59. Kapitel


59. Kapitel

Esthers Erzählung

Es war drei Uhr morgens, als die ersten Häuser vor London aus dem Nebel tauchten und uns mit ihren Straßen einzuschließen begannen. Wir hatten auf viel schlechteren Wegen, als wir bei Tage angetroffen, reisen müssen, denn unablässig hatten Schneefall und das Tauwetter fortgedauert. Trotz alledem war die Energie meines Begleiters keinen Augenblick erlahmt. Es kam mir vor, als hätte sie mehr dazu beigetragen als die Anstrengung der Pferde, uns vorwärts zu bringen. Oft waren sie erschöpft auf halbem Weg bergauf stehen geblieben; sie wurden durch reißende Regenbäche gepeitscht, waren gestürzt und hatten sich in das Geschirr verwickelt, aber jedes Mal stand er mit seiner kleinen Laterne bereit, und kaum war dem Unglück abgeholfen, ertönte sein ruhiges, stereotypes »Los, Kutscher!«

Die Ruhe und das Selbstvertrauen, mit der er unsre Rückreise leitete, konnte ich mir nicht erklären. Er schwankte keinen Augenblick und ließ nie halt machen, um sich etwa zu erkundigen, bis wir bloß noch wenige Meilen von London entfernt waren; und auch da genügten ihm ein paar kurze Worte hie und da, und so erreichten wir bereits zwischen drei und vier Uhr früh Islington.

Ich will jetzt nicht von der Spannung und der Angst sprechen, die mich die ganze Zeit über in Atem hielt, wenn ich bedachte, daß wir uns mit jeder Minute weiter von meiner Mutter entfernten. Ich glaube, nur die Hoffnung hielt mich aufrecht, daß er recht haben müsse und wisse, was er tue, wenn er der andern folge; aber Zweifel quälten mich die ganze Fahrt über, und allerhand wirre Gedanken erfüllten mein Hirn. Was werden sollte, wenn wir sie fänden, und was es sein müßte, das uns für diesen Zeitverlust entschädigen könnte, waren ebenfalls Fragen, die sich mir immer und immer wieder aufdrängten, und mein Geist war durch das ewige Verweilen bei solchen quälenden Gedanken fast am Ende seiner Kräfte angelangt, als endlich der Wagen hielt.

Wir hatten in einer Hauptstraße halt gemacht, wo sich ein Fiakerstand befand. Mein Gefährte bezahlte unsre beiden Postillone, die so vollständig mit Kot bedeckt waren, als wären sie wie der Wagen selbst durch dick und dünn geschleppt worden, und nachdem er ihnen rasch erklärt, wohin sie das Fuhrwerk bringen sollten, hob er mich heraus und in einen Fiaker, den er mit Kennerblick unter den übrigen ausgesucht hatte.

»Aber, meine Liebe«, sagte er, während er mir half, »wie durchnäßt Sie sind.«

Ich hatte es gar nicht gefühlt. Der tauende Schnee war in den Wagen eingedrungen und ich überdies ein paar Mal ausgestiegen, wenn ein gestürztes Pferd losgeschirrt und wieder aufgerichtet werden mußte, und das hatte meine Kleider ganz und gar durchnäßt. Ich versicherte ihm, es habe weiter nichts auf sich; aber der Kutscher, der ihn kannte, ließ es sich nicht nehmen, die Straße hinab nach seinem Stall zu laufen, von wo er rasch mit einem Arm voll reinen, trocknen Strohs zurückkehrte.

Sie schütteten es im Wagen aus, hüllten meine Füße hinein, und bald wurde mir wieder warm und behaglich.

»Jetzt, meine Liebe«, sagt Mr. Bucket und steckte, bevor er auf den Bock stieg, den Kopf zum Fenster herein, »jetzt werden wir dieser Person Schritt für Schritt folgen. Es kostet vielleicht ein wenig Zeit, aber ängstigen Sie sich deshalb nicht. Sie sind jetzt doch ziemlich überzeugt, daß ich meine Gründe haben muß. Nicht wahr?«

Ich ahnte nicht, was er meinte – ahnte nicht, in wie kurzer Zeit ich ihn besser verstehen würde –, aber ich versicherte ihm, daß ich volles Vertrauen in ihn setze.

»Das können Sie auch, mein Kind. Und ich will Ihnen etwas sagen! Wenn Sie mir nur halb soviel Vertrauen schenken wie ich Ihnen, nach dem, was ich bisher von Ihnen gesehen habe, bin ich ganz zufrieden. Gott! Sie machen einem keine Mühe. Ich habe noch mein Lebtag keine junge Frauensperson in irgendeiner Lebensstellung gesehen – wo ich doch so manche hochgestellte kenne –, die sich so benommen hätte wie Sie, seit ich Sie in der Nacht aus dem Bett geholt habe. Sie sind ein Muster, an dem sich viele cm Beispiel nehmen können«, versicherte er mir mit Wärme. »Wahrhaftig, ja, das sind Sie.«

Ich sagte ihm, ich freute mich von Herzen, ihm nicht hinderlich gewesen zu sein, und ich hoffte, es auch weiterhin nicht zu sein.

»Mein liebes Kind«, entgegnete er, »wenn eine junge Dame ebenso sanft ist wie tapfer und so tapfer wie sanft, so braucht es nicht mehr. Mehr kann man auch von einer Königin nicht verlangen.«

Mit diesen ermutigenden Worten – die mir in dieser sorgenvollen Zeit wirklich ein großer Trost waren – stieg er auf den Bock, und wir fuhren abermals davon. Wohin, wußte ich weder damals, noch weiß ich es heute, aber es schien, als ob wir die engsten und schlechtesten Straßen Londons aufsuchten. Jedes Mal, wenn ich ihn dem Kutscher neue Befehle geben sah, war ich darauf gefaßt, daß wir uns in ein neues Labyrinth verlieren würden; und immer traf meine Voraussetzung ein.

Von Zeit zu Zeit kamen wir auf eine breite Straße heraus oder erreichten ein Gebäude, das größer als die übrigen und hell erleuchtet war. Dann machten wir bei einem Polizeibureau, ähnlich dem ersten, das wir beim Anfang unsrer Reise besucht hatten, halt, und ich sah ihn sich mit andern Beamten beraten. Manchmal stieg er bei einem Torweg oder an einer Straßenecke ab und ließ geheimnisvoll das Licht seiner kleinen Blendlaterne aufblitzen. Das lockte ähnliche Lichter aus verschiedenen dunkeln Winkeln wie Leuchtkäfer hervor, und jedes Mal fand eine neuerliche Beratung statt.

Allmählich schienen sich unsre Nachforschungen auf engere und leichter zu übersehende Grenzen zu beschränken. Einzelne auf Posten stehende Polizeimänner können jetzt Mr. Bucket sagen, was er zu wissen wünschte, und ihm zeigen, wohin er gehen sollte. Endlich machten wir halt, und er hatte mit einem dieser Leute eine ziemlich lange Unterredung, die ihn zufriedenstellen mußte, denn er nickte von Zeit zu Zeit mit dem Kopfe. Als sie fertig waren, kam er mit höchst geschäftsmäßiger und aufmerksamer Miene zu mir.

»Jetzt, Miß Summerson, dürfen Sie nicht erschrecken, was auch geschehen möge. Ich weiß, ich brauche Ihnen keine weiteren Vorsichtsmaßregeln einzuschärfen, als Ihnen zu sagen: Seien Sie auf der Hut, wir haben jetzt die sichere Spur dieser Person. Sie können mir von Nutzen sein, früher, als ich vielleicht selbst glaube. Ich möchte jetzt gern eine Gefälligkeit von Ihnen. Mein Kind, sagen Sie, würden Sie ein Stück zu Fuß gehen?«

Natürlich stieg ich sofort aus und nahm seinen Arm.

»Man glitscht hier leicht aus«, warnte Mr. Bucket, »lassen Sie sich nur schön Zeit.«

Ich sah mich verwirrt und aufgeregt um, als wir über eine Straße gingen, und glaubte mich dunkel an den Platz zu erinnern. »Sind wir in Holborn?« fragte ich.

»Ja. Kennen Sie diese Ecke?«

»Sie sieht fast aus wie Chancery-Lane.«

»Heißt auch so«, sagte Mr. Bucket.

Wir bogen in die Straße ein, und während wir durch den halbaufgetauten Schnee wateten, hörte ich die Turmuhren halb sechs Uhr schlagen. Wir gingen schweigend nebeneinander her und so rasch, wie es bei der Unsicherheit, mit der man Fuß fassen konnte, möglich war, als uns auf dem engen Trottoir jemand, in einen Mantel gehüllt, entgegenkam, still stand und Platz machte, um mich vorbei zu lassen. In demselben Augenblick hörte ich einen Ausruf des Erstaunens und meinen Namen nennen. Ich erkannte Mr. Woodcourts Stimme.

Die Überraschung kam so unerwartet und machte, ich weiß nicht, ob ich es einen peinlichen oder freudigen Eindruck nennen soll, auf mich, nach der fieberhaften Unruhe der Reise und mitten in der Nacht, daß mir unwillkürlich die Tränen in die Augen traten. Es war, als ob ich nach langer Zeit seine Stimme in einem fernen fremden Lande hörte.

»Meine liebe Miß Summerson, Sie in dieser Stunde und bei solchem Wetter auf der Straße?«

Er hatte von meinem Vormund gehört, daß ich in einer höchst ungewöhnlichen und dringlichen Angelegenheit von Hause abgeholt worden war, und sagte mir dies mit ein paar Worten, um mir weitere Erklärungen zu ersparen. Ich erklärte ihm, wir wären eben aus dem Wagen gestiegen und gingen jetzt… Ich mußte meinen Begleiter fragend ansehen.

»Wir wollen gerade in die nächste Straße einbiegen, Mr. Woodcourt. – Inspektor Bucket ist mein Name.«

Ohne meine Einwendungen zu beachten, zog Mr. Woodcourt rasch seinen Mantel aus und hüllte mich ein. »Guter Einfall, das«, meinte Mr. Bucket und half ihm. »Ein sehr guter Einfall.«

»Darf ich Sie begleiten?« fragte Mr. Woodcourt mich oder meinen Begleiter.

»Aber Gott!« rief Mr. Bucket aus, der die Frage auf sich bezog. »Natürlich.«

Das ganze Gespräch nahm nur einen Augenblick in Anspruch, dann nahmen die beiden Herren mich, in den Mantel gehüllt, in die Mitte.

»Ich komme soeben von Richard. Ich habe seit gestern abend zehn Uhr bei ihm gesessen«, erzählte Mr. Woodcourt.

»Um Gottes willen, ist er krank?«

»Nein, nein, seien Sie außer Sorge – krank nicht, nur nicht ganz wohl. Er fühlte sich so niedergedrückt und schwach – Sie wissen, er ist manchmal so angegriffen und matt –, daß Ada mich natürlich holen ließ. Ich fand ein paar Zeilen von ihr zu Hause vor. Richard erholte sich nach so kurzer Zeit, und Ada war so glücklich darüber und so sehr davon überzeugt, daß das meine Bemühungen zustande gebracht hätten, obgleich ich, Gott weiß, wenig genug dazu beitragen konnte, daß ich bei ihm blieb, als er fest eingeschlafen war, und ein paar Stunden bei ihm wachte.«

Wir lenkten unsre Schritte jetzt wieder in eine schmalere Gasse, und Mr. Bucket, der Mr. Woodcourt unterdessen scharf gemustert hatte, sagte: »Unser Weg führt uns jetzt zu einem Papierhändler, einem gewissen Mr. Snagsby. – Was, Sie kennen ihn?« Mit scharfem Blick erfaßte er auf der Stelle, daß Mr. Woodcourt der Name nicht fremd war.

»Ja, ich kenne ihn ein wenig und habe ihn hier besucht.«

»So? Nun, dann sind Sie vielleicht so gut, Sir, und geben hier inzwischen einen Augenblick auf Miß Summerson acht, während ich drin ein paar Worte mit Snagsby spreche?«

Ein Polizeimann, den Mr. Bucket vor einer Weile zu Rate gezogen hatte, stand stumm hinter uns. Ich wurde nicht eher darauf aufmerksam, als bis er sich, auf meine Bemerkung, daß ich jemanden weinen höre, ins Gespräch mischte:

»Ängstigen Sie sich nicht, Miß«, sagte er, »es ist nur Snagsbys Dienstmädchen.«

»Sie müssen wissen«, erklärte Mr. Bucket, »das Mädchen leidet an Krämpfen, und diese Nacht hat sie’s wieder mal sehr arg gepackt. Eine höchst fatale Geschichte gerade heute, ich muß nämlich etwas aus ihr herauskriegen, und das ist nicht leicht, wenn man sie nicht irgendwie zu sich bringt.«

»Jedenfalls wären die drinnen nicht mehr auf, wenn sie nicht das Gefrett mit dem Mädchen hätten, Mr. Bucket«, meinte der Polizeimann. »Es hat sie die ganze Nacht wieder mal toll beim Kragen, Sir.«

»Sie haben recht. – Halt, meine Laterne ist ausgegangen. Borgen Sie mir einen Augenblick ihre.«

Alles das wurde im Flüsterton, ein oder zwei Türen entfernt von dem Hause, gesprochen, in dem ich ein schwaches Weinen oder Jammern hören konnte. In dem kleinen runden Schein der Laterne trat Mr. Bucket an die Tür und mußte zwei Mal klopfen, ehe ihm geöffnet wurde; dann trat er ein und ließ uns auf der Straße warten.

»Miß Summerson«, fragte Mr. Woodcourt, »darf ich, ohne mich in Ihr Vertrauen drängen zu wollen, bei Ihnen bleiben?«

»Wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen«, gab ich zur Antwort. »Wenn ich Ihnen etwas geheim halten muß, so betrifft es nicht mich selbst, und meine Hände sind gebunden.«

»Ich verstehe vollkommen. Verlassen Sie sich auf mich; ich werde nur so lange in Ihrer Nähe bleiben, als es die Diskretion erlaubt.«

»Ich weiß, wie unbedingt ich mich auf Sie verlassen kann«, sagte ich. »Ich weiß und fühle es tief, wie treu Sie Ihr Versprechen gehalten haben.«

Nach einer kleinen Weile blitzte die kleine runde Blendlaterne wieder auf, und Mr. Bucket trat uns mit ernstem Gesicht entgegen.

»Bitte, kommen Sie herein, Miß Summerson«, sagte er, »und setzen Sie sich ein wenig ans Feuer. – Mr. Woodcourt, wie ich erfahren habe, sind Sie Arzt. Möchten Sie sich nicht das Mädchen anschauen? Vielleicht läßt sich doch etwas tun, um sie zu sich zu bringen! Sie muß irgendwo einen Brief haben, den ich unbedingt brauche. In ihrem Koffer ist er nicht, und ich glaube, sie hat ihn bei sich; aber die Krämpfe haben sie so zusammengekrümmt, daß man sie nicht durchsuchen kann, ohne sie zu verletzen.«

Wir gingen alle drei zusammen in das Haus. Obgleich der Raum ungeheizt und kalt war, roch es doch dumpf und übernächtig darin. In dem Gange hinter der Tür stand ein kleiner, scheuer, sorgenvoll aussehender Mann in einem grauen Rock. Er schien von Natur aus ungemein höflich zu sein und sprach mit sehr sanfter Stimme.

»Die Treppe hinab, Mr. Bucket, wenn ich bitten darf«, sagte er. »Die Dame muß entschuldigen, daß die Küche vorn hinaus geht; wir benutzen sie als Wochentagswohnzimmer. Nach hinten hinaus liegt Gusters Schlafzimmer, und dort reißt es das arme Ding wieder einmal ganz schrecklich!«

Wir gingen die Treppe hinab, begleitet von Mr. Snagsby, so hieß der kleine Mann, wie ich erfuhr; und in der Küche vorn heraus fanden wir Mrs. Snagsby mit sehr roten Augen und sehr strenger Miene am Feuer sitzen.

»Mein kleines Frauchen«, sagte Mr. Snagsby, als er hinter uns eintrat, »um nicht durch die Blume zu sprechen, meine Liebe, lasse nur einen Augenblick in dieser nicht endenwollenden Nacht die Feindseligkeiten beiseite; ich bringe dir hier Inspektor Bucket, Mr. Woodcourt und eine Dame.«

Mrs. Snagsby machte begreiflicherweise ein sehr erstauntes Gesicht und sah speziell mich ganz besonders scharf an.

»Mein kleines Frauchen«, fuhr Mr. Snagsby fort und setzte sich schüchtern in die fernste Ecke neben der Türe, als ob er sich damit eine große Freiheit herausnähme, »es ist nicht unwahrscheinlich, daß du mich fragst, warum Inspektor Bucket, Mr. Woodcourt und eine Dame uns in gegenwärtiger Stunde in Cook’s Court, Cursitor-Street, besuchen kommen. Ich kann nur sagen, ich weiß es nicht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Und wenn man es mir auseinandersetzte, glaube ich, würde ich es nicht begreifen, darum will ich es lieber gar nicht wissen.«

Er schien so unglücklich zu sein, wie er so dasaß, den Kopf auf die Hand gestützt, und meine Anwesenheit kam so sichtlich ungelegen, daß ich mich gerade entschuldigen wollte, als mir Mr. Bucket zuvorkam.

»Mr. Snagsby«, sagte er, »das Beste, was Sie tun können, ist, Sie begleiten Mr. Woodcourt und schauen nach Ihrer Guster –«

»Nach meiner Guster, Mr. Bucket!« verbesserte Mrs. Snagsby streng. »Nur so weiter, mein Herr, nur so weiter.«

»– und halten das Licht«, fuhr Mr. Bucket fort, ohne im geringsten auf ihre Worte zu achten, »oder das Mädchen, wenn es nötig sein sollte, oder machen sich sonstwie nützlich. Ich weiß doch, Sie sind ein höflicher, sanfter Mann, der auch für andre ein Herz im Leibe hat. Und Sie, Mr. Woodcourt, sind vielleicht so gut, sich das Mädchen anzusehen; und wenn Sie ihr den Brief entwinden können, bitte, bringen Sie ihn mir sobald wie irgend möglich.«

Als sie hinausgegangen, nötigte mich Mr. Bucket, in einer Ecke am Feuer Platz zu nehmen, und zog mir meine nassen Schuhe aus, die er sodann auf dem Kamingitter zum Trocknen aufhängte.

»Machen Sie sich weiter nichts daraus, Miß, daß Ihnen Mrs. Snagsby so gar keinen gastfreundlichen Blick schenkt. Sie ist nämlich in einem ganz merkwürdigen Wahn befangen und wird das viel früher entdecken, als es einer Dame von so bemerkenswerter Denkkraft angenehm sein kann, und ich selbst werde mir erlauben, ihr sogleich die nötigen Erklärungen zu geben.« Bis auf die Haut durchnäßt, seinen triefenden Hut und Schal in der Hand, stand er vor dem Kamin und wendete sich zu Mrs. Snagsby. »Das erste, was ich Ihnen als einer verheirateten, was man so sagt, reizvollen Frau – Sie kennen doch das Lied: ‚Denn so wie du, so lieblich und so schön‘ usw. –, aber natürlich kennen Sie’s, Sie werden mir doch nicht einreden, daß Sie nicht in der besten Gesellschaft verkehrten –, als einer verheirateten Frau, die Reize besitzt, die ihr ein gewisses Selbstvertrauen einflößen sollten, zu sagen habe, ist, daß Sie selbst an allem schuld sind.«

Mrs. Snagsby machte ein erschrockenes Gesicht, schien ein wenig versöhnlicher gestimmt und fragte stotternd, was Mr. Bucket damit sagen wolle?

»Was Mr. Bucket damit sagen will?« wiederholte er, und ich las in seinem Gesicht, wie gespannt er die ganze Zeit, während er sprach, lauschte, ob der Brief noch nicht gefunden sei, was mich sehr aufregte, denn ich sah daraus, wie wichtig die Sache sein mußte. »Ich will es Ihnen verraten, was er sagen will, Maam. Sehen Sie sich einmal Othello an. Das ist das richtige Trauerspiel für Sie.«

Mrs. Snagsby fragte gewissenhaft: »Wieso?«

»Wieso? Sie werden es selbst noch soweit bringen, wenn Sie sich nicht in acht nehmen. Glauben Sie mir, ich weiß genau, wovon selbst in diesem Augenblick Ihr Geist in Bezug auf die junge Dame hier nicht ganz frei ist. Sie meinen, ich soll Ihnen sagen, wer diese junge Dame ist? Nun gut, hören Sie. Sie sind, was ich eine gescheite Frau nenne –, nur ist Ihr Geist zu groß für Ihren Körper. Er reibt Sie auf; Sie kennen mich doch und erinnern sich vielleicht, wo Sie sich zuletzt gesehen haben und wovon in diesem Kreise damals die Rede war. Nicht wahr? Ja! Sehr gut. Also die junge Dame hier ist jene junge Dame.«

Mrs. Snagsby schien ihn besser zu verstehen, als ich es imstande war.

»Und der ‚Schmier-Ober‘ – der, den Sie Jo nennen – war mit in diese Geschichte verwickelt, und in keine andre, und der Kopist, den Sie gekannt haben, desgleichen, und Ihr Mann, der nicht mehr von der Sache versteht als Ihr seliger Urgroßvater, ist ebenfalls durch den verstorbnen Mr. Tulkinghorn, seinen ehemals besten Kunden, in diese selbige Geschichte, und keine andre, verwickelt worden, und die ganze übrige Gesellschaft schon gar. Aber trotzdem macht eine verheiratete Frau, noch dazu mit Ihren Reizen ausgestattet, die Augen zu, und was für schöne Augen, sieht nicht rechts, nicht links und rennt mit ihrem zarten Köpfchen gegen die Wand. Wahrhaftig, daß Sie sich nicht schämen!… (Ich dächte, Mr. Woodcourt müßte ihn jetzt haben!)«

Mrs. Snagsby schüttelte den Kopf und hielt das Taschentuch vor die Augen.

»Ist das alles?« fuhr Mr. Bucket, seine Aufregung niederkämpfend, fort. »Nein. Sehen wir mal, was weiter geschieht. Eine andre Person, die in diese Geschichte, und keine andre, mitverwickelt ist, kommt im elendesten Zustand heute nacht hierher, und Sie sehen sie mit Ihrem Dienstmädchen sprechen, und sie gibt Ihrem Dienstmädchen ein Papier, für das ich auf der Stelle hundert Pfund bar bezahlen würde. Und was tun Sie? Sie verstecken sich und belauern die beiden, stürzen auf das Dienstmädchen los – wo Sie doch wissen, was für Anfällen das arme Ding ausgesetzt ist und wie wenig dazu gehört, sie zu verursachen –, und stürzen so unerwartet und mit solcher Heftigkeit auf sie los, daß sie, ehe man sich’s versieht, hinschlägt und jetzt noch bewußtlos ist; und dabei hängt von ihren Worten ein Menschenleben ab!«

Es lag plötzlich ein so furchtbarer Ernst in seinen Worten, daß ich unwillkürlich die Hände zusammenkrampfte und fühlte, wie sich die Stube mit mir drehte. Aber es dauerte nur einen Augenblick. Mr. Woodcourt kam herein, drückte ihm ein Papier in die Hand und ging wieder hinaus.

»Das einzige, womit sie wieder etwas gut machen können, Mrs. Snagsby«, sagte Mr. Bucket mit einem raschen Blick auf das Papier, »ist, mich einen Augenblick mit der jungen Dame hier allein sprechen zu lassen. Und wenn Sie dem Herrn in der Küche irgend helfen oder sich auf etwas besinnen wollten, wodurch Sie das Mädchen wieder zu sich bringen können, so tun Sie es, bitte, so rasch wie möglich!«

In einem Augenblick war sie draußen, und er schloß die Tür. »Und jetzt, mein Kind… Sind Sie gefaßt?«

»Vollkommen.«

»Wessen Hand ist dies?«

Es war die meiner Mutter. Eine Bleistiftschrift auf einem zerknitterten Fetzen Papier, von der Nässe halb verlöscht. Achtlos zusammengefaltet, in Briefform, wie ein Kuvert zusammengelegt und an mich adressiert, bei meinem Vormund abzugeben.

»Sie kennen die Hand«, sagte er. »Und wenn Sie gefaßt genug sind, mir den Brief vorzulesen, so tun Sie es. Aber geben Sie auf jedes Wort acht.«

Der Brief war stückweise und offenbar zu verschiednen Zeiten geschrieben. Ich las folgendes:

»Aus zweierlei Gründen suchte ich die Zieglerhütte auf. Hauptsächlich, um womöglich noch ein Mal mein geliebtes Kind zu sehen – aber bloß zu sehen –, nicht mit ihr zu sprechen oder sie wissen zu lassen, daß ich in der Nähe sei. Und dann, um meinen Verfolgern zu entgehen und sie auf eine falsche Spur zu bringen. Tadle die Frau nicht wegen dessen, was sie getan hat. Die Hilfe, die sie mir geleistet hat, leistete sie auf meine nachdrücklichsten Versicherungen, daß es nur zum Besten der Geliebten geschehe. Denke an ihr gestorbenes Kind. Die Zustimmung der Männer erkaufte ich, aber sie hat mir ohne Entgelt geholfen.«

»Das hat sie geschrieben, als sie dort war«, sagte mein Begleiter. »Es stimmt zu dem, was ich mir dachte. Ich hatte recht.« Der nächste Absatz war später geschrieben worden.

»Ich bin eine lange Strecke gewandert, und viele Stunden, und ich weiß, daß ich bald sterben muß. Oh, diese Straßen! Ich habe kein andres Ziel mehr, als zu sterben. Als ich fortging, hatte ich ein schlimmeres; aber es bleibt mir erspart, noch diese Schuld zu den übrigen zu fügen. Kälte, Nässe und Erschöpfung werden genug Begründung sein, wenn man mich tot findet, aber ich sterbe aus andern Ursachen, wenn ich auch unter diesen leide. Es ist gut so, daß alles, was mich aufrecht erhielt, auf ein Mal zusammenbrechen mußte, um mich vor Angst und Gewissensqualen sterben zu lassen.«

»Mut, Mut«, sagte Mr. Bucket, »es sind nur noch ein paar Worte.«

– Auch diese waren später, und allem Anschein nach fast im Dunkeln, geschrieben. –

»Ich habe alles getan, was ich konnte, damit man mich nicht finde. So werde ich am schnellsten vergessen sein und ihm am wenigsten Schande bringen. Ich habe nichts bei mir, woran man mich erkennen könnte. Von diesem Papier trenne ich mich jetzt. An die Stelle, wo ich mich hinlegen will, wenn ich sie noch erreichen kann, habe ich oft gedacht. Leb wohl. Vergib mir.«

Mr. Bucket stützte mich und ließ mich sanft in meinen Stuhl sinken. »Kopf hoch! Halten Sie mich nicht für rücksichtslos, mein Kind; aber sobald Sie sich stark genug fühlen, ziehen Sie Ihre Schuhe an und halten Sie sich bereit.«

Ich kam seinem Wunsche nach; er ließ mich lange Zeit allein, und ich betete für meine unglückliche Mutter. Die andern beschäftigten sich unterdessen mit dem armen Dienstmädchen, und ich hörte, wie Mr. Woodcourt ihnen Anweisung gab. Endlich kam er mit Mr. Bucket zu mir und sagte, er halte es für das Beste, wenn ich ihr sanft zuredete und sie nach dem fragte, was wir von ihr zu erfahren wünschten. Es stehe außer allem Zweifel, daß sie jetzt antworten würde, wenn man sie beruhigte und nicht einschüchterte. »Die Fragen«, sagte Mr. Bucket, »wären: Wie sie zu dem Briefe gekommen und was zwischen ihr und der Person, die ihr ihn gegeben habe, vorgegangen sei, und wohin sich diese dann gewendet hätte?«

Ich konzentrierte meinen Geist, so fest ich konnte, auf diese Punkte und ging sodann in das nächste Zimmer mit. Mr. Woodcourt wollte draußen bleiben, aber auf meine Bitten begleitete er mich.

Man hatte das arme Mädchen auf den Fußboden gelegt, und sie saß jetzt aufrecht. Die übrigen standen um sie herum, aber in einiger Entfernung, damit sie sich nicht beengt fühle. Sie war nicht hübsch und sah kränklich und angegriffen aus, und ihr Blick hatte etwas Verstörtes, und ich konnte sehen, daß in ihrem Gesicht ein Ausdruck von Kummer lag. Ich kniete auf dem Fußboden neben ihr nieder und legte ihren Kopf an meine Brust, worauf sie den Arm um meinen Hals schlang und in Tränen ausbrach.

»Armes Kind«, sagte ich und legte mein Gesicht an ihre Stirn, denn auch ich weinte und zitterte sehr. »Es klingt so grausam, daß wir Sie jetzt quälen, aber es hängt mehr davon ab, daß wir etwas von diesem Briefe erfahren, als ich Ihnen in einer Stunde auseinandersetzen könnte.«

Sie fing an, ganz jämmerlich zu beteuern: »Ich hab’s nicht böse gmeint, Mrs. Snagsby, ach Gott.«

»Davon sind wir alle überzeugt«, tröstete ich sie. »Aber bitte, sagen Sie mir, wie Sie zu dem Briefe gekommen sind.«

»Ja, das will ich tun, gnä Fräuln, und die Wahrheit sagen. Ich will alles erzählen, wahrhaftig, Mrs. Snagsby.«

»Niemand zweifelt daran. Also, wie war es?«

»Ich hab etwas zu besorgen ghabt, gnä Fräuln, nach Dunkelwerden. Es war schon ganz spät, und als ich an unsre Tür kam, stand eine gemein aussehende Person, ganz naß und kotbespritzt, vor dem Hause und sah hinauf. Als sie mich hat in die Tür neingehen sehen, hat s mich zurückgrufen und gfragt, ob ich hier wohn? Und ich hab ja gsagt, und dann hat sie gmeint, sie kennt sich hier in der Gegend net gut aus und hätt sich verlaufen. – O Gott, was soll ich tun, was soll ich tun! Sie glauben mir nicht, ich seh’s! Wirklich, sie hat nichts Unrechtes zu mir gsagt, und ich zu ihr auch nicht, wahrhaftig nicht, Mrs. Snagsby!«

– Sie kam nicht darüber hinweg, und ihre Herrin mußte sie selbst trösten – was sie, wie ich sagen muß, mit sehr reuiger Miene tat –, ehe ich wieder etwas aus ihr herausbringen konnte. –

»Sie konnte also etwas nicht finden, das sie suchte?« fragte ich weiter.

»Nein!« rief das Mädchen und schüttelte den Kopf. »Nein! Konnte es nicht finden. Und sie war so erschöpft und lahm und elend, ach, so elend, daß, wenn Sie sie gsehen hätten, Mr. Snagsby, Sie ihr gwiß eine halbe Krone geben hätten!«

»Ja, ja, Guster, schon gut«, nickte Mr. Snagsby, anfangs ein wenig unschlüssig, was er sagen sollte. »Ich – ja – hm – hoffentlich.«

»Und sie hat so eine feine Sprach ghabt«, fuhr das Mädchen fort, »und mich dabei mit weit offnen Augen so angsehen, daß s einem das Herz zerrissen hat. Und dann hat s mich gfragt, ob ich den Weg nach dem Gottesacker wüßt? Welchen Gottesacker, hab ich s gfragt. Und sie hat gsagt, der, wo die Armen begraben würden. Ich hab ihr erklärt, daß ich selbst aus dem Armenhause sei und daher wüßt, daß sich das nach dem Kirchspiele richt. Aber sie hat den Begräbnisplatz gmeint, hat s gsagt, der, wo nicht sehr weit von hier is, mit einem Torweg, einer Stufen und einem eisernen Gitter davor.«

Ich sah, daß Mr. Buckets Gesicht bei ihren Worten ein Ausdruck des Schreckens überflog, und Angst ergriff mich.

»O Gott, o Gott«, rief das Mädchen wieder und hielt sich die Stirn, »was soll ich nur tun, was soll ich nur tun! Sie hat den Gottesacker gmeint, wo der Mann liegt, was den Schlaftrunk eingnommen hat – von dem Sie uns erzählt haben, Mr. Snagsby –, wo ich so erschrocken bin damals, Mr. Snagsby. Jetzt kommt’s wieder über mich. Halten S mich!«

»Sehen Sie, es ist Ihnen jetzt schon wieder viel besser«, redete ich ihr zu. »Bitte, erzählen Sie noch.«

»Ja, recht gern! Aber sind S nicht bös auf mich, gnä Fräuln, daß ich so krank gwesen bin.«

Wer hätte dem armen Mädchen böse sein können!

»So! Jetzt geht’s schon wieder. Also, dann hat s gfragt, ob ich ihr den Weg dorthin weisen könnte, und ich hab gsagt ja und hab ihm gwiesen, und sie hat mich mit Augen angsehen, fast, als ob s blind war und umfallen möcht. Und dann hat s den Brief herausgnommen und mir zeigt und gsagt, wann sie n auf die Post gab, möcht er verwischt und vergessen und niemals bsorgt werden; und ob ich n nehmen und besorgen wollt. Der Bote würde bei der Abgabe bezahlt werden. Und ich hab gsagt ja, wenn’s nichts Unrechtes war, und sie hat gsagt nein –, nichts Unrechtes. Und wie ich den Brief gnommen hab, hat s gsagt, sie könnt mir nichts geben, und ich hab gmeint, des brauchets net, ich sei selbst arm. Und Gott segne Sie! hat s gsagt und is gangen.«

»Und ging sie…?«

»Ja!« fiel mir das Mädchen in die Rede. »Ja! sie ging den Weg, den ich ihr gezeigt hab. Dann bin ich ins Haus treten, und Mrs. Snagsby is auf mich losgstürzt, hat mich festghalten, und ich bin so erschrocken.«

Mr. Woodcourt nahm sie liebevoll von mir weg. Mr. Bucket hüllte mich wieder ein, und gleich daraufwaren wir auf der Straße. Mr. Woodcourt blieb zögernd stehen, aber ich bat ihn, mich nicht zu verlassen, und Mr. Bucket setzte hinzu:

»Ja, es ist besser, Sir, Sie gehen mit, wir könnten Sie vielleicht brauchen; beeilen wir uns, wir dürfen keine Zeit verlieren!«

Von diesem Gange sind mir nur wirre Eindrücke zurückgeblieben. Ich entsinne mich noch, daß es weder Nacht noch Tag war, daß der Morgen graute und die Straßenlaternen noch nicht ausgelöscht waren. Immer noch fiel der Schnee, und die Straßen waren überall bedeckt davon. Ich entsinne mich nur noch dunkel, an ein paar fröstelnden Leuten in den Straßen vorübergegangen zu sein. Ich entsinne mich der nassen Dächer, der verstopften und überlaufenden Straßenrinnen und Gossen, der Haufen von schmutzigem Eis und Schnee, die wir passierten, und der engen Höfe, durch die wir eilten. Mir war, als klängen mir die Worte des armen Mädchens noch deutlich in den Ohren und als fühlte ich sie noch an meiner Brust ruhen. Die fleckigen Häuserfronten schienen mir menschliche Gesichter zu bekommen und mich anzusehen, und Wasserschleusen brausten in meinem Kopf oder in der Luft. Die wesenlosen Dinge wurden mir stofflicher als die wirklichen.

Endlich standen wir unter einem dunkeln und elenden gewölbten Gang, durch den der Morgen schwach hereindämmerte. Eine Laterne brannte trüb über einem eisernen Gitter. Das Tor war zu. Dahinter lag ein Begräbnisplatz – eine grauenvolle Stätte – noch halb verborgen im Dunkel der Nacht. Ich konnte kaum die Ungewissen Umrisse von Haufen vernachlässigter Gräber und Leichensteine von den sie ringsum umdrängenden unsauberen Häusern unterscheiden, in deren Fenstern ein paar trübe Lichter brannten und deren Mauern eine klebrige Feuchtigkeit wie eine scheußliche Krankheit ausschwitzten.

Auf der von dem schrecklichen Naß dieses Ortes, das überall heruntertröpfelte und –rieselte, benetzten Stufe vor dem Gittertor sah ich eine Frauengestalt liegen – Jenny, die Mutter des toten Kindes.

Ein Schrei des Mitleids und Entsetzens entfuhr mir.

Mein erster Gedanke war, auf sie zuzueilen, aber man hielt mich zurück, und Mr. Woodcourt bat mich mit der größten Innigkeit, Tränen in den Augen, ehe er mich ließe, nur einen Augenblick auf das zu hören, was Mr. Bucket mir sagen wollte. Ich glaube, ich tat es, tat es sogar bestimmt.

»Miß Summerson, wenn Sie ein wenig Ihre Gedanken sammeln, werden Sie mich verstehen. Die beiden haben in der Hütte die Kleider vertauscht.«

In der Hütte die Kleider vertauscht! – Ich mußte die Worte im Geiste langsam wiederholen, ehe ich ihren Sinn verstand, aber was sie für mich zu bedeuten hatten, konnte ich in meiner Verwirrung nicht fassen.

»Und die eine kehrte um«, sagte Mr. Bucket. »Und die andre ging weiter. Und die, die weiterging, ging, wie sie es besprochen hatten, nur eine Strecke weit, um die Fährte zu verwischen, und kehrte quer übers Feld nach Hause zurück. Denken Sie einen Augenblick nach!«

Auch dies wiederholte ich mir; aber nicht die leiseste Ahnung verriet mir, was ich mir darunter denken sollte. Vor mir auf den Stufen sah ich die Mutter des toten Kindes liegen. Sie lag dort, mit einem Arm eine Stange des eisernen Gitters umklammernd, als wolle sie sie umarmen. Sie, die erst vor so kurzem mit meiner Mutter gesprochen hatte, lag dort. Ein unglückliches, obdachloses, bewußtloses Geschöpf. Sie, die den Brief gebracht hatte, die mir allein eine Andeutung über den Aufenthalt meiner Mutter geben konnte, sie, die uns nun führen sollte, um die zu erretten, die wir weit und breit gesucht hatten, sie, die in ihrem Zustand jeden Augenblick unsrer Hilfe entrückt sein konnte, lag dort – und sie hielten mich auf?! Ich sah den feierlichen und teilnahmsvollen Blick Mr. Woodcourts, ohne ihn zu verstehen. Ich sah, wie er die Brust des andern berührte, um ihn zurückzuhalten, aber ich verstand es nicht. Ich sah ihn barhäuptig mit scheuer Ehrfurcht vor etwas Unsichtbarem in der bitter kalten Luft dastehen. Aber von dem allem verstand ich nichts.

Ich hörte wie in weiter Ferne sagen:

»Wollen wir sie gehen lassen?«

»Es ist besser. Ihre Hände sollten sie zuerst berühren. Sie hat ein heiligeres Recht dazu als wir.«

Ich eilte nach dem Gittertor und beugte mich über die Gestalt. Ich hob das schwere Haupt empor, strich das lange feuchte Haar beiseite und wendete das Gesicht dem Lichte zu.

Es war meine Mutter, starr und kalt.

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60. Kapitel

Aussichten

Ich wende mich jetzt andern Abschnitten meiner Lebensgeschichte zu. Die Güte und Freundlichkeit aller, die um mich waren, spendeten mir so viel Trost, daß ich nur mit der größten Rührung daran zurückdenken kann. Ich habe bereits so oft von mir gesprochen und noch so viel von mir zu sagen, daß ich nicht weiter von meinem Schmerz sprechen will.

Ich war krank, aber nicht lange; und ich würde diesen Umstand auch nicht weiter erwähnen, wenn nicht die Erinnerung an die Teilnahme meiner Umgebung so stark in mir lebte.

