Vettern, im Kerzenschein wie Fledermäuse anzusehen, drängen sich um sie, um es ihr zu reichen. Volumnia, stets bereit, etwas zu nehmen – um so lieber, je wertvoller es ist –, nimmt ebenfalls ein Glas Wasser und nippt daran. Lady Dedlock, anmutig und vollkommen gefaßt, geht, von bewundernden Augen verfolgt, ruhevoll die lange Treppenflucht mit der lieblichen Nymphe, die sich im Gegensatz zu ihr keineswegs schöner ausnimmt als allein, hinab.