Ich komme jetzt also, wie gesagt, zu andern Abschnitten meiner Lebensgeschichte.

Während meiner Krankheit blieben wir in London, und auf Einladung meines Vormundes war Mrs. Woodcourt zu uns auf Besuch gekommen. Als mein Vormund mich für wohl und heiter genug hielt, um in der alten Weise wieder mit ihm zu plaudern – obgleich ich dazu viel eher imstande gewesen wäre, aber er wollte es lange nicht glauben –, nahm ich eines Tages wieder meine Handarbeit vor und setzte mich wie früher neben ihn. Er hatte mich darum gebeten, und wir waren allein.

»Mütterchen«, sagte er und empfing mich mit einem Kusse, »willkommen im Brummstübchen! Ich habe dir einen Plan zu enthüllen, kleines Frauchen. Ich gedenke nämlich, hier zu bleiben, vielleicht sechs Monate, vielleicht länger, wie es gerade kommt. Mit einem Wort, ich gedenke mich für ein Weilchen hier häuslich niederzulassen.«

»Und währenddessen willst du Bleakhaus im Stich lassen?«

»Ja, meine Liebe! Bleakhaus muß lernen, für sich selbst zu sorgen.«

Es schien mir, als ob seine Stimme bekümmert klänge; aber wie ich ihn anblickte, sah ich, daß ein freundliches Lächeln sein gütiges Antlitz erhellte.

»Bleakhaus«, wiederholte er, und diesmal lag nur Fröhlichkeit in seiner Stimme, »muß lernen, für sich selbst zu sorgen. Es wäre von dort ein zu weiter Weg zu Ada, mein Kind, und Ada bedarf deiner sehr.«

»Es sieht dir wieder ganz ähnlich, Vormund«, sagte ich, »an sie zu denken und uns beiden eine so angenehme Überraschung zu bereiten.«

»Es ist nicht so uneigennützig von mir, wie es vielleicht scheint, denn wenn du so oft unterwegs wärst, könntest du selten um mich sein. Und außerdem möchte ich bei dieser Entfremdung zwischen dem armen Rick und mir so viel und so oft von Ada hören wie möglich. Und nicht bloß von ihr, sondern auch von ihm, dem armen Burschen.«

»Hast du heute morgen Mr. Woodcourt gesehen, Vormund?«

»Ich sehe Mr. Woodcourt jeden Morgen, Mütterchen.«

»Ist er immer noch derselben Meinung über Richard?«

»Immer noch. Er kann keine eigentliche körperliche Krankheit an ihm entdecken und glaubt bestimmt, daß ihm in dieser Hinsicht nichts fehle. Aber trotzdem ist er keineswegs außer Sorgen seinetwegen. Begreiflicherweise.«

In der letzten Zeit war mein Herzenskind täglich bei uns gewesen, manchmal sogar zwei Mal. Aber wir fühlten, daß dies nur bis zu meiner vollständigen Genesung so fortgehen könnte. Wir wußten recht gut, daß ihr Herz voller Liebe und Dankbarkeit für ihren Vetter John schlug, und waren überzeugt, daß Richard keinen Versuch machen würde, sie von uns fernzuhalten; aber andrerseits sahen wir ein, daß sie es für Pflicht ihrem Gatten gegenüber halten mußte, ihre Besuche bei uns nach Möglichkeit einzuschränken. Mein Vormund hatte bei seinem Zartgefühl die Situation bald überschaut und sie merken lassen, daß er ihre Ansicht billige.

»Lieber unglücklicher irregeleiteter Richard«, sagte ich. »Wann wird endlich die Binde von seinen Augen fallen!«

»So bald wohl kaum, mein Kind. Je mehr er leidet, desto mehr wächst seine Abneigung gegen mich. Er hält mich doch für die Hauptursache seiner Leiden.«

»Wie unvernünftig«, rief ich aus.

»Ach Frauchen, Frauchen!« entgegnete mein Vormund. »Wo ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ mitspielt, ist’s um Vernunft und Einsicht geschehen. Unverstand und Ungerechtigkeit auf allen Seiten, innen und außen, Unverstand und Ungerechtigkeit von Anfang bis zu Ende, wenn man überhaupt bei einem Prozeß von einem Ende reden kann. Wie sollte da der arme Rick, der sich beständig damit abgibt, zu Verstand kommen? Er kann ebensowenig Trauben von Dornen oder Feigen von Disteln ernten.«

– Die Rücksicht, Sanftmut und Güte, mit der er stets von Richard sprach, rührten mich so, daß ich jedes Mal sehr bald wieder dieses heikle Thema fallen ließ. –

»Ich glaube, der Lordkanzler und die Vizekanzler und die ganze Kanzleibatterie würden sich auch wundern, wenn sie soviel Unverstand und Ungerechtigkeit bei einem ihrer Klienten fänden«, fuhr mein Vormund fort. »Ich meinesteils wieder würde mich wundern, wenn es diesen gelehrten Herren gelingen sollte, aus dem Puder, den sie in ihre Perücken streuen, Moosrosen zu ziehen.«

Er hatte einen Blick nach dem Fenster geworfen, um zu sehen, woher der Wind wehte, und lehnte sich nun auf die Rücklehne meines Stuhles.

»Aber weg damit, kleines Frauchen! Zeit, Zufall und vielleicht ein wenig Glück werden diesen Block schon aus dem Wege räumen, aber wir dürfen Ada nicht daran Schiffbruch leiden lassen. Sie und er dürfen sich unter keinen Umständen mehr der Gefahr, sich einen Freund zu entfremden, aussetzen. Deshalb habe ich Woodcourt inständigst gebeten, und bitte auch dich, meine Liebe, jetzt inständig, bei Rick an dieses Thema auch mit keinem Wort mehr zu rühren. Lassen wir die Sache vorläufig begraben sein. In Wochen, Monaten, Jahren, früher oder später, wird ihm die Binde schon von den Augen fallen. Ich kann warten.«

»Aber ich habe bereits mit ihm darüber gesprochen und, wie ich glaube, auch Mr. Woodcourt«, gestand ich.

»Ich weiß«, entgegnete mein Vormund. »Mr. Woodcourt hat seinen Protest eingelegt, und Mütterchen Durden ebenfalls, und damit gut und Schluß ein für allemal. – Um von etwas anderm zu sprechen, wie gefällt dir Mrs. Woodcourt, mein Kind?«

Die Frage kam seltsam unvermittelt, und ich sagte, daß mir die alte Dame jetzt sehr gefiele und angenehmer vorkäme als früher.

»Mir auch«, sagte mein Vormund. »Weniger Stammbaum, nicht wahr? Nicht mehr soviel Morgan – ap… Wie heißt er doch?«

»Ja, an den habe ich gedacht«, gab ich zu, »aber er scheint eine sehr harmlose Person gewesen zu sein, wenigstens, was wir von ihm gehört haben.«

»Jedenfalls bleibt er am besten in seinen heimatlichen Bergen. Ich bin ganz deiner Meinung. Also, kleines Frauchen, ist es nicht das Wichtigste, Mrs. Woodcourt eine Zeit hier zu behalten?«

»Ja. Und doch…«

Mein Vormund sah mich erwartungsvoll an.

Ich hatte eigentlich nichts zu sagen. Wenigstens nichts im Sinn, was ich in Worte fassen konnte. Ich hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß ein andrer Gast vielleicht vorzuziehen gewesen wäre, aber warum, darüber war ich mir selbst keineswegs klar.

»Unsre Wohnung«, sagte mein Vormund, »liegt auf Woodcourts Weg, und er kann seine Mutter so oft besuchen kommen, wie er will; das wird beiden sehr angenehm sein; überdies hat sie dich gern und hängt an uns.«

– Ja. Das war unleugbar der Fall. Dagegen konnte ich nichts einwenden. Ich hätte selber kein besseres Arrangement treffen können; aber doch war ich innerlich nicht ganz ruhig. Esther, Esther, warum nicht? Esther, denke nach! –

»Es ist wirklich ein sehr guter Plan, lieber Vormund, und das Beste, was wir tun können.«

»Sicher, Frauchen?«

Ganz gewiß. Ich hatte mich mir gegenüber verpflichtet gefühlt, die Sache noch genau einen Augenblick zu überlegen, und konnte jetzt mit bestem Gewissen bejahen.

»Also gut«, sagte mein Vormund. »Es soll geschehen. Einstimmig angenommen.«

»Einstimmig angenommen«, wiederholte ich und nahm meine Arbeit wieder vor.

Ich stickte eine Decke für seinen Büchertisch. Ich hatte sie am Abend vor meiner trauervollen Reise weggelegt und seitdem nicht wieder aufgenommen. Ich zeigte sie ihm jetzt, und er bewunderte sie höchlichst. Nachdem ich ihm das Muster und alle die großen Effekte, die mit der Zeit sichtbar werden sollten, erklärt hatte, fing ich wieder von unserm letzten Thema an.

»Du sagtest, lieber Vormund, als wir von Mr. Woodcourt sprachen, ehe Ada uns verließ, daß du glaubtest, er werde es noch ein Mal im Auslande versuchen. Hast du ihm seitdem Ratschläge in dieser Hinsicht gegeben?«

»Ja, kleines Frauchen, ziemlich oft.«

»Hat er sich dazu entschlossen?«

»Ich glaube nicht.«

»So haben sich ihm also andre Aussichten eröffnet?«

»Nun ja –, vielleicht«, entgegnete mein Vormund langsam und nachdenklich. »In etwa einem halben Jahre wird irgendwo in Yorkshire die Stelle eines Armenarztes frei. Es ist ein blühender Ort, hübsch gelegen – Bäche und Straßen, Stadt und Land, Mühlen und Moorland –, und scheint einem Manne wie ihm eine Aussicht zu eröffnen. Ich meine einem Manne, dessen Hoffnungen und Ziele manchmal höher hinaus gehen als gewöhnlich, dem aber auch zuletzt das alltägliche Ziel hoch genug ist, wenn es sich als ein Weg der Nützlichkeit und Barmherzigkeit erweist. Ich glaube, alle lebhaften Geister sind ehrgeizig; aber der Ehrgeiz, der mit ruhigem Vertrauen einen solchen Weg betritt, anstatt krampfhafte Versuche zu machen, über ihn hinweg zu fliegen, gefällt mir am allerbesten. Und so ist Woodcourts Ehrgeiz.«

»Und wird er die Stelle bekommen?«

»Nun, mein kleines Frauchen«, entgegnete mein Vormund lächelnd, »da ich kein Orakel bin, kann ich das nicht mit Gewißheit sagen; aber ich glaube ja. Sein Ruf als Arzt ist sehr bedeutend; es waren Leute aus jener Gegend bei dem Schiffbruch, und merkwürdigerweise hat diesmal der beste Mann die beste Aussicht, wie es scheint. Du darfst es aber nicht etwa für eine ausgezeichnete Anstellung halten. Es ist ein sehr gewöhnlicher Posten, mein Kind; ein Posten, bei dem es sehr viel zu tun und sehr wenig zu verdienen gibt; aber es können sich immerhin bessere Aussichten daran knüpfen.«

»Die Armen des Ortes werden jedenfalls Grund haben, die Wahl zu segnen, wenn sie auf Mr. Woodcourt fallt, Vormund.«

»Da hast du recht, kleines Frauchen; daran ist gewiß kein Zweifel.«

Wir sprachen nicht weiter über die Sache, und er erwähnte auch kein Wort von der Zukunft von Bleakhaus. Aber da ich heute das erste Mal in meinen Trauerkleidern neben ihm saß, erklärte ich mir daraus sein Schweigen.

Ich fing nun an, meine liebe Ada in dem stillen Winkel, wo sie wohnte, täglich zu besuchen. Der Vormittag war meine gewöhnliche Zeit; aber so oft ich mich eine Stunde frei machen konnte, setzte ich meinen Hut auf und lief hinüber nach Chancery-Lane. Sie und Rick waren jederzeit so froh, mich zu sehen, und ihre Gesichter heiterten sich so auf, wenn sie mich die Tür aufmachen und hereinkommen hörten (da ich ganz wie zu Hause war, klopfte ich niemals an), daß ich nicht fürchtete, ihnen lästig zu fallen.

Bei solchen Gelegenheiten fand ich Richard häufig abwesend. Zu andern Zeiten schrieb er oder las Prozeßakten, die auf seinem Tisch, der niemals aufgeräumt werden durfte, in Stößen aufgetürmt lagen. Manchmal traf ich ihn vor der Tür von Mr. Vholes‘ Kanzlei wartend; manchmal, wie er in der Nähe herumwanderte und sich die Nägel zerkaute. Oft traf ich ihn in der Nähe von Lincoln’s-Inn, ruhelos, an der Stelle, wo ich ihn – ach, so ganz, ganz anders – das erste Mal gesehen hatte.

Daß Adas Mitgift mit den Kerzen, die ich fast immer nach Dunkelwerden in Mr. Vholes‘ Kanzlei brennen sah, zusammenschmolz, wußte ich recht gut. Es war von Hause aus nicht viel gewesen; Richard mußte Schulden gehabt haben, als er heiratete, und ich hatte längst einsehen gelernt, was es bedeutete, daß sich Mr. Vholes »mit der Schulter gegen das Rad stemmte« – was er immer noch tat, wie ich hörte.

Meine gute Ada war die wirtschaftlichste Hausfrau, die man sich denken konnte, und tat ihr möglichstes, um zu sparen, aber ich wußte, daß sie mit jedem Tage ärmer wurden.

Sie leuchtete in dem elenden Winkel wie ein schöner Stern. Sie schmückte und verschönerte ihn so, daß er ordentlich ein ganz verändertes Aussehen bekam. Blasser, als sie zu Hause gewesen, und ein wenig stiller, als ich es für möglich gehalten hätte, als sie noch so heiter und hoffnungsfreudig war, war doch auf ihrem Antlitz so wenig ein Schatten zu bemerken, daß ich fast glaubte, ihre Liebe zu Richard machte sie blind und ließ sie das Verderben nicht sehen, in das er rannte.

Ich ging eines Tages zu ihnen, um bei ihnen zu speisen, und hing solchen Gedanken nach, da begegnete ich, als ich in Symond’s-Inn einlenkte, der kleinen Miß Flite, die gerade aus der Türe trat. Sie hatte den »Mündeln in Sachen Jarndyce«, wie sie sie immer noch nannte, einen Anstandsbesuch gemacht und schwelgte noch in der Erinnerung an diese Feierlichkeit. Ada hatte mir bereits erzählt, daß sie jeden Montag um fünf Uhr mit einer kleinen weißen Extraschleife auf dem Hute, die sie sonst niemals trüge, und mit ihrem größten Strickbeutel voller Dokumente am Arme zu Besuch käme.

»Meine Gute!« fing sie an. »Freue mich unendlich! Wie geht es Ihnen! Bin so froh, Sie zu sehen. Und Sie wollen unsre guten Mündel in Sachen Jarndyce auch besuchen? Natürlich, ja! Unsre kleine Schönheit ist zu Hause, mein Kind, und wird entzückt sein, Sie zu sehen.«

»Also ist Richard noch nicht da?« sagte ich. »Das freut mich; ich fürchtete schon, ich hätte mich ein wenig verspätet.«

»Nein, er ist noch nicht da. Er hat eine lange Sitzung im Gerichtshof gehabt. Ich verließ ihn dort mit Vholes. Sie haben doch Vholes nicht gern, hoffe ich? Nur Vholes nicht gern haben! Gefäh-rlicher Mensch!«

»Ich fürchte, Sie sehen jetzt Richard öfter als früher?« fragte ich.

»Meine Teuerste, täglich und stündlich. Sie wissen, was ich Ihnen von der Anziehungskraft des Zepters des Kanzlers sagte! Mein Kind, nächst mir besucht er mit der größten Regelmäßigkeit den Gerichtshof. Er fängt unsre kleine Familiengesellschaft wirklich zu amüsieren an. Eine seh-r hübsche kleine Familiengesellschaft, nicht wahr?«

Es war wirklich jämmerlich, dies aus dem Munde der armen Wahnsinnigen zu hören, wenn man sich auch nicht darüber wundern konnte.

»Mit einem Worte, meine werte Freundin«, fuhr Miß Flite fort und näherte mit mysteriöser Gönnermiene ihre Lippen meinem Ohre, »ich muß Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Ich habe ihn zu meinem Testamentsvollstrecker ernannt. Ernannt, eingesetzt und bestätigen lassen. In meinem Testamente. Ja-awohl.«

»Wirklich?«

»Ja-awohl«, wiederholte Miß Flite, unendlich vornehm tuend, »zu meinem Testamentsvollstrecker, Verwalter oder Kurator. So heißt es bei uns im Kanzleigericht, meine Liebe. Ich habe mir gedacht, wenn ich einmal zu nichts mehr nütze sein sollte, könnte er den Prozeß überwachen. Er wohnt den Sitzungen so regelmäßig bei.«

Ich mußte bei dem Gedanken an ihn seufzen.

»Ich gedachte früher einmal den armen Gridley zu ernennen, einzusetzen und bestätigen zu lassen«, sagte sie und seufzte ebenfalls. »Er kam auch sehr regelmäßig, meine Liebwerteste. Ich versichere Ihnen, höchst regelmäßig! Aber mit dem Armen ist’s vorbei, und so habe ich Richard zu seinem Nachfolger ernannt. Lassen Sie nichts drüber verlauten. Ich sage Ihnen das im Vertrauen.«

Sie machte vorsichtig ihren Strickbeutel ein klein wenig auf und zeigte mir darin ein zusammengefaltetes Papier als das Testament, von dem sie gesprochen.

»Noch ein Geheimnis, meine Liebe. Ich habe meine Vogelsammlung vergrößert.«

»Was Sie sagen, Miß Flite.« – Ich wußte, wie gern sie es hatte, wenn man ihre vertraulichen Mitteilungen mit Interesse aufnahm. –

Sie nickte mehrere Male, und ihr Gesicht wurde trüb und bekümmert. »Noch zwei. Ich nenne sie die Mündel in Sachen Jarndyce. Sie sind mit den übrigen im Käfig. Mit Hoffnung, Freude, Jugend, Friede, Ruhe, Leben, Staub, Asche, Verschwendung, Mangel, Ruin, Verzweiflung, Wahnsinn, Tod, List, Torheit, Gefasel, Perücke, Plunder, Pergament, Raub, Präzedenz, Jargon, blauer Dunst und Larifari!«

Dann küßte mich die Arme mit dem verstörtesten Blick, den ich jemals an ihr bemerkt, und eilte fort. Die Art, wie sie über die Liste ihrer Vögel hinwegeilte, als wenn sie sich fürchtete, ihre Namen sogar aus ihrem eignen Munde zu hören, machte mich schaudern.

Das war keine aufheiternde Vorbereitung auf meinen Besuch, und ich hätte auf die Gesellschaft Mr. Vholes‘ gern verzichtet, den Richard, der ein oder zwei Minuten nach mir kam, mit zu Tisch brachte.

Obgleich das Mahl bescheiden war, waren doch Ada und Richard ein paar Minuten zusammen draußen, um es herzurichten. Mr. Vholes ergriff die Gelegenheit, um mit mir halblaut ein Gespräch anzuknüpfen. Er trat an das Fenster, an dem ich saß, und fing von Symond’s-Inn an.

»Ein langweiliger Ort, Miß Summerson, für jemanden, der nicht als Geschäftsmann hier wohnt«, – er wischte die Fensterscheibe mit seinem schwarzen Handschuh ab, damit ich besser hinaussehen könnte.

»Viel zu sehen ist allerdings hier nicht«, sagte ich.

»Und auch nicht viel zu hören, Miß. Manchmal verirrt sich ein bißchen Musik hierher, aber wir Juristen sind nicht musikalisch und dulden sie nicht lange. Ich hoffe, Mr. Jarndyce befindet sich wohl?«

Ich dankte und versicherte, er sei wohlauf.

»Ich habe leider nicht das Vergnügen, mit unter seine Freunde gezählt zu werden, und weiß, daß bei Personen seines Standes Herren unsres Berufs manchmal nicht sehr gern gesehen werden. Aber ob man uns Gutes oder Übles nachsagt und Vorurteile aller Art gegen uns hegt, unsre Wege sind gerade und offen. Wie finden Sie Mr. C. aussehen, Miß Summerson?«

»Sehr schlecht. Schrecklich sorgenvoll.«

»Sie haben recht«, sagte Mr. Vholes.

– Er stand hinter mir, und seine lange schwarze Gestalt reichte fast bis an die Decke des niedrigen Zimmers; dabei befühlte er die Pickel in seinem Gesicht, als wären es Zierraten, und sprach so gleichgültig in sich hinein, als sei ihm jede menschliche Leidenschaft oder Gemütsbewegung fremd. –

»Mr. Woodcourt kommt häufig zu Mr. C., glaube ich?« fing er wieder an.

»Mr. Woodcourt ist sein uneigennützigster Freund, Sir!«

»Ich meine, er behandelt ihn in seiner Eigenschaft als Arzt.«

»Das kann einem kummerbedrückten Gemüt wenig helfen«, sagte ich.

»Sehr wahr!« nickte Mr. Vholes.

Es lag etwas so Vampirhaftes in seinem Wesen, etwas Schleichendes, Gieriges, Blutloses, daß es mir vorkam, als müßte Richard schon unter den Augen eines solchen Beraters hinsiechen.

»Miß Summerson«, begann er wieder und rieb sich langsam die behandschuhten Hände, als ob es seinem Gefühlssinn ganz gleichgültig wäre, ob sie in schwarzen Handschuhen stäken oder nicht, »diese Heirat Mr. C.s war ein übelberatener Schritt.«

Ich bat ihn, dieses Thema nicht weiter zu berühren. Ich sagte ihm mit unterdrückter Entrüstung, sie hätten sich verlobt, als sie beide noch sehr jung gewesen, und zu einer Zeit, als ihre Aussichten für die Zukunft noch viel besser und freundlicher waren und als Richard sich noch nicht dem Einflusse hingegeben habe, der jetzt sein Leben verdüstere.

»Sehr wahr«, stimmte Mr. Vholes bei. »Dennoch möchte ich, um ganz offen zu sein, wenn Sie gestatten, Miß Summerson, bemerken, daß ich diese Heirat für einen sehr übel beratenen Schritt halte. Dies zu sagen, bin ich nicht nur Mr. C.s Verwandten und Freunden schuldig, denen gegenüber ich mich ganz natürlich zu decken wünschen muß, sondern auch meinem Rufe, den ich mir als Geschäftsmann unbefleckt zu erhalten trachte, eingedenk meiner drei Mädchen zu Hause, deren Lage ich unabhängig zu gestalten mich bemühe, sowie auch meines alten Vaters, dessen Erhaltung mir außerdem obliegt.«

»Es würde eine ganz andre Ehe, eine viel glücklichere und bessere sein, Mr. Vholes«, sagte ich, »wenn sich Richard überreden ließe, von dem unseligen Ziele, das Sie mit ihm verfolgen, abzulassen.«

Mit einem lautlosen Husten – oder vielmehr Schnappen – hinter seiner schwarz behandschuhten Hand neigte Mr. Vholes das Haupt, als ob er auch dies nicht bestreite.

»Miß Summerson«, sagte er, »das ist wohl möglich, und ich gestehe gern zu, daß die junge Dame, die auf so übelberatene Weise Mr. C.s Namen angenommen hat – ich bin überzeugt, Sie werden mir nicht zürnen, daß ich als eine Pflicht, die ich Mr. C.s Verwandten und Freunden schuldig bin, diese Bemerkung noch ein Mal mache –, eine höchst achtbare junge Dame ist. Geschäfte haben mich abgehalten, mich viel in andrer als beruflicher Gesellschaft zu bewegen, aber dennoch getraue ich mir das Urteil zu, daß sie eine höchst achtbare junge Dame ist. Was Schönheit betrifft, so bin ich darin nicht kompetent, und ich habe schon als Knabe kein besonderes Verständnis dafür gehabt, aber ich glaube sagen zu dürfen, daß an der jungen Dame auch in diesem Punkte nicht das geringste auszusetzen ist. Wie ich höre, gilt sie bei den Schreibern in Symond’s-Inn als eine Schönheit, und diese können darüber besser urteilen als ich. Was die Art betrifft, in der Mr. C. seine Interessen verfolgt…«

»Ach, ich bitte Sie, seine Interessen, Mr. Vholes!«

»Verzeihen Sie«, fuhr Mr. Vholes genau in derselben in sich gekehrten und leidenschaftslosen Weise fort, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, »Mr. C. hat gewisse Interessen kraft gewisser, in dem Prozeß bestrittener Testamente. Es ist das ein Geschäftsausdruck bei uns. Was die Art betrifft, mit der Mr. C. sein Interesse verfolgt, so erwähnte ich bereits damals, als ich das erste Mal das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, Miß Summerson, bewegt von dem Wunsche, stets offen zu handeln – ich gebrauchte genau diese Worte, denn ich schrieb sie später zufällig in meinem Tagebuch auf, das ich jederzeit vorweisen kann –, daß Mr. C. das Prinzip verfolgt, selbst darüber zu wachen, und daß, wenn einer meiner Klienten einem Grundsatz huldigt, der seiner Natur nach nicht unsittlich – das heißt, nicht ungesetzlich ist –, es meine Pflicht sei, diesem Grundsatz Rechnung zu tragen. Ich habe ihm Rechnung getragen und trage ihm auch jetzt Rechnung. Aber ich möchte um keinen Preis einem Verwandten oder Bekannten Mr. C.s die Sachen in einem günstigeren Lichte darstellen, als es sich mit dem Fall verträgt. So offen, wie ich gegen Mr. Jarndyce war, bin ich gegen Sie. Ich betrachte dies als meine Pflicht als Geschäftsmann, wenn ich auch niemandes Konto damit belasten kann. Ich sage offen, so wenig mundgerecht es auch klingen mag, daß, meiner Meinung nach, Mr. C.s Angelegenheiten sehr schlecht stehen, daß es mit ihm selbst sehr schlecht steht, und daß ich diese Heirat für einen sehr übelberatenen Schritt halte… Ob ich hier bin, Sir? Ja, ich danke Ihnen; ich bin hier, Mr. C., und erfreue mich des Vergnügens einer Unterhaltung mit Miß Summerson, für die ich Ihnen vielen Dank schuldig bin, Sir.«

Er brach auf diese Weise ab, da Richard hereinkam und ihn anredete.

Ich durchschaute Mr. Vholes‘ gesucht gewissenhafte Art, sich und seine Respektabilität für alle Fälle zu salvieren, zu gut, um nicht zu fühlen, daß unsre schlimmsten Befürchtungen ganz am Platze gewesen waren.

Wir setzten uns zu Tisch, was mir Gelegenheit gab, Richard genau zu beobachten. Mr. Vholes – der erst kurz vor dem Essen seine Handschuhe auszog – störte mich darin nicht, obgleich er mir gegenüber saß, denn ich bezweifle, daß er seine Augen ein einziges Mal von dem Gesicht Richards abwendete, wenn er überhaupt aufblickte.

Ich fand Richard abgemagert und schlaff aussehen, unordentlich in der Kleidung, zerstreut in seinem Wesen, dann und wann gezwungen heiter, und dann wieder in trübe Gedanken versunken. Seine großen hellen Augen, die so lustig dreinzuschauen pflegten, waren so eingesunken und ruhelos, daß man sie kaum mehr wiedererkannte. Ich kann nicht direkt den Ausdruck gebrauchen, daß er alt aussah, aber es gibt eine Ruine von Jugend, die dennoch nichts mit Alter gemein hat, und zu einer solchen Ruine war Richards jugendliche Schönheit geworden.

Er aß wenig, und es schien ihm gleichgültig zu sein, was er aß; er zeigte sich viel ungeduldiger als gewöhnlich, selbst Ada gegenüber. Anfangs glaubte ich, sein früheres leichtblütiges Wesen sei überhaupt schon ganz verschwunden, aber manchmal kam es doch auf Sekunden wieder zum Vorschein; wie ich selbst zuzeiten Augenblicke hatte, wo es mir schien, als ob mir aus dem Spiegel mein altes Gesicht entgegenschaue. Auch sein Lachen hatte er nicht ganz verlernt, wenn es auch nur der Nachhall seines früheren fröhlichen Temperaments war und mich unendlich traurig berührte.

Trotz alledem war er in seiner alten liebreichen Weise so sichtlich froh wie sonst, mich bei sich zu sehen, und wir sprachen fröhlich von den alten Zeiten. Diese schienen Mr. Vholes nicht zu interessieren, wenn er auch manchmal mit dem Mund eine schnappende Bewegung machte, was offenbar ein Lächeln sein sollte. Kurz nach dem Essen stand er auf und sagte, er werde mit der Erlaubnis der Damen sich in seine Kanzlei begeben.

»Immer Geschäfte, Vholes!« rief Richard.

»Ja, Mr. C.«, entgegnete er, »die Interessen der Klienten dürfen unter keinen Umständen vernachlässigt werden, Sir. Sie nehmen in den Gedanken eines Geschäftsmannes wie mir, der sich einen guten Namen unter seinen Kollegen und in der Gesellschaft im allgemeinen zu erhalten wünscht, die erste Stelle ein. Daß ich mir das Vergnügen der gegenwärtigen so angenehmen Unterhaltung versage, geschieht vielleicht nicht ganz ohne Rücksicht auf Ihre Interessen, Mr. C.«

Richard sprach seine Überzeugung aus, daß er keinen Augenblick daran zweifle, und leuchtete Mr. Vholes hinaus. Bei seiner Rückkehr versicherte er uns wiederholt, Vholes sei ein verläßlicher Kerl, ein Mann, der das tue, was er sage; wirklich ein Prachtsmensch! Es lag trotzdem soviel Unsicherheit in seinem Ton, daß ich mich des Gedankens nicht erwehren konnte, daß er Mr. Vholes zu mißtrauen anfange.

Dann warf er sich ganz erschöpft aufs Sofa, und Ada und ich räumten auf, denn sie hatten keinen andern Dienstboten als eine Aufwartefrau. Meine liebe Ada besaß ein kleines Klavier und fing an, einige von Richards Lieblingsliedern zu singen; aber erst mußte die Lampe in das Nebenzimmer getragen werden, da er klagte, daß sie seinen Augen weh täte.

Ich saß zwischen ihnen, an der Seite meines lieben Mädchens, und der Klang ihrer lieblichen Stimme stimmte mich unendlich trübe. Ich glaube, das war auch bei Richard der Fall, und vielleicht ließ er nur deshalb die Lampe hinaustragen.

Sie hatte eine Zeitlang gesungen und war von Zeit zu Zeit aufgestanden, um sich über ihn zu beugen und mit ihm zu sprechen, als Mr. Woodcourt kam, neben Richard Platz nahm und ihn im Lauf des Gespräches, halb scherzend, halb im Ernst, auf unauffällige Weise ausfragte, wie er sich befände und was er den ganzen Tag getrieben habe. Er schlug ihm sodann vor, in der hellen Mondnacht einen Spaziergang auf einer der Brücken zu machen, und da Richard bereitwilligst einverstanden war, gingen sie zusammen aus.

Als sie fort waren, saß meine liebe Ada noch immer am Piano, und ich neben ihr. Ich schlang meinen Arm um sie, und sie legte ihre linke Hand in die meine; mit der rechten glitt sie gedankenvoll über die Tasten, ohne einen Ton anzuschlagen.

»Liebste Esther«, sagte sie endlich, »niemals befindet sich Richard so wohl, und ich bin nie so ruhig seinetwegen, als wenn er in Gesellschaft Allan Woodcourts ist. Das haben wir dir zu danken.«

Ich wollte meinem Herzenskinde klarmachen, daß das kaum so sein könne, da Mr. Woodcourt ihres Vetters John Haus besucht und dort uns alle gekannt hätte und überdies immer Gefallen an Richard und dieser an ihm gefunden habe; – u. a. m.

»Das ist alles wahr«, gab Ada zu, »aber daß er uns ein so treuer Freund ist, verdanken wir doch nur dir.«

Ich hielt es für das Beste, meinem lieben Mädchen den Willen zu lassen und weiter nichts dagegen zu sagen. Dies äußerte ich auch gegen sie. Ich sagte es leichthin, weil ich fühlte, daß sie zitterte.

»Liebste Esther, ich möchte so gern eine gute, eine sehr gute Gattin sein. Willst du es mich nicht lehren?«

»Ich es dich lehren?!«

Ich schwieg sofort still, denn ich bemerkte, wie ihre Hand unruhig über die Tasten glitt, und wußte, daß ich nicht sprechen dürfte und sie etwas auf dem Herzen habe.

»Als ich Richard heiratete«, fing sie zögernd an, »war mir nicht verborgen, was ihm bevorstand. Ich war lange Zeit mit dir vollkommen glücklich gewesen und hatte keinen Kummer und keine Sorge gekannt, so liebte und pflegte mich alles; aber ich wußte trotzdem genau, welche Gefahr ihm drohte.«

»Ich weiß, ich weiß wohl, mein Liebling.«

»Als ich ihn geheiratet hatte, trug ich mich mit der leisen Hoffnung, daß ich imstande sein würde, ihn von seinem Irrtum zu überzeugen, daß er als mein Gatte die Sache in einem neuen Lichte betrachten würde und sie nicht noch meinetwegen verzweifelter verfolgen, wie er es jetzt tut. Aber auch wenn ich diese Hoffnung nicht gehegt hätte, liebe Esther, ich würde ihn dennoch geheiratet haben.«

An der augenblicklichen Festigkeit ihrer bisher ruhelos gewesnen Hand – eine Festigkeit, die von ihren letzten Worten ausströmte und mit ihrem Laut erstarb –, sah ich die Bestätigung ihres innigen Tones.

»Du darfst nicht denken, liebe Esther, daß ich nicht sehe, was du siehst, und nicht fürchte, was du fürchtest. Niemand kann ihn besser kennen als ich. Der größte Weise auf Erden könnte Richard kaum besser kennen, als ich ihn kenne in meiner Liebe.«

Sie sprach so bescheiden und mild, und ihre zitternde Hand verriet große Aufregung, wie sie sich auf den stummen Tasten hin- und herbewegte. Meine gute, liebe Ada!

»Ich sehe ihn jeden Tag in seinem schlimmsten Zustande. Ich beobachte ihn im Schlaf. Ich kenne jeden Wechsel seines Mienenspiels. Als ich ihn heiratete, war ich fest entschlossen, Esther, mit Gottes Hilfe, ihm nie zu zeigen, daß ich mich seiner Handlungsweise wegen grämte, um ihn nicht noch unglücklicher zu machen. Wenn er nach Hause kommt, darf er keine Spur von Sorge auf meinem Gesicht lesen. Wenn er mich ansieht, soll er in mir finden, was er liebte. Deshalb habe ich ihn geheiratet, und das hält mich aufrecht.«

Ich fühlte, wie sie immer mehr zitterte. Ich wartete, was noch kommen würde, und glaubte jetzt zu wissen, was es sein werde.

»Und noch etwas andres erhält mich aufrecht, Esther.«

Sie hielt eine Minute inne. Sie hielt nur inne im Sprechen – ihre Hand bewegte sich immer noch ruhelos.

»Nur noch eine kleine Weile, dann wird mir Gott vielleicht eine große Hilfe schicken. Wenn dann Richard seinen Blick auf mich richtet, sieht er vielleicht etwas an meiner Brust liegen, das beredter zu ihm spricht als ich, das größere Macht hat, ihm den wahren Weg zu zeigen und ihn wieder zurückzugewinnen.«

Ihre Hand wurde jetzt ruhig. Sie zog mich an ihre Brust, und ich umschlang sie mit meinen Armen.

»Auch wenn es diesem kleinen Geschöpfe nicht gelingen sollte, Esther, so will ich immer noch warten. Ich werde lange, lange Jahre warten und mir dann denken, daß, wenn ich alt oder vielleicht tot bin, ein schönes Weib, seine Tochter, glücklich verheiratet sein wird, und stolz auf ihn und ein Segen für ihn. Oder daß ein wackerer, braver junger Mann, so schön, wie er einst war, hoffnungsreich und glücklicher, ihn stützt, wenn sie im Sonnenschein miteinander spazieren gehen, sein graues Haar ehrt und zu sich sagt: ‚Ich danke Gott, daß das mein Vater ist! Zugrunde gerichtet durch eine unselige Erbschaft und wiederhergestellt durch mich!’«

– »O liebe Ada! Du gutes, treues Herz.« –

»Diese Hoffnungen halten mich aufrecht, meine liebe Esther, und ich weiß, daß sie auch fernerhin mich aufrecht erhalten werden, obwohl sogar sie manchmal von mir weichen und der Angst Platz machen, die mich erfaßt, wenn ich Richard ansehe.«

Ich versuchte, mein Herzenskind zu beruhigen, und fragte, wovor sie sich denn fürchte?

Schluchzend und weinend gab sie zur Antwort:

»Daß er nicht so lange lebt, um sein Kind zu sehen!«

61. Kapitel


61. Kapitel

Eine Entdeckung

Wie können die Tage, während deren ich jenen elenden Winkel besuchte, den mein Herzenskind verschönte, aus meinem Gedächtnis entschwinden! Ich sehe ihn jetzt nie mehr, und wünsche ihn auch nie mehr zu sehen; ich bin seit der Zeit, an die ich denke, nur ein einziges Mal dort gewesen, aber in meiner Erinnerung umschwebt ihn dennoch ein trauervoller Glanz, der nie von ihm weichen wird.

Natürlich verging kein Tag, wo ich nicht hinging. Anfangs fand ich zwei oder drei Mal Mr. Skimpole dort, der auf dem Piano herumklimperte und in seiner gewöhnlichen lebhaften Weise plauderte. Außer dem, daß ich sehr die Möglichkeit argwöhnte, daß er nicht hinkommen würde, ohne nicht jedes Mal Richard ärmer zu machen, schien mir auch seine sorglose Fröhlichkeit zu unverträglich mit dem zu sein, was in Adas innerstem Herzen vorging. Überdies bemerkte ich deutlich, daß Ada meine Empfindungen teilte. Nach vielem Nachdenken darüber entschloß ich mich daher, Mr. Skimpole einen Privatbesuch zu machen und zu versuchen, ihm mein Bedenken auf eine zarte Weise auseinanderzusetzen. Der Gedanke an mein Herzenskind machte mich so kühn.

Ich begab mich daher eines Morgens, begleitet von Charley, nach Somers-Town. Während ich mich dem Hause näherte, fühlte ich eine starke Neigung, umzukehren, denn es wurde mir immer klarer, welch verzweifelter Versuch es sei, einen Eindruck auf Mr. Skimpole zu machen, und wie wahrscheinlich es sei, daß ich ihm gegenüber den Kürzern ziehen würde. Ich dachte jedoch, daß ich, einmal hergekommen, die Sache auch zu Ende führen sollte. Ich klopfte daher mit zitternder Hand an Mr. Skimpoles Tür- buchstäblich mit den Fingerknöcheln, denn der Klopfer war abgebrochen –, bis mich nach langem Debattieren eine Irin einließ, die gerade dabei gewesen war, im Halbkellergeschoß den Deckel eines Wasserfasses mit dem Schüreisen zu Brennholz zu zerschlagen.

Mr. Skimpole lag in seinem Zimmer auf dem Sofa, spielte Flöte und war anscheinend entzückt, mich zu sehen. Er fragte mich, wer mich in aller Form empfangen sollte? Wer mir als Zeremonienmeisterin am liebsten wäre? Welche von seinen Töchtern es sein sollte, die Komödien-, die Schönheits- oder die Gemütstochter? Oder ob alle drei auf ein Mal, wie ein Blumenstrauß?

Schon halb besiegt, gab ich zur Antwort, daß ich mit ihm allein zu sprechen wünschte, wenn er es erlaubte.

»Meine liebe Miß Summerson, mit dem größten Vergnügen! Natürlich«, sagte er, indem er seinen Stuhl neben den meinen schob und gewinnend lächelte. »Natürlich kann es sich nicht um Geschäfte handeln und muß daher ein Vergnügen betreffen.«

Ich sagte, ich käme allerdings nicht in Geschäften, aber trotzdem beträfe es keine angenehme Sache.

»Dann sprechen Sie lieber nicht davon«, riet er mir mit der offenherzigsten Heiterkeit. »Warum wollen Sie von etwas sprechen, das nicht angenehm ist? Ich tue das nie. Und Sie sind in jeder Hinsicht ein viel angenehmeres Wesen als ich. Sie sind vollkommen Sonnenschein, und ich bin es nur in unvollkommenem Maße, wie viel weniger dürfen Sie daher von einer unangenehmen Sache sprechen, wenn ich es nicht tue! Das wäre also abgemacht, und wir wollen von etwas anderm reden.«

Obgleich ich verlegen war, so faßte ich mir doch ein Herz, ihm anzudeuten, daß ich trotzdem die Sache nicht fallen lassen könnte.

»Mr. Skimpole«, begann ich und blickte ihn fest an, »ich habe Sie so oft sagen hören, daß Ihnen die Angelegenheiten des täglichen Lebens ganz fremd sind –«

»Sie meinen unsre drei Bankierfreunde, Pfund, Schilling, und wie heißt der jüngste Associe doch? Penny?« unterbrach mich Mr. Skimpole fröhlich. »Habe keinen Begriff von ihnen.«

»– daß Sie vielleicht deshalb meine Keckheit entschuldigen werden. Ich – ich glaube, Sie sollten sich allen Ernstes vor Augen halten, daß Richard ärmer ist, als er je war –«

»Mein Gott! Das bin ich doch auch, höre ich allgemein.«

»– und in sehr bedrängten Umständen.«

»Ganz genau mein Fall«, sagte Mr. Skimpole mit erfreuter Miene.

»Das bereitet natürlich Ada gegenwärtig viel geheimen Kummer, und da ich glaube, daß sie sich weniger Sorgen macht, wenn sie weniger durch Besuche in Anspruch genommen wird, und überdies Richard immer eine große Sorge auf der Seele liegt, so habe ich es für meine Pflicht gehalten, mir die Freiheit zu nehmen, Sie zu bitten – lieber – nicht…«

Es wurde mir schwer, meine Bitte auszusprechen; aber er nahm jetzt meine beiden Hände und kam mir mit strahlendem Gesicht und auf das lebhafteste zuvor.

»Nicht hingehen? Gewiß nicht, meine liebe Miß Summerson, ganz gewiß nicht. Warum sollte ich hingehen? Wenn ich irgendwohin gehe, tue ich es immer nur des Vergnügens wegen. Um mir Schmerz zu bereiten, gehe ich keinen Schritt, weil ich für Vergnügen geschaffen bin. Der Schmerz kommt schon zu mir, wenn er mich braucht. Nun habe ich letzter Zeit sehr wenig Vergnügen bei unserm guten Richard gefunden, und Ihr praktischer Scharfsinn sagt Ihnen, warum. Unsre jungen Freunde verlieren die jugendliche Poesie, die sie einst so anziehend machte, und fangen an zu denken: das ist ein Mann, der Pfunde braucht. Das stimmt allerdings bei mir; ich brauche immer Pfunde; nicht für mich, sondern weil beständig Gewerbsleute sie von mir verlangen. Weiters fangen unsre jungen Freunde an, berechnend zu denken: das ist ein Mann, der sich immer Geld ausgeborgt. Und das stimmt wieder. Ich borge mir immer Geld aus. So sinken unsre jungen Freunde zur Prosa herab, was sehr zu bedauern ist, und büßen ihre Fähigkeit, Vergnügen zu bereiten, ein. Weshalb sollte ich sie daher besuchen? Höchst überflüssig!«

Durch das strahlende Lächeln, mit dem er mich während dieser Rede ansah, glänzte jetzt ein Blick uneigennützigen Wohlwollens, der wahrhaft erstaunlich war.

»Außerdem«, fuhr er in seinem Tone leichtherziger Überzeugung fort, »wenn ich nirgends hingehe, um Schmerz zu suchen – was eine Verkehrung meines Lebenszweckes und etwas ganz Ungeheuerliches für mich wäre –, warum sollte ich es tun, um andern Schmerz zu bereiten? Und wenn ich fortführe, unsre jungen Freunde in ihrer gegenwärtigen schlechten Gemütsverfassung zu besuchen, so würde ich ihnen Schmerz verursachen. Mein bloßer Anblick müßte sie verstimmen. Sie könnten sagen, das ist der Mann, der sich Geld von uns ausborgte und es nicht bezahlen kann; was ich natürlich nicht: kann; nichts steht so außer aller Frage wie das. Daher gebietet die Freundschaft, fernzubleiben, und das werde ich auch tun.«

Er schloß, indem er mit Wärme meine Hand küßte und mir dankte. Nur Miß Summersons feinem Takt, sagte er, verdanke er, darauf aufmerksam geworden zu sein.

Ich war sehr in Verlegenheit, tröstete mich aber mit dem Gedanken, daß, wenn nur der Hauptzweck erreicht sei, es wenig darauf ankomme, welch seltsam verdrehter logischer Denkschlüsse sich Mr. Skimpole bediene. Ich hatte mir jedoch vorgenommen, noch etwas zur Sprache zu bringen, und dachte, wenigstens in diesem Punkte nicht schachmatt gesetzt werden zu können.

»Mr. Skimpole«, sagte ich, »ehe ich meinen Besuch beendige, muß ich mir noch die Freiheit nehmen, Ihnen zu sagen, daß ich zu meinem größten Erstaunen vor kurzem aus zuverlässigem Munde erfahren habe, daß Sie wußten, mit wem jener arme Knabe von Bleakhaus wegging, und daß Sie bei dieser Gelegenheit ein Geschenk angenommen haben. Ich habe meinem Vormund nichts davon gesagt, weil ich fürchtete, ihm unnötigerweise weh zu tun, aber Ihnen kann ich ja sagen, daß ich mich sehr darüber gewundert habe.«

»O? Wirklich gewundert, meine liebe Miß Summerson?« entgegnete er und zog lächelnd die Augenbrauen in die Höhe.

»Höchlichst gewundert.«

Er dachte mit einem höchst freundlichen Gesicht eine kleine Weile nach, gab es aber dann auf und sagte in seiner gewinnendsten Weise:

»Sie wissen, was für ein Kind ich bin. Warum gewundert?«

Ich ging ungern näher auf die Frage ein, aber da er mich darum bat und wirklich neugierig auf meine Antwort zu sein schien, gab ich ihm mit den zartesten Worten, die ich finden konnte, zu verstehen, daß er durch sein Benehmen seine moralischen Verpflichtungen verletzt habe. Dies zu hören, ergötzte und interessierte ihn höchlichst, und er sagte mit wahrhaft kindlicher Einfalt: »Oh, wirklich?«

»Sie wissen, mir geht der Sinn für Verantwortlichkeit vollständig ab. Verantwortlichkeit ist etwas, das immer für mich zu hoch – oder zu niedrig gewesen ist«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, was von beiden; aber wenn ich den Standpunkt recht verstehe, von dem aus meine liebe Miß Summerson, die ich stets wegen ihrer praktischen Einsicht und Klarheit bewundere, den Fall beurteilt, möchte ich denken, es drehe sich hauptsächlich um die Geldfrage, nicht wahr?«

Unvorsichtigerweise stimmte ich bei.

»Ah! Dann müssen Sie aber selbst einsehen, daß ich es ganz unmöglich begreifen kann.«

Als ich aufstand, um zu gehen, gab ich ihm noch zu verstehen, daß es überdies unrecht sei, das Vertrauen meines Vormundes um eine Bestechungssumme zu mißbrauchen.

»Meine liebe Miß Summerson«, entgegnete er mit der heiteren Offenherzigkeit, die ihm eigen war, »ich kann nicht bestochen werden.«

»Auch nicht von Mr. Bucket?«

»Nein. Von niemandem. Ich lege doch nicht den mindesten Wert auf Geld! Ich kümmere mich nicht darum, ich verstehe nichts davon, ich brauche keins, ich behalte keins, – es schwindet mir unter der Hand weg. Wie kann ich da bestochen werden?«

Ich ließ ihn merken, daß ich andrer Meinung sei, wenn ich auch nicht die Fähigkeit besäße, über die Sache zu disputieren.

»Im Gegenteil«, fuhr er fort, »ich bin gerade der Mann, der in einem solchen Falle höher als andre steht. Ich stehe in einem solchen Falle über der Menschheit. Ich kann in einem solchen Falle als Philosoph handeln. Ich bin nicht in Vorurteile eingeschnürt wie ein italienischer Säugling in seine Windeln. Ich bin so frei wie die Luft. Ich fühle, daß ich so hoch über jedem Verdacht stehe wie Cäsars Frau.«

– So etwas wie die naive Unbefangenheit seines Wesens und die spielerische Unparteilichkeit, mit der er sich selbst zu überzeugen schien und die Frage wie einen Federball hin und her warf, war gewiß noch nicht dagewesen. –

»Fassen Sie den Fall wohl ins Auge, meine liebe Miß Summerson. Die Sache liegt so: Ein Knabe wird in einem Zustande, gegen den ich äußerst viel einzuwenden habe, in das Haus aufgenommen und zu Bett gebracht. Kaum ist das geschehen, steht plötzlich ein Mann da – wie ein Pilz aus dem Boden geschossen. Der Mann wünscht über den Knaben, gegen dessen Gesundheitszustand ich ausnehmend viel einzuwenden habe und der in das Haus aufgenommen und zu Bett gebracht worden ist, Näheres zu wissen. Er zieht eine Banknote hervor, und Skimpole nimmt sie an. Das sind die Tatsachen. Sehr gut. Sollte der Skimpole die Banknote ausschlagen? Warum sollte Skimpole die Banknote ausschlagen? Skimpole sagt zu Bucket: ‚Wofür ist das? Ich verstehe es nicht. Es nützt mir nichts, nehmen Sie es wieder zurück.‘ Aber Bucket bittet Skimpole, die Banknote anzunehmen. Gibt es Gründe, warum Skimpole, der von Vorurteilen frei ist, es annehmen sollte? Ja. Skimpole sieht sie. Was sind diese Gründe? Skimpole sagt sich: Dieser Mann ist ein gezähmter Luchs, ein tätiger Polizeibeamter, ein gescheiter Mann, eine Person von einer nach einer eigentümlichen Richtung gehenden Energie und großer Schlauheit im Entwerfen und Ausführen seiner Pläne. Ein Mann, der unsre Freunde und Feinde für uns findet, wenn wir sie suchen müssen, der unser Eigentum wieder zur Stelle schafft, wenn wir bestohlen worden sind, der uns in aller Ruhe rächt, wenn wir totgeschlagen worden sind. Dieser tätige Polizeibeamte und gescheite Mann hat in der Ausübung seines Amtes einen starken Glauben an die Macht des Geldes gewonnen; er findet, daß es ihm sehr nützlich ist, und verwendet es auf eine der Gesellschaft sehr nützliche Weise. Soll ich diesen Glauben Buckets erschüttern, wo ich seiner vielleicht einmal selbst bedarf? Soll ich mit voller Überlegung eine von Buckets Waffen abstumpfen ? Soll ich möglicherweise Buckets Kraft für seine nächsten Operationen lähmen?

Und weiter: Wenn es tadelnswert von Skimpole ist, die Banknote anzunehmen, so ist es tadelnswert von Bucket, die Note anzubieten, viel tadelnswerter von ihm, weil er der erfahrene Mann ist. Nun wünscht Skimpole gut von Bucket zu denken; Skimpole hält es bei den heutigen gesellschaftlichen Zuständen für direkt wesentlich, gut von Bucket zu denken. Der Staat fordert ihn ausdrücklich auf, Bucket Vertrauen zu schenken, und er tut es. Und weiter tut er nichts!«

Ich hatte auf diese Auseinandersetzung nichts zu erwidern und nahm daher Abschied. Mr. Skimpole jedoch, der bei vortrefflicher Laune war, wollte durchaus nicht gestatten, daß ich, nur von der kleinen »Coavinses« begleitet, nach Hause ginge, und geleitete mich daher selbst. Unterwegs unterhielt er mich auf die fesselndste und angenehmste Weise und gab mir beim Abschied die Versicherung, daß er niemals vergessen werde, mit welch feinem Takt ich ihn auf die Punkte betreffs unsrer jungen Freunde aufmerksam gemacht hätte.

Da ich nie wieder mit Mr. Skimpole zusammenkam, will ich gleich hier seine Geschichte auserzählen, soweit ich sie kenne. Hauptsächlich aus den vorerwähnten Gründen, und weil er die Bitten meines Vormundes in bezug auf Richard gewissenloserweise nicht beachtete – wie wir später von Ada erfuhren –, trat zwischen beiden eine Entfremdung ein. Daß er bedeutend in der Schuld meines Vormundes stand, hatte natürlich nichts damit zu tun. Als er ungefähr fünf Jahre später starb, hinterließ er ein Tagebuch mit Briefen und andern »Belegen«, das im Druck erschien und zeigte, daß er das Opfer einer Verschwörung der Menschheit gegen ein liebenswürdiges Kind geworden sei. Man rühmte es als eine sehr amüsante Lektüre, aber ich habe nie mehr als den Satz gelesen, auf den mein Auge zufällig, als ich den Band aufschlug, fiel. Er lautete: »Jarndyce ist, wie die meisten andern Menschen, die ich kennen gelernt habe, die verkörperte Selbstsucht.«

Und nun komme ich zu einem Teil meiner Geschichte, der mich sehr nahe angeht und auf den ich gar nicht gefaßt war, als sich der Vorfall, den ich jetzt erzählen will, ereignete.

Wenn noch einige sehnsüchtige Gedanken in bezug auf mein früheres Aussehen dann und wann in mir aufgetaucht waren, so tauchten sie nur auf wie Erinnerungen an einen Teil meines hinter mir liegenden Lebens – in der Vergangenheit unwiederbringlich versunken wie meine Kindheit. Ich habe keine von meinen vielen Schwächen hinsichtlich dieses Punktes verschwiegen, sondern sie so getreulich niedergeschrieben, wie es mir mein Gedächtnis erlaubte. Und ich hoffe und gedenke dasselbe bis zum letzten Ende dieser Blätter zu tun, das ich in nicht zu weiter Ferne bereits vor mir liegen sehe.

Die Monate verflossen, und mein Herzenskind, aufrecht erhalten von der Hoffnung, die es mir anvertraut hatte, blieb derselbe schöne Stern in dem elenden Winkel. Abgespannter und hohläugiger Tag für Tag besuchte Richard den Gerichtshof; teilnahmslos und still saß er dort die langen Stunden, selbst wenn er wußte, daß keine Aussicht auf eine Verhandlung seines Prozesses vorhanden war, und wurde so zu einer der typischen Gestalten des Ortes. Ich möchte gern wissen, ob einer der Herren sich seiner erinnerte, wie er war, als er das erste Mal dort erschien.

Seine fixe Idee hielt ihn so vollkommen umstrickt, daß er in seinen heitern Augenblicken zu gestehen pflegte, er würde jetzt nie frische Luft schöpfen gehen, außer Woodcourt zu Liebe. Bloß dieser brachte es zuwege, gelegentlich ein paar Stunden hintereinander seine Aufmerksamkeit abzulenken und ihn aufzurütteln, wenn er in eine Lethargie des Geistes und des Körpers versank, die uns durch ihre von Monat zu Monat immer häufiger werdende Wiederkehr außerordentlich beunruhigte.

Meine Herzens-Ada hatte recht, wenn sie sagte, daß er seinen Irrlichtern ihretwegen nur um so verzweifelter nachjagte. Ich bezweifle nicht, daß sein Kummer um sein junges Weib seinen heißen Wunsch, das Verlorene wieder zu gewinnen, noch brennender machte, bis er schließlich zum Wahnsinn eines Spielers ausartete.

Ich besuchte sie, wie ich schon erwähnt habe, zu allen Stunden. Wenn ich abends bei ihnen war, fuhr ich meistens mit Charley nach Hause; manchmal erwartete mich auch mein Vormund in der Nachbarschaft, und wir gingen dann zusammen heim. Eines Abends hatten wir besprochen, uns um acht Uhr zu treffen. Ich konnte nicht ganz pünktlich gehen, was ich sonst für gewöhnlich tat, denn ich arbeitete etwas für meine gute Ada und hatte noch ein paar Stiche zu machen, um fertig zu werden – aber bereits ein paar Minuten nach der bestimmten Stunde konnte ich mein kleines Arbeitskörbchen zusammenpacken, gab meinem Herzenskinde zum Abschied für die Nacht noch einen Kuß und eilte die Treppe hinunter. Mr. Woodcourt begleitete mich, da es schon dämmerig war.

Als wir an den Ort kamen, wo wir uns treffen sollten – es war nicht weit, und Mr. Woodcourt hatte mich oft bis dahin begleitet –, war mein Vormund nicht da. Wir warteten eine halbe Stunde und gingen unterdessen auf und ab; aber er kam nicht. Wir glaubten, es hätte ihn entweder etwas abgehalten oder er sei dagewesen und wieder fortgegangen; und Mr. Woodcourt erbot sich, mich nach Hause zu bringen.

Es war der erste längere Gang, den wir zusammen machten, und wir sprachen auf dem ganzen Wege von Richard und Ada. Ich dankte ihm nicht in Worten für das, was er getan – ich dachte zu hoch davon, als daß ich es mit Worten hätte ausdrücken können –, aber ich hoffte innerlich, er werde etwas von dem ahnen, was ich so tief fühlte.

Als wir zu Hause ankamen und hinaufgingen, bemerkten wir, daß sowohl mein Vormund wie auch Mrs. Woodcourt ausgegangen waren. Wir befanden uns in demselben Zimmer, in das ich meine errötende Ada geführt hatte, als ihr jugendlicher Geliebter, jetzt ihr so veränderter Gatte, der Erwählte ihres jungen Herzens gewesen war – in demselben Zimmer, aus dem mein Vormund und ich sie einst in der frischen und hoffnungsreichen Blüte ihrer Jugend in den Sonnenschein hatten hinaustreten sehen.

Wir standen am offenen Fenster und blickten die Straße hinab, als Mr. Woodcourt zu sprechen anfing. Ich wußte in einem Augenblick, daß er mich liebte; ich wußte in einem Augenblick, daß mein vernarbtes Gesicht für ihn noch das alte war. Ich wußte in einem Augenblick, daß das, was ich für Teilnahme und Mitleid gehalten, hingebende, edle, treue Liebe war. Oh, ich wußte es jetzt zu spät. Zu spät, zu spät.

Das war der erste undankbare Gedanke, den ich hatte.

Zu spät!

»Als ich aus Ostindien zurückkehrte«, sagte er zu mir, »und nicht reicher, als ich hingegangen war, und Sie kaum vom Krankenlager erstanden und doch voll von so liebreicher Sorge für andre und so frei von jedem selbstischen Gedanken fand…«

»Oh, Mr. Woodcourt, bitte, sagen Sie das nicht!« bat ich ihn. »Ich verdiene nicht Ihr hohes Lob. Ich hatte damals gar manchen selbstischen Gedanken!«

»Der Himmel weiß, Geliebte meiner Seele«, sagte er, »daß mein Lob nicht das Lob eines Liebenden ist, sondern die Wahrheit. Sie wissen nicht, was alle um Sie in Esther Summerson sehen, wie viele Herzen sie rührt und erweckt, welch heilige Bewunderung und Liebe sie gewinnt.«

»Oh, Mr. Woodcourt«, rief ich, »es ist eine große Sache, Liebe zu gewinnen! Ich bin stolz darauf und fühle mich geehrt dadurch; und es zu hören, macht mich Tränen vergießen, Tränen der Freude und des Schmerzes – der Freude, daß ich sie gewonnen, des Schmerzes, daß ich sie nicht besser verdient habe; aber an Ihre Liebe zu denken, ist mir nicht erlaubt.«

Ich sagte es mit gestärktem Herzen, denn als er mich so pries und ich aus seiner Stimme den Glauben herausklingen hörte, daß das, was er sagte, die Wahrheit sei, da erfüllte mich das Verlangen, mich des Lobes noch würdiger zu machen. Es war nicht zu spät dazu. Wenn ich diese Seite meines Lebens, die die Hand des Schicksals jetzt in so ungeahnter Weise und so plötzlich beschrieben, entschlossen umwendete, konnte ich ihrer mein ganzes Leben lang würdiger sein. Und es war mir ein Trost und ein neuer Sporn, und ich empfand in mir etwas wie einen inneren Wert, den ich ihm verdankte, wenn ich so dachte.

Er brach das Schweigen.

»Ich würde eine armselige Probe des Vertrauens geben, das ich auf die Geliebte setze, die mir für alle Zeit gleich teuer sein wird« – der innige Ernst, mit dem er dies sagte, gab mir zugleich Kraft und machte mich weinen – »wenn ich nach ihrer Versicherung, daß es ihr nicht erlaubt ist, an meine Liebe zu denken, weiter in sie drängen wollte. Teuerste Esther, erlauben Sie mir nur, Ihnen zu sagen, daß die innige Zuneigung, die ich für Sie mit übers Meer nahm, in den Himmel wuchs, als ich nach Hause zurückkehrte. Ich habe immer gehofft, Ihnen dies in der ersten Stunde, wo nur ein Strahl von Glück auf mich fallen würde, sagen zu können. Ich habe stets gefürchtet, daß ich vergeblich zu Ihnen sprechen würde. Meine Hoffnungen und Befürchtungen haben sich an diesem Abend bestätigt. Aber ich sehe, ich tue Ihnen weh. Ich habe genug gesagt.«

Etwas schien an meine Stelle zu treten, das dem Engel glich, für den er mich hielt, und der Verlust, den er erlitten, betrübte mich tief! Ich wünschte ihn in seinem Kummer zu trösten, wie damals, als ihm das Mitleid mit mir auf dem Gesichte geschrieben stand.

»Lieber Mr. Woodcourt«, begann ich, »ehe wir heute voneinander gehen, muß ich Ihnen noch etwas sagen. Ich könnte es nie so tun, wie ich wünschte – es ist unmöglich – aber –«

– Ich mußte noch einmal an meinen Entschluß denken, seiner Liebe und seines Schmerzes würdiger zu werden, bevor ich fortfahren konnte. –

»– ich empfinde Ihre Hochherzigkeit aufs tiefste und werde die Erinnerung daran bis zu meiner letzten Stunde in meinem Herzen bewahren. Ich weiß vollkommen, wie sehr ich verändert bin, ich weiß, daß Ihnen meine Geschichte nicht unbekannt ist, und weiß, was für eine große Liebe es sein muß, die so treu aushält. Was Sie mir gesagt haben, hätte mich von keinen andern Lippen so rühren können, aus keinem andern Munde hätte es solchen Wert für mich gehabt. Es wird nicht verloren sein. Es wird mich besser machen.«

Er bedeckte die Augen mit der Hand und wendete sich ab.

– Wie werde ich mich jemals dieser Tränen würdig machen können?-

»Wenn Sie in dem unveränderten Verkehr, den wir miteinander haben werden, indem wir über Richard und Ada wachen – und ich hoffe, unter fröhlicheren Lebensverhältnissen –, etwas in mir entdecken, das Sie wirklich für besser halten können, als es früher war, so glauben Sie, daß es von heute abend herrührt und ich es Ihnen verdanke. Und glauben Sie niemals, lieber, lieber Mr. Woodcourt, glauben Sie niemals, daß ich diesen Abend vergessen könnte oder daß ich, solange mein Herz schlägt, nicht voll des Stolzes und der Freude sein müßte, von Ihnen geliebt worden zu sein.«

Er ergriff meine Hand und küßte sie. Er hatte sich wieder vollständig gefaßt, und ich fühlte mich noch mehr ermutigt als vorher.

»Nach dem, was Sie soeben erwähnten«, fragte ich, »kann ich wohl annehmen, daß Ihre Bemühungen Erfolg hatten?«

»Ja«, gab er zur Antwort. »Mit der Hilfe, die mir Mr. Jarndyce, wie Sie sich leicht denken können, wo Sie ihn so gut kennen, hat angedeihen lassen.«

»Der Himmel segne ihn dafür«, sagte ich und reichte Mr. Woodcourt die Hand, »und der Himmel segne Sie in allem Ihrem Tun.«

»Ihr Segenswunsch wird mir ein Sporn sein; er wird mich meine neuen Pflichten wie ein mir von Ihnen vertrautes heiliges Amt betrachten lassen.«

»Ach, Richard!« rief ich unwillkürlich aus. »Was wird aus ihm werden, wenn Sie fort sind?«

»Ich brauche jetzt noch nicht zu gehen, und würde ihn auch nicht verlassen, wenn ich jetzt fort müßte, liebe Miß Summerson.«

Noch einen andern Gegenstand mußte ich berühren, fühlte ich, ehe er mich verließ. Ich wußte, daß ich seiner Liebe, die ich nicht annehmen konnte, nicht würdiger sein würde, wenn ich es unterließ.

»Mr. Woodcourt«, sagte ich also, »es wird Sie gewiß freuen, aus meinem Munde, ehe ich Ihnen gute Nacht sage, zu hören, daß ich in der Zukunft, die so klar und hell vor mir liegt, glücklich und sorgenlos sein und nichts zu beklagen und nichts zu wünschen haben werde.«

Es freue ihn wirklich von ganzer Seele, das zu hören, gab er zur Antwort.

»Von Kindheit an«, fuhr ich fort, »bin ich der Mittelpunkt der unerschöpflichen Güte des besten aller Menschen gewesen. Ich bin durch jedes Band von Zuneigung, Dankbarkeit und Liebe so fest an ihn geknüpft, daß alles, was ich im Laufe eines ganzen Lebens tun könnte, nicht imstande wäre, die Gefühle eines einzigen Tages auszudrücken.«

»Ich teile diese Gefühle«, entgegnete er. »Sie sprechen von Mr. Jarndyce.«

»Sie kennen seine hohen Eigenschaften, Mr. Woodcourt, aber wenige sind imstande, die Größe seines Charakters so zu kennen wie ich. Aber alle seine schönsten und besten Eigenschaften sind mir noch nie in glänzenderem Lichte erschienen als in der Aussicht auf die Zukunft, in der ich mich so glücklich fühle, und wenn Sie ihm noch nicht die höchste Verehrung und Achtung zollten, so würden Sie es jetzt, glaube ich, nach dieser Versicherung tun, und infolge des Gefühls, das Sie meinetwegen für ihn empfinden müßten.«

Er antwortete mit Innigkeit, ich wisse gar nicht, wie hoch er Mr. Jarndyce schätzte, und ich reichte ihm abermals die Hand.

»Gute Nacht!« sagte ich. »Leben Sie wohl…!«

»Das erste, bis wir uns morgen wiedersehen; das zweite als einen Abschied von diesem Gegenstand für uns auf immer?«

»Ja.«

»Also, gute Nacht! Leben Sie wohl!«

Er ging, und ich stand an dem dunkeln Fenster und sah auf die Straße hinaus. Seine Liebe hatte mich in ihrer Treue und ihrem Edelsinn so sehr überwältigt, daß er noch keine Minute von mir fort war, als mich all meine Kraft verließ und ein Tränenstrom die Straße vor meinem Blick verhüllte.

Aber es waren nicht Tränen des Schmerzes und der Trauer. Nein. Er hatte mich die Geliebte seiner Seele genannt und gesagt, ich würde ihm immer so teuer bleiben wie jetzt, und diese Worte erfüllten mein Herz mit einem solch seligen Frohlocken, daß ich glaubte, es müsse zerspringen. Ich hatte mein inneres Gleichgewicht wieder gefunden. Es war nicht zu spät, seine Worte zu hören, denn es war nicht zu spät, von ihnen zur Hochherzigkeit, zur Wahrheit, zur Dankbarkeit und zur Zufriedenheit angespornt zu werden.

Wie eben war mein Weg; wie viel ebener als der seinige!

62. Kapitel


62. Kapitel

Noch eine Entdeckung

Ich hatte nicht den Mut, an diesem Abend jemanden zu sehen, nicht einmal den Mut, mich selbst im Spiegel zu sehen, denn ich fürchtete, den Anblick meiner verweinten Augen wie einen Vorwurf zu empfinden. Ich ging im Finstern in mein Zimmer hinauf und betete im Finstern und legte mich im Finstern schlafen. Ich brauchte kein Licht, um meines Vormundes Brief noch ein Mal durchzulesen; konnte ich ihn doch auswendig. Ich nahm ihn aus meiner Schublade und wiederholte mir seinen Inhalt im Geiste bei seinem eignen hellen Licht reiner Liebe und schlief mit dem Briefe neben mir auf dem Kissen ein.

Ich stand des Morgens sehr zeitig auf und machte mit Charley einen Spaziergang. Wir kauften Blumen für den Frühstückstisch und kamen wieder nach Hause und stellten sie in die Vasen und waren so geschäftig wie möglich. Wir wurden mit allem so frühzeitig fertig, daß ich vollauf Zeit hatte, Charley noch vor dem Frühstück ihre Lektion zu geben, und meine kleine Zofe, die in der Grammatik noch immer nicht recht sattelfest war, bestand die Prüfung mit Auszeichnung, und wir klappten ruhmbedeckt unsre Bücher zu. Als mein Vormund eintrat, sagte er: »Wahrhaftig, kleines Frauchen, du siehst ja frischer aus als deine Blumen!« Und Mrs. Woodcourt rezitierte und übersetzte eine Stelle aus dem Mewlinwillinwodd, in der sie mich mit einem sonnenbeschienenen Berge verglich. Das alles war so hübsch und erfreulich für mich, daß ich hoffe, es machte mich dem Berge ein wenig ähnlicher, als ich es vorher gewesen war. Nach dem Frühstück schäfterte ich ein bißchen herum, um nicht untätig zu sein, und bemerkte dabei, daß mein Vormund allein in seinem Zimmer – dem Zimmer von gestern abend – saß. Ich benutzte meine Würde als Wirtschafterin als einen Vorwand, hineinzugehen, und machte die Türe hinter mir zu.

»Nun, Hausmütterchen?« sagte mein Vormund. – Die Post hatte ihm mehrere Briefe gebracht, und er war mit Schreiben beschäftigt. – »Du brauchst Geld!«

»O nein, ich habe noch eine ganze Menge.«

»Es hat wohl noch nie ein Hausmütterchen gegeben, das mit Geld so lange ausgekommen wäre.« Er legte seine Feder hin, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sah mich nachdenklich an.

Wie genau kannte ich jeden Zug seines milden menschenfreundlichen Gesichtes, aber noch nie glaubte ich soviel Liebe und Güte darin gesehen zu haben. – Ein Glanz von Glück lag darauf, daß ich mir unwillkürlich dachte: er muß diesen Morgen etwas ganz besonders Segensreiches getan haben.

Er hatte sein altes Benehmen mir gegenüber bisher unverändert beibehalten. Ich liebte es an ihm so sehr, daß ich, als ich jetzt zu ihm ging und mich, wie so oft, wenn ich mit ihm plauderte, ihm vorlas oder an einer Stickerei arbeitete, neben ihn setzte, mich fast fürchtete, seine Seelenruhe zu stören, indem ich an seine Herzensangelegenheit rührte. Aber wie ich fand, überraschte es ihn gar nicht.

»Lieber Vormund«, fing ich an, »ich möchte dich gerne etwas fragen. Bin ich in irgend etwas säumig gewesen?«

»Säumig gewesen, mein Kind?«

»War ich vielleicht nicht so, wie ich beabsichtigte, seitdem ich dir die Antwort auf deinen Brief brachte, Vormund?«

»Du bist mir alles gewesen, was ich nur wünschen konnte, mein Liebling!«

»Ich freue mich wirklich von Herzen, das zu hören. Du weißt, du fragtest mich, ob ich die Herrin von Bleakhaus sein wolle? Und ich sagte ja.«

»Ja«, sagte mein Vormund und nickte freudig. Er hielt seinen Arm um mich geschlungen, als ob er mich vor etwas beschützen müßte, und sah mir lächelnd ins Gesicht.

»Seit damals haben wir nie wieder über diese Sache gesprochen. Nur ein einziges Mal, Vormund.«

»Und damals sagte ich, Bleakhaus wird einsam, und das ist es auch geworden, mein Liebling.«

»Und ich sagte«, erinnerte ich ihn schüchtern, »aber seine Herrin bleibt.«

Er hielt mich immer noch mit seinem Arm beschützend, dieselbe strahlende Herzensgüte auf seinem Gesicht, umschlungen.

»Lieber Vormund«, sagte ich, »ich weiß, wie sehr du alles, was geschehen ist, mit mir gefühlt hast und wie rücksichtsvoll du gewesen bist. Da es schon so lange her ist und du erst diesen Morgen äußertest, daß ich wieder wohlauf sei, so erwartest du vielleicht, daß ich von der Sache anfange. Ich glaube, es ist dies meine Pflicht. Ich will die Herrin von Bleakhaus sein, wann du wünschest.«

»Schau nur«, entgegnete er heiter, »welche Gedankengleichheit zwischen uns herrscht! Den armen Richard vielleicht ausgenommen, hat mir nichts so sehr auf dem Herzen gelegen. Als du hereintratest, war ich ganz damit beschäftigt. Wann soll Bleakhaus seine Herrin bekommen, Frauchen?«

»Wann du wünschest.«

»Nächsten Monat?«

»Nächsten Monat, lieber Vormund.«

»Der Tag, an dem ich den glücklichsten und besten Schritt meines Lebens tun, der Tag, an dem ich der glücklichste und beneidenswerteste Mensch auf der Welt sein werde, der Tag, an dem ich Bleakhaus seine kleine Herrin gebe, soll also nächsten Monat sein?«

Ich umarmte und küßte ihn, gerade wie an dem Tage, wo ich ihm eine Antwort überbracht hatte.

Das Dienstmädchen öffnete die Tür, um Mr. Bucket zu melden, was ganz unnötig war, denn er blickte ihr bereits über die Achsel.

»Mr. Jarndyce und Miß Summerson«, sagte er etwas außer Atem, »ich bitte um Verzeihung, wenn ich störe, aber würden Sie mir vielleicht erlauben, jemanden herausbringen zu lassen, der auf der Treppe wartet und sich dort zu bleiben weigert, weil er befürchtet, daß wir hinter seinem Rücken über ihn sprechen könnten? Ja? Ich danke. – Sie sind wohl so gut und bringen diesen Stuhl da herauf, nicht wahr?« Er winkte über das Treppengeländer hinunter.

Auf diese eigentümliche Aufforderung hin wurde ein alter Mann in einem schwarzen Hauskäppchen, der nicht gehen konnte, von ein paar Männern heraufgetragen und im Zimmer niedergesetzt. Mr. Bucket schickte die Träger fort, machte geheimnisvoll die Türe zu und schob den Riegel vor.

»Nun, sehen Sie, Mr. Jarndyce«, fing er an, setzte seinen Hut hin und eröffnete seinen Vortrag mit seinem mir unvergeßlichen Hin- und Herbewegen seines Zeigefingers, »Sie kennen mich, und Miß Summerson kennt mich. Dieser Herr kennt mich ebenfalls, und sein Name ist Smallweed. Eskomptieren ist sein Hauptgeschäft, und er ‚macht in Wechseln‘ wie man so sagt. Nicht wahr, so ungefähr verhält sich die Sache«, sagte Mr. Bucket und beugte sich ein wenig zu dem alten Herrn herab, der sehr mißtrauisch gegen ihn zu sein schien.

Mr. Smallweed wollte offenbar lebhaft widersprechen, wurde aber durch einen heftigen Hustenanfall daran verhindert.

»Sehen Sie, das ist die Strafe!« sagte Mr. Bucket, sich den Anfall zunutze machend. »Widersprechen Sie nicht, wo es nicht nötig ist, und Sie werden solche Anfälle nicht bekommen. – Mr. Jarndyce, hören Sie zu, was ich Ihnen sage. Ich habe mit diesem Herrn im Auftrage Sir Leicester Dedlocks, Baronet, unterhandelt und bin in diesen und andern Sachen bei ihm viel aus- und eingegangen. Wo er jetzt wohnt, wohnte früher ein gewisser Krook, ein Hadernhändler und Verwandter von ihm, den Sie, wenn ich nicht irre, bei Lebzeiten gekannt haben?«

Mein Vormund bejahte.

»Gut! Sie müssen nun wissen, daß dieser Herr hier Krooks Hinterlassenschaft geerbt hat. Sie sah der Hinterlassenschaft einer Elster ziemlich ähnlich. Unmassen Makulatur befanden sich darunter. Mein Gott, alter Plunder, zu nichts nütze!«

– Die Verschmitztheit in Mr. Buckets Blick und die meisterhafte Weise, in der er uns, ohne daß sein mißtrauischer Zuhörer auch nur gegen eines seiner Worte oder eine einzige Geste hätte protestieren können, zu verstehen zu geben wußte, daß er die Sache nach vorherigem Übereinkommen darstellte und uns viel mehr von Mr. Smallweed sagen könnte, wenn er es für ratsam fände, sagten uns, daß wir auf der Hut sein müßten. Die Sache wurde ihm dadurch noch schwieriger gemacht, daß Mr. Smallweed nicht nur äußerst mißtrauisch, sondern auch halb taub war und jede seiner Mienen mit der schärfsten Aufmerksamkeit beobachtete. –

»Unter diesem Haufen alter Papiere stöbert nun dieser Herr, als er die Erbschaft antritt, natürlich herum. Sie verstehen.«

»Was tut er? Sagen Sie das noch ein Mal«, rief Mr. Smallweed mit schriller, dünner Stimme.

»Fängt darin herumzustöbern an«, wiederholte Mr. Bucket. »Als kluger Mann und gewohnt, Ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen, fangen Sie an, in den Papieren herumzustöbern; oder nicht?«

»Natürlich tue ich das«, schrie Mr. Smallweed.

»Natürlich tun Sie es«, sagte Mr. Bucket in unbefangenem Konversationston. »Und es wäre unverantwortlich von Ihnen, wenn Sie es nicht täten. Und so finden Sie zufällig, nicht wahr?« fuhr Mr. Bucket fort und beugte sich mit einer schelmischen Miene, in die Mr. Smallweed nichts weniger als einstimmte, über ihn, »und so finden Sie zufällig ein Papier, das die Unterschrift eines gewissen Jarndyce trägt, nicht wahr?«

Mr. Smallweed blickte uns mit unruhigen Augen an und drückte widerwillig seine Beistimmung aus.

»Und wie Sie sich dieses Papier gelegentlich und in aller Muße – alles zu seiner Zeit, denn Sie sind gar nicht neugierig, i, wo wären Sie denn – besehen, was ist es anders als ein Testament, nicht wahr? Es ist ein Mordsjux«, sagte Mr. Bucket so heiter, als ob er einen Witz erzählte, der aber Mr. Smallweed durchaus keinen Spaß zu machen schien. »Wirklich und wahrhaftig ein Testament, was?«

»Na ja, wahrscheinlich wird’s ein Testament oder was ähnliches sein«, knurrte Mr. Smallweed.

Mr. Bucket sah einen Augenblick den Alten, der in seinem Stuhl zu einem wahren Bündel zusammengesunken war, an, als hätte er ihn am liebsten am Kragen gepackt, beugte sich aber gleich darauf wieder mit freundlicher Miene über ihn und warf uns dabei aus den Augenwinkeln einen listigen Blick zu.

»Natürlich bereitet Ihnen das einigermaßen Unruhe, denn Sie haben ein sehr zartes Gewissen.«

»He? was sagen Sie, soll ich haben?« fragte Mr. Smallweed, die Hand am Ohr.

»Ein sehr zartes Gewissen.«

»Ho! Gut, weiter!«

»Und da Sie ziemlich viel von einem berühmten Kanzleigerichtsfall wegen eines Testaments unter gleichem Namen gehört haben und überdies wissen, was für ein Mordskerl Krook war, wenn es galt, allen möglichen alten Kram und Bücher und Papiere und sonstigen Plunder aufzukaufen und zusammenzuhamstern, und daß er sich beständig bemühte, von selber lesen zu lernen, so wird allmählich in Ihnen die Befürchtung wach – und mehr Grund dazu haben Sie vielleicht in Ihrem ganzen Leben noch nicht gehabt –, Donnerwetter, wenn ich mich da nicht sehr in acht nehme, kann ich wegen dieses Testaments noch verdammt in Ungelegenheiten kommen.«

»Jetzt geben Sie gefälligst acht, Bucket, auf jedes Wort«, unterbrach der Alte voll Aufregung und hielt die Hand ans Ohr. »Heraus damit, aber keine von Ihren Höllenschwefelstreichen. Verstanden! Heben Sie mich in die Höhe; ich muß es besser hören. – O Gott, er schüttelt mich in Stücke!«

Mr. Bucket hatte ihn allerdings mit einem unsanften Ruck in die Höhe gehoben, und Mr. Smallweed hustete und jammerte giftig: »Oh, meine Knochen! O Gott! Ich habe keinen Atem mehr im Leibe! Mir ist schlimmer zumute als der schnatternden Höllenschwefelhexe zu Hause.« Dann fuhr Mr. Bucket in derselben gemütlichen Weise wie früher fort.

»Und da ich viel bei Ihnen aus und ein gehe, so ziehen Sie mich natürlich ins Vertrauen, nicht wahr?«

– Ich glaube nicht, daß jemand etwas mit größerem Widerwillen und galliger zugeben könnte, als Mr. Smallweed dies jetzt tat. Er verriet dadurch offenkundig, daß Mr. Bucket der Allerletzte gewesen wäre, den er aus freien Stücken ins Vertrauen gezogen hätte.

»Und ich gehe die Sache in Ruhe mit Ihnen durch und bestätige Ihre wohlbegründete Befürchtung, daß Sie in eine höchst fatale Lage geraten können, wenn Sie das Testament nicht herausgeben«, sagte Mr. Bucket mit Nachdruck. »Und so kommen Sie denn mit mir überein, es dem jetzt hier anwesenden Mr. Jarndyce ohne alle Bedingungen auszuhändigen. Wenn es von Wert sein sollte, so überlassen Sie ihm die Belohnung; so war’s ungefähr, was?«

»So haben wir’s vereinbart«, stimmte Mr. Smallweed mit demselben Unwillen wie früher bei.

»Infolge dieses Übereinkommens«, fuhr Mr. Bucket fort, gab sein gemütliches Wesen jetzt auf einmal auf und wurde streng geschäftsmäßig, »haben Sie das Testament mit hierhergebracht, und das einzige, was Ihnen noch zu tun übrig bleibt, ist, es herauszugeben!«

Nach einem schnellen Seitenblick auf uns streckte Mr. Bucket, nachdem er sich die Nase triumphierend mit seinem Zeigefinger gerieben, die Augen auf seinen vertrauten Freund geheftet, die Hand aus, um das Dokument in Empfang zu nehmen und es meinem Vormund zu übergeben.

Erst nach vielem Sträuben und wortreichen Beteuerungen, daß er ein armer fleißiger Mann sei und es ganz Mr. Jarndyces Ehrenhaftigkeit überlasse, ihn nicht zu Schaden kommen zu lassen, brachte Mr. Smallweed allmählich und langsam aus der Brusttasche ein beflecktes und vergilbtes Papier, das auf der Außenseite sehr versengt und an den Rändern ein wenig angebrannt aussah, als wäre es vor langer Zeit ins Feuer geworfen und hastig wieder herausgerissen worden, zum Vorschein. Ohne eine Sekunde Zeit zu verlieren, jonglierte es Mr. Bucket mit der Gewandtheit eines Taschenspielers aus Mr. Smallweeds Händen. Als er es meinem Vormund reichte, flüsterte er ihm hinter der vorgehaltenen Hand zu:

»Waren nicht einig, wie sie ihren Preis machen sollten. Zankten sich darüber und hielten nicht reinen Mund. Ich habe zwanzig Pfund daran gewendet. Zuerst verrieten ihn die geizigen Enkelkinder, weil er so unvernünftig lange lebte, und dann wurden sie untereinander uneins. Gott, in der ganzen Familie ist keiner, der nicht den andern für ein paar Pfund verkaufen würde, außer der alten Dame, die zu blödsinnig ist, um noch schachern zu können.«

»Mr. Bucket«, sagte mein Vormund laut, »ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet; was immer der Wert dieses Papiers auch sein mag – wenn es überhaupt von Wert ist –, so werde ich selbstverständlich Mr. Smallweed angemessen entlohnen.«

»Nicht nach Ihren Verdiensten, müssen Sie wissen«, sagte Mr. Bucket freundschaftlich erläuternd zu Mr. Smallweed. »Sie brauchen jedoch deswegen keine Angst zu haben. Nach seinem Werte!«

»Ja, das meine ich damit«, sagte mein Vormund. »Sie werden bemerken, Mr. Bucket, daß ich für meinen Teil mich enthalte, das Dokument zu prüfen. Die einfache Wahrheit ist, daß ich mich seit vielen Jahren verschworen habe, mich meinerseits um die Sache so wenig wie möglich zu kümmern. Sie ist mir in der Seele zuwider. Miß Summerson und ich werden das Papier sofort und ohne Verzug meinem Rechtsbeistand in dieser Sache übergeben, und sein Inhalt soll allen Beteiligten unverzüglich bekannt gemacht werden.«

»Sie hören, was Mr. Jarndyce sagt. Anständiger kann man nicht handeln«, bemerkte Mr. Bucket zu seinem Begleiter. »Und da es Ihnen jetzt klar sein wird, daß niemandem Unrecht geschehen kann – was für Ihr Gewissen ein großer Trost sein muß –, so können wir Sie ja wieder nach Hause bringen.«

Er riegelte die Tür auf, rief die Träger, wünschte uns guten Morgen und entfernte sich mit einem bedeutungsvollen Blick und einem Abschiedswink seines Zeigefingers.

Wir gingen auf der Stelle nach Lincoln’s-Inn. Mr. Kenge war gerade unbeschäftigt und saß an seinem Tisch in seinem staubigen Zimmer mit den ausdruckslos aussehenden Büchern und den Stößen von Akten.

Nachdem Mr. Guppy uns Stühle gebracht, sprach Mr. Kenge sein Erstaunen und seine Freude über den ungewöhnlichen Besuch Mr. Jarndyces in seiner Kanzlei aus. Er spielte mit seinem zusammengelegten Augenglas und war mehr als je Konversations-Kenge.

»Ich hoffe, daß der wohltuende Einfluß Miß Summersons« – er verbeugte sich gegen mich – »Mr. Jarndyce vermocht hat« – er verbeugte sich gegen ihn –, »einigermaßen seine Abneigung gegen einen Prozeß und gegen einen Gerichtshof fallen zu lassen, die, darf ich sagen, ihren Platz in der stattlichen Reihe der Grundpfeiler unsres Berufs einnehmen?«

»Ich möchte eher glauben«, entgegnete mein Vormund, »daß Miß Summerson zu viel von den Wirkungen des Gerichtshofs und des Prozesses gesehen hat, um sich noch zu ihren Gunsten verwenden zu können. Dennoch sind sie zum Teil der Grund meines Hierseins. Mr. Kenge, ehe ich dieses Papier auf Ihren Schreibtisch lege und es damit ein für alle Mal aus den Händen gebe, erlauben Sie mir, daß ich Ihnen erzähle, wie es in meinen Besitz kam.«

Und er legte es ihm kurz und bestimmt auseinander.

»Man hätte es nicht einfacher und bestimmter klarlegen können, wenn es ein Rechtsfall gewesen wäre«, sagte Mr. Kenge.

»So? Ist denn englisches oder römisches Recht wirklich so einfach und klar?«

»O pfui!« sagte Mr. Kenge.

Anfangs schien er dem Dokument keine große Wichtigkeit beizulegen; aber als er es in die Hand nahm, erwachte sein Interesse, und als er es aufgemacht und ein Stück davon durch sein Augenglas gelesen hatte, geriet er in großes Erstaunen. »Mr. Jarndyce«, sagte er und blickte meinen Vormund an. »Sie kennen doch seinen Inhalt?«

»Ich habe es nicht gelesen«, entgegnete mein Vormund.

»Aber, mein werter Herr«, rief Mr. Kenge, »es ist ein Testament von einem späteren Datum als alle bisher im Prozeß bekannt gewordenen. Es scheint auch von des Testators eigner Hand zu sein. Und selbst wenn die Absicht vorlag, es zu vernichten, was nach den Brandspuren anzunehmen ist, so ist es doch nicht vernichtet. Es ist eine vollkommene Urkunde!«

»Gut!« sagte mein Vormund. »Und inwiefern hat das für mich Interesse?«

»Mr. Guppy!« rief Mr. Kenge laut zur Türe hinaus. »Ich bitte, entschuldigen Sie, Mr. Jarndyce.«

»Sir?«

»Mein Kompliment an Mr. Vholes in Symond’s-Inn. Jarndyce kontra Jarndyce. Würde mir sehr angenehm sein, mit ihm zu sprechen.«

Mr. Guppy verschwand.

»Sie fragen mich, inwieweit diese Urkunde Sie angeht, Mr. Jarndyce? Wenn Sie dieses Dokument gelesen hätten, würden Sie wissen, daß es Ihren Anteil erheblich vermindert, wenn er auch immer noch sehr beträchtlich bleibt«, erklärte Mr. Kenge mit einem abgerundeten und beredten Schwenken der Hand. »Sie würden ferner daraus ersehen, daß die Anteile Mr. Richard Carstones und Miß Ada Clares, jetzt Mrs. Richard Carstones, darin wesentlich höher bedacht sind.«

»Kenge«, sagte mein Vormund, »wenn das ganze große Vermögen, das der Prozeß vor dieses abscheuliche Kanzleigericht geschleppt hat, meinen beiden jungen Verwandten zufallen könnte, wäre mir das das Liebste. Aber Sie werden mich doch nicht glauben machen wollen, daß aus Jarndyce kontra Jarndyce irgend etwas Gutes entspringen könnte?«

»Aber! Mr. Jarndyce! Vorurteil, Vorurteil! Verehrter Herr, England über alles. England hat nicht seinesgleichen. Sein Prozeßsystem ist ein ganz außerordentliches System, ein wirklich außerordentliches. Wahrhaftig, Sie können mir das glauben!«

Mein Vormund sagte weiter nichts.

Mr. Vholes erschien und hüllte sich vor Mr. Kenges größerem advokatorischem Ruf in Bescheidenheit.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Vholes? Wollen Sie so gut sein, hier neben mir Platz zu nehmen und dieses Dokument durchzulesen?«

Mr. Vholes tat, wie gewünscht, und schien jedes Wort durchzubuchstabieren. Es schien ihn durchaus nicht in Aufregung zu versetzen; aber im Grunde regte ihn ja überhaupt nichts auf. Als er das Dokument gründlich geprüft hatte, zog er sich mit Mr. Kenge in ein Fenster zurück, hielt seinen schwarzen Handschuh vor den Mund und sprach sehr ausführlich mit seinem Kollegen. Es wunderte mich nicht, daß Mr. Kenge sich geneigt zeigte, ihm zu widersprechen, kaum daß er angefangen hatte, denn ich wußte, daß über keinen Punkt von »Jarndyce kontra Jarndyce« zwei Personen miteinander einig sein konnten. Aber er schien doch gegen Mr. Kenge in einem Gespräch recht zu behalten, das, soweit man einzelne Worte verstehen konnte, nur aus Ausdrücken wie Generalkasse, Generalrechnungsführer, Kostgeld, Konkursmasse und Spesen bestand. Als sie fertig waren, traten sie wieder an Mr. Kenges Tisch und sprachen laut.

»Nun, das ist doch gewiß ein sehr bemerkenswertes Dokument, Mr. Vholes?« sagte Mr. Kenge.

»Ein sehr bemerkenswertes Dokument«, bestätigte Mr. Vholes.

»Und ein sehr wichtiges Dokument, nicht wahr, Mr. Vholes?«

Abermals wiederholte Mr. Vholes: »Ein sehr wichtiges Dokument.«

»Und wie Sie sehr richtig sagen, Mr. Vholes, wird diese Entdeckung, wenn die Sache in der nächsten Sitzung auf die Tagesordnung kommt, eine unerwartete und interessante Wendung in den Prozeß bringen«, sagte Mr. Kenge und warf meinem Vormund einen stolzen Blick zu.

Mr. Vholes fühlte sich als kleiner aufstrebender Advokat geschmeichelt, seine Meinung von einem so angesehenen Kollegen bestätigt zu hören.

»Und wann findet die nächste Tagfahrt statt?« fragte mein Vormund nach einer Pause, während der Mr. Kenge in der Tasche mit losem Geld geklimpert und Mr. Vholes an seinen Pickeln gezupft hatte, und stand auf.

»Die nächste Session ist nächsten Monat, Mr. Jarndyce. Natürlich werden wir auf der Stelle alles Nötige hinsichtlich dieses Dokumentes veranlassen und die erforderlichen Evidenzen zusammenstellen und Ihnen ordnungsgemäß über den Stand der Sache berichten.«

»Welcher Nachricht ich natürlich meine gewohnte Aufmerksamkeit angedeihen lassen werde, Mr. Kenge.«

»Also immer noch, mein verehrter Herr, selbst mit Ihrem aufgeklärten Geist, in den Vorurteilen der großen Menge befangen?« sagte Mr. Kenge, während er uns durch die Kanzlei zur Türe begleitete. »Wir sind ein aufblühender Staat, Mr. Jarndyce! Wir sind ein großes Land, Mr. Jarndyce, ein sehr großes Land! Unser System ist ein groß angelegtes System, Mr. Jarndyce, und wünschen Sie etwa, daß ein großes Land ein kleines System haben solle? Doch gewiß nicht!«

Er sagte dies oben an der Treppe und bewegte dabei seine Hand wie eine silberne Kelle, wie um den Zement seiner Worte an das Gebäude des Systems zu werfen und es für tausend Generationen gegen Verwitterung zu schützen.

63. Kapitel


63. Kapitel

Stahl und Eisen

Georges Schießgalerie steht zu vermieten, und die Utensilien werden verkauft, und George selbst ist nach Chesney Wold übergesiedelt, wo er Sir Leicester auf seinen Spazierritten begleiten und dicht neben ihm reiten muß, weil der alte Herr sein Pferd nur mit unsicherer Hand leiten kann.

Aber heute ist George anders beschäftigt. Heute reist er weiter nördlich in die Eisendistrikte, um sich umzusehen.

Und je weiter nördlich in die Eisendistrikte er kommt, desto weniger frische grüne Wälder sind zu sehen, und Kohlengruben und Schlackenberge, hohe Essen und rote Ziegelmauern, verdorrtes Grün, sengende Feuer und eine schwere, unveränderliche Rauchwolke zieren die Landschaft. In einer solchen Umgebung reitet der Kavallerist die Straße entlang und sieht sich häufig um, wie jemand, der etwas sucht.

Endlich, an der berußten Kanalbrücke einer geschäftigen Stadt, in der alles klingt wie Eisen und mehr Feuer und Rauch zu sehen ist, als ihm bis jetzt vor Augen gekommen ist, hält er, geschwärzt von dem Staube der Kohlenstraßen, sein Pferd an und fragt einen Arbeiter, ob ihm der Name Rouncewell bekannt sei.

»Da könnte ich gerade so gut meinen eignen vergessen haben«, meint der Arbeiter.

»So bekannt ist er hier, Kamerad?«

»Rouncewell? Das will ich meinen!«

»Und wo könnte ich ihn wohl finden?« fragt der Kavallerist und blickt suchend umher.

»Das Lager, die Fabrik oder das Haus?« wünscht der Arbeiter zu wissen.

»Hm! Die Rouncewells sind allem Anscheine nach so groß«, brummt der Kavallerist vor sich hin und streicht sich das Kinn, »daß ich fast Lust hätte, wieder umzukehren. Hm, ich weiß eigentlich nicht, wohin ich gehen soll. Meinen Sie wohl, daß ich Mr. Rouncewell in der Fabrik finde?«

»Nicht leicht zu sagen, wo Sie ihn finden. – Um diese Zeit des Tages werden Sie entweder ihn oder seinen Sohn dort finden, wenn er in der Stadt ist; aber er ist oft auf Geschäftsreisen.«

»Und wo ist die Fabrik?«

Ob er die Schornsteine dort, die höchsten, sehe?

Ja, er sieht sie.

Nun, diese Schornsteine soll er im Auge behalten, so geradeaus reiten, wie er kann, und dann werde er sie am Ende einer Straße links, umgeben von einer Mauer von Ziegelsteinen, die die eine Seite der Straße bilde, zu Gesicht bekommen. Das sei Rouncewells Fabrik.

Der Kavallerist dankt dem Manne, reitet langsam weiter und läßt seine Blicke umherschweifen. Er kehrt nicht um, wie er einen Augenblick vorhatte, sondern steigt in einem Wirtshaus ab, wo ein paar von Rouncewells Leuten zu Mittag essen, wie ihm der Hausknecht sagt. Ein Teil von Rouncewells Arbeiterschaft macht eben Mittagspause und scheint die ganze Stadt zu überschwemmen. Sie sind sehr muskulös und stark, auch ein wenig rußig, Mr. Rouncewells Arbeiter.

Er erreicht einen Torweg in der Mauer von Ziegelsteinen, blickt hinein und sieht einen großen Wirrwarr von Eisen in jeder Stufe der Vollendung und in einer unendlichen Verschiedenartigkeit von Formen daliegen; Stangen, Blech, Tafeln, Kessel, Achsen, Räder, Zapfen, Kurbeln, Schienen; – Eisen, in seltsame und wunderliche Formen zu einzelnen Maschinenteilen gedreht, und große Berge von Brucheisen, vor Alter verrostet; Öfen, im Hintergrund, wo es, noch jung, glüht und kocht; helles Feuerwerk von sprühendem Eisen, das unter den Schlägen des Dampfhammers Funken umherspritzt; rotglühendes Eisen, weißglühendes Eisen, schwarzkaltes Eisen; ein Geschmack von Eisen, ein Geruch von Eisen, und ein tausendstimmiger Wirrwarr von Klängen von Eisen.

»Da könnte einem ja der Kopf in Stücke gehen«, brummt der Kavallerist und sieht sich nach einem Kontor um. »Wer kommt da? So ungefähr sah ich auch aus, ehe ich fortlief. Das dürfte mein Neffe sein, wenn sich Ähnlichkeit in den Familien fortpflanzt. – Ihr Diener, Sir.«

»Ihrer, Sir. Suchen Sie jemanden?«

»Entschuldigen Sie, Sie sind der junge Mr. Rouncewell, glaube ich?«

»Ja.«

»Ich suche Ihren Vater, Sir. Ich möchte gern ein paar Worte mit ihm sprechen.«

Der junge Mann sagt Mr. George, daß er die Zeit gut getroffen habe, denn der Vater sei anwesend, und führt ihn nach dem Kontor. »Verdammt ähnlich, wie ich damals war!« denkt der Kavallerist, wie er ihm folgt.

Sie kommen zu einem Hofgebäude, in dessen oberem Stockwerk sich ein Bureau befindet. Mr. George wird sehr rot, als er den Herrn unter dem Fenster erblickt.

»Was für einen Namen soll ich meinem Vater nennen?« fragt der junge Mann.

George, den Kopf voller Eisen, gibt verzweifelt zur Antwort: »Stahl«, und wird unter diesem Namen gemeldet. Er bleibt allein mit dem Herrn im Kontor, der an einem mit Rechnungsbüchern und Plänen bedeckten Tisch sitzt. Es ist ein schmuckloses Zimmer mit kahlem Fenster, und wenn man herunter sieht, erblickt man nichts als Eisen. Auf dem Tische liegen einige Stücke Eisen wirr durcheinander, zu verschiedenen Zeiten ihres Dienstes zertrümmert, um ihre Beschaffenheit zu zeigen. Eisenstaub überall; schwer sieht man den Rauch durch die Fenster aus den hohen Schornsteinen hervorqualmen und sich mit dem eines halb im Dunst versteckten Babylons anderer Schornsteine mischen.

»Ich stehe zu Diensten, Mr. Stahl«, sagt der Herr, als der Besuch einen rostbefleckten Stuhl genommen hat.

»Mr. Rouncewell«, beginnt George, vorgebeugt, den linken Arm aufs Knie gelegt und den Hut in der Hand, und weicht dem Auge seines Bruders aus, »ich fürchte fast, mit meinem gegenwärtigen Besuch eher zudringlich als willkommen zu erscheinen. Ich habe in früheren Jahren bei den Dragonern gedient, und einer meiner Kameraden, den ich ziemlich gern hatte, war, wenn ich nicht irre, ein Bruder von Ihnen. Ich glaube, Sie hatten einen Bruder, der seiner Familie viel Kummer machte und fortlief?…«

»Heißen Sie auch wirklich Stahl?« entgegnet der Eisenwerksbesitzer mit veränderter Stimme.

Der Kavallerist stockt und blickt ihn an. Sein Bruder springt auf, ruft ihn beim Namen und ergreift seine beiden Hände.

»Du bist zu rasch für mich!« ruft der Kavallerist, und Tränen treten ihm in die Augen. »Was machst du, mein lieber alter Junge? Ich hätte nie gedacht, daß du dich auch nur halb so sehr freuen würdest, mich zu sehen. Wie geht dir’s, mein lieber alter Junge, wie geht dir’s?«

Sie schütteln sich die Hände und umarmen einander immer und immer wieder, und der Kavallerist wiederholt immer noch mechanisch seine Frage, wie geht dir’s, mein lieber alter Junge, und beteuert, daß er nie geglaubt hätte, sein Bruder würde sich auch nur halb so freuen, ihn wieder zu sehen!

»Weit entfernt davon, dachte ich natürlich gar nicht daran, mich zu erkennen zu geben«, erklärt er nach einem ausführlichen Bericht, wie es ihm die ganze Zeit über ergangen. »Ich dachte, wenn du meinen Namen nur irgend mit Nachsicht anhörtest, würde ich mich vielleicht allmählich dazu entschließen können, dir einen Brief zu schreiben. Aber ich wäre durchaus nicht überrascht gewesen, wenn du es als eine nichts weniger als angenehme Nachricht aufgenommen hättest, von mir zu hören.«

»Wir werden dir zu Hause schon zeigen, wie wir es aufnehmen, George«, entgegnet der Eisenwerksbesitzer. »Es ist heute ein großer Tag bei uns, und du hättest an keinem besseren ankommen können, du sonnenverbrannter alter Soldat. Ich treffe heute mit meinem Sohn Watt eine Übereinkunft, daß er heute über ein Jahr ein so schönes und gutes Mädchen heiraten darf, wie du je eins auf deinen Reisen gesehen hast. Sie reist morgen mit einer deiner Nichten nach Deutschland ab, um ihre Erziehung zu vollenden. Wir feiern heute die Sache, und du sollst der Held des Festes sein.«

Diese Aussicht überwältigt Mr. George anfangs so vollkommen, daß er die angetragene Ehre mit großer Entschlossenheit zurückweist. Seinem Neffen – dem er seine Beteuerungen wiederholt, daß er sich nie hätte träumen lassen, sie würden sich so freuen, ihn wiederzusehen – und seinem Bruder gelingt es jedoch endlich, ihn zu überreden, und sie bringen ihn nach einem eleganten Hause, in dessen ganzer Einrichtung sich eine angenehme Mischung der ursprünglichen einfachen Bedürfnisse von Vater und Mutter und der Gewohnheiten zeigt, die der veränderten Lebensstellung und der besseren Erziehung der Kinder angepaßt sind.

Mr. George wird sehr bestürzt vor den Reizen und der Bildung seiner gegenwärtigen Nichten und der Schönheit Rosas, seiner zukünftigen Nichte, und den liebreichen Begrüßungen dieser jungen Damen, die er halb im Traum entgegennimmt; arg beschämt ihn auch das ehrerbietige Benehmen seines Neffen, und er fühlt sich so recht als Taugenichts der Familie. Aber es herrscht so großer Jubel, soviel Freude, und alles ist so gemütvoll und ungezwungen, daß er sich als alter gerader Soldat durchhilft. Sein Versprechen, zur Hochzeit zu kommen und die Braut wegzugeben, wird mit allgemeiner Freude aufgenommen.

Es ist ihm noch ganz wirr im Kopf, als er sich in das Staatsbett in seines Bruders Haus legt und über alle diese Sachen nachdenkt und seine Nichten – wie wundervoll sie abends waren in ihren wallenden Musselinkleidern – im Geiste über die Bettdecke deutsche Reigen tanzen sieht.

Die Brüder haben am nächsten Morgen in dem Zimmer des Eisenwerksbesitzers ein Privatgespräch miteinander, und der ältere setzt in seiner klaren verständigen Weise auseinander, wie er George am besten in seinem Geschäft verwenden könne, aber George drückt ihm die Hand und unterbricht ihn.

»Bruder, ich danke dir Millionen Mal für dein mehr als brüderliches Willkommen, und noch Millionen Mal für deine mehr als brüderlichen Absichten, aber ich habe mich bereits entschieden. Ehe ich ein Wort darüber sage, möchte ich dich gerne in einer Familienangelegenheit zu Rate ziehen. – Auf welche Weise«, sagt der Kavallerist, verschränkt die Arme und blickt seinen Bruder, felsenfest entschlossen, sich nicht überreden zu lassen, an, »auf welche Weise wäre meine Mutter zu bewegen, mich auszustreichen?«

»Ich verstehe nicht recht, was du meinst, George«, entgegnet der Eisenwerksbesitzer.

»Ich meine, Bruder, wie meine Mutter zu bewegen wäre, mich auszustreichen? Sie muß irgendwie dazu gebracht werden.«

»Dich aus ihrem Testament zu streichen, glaube ich, meinst du?«

»Natürlich! Mit einem Wort«, sagt der Kavallerist und schlägt seine Arme noch entschlossener übereinander, »ich meine, mich ausstreichen.«

»Lieber George, ist es wirklich so unumgänglich notwendig, daß das geschieht?«

»Unbedingt! Wenn es nicht geschieht, wäre es eine Gemeinheit von mir gewesen, zurückzukommen. Ich würde bestimmt eines Tages wieder ausreißen. Ich habe mich nicht zu Hause wieder eingeschlichen, um deinen Kindern, wenn nicht dir, ihre Rechte zu rauben. Ich, der ich die meinigen längst verwirkt habe! Wenn ich bleiben und offen jedem ins Gesicht sehen soll, muß ich gestrichen werden. Rede doch! Du bist ein Mann von anerkanntem Scharfsinn und kannst mir sagen, wie es anzufangen ist.«

»Ich kann dir sagen, George«, entgegnet der Eisenwerksbesitzer bedächtig, »wie es nicht anzufangen ist, was, hoffe ich, dem Zweck ebensogut entsprechen wird. Sieh unsre Mutter an, denke an sie, rufe dir ihre Ergriffenheit zurück, als sie dich wiederfand. Glaubst du wirklich, irgendeine Rücksicht auf der Welt könne sie dazu bringen, ihrem Lieblingssohne so etwas anzutun ? Glaubst du, es wäre eine Aussicht auf ihre Beistimmung vorhanden, die nur im mindesten den Schmerz aufwiegen könnte, den ihr der Vorschlag verursachen würde? Wenn du das glaubst, so irrst du dich. Nein, George! Du mußt dich damit abfinden, unausgestrichen zu bleiben. Ich glaube« – auf dem Gesicht des Eisenwerksbesitzers zeigt sich ein verschmitztes Lächeln, wie er seinen Bruder beobachtet, der, aufs tiefste enttäuscht, nachsinnt – »ich glaube aber doch, du könntest die Sache fast ebensogut einrichten, als ob es geschehen wäre.«

»Wieso, Bruder?«

»Wenn du schon so darauf erpicht bist, so kannst du ja alles, was du zu erben das Unglück haben wirst, wem du willst, testamentarisch vermachen.«

»Das ist wahr!« sagt der Kavallerist und sinnt wieder nach. Dann fragt er angelegentlich und ergreift seines Bruders Hand, »möchtest du das nicht deiner Frau und deiner Familie sagen?«

»Aber mit Vergnügen.«

»Ich danke dir. Du könntest vielleicht sagen, daß ich zwar zweifellos ein Vagabund, aber ein Vagabund aus Abenteuerlust und nicht aus Gemeinheit bin.«

Der Eisenwerksbesitzer unterdrückt sein verschmitztes Lächeln und nickt ernsthaft.

»Ich danke dir. Danke dir wirklich. Mir fällt damit ein Stein vom Herzen«, sagt der Kavallerist und atmet tief auf. »Aber lieber wär’s mir gewesen, sie hätte mich ausgestrichen.«

Die Brüder sehen sich sehr ähnlich, wie sie so einander gegenübersitzen, aber eine gewisse massive Einfachheit und Weltunkenntnis zeichnen den Kavalleristen aus.

»Nun also zu meinen Plänen«, fährt er fort und schüttelt seine Verstimmung ab. »Du bist so brüderlich gewesen, mir vorzuschlagen, hier zu bleiben und einen Platz unter den Früchten deiner Ausdauer und deines Verstandes einzunehmen. Ich danke dir herzlich. Das ist mehr als brüderlich, und wirklich, ich danke dir von Herzen dafür«, er schüttelt ihm lange und warm die Hand. »Aber, um nur bei der Wahrheit zu bleiben, Bruder, ich – ich bin eine Art Unkraut, und es ist zu spät, mich in einen gepflegten Garten zu verpflanzen.«

»Lieber George«, entgegnet der Eisenwerksbesitzer und wendet ihm lächelnd seine breite feste Stirn zu, »das ist meine Sache. Laß mich nur machen.«

George schüttelt den Kopf. »Du könntest es, wenn überhaupt jemand, daran zweifle ich nicht. Aber es ist unausführbar. Es geht nicht, Bruder! Andrerseits trifft es sich, daß ich Sir Leicester Dedlock seit seiner Krankheit – die ihn infolge seines Unglücks in der Familie befallen hat – ein wenig von Nutzen sein kann. Er nimmt diese Hilfe lieber von dem Sohne unsrer Mutter an als von irgendeinem andern.«

»Allerdings, lieber George«, entgegnet Mr. Rouncewell, während ein leichter Schatten sein offenes Gesicht überfliegt, »wenn du vorziehst, in Sir Leicester Dedlocks Leibgarde zu dienen…«

»So ist’s, Bruder!« unterbricht ihn der Kavallerist und legt die Hand wieder auf die Knie. »So ist’s! Dir gefällt der Gedanke nicht recht, aber für mich ist es das Beste. Du bist nicht gewohnt, dir kommandieren zu lassen; ich bin es. Alles um dich her ist in vollständiger Ordnung und Disziplin; bei mir muß alles in Ordnung und unter Disziplin gehalten werden. Wir betrachten die Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus. Ich sage weiter nichts von meinen Soldatenmanieren, weil ich mich gestern abend wirklich wohl befunden habe, und ich glaube auch nicht, daß man sich hier daran stoßen würde, wenn man sich einmal dran gewöhnt hätte, aber es ist am besten, ich lasse mich in Chesney Wold – wo mehr Platz für ein Stück Unkraut, wie ich bin, ist – nieder, und unsre gute alte Mutter wird es überdies glücklich machen. Deshalb will ich Sir Leicester Dedlocks Anerbieten annehmen. Wenn ich nächstes Jahr wiederkomme, um die Braut wegzugeben, oder wenn ich sonst wiederkomme, werde ich verständig genug sein, um die Leibgardenbrigade im Hintertreffen zu halten und sie nicht auf deinem Terrain manövrieren zu lassen. – Nochmals, ich danke dir herzlich und denke mit Stolz an die Rouncewells, deren Haus du begründen wirst.«

»Du mußt dich am besten kennen, George«, sagt der Eisenwerksbesitzer und erwidert den Händedruck seines Bruders, »und vielleicht kennst du mich besser als ich mich selbst. Tue, was du willst. Schon, damit wir nicht wieder auseinanderkommen.«

»Nun, das ist wohl nicht zu befürchten!« entgegnet der Kavallerist. »Aber ehe ich wieder heim reite, Bruder, möchte ich dich bitten – wenn du so gut sein willst –, einen Brief für mich durchzusehen. Ich habe ihn mit hierher genommen, um ihn von hier aus abzuschicken, da der Name Chesney Wold die Person, an die er geschrieben ist, wahrscheinlich schmerzlich berühren würde. Ich bin nicht sehr ans Korrespondieren gewöhnt, und gerade an diesem Briefe liegt mir sehr viel, da er zugleich offenherzig und zartfühlend sein soll.«

Mit diesen Worten gibt er dem Eisenwerksbesitzer einen Brief, mit etwas blasser Tinte, eng, aber mit einer hübschen runden Hand geschrieben, zu lesen:

»Miß Esther Summerson.

Da mir Inspektor Bucket mitteilte, daß man unter den Papieren einer gewissen Person einen an mich gerichteten Brief gefunden habe, so nehme ich mir die Freiheit, Sie in Kenntnis zu setzen, daß es sich bloß um eine schriftliche Instruktion aus dem Auslande handeln kann, in der stand, wann, wo und wie ich einen beigeschlossenen Brief an eine junge und schöne Dame, die damals unverheiratet in England lebte, abgeben sollte. Ich habe damals alles genau befolgt.

Ich nehme mir außerdem die Freiheit, Sie in Kenntnis zu setzen, daß man mir dieses Papier, nur um eine Handschrift damit zu vergleichen, abverlangte, und daß ich es auch dazu nicht herausgegeben hätte, obgleich es mir unter den in meinem Besitz befindlichen als das harmloseste erschien, wenn man mir nicht die Pistole auf die Brust gesetzt hätte. Ich nehme mir ferner die Freiheit, zu erwähnen, daß, wenn ich hätte vermuten können, ein gewisser unglücklicher Herr sei noch am Leben gewesen, ich nicht eher geruht haben würde, als bis ich ihn entdeckt und meinen letzten Pfennig mit ihm geteilt hätte. Nicht nur aus Pflichtgefühl, sondern, glauben Sie mir, aus alter Anhänglichkeit. Aber er war (dienstlich) als ertrunken gemeldet worden und fiel tatsächlich nachts in einem irischen Hafen von einem eben erst aus Westindien angekommenen Transportschiff über Bord, wie ich sowohl von Offizieren wie von der Mannschaft des Schiffes gehört habe. Der Fall ist übrigens, soviel ich weiß, auch später (dienstlich) bestätigt worden.

Ich nehme mir außerdem die Freiheit, zu versichern, daß ich in meiner bescheidenen Eigenschaft als Gemeiner stets Ihr ergebenster Diener bin und immer bleiben werde und die hohen Eigenschaften, die Sie besitzen, über alles und weit mehr, als es die gegenwärtigen Zeilen ausdrücken können, schätze.

Ich habe die Ehre zu unterzeichnen

George.«

»Etwas förmlich«, bemerkt der ältere Bruder und faltet den Brief mit etwas verwirrter Miene wieder zusammen.

»Enthält aber doch nichts, was man nicht einem Muster von einer jungen Dame schreiben könnte?«

»Durchaus nichts.«

Der Brief wird also versiegelt und mit unter die Eisenkorrespondenz des Tages gelegt, um auf die Post gebracht zu werden.

Sodann nimmt Mr. George herzlichen Abschied von der Familie und macht sich fertig und sattelt sein Pferd. Sein Bruder möchte jedoch noch gern ein wenig mit ihm beisammen sein und schlägt ihm vor, ihn in einem leichten offenen Wagen nach dem Orte zu bringen, wo er zu übernachten gedenkt, und dort bis zum Morgen bei ihm zu bleiben, während ein Bedienter mit dem alten Grauschimmel von Chesney Wold vorausreitet. Der Vorschlag wird bereitwillig angenommen, und es folgt eine gemütliche Fahrt, ein gemütliches Abendessen und ein gemütliches Frühstück in brüderlicher Eintracht. Dann schütteln sie sich noch ein Mal lange und herzlich die Hände und scheiden; der Eisenwerksbesitzer wendet sein Gesicht dem Rauch und den Essen wieder zu und der Kavallerist dem frischgrünen Lande.

Zeitig des Nachmittags hört man den gedämpften Schall seines schweren militärischen Trabes auf dem Rasen in der Allee, wie er, im Geiste mit Säbel und Küraß rasselnd und klirrend, unter den alten Ulmen dahinreitet.

64. Kapitel


64. Kapitel

Esthers Erzählung

Eines Morgens, kurz nach unsrer letzten Unterredung, drückte mir mein Vormund ein versiegeltes Kuvert in die Hand und sagte: »Das ist für nächsten Monat, mein Kind.« Ich fand zweihundert Pfund darin.

In aller Ruhe begann ich alle nötigen Vorbereitungen zu treffen und richtete mich dabei nach dem Geschmack meines Vormundes, den ich natürlich ganz genau kannte. Auch bei Beschaffung meiner Garderobe nahm ich darauf Bedacht und hoffte, daß mir alles gut gelingen sollte. Ich besorgte alles ganz im geheimen, weil ich von meiner alten Befürchtung nicht vollkommen frei war, Ada könne meinetwegen bekümmert sein, und weil mein Vormund ebenfalls nicht weiter davon sprach. Ich nahm an, daß wir jedenfalls in aller Stille getraut werden würden. Vielleicht würde ich nur zu Ada zu sagen haben: Mein Liebling, möchtest du nicht morgen zu unserm Hochzeitsmahl kommen? Vielleicht würde unsre Trauung ebenso bescheiden sein wie die ihrige, und ich brauchte ihr nicht eher etwas zu sagen, als bis alles vorbei war. Ich dachte, wenn ich zu bestimmen hätte, würde ich es so arrangieren.

Nur Mrs. Woodcourt gegenüber machte ich eine Ausnahme. Ich sagte ihr, daß ich in Bälde meinen Vormund heiraten würde und daß wir schon seit einiger Zeit verlobt wären. Sie billigte dies höchlichst. Sie konnte nicht genug um mich sein und war gegen früher, als wir sie zuerst kennen gelernt hatten, merkwürdig sanft geworden. Es gab keine Mühe, der sie sich nicht meinetwegen unterzogen hätte; aber ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich ihr nur soviel zu machen gestattete, als gerade unumgänglich nötig war, sie ihren guten Willen beweisen zu lassen.

Natürlich durfte ich bei all dem meinen Vormund nicht vernachlässigen, und auch mein Herzenskind nicht. Immerhin hatte ich also sehr viel zu tun – was mir ganz angenehm war –, und was Charley betraf, so kam sie vor lauter Näherei gar nicht mehr zum Vorschein. Sich mit großen Haufen von Garderobestücken – Körbe und Tische voll – zu umgeben und ein wenig daran zu arbeiten und sehr viel Zeit darauf zu verwenden, mit großen runden Augen das anzusehen, was noch zu machen war, und sich einzureden, sie habe alle Hände voll zu tun, das waren so Charleys große Würden und Freuden.

Was das Testament anbetraf, muß ich sagen, konnte ich mit meinem Vormund nicht recht derselben Meinung sein und hatte einige sanguinische Hoffnungen auf »Jarndyce kontra Jarndyce« gesetzt. Wer von uns recht hatte, mußte sich bald zeigen. Ich meinesteils war jedenfalls hoffnungsfroh gestimmt. Bei Richard hatte die Entdeckung einen Anfall von Geschäftigkeit und Aufregung zur Folge, der ihn eine Zeitlang aufrecht erhielt, aber die wirkliche Elastizität der Hoffnung schien er verloren zu haben und nur mehr in fieberischer Wartestimmung zu sein. Aus einer Äußerung meines Vormundes, als wir eines Tages von dieser Sache sprachen, schloß ich, daß unsre Vermählung erst nach dem Beginn der angekündigten Session stattfinden sollte, und ich malte mir meine Hochzeitsfeier um so schöner aus, als ich hoffte, dann Richard und Ada bereits in besseren Umständen zu wissen.

Die Tagfahrt stand schon sehr nahe bevor, als mein Vormund eine Reise nach Yorkshire in Mr. Woodcourts Angelegenheiten machte. Er hatte mir schon früher gesagt, daß seine Anwesenheit notwendig sein würde.

Ich war gerade eines Abends von meiner lieben Ada nach Hause gekommen und saß mitten unter allen meinen neuen Kleidern, sah sie mir an und dachte über allerlei nach, als ich einen Brief von ihm erhielt. Er forderte mich darin auf, zu ihm zu kommen, bezeichnete mir die Kutsche, mit der ich fahren und zu welcher Stunde des Morgens ich die Stadt verlassen müßte. Er setzte in einer Nachschrift hinzu, daß ich nur wenige Stunden von Ada weg sein würde.

Ich war damals auf nichts weniger als auf eine Reise gefaßt, aber in kurzer Zeit machte ich mich fertig und fuhr mit dem Schlag der bezeichneten frühen Morgenstunde ab. Ich reiste den ganzen Tag und grübelte wohl ununterbrochen, wozu man mich in Yorkshire brauchen würde; einmal dachte ich mir dies, dann wieder jenes aus, aber nie kam ich der Wahrheit nahe.

Es war Nacht, als ich das Ziel meiner Reise erreichte, und mein Vormund erwartete mich. Das war mir eine große Erleichterung, denn gegen Abend hatte ich zu fürchten angefangen – um so mehr, da sein Brief nur kurz gewesen war –, daß er krank sein könnte. Ich fand ihn jedoch so wohl wie nur möglich, und als ich sein gutmütiges Gesicht wieder vor Freundlichkeit strahlen sah, sagte ich mir, daß er gewiß wieder heimlich eine gute Tat verrichtet haben müßte. Es gehörte kein großer Scharfsinn dazu, denn sein Hiersein war schon an und für sich eine gute Tat.

Das Abendessen stand im Gasthof bereit, und als wir bei der Tafel saßen, sagte er:

»Bist gewiß sehr neugierig, kleines Frauchen, warum ich dich hierher gerufen habe.«

»Nun ja«, gab ich zu, »ich halte mich zwar für keine Fatime und dich für keinen Blaubart, aber neugierig bin ich doch ein wenig.«

»Nun, damit du ruhig schlafen kannst, mein Liebling«, entgegnete er heiter, »wollen wir nicht erst bis morgen warten, um es dir zu sagen. Es hat mir immer sehr auf dem Herzen gelegen, Woodcourt irgendwie meinen Dank für seine Menschlichkeit gegenüber dem armen unglücklichen Jo und für die unschätzbaren Dienste, die er Richard und uns allen geleistet hat, zu beweisen. Als es ausgemacht war, daß er hierher ziehen würde, fiel es mir ein, ihn zu bitten, ein anspruchsloses und passendes Häuschen, worin er wohnen könnte, von mir anzunehmen. Deshalb gab ich den Auftrag, ein solches zu suchen, und es hat sich wirklich eins unter sehr annehmbaren Bedingungen gefunden, und ich habe es für ihn herrichten und bewohnbar machen lassen. Als ich nun vorgestern Nachricht erhielt, daß es fertig sei, und es mir ansehen kam, fand ich, daß ich doch nicht Wirtschaftskenntnisse genug besäße, um zu wissen, ob alles so sei, wie es sein müßte. Ich schickte daher nach der besten kleinen Hausfrau, die nur zu haben ist, damit sie ihr Urteil ausspräche und ihren Rat erteilte. Und da sitzt sie«, sagte mein Vormund, »und lacht und weint schon wieder in einem Atem!«

Weil er so lieb, so gut, so bewunderungswürdig war. Ich versuchte, ihm zu sagen, wie sehr es mich ergriff, konnte aber kein Wort über die Lippen bringen.

»Still, still!« sagte er. »Du machst zu viel Aufhebens davon, kleines Frauchen. Wie du schluchzst, schluchzst, Mütterchen, wie du schluchzst!«

»Vor unaussprechlicher Freude, aus dankerfülltem Herzen.«

»Nun, nun, schon gut, schon gut«, besänftigte er mich. »Es freut mich, daß du es billigst. Ich dachte es mir gleich. Es sollte eine angenehme Überraschung für die kleine Herrin von Bleakhaus sein.«

Ich küßte ihn und trocknete mir die Tränen. »Ich weiß es!« sagte ich. »Ich habe seit langer Zeit auf deinem Gesicht gelesen, daß du so etwas Ähnliches vorhattest.«

»So? Hast das wirklich, mein Liebling?« fragte er. »Nein, wie gut Mütterchen Durden einem etwas vom Gesicht ablesen kann!«

Er lächelte verschmitzt heiter, daß ich bald wieder fröhlich war und mich fast schämte, es nicht gleich von Anfang gewesen zu sein. Als ich zu Bett ging, weinte ich. Ich muß gestehen, ich weinte; aber ich hoffe, es war vor Freude, wenn ich mir auch dessen nicht ganz gewiß bin. Ich wiederholte mir im Geist jedes Wort des Briefes, den er mir damals geschrieben, zwei Mal.

Ein wunderschöner Sommermorgen folgte diesem Abend, und nach dem Frühstück gingen wir Arm in Arm nach dem Hause, über das ich mein gewichtiges Hausfrauenurteil abgeben sollte. Wir traten durch eine Tür in einer Mauer, zu der mein Vormund den Schlüssel hatte, in einen Blumengarten, und das erste, was ich sah, war, daß die Beete und Blumen alle so angeordnet waren wie die in Bleakhaus.

»Du siehst, mein Kind«, bemerkte er und blieb mit erfreutem Gesicht stehen, um mich zu beobachten, »da ich keine bessere Einteilung kannte, habe ich deine nachgemacht.«

Wir gingen durch einen hübschen kleinen Obstgarten, wo die Kirschen aus dem grünen Laube hervorglänzten und der Schatten der Apfelbäume auf dem Rasen zitterte, nach dem Hause – einem Häuschen, einem ganz ländlichen Häuschen mit Zimmern wie für Puppen. Ein so allerliebster Ort, so still und so schön, mit so fruchtbarer und freundlicher Gegend rings umher, mit glänzenden Wassern im Hintergrunde, hier von frischem Sommergrün überschattet, dort eine brausende Mühle drehend, dann wieder in der Nähe glitzernd durch eine Wiese fließend, an der heitern Stadt vorbei, wo Ballspieler sich in munteren Gruppen sammelten und über einem weißen Zelt eine Fahne wehte, mit der der linde Westwind spielte. Und überall, wie wir durch die hübschen Zimmer und zu den kleinen ländlichen Verandatüren hinaus und unter dem niedlichen hölzernen Säulengang, von Waldrebe, Jasmin und Jelängerjelieber umschlungen, gingen, sah ich in den Tapeten, in den Farben des Hausrats und in der Anordnung aller der hübschen Gegenstände meine kleinen Arrangements und Erfindungen, die sie immer so belachten und in den Himmel hoben, kurz, ganz meinen eigenen Geschmack berücksichtigt.

Ich konnte nicht genug meine Bewunderung ausdrücken, wie schön alles war, mich aber eines geheimen inneren Zweifels nicht erwehren, als ich es sah. Ich dachte, wird es Mr. Woodcourt glücklich machen? Würde es nicht für seinen Seelenfrieden besser sein, wenn ihn nicht alles so an mich erinnerte? Wenn ich auch nicht das war, wofür er mich hielt, so liebte er mich doch innig, das wußte ich, und es mußte ihn alles hier schmerzlich an das mahnen, was er verloren zu haben glaubte. Ich wünschte ja nicht, daß er mich vergäße – vielleicht würde er es auch ohne diese Erinnerungen nicht tun –, aber mein Weg war leichter als der seine, und ich hätte mich selbst damit aussöhnen können, wenn es ihn nur glücklicher gemacht hätte.

»Und jetzt, kleines Frauchen«, sagte mein Vormund, den ich nie so stolz und froh gesehen hatte, als wie er mir dies alles zeigte und beobachtete, welchen Eindruck es auf mich machte, »nun kommt das letzte, der Name des Hauses.«

»Und wie heißt es, lieber Vormund?«

»Liebes Kind», sagte er, »sieh selbst nach.«

Er führte mich nach der Eingangspforte, der er bis jetzt ausgewichen war, und fragte mich, indem er stillstand, ehe wir hinausgingen:

»Liebes Kind, du errätst wirklich den Namen nicht?«

»Nein!« sagte ich.

Wir gingen zur Pforte hinaus; und darüber stand geschrieben: »Bleakhaus«

Er führte mich zu einer Laubenbank in der Nähe, setzte sich neben mich, ergriff meine Hand und sprach:

»Mein Herzenskind, bei dem, was zwischen uns bestanden hat, habe ich, wie ich hoffe, wahrhaft dein Glück im Auge gehabt. Als ich dir den Brief schrieb, auf den du selbst die Antwort brachtest«, – er lächelte, wie er davon sprach – »hatte ich mein eignes Glück wohl sehr im Auge, aber das deinige auch. Ob ich unter andern Verhältnissen den alten, von mir so oft, als du fast noch ein Kind warst, geträumten Traum erneuern würde, dich einmal zu meiner Gattin zu machen, brauche ich mich nicht zu fragen. Ich erneuerte ihn und schrieb meinen Brief, und du brachtest die Antwort. Verstehst du, mein Kind, was ich meine?«

Mich fröstelte, und ich zitterte heftig, verlor aber kein Wort von dem, was er sprach. Wie ich dasaß und ihn fest ansah und die Sonnenstrahlen durch das Laub hindurch auf sein Haupt fielen, kam es mir vor, als ob der Glorienschein um ihn wie der Glanz der Engel sein müßte.

»Höre mir zu, mein Liebling, aber sprich jetzt nicht. Die Reihe zu sprechen ist an mir. Wann ich anfing zu zweifeln, ob das, was ich beabsichtigte, dir wirklich zum Glück gereichen würde, tut nichts zur Sache. Woodcourt kam zurück, und ich hatte bald keinen Zweifel mehr.«

Ich schlang meine Arme um ihn, barg mein Haupt an seiner Brust und weinte.

»Bleib hier still und vertrauensvoll ruhen, mein Kind«, sagte er und drückte mich sanft an sich. »Ich bin jetzt dein Vormund und dein Vater wieder. Bleib hier ruhen.«

Besänftigend wie das leise Rauschen der Blätter, ruhig wie die Sommerluft und heiter und strahlend wie der Sonnenschein, fuhr er fort:

»Versteh mich recht, mein liebes Kind. Ich zweifelte nie, daß du zufrieden und glücklich an meiner Seite sein würdest, wo du so voller Pflichttreue und Hingebung bist, aber ich sah auch, mit wem du glücklicher sein müßtest. Daß ich sein Geheimnis durchschaute, als unser Hausmütterchen noch nichts davon ahnte, ist kein Wunder – kannte ich doch alles Gute an ihr, das immer bleiben wird, viel besser als sie selbst. Allan Woodcourt hat mir schon längst sein Vertrauen geschenkt, wenn ich ihn auch erst gestern wenige Stunden vor deiner Ankunft in meine Pläne einweihte. Aber meiner Esther glänzendes Beispiel durfte nicht verloren gehen; es durfte kein Jota ihrer hohen Eigenschaften ungesehen und ungeehrt bleiben; sie durfte in dem Geschlechte der Morgan-ap-Kerrigs nicht bloß geduldet werden, nein, nicht um soviel Gold wie alle Berge von Wales zusammen!«

Er hielt inne, um mich auf die Stirn zu küssen, und ich schluchzte und weinte von neuem. Ich glaubte die schmerzliche Wonne seines Lobes nicht ertragen zu können.

»Still, kleines Frauchen! Weine nicht; heute soll ein Tag der Freude sein. Ich habe mich Monate und Monate darauf gefreut«, sagte er frohlockend. »Nur noch ein paar Worte, Mütterchen, und ich habe gesagt, was ich zu sagen habe. Entschlossen, auch kein Atom des Wertes meiner Esther verloren gehen zu lassen, nahm ich mir Mrs. Woodcourt besonders vor. ‚Hören Sie, Madam‘, sagte ich, ‚ich sehe klar – und weiß es außerdem auch –, daß Ihr Sohn mein Mündel liebt. Ich weiß auch, daß mein Mündel Ihren Sohn liebt, aber ihre Liebe einem Gefühl der Pflicht und der Hingebung opfern will, und zwar so vollständig und so unselbstsüchtig, daß Sie es nie ahnen werden, wenn Sie sie auch Tag und Nacht beobachten.‘ Dann erzählte ich ihr unsre ganze Geschichte –unsre, deine und meine. ‚Nun mache ich Ihnen den Vorschlag, Madam‘, sagte ich, ‚besuchen Sie uns, nachdem Sie dies erfahren haben, und wohnen Sie bei uns. Kommen Sie zu uns und sehen Sie mein Kind zu jeder Stunde; halten Sie das, was Sie sehen, gegen ihren Stammbaum, der so und so ist‘, – ich verschmähte, ihr etwas zu verhehlen – ‚und sagen Sie mir, was echtes, reines Blut ist, wenn Sie sich die Sache recht ordentlich überlegt haben.’« Aber Ehre sei ihrem alten welschen Blute, meine Liebe!« rief mein Vormund voll Begeisterung. »Ich glaube, ihr Herz schlägt nicht weniger warm, nicht weniger bewundernd, nicht weniger liebevoll für Mütterchen Durden als mein eignes!«

Er hob zärtlich meinen Kopf in die Höhe und küßte mich auf seine alte väterliche Weise wieder und wieder. Welch ein Licht ging mir jetzt auf, wenn ich an die Beschützermiene dachte, die mir so oft an ihm aufgefallen war!

»Und noch ein letztes Wort. Als Allan Woodcourt mit dir sprach, meine Liebe, geschah es mit meinem Wissen und meiner Zustimmung – aber ich ermutigte ihn in keiner Weise, durchaus nicht, denn diese kleinen Überraschungen waren meine große Belohnung, und ich war zu geizig, um nur ein Jota davon zu missen. Er sollte mir alles erzählen, was vorgegangen war, und er tat es. Ich habe weiter nichts mehr zu sagen, mein Herzlieb. Allan Woodcourt stand neben der Leiche deines Vaters – stand neben der deiner Mutter. Dies ist Bleakhaus. Heute gebe ich diesem Hause seine kleine Herrin, und ich schwöre es zu Gott, es ist der schönste Tag meines ganzen Lebens!«

Er stand auf und zog mich an seine Brust.

Wir waren nicht länger allein.

Mein Gatte – volle sieben glückliche Jahre sind es jetzt, daß ich ihn so genannt – stand neben mir.

»Allan«, sagte mein Vormund, »nehmen Sie von mir als freiwillige Gabe das beste Weib, das jemals ein Mann gehabt hat. Kann ich Ihnen mehr sagen, als daß ich weiß, daß Sie es verdienen?! Nehmen Sie mit ihr das Häuschen, das sie Ihnen zubringt. Sie wissen, wie glücklich sie es machen wird, Allan; Sie wissen, was sie für das andre Bleakhaus gewesen ist. Erlauben Sie, mich manchmal in sein Glück zu teilen, und was opfere ich dann? Nichts, nichts.« Er küßte mich noch einmal, und Tränen standen ihm im Auge, als er mit gedämpfterer Stimme sagte: »Liebe Esther, nach so vielen Jahren bedeutet dies doch eine Art Trennung. Ich weiß, daß mein Irrtum dir Schmerzen verursacht hat. Verzeihe deinem alten Vormund und räume ihm wieder seinen alten Platz in deinem Herzen ein; und lösche den Irrtum aus deinem Gedächtnis. Allan, hier, nehmen Sie mein liebes Kind hin!«

Er trat unter dem grünen Blätterdach hervor in den Sonnenschein draußen, wendete sich heiter nach uns um und sagte:

»Ich werde hier irgendwo in der Nähe zu finden sein. Es ist Westwind, kleines Frauchen, reiner Westwind! Es darf mir niemand mehr danken; denn ich kehre wieder zu meinen Junggesellengewohnheiten zurück, und wenn jemand auf diese Warnung nicht achtet, laufe ich fort und komme nie wieder!«

Oh, dieser Tag mit seinem Glück, seiner Freude, seinem Frieden, seiner Hoffnung, seiner dankerfüllten Seligkeit!

Wir sollten noch vor Ende dieses Monats getraut werden, aber der Zeitpunkt, wo wir unser Heim beziehen sollten, hing von Richard und Ada ab.

Am nächsten Tage reisten wir alle drei zusammen nach Hause. Sowie wir in der Stadt angekommen waren, begab sich Allan zu Richard, um ihm und meinem Herzenskinde die freudige Botschaft zu überbringen. So spät es war, gedachte ich sie doch vor dem Schlafengehen noch auf ein paar Minuten zu besuchen, ging aber zuerst mit meinem Vormund heim, um ihm seinen Tee zu bereiten und meinen alten Platz an seiner Seite einzunehmen, denn ich wollte nicht daran denken, daß er so bald leer werden sollte.

Als wir zu Hause ankamen, hörten wir, daß ein junger Mann im Laufe des Tages drei Mal nach mir gefragt hatte, und als er bei seinem dritten Besuch erfahren, daß ich nicht vor zehn Uhr abends zurückkehren würde, zurückgelassen habe, er werde um diese Zeit wiederkommen. Er hatte seine Karte drei Mal abgegeben. »Mr. Guppy.«

Da ich mir natürlich über den Zweck seiner Besuche Gedanken machte und in meinen Vorstellungen immer etwas Lächerliches mit seiner Person verband, kam es dazu, daß ich meinem Vormund lachend von Mr. Guppys früherem Heiratsantrag und seinem späteren Rücktritt erzählte.

»Oh, wenn sich die Sache so verhält, müssen wir diesen Helden unbedingt empfangen«, sagte mein Vormund.

So wurde also Befehl gegeben, Mr. Guppy vorzulassen, wenn er wieder erscheinen sollte, und kaum war das geschehen, meldete man ihn auch schon.

Er geriet sehr in Verlegenheit, als er meinen Vormund bei mir fand, faßte sich aber bald und sagte: »Wie geht es Ihnen, Sir?«

»Wie geht es Ihnen, Sir?« entgegnete mein Vormund.

»Ich danke Ihnen, Sir, es macht sich. Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Mutter, Mrs. Guppy von Old-Street-Road und meinen Freund Mr. Weevle vorstelle. Mein Freund hat den Namen Weevle nur angenommen, wirklich und eigentlich heißt er Jobling.«

Mein Vormund bat die Herrschaften, Platz zu nehmen, und alle drei setzten sich.

»Tony«, begann Mr. Guppy zu seinem Freund nach einer Verlegenheitspause. »Willst du den Fall vortragen?«

»Tu es doch selber«, entgegnete der Freund, ein wenig kurz angebunden.

»Sehen Sie, Mr. Jarndyce, – ehüm –«, fing Mr. Guppy nach kurzem Besinnen an, zum großen Entzücken seiner Mutter, was sie dadurch an den Tag legte, daß sie Mr. Jobling einen Stoß mit dem Ellbogen versetzte und mir auf die merkwürdigste Weise mit den Augen zuzwinkerte. »Ich hoffte, Miß Summerson allein zu finden, und war auf Ihre geehrte Gegenwart nicht vorbereitet. Miß Summerson hat Ihnen vielleicht gesagt, daß bei früheren Gelegenheiten etwas zwischen uns vorgefallen ist?«

»Miß Summerson hat mir allerdings eine derartige Mitteilung gemacht«, bestätigte mein Vormund lächelnd.

»Das erleichtert die Sache«, sagte Mr. Guppy. »Sir, ich habe meine Lehrzeit bei Kenge & Carboy absolviert und, wie ich glaube, zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Ich bin jetzt, nach einem Examen in einem Haufen von überflüssigem Unsinn, bei dem der Mensch blau anlaufen könnte, in der Anwaltsliste eingetragen und habe mein Zertifikat bekommen. Wenn Sie irgend wünschen sollten, kann ich es Ihnen zeigen.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Guppy«, wehrte mein Vormund ab. »Ich nehme – ich glaube, so lautet der juristische Ausdruck – die Existenz des Zertifikates als erwiesen an.«

Mr. Guppy ließ also das Papier, das er eben aus der Tasche ziehen wollte, stecken und fuhr fort:

»Ich selbst besitze zwar kein Kapital, aber meine Mutter hat ein kleines Vermögen in Form einer Leibrente«, – Mr. Guppys Mutter wackelte mit dem Kopfe, als ob sie sich über die Bemerkung gar nicht genug freuen könnte, hielt sich das Taschentuch vor den Mund und zwinkerte mir wieder mit den Augen zu – »und an ein paar Pfund für die Barauslagen im Geschäft – unverzinslich natürlich – wird es nie fehlen. Und das ist immerhin etwas, wie Sie wissen«, hob Mr. Guppy mit Gefühl hervor.

»Gewiß, ohne Zweifel«, erwiderte mein Vormund.

»Auch habe ich einige Beziehungen, hauptsächlich in der Gegend von Walcot-Square, Lambeth, und habe daher in jener Gegend ein Haus gemietet, das nach dem Urteil meiner Freunde spottbillig ist (die Abgaben lächerlich gering, und die Benutzung des unbeweglichen Besitzes im Zins mit eingeschlossen), und gedenke mich dort zu etablieren.«

Bei diesen Worten nahm Mrs. Guppys Kopfwackeln geradezu bedenkliche Dimensionen an, und schelmisch lächelnd blickte sie uns der Reihe nach an.

»Das Haus umfaßt sechs Räume, die Küche nicht mitgerechnet, und ist nach dem Urteil meiner Freunde eine bequeme Wohnung. Wenn ich von meinen Freunden spreche, so meine ich damit vor allem Mr. Jobling, der mich, glaube ich«, – Mr. Guppy sah ihn mit sentimentalem Gesicht an – »schon von Kindheit an kennt.«

Mr. Jobling bestätigte dies mit einem Kratzfuß unter dem Stuhle.

»Mein Freund Jobling wird mir seine Unterstützung als Substitut leihen und mit im Hause wohnen. Meine Mutter wird ebenfalls dort wohnen, wenn der Kontrakt ihres gegenwärtigen Quartiers in Old-Street-Road abgelaufen ist. An Gesellschaft wird es daher nicht fehlen. Mein Freund Jobling ist von Natur aristokratisch gesinnt; und außer daß er mit allem, was in den vornehmen Kreisen vorgeht, vertraut ist, teilt er die Ansichten, die ich jetzt entwickle.«

Mr. Jobling bestätigte: »Gewiß«, und zog sich ein wenig aus dem Ellbogenbereich der Mutter Mr. Guppys zurück.

»Da Sie Miß Summerson ins Vertrauen gezogen hat, so habe ich keine Veranlassung, Ihnen nochmals zu wiederholen – Mutter, sei so gut, und sei still –, daß Miß Summersons Bild früher meinem Herzen eingeprägt war und daß ich ihr einen Heiratsantrag machte.«

»Das habe ich gehört«, entgegnete mein Vormund.

»Umstände«, fuhr Mr. Guppy fort, »auf die ich keinen Einfluß hatte – sogar ganz das Gegenteil –, drängten eine Zeitlang dies Bild in den Hintergrund. Damals war Miß Summersons Benehmen höchst gentil, ich darf sogar hinzusetzen, edelmütig.«

Mein Vormund klopfte mir auf die Achsel und schien sich köstlich zu amüsieren.

»Ich bin nun selbst in einen solchen Gemütszustand gelangt«, sagte Mr. Guppy, »so daß ich mich meinerseits nicht weniger edelmütig zu benehmen wünsche. Es liegt mir viel daran, Miß Summerson zu beweisen, daß ich mich zu einer Höhe erheben kann, deren sie mich vielleicht kaum für fähig hält. Ich habe herausgefunden, daß das Bild, das, wie ich glaubte, aus meinem Herzen herausgerissen war, in Wirklichkeit nicht herausgerissen ist. Es übt immer noch einen gewaltigen Einfluß auf mich aus, und indem ich diesem Gefühle nachgebe, bin ich bereit, über die Verhältnisse wegzusehen, über die keiner von uns gebieten kann, und Miß Summerson den Antrag zu wiederholen, den ich die Ehre hatte, ihr früher zu machen. Ich bitte Miß Summerson hiermit um die Erlaubnis, das Haus in Walcot-Square, das Geschäft und mich selbst ihr zu Füßen legen zu dürfen.«

»Ungemein edelmütig. In der Tat, Sir«, bemerkte mein Vormund.

»Nun ja, Sir«, entgegnete Mr. Guppy mit Offenheit, »ich wünsche auch, edelmütig zu sein. Ich bin nicht der Ansicht, daß ich mir durch diesen Antrag bei Miß Summerson nichts vergebe. Durchaus nicht; und auch mein Freund ist dieser Ansicht. Aber doch liegen Verhältnisse vor, die ich gehorsamst bitte, als eine Art Gegenrechnung gegen etwaige kleine Mängel meinerseits in Erwägung zu ziehen, damit wir auf diese Weise zu einem glatten und unparteiischen Abschluß gelangen.«

»Ich übernehme es selbst, Sir, Ihre Miß Summerson gemachten Anträge zu beantworten«, sagte mein Vormund und griff lachend nach der Klingel. »Sie erkennt Ihre großmütige Absicht an und wünscht Ihnen guten Abend und fernerhin Wohlergehen.«

»Oh!« sagte Mr. Guppy mit verblüfftem Gesicht. »Heißt das soviel wie Annahme oder Verwerfung oder eventuelle Inbetrachtnahme?«

»Entschieden Verwerfung, wenn Sie gestatten«, entgegnete mein Vormund.

Mr. Guppy sah ratlos abwechselnd seinen Freund und seine Mutter, die plötzlich sehr zornig wurde, und den Fußboden und die Decke an.

»Wirklich ? – Dann, Jobling, wenn du der Freund bist, für den du dich ausgibst, solltest du eigentlich meine Mutter hinausführen und sie aus dieser Situation befreien.«

Mrs. Guppy weigerte sich jedoch entschieden, hinauszugehen, und wollte nichts davon hören. »Machen Sie doch selbst, daß Sie fortkommen«, sagte sie zu meinem Vormund. »Was soll das heißen? Ist mein Sohn nicht gut genug für Sie? Sie sollten sich schämen. Machen Sie selbst, daß Sie fortkommen.«

»Meine gute Frau«, entgegnete mein Vormund, »es ist doch wohl kaum vernünftig, mich aus meinem eignen Hause zu weisen.«

»Mir ganz wurst«, sagte Mrs. Guppy. »Hinaus mit Ihnen. Wenn wir Ihnen net gut gnug sin, so suchen Sie sich jemand, wo Ihnen gut genug is. Gehen Sie doch und suchen Sie einen.«

– Ich war ganz überrascht von der Plötzlichkeit, mit der Mrs. Guppys Lustigkeit in Angriffsstimmung umschlug. –

»Gehen Sie und suchen Sie sich einen, wo gut genug für Sie is«, wiederholte Mrs. Guppy. »Schauen Sie, daß Sie hinauskommen!« wiederholte sie in einem fort. »Hinaus!« Nichts schien sie so in Erstaunen zu setzen und so sehr zum Zorn zu reizen, als daß mein Vormund absolut nicht gehen wollte. »Warum schauen Sie denn nicht, daß Sie fortkommen? Worauf warten Sie eigentlich noch?«

»Mutter«, mischte sich jetzt ihr Sohn ein, der sich bis dahin immer nur stumm vor sie gestellt und sie mit einer Schulter zurückzuschieben versucht hatte, als sie auf meinen Vormund los wollte, »wirst du denn nicht endlich den Mund halten?«

»Nein, William«, rief sie, »nein! Ich will nicht. Erst muß er machen, daß er fortkommt. Ich will nicht.«

Mr. Guppy und Mr. Jobling nahmen schließlich die alte Dame, als sie gar zu arg zu schelten anfing, in die Mitte und brachten sie sehr gegen ihren Willen die Treppe hinunter. Ihre Stimme wurde mit jeder Stufe, die sie sie hinabschleiften, eine Oktave höher, und sie bestand beharrlich darauf, daß wir sofort gehen und jemand suchen sollten, »wo für uns gut genug wäre«, und vor allem, daß wir schauen sollten, daß wir fortkämen.

55. Kapitel


55. Kapitel

Flucht

Noch ehe Inspektor Bucket von der Geheimpolizei seinen Hauptcoup ausgeführt hatte und als er noch fest schlief, fuhr auf gefrornen Winterwegen ein zweispänniger Wagen aus Lincolnshire in der Richtung nach London.

Eisenbahnen werden bald die ganze Gegend durchziehen, und rasselnd werden Zug und Maschine mit einem grellen Schein gleich einem Meteor durch die weite Nachtlandschaft brausen und den Mondesglanz erbleichen machen. Aber bis jetzt ist so etwas in den Gegenden noch nicht vorhanden, wenn auch sein Kommen schon geahnt wird. Vorbereitungen aller Art sind im Gang; Messungen werden vorgenommen und Strecken abgesteckt. Brücken sind angefangen, und ihre noch nicht miteinander verbundenen Pfeiler sehen sich über Straßen und Flüsse hinüber an wie Liebespaare aus Ziegel und Kalk, deren Vereinigung noch allerlei Hindernisse im Wege stehen. Dämme sind aufgeworfen, und Ströme aus schmutzigen Wagen und Karren ergießen sich in ihre Schrunde. Dreifüße von langen Stangen erscheinen auf Hügelspitzen, und man raunt, daß da und dort Tunnels gebohrt werden sollen. Alles sieht chaotisch und verödet und hoffnungslos aus.

Die gefrornen Straßen entlang rumpelt durch die Nacht die Postchaise, und kein Gedanke an Eisenbahnen bedrückt ihr Herz.

Mrs. Rouncewell, so lange Jahre nun schon Haushälterin in Chesney Wold, sitzt darin, und neben ihr Mrs. Bagnet mit grauem Mantel und Regenschirm. Die alte Soldatenfrau säße lieber oben auf dem Bock, weil dieser Platz mehr dem Wetter ausgesetzt ist und besser mit ihrer sonstigen Art zu reisen harmoniert, aber Mrs. Rouncewell ist viel zu sehr auf ihr Wohlbefinden bedacht, um so etwas zuzulassen. Sie kann die Alte gar nicht genug ehren. Sie sitzt in ihrer stattlich steifen Weise da, hält die Hand Mrs. Bagnets in der ihren und zieht sie, so rauh sie auch ist, oft an ihre Lippen.

»Sie sind eine Mutter«, sagt sie immer und immer wieder, »und haben meines Georges Mutter aufgefunden.«

»Sehen Sie, George war immer offenherzig zu mir«, entgegnet Mrs. Bagnet. »Und als er bei uns zu Hause zu meinem Woolwich sagte, der größte Trost, den ein Mann haben könne, sei die Gewißheit, an keiner Gramesfurche auf dem Antlitz seiner Mutter und an keinem ihrer grauen Haare schuld zu sein, da erriet ich aus seinem ganzen Benehmen, daß kurz vorher etwas vorgefallen sein mußte, was ihm das Bild seiner Mutter wieder so lebendig ins Gedächtnis gerufen hatte. Er hatte schon oft früher zu mir gesagt, er habe sich schlecht gegen sie benommen.«

»Niemals, niemals!« – Mrs. Rouncewell bricht in Tränen aus. – »Meinen Segen aufsein Haupt! Niemals! Es war mir stets ein guter und zärtlicher Sohn. Mein George! Aber bei seinem Feuergeist war er ein wenig unbändig, und so ging er unter die Soldaten, und ich weiß ganz gut, er wollte uns nicht früher Nachricht geben, als bis er Offizier sein würde, und als er dann nicht avancierte, hielt er sich zu schlecht für uns und wollte uns keine Schande machen. Er hatte ein Löwenherz, mein George, schon als Kind.«

– Die Hände der Greisin greifen unsicher in die Luft, wie immer, wenn sie sich erinnert, was für ein schöner Junge, was für ein lustiger gescheiter Junge er war, wie sie ihn unten in Chesney Wold alle lieb hatten, wie ihn Sir Leicester lieb gewann, als er selbst noch ein junger Herr war, und ihn die jungen Hunde lieb hatten, und selbst die Leute, die ihm zürnten, ihm verziehen, sowie er fort war, der arme Junge! Und ihn jetzt doch noch wiederzusehen, und noch dazu im Gefängnis! Und der breite Schnürleib hebt sich, und die gerade, altmodische Gestalt beugt sich unter der Last bekümmerter Liebe.

Mit dem angebornen Takt eines guten mitfühlenden Herzens überläßt Mrs. Bagnet die alte Haushälterin ein Weilchen ihrer Rührung –nicht ohne sich mit dem Handrücken über ihre eignen Mutteraugen zu fahren – und schwatzt dann mit ihr in ihrer heiteren Weise weiter. »Und so sage ich zu George, wie ich ihn zum Tee hereinrufe, denn er schützte vor, draußen seine Pfeife rauchen zu wollen: ‚Um Gottes willen, was fehlt Ihnen denn nur heute, George. Ich habe Sie schon in jeder Stimmung gesehen, bei guter und bei schlechter Laune, daheim und im Ausland, aber noch nie haben Sie ein so melancholisches Büßergesicht gemacht.‘ – ‚Weil ich wirklich heute melancholisch und bußfertig bin, Mrs. Bagnet‘, hat George gesagt und den Kopf geschüttelt. ‚Was ich angestellt habe, ist vor langen, langen Jahren geschehen, und es ist das Beste, nichts daran mehr ändern zu wollen. Wenn ich je in den Himmel komme, geschieht es nicht, weil ich einer alten verwitweten Mutter ein guter Sohn gewesen bin. Weiter sage ich nichts.‘

Nun, Maam, wie mir George alles das sagt, mache ich mir darüber meine Gedanken, so, wie früher schon manches Mal, und locke aus ihm heraus, wieso er gerade heute nachmittag auf solche Gedanken komme.

Und da erzählt er mir, er habe zufällig bei einem Advokaten eine stattliche alte Frau gesehen, bei deren Anblick er sofort an seine Mutter habe denken müssen, und er spricht über diese alte stattliche Dame, bis er sich ganz und gar vergißt und mir schildert, wie sie vor vielen, vielen Jahren ausgesehen habe.

So frage ich ihn denn, als er fertig ist, wer die alte Dame gewesen wäre, die er gesehen, und er sagt mir, es sei Mrs. Rouncewell, die alte treue Haushälterin bei den Dedlocks unten in Chesney Wold in Lincolnshire. George hatte mir schon früher oft erzählt, er sei aus Lincolnshire, und drum sage ich an diesem Abend zu meinem alten Lignum: ‚Lignum, ich wette fünfundvierzig Pfund, das ist seine Mutter.’«

– Das alles erzählt Mrs. Bagnet jetzt mindestens zum zwanzigsten Male seit den letzten vier Stunden. Sie trillert es in ziemlich hohem Ton wie ein Vogel, damit die alte Dame es bei dem Wagengerassel verstehen kann. –

»Gott segne Sie, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen, meine gute liebe Mrs. Bagnet…«

»Aber Sie schulden mir wahrhaftig keinen Dank, gewiß nicht!« ruft Mrs. Bagnet lustig und natürlich. »Vergessen Sie nur nicht, Maam, vor allem, wenn Sie in George wirklich Ihren Sohn erkennen, darauf zu bestehen, daß er sich Ihretwegen gegen die Anschuldigungen einer Tat zur Wehr setzt, die er so wenig begangen hat wie Sie und ich. Es genügt nicht, daß er die Wahrheit auf seiner Seite hat, er muß auch das Gesetz und die Juristen auf seiner Seite haben«, versichert die Alte, offenbar fest überzeugt, daß Advokat und Gerechtigkeit sich zueinander verhalten wie zwei Kompagnons, die sich für alle Zeit miteinander entzweit haben.

»Es soll ihm jede Hilfe zur Seite stehen, die nur irgend auf der Welt zu haben ist, meine Beste. Ich will alles hingeben, was ich besitze, und mit dankbarem Herzen, wenn ich sie ihm dadurch verschaffen kann. Sir Leicester wird sein möglichstes tun, und die ganze Familie. Ich – ich weiß etwas, meine Liebe, und will auf meine eigne Art bitten als seine Mutter, die ihn so viele Jahre nicht gesehen hat und ihn jetzt endlich im Kerker wiederfindet.«

– Die große Unruhe, mit der die alte Haushälterin das sagt, ihre abgerissnen Worte und ihr Händeringen machen einen mächtigen Eindruck auf Mrs. Bagnet und würden sie noch mehr in Erstaunen setzen, wenn sie nicht alles ihrem Schmerz über die Lage ihres Sohnes zuschriebe. Aber trotzdem wundert sich Mrs. Bagnet, warum Mrs. Rouncewell immer so verzweifelt vor sich hinmurmelt: »Mylady, Mylady, Mylady!« –

Die kalte Nacht schwindet, und der Tag bricht an, und der Postwagen kommt durch den Morgennebel dahergerollt wie das Gespenst einer verstorbenen Chaise. Er hat geisterhafte Gesellschaft in Menge in den Gespenstern der Bäume und Hecken, die langsam verschwindet und der Wirklichkeit des Tages Platz macht.

Die Reisenden erreichen London und steigen aus. Die alte Haushälterin in großer Unruhe und Verwirrung, Mrs. Bagnet frisch und fröhlich wie immer. Sie würde es wahrscheinlich auch sein, wenn die nächste Haltestation das Kap der guten Hoffnung, die Insel Ascension, Hongkong oder irgendeine andre Militärstation wäre.

Als sie sich dann nach dem Gefängnis begeben, hat die alte Dame in ihrem lavendelfarbigen Kleid wieder viel von ihrer alten gefaßten Ruhe zurückgewonnen. Sie sieht aus wie ein wunderbar ernstes und schönes Stück altes Porzellan, obgleich ihr Herz schnell schlägt und sich ihr Schnürleib ungestümer hebt als seit vielen Jahren, wenn sie an ihren Sohn gedacht hat.

Sie nähern sich der Zelle, da geht die Türe auf und ein Wärter tritt heraus. Mrs. Bagnet bittet ihn mit einer raschen Gebärde, sie nicht zu verraten; er nickt beistimmend, läßt sie eintreten und macht die Türe zu.

So blickt George, der an seinem Tische schreibt, in der Meinung, er sei allein, nicht auf, sondern bleibt, in Nachdenken versunken, sitzen. Die alte Haushälterin betrachtet ihn, und ihre unruhig wandernden Hände sind Bestätigung genug für Mrs. Bagnet, selbst wenn sie jetzt, wo sie Mutter und Sohn nebeneinander sieht, noch einen Augenblick an der Verwandtschaft der beiden zweifeln könnte.

Kein Rauschen des Kleides, keine Bewegung, kein Wort verraten die Haushälterin. Sie betrachtet ihren Sohn, wie er ahnungslos weiter schreibt, und nur ihre zitternden Hände geben von ihrer inneren Bewegung Zeugnis. Aber sie sind sehr beredt, sehr, sehr beredt. Mrs. Bagnet versteht sie. Sie sprechen von Dankbarkeit, Freude, Kummer und Hoffnung, von Liebe, die nicht verblassen konnte, seit dieser stahlharte Mann dem Knabenalter entwuchs, und reden eine so rührende Sprache, daß Mrs. Bagnets Augen voller Tränen stehen und die glänzenden Tropfen über ihre sonnenverbrannten Wangen rinnen.

»George! Mein geliebtes Kind!«

Der Kavallerist springt auf, fällt seiner Mutter um den Hals und sinkt vor ihr nieder auf die Knie. Er faltet seine Hände, von dem Gedanken an seine Jugend, der ihn bei ihrem Anblick durchzuckt, überwältigt, wie ein Kind, das ein Gebet hersagt, und läßt das Haupt sinken und weint.

»George, mein lieber, lieber Sohn! Von jeher mein Liebling, wo bist du diese vielen Jahre und Jahre gewesen? Und zu einem solchen Mann herangewachsen, zu einem so schönen stattlichen Mann! So ähnlich dem Bild, daß ich mir von ihm machte, wenn ich hoffte, er sei noch am Leben.«

Eine Zeitlang können beide nichts Zusammenhängendes sprechen. Mrs. Bagnet hat sich abgewendet, lehnt sich mit dem Arm an die weißgetünchte Wand und läßt ihre ehrliche Stirn darauf ruhen. Sie wischt sich mit dem unentbehrlichen grauen Mantel die Augen und freut sich, die brave Alte, wie sie es bei ihrem guten Herzen nur imstande ist.

»Mutter«, sagt der Kavallerist, als sie wieder gefaßter sind, »zuerst vergib mir, denn ich weiß, wie sehr ich dessen bedarf.«

Ihm vergeben! Sie tut es von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Hat sie ihm doch längst verziehen. Sie erzählt ihm, wie sie vor langen Jahren ihr Testament gemacht habe und darin niedergeschrieben, daß er von jeher ihr Lieblingssohn gewesen sei. Nie habe sie etwas Böses von ihm geglaubt. Niemals. Und wenn sie gestorben wäre, ohne dieses große Glück zu erleben, hätte sie ihn mit ihrem letzten Atemzug gesegnet.

»Mutter, ich bin dir ein pflichtvergessner Sohn und ein Kummer gewesen und habe jetzt meinen Lohn. Aber in den letzten Jahren habe ich auch so eine Art Lebenszweck gehabt. Als ich von Hause fortging, wurde mir der Abschied nicht schwer, Mutter, ich fürchte nicht allzuschwer; und ich lief fort und ließ mich anwerben, mir nichts dir nichts, als stünde ich ganz allein in der Welt da.«

– Der Kavallerist hat seine Augen getrocknet und sein Taschentuch eingesteckt, aber er spricht und benimmt sich ganz anders als sonst, und seine gepreßte Stimme wird zuweilen von einem halberstickten Schluchzen unterbrochen. –

»So schrieb ich denn eine Zeile nach Hause, Mutter, wie du gewiß noch weißt, daß ich mich unter einem andern Namen hatte anwerben lassen, und ging übers Meer. Und dort dachte ich manchmal, ich wollte das nächste Jahr nach Hause schreiben, wenn ich eine bessere Stellung haben würde, und wie das Jahr vorüber war, verschob ich es wieder aufs nächste. Und so ging es eine Dienstzeit von zehn Jahren fort, bis ich älter zu werden und mich zu fragen begann, warum ich überhaupt noch schreiben sollte.«

»Ich will dich nicht tadeln, Kind, aber hättest du mir nicht dadurch die Sorgen vom Herzen genommen, George? Hättest du nicht ein Wort an deine dich liebende Mutter, die doch auch älter wurde, schreiben können?«

Das schmettert den Kavalleristen von neuem nieder; aber er bezwingt sich mit einem lauten kräftigen Räuspern.

»Der Himmel verzeihe mir, Mutter, aber ich glaubte damals, es sei kein besonderer Trost, etwas von mir zu hören. Du warst geachtet und geehrt, und mein Bruder, wie ich aus einigen Zeitungen aus dem Norden, die mir zufällig in die Hand kamen, erfuhr, reich und berühmt geworden. Und was war ich dagegen? Ein Dragoner, herumabenteuernd, ohne Heimat, nicht durch eignes Können zu etwas geworden wie er, sondern durch eignes Tun verdorben – ein Mensch, der alles von sich geworfen, das Wenige, was er gelernt, vergessen und keine neuen Kenntnisse dazu erworben hatte. Wozu sollte ich da Nachricht von mir geben? Wozu konnte es gut sein, nachdem ich die ganze lange Zeit hatte verstreichen lassen? Das Schlimmste lag hinter dir, Mutter. Ich wußte, zum Mann geworden, wie du um mich geklagt und geweint und für mich gebetet haben mußtest. Der Schmerz war vorüber oder gelindert, und in deiner Erinnerung war ich besser als in Wirklichkeit.«

Die Greisin schüttelt bekümmert den Kopf, ergreift seine Hände und legt sie liebreich auf ihre Schultern.

»Nein, ich sage ja nicht, daß es so war, Mutter, aber so stellte ich es mir vor. Ich sagte eben, wem hätte es genützt. Liebe Mutter, nur mir; und darin hätte eben die Gemeinheit für mich gelegen. Du hättest mich aufgesucht, mich losgekauft, mich nach Chesney Wold genommen, meinen Bruder mit seiner Familie zusammengetrommelt, und ihr alle hättet euch den Kopf zerbrochen, wie ihr etwas für mich tun und mich zu einem anständigen Zivilisten machen könntet. Aber wie durftet ihr euch dabei auf mich verlassen, wo ich mich doch selbst nicht einmal auf mich verlassen konnte. Mußte ich nicht in euern Augen ein alter abgetakelter Dragoner, mir selbst eine Last und eine Schmach, außer wenn mich der Zwang in Ordnung hielt, sein? Wie konnte ich meines Bruders Kindern ins Gesicht sehen und ihnen ein Vorbild sein, ich, der weggelaufne Junge, der seiner Mutter das Leben verbittert hat? Nein, George, sagte ich zu mir, Mutter, als ich mir all das überlegte – wie man sich bettet, so liegt man.«

Mrs. Rouncewell richtet ihre stattliche Gestalt in die Höhe und schüttelt mit einem Blick auf Mrs. Bagnet, der von Stolz auf ihren Sohn erfüllt ist, den Kopf, als wollte sie sagen: Habe ich es nicht gewußt? Mrs. Bagnet macht ihren Gefühlen Luft und gibt ihre Teilnahme an der Unterhaltung dadurch zu erkennen, daß sie dem Kavalleristen mit ihrem Regenschirm einen derben Stoß zwischen die Schultern gibt. Das wiederholt sie später noch verschiedne Male und ist vor Rührung und Zärtlichkeit ganz aufgelöst. Nachdem sie sich auf diese Weise in die Unterhaltung gemischt, nimmt sie wieder zu der geweißten Wand und dem grauen Mantel ihre Zuflucht.

»Auf diese Weise machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, Mutter, es sei die beste Buße für mich, so liegen zu bleiben, wie ich mich gebettet hatte, und so dereinst zu sterben. Ich besuchte wohl manches Mal heimlich Chesney Wold und sah dich bei Gelegenheiten, wo du es am wenigsten vermuten konntest, aber es wäre wohl nie zu unserm heutigen Wiedersehen gekommen, wenn nicht die Frau meines alten Kameraden hier doch zu schlau für mich gewesen wäre. Und wir dankbar bin ich Ihnen dafür. Ich danke Ihnen dafür, Mrs. Bagnet, wirklich von ganzem Herzen und von ganzer Seele.«

Mrs. Bagnet antwortet mit einem Doppelstoß ihres Regenschirms.

Und dann bindet die alte Dame ihrem Sohn George, ihrem lieben wiedergewonnenen Herzenskind, ihrer Freude und ihrem Stolz, dem Licht ihrer Augen, mit jedem zärtlichen Namen, den sie für ihn ersinnen kann, auf die Seele, er müsse den besten juristischen Berater annehmen, der sich nur durch Geld und Einfluß verschaffen lasse, müsse in dieser ernsten Lage handeln, wie der Advokat es ihm vorschreibe, und dürfe nicht eigensinnig sein, wenn er auch noch so sehr im Recht sei, und feierlich versprechen, einzig und allein seiner alten Mutter Angst und Kummer zu berücksichtigen, sonst bräche er ihr das Herz.

»Mutter, ich mache wenig genug damit wieder gut«, entgegnet der Kavallerist und schließt ihr mit einem Kuß den Mund. »Sag mir, was ich tun soll, und ich werde, wenn auch spät, anfangen, ein gehorsamer Sohn zu sein. Mrs. Bagnet, Sie werden sich meiner Mutter annehmen, nicht wahr?«

Ein derber Stoß mit dem Regenschirm ist die Antwort der Alten.

»Wenn Sie sie Mr. Jarndyce und Miß Summerson vorstellen, wird sie sich mit ihnen ins Einvernehmen setzen und sich von ihnen Beistand und gewiß den besten Rat holen können…«

»Und dann, George«, unterbricht ihn die alte Dame, »müssen wir auf der Stelle nach deinem Bruder schicken. Er ist ein verständiger tüchtiger Mann, wie man mir allgemein versichert – draußen in der Welt, jenseits von Chesney Wold –, und kann uns sehr von Nutzen sein.«

»Mutter«, entgegnet der Kavallerist, »ist es zu bald, wenn ich dich um etwas bitte?«

»Gewiß nicht, mein Sohn.«

»Dann gewähre mir diese eine große Bitte. Sage meinem Bruder nichts.«

»Was soll ich nicht sagen, mein Sohn?«

»Sage ihm nichts von mir. Wahrhaftig, Mutter, ich könnte es nicht ertragen. Ich kann mich dazu nicht entschließen. Er hat sich so verschieden von mir gezeigt und sich emporgeschwungen, während ich Soldat gespielt habe, daß ich eine frechere Stirn haben müßte, um ihn an diesem Ort, und noch dazu unter der Last meiner Anklage, zu sehen. Wie kann ein Mann wie er auch nur die geringste Freude über ein solches Wiedersehen empfinden? Es ist unmöglich. Nein, Mutter, halte ihm die Sache noch geheim. Erweise mir größere Liebe, als ich verdient habe, und halte von allen Menschen vor meinem Bruder die Sache geheim.«

»Aber doch nicht für immer, lieber George?«

»Vielleicht nicht für immer und ewig, Mutter, wenn mir das auch das liebste wäre, aber jedenfalls behalte es jetzt für dich. Ich bitte dich darum. Wenn er jemals erfahren soll, daß sich sein Galgenstrick von einem Bruder wiedergefunden hat, so möchte ich es ihm am liebsten selber sagen« – verzweifelt schüttelt der Kavallerist den Kopf – »und ich würde vorher sondieren, wie er es aufnehmen würde.«

– Offenbar hat er über diesen Punkt eine so stark vorgefaßte Meinung, daß die Mutter seinen Wunsch erfüllt, zumal ihr Mrs. Bagnets Gesicht denselben Rat gibt. –

Er dankt ihr herzlich.

»In jeder andern Hinsicht, liebe Mutter, will ich so fügsam und gehorsam sein, wie du nur wünschen kannst, bloß auf diesem Punkt möchte ich bestehen. Ich bin sogar auf die Advokaten gefaßt. Ich habe hier«, sagt er mit einem Blick auf die auf dem Tisch liegende Schrift, »einen genauen Bericht über alles aufgesetzt, was ich von dem Verstorbenen weiß, und wieso ich in die ganze unglückliche Geschichte verwickelt worden bin. Es ist einfach und genau eingetragen wie in einem Orderbuch und ohne ein überflüssiges Wort. Ich hatte vor, es geradeso abzulesen, wenn man mich auffordern würde, etwas zu meiner Verteidigung vorzubringen. Ich hoffe, man wird auch jetzt noch nichts dagegen haben, doch ich will in dieser Sache keinen freien Willen mehr haben, und mag da was immer beschlossen und geredet werden, ich verspreche, mich zu fügen.«

Da die Sachen soweit zufriedenstellend abgemacht sind und die Zeit vorrückt, schlägt Mrs. Bagnet vor, zu gehen. Immer und immer wieder wirft sich die Greisin ihrem Sohn um den Hals, und immer und immer wieder drückt sie der Kavallerist an seine breite Brust.

»Wo bringen Sie meine Mutter hin, Mrs. Bagnet?«

»In die Stadtwohnung der Familie, lieber George. Ich habe etwas dort zu tun, was keinen Aufschub duldet«, gibt Mrs. Rouncewell zur Antwort.

»Möchten Sie nicht meine Mutter in einem Wagen dorthin bringen, Mrs. Bagnet? Aber natürlich tun Sie’s. Warum frage ich noch.«

»Natürlich«, gibt ihm Mrs. Bagnet mit dem Regenschirm zu verstehen.

»Nehmen Sie sie mit, alte Freundin, und meine Dankbarkeit dazu. Und Küsse für Quebec und Malta und herzliche Grüße meinem Patenkind und einen freundschaftlichen Händedruck für Lignum. Und das für Sie. Und ich wollte, es wären zehntausend Pfund in Gold.« Mit diesen Worten drückt der Kavallerist seine Lippen auf die sonnenverbrannte Stirn der Alten, und die Türe seiner Zelle fällt wieder ins Schloß.

Kein Bitten der guten alten Haushälterin kann Mrs. Bagnet bewegen, die Droschke zu behalten und nach Hause zu fahren. Sie steigt vor der Tür des Palais fröhlich aus, begleitet Mrs. Rouncewell die Stufen hinauf, schüttelt ihr zum Abschied die Hand und marschiert fort. Bald darauf taucht sie wieder inmitten der Bagnet-Familie auf und fängt an, Gemüse zu waschen, als ob nichts geschehen wäre.

Mylady befindet sich in dem Zimmer, wo sie ihre letzte Unterredung mit dem Ermordeten hatte. Sie sitzt an derselben Stelle wie damals und blickt auf den Kamin, vor dem er stand und sie in aller Muße studierte. Da klopft es an die Tür.

»Wer ist da« ?

»Mrs. Rouncewell.«

»Was hat Sie unerwartet in die Stadt geführt, Mrs. Rouncewell?«

»Sorgen, Mylady, Schwere Sorgen. Ach, Mylady, dürfte ich ein Wort allein mit Ihnen sprechen?« Was ist denn schon wieder geschehen? Was macht diese sonst so ruhige Alte so zittern?

»Was gibt es denn? Setzen Sie sich und erholen Sie sich ein wenig.«

»Ach, Mylady, Mylady! Ich habe meinen Sohn gefunden – meinen Jüngsten, der vor langen, langen Jahren unter die Soldaten ging. Und er ist im Gefängnis.«

»Wegen Schulden?«

»Ach nein, Mylady. Ich hätte jede Schuld mit Freuden bezahlt.«

»Weshalb ist er denn dann im Gefängnis?«

»Eines Mordes beschuldigt, Mylady, an dem er so unschuldig ist wie – ich selbst –, angeklagt, Mr. Tulkinghorn ermordet zu haben.«

– Was will sie mit diesem Blick und diese flehentlichen Gebärde? Warum tritt sie so nahe heran. Was hat der Brief in ihrer Hand zu bedeuten? –

»Lady Dedlock, meine liebe Lady, meine gütige Lady, Sie müssen ein Herz haben, um mit mir zu fühlen, Sie müssen ein Herz haben, um mir zu verzeihen. Ich war in diesem Hause lange, ehe Sie geboren wurden. Ich hänge so daran. Aber denken Sie an meinen lieben, unschuldig angeklagten Sohn.«

»Aber ich klage ihn doch nicht an!«

»Nein, Mylady, nein. Aber andre. Und er ist im Gefängnis und in großer Gefahr. – Ach, Lady Dedlock, wenn Sie nur ein Wort für ihn sprechen können, sprechen Sie es.«

– In welchem Wahn mag sie leben? Welche Macht schreibt sie Mylady zu, das Unrecht, wenn es ein solches ist, abwenden zu können, daß sie sie so anblickt? Lady Dedlocks schöne Augen sehen sie mit Staunen, fast mit Furcht an. –

»Mylady, ich verließ gestern abend Chesney Wold, um meinen Sohn als bejahrten Mann wiederzufinden, und die Schritte auf dem Geisterweg klangen so unausgesetzt und feierlich, wie ich sie in all den langen Jahren noch nie gehört habe. Abend für Abend, wenn es dunkel geworden war, schritt es durch Ihre Zimmer, aber vorige Nacht klang es am grauenhaftesten, und mit Dunkelwerden gestern abend, Mylady, bekam ich diesen Brief.«

»Was für einen Brief denn?«

»Still, still!« Die Haushälterin sieht sich um und flüstert erschrocken: »Mylady, ich habe niemand ein Wort davon gesagt. Ich glaube nicht, was darin steht. Ich weiß, daß es nicht wahr sein kann. Wahrhaftig und wirklich, ich bin fest überzeugt, daß es nicht wahr ist. Aber mein Sohn schwebt in größter Gefahr. Haben Sie Mitleid mit mir. Wenn Sie etwas wissen, was andern nicht bekannt ist, wenn Sie einen Verdacht haben, oder eine Vermutung und einen Grund, es für sich zu behalten, o liebe gütige Mylady, denken Sie an mich, vergessen Sie diesen Grund und sagen Sie es. Mehr halte ich ja nicht für möglich. Ich weiß, Sie sind nicht hartherzig, aber Sie gehen immer Ihre eignen Wege, ohne jemandes Hilfe, und vertrauen sich Freunden nie an, und alle, die Sie als schöne und vornehme Dame bewundern, wissen, daß Sie hoch über ihnen stehen und daß man Ihnen nicht nahe kommen darf. Mylady, Sie haben vielleicht aus Stolz Gründe, zu verschweigen, was Sie wissen, und wenn das der Fall ist, so bitte ich Sie, denken Sie an eine treue Dienerin, die ihr ganzes Leben in diesem Hause, das sie so hoch und teuer hält, zugebracht hat; haben Sie Erbarmen und helfen Sie meinem Sohn von diesem schrecklichen Verdacht. Ach, Mylady, meine gute gnädige Lady«, fleht die alte Haushälterin in ihrer Schlichtheit. »Meine Stellung ist so bescheiden und niedrig, und Sie stehen so hoch und so weit über mir, daß Sie vielleicht nicht wissen, was ich für mein Kind fühle, aber ich bin hierher gekommen, um Sie zu bitten und anzuflehen, mir nicht zu zürnen, daß ich so kühn bin, Sie zu bitten, uns in dieser furchtbaren Zeit zu Recht und Gerechtigkeit zu verhelfen.«

Lady Dedlock hebt sie vom Boden auf, ohne ein Wort zu sagen. Dann nimmt sie ihr den Brief aus der Hand.

»Soll ich das lesen?«

»Wenn ich fort bin, Mylady, wenn ich Sie bitten dürfte. Und bedenken Sie, daß ich kein Wort davon glaube. Nur was ich Ihnen gesagt habe, halte ich für möglich.«

»Aber ich wüßte nicht, was ich tun könnte. Ich halte nichts geheim, was Ihrem Sohn nützen könnte! Ich habe ihn nie beschuldigt!«

»Mylady, dann werden Sie ihn als unschuldig Angeklagten nur um so mehr bemitleiden, nachdem Sie den Brief gelesen haben.«

– Die alte Haushälterin verläßt das Zimmer, und Mylady hält den Brief in der Hand. Sie ist von Natur gewiß nicht hartherzig, und es hat eine Zeit gegeben, wo der Anblick der ehrwürdigen Greisin, die sie mit so innigem Ernst anflehte, sie bis zu tiefem Mitleid gerührt hätte. Aber sie ist so lange gewöhnt, Gemütsbewegung niederzuhalten, ist so lange ihrer selbst wegen in die verderbliche Schule gegangen, die die natürlichen Gefühle des Herzens luftdicht absperrt, wie der Bernstein die Mücken, das Gute und das Schlechte, Gefühl und Gefühllosigkeit, Einsicht und Unvernunft mit einem Firnis überzieht, daß sie sogar ihr Staunen bis jetzt unterdrückt hat. –

Sie öffnet den Brief. Er enthält einen gedruckten Befund des Toten, wie er, mit dem Gesicht auf dem Boden, mitten durch das Herz geschossen, dagelegen hat, und darunter steht ihr Name und dabei das Wort »Mörderin« geschrieben.

Er sinkt ihr aus den Händen. Wie lange er auf dem Teppich gelegen haben mag, weiß sie nicht, aber er liegt noch auf der Stelle, wo er hingefallen ist, als ein Bedienter vor ihr steht und den jungen Mann namens Guppy anmeldet. Wahrscheinlich hat der Bediente die Worte schon mehrere Male wiederholt, denn sie klingen ihr noch in den Ohren, ehe sie sie verstehen kann.

»Lassen Sie ihn eintreten.«

Er tritt ein. Sie hat den Brief vom Boden aufgehoben und versucht ihre Gedanken zu sammeln. In Mr. Guppys Augen ist sie dieselbe Lady Dedlock in derselben erkünstelten stolzen kalten Unnahbarkeit wie immer.

»Euer Gnaden werden vielleicht den abermaligen Besuch einer Person, die Ihnen niemals willkommen gewesen ist, nicht zu entschuldigen geneigt sein, aber ich hoffe, wenn ich der Allergnädigsten meine Beweggründe auseinandersetze, wird sie mich nicht tadeln«, sagt Mr. Guppy.

»Sprechen Sie!«

»Ich danke Euer Gnaden. Ich hätte zuerst gleich erwähnen sollen« –Mr. Guppy sitzt verlegen auf der Kante des Stuhles und stellt seinen Hut vor sich auf den Teppich – »daß Miß Summerson, deren Bild, wie ich seinerzeit gegen die Allergnädigste erwähnte, einstmals tief in mein Herz eingegraben war, bis Umstände, über die ich keine Gewalt hatte, es zerstörten, mir mitteilte, sie wünsche dringend, ich möchte keine weiteren Schritte in irgendeiner sie betreffenden Angelegenheit tun. Und da mir Miß Summersons Wunsch Befehl ist, außer wenn er sich auf Verhältnisse bezöge, über die ich keine Gewalt habe, so erwartete ich natürlich niemals wieder, die ausgezeichnete Ehre zu haben, der Allergnädigsten meine Aufwartung machen zu dürfen.«

»Und dennoch sind Sie wieder hier«, unterbricht ihn Lady Dedlock ärgerlich.

»Und dennoch bin ich jetzt hier«, gibt Mr. Guppy zu. »Meine Absicht ist, Euer Gnaden unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitzuteilen, warum ich hier bin.«

Mylady bedeutet dem jungen Mann, daß er sich nicht einfach und kurz genug fassen könne.

»Auch ich«, entgegnet Mr. Guppy ein wenig verletzt, »kann die Allergnädigste nicht angelegentlich genug ersuchen, fest im Auge zu behalten, daß mich kein persönliches Interesse herführt. Wenn mein Miß Summerson gegebenes Versprechen nicht wäre, und meine Verpflichtung, es zu halten, würde ich die Schwelle dieses Hauses wahrhaftig nicht wieder betreten haben.«

– Mr. Guppy hält den Augenblick für günstig, sich mit beiden Händen in das Haar zu fahren, so daß es kerzengerade in die Höhe steht. –

»Euer Gnaden werden sich vielleicht erinnern, daß ich bei meinem letzten Hiersein mit einer in unsern Berufskreisen hoch angesehenen Person, deren Verlust wir alle beklagen, zusammengetroffen bin. Diese Person unterließ von dieser Zeit an nichts, gegen mich auf eine Weise zu verfahren, die man geradezu hart nennen muß, und ließ mich ununterbrochen befürchten, ich könne unwissentlich vielleicht doch Miß Summersons Wünschen zuwider gehandelt haben. Eigenlob ist keine Empfehlung, aber ich möchte immerhin betonen, daß ich auch gerade kein schlechter Geschäftsmann bin.«

Lady Dedlock sieht fragend und streng auf. Mr. Guppy wendet augenblicklich seinen Blick von ihrem Gesicht.

»Es war mir in der Tat so schwer«, fährt er fort, »auch nur eine Ahnung von dem zu haben, was diese gewisse Person im Verein mit andern vorhatte, daß ich bis zu dem Verlust, den wir alle so sehr beklagen, ganz ‚aufgeschmissen‘ war – ein Ausdruck, den die Gnädigste, die sich in höheren Kreisen bewegt, dahin auslegen möge, daß mir der Verstand stillstand. Auch Small – ein Name, der eine andre beteiligte Person bezeichnet –, einer meiner Freunde – Euer Gnaden kennen ihn nicht –, benahm sich mir gegenüber so versteckt und doppelzüngig, daß es einem nicht leicht wurde, sich nicht an den Kopf zu greifen. Jedoch ist es mir endlich mit Aufgebot aller meiner bescheidenen Fähigkeiten und mit Hilfe eines gemeinsamen Freundes von hocharistokratischer Gesinnung namens Tony Weevle, der in seinem Zimmer beständig das Portrait der gnädigen Frau vor Augen hat, gelungen, auf eine Spur zu kommen, die mich veranlaßt, Euer Gnaden zu warnen.

Zuvörderst erlaube mir nun die Allergnädigste zu fragen, ob sie nicht heute morgen einen etwas ungewöhnlichen Besuch gehabt hat. Ich meine nicht Besuch aus der vornehmen Welt, sondern zum Beispiel von der alten Dienerin Miß Barbarys, oder einer Person, deren untere Gliedmaßen gelähmt sind und die auf einem Stuhl die Treppe hinaufgetragen werden muß?«

»Nein.«

»Dann kann ich Euer Gnaden die Versicherung geben, daß solche Personen hier gewesen und empfangen worden sind. Ich habe sie an der Tür gesehen und an der Ecke des Platzes gewartet, bis sie wieder herauskamen. Ich habe einen Umweg von einer halben Stunde machen müssen, um ihnen nicht zu begegnen.«

»Was geht das mich an, oder was haben Sie damit zu tun? Ich verstehe Sie nicht. Was wollen Sie eigentlich?«

»Euer Gnaden, ich komme, um Sie zu warnen. Es ist vielleicht keine Veranlassung dazu. Nun gut; dann habe ich nur mein möglichstes getan, Miß Summerson gegenüber mein Versprechen zu halten. Ich hege starken Verdacht – nach dem, was Small hat fallen lassen und was wir aus ihm herausgekorkziehert haben –, daß die Briefe, die ich seinerzeit Euer Gnaden versprach, bei der bewußten Gelegenheit nicht mitverbrannt sind und ihr Inhalt, wenn er überhaupt etwas zu verraten hat, bereits verraten ist. Der Besuch, von dem ich gesprochen habe, war diesen Morgen hier, um Geld aus der Sache herauszuschlagen. Vielleicht ist es schon geschehen, oder es steht etwas dergleichen bevor.«

Mr. Guppy nimmt seinen Hut und steht auf.

»Euer Gnaden werden am besten wissen, ob das alles von Belang ist oder nicht. So oder so, jedenfalls habe ich Miß Summersons Wunsch, der Sache ihren freien Lauf zu lassen und das, was ich bereits darin getan, so gut wie möglich rückgängig zu machen, befolgt, und das genügt mir. Falls ich mir damit eine Freiheit herausgenommen haben sollte, Euer Gnaden überflüssigerweise gewarnt zu haben, so bitte ich, meine Anmaßung nicht übel auffassen zu wollen.

Ich verabschiede mich jetzt von Euer Gnaden mit der Versicherung, daß die Allergnädigste in keinem Fall wieder durch einen Besuch von mir belästigt werden wird.«

Mylady nimmt die Abschiedsworte kaum durch einen Blick zur Kenntnis; aber als Mr. Guppy eine kleine Weile fort ist, klingelt sie.

»Wo ist Sir Leicester?«

Der Merkur berichtet, daß er sich gegenwärtig in der Bibliothek eingeschlossen habe.

»Hat Sir Leicester diesen Morgen Besuch gehabt?«

»Verschiedene. Vermutlich geschäftliche.« Der Merkur will die Personen beschreiben…

Genug. Er kann gehen. So! Also alles verloren. Ihr Name geht von Mund zu Mund, ihr Gatte kennt ihre Schuld; ihre Schande wird publik werden – ist es vielleicht jetzt schon, während sie noch daran denkt; und außer diesem von ihr so lang vorausgesehenen und von ihrem Gatten so wenig geahnten Schlag klagt sie eine unsichtbare Hand der Ermordung Tulkinghorns – ihres Todfeindes – an.

Ja, er war ihr Feind, und wie oft, wie oft, wie oft hat sie sich gewünscht, er sei tot!

Ihr Feind ist er selbst jetzt noch in seinem Grabe.

Die schreckliche Anklage trifft sie wie eine neue Marter von seiner leblosen Hand. Und wie sie bedenkt, daß sie an jenem Abend in aller Stille an seiner Türe war, bedenkt, wie man den Umstand, daß sie kurz vorher ihre Lieblingszofe fortgeschickt hat, so auslegen könnte, als wollte sie sich jeder möglichen Beobachtung entziehen, schaudert sie. Sie glaubt, die Hand des Henkers bereits an ihrem Halse zu fühlen.

Dann hat sie sich auf den Boden geworfen und liegt da, das Haarwild zerrauft und das Gesicht in die Kissen des Sofas vergraben. Sie steht auf, rast in der Stube auf und ab und wiegt sich stöhnend hin und her und ächzt. Ein namenloses Entsetzen hat sich ihrer bemächtigt. Wenn sie wirklich die Mörderin wäre, könnte es kaum schrecklicher sein.

Was ist jetzt sein Tod anderes als die Beseitigung des Schlußsteins eines vom Einsturz bedrohten Gewölbes?! In tausend Trümmer fällt der Bogen, und jedes einzelne Stück zermalmt und zerschmettert sie.

Es bemächtigt sich ihrer das schreckliche Gefühl, daß es vor diesem Verfolger, lebendig oder ermordet, keine Rettung mehr gibt als den Tod. Unerbittlich und unnahbar steht der Tote vor ihr in der Gestalt, die sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben hat, unnahbarer noch im Sarg als im Leben.

Fort, nur fort! Scham, Angst, Reue und Jammer in schrecklichem Zusammenwirken werfen sie zu Boden, und selbst ihre starke Seele wird im Wirbel fortgerissen wie ein Blatt im Sturmwind. Hastig schreibt sie ein paar Zeilen an ihren Gatten, versiegelt sie und legt sie auf den Tisch.

»Wenn man mich sucht oder des Mordes anklagt, so seien Sie überzeugt, daß ich daran keine Schuld trage. In einer andern Sache, die man mir zur Last legt oder legen wird, verteidige ich mich nicht. An jenem verhängnisvollen Abend teilte er mir mit, daß er Ihnen meine Schuld enthüllen werde. Als er mich verlassen hatte, ging ich aus, unter dem Vorwand, im Garten spazieren gehen zu wollen, in Wirklichkeit, um ihn aufzusuchen und ihn anzuflehen, er möge der schrecklichen Ungewißheit, mit der er mich – Sie wissen nicht, wie lange schon – gefoltert hat, ein Ende machen und so barmherzig sein, am nächsten Morgen den Schlag zu führen. Ich fand seine Wohnung dunkel und still. Ich klingelte zwei Mal an seiner Tür, aber es antwortete niemand, und ich ging wieder nach Hause.

Ich habe kein Heim mehr. Ich werde Ihnen nicht mehr lästig fallen. Mögen Sie in Ihrem gerechten Zorn imstande sein, die Unwürdige zu vergessen, an die Sie Hochherzigkeit und Liebe verschwendet haben und die Sie mit einem Schamgefühl meidet, noch tiefer als das, mit dem sie vor sich selbst fliehen möchte, und Ihnen jetzt dieses letzte Lebewohl schreibt.«

Sie kleidet sich rasch an, verschleiert sich, läßt alle ihre Juwelen und ihr Geld zurück, horcht und geht in dem Augenblick, wo die Vorhalle gerade leer ist, die Treppe hinunter und eilt hinaus in den pfeifenden kalten Wind.

49. Kapitel


49. Kapitel

Hie Pflicht, hie Freundschaft!

Ein großer Jahrestag ist in der Familie Mr. Matthew Bagnets, alias Lignum vitae, ehemaligen Artilleristen und gegenwärtigen Fagottbläsers. Ein Tag der Lustbarkeit und Freude. Die Feier eines Geburtstags in der Familie.

Natürlich nicht der des Familienoberhaupts, denn Mr. Bagnet ehrt diesen Zeitabschnitt in seinem Instrumentengeschäft immer dadurch, daß er den Kindern vor dem Frühstück einen Extraschmatz gibt, eine Pfeife mehr nach dem Mittagessen raucht und sich gegen Abend Grübeleien hingibt, was jetzt seine alte arme Mutter wohl denken möge – eine ungemein schwierig zu lösende Aufgabe, die dadurch nicht leichter wird, daß die Dame schon vor zwanzig Jahren gestorben ist. Manche Menschen erinnern sich selten an ihre Väter und scheinen in den Bankbüchern ihres Gedächtnisses ihr ganzes Kapital Kindesliebe auf den Namen der Mutter überschrieben zu haben. Mr. Bagnet ist einer von diesen Leuten. Vielleicht bestätigt das Verdienst seiner Gattin ihn in der Ansicht, daß das Hauptwort »Verdienst« eigentlich weiblichen Geschlechts sein solle. Der Geburtstag eines der drei Kinder ist es auch nicht. Derlei Tage erhalten natürlich ihre Auszeichnung, aber sie übersteigt selten die Grenzen herzlicher Glückwünsche und eines Puddings.

Es kann also nur der Geburtstag seiner Alten sein, und das ist der größte Festtag und der am rötesten angestrichne Tag in Mr. Bagnets Kalender. Das glückliche Ereignis wird stets streng nach gewissen Normen gefeiert, die Mr. Bagnet schon vor einigen Jahren ein für alle Mal ausgearbeitet und festgelegt hat. Er ist fest überzeugt, daß ein paar Hühner auf dem Mittagstisch den Gipfelpunkt eines geradezu kaiserlichen Luxus bilden, und geht daher regelmäßig schon sehr zeitig an diesem Tag aus, um ein paar zu kaufen, wird ebenso regelmäßig von dem Geflügelhändler übers Ohr gehauen und ersteht jedes Mal die beiden ältesten Hühner von ganz Europa. Dann bindet er diese Triumphe von Zähigkeit in ein reines, blauweiß gestreiftes Taschentuch, – ein wesentliches Requisit der Feier –, kehrt nach Hause zurück und fordert Mrs. Bagnet beim Frühstück gelegentlich auf, zu sagen, was sie am liebsten zu Mittag essen würde. Durch ein unerklärliches Zusammentreffen, das noch niemals versagt hat, erwidert Mrs. Bagnet prompt: »Geflügel«, worauf das Familienoberhaupt unter allgemeinem Staunen und Händezusammenschlagen das Bündel aus einem Versteck hervorzieht. Er verlangt ferner, daß die Alte den ganzen Tag lang nichts machen darf, als in ihrem Staatskleid zur Parade da zu sitzen und sich von ihm und dem jungen Volk bedienen zu lassen. Da er wegen seiner Kochkunst keinen besondern Ruf genießt, so ist anzunehmen, daß diese Maßregel mehr Sache der Zeremonie ist, als daß sie einen Genuß für die Alte bildet. Aber trotzdem behält Mrs. Bagnet stets unentwegt die Miene großer Fröhlichkeit bei.

An dem heutigen Geburtstag hat Mr. Bagnet die gewohnten Präliminarien schon hinter sich. Er hat zwei Prachtexemplare von Federvieh, die sich, wenn die Anzeichen nicht trügen, mit nicht besondrer Schwierigkeit haben für den Bratspieß fangen lassen, erstanden und durch ihr ganz unerwartetes Erscheinen die Familie in das größte Erstaunen und Entzücken versetzt. Er selbst leitet das Braten des Geflügels, und Mrs. Bagnet, die es in den gesunden braunen Fingern immer juckt, wenn sie etwas falsch machen sieht, sitzt in ihrem Ehrenkleid als Gast da.

Quebec und Malta decken den Tisch, während Woolwich, wie es sich gebührt, im Rang unter seinem Vater dient und den Spieß mit den Hühnern in Gang erhält. Diesen jugendlichen Küchengehilfen verrät Mrs. Bagnet gelegentlich mit einem Augenzwinkern, einem Kopfschütteln oder Stirnrunzeln, wenn sie Fehler machen.

»Um halb zwei!« sagt Mr. Bagnet. »Auf die Minute! Sie werden fertig sein.«

Mit Angstschweiß auf der Stirn sieht Mrs. Bagnet eines der Hühner am Feuer aufhören sich zu drehen und zu brennen anfangen.

»Du sollst ein Essen haben, Alte«, sagt Mr. Bagnet, »wie eine Königin.«

Mrs. Bagnet zeigt heiter ihre weißen Zähne, aber ihr Sohn nimmt eine so große seelische Beunruhigung an ihr wahr, daß ihn die Gebote der Kindesliebe zwingen, mit dem Auge zu fragen, was denn los sei, wobei er natürlich auf die Hühner noch viel weniger acht gibt als früher und auch die letzte Spur von Hoffnung, er könne zur Erkenntnis der Sachlage kommen, im Keime erstickt. Zum Glück entdeckt seine ältere Schwester die Ursache der Aufregung in Mrs. Bagnets Busen und erinnert ihn mit einem Rippenstoß an seine Pflicht. Die Hühner fangen an sich wieder zu drehen, und Mrs. Bagnet schließt, von der Wonne der Erleichterung überwältigt, die Augen.

»George kommt uns besuchen«, sagt Mr. Bagnet. »Um halb fünf. Auf den Glockenschlag. Wieviel Jahre, Alte, hat George uns so besucht, nachmittags?«

»Ach Lignum, Lignum, so viele, als aus einer jungen Frau eine alte machen, glaube ich. So viele werden’s wohl schon gewesen sein«, entgegnet Mrs. Bagnet lachend und schüttelt den Kopf.

»Alte«, sagt Mr. Bagnet. »Gräm dich nicht. Du wärst so jung wie je. Wenn du nicht jünger wärst. Was du bist. Wie jedermann weiß.«

Quebec und Malta rufen hier unter Händeklatschen, daß Bluffy der Mutter gewiß etwas mitbringen werde, und fangen an zu raten, was es wohl sein könne.

»Weißt du, Lignum«, sagt Mrs. Bagnet, wirft einen Blick auf das Tischtuch, winkt mit ihrem rechten Auge Malta »Salz« zu und schüttelt mit dem Kopf Quebec mit dem »Pfeffer« weg. »Es kommt mir so vor, als ob George wieder einmal sein Wanderfieber hätte.«

»George«, entgegnet Mr. Bagnet, »wird nie desertieren. Und seinen alten Kameraden sitzen lassen. Brauchst das nicht zu befürchten.«

»Nein, Lignum, nein, das sag ich auch nicht. Ich weiß, er wird das nie tun. Aber wenn er die Geldgeschichte loswerden könnte, glaube ich, würde er wieder fortmachen.«

Mr. Bagnet fragt: »Warum?«

»Nun, George scheint mir ein wenig ungeduldig und ruhelos zu werden. Ich sage nicht, daß er weniger frei und offen wäre als gewöhnlich. Aber es drückt ihn etwas, und das regt ihn auf.«

»Er muß nachexerzieren«, erklärt Mr. Bagnet. »Bei einem Advokaten. Der den Teufel aufgeregt machen würde.«

»Daran kann etwas Wahres sein«, stimmt die Alte zu.

Eine Fortsetzung des Gesprächs wird vorderhand dadurch verhindert, daß Mr. Bagnet sich in die Zwangslage versetzt sieht, die ganze Kraft seines Geistes dem Mittagsmahl zuzuwenden, das durch den trocknen Humor, mit dem die Hühner sich weigern, auch nur einen Tropfen Brühe herzugeben, sowie durch das Naturspiel, daß die Sauce keinen Geschmack bekommt und nicht von ihrer flachsgelben Farbe läßt, einen bedrohlichen Charakter annimmt. Von ähnlicher Seelenverderbnis befallen, bröckeln die Kartoffeln während des Schälens in Stücken von den Gabeln und platzen, wie von inneren Erdbeben aufgerührt, auseinander. Auch die Beine der Hühner sind länger als gerade wünschenswert und stahlhart gepanzert. Mr. Bagnet überwindet schließlich diese Schwierigkeiten siegreich, trägt das Mahl auf, und alle setzen sich zu Tisch, wobei Mrs. Bagnet den Ehrenplatz zugewiesen bekommt.

Es ist gut für die Alte, daß sie bloß ein Mal im Jahr Geburtstag hat, denn zwei solche Schwelgereien in Geflügel könnten die schwersten Folgen nach sich ziehen. Auch die kleinste Sehne, deren sich das Geflügel erfreut, hat sich in beiden Hühnern übereinstimmend zu der den Gitarresaiten eigentümlichen Form entwickelt. Ihre Flügel und Schenkel haben in Brust und Rumpf knorrig Wurzel geschlagen wie uralte Bäume. Ihre Keulen sind so hart, daß man auf den Gedanken kommen möchte, sie könnten den größten Teil einer langen mühseligen Lebenswanderung mit angestrengten Märschen oder Wettläufen zugebracht haben. Aber für den von diesen kleinen Mängeln nichts ahnenden Mr. Bagnet ist es Herzenssache, daß Mrs. Bagnet eine möglichst große Quantität von den ihr vorgesetzten Leckerbissen ißt, und da ihm die gute Alte um keinen Preis an irgendeinem Tage, geschweige denn an einem solchen, auch nur den geringsten Verdruß bereiten möchte, gefährdet sie ihren Verdauungsapparat auf das bedenklichste. Wie der junge Woolwich imstande ist, die Trommelschlegel auf seinem Teller zu bewältigen, ohne doch von einem Strauß abzustammen, vermag seine besorgte Mutter absolut nicht zu begreifen.

Nach Beendigung des Mahles hat die Alte noch eine weitere Prüfung zu bestehen, denn sie muß in Paradestellung sitzen bleiben, während das Zimmer aufgeräumt, der Herd gekehrt und das Tischgeschirr im Hof gewaschen und poliert wird. Die große Freude und Energie, mit der die beiden jungen Damen diese Pflichten verrichten und nach dem Beispiel der Mutter das Kleid aufschürzen und auf kleinen Schafotten von Holzschuhen herein und hinaus Rollschuh laufen, erwecken die glänzendsten Hoffnungen für die Zukunft, aber eine gewisse Bangigkeit für die Gegenwart. Dieselben Ursachen führen zu einem Stimmengewirr, einem Geklapper von irdenem Geschirr, Rasseln von Zinnkrügen, einem Schwingen von Besen und einer Verschwendung von Wasser in denkbar größtem Maße, wobei der durchnäßte Zustand der jungen Damen selbst ein so rührendes Schauspiel darbietet, daß es Mrs. Bagnet kaum mehr mit der ihrer Stellung angemeßnen Ruhe mit ansehen kann. Endlich sind die verschiednen Reinigungsprozesse siegreich erledigt worden. Quebec und Malta erscheinen lächelnd und trocken in frischen Kleidern, Pfeifen, Tabak und etwas zu trinken kommen auf den Tisch, und auf die Alte senkt sich das erste Morgenrot des Friedens an dem Tage dieses genußreichen Festes nieder.

Als Mr. Bagnet seinen gewohnten Platz einnimmt, stehen die Zeiger der Uhr nahe auf halb fünf, und wie sie genau darauf stehen, ruft er:

»George! Militärische Pünktlichkeit.«

Es ist George, und er überbringt die herzlichsten Glückwünsche für die Alte, die er bei dieser feierlichen Gelegenheit küßt, und für die Kinder und für Mr. Bagnet. »Allen wünsche ich eine viel, vielmalige Wiederkehr dieses Tages.«

»Aber George, alter Junge!« ruft Mrs. Bagnet und sieht den Kavalleristen neugierig an. »Was fehlt Ihnen denn ? Sie sind so blaß, George – verhältnismäßig –, und sehen so angegriffen aus. Nicht wahr, Lignum?«

»George«, nickt Mr. Bagnet. »Sag’s der Alten. Was fehlt dir?«

»So, so, bin ich blaß«, sagt der Kavallerist und fährt sich mit der Hand über die Stirn. »Ich wußte nicht, daß ich angegriffen aussehe, und es tut mir leid. Aber die Sache ist die, daß der Junge, den sie zu mir gebracht haben, gestern nachmittag gestorben ist. Das hat mich ein bißchen hergenommen.«

»Armer Teufel!« sagt Mrs. Bagnet mit mütterlichem Mitleid. »Ist’s aus mit ihm? Gott, Gott!«

»Ich wollte nichts davon erwähnen, denn es ist kein Geburtstagsgespräch. Aber Sie haben es aus mir herausbekommen, noch ehe ich mich niedergesetzt habe. Ich wäre in einem Augenblick schon wieder munter gewesen«, sagt der Kavallerist und zwingt sich zu einem heiteren Ton, »aber Sie haben zu scharfe Augen, Mrs. Bagnet.«

»Da hast du recht! Die Alte«, sagt Mr. Bagnet, »ist schnell. Wie Pulver.«

»Aber was viel wichtiger ist«, fährt George fort, »heute hat sie ihren Tag, und wir wollen ihn feiern. Ich habe Ihnen eine kleine Brosche mitgebracht, ’s ist ein armseliges Ding, aber ein Andenken. Das ist das einzig Gute daran, Mrs. Bagnet.«

Mr. George zieht sein Geschenk aus der Tasche, das mit bewundernden Sprüngen und Händeklatschen von den Kindern und einer Art ehrfurchtsvollen Staunens von Mr. Bagnet begrüßt wird. »Alte«, sagt Mr. Bagnet, »sage ihm meine Meinung darüber.«

»Ach, es ist wunderschön, George!« ruft Mrs. Bagnet aus. »So etwas Herrliches habe ich noch niemals gesehen.«

»Gut«, sagt Mr. Bagnet. »Das ist meine Meinung.«

»Es ist so hübsch, George«, beteuert Mrs. Bagnet, wendet die Brosche nach allen Seiten und hält sie auf Armeslänge vor sich hin, »daß es für mich viel zu vornehm aussieht.«

»Schlecht«, sagt Mr. Bagnet. »Nicht meine Meinung.«

»Aber so oder so, hunderttausend Mal Dank, alter Junge!« Mrs. Bagnet reicht mit vor Freude glänzenden Augen George die Hand. »Und wenn ich auch manchmal eine etwas kratzbürstige Soldatenfrau gegen Sie gewesen bin, George, so sind wir doch in Wirklichkeit so gut Freund miteinander wie nur möglich. Nicht? Sie müssen die Brosche jetzt der guten Vorbedeutung wegen selbst feststecken, George.«

Die Kinder drängen sich heran, um zuzusehen, und Mr. Bagnet schaut über des jungen Woolwich Kopf ebenfalls zu, und mit einem so ausgesprochen hölzernen und doch so vergnügt kindischen Interesse, daß Mrs. Bagnet lachen muß und sagt: »Ach Lignum, Lignum, was für ein kostbarer alter Kerl du doch bist!«

Aber es gelingt dem Kavalleristen nicht, die Brosche zu befestigen. Seine Hände zittern, er ist nervös, und sie fällt herunter. »Sollte man das glauben?« sagt er, indem er sie auffängt und sich umsieht. »Ich bin so hergenommen, daß ich nicht einmal mehr das kann.«

Mrs. Bagnet ist der Meinung, daß es für einen solchen Fall kein besseres Mittel gibt als eine Pfeife, und schiebt dem Kavalleristen, nachdem sie selbst die Brosche in einem Nu festgesteckt hat, seinen gewohnten bequemen Sessel hin und holt die Pfeifen herbei. »Wenn Sie das nicht wieder in Stimmung bringt, George«, sagt sie, »brauchen Sie nur manchmal einen Blick auf Ihr Geschenk hier zu werfen, und das beides zusammen wird dann schon wirken.«

»Sie selbst werden es tun, Mrs. Bagnet«, gibt George zur Antwort. »Die blauen Bohnen sind mir in letzter Zeit ein wenig zu arg um den Kopf geflogen. Da war erstens einmal der arme Bursche. Es war eine schlimme Sache, ihn so sterben zu sehen, ohne ihm helfen zu können.«

»Wieso, George? Sie haben ihm doch geholfen. Sie haben ihn doch bei sich aufgenommen.«

»Insofern schon. Aber das ist ein bißchen wenig. Ich meine, Mrs. Bagnet, ich sah ihn sterben, ohne daß man ihn jemals viel mehr gelehrt hatte, als seine rechte Hand von seiner linken zu unterscheiden. Und dann stand es schon zu schlimm mit ihm, als daß man ihm noch viel hätte helfen können.«

»Armer Teufel«, seufzt Mrs. Bagnet.

»Und dann«, fährt der Kavallerist fort und streicht sich wieder mit seiner schweren Hand über die Stirn, »hab ich dabei an Gridley denken müssen. Ebenfalls ein schlimmer Fall, wenn auch in andrer Art. Überdies trug die Schuld daran in beiden Fällen derselbe steinharte Schuft, und an diesen verrosteten Karabiner denken zu müssen, wie er immer dasteht, teilnahmslos und gleichgültig – da kribbelt’s mir in den Fingern.«

»Mein Rat wäre«, meint Mrs. Bagnet, »zünden Sie sich lieber die Pfeife an und lassen Sie sich den Rauch im Munde kribbeln. Das ist angenehmer und weniger aufregend und wahrscheinlich auch besser für Ihre Gesundheit.«

»Da haben Sie recht. Das will ich tun.«

Der Kavallerist tut es auch, aber mit einer Miene entrüsteter Ernsthaftigkeit, die auf die jungen Familienmitglieder einen großen Eindruck macht und sogar Mr. Bagnet veranlaßt, die Zeremonie, auf Mrs. Bagnets Gesundheit zu trinken, noch ein wenig aufzuschieben.

Erst nachdem die jungen Damen das, was Mr. Bagnet die »Legierung« nennt, bereitet haben und Georges Pfeife in heller Glut brennt, hält es Mr. Bagnet für seine Pflicht, den Trinkspruch des Abends, wie immer bei solchen Gelegenheiten, mit musterhafter Knappheit auszubringen. Er richtet an die versammelte Gesellschaft folgende Worte:

»George. Woolwich. Quebec. Malta. Heute ist ihr Geburtstag. Marschieret den ganzen Tag. Und ihr werdet keine zweite finden. Auf ihre Gesundheit!«

Nachdem dieser Toast mit Begeisterung getrunken worden, dankt Mrs. Bagnet ebenfalls mit einer hübschen Rede von entsprechender Kürze. Ihre Musterstilübung beschränkt sich wie immer auf die paar Worte: »Und die eurige.« Sie nickt dabei allen der Reihe nach zu und nimmt dann einen genau bemeßnen Schluck von der »Legierung«. Heute aber fügt sie außerdem ganz unerwartet den Ausruf hinzu: »Da steht jemand.«

Und wirklich, sehr zum Erstaunen der kleinen Gesellschaft schaut jemand zur Stubentür herein. Es ist ein Mann mit scharfem, durchdringendem Blick. Und jeder muß ihn ansehen und hat dabei das Gefühl: Das ist ein höchst merkwürdiger Mensch.

»George«, sagt der Mann und nickt, »wie befinden Sie sich?«

»Ah, Bucket!« ruft Mr. George.

»Ich ging hier durch die Straße«, erzählt der Mann, kommt jetzt herein und schließt die Tür, »als ich zufällig hier stehen blieb, mir die Musikinstrumente im Ladenfenster betrachtete – ein Freund von mir möchte nämlich ein gebrauchtes Violoncello von gutem Ton kaufen – und eine Gesellschaft sich amüsieren sah. Ich glaubte, Sie in der Ecke zu erkennen, George, und habe mich, wie ich sehe, auch nicht geirrt. Wie geht es Ihnen zur Zeit, George? Ziemlich gut? Und Ihnen, Maam, und Ihnen, Meister? Aber sieh mal einer!« Mr. Bucket breitet die Arme aus. »Da sind ja Kinder. Ihr könnt alles mit mir machen, wenn ihr mir nur Kinder zeigt. Gebt mir einen Kuß, ihr Schätzchen! Brauche nicht erst zu fragen, wer euer Vater und eure Mutter ist. Hab so eine Ähnlichkeit in meinem Leben noch nicht gesehen.«

Freundlich aufgenommen, hat sich Mr. Bucket neben Mr. George gesetzt und Quebec und Malta auf seine Knie genommen.

»Ihr hübschen Kinder«, sagt Mr. Bucket, »gebt mir noch einen Kuß; das ist das einzige, wovon ich nie satt werden kann. Gott segne euch. Wie gesund ihr ausseht. Wie alt mögen die beiden wohl sein, Maam? Möchte sie so etwa auf acht bis zehn Jahre schätzen.«

»Stimmt so ungefähr, Sir«, sagt Mrs. Bagnet.

»Ich errate es fast immer, denn ich habe Kinder so gern. Ein Freund von mir hat neunzehn, Maam. Alle von einer Mutter. Und sie sieht noch so frisch und rosig aus wie der Morgen. Nicht so wie Sie, aber meiner Seel, sie kommt Ihnen nahe.«

»Ja, und was ist denn das da, meine Schätzchen?« fährt Mr. Bucket, wieder zu den Kindern gewendet, fort und kneift Malta in die Wange. »Das sind ja wirkliche Pfirsiche. Meiner Seel. Und was meinst du von Papa? Glaubst du, er könne ein gebrauchtes Violoncello von gutem Ton für Mr. Buckets Freund empfehlen, Kleine? Ich heiße Bucket. Komisch, nicht?«

Diese kleinen Schmeicheleien haben dem Mann die Herzen der Familie im Handumdrehen gewonnen. Mrs. Bagnet vergißt die Feierlichkeiten des Tages soweit, daß sie Mr. Bucket eine Pfeife stopft und ihm eigenhändig ein Glas einschenkt. Sie würde unter allen Umständen, sagt sie, einen so gewinnenden Menschen freundlich aufnehmen, aber als Freund Georges sehe sie ihn heute, wo dieser nicht in seiner gewöhnlichen Laune sei, besonders gerne.

»Nicht in seiner gewöhnlichen Laune!« ruft Mr. Bucket aus. »Na, aber so etwas! Was ist denn los, George? Mir werden Sie doch nicht sagen, Sie wären nicht bei Laune. Sie haben doch nichts auf dem Herzen?«

»Nichts Besonderes«, entgegnet der Kavallerist.

»Na, das sollt ich auch meinen. Was könnten denn Sie auf dem Herzen haben, möchte ich wissen? Haben diese kleinen Schätzchen da vielleicht auch etwas auf dem Herzen, he? Sie selbst nicht, aber manch junger Bursche wird sie später einmal auf dem Herzen haben und schrecklich traurig dabei sein. Ich verstehe mich nicht aufs Prophezeien, aber soviel kann ich mit Bestimmtheit voraussagen, Maam.«

Mrs. Bagnet, ganz entzückt, hofft, daß Mr. Bucket auch Familie hat.

»Das ist es doch eben, Maam, würden Sie das glauben? Nein, ich habe keine. Meine Frau und eine Mieterin sind meine ganze Familie.

Mrs. Bucket hat Kinder ebenso lieb wie ich und wünschte sich auch welche. Aber nein. So geht’s. Irdische Güter sind ungleich verteilt, und der Mensch soll nicht murren. Was für einen hübschen Hof Sie da haben, Maam. Hat er einen Ausgang?«

Der Hof hat keinen Ausgang.

»Wahrhaftig nicht?« sagt Mr. Bucket. »Man sollte doch wirklich glauben, daß so ein Hof einen Ausgang haben müsse. Ich wüßte wirklich nicht, daß mir jemals ein Hof besser gefallen hätte. Sie erlauben doch, daß ich ihn mir näher ansehe. Danke bestens. Er hat wirklich keinen Ausgang, wie ich sehe.«

Nachdem Mr. Bucket mit seinem scharfen Blick sich draußen überall umgesehen hat, kehrt er zu seinem Stuhl zurück und klopft Mr. George freundschaftlich auf die Achsel.

»Wie sind Sie jetzt aufgelegt, George?«

»Schon wieder ganz gut.«

»Sehen Sie, das laß ich mir gefallen. Ein Mann von Ihrer Gestalt und Konstitution hat kein Recht, niedergedrückt zu sein, nicht wahr, Maam? Und Sie haben nichts auf dem Herzen. Verstehen Sie wohl, George! Was könnten Sie denn auf dem Herzen haben!« Mr. Bucket verweilt auffallend lange bei diesen Äußerungen, indem er sie ganz im Widerspruch mit seinem sonstigen Unterhaltungstalent ein paar Mal wiederholt, während er sich die Pfeife anzündet und dabei, wie das so seine Gewohnheit manchmal ist, ein horchendes Gesicht macht. Aber die Sonne seiner Gemütlichkeit erholt sich bald von dieser kurzen Verfinsterung und scheint wieder.

»Und das ist der kleine Bruder, nicht wahr, Kinder?« wendet er sich an Quebec und Malta, um über den jungen Woolwich Näheres zu erfahren. »Ein hübscher kleiner Bruder – Stiefbruder wollte ich sagen, denn er ist zu alt, um Ihr Sohn zu sein, Maam.«

»Von wem sollte er denn sonst sein«, lacht Mrs. Bagnet.

»Was? Ah, da staun ich. Aber er ist Ihnen wahrhaftig ähnlich. Kein Zweifel. Wunderbar ähnlich. Nur um die Stirn herum erkennt man den Vater.« Mr. Bucket vergleicht die Gesichter und schließt dabei ein Auge, während Mr. Bagnet ruhevoll seine Pfeife raucht. Mrs. Bagnet benützt die Gelegenheit, zu sagen, daß der Junge Georges Patenkind ist.

»Georges Patenkind? So, so«, entgegnet Mr. Bucket mit ausnehmender Herzlichkeit. »Da muß ich ihm ja noch ein Mal die Hand schütteln. Die beiden machen einander Ehre. Was wollen Sie ihn denn werden lassen, Maam? Zeigt er Lust zu einem musikalischen Instrument?«

Mr. Bagnet mischt sich plötzlich ins Gespräch: »Spielt die Querpfeife. Wunderschön.«

»Würden Sie glauben, Meister«, sagt Mr. Bucket, über das Zusammentreffen verwundert, »daß ich als Junge selber die Querpfeife gespielt habe? Nicht wissenschaftlich, wie er wahrscheinlich; nur nach dem Gehör. Meiner Seel! – ‚Die britischen Grenadiere‘ das ist eine Melodie, bei der einem Engländer warm ums Herz wird. Könntest du uns ‚die britischen Grenadiere‘ vorspielen, mein Junge?«

Sofort holt der junge Woolwich seine Querpfeife und spielt die wilde erregende Melodie, zu der Mr. Bucket begeistert den Takt schlägt und immer in den Refrain einstimmt: »Die britischen Gre-he-nadiere.«

Kurz, er zeigt soviel musikalischen Geschmack, daß Mr. Bagnet tatsächlich die Pfeife aus dem Mund nimmt, um ihm zu versichern, er müsse unbedingt ein Sänger sein. Mr. Bucket bekennt bescheiden, einmal ein wenig gesungen zu haben, und man fordert ihn auf, zu singen. Um die Gemütlichkeit seinerseits zu fördern, gibt er schließlich nach und singt ihnen »Glaubt mir, wenn all diese zau-berischen Rei-hei-ze« vor. Diese Ballade, verrät er, habe einst Mrs. Buckets jungfräuliches Herz bewegt und sie vermocht, vor den Altar zu treten – oder, wie er sich ausdrückt, pappen zu bleiben.

Der bestrickende Gast ist eine so neue unschätzbare Zugabe für den Festtag, daß Mr. George, der anfangs keine sehr große Freude bei seinem Eintritt an den Tag gelegt hat, anfängt, stolz auf ihn zu werden. Er entpuppt sich als ein so vielseitiger Mann und hat ein so gewinnendes Benehmen, daß es immerhin ein gewisses Verdienst ist, ihn hier eingeführt zu haben. Mr. Bagnet fühlt nach einer zweiten Pfeife den Wert der neuen Bekanntschaft so sehr, daß er den Gast um die Ehre seines Besuchs am nächsten Geburtstag der Alten bittet. Wenn etwas die Achtung, die Mr. Bucket der Familie gegenüber an den Tag legt, noch mehr befestigen kann, so ist es seine Entdeckung des Anlasses der heutigen Festlichkeit. Er trinkt Mrs. Bagnet mit einer an Begeisterung grenzenden Wärme zu, bedankt sich verbindlich für die Einladung, merkt sich den Tag in einer großen schwarzen Brieftasche mit Gummiband an und gibt der Hoffnung Raum, daß inzwischen Mrs. Bucket und Mrs. Bagnet schwesterliche Freundinnen geworden sein möchten. Was sei öffentliches Leben ohne Freundschaftsbande, sagt er. Er sei in seiner bescheidnen Sphäre ein Mann der Öffentlichkeit sozusagen, aber darin fände er sein Glück nicht. Nur in der engen Häuslichkeit könne man es finden.

Unter diesen Umständen ist es nur natürlich, wenn er jetzt auch des Freundes gedenkt, dem er eine so vielversprechende Bekanntschaft verdankt. Und er tut es. Er schließt sich sehr an ihn an. Immer wieder kommt er darauf zurück, von was immer auch gesprochen wird. Er wartet, um mit ihm nach Hause zu gehen. Sogar seine Stiefel interessieren ihn, und er beobachtet sie aufmerksam, während Mr. George mit überschlagnen Beinen am Kamin sitzt und raucht.

Endlich steht der Kavallerist auf, um zu gehen, und im selben Augenblick erhebt sich auch Mr. Bucket. Er kann sich von den Kindern gar nicht trennen und kommt wieder auf den Auftrag, den er für einen abwesenden Freund übernommen hat, zurück.

»Was das gebrauchte Violoncello betrifft, Meister, können Sie mir ein solches empfehlen?«

»Dutzende«, sagt Mr. Bagnet.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, entgegnet Mr. Bucket und drückt ihm die Hand. »Sie sind ein Freund in der Not. Einen guten Ton muß es haben, nicht vergessen! Mein Freund ist kein Stümper. Wahrhaftig, er fiedelt seinen Mozart und seinen Händel und die andern Obermacher herunter wie einer vom Fach, und«, setzt er vertraulich hinzu, »Sie brauchen sich hinsichtlich des Preises nicht zu sehr ins Fleisch zu schneiden, Meister. Ich will nicht gerade einen zu hohen Preis für meinen Freund anlegen, aber andrerseits sollen Sie auch Ihre anständigen Prozente haben und für Ihren Zeitverlust entsprechend entschädigt werden. Das ist recht und billig. Jeder Mensch muß leben und verdienen.«

Mr. Bagnet nickt der Alten zu, um damit auszudrücken, welches Juwel sie in dem Manne gefunden hätten.

»Angenommen, ich fragte morgen um halb elf wieder hier an, könnten Sie mir da schon die Preise von ein paar Violoncellos von gutem Ton sagen?«

Nichts leichter als das. Mr. und Mrs. Bagnet verpflichten sich beide, bis dahin die erforderliche Auskunft verschafft zu haben, und wechseln Blicke, ob es nicht möglich sei, einen kleinen Vorrat zur Besichtigung herbeizuschaffen.

»Ich danke Ihnen«, sagt Mr. Bucket. »Gute Nacht, Maam. Gute Nacht, Meister. Gute Nacht, meine Schätzchen. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für einen der angenehmsten Abende, die ich in meinem Leben gehabt habe.«

Die Bagnets sind dem Herrn sehr verpflichtet für das Vergnügen, und so scheiden sie mit vielen Ausdrücken der Zufriedenheit von einander.

»Nun, George, alter Junge«, sagt Mr. Bucket und nimmt an der Ladentür den Arm des Kavalleristen, »kommen Sie.«

Wie sie die kleine Straße hinabgehen und die Bagnets ihnen eine Weile nachsehen, bemerkt die Alte zu dem würdigen Lignum, »daß Mr. Bucket sehr an George zu hängen und ihn wirklich gern zu haben scheint«.

Da die nächstfolgenden Straßen eng und schlecht gepflastert sind, so ist es sehr unbequem für zwei Leute, nebeneinander Arm in Arm zu gehen, und Mr. George schlägt daher vor, sie sollten lieber einzeln marschieren. Mr. Bucket kann sich durchaus nicht entschließen, den Freund loszulassen, und vertröstet ihn: »Nur noch eine Minute, George! Ich möchte erst mit Ihnen sprechen.« Gleich darauf schiebt er ihn in ein Wirtshaus hinein und in ein Stübchen, stellt sich ihm gegenüber und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür.

»Hören Sie, George«, sagt er. »Pflicht ist Pflicht und Freundschaft ist Freundschaft. Ich will nie, daß die beiden einander in die Haare geraten, wenn ich es verhindern kann. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, die Sache heute abend angenehm zu gestalten, und sagen Sie selbst, ob ich es getan habe oder nicht. Aber jetzt haben Sie sich als verhaftet zu betrachten.«

»Verhaftet? Weshalb?« entgegnet der Kavallerist, wie vom Donner gerührt.

»Hören Sie, George«, sagt Mr. Bucket und hebt bedeutungsvoll und eindringlich seinen dicken Zeigefinger in die Höhe. »Pflicht, das wissen Sie recht gut, und Unterhaltung sind zweierlei. Es ist meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß jede Äußerung, die Sie tun, unter Umständen belastend für Sie sein kann. Also nehmen Sie sich in acht, George, mit dem, was Sie sagen. Also: Haben Sie nicht zufällig von einer Mordtat gehört?«

»Einer Mordtat?«

»George«, sagt Mr. Bucket und macht mit seinem Zeigefinger eine ausdrucksvolle Bewegung, »vergessen Sie nicht. Sie sind diesen Nachmittag in gedrückter Stimmung gewesen. Ich sage, haben Sie zufällig nichts von einem Mord gehört?«

»Nein. Wer ist denn ermordet worden?«

»Passen Sie auf, George. Kompromittieren Sie sich nicht. Ich will Ihnen sagen, weshalb ich Sie verhafte. Es ist jemand in Lincoln’s-Inn-Fields ermordet worden – ein Gentleman namens Tulkinghorn. Er ist gestern nacht erschossen worden.«

Der Kavallerist sinkt auf eine hinter ihm stehende Bank zurück. Große Schweißtropfen perlen auf seiner Stirn, und Totenblässe überzieht sein Gesicht.

»Bucket! Es ist doch nicht möglich, daß Sie mich in Verdacht haben, Mr. Tulkinghorn ermordet zu haben?«

»George«, – Mr. Bucket bewegt immer noch seinen Zeigefinger hin und her – »das ist nicht nur möglich, sondern sogar der Fall. Die Tat geschah gestern abend um zehn Uhr. Nun wissen Sie doch jedenfalls, wo Sie gestern abend um zehn Uhr waren, und können es beweisen.«

»Gestern abend? Gestern abend?« wiederholt der Kavallerist gedankenvoll. Dann geht ihm plötzlich ein Licht auf. »Gott im Himmel, ich war gestern abend dort.«

»Das weiß ich, George«, entgegnet Mr. Bucket mit großer Überlegung. »Ich weiß es. Und Sie sind sehr oft dort gewesen. Man hat Sie häufig in der Gegend gesehen und mehr als ein Mal gehört, daß Sie sich mit ihm herumgezankt haben. Man soll sogar – ich sage nicht, daß es der Fall sein muß, wohl verstanden –, aber man will ihn Sie einen gewalttätigen gefährlichen Kerl haben nennen hören.«

Der Kavallerist schnappt nach Luft, als wolle er alles das zugeben und könne nur nicht sprechen.

»Also, George«, fährt Mr. Bucket fort und legt seinen Hut auf den Tisch mit einer geschäftsmäßigen Miene wie ein Tapezierer. »Mein Wunsch ist, die Sache so glatt und angenehm zu machen, wie sie den ganzen Abend gewesen ist. Ich sage Ihnen offen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, hat eine Belohnung von hundert Guineen ausgesetzt. Wir beide sind immer gut miteinander ausgekommen, und ich sehe nicht ein, weshalb ich die hundert Guineen nicht ebensogut wie irgendein andrer verdienen sollte. Aus allen diesen Gründen wird es Ihnen hoffentlich klar sein, daß ich Sie haben muß und daß ich verdammt sein will, wenn ich Sie jetzt nicht habe. Soll ich Beistand herbeirufen oder geht die Sache glatt?«

Mr. George hat sich erholt und richtet sich auf wie ein Soldat. »Los!« sagt er. »Ich bin bereit.«

»Warten Sie einen Augenblick, George«, fährt Mr. Bucket fort.

Mit seiner Tapezierermiene, als wäre der Kavallerist ein auszubesserndes Möbel, holt er ein Paar Handschellen aus der Tasche.

»Es ist eine peinliche Sache, George, aber die Pflicht schreibt es mir vor…«

Der Kavallerist wird blutrot vor Zorn und zögert einen Augenblick; dann aber hält er seine beiden Hände hin und sagt: »Da! Legen Sie sie an!«

Mr. Bucket hat die Handschellen im Nu befestigt. »Wie passen sie Ihnen? Sind sie bequem? Wenn nicht, so sagen sie’s, denn ich möchte Ihnen alles so angenehm machen, wie es sich nur irgend mit meiner Pflicht verträgt, und ich habe noch ein Paar in der Tasche.« Er sagt das alles wie ein höchst respektabler Kaufmann, dem die sorgfältigste Ausführung eines Auftrags sehr am Herzen liegt.

»Passen sie Ihnen so, wie sie sind? Also gut! Sie sehen, George«, er nimmt einen Mantel aus einer Ecke und hängt ihn dem Kavalleristen um, »ich habe auf Ihre Gefühle Rücksicht genommen und den Mantel zu diesem Zweck mitgebracht. So. Wer weiß jetzt was?«

»Nur ich«, entgegnet der Kavallerist, »aber da ich es weiß, tun Sie mir nur noch den einzigen Gefallen und ziehen Sie mir den Hut über die Augen.«

»Trotzdem? Glauben Sie? Warum eigentlich? Es sieht nicht gut aus.«

»Ich kann niemandem mit diesen Dingern an den Händen ins Gesicht sehen«, antwortet Mr. George hastig. »Um Gottes willen, ziehen Sie mir den Hut ins Gesicht.«

So eindringlich gebeten, gibt Mr. Bucket nach, setzt dann selbst seinen Hut auf und führt seine Beute auf die Straße hinaus. So fest wie immer marschiert der Kavallerist einher, nur den Kopf trägt er weniger aufrecht, und Mr. Bucket steuert ihn über die Straßenübergänge und um die Ecken.

50. Kapitel


50. Kapitel

Esthers Erzählung

Als ich von Deal nach Hause kam, fand ich einen Brief von Caddy Jellyby mit der Nachricht vor, ihr Gesundheitszustand, seit einiger Zeit schon nicht der beste gewesen, habe sich verschlimmert, und sie würde sich mehr, als sie sagen könne, freuen, wenn ich sie besuchen käme. Es waren nur wenige Zeilen, offenbar im Bett geschrieben, und ihnen lag ein Brief von ihrem Gatten bei, der ihre Bitte unterstützte.

Caddy war inzwischen Mutter geworden und ich die Patin eines niedlichen, uralt aussehenden Würmchens mit einem Gesicht, so klein, daß man kaum etwas andres als den Mützenbesatz sehen konnte. Seine kleinen magern langfingerigen Händchen hielt es beständig unter dem Kinn zusammengeballt. In dieser Stellung pflegte es nämlich den ganzen Tag dazuliegen, die hellen Äugelchen weit offen und offenbar ganz verwundert, warum es so klein und schwach war. Nur wenn man es nahm, schrie es, aber zu allen andern Zeiten war es so geduldig, daß es der einzige Wunsch seines Lebens zu sein schien, still zu liegen und nachzudenken. Es hatte seltsame tiefblaue kleine Äderchen im Gesicht und merkwürdige dunkle Flecken unter den Augen, die aussahen wie Erinnerungszeichen an Caddys Tintenklecksepoche, und alles in allem bot es für Fremde oder Unbeteiligte einen recht kläglichen Anblick.

Aber Caddy war offenbar daran gewöhnt. Ihre Pläne und Gedanken über der kleinen Esther Erziehung und deren künftige Heirat, mit denen sie sich die Stunden ihres Krankenlagers verkürzte und sich zuweilen bis in die ferne Zukunft verstieg, wo sie erst Großmutter sein würde, sprachen so hübsch von ihrer Liebe und Hingebung zu diesem Stolz ihres Lebens, daß ich gerne noch mehr davon erzählen würde, wenn ich nicht fürchten müßte, mich dabei allzu sehr aufzuhalten.

Um also wieder auf den Brief zurückzukommen. Caddy frönte in bezug auf mich einem Aberglauben, der sich von jenem längst vergangnen Abend, wo sie mit ihrem Kopf auf meinem Schoß eingeschlummert war, herleitete und im Lauf der Zeit immer stärker geworden war. Sie bildete sich nämlich ein, daß ihr meine Nähe gut täte. Natürlich war das nur eine Grille des guten Kindes, die zu erwähnen ich mich fast schäme, der ich aber, wo sie jetzt wirklich krank war, jedenfalls Rechnung tragen mußte. Deshalb fuhr ich mit meines Vormunds Einwilligung bereits mit der nächsten Post zu ihr, und sie und Prince empfingen mich mit einer Überschwenglichkeit, die wirklich schon jedes Maß überstieg.

Den Tag darauf besuchte ich sie abermals, und den nächsten Tag wieder.

Es war durchaus keine beschwerliche Reise, und ich brauchte nur früh etwas zeitiger aufzustehen, um meine Rechnungen in Ordnung zu bringen und die Wirtschaftsangelegenheiten vorzubereiten, ehe ich mich auf den Weg machte; aber nach dem dritten Besuch sagte mein Vormund zu mir, als ich abends zurückkehrte:

»Nein, kleines Frauchen, das geht so nicht weiter. Steter Tropfen höhlt den Stein, und wenn Mütterchen Spinnweb immer so hin und her fahren wollte, würde sie das schließlich sehr angreifen. Wir müssen auf einige Zeit nach London gehen und unsre alte Wohnung wieder beziehen.«

»Bitte, nicht meinetwegen, lieber Vormund«, sagte ich. »Es ermüdet mich gar nicht« – das war auch wirklich der Fall – »und ich fühle mich so glücklich, daß man meiner bedarf.«

»Also dann meinetwegen und Adas wegen. – Morgen ist übrigens, wenn ich nicht irre, irgend jemandes Geburtstag.«

»Es kommt mir wahrhaftig auch so vor.« – Ich küßte meinen Liebling, der morgen einundzwanzig Jahre alt wurde.

»Ja, das ist ein wichtiger Tag«, sagte mein Vormund halb scherzend, halb ernst, »und meine schöne Kusine wird allerhand Wege haben, weil sie volljährig wird. Schon deswegen müssen wir nach London. Das wäre also abgemacht. Sag mal, wie geht es übrigens Caddy?«

»Nicht besonders, Vormund. Ich fürchte, es wird immerhin einige Zeit dauern, ehe sie wieder zu Kräften kommt.«

»Was nennst du einige Zeit?« fragte mein Vormund nachdenklich.

»Einige Wochen, fürchte ich.«

»So, so!« Er schien sich dasselbe gedacht zu haben. »Was meinst du über ihren Arzt? Ist er gut und verläßlich, mein Kind?«

Ich sagte, daß man sich in keiner Hinsicht über ihn beklagen könne, aber Prince und ich hätten heute abend davon gesprochen, sein Urteil noch von einem andern bestätigen zu lassen.

»Da wäre doch Woodcourt am besten«, entgegnete mein Vormund rasch.

Ich hatte gar nicht an ihn gedacht und war daher ein wenig überrascht. Einen Augenblick schienen alle Gedanken, die ich mir je über Mr. Woodcourt gemacht hatte, in meiner Erinnerung aufzuwachen und mich zu verwirren.

»Hast du vielleicht etwas gegen ihn einzuwenden, kleines Frauchen?«

»Etwas gegen ihn einzuwenden? Gewiß nicht.«

»Und du glaubst nicht, daß die Kranke dagegen wäre?«

Ich bezweifelte nicht im geringsten, daß sie großes Vertrauen zu ihm haben und er ihr sehr gut gefallen würde. Sie kenne ihn übrigens persönlich und habe ihn oft bei Miß Flite gesehen.

»Ausgezeichnet«, sagte mein Vormund. »Er war heute hier, und ich werde ihn gleich morgen wegen der Sache aufsuchen.«

Während dieses kurzen Gesprächs hielt mich mein Herzenskind fröhlich umschlungen, und mich beschlich die deutliche Empfindung, trotzdem sie kein Wort sagte oder auch nur mit einem Blick darauf anspielte, daß sie daran dachte, wie mir Caddy damals den kleinen Abschiedsstrauß Mr. Woodcourts übergab. Das brachte mich auf den Gedanken, ich müsse ihr und auch Caddy anvertrauen, daß ich Mr. Jarndyces Gattin werden sollte, und diese Enthüllung schon um meiner selbst willen nicht weiter hinausschieben dürfe. Nachdem wir hinaufgegangen waren und ich gewartet hatte, bis es zwölf Uhr schlug, um als erste meinem Liebling zu ihrem Geburtstag Glück zu wünschen und sie an mein Herz zu schließen, vertraute ich ihr an, welch glückliches Leben mir bestimmt sei, und sie fiel mir um den Hals und war so zärtlich zu mir wie vielleicht nie vorher. Ich freute mich so sehr darüber, und das Gefühl, richtig gehandelt zu haben, war mir eine solche Erleichterung, daß ich mich noch zehnmal glücklicher fühlte als zuvor.

Den Tag darauf fuhren wir nach London. Unsre alte Wohnung stand leer, und in einer halben Stunde fühlten wir uns wieder so gemütlich darin, als hätten wir sie nie verlassen. Zur Feier des Geburtstags meines Lieblings hatte mein Vormund Mr. Woodcourt zu Mittag geladen, und es war so gemütlich, wie es bei der großen Lücke, die Richards Abwesenheit bei einem solchen Feste natürlich bedeuten mußte, nur sein konnte.

Von da an war ich acht oder neun Wochen lang meistens bei Caddy, und so kam es, daß ich Ada viel seltner sah als früher. Sie kam zwar oft zu Besuch, aber wir bemühten uns dann, die Kranke zu zerstreuen oder aufzuheitern, und plauderten daher nicht wie sonst in unsrer gewohnten vertraulichen Weise. So oft ich über die Nacht nach Hause ging, waren wir wohl beisammen, aber das war nicht häufig der Fall, denn ich blieb meistens bei Caddy, die oft vor Schmerzen schlaflos war, um sie zu pflegen.

Was für ein gutes Geschöpf Caddy doch war! Sie liebte ihren Gatten und ihr armes kleines Würmchen von einem Kind so zärtlich und mußte sich doch für ihre Häuslichkeit so abrackern! So voller Selbstverleugnung, so ohne die leiseste Klage, so bestrebt, der andern wegen gesund zu werden, und besorgt, jemand beschwerlich zu fallen, machte sie sich immerwährend Vorwürfe, ihrem Gatten jetzt in seinem Unterricht nicht beistehen und die Bequemlichkeiten des alten Mr. Turveydrop nicht unterstützen zu können, daß ich mir gestehen mußte, ich lernte sie erst jetzt von ihrer besten Seite kennen. Und es war so seltsam, daß sie blaß und hilflos Tag für Tag daliegen mußte, wo doch das Tanzen ihr Lebensberuf war und schon frühzeitig jeden Morgen die Fiedel den Schülern im Ballsaal aufspielte und der melancholische kleine Junge den ganzen Nachmittag allein in der Küche Walzer tanzte.

Auf ihren Wunsch übernahm ich die Oberaufsicht über ihr Zimmer, räumte es auf und schob sie samt ihrem Bett in eine helle, luftigere und freundlichere Ecke, und jeden Tag, wenn alles sauber aufgeräumt worden war, legte ich ihr mein kleines Namensschwesterchen in die Arme und setzte mich neben sie, um zu arbeiten, zu plaudern oder ihr vorzulesen. Bei einer solchen Gelegenheit erzählte ich ihr auch von der bevorstehenden Änderung in meinem Schicksal.

Außer Ada bekamen wir noch mancherlei Besuch. In erste Linie natürlich von Prince, der oft in den ihm so kärglich zugemeßnen freien Minuten zwischen den Lehrstunden vorsichtig hereinkam und sich leise hinsetzte, zärtlich um Caddy und das winzige Kind bekümmert. Mochte sich Caddy gut oder schlecht befinden, immer versicherte sie Prince, sie sei fast schon gesund, und ich versäumte natürlich nicht, ihm das zu bestätigen.

Das pflegte ihn immer sehr aufzuheitern. Er nahm dann zuweilen die Violine aus der Tasche und spielte ein paar Noten, um das Baby in Erstaunen zu versetzen, aber es wollte ihm niemals gelingen, denn mein kleines Namensschwesterchen nahm nicht die geringste Notiz davon.

Zuweilen kam auch Mrs. Jellyby. Sie saß dann in ihrer gewohnten zerstreuten Art ruhig da und blickte über ihr Enkelkind hinaus in unendliche Fernen, als wäre ihre Aufmerksamkeit ganz und gar von irgendeinem jungen Borriobulaner an seinem heimischen Strand in Anspruch genommen. So klaräugig, heiter, ruhig und unsauber wie immer pflegte sie dann stets zerstreut zu fragen: »Nun, Caddy, mein Kind, wie geht es dir heute?« Und dann saß sie wieder liebenswürdig lächelnd da, überhörte die Antwort und schien im Geiste die Zahl der Briefe, die sie empfangen oder noch zu beantworten hatte, zu überschlagen oder über die Ertragsfähigkeit der Kaffeebäume in Borriobula-Gha Berechnungen anzustellen. Ein gewisse fröhliche Geringschätzung der Beschränktheit unsres Wirkungskreises, aus der sie kein Hehl machte, lag dabei stets in ihren Mienen.

Auch der alte Mr. Turveydrop kam zuweilen.

Von Morgen bis Abend und von Abend bis Morgen war er ununterbrochen der Mittelpunkt umfassender Vorsichtsmaßregeln. Schrie zum Beispiel das Wickelkind, so erstickte man es fast, damit der Lärm ihn nicht störe. Mußte das Feuer in der Nacht geschürt werden, tat man es heimlich und so geräuschlos wie möglich.

Zum Dank für solche Rücksicht kam er gewöhnlich ein Mal des Tages mit seinem Segen in das Krankenzimmer und legte dabei eine Herablassung, eine Gönnermiene und ein so huldreiches Wesen an den Tag, wenn er das Licht seiner hochschultrigen Anwesenheit leuchten ließ, daß man hätte meinen sollen, er wäre Caddys Wohltäter von ihrer Kindheit an gewesen.

»Liebe Caroline«, pflegte er zu sagen und sich, soweit ihm das sein Schnürleib erlaubte, über sie zu beugen, »sagen Sie mir, daß Sie sich heute viel besser befinden.«

»Oh, viel besser, ich danke Ihnen, Mr. Turveydrop«, gab dann stets Caddy zur Antwort.

»Entzückend! Bezaubernd! Und Sie, liebe Miß Summerson, brechen Sie nicht vor Ermüdung zusammen ?« Er blinzelte mich dabei immer an und warf mir einen Kußfinger zu, aber glücklicherweise war er in seinen Aufmerksamkeiten bei weitem nicht mehr so übertrieben, seit mein Gesicht entstellt war.

»Oh, durchaus nicht, Mr. Turveydrop!«

»Entzückend! Wir müssen unsre liebe Caroline sehr in acht nehmen, Miß Summerson! Wir dürfen es ihr an nichts fehlen lassen, was zu ihrer Genesung beitragen kann. Wir müssen sie kräftig nähren. Meine liebe Caroline«, pflegte er sich dann jedes Mal mit Gönnermiene und unendlicher Großmut an seine Schwiegertochter zu wenden, »lassen Sie es sich nur ja an nichts fehlen, meine Liebe. Alles im Hause, alles hier im Zimmer steht zu Ihrer Verfügung, meine Tochter. Und nehmen Sie nicht die mindeste Rücksicht«, setzte er manchmal in einem Anfall von Edelmut hinzu, »auf meine einfachen Bedürfnisse, wenn Sie zufällig einmal mit den meinigen in Konflikt geraten sollten, liebe Caroline. Ihre gehen selbstverständlich den meinigen stets vor.«

– Der Glorienschein, der sein Haupt umwob, bildete sein schon von altersher – schon von seiner verstorbnen Gattin her – so angestammtes Recht, daß niemand auch nur auf den Gedanken kam, daran zu rütteln. Ich habe sogar mehrere Male gesehen, wie Caddy und Prince durch seine Opferwilligkeit bis zu Tränen gerührt waren. –

Wenn Caddy in solchen Fällen ihren abgemagerten Arm um seinen fetten Hals schlang, remonstrierte er gewöhnlich: »Nein, nein, ich habe gelobt, euch nie zu verlassen. Erfüllet eure Pflicht gegen mich, meine Kinder, und habt mich lieb, weiter verlange ich nichts. Und jetzt, Gott segne euch! Ich gehe in den Park.«

Wie Caddys Augen standen dann auch immer meine voll Tränen, wenn auch aus ganz andern Gründen.

Er schöpfte im Park frische Luft, natürlich nur, um Appetit zu seinem Mittagessen im Hotel zu bekommen.

Hoffentlich tue ich dem alten Mr. Turveydrop kein Unrecht, aber bessere Züge als die hier getreulich berichteten habe ich wirklich niemals an ihm bemerkt. Höchstens vielleicht, daß er zu dem kleinen Peepy eine Neigung faßte und ihn zuweilen in großem Staat spazieren führte. Bei solchen Gelegenheiten schickte er ihn aber stets nach Hause, wenn er zu Tisch ging, und schenkte ihm hie und da einen halben Penny. Aber auch diese guten Seiten Mr. Turveydrops verursachten mancherlei Kosten und Zeitverlust, denn ehe Peepy genügend geschmückt war, um Hand in Hand mit dem Meister des Anstandes spazieren gehen zu können, mußte er natürlich auf Kosten Caddys und ihres Gatten von Kopf bis zu Fuß neu gekleidet werden.

Der letzte in der Reihe der Besucher war Mr. Jellyby. Ich muß sagen, wenn er des Abends kam und Caddy mit leiser Stimme fragte, wie es ihr gehe, und sich dann hinsetzte, den Kopf an die Wand gelehnt, und niemals auch nur den Versuch machte, ein Wort zu sprechen, hatte ich ihn wirklich gern. Wenn er mich herumschäftern oder irgend etwas aufräumen sah, zog er manchmal seinen Rock halb aus, als beabsichtigte er, mir beizuspringen, aber weiter kam es nie. Seine einzige Beschäftigung war, dazusitzen und den versonnenen Säugling fest anzusehen. Und ich hatte beim Anblick dieses Idylls immer die komische Empfindung, daß sie einander verstünden.

Unter unsern Besuchern habe ich Mr. Woodcourt nicht angeführt, da er ja als Arzt selbstverständlich regelmäßig zu Caddy kam. Unter seiner Behandlung besserte sich ihr Zustand bald; aber er war so sanft, geschickt und unermüdlich, daß das kein Wunder war.

Ich sah Mr. Woodcourt damals sehr oft, trotzdem ich häufig während der Stunden, wo er erwartet wurde und ich Caddy in seinen Händen gut aufgehoben wußte, auf einen Sprung nach Hause eilte. Trotzdem trafen wir uns recht häufig. Ich hatte ihm gegenüber mein Gleichgewicht vollständig wiedergefunden, aber es war mir immer noch ein wohltuendes Gefühl, zu denken, daß er meinetwegen bekümmert war. Er war jetzt Assistent bei Mr. Badger und hatte für die Zukunft noch keine bestimmten Pläne gefaßt.

Um die Zeit, als Caddy sich zu erholen begann, fing ich an, eine Veränderung an meinem Liebling zu bemerken. Ich kann nicht sagen, wann das zuerst geschah, und es war auch eigentlich das Zusammenwirken vieler Kleinigkeiten, das mich darauf aufmerksam machte. Es kam mir so vor, als sei Ada nicht mehr so heiter und offen gegen mich wie früher. Daß sie in ihrer Liebe zu mir so zärtlich und treu wie immer war, daran konnte ich keinen Augenblick zweifeln, aber es bedrückte sie ein stiller Kummer, den sie vor mir verbarg und der von einer heimlichen Wunde herrühren mußte.

Das machte mir oft Sorgen, und das Glück meines Lieblings lag mir so am Herzen, daß ich viel darüber nachdenken mußte. Endlich, als ich wirklich fest überzeugt war, daß Ada mir etwas verberge, kam ich auf die Vermutung, sie sei vielleicht meinetwegen unglücklich, und zwar dessentwegen, was ich ihr hinsichtlich meines zukünftigen Schicksals gesagt hatte. Wieso ich daraufkam, weiß ich nicht, aber keinesfalls war eine selbstsüchtige Ansicht von der Sache meinerseits der Grund, denn ich fühlte mich durchaus nicht unglücklich und war im Gegenteil vollständig zufrieden. Dennoch schien es mir glaubhaft, Ada könne innerlich darüber betrübt sein und vielleicht mit Schmerz daran zurückdenken, was einmal gewesen.

Was könnte ich nur tun, überlegte ich mir, um sie von solchen Gedanken abzubringen und sie eines Bessern zu belehren? Wohl kaum etwas Richtigeres, als so fröhlich und geschäftig zu sein wie möglich. Und so gab ich mir denn die größte Mühe in dieser Hinsicht.

Da Caddys Pflege mehr oder weniger mit meinen sonstigen häuslichen Pflichten kollidiert hatte, wenn ich auch stets morgens meinem Vormund das Frühstück bereitet und er hundert Mal lachend gesagt hatte, es müsse wahrscheinlich zwei kleine Frauchen auf der Welt geben, denn immer sei eine an zwei ganz verschiednen Orten, so beschloß ich doch jetzt, alles nachzuholen und doppelt fleißig zu sein, lief im Hause herum, summte alle Melodien, die ich kannte, und arbeitete von früh bis Abend und schwatzte und plauderte den ganzen langen Tag hindurch.

Aber trotz alledem wollte der Schatten zwischen mir und meinem Herzenskind nicht weichen.

»Also, Mütterchen«, bemerkte mein Vormund eines Abends, als wir alle drei beisammen saßen, und machte sein Buch zu, »also Woodcourt hat Caddy Jellyby wieder zum Vollgenuß ihrer Gesundheit verholfen ?«

»Ja«, sagte ich. »Und solche Dankbarkeit erwecken, wie sie sie für ihn empfindet, heißt Reichtümer sammeln, Vormund.«

»Ich wünschte, ich könnte ihn auch in andrer Hinsicht reich machen«, nickte Mr. Jarndyce gedankenvoll. »Wirklich, von ganzem Herzen.«

Ich stimmte ihm bei und sprach es aus.

»Jawohl. Wir würden ihn so reich machen wie einen Juden, wenn wir nur wüßten, wie, nicht wahr, kleines Frauchen?«

Ich arbeitete an meiner Stickerei weiter und lachte und meinte, daß ich das doch nicht so genau wüßte, denn vielleicht würde es ihn verderben, und so mancher würde dann seine Hilfe entbehren müssen. Wie Miß Flite und Caddy und viele andere.

»Du hast recht, Mütterchen. Das habe ich nicht bedacht. Aber ihn so reich zu machen, daß er davon bequem leben könnte, dagegen hättest du doch nichts? Reich genug, um mit Ruhe arbeiten zu können. Reich genug, um sein eignes glückliches Heim und seine eignen Hausgötter haben zu können – und vielleicht auch seine Hausgöttin?«

»Das wäre natürlich etwas andres«, gab ich zu. Darin wären wir gewiß alle einig.

»Ja, ja«, sagte mein Vormund, »wir alle. Ich habe eine hohe Meinung von Woodcourt und schätze ihn sehr. Übrigens habe ich ihn, ohne es ihn merken zu lassen, über seine Zukunftspläne ausgeholt. Es ist schwer, einem unabhängigen Mann, der so berechtigterweise auf sich stolz sein kann wie er, Hilfe anzubieten, und dennoch täte ich es gern, wenn ich nur wüßte, wie. Er scheint so halb und halb wieder zu einer neuen Seereise entschlossen zu sein, und das bedeutet für einen Menschen wie ihn ungefähr so viel, wie alle seine Talente zu begraben.

»Es könnte ihm doch vielleicht eine neue Welt eröffnen«, sagte ich.

»Ja, ja, vielleicht, kleines Frauchen, und ich zweifle, daß er sich von der alten Welt noch besondre Hoffnungen macht. Ich glaube immer, es hat ihn irgendein Schicksalsschlag oder eine besondre Enttäuschung betroffen. Hast du niemals etwas dieser Art von ihm gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Hm. Dann muß ich mich wohl geirrt haben.«

Es trat eine kleine Pause ein, und ich summte, da ich das für das Beste hielt, meinen Liebling aufzuheitern, eine Melodie, die mein Vormund gern hatte, und arbeitete dabei ruhig an meiner Handarbeit weiter.

»Und glaubst du, es wird dazu kommen, daß Mr. Woodcourt abermals auf Reisen gehen wird, Vormund?«

»Ich weiß nicht recht, was ich darüber denken soll, meine Liebe, aber es macht mir den Eindruck, als wolle er in einem andern Lande sein Glück versuchen.«

»Er nimmt unsre allerbesten und herzlichsten Wünsche mit, wohin er auch gehen mag«, sagte ich, »und wenn das auch keine Reichtümer sind, wird es ihn darum doch nicht ärmer machen, Vormund.«

»Nein, sicher nicht, kleines Frauchen.«

Ich saß auf meinem gewohnten Platz neben meinem Vormund, und als ich Ada mir gegenüber anblickte, sah ich, daß ihre Augen voller Tränen standen. Ich fühlte, daß ich bloß gefaßt und heiter zu sein brauchte, um sie zu beruhigen, und da mir wirklich so zumute war, fiel es mir nicht schwer.

So ließ ich denn meinen Liebling sich an meine Schulter lehnen und sagte ihr, sie sei nicht ganz wohl, schlang meinen Arm um ihre Taille und führte sie hinauf.

Wie wenig ahnte ich, was ihr so schwer auf dem Herzen lag.

Als wir in unserm Zimmer waren und sie, wie ich ihr ansah, mit sich kämpfte, mir etwas anzuvertrauen, was ich nicht zu hören erwartete, verredete ich die Gelegenheit und munterte sie nicht auf, mir ihr Herz auszuschütten, nicht ahnend, wie sehr sie dessen bedurfte.

»Ach, meine liebe gute Esther«, sagte sie, »wenn ich mich nur entschließen könnte, mit dir und meinem Vetter John zu sprechen, wenn ihr beisammen seid.«

»Aber warum tust du es denn nicht, meine Liebe?« fragte ich ganz erstaunt. »Ada?«

Sie ließ nur den Kopf sinken und drückte mich fester ans Herz.

»Du darfst nicht vergessen, liebes Kind«, sagte ich lächelnd, »was für ruhige altmodische Leute wir sind und was für eine gesetzte Matrone ich geworden bin. Du darfst nicht vergessen, welch glückliches friedvolles Leben meiner wartet, und an wessen Seite. Du mußt dir immer vor Augen führen, an der Seite welches hochherzigen Menschen, Ada!«

»Ja, immer, Esther.«

»Aber dann ist ja alles in Ordnung, Liebling. Warum kannst du dann nicht mit uns sprechen?«

»Alles in Ordnung, Esther? Ach, wenn ich an alle diese Jahre, an seine väterliche Sorgfalt und Güte und unsre alten freundschaftlichen Beziehungen und an dich denke, was soll ich da tun, was soll ich da tun?«

Ich sah meinen Liebling ein wenig verwundert an, hielt es aber für das Beste, das Gespräch auf allerlei kleine gemeinsame Erinnerungen zu lenken, um sie zu verhindern, mehr zu sagen.

Als sie sich niedergelegt und eingeschlafen war, kehrte ich noch einmal zu meinem Vormund zurück, um ihm gute Nacht zu sagen, ging dann wieder zu ihr und setzte mich eine kleine Weile an ihr Bett.

Sie schlief bereits fest, und wie ich sie ansah, kam sie mir ein wenig verändert vor. Mehr als ein Mal schon hatte mir das in der letzten Zeit so geschienen, aber auch jetzt konnte ich mir nicht darüber klar werden, woran es lag. Irgend etwas in der mir so vertrauten Schönheit ihres Gesichtes war anders geworden. Traurig gedachte ich der Hoffnungen, die einstmals mein Vormund auf sie und Richard gesetzt hatte, und sagte mir, daß sie sich um ihren Geliebten gegrämt haben müsse. Sorgenvoll fragte ich mich, welches Ende diese Liebe wohl noch nehmen werde.

So oft ich während Caddys Krankheit nach Hause gekommen war, immer hatte Ada bei einer Handarbeit gesessen, sie stets weggelegt, wenn ich eintrat, so daß ich nie erfuhr, was es war. Ein Zipfel davon guckte jetzt aus dem halboffnen Schubkasten neben ihrem Bett hervor. Ich zog den Kasten natürlich nicht auf, aber es wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, welcher Art die Arbeit wohl sein möge, denn für sie selbst war sie gewiß nicht bestimmt.

Auch bemerkte ich, als ich meinen Liebling küßte, daß sie eine Hand unter dem Kopfpolster verborgen hielt.

Wie viel selbstsüchtiger muß ich damals gewesen sein, als ich von mir glaubte, und wie ganz und gar von Selbstzufriedenheit ausgefüllt, daß ich wähnen konnte, es läge nur in meiner Hand, Ada zu trösten und ihrem Herzen den Frieden wiederzugeben.

So in Selbsttäuschung befangen, legte ich mich nieder, und als ich am nächsten Tag erwachte, da lag der alte Schatten immer noch zwischen mir und meinem Herzenskind.

51. Kapitel


51. Kapitel

Mir geht plötzlich ein Licht auf

Als Mr. Woodcourt in London ankam, ging er noch am selben Tag, wie er mir später erzählte, zu Mr. Vholes in Symond’s-Inn. Von dem Augenblick an, wo ich ihn bat, Richards Freund zu sein, vergaß er niemals sein Versprechen. Er hatte mir gesagt, daß er den Auftrag als ein ihm heiliges Vertrauensamt übernähme, und war dem keine Minute untreu geworden.

Er fand Mr. Vholes in seiner Kanzlei und setzte ihn von seiner Übereinkunft mit Richard, sich hier nach seiner Adresse zu erkundigen, in Kenntnis.

»Schon richtig, Sir«, sagte Mr. Vholes. »Mr. C. wohnt keine hundert Meilen von hier, Sir. Wollen Sie gefälligst Platz nehmen, Sir.«

Mr. Woodcourt lehnte dankend ab, denn er hatte weiter nichts mit Mr. Vholes zu besprechen.

»Schon richtig, Sir«, sagte Mr. Vholes, abermals durch Nichtnennen der Adresse stillschweigend auf seiner Aufforderung, sein Besuch möge sich doch niedersetzen, beharrend. »Ich glaube, Sir, Sie haben einen gewissen Einfluß auf Mr. C. – Besser gesagt, ich weiß es.«

»Da wissen Sie mehr als ich, Mr. Vholes.«

»Sir«, entgegnete der Advokat mit seiner gewohnten Zurückhaltung in seiner Stimme und seinem Benehmen, »es gehört sozusagen zu meinen Berufspflichten, solche Dinge besser zu wissen. Es ist ein Teil meiner Pflicht als Anwalt, einen Herrn, der mir seine Interessen anvertraut, zu studieren und von Grund auf zu verstehen. Und meine Pflicht als Advokat werde ich nie versäumen, Sir, wenn ich mir einmal darüber klar bin. Es kann vorkommen, wenn ich sie nicht kenne, aber andernfalls sicher nicht, Sir.«

Mr. Woodcourt bemerkte wiederum, daß er lediglich wegen der Adresse gekommen sei.

»Gestatten Sie mir nur noch einen Augenblick, Sir! Mr. C. spielt um einen beträchtlichen Einsatz, und er kann nicht spielen, ohne… Brauche ich zu sagen, ohne was?«

»Ohne Geld, vermutlich?«

»So ist es. Um ganz offen mit Ihnen zu reden – Offenheit und Ehrlichkeit sind meine Grundprinzipien, ob ich jetzt dabei gewinne oder verliere, und gewöhnlich verliere ich dabei –, so ist es: Geld! Über die Chancen Mr. C.s gebe ich keine Meinung ab – keine Meinung. Es könnte sehr unpolitisch von Mr. C. sein, aufzuhören, nachdem er so lang und so hoch gespielt hat. Es könnte ganz das Gegenteil sein. Ich sage nichts. Nein, Sir.« – Mr. Vholes legte mit großem Nachdruck die Hand flach auf seinen Schreibtisch. – »Nichts!«

»Sie scheinen zu vergessen«, unterbrach Mr. Woodcourt, »daß ich Sie nach nichts frage und auch nicht das mindeste Interesse an dem, was Sie mir da erzählen, habe.«

»Verzeihen Sie, Sir«, entgegnete Mr. Vholes, »Sie fügen sich selbst ein Unrecht zu. Jawohl, Sir. Entschuldigen Sie! Sie sollen nicht in meiner Kanzlei, wenn ich Sie daran hindern kann, ungerecht gegen sich selbst sein. Sie haben ein Interesse für alles und jedes, was sich auf Ihren Freund bezieht. Ich kenne die menschliche Natur viel zu gut, Sir, um auch nur einen Augenblick annehmen zu können, daß ein Herr von Ihrem Aussehen nicht an allem, was seinen Freund betrifft, Interesse haben sollte.«

»Mag sein«, gab Mr. Woodcourt zu. »Aber ein ganz besondres Interesse hab ich an seiner Adresse.«

(»Die Nummer, Sir?«) warf Mr. Vholes so in Parenthese hin (»glaube ich schon erwähnt zu haben)… Wenn Mr. C. fortfahren will, um diesen beträchtlichen Einsatz zu spielen, muß er Fundus haben. Wohl verstanden ! Es sind zur Zeit Kapitalien da, ich sage es also nicht deswegen. Ja, es sind Kapitalien da. Aber um weiter zu spielen, muß man sich nach einem größeren Fundus umsehen, wenn Mr. C. nicht verloren geben will, was er schon gewagt hat… Das allein ist zu erwägen. Ihnen dies als dem Freund Mr. C.s offen zu sagen, ergreife ich jetzt die Gelegenheit, Sir. Ohne Fundus werde ich mich immer glücklich schätzen, Mr. C.s Rechte in dem Maß zu vertreten, als die erforderlichen Kosten von dem Gericht aus dem strittigen Vermögen bewilligt werden, aber nicht einen Schritt weiter. Ich kann und darf es nicht, ohne nicht irgend jemandem ein Unrecht zuzufügen. Entweder muß ich meinen drei lieben Töchtern ein Unrecht zufügen oder meinem verehrten Vater, der ganz von mir abhängt – im Tale von Taunton –, oder irgendeiner andern Person. Es ist aber nun mein Grundsatz, nennen Sie es nun Schwäche oder Torheit, niemandem ein Unrecht zuzufügen.«

Mr. Woodcourt erwiderte etwas scharf, es freue ihn, das zu hören.

»Ich wünsche einen guten Namen zu hinterlassen; deshalb nehme ich jede Gelegenheit wahr, einem Freunde Mr. C.s offen den Stand seiner Angelegenheiten zu unterbreiten. Ich sage, Sir, in bezug auf mich: der Arbeiter ist seines Lohnes wert, und wenn ich versprochen habe, mich mit der Schulter gegen das Rad zu stemmen, so tue ich es und beziehe daraus, was ich verdiene. Zu diesem Zwecke lebe ich hier. Aus diesem Grund steht mein Name draußen an der Tür geschrieben.«

»Und Mr. Carstones Adresse, Mr. Vholes?«

»Sir, wie ich schon erwähnt zu haben glaube, wohnt er gleich daneben. Im zweiten Stock finden Sie seine Wohnung. Mr. C. wünscht in der Nähe seines Rechtsbeistandes zu sein, und ich habe nicht nur nichts dagegen, sondern es im Gegenteil gern, wenn man mich kontrolliert.«

Mr. Woodcourt wünschte Mr. Vholes kurz und kühl guten Tag und suchte Richard auf, dessen verändertes Aussehen er sich jetzt nur zu gut erklären konnte.

Er fand ihn in einem ungemütlichen Zimmer, das mit fadenscheinigen und verschossenen Möbeln ausgestattet war, ziemlich so, wie ich ihn vor gar nicht langer Zeit in seiner Stube in der Kaserne gefunden hatte, nur daß er nicht schrieb, sondern mit einem Buch in der Hand dasaß, mit seinen Gedanken und seiner Aufmerksamkeit sichtlich ganz woanders. Da die Türe zufällig offen stand, konnte Mr. Woodcourt ihn eine Weile betrachten, ohne von ihm bemerkt zu werden, und er sagte mir, daß er das angegriffne Aussehen und die Niedergeschlagenheit Richards, wie er so vor sich hinträumte, nie vergessen könne.

»Mein lieber Woodcourt«, rief Richard aus, sprang auf und streckte dem jungen Arzt die Hände entgegen. »Sie erscheinen ja wie ein Geist.«

»Wie ein guter, Richard«, war die Antwort, »der nur wartet, wie es Geister tun, bis man ihn anredet. Wie geht’s auf dieser Erdenwelt?«

– Sie setzten sich nebeneinander nieder. –

»Schlimm und langsam genug, wenigstens was meine Rolle in diesem Leben betrifft.«

»Was ist das für eine Rolle?«

»Eine, die auf der Kanzleigerichtsbühne gespielt wird.«

»Diese Sorte soll nicht besonders vergnüglich sein, habe ich mir sagen lassen«, bemerkte Mr. Woodcourt mit Kopfschütteln.

»Ich mir auch«, sagte Richard trübe.

Im nächsten Augenblick war er wieder heiterer und begann mit seiner natürlichen Offenheit:

»Woodcourt, ich möchte nicht gern von Ihnen mißverstanden werden, selbst wenn ich dadurch in Ihrer Achtung stiege. Sie müssen nämlich wissen, daß ich jetzt schon lange Zeit nicht besonders gut getan habe. Nicht etwa, daß ich beabsichtigt hätte, Schaden anzurichten, aber ich scheine zu nichts anderm fähig gewesen zu sein. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte mich von dem Netz fern gehalten, in dem ich jetzt hänge, aber ich kann es nicht recht glauben, obgleich ich wetten möchte, daß Sie darüber gar bald andre Meinungen zu hören bekommen werden, wenn das nicht schon der Fall gewesen ist. Der langen Rede kurzer Sinn ist: Ich fürchte, es hat mir an einem Ziel gefehlt, aber jetzt habe ich eins – oder es hat mich. Es ist jetzt zu spät, darüber zu streiten. Sie müssen mich eben so nehmen, wie ich bin, und so gut Sie können.«

»Abgemacht«, sagte Mr. Woodcourt. »Tun Sie dasselbe mit mir.«

»Ach, Sie! Sie können Ihren Beruf um seiner selbst willen betreiben und Hand an den Pflug legen, ohne ein einziges Mal zurückzublicken und in jeder Sache auf ein Ziel loszusteuern. Ja, Sie und ich, wir sind eben ganz verschiedne Menschen.«

Sein Ton war kummervoll, und er versank einen Augenblick wieder in seine müde Abspannung.

»Aber alles muß ein Ende haben«, rief er und schüttelte seine niedergedrückte Stimmung ab. »Wir werden sehen! Sie nehmen mich also, wie ich bin?«

»Ja, das will ich.«

Sie schüttelten einander die Hände, lachend, aber in tiefstem Ernst. Für einen von ihnen wenigstens kann ich mich aus meinem innersten Herzen verbürgen.

»Sie kommen wie von Gott gesandt«, sagte Richard, »denn ich habe hier niemanden zu Gesicht bekommen außer Vholes. – Woodcourt, eine Sache möchte ich ein für alle Mal gleich zu Anfang unsres Vertrages zur Sprache bringen. Sie könnten sonst kaum gut von mir denken, wenn ich es unterließe. Sie wissen wahrscheinlich von meinen Beziehungen zu meiner Kusine Ada?«

Mr. Woodcourt antwortete, ich hätte sie ihm angedeutet.

»Ich bitte Sie also, halten Sie mich nicht für einen berechnenden Egoisten. Glauben Sie nicht, daß ich mir bloß meinetwegen über diesen miserablen Kanzleigerichtsprozeß den Kopf zerbreche und halb und halb auch das Herz. Adas Interessen sind mit den meinen verflochten, und sie können nicht voneinander getrennt werden; Vholes arbeitet also für beide. Bedenken Sie das!«

Die Sache schien ihm so am Herzen zu liegen, daß Mr. Woodcourt ihm wiederholt versicherte, er denke das Beste von ihm.

»Sehen Sie, ich kann es nicht über mich bringen«, sagte Richard, mit ein wenig mehr Pathos – wenn er sich dessen auch nicht bewußt war –auf diesem Punkt verweilend, als gerade nötig gewesen wäre, »ich kann es nicht über mich bringen, einem aufrichtigen ehrlichen Menschen wie Ihnen, der mit einem so freundlichen Gesicht hierherkommt, selbstsüchtig und niedrig zu erscheinen. Ich wünsche, daß Ada zu ihrem Recht kommt, Woodcourt, so gut wie ich. Ich wünsche mein Äußerstes zu tun, um ihr dazu zu verhelfen, so gut wie mir selbst; ich setze aufs Spiel, was ich zusammenscharren kann, um sie und mich aus diesem Netz herauszuwickeln. Ich bitte Sie, bedenken Sie das!«

Später, als Mr. Woodcourt über das damals Geschehene nachdachte, war der Eindruck, den die Leidenschaftlichkeit Richards in diesem Punkte auf ihn gemacht hatte, so stark, daß er ganz besonders lang dabei verweilte, als er mir in großen Zügen von seinem ersten Besuch in Symond’s-Inn erzählte. Es machte die schon früher gehegte Besorgnis in mir wieder lebendig, Mr. Vholes könne auch das kleine Vermögen meines Lieblings heraussaugen und Richard habe sich, weil die Sache vielleicht schon ihren Anfang genommen, deswegen so ängstlich rechtfertigen wollen.

Die Zusammenkunft fand um die Zeit statt, wo ich angefangen hatte, Caddy zu pflegen, und ich kehre jetzt zu dem Zeitpunkt wieder zurück, wo sie genesen war und immer noch der Schatten zwischen mir und meinem Liebling schwebte. Ich schlug Ada eines Morgens vor, Richard zu besuchen, und es setzte mich ein wenig in Erstaunen, daß sie zögerte und nicht so freudig bereit war, als ich erwartet hatte.

»Aber Liebste«, sagte ich, »du hast dich doch nicht am Ende während der langen Zeit meiner Abwesenheit mit Richard gezankt?«

»Nein, Esther.«

»Oder keine Nachrichten von ihm bekommen?«

»Nein, nein.«

– Die Tränen in ihren Augen und dabei so viel Liebe in ihrem Gesicht? Ich konnte aus meinem Liebling nicht klug werden. –

»Soll ich vielleicht allein zu Richard gehen?« fragte ich. Nein, Ada wollte mich begleiten. Ob sie jetzt gehen möchte? »Ja, gehen wir.«

– Wahrhaftig, ich konnte aus meinem Liebling nicht klug werden. Tränen in den Augen!? –

Wir waren bald angezogen und gingen aus. Es war trübes Wetter, und mit Unterbrechungen fielen kalte Regenschauer. Es war einer jener farblosen Tage, wo alles finster und traurig aussieht. Die Häuser blickten uns zürnend an, der Ruß fiel auf uns nieder, und die ganze Natur war schlecht aufgelegt und zeigte ein böses Gesicht. Es kam mir vor, als passe mein hübscher Liebling gar nicht in diese düstern Straßen, und mehr Leichenbegängnisse, als ich je früher gesehen, schienen mir über das unheimliche feuchte Pflaster zu ziehen.

Es galt vor allem, die Lage von Symond’s-Inn zu erfragen. Ich stand eben im Begriff, mich in einem Laden danach zu erkundigen, da sagte Ada, sie glaube, es sei in der Nähe von Chancery-Lane.

»Dann können wir nicht mehr fehlgehen, Liebste, wenn wir diese Richtung einschlagen«, sagte ich.

So gingen wir denn nach Chancery-Lane, und wirklich, dort las ich: Symond’s-Inn.

Wir mußten jetzt die Hausnummer suchen. Oder Mr. Vholes‘ Kanzlei, besann ich mich. Denn Mr. Vholes‘ Kanzlei sollte gleich daneben sein. Vielleicht sei Mr. Vholes‘ Kanzlei an der Ecke dort, meinte Ada. Und richtig war sie dort.

Nun kam die Frage, welches Haustor daneben das richtige sei. Ich stimmte für das eine und mein Herzenskind für das andre, und abermals hatte sie recht. So gingen wir denn in den zweiten Stock hinauf, wo wir Richards Namen in großen weißen Buchstaben auf einer grabsteinähnlichen Platte lasen.

Ich wollte klopfen, aber Ada meinte, wir sollten den Türgriff aufklinken und hineingehen. So überraschten wir Richard, an einem Tisch mit bestaubten Aktenbündeln brütend, die mir wie blind gewordne Spiegel, in denen sich das Abbild seiner Seele malte, erschienen. Wo ich hinsah, las ich die unseligen Worte: »Jarndyce kontra Jarndyce«.

Er empfing uns sehr liebreich, und wir setzten uns.

»Wären sie ein wenig früher gekommen, hätten Sie Woodcourt hier gefunden«, sagte er. »Er ist wirklich ein guter Kerl. Er findet Zeit, mich manchmal zu besuchen, wo ein andrer mit nur der Hälfte seiner Arbeit kaum abkommen könnte. Und er ist so munter und frisch, so verständig, so ernst dabei –, kurz, so ganz das Gegenteil von mir, daß die Wohnung ordentlich freundlicher wird, wenn er kommt, und wieder düster, wenn er geht.«

»Gott segne ihn«, dachte ich, »daß er so Wort hält!«

»Er ist nicht so sanguinisch, Ada«, fuhr Richard fort und warf einen trüben Blick auf die Akten, »wie Vholes und ich gewöhnlich sind, aber er ist nur ein Laie und kennt die Geheimnisse nicht. Wir sind in sie eingedrungen und er eben nicht. Da kann man von ihm natürlich nicht erwarten, daß er sich in einem solchen Labyrinth besonders auskennt.«

– Wie sein Blick wieder über die Papiere hinschweifte und er sich mit beiden Händen über die Stirne strich, bemerkte ich, wie hohläugig er aussah und – wie trocken seine Lippen waren; auch hatte er alle Nägel an den Fingern abgenagt. –

»Glauben Sie, daß es sich hier gesund wohnt, Richard?« fragte ich.

»Nun, meine liebe Minerva«, gab Richard mit seinem alten fröhlichen Lachen zur Antwort, »die Umgebung ist hier freilich weder ländlich noch heiter, und wenn es hier ein wenig heller wird, können Sie mit ziemlicher Sicherheit wetten, daß die Sonne im Freien wolkenlos am Himmel steht. Aber vorläufig ist die Lage nicht schlecht. Es ist nicht weit zum Gericht und ganz in der Nähe von Vholes.«

»Vielleicht würde eine Trennung von beiden –«

»– mir guttun? Meinen Sie?« Richard zwang sich zu einem Lachen. »Leicht möglich! Aber das kann nur auf eine Weise geschehen; entweder muß es mit dem Prozeß aus sein, Esther, oder mit den Parteien. Aber wir werden dem Prozeß schon ein Ende machen, meine Liebe.«

– Die letzten Worte sagte er zu Ada, die ihm zunächst saß. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, da sie es von mir weggewendet hatte. –

»Wir machen gute Fortschritte«, fuhr Richard wieder zu mir gewendet fort. »Fragen Sie nur Vholes. Wir lassen die Sache nicht ruhen. Vholes kennt alle ihre Schliche und Abwege, und wir sind ihr überall auf den Fersen. Wir haben die Siebenschläfer schon oft in Erstaunen versetzt und werden das ganze Nest eines Tages schon aufwecken. Denken Sie an meine Worte.«

– Seine Hoffnungsfreudigkeit hatte mich seit langem schon schmerzlicher berührt als seine Niedergeschlagenheit. Sie hatte so gar nichts von wirklichem Hoffen an sich, war so hungrig und ruhelos, daß es mir lange schon ins Herz schnitt, aber der jetzt unauslöschlich auf sein hübsches Gesicht geschriebne Kommentar machte den Eindruck noch viel peinlicher. Ich sage »unauslöschlich«, denn ich fühlte im tiefsten Innersten, die Spuren frühzeitiger Sorgen, Selbstvorwürfe und Täuschungen würden bis zur Stunde seines Todes ihren Stempel auf sein Gesicht gedrückt haben, selbst wenn der unselige Prozeß in dieser Stunde seine glänzendsten Hoffnungen erfüllt hätte.

»Der Anblick unsres lieben kleinen Mütterchens«, sagte Richard, während Ada immer noch still und ruhig dasaß, »ist mir so liebgewohnt, und ihr Gesicht, so voll Teilnahme, dem Gesicht entschwundner Tage so ähnlich –«

»Ach nein, nein.« Ich lächelte und schüttelte den Kopf.

»– so ganz und gar das Gesicht der entschwundnen Tage« – Richard hatte einen Augenblick seinen alten herzlichen Ton wiedergefunden und ergriff meine Hände mit dem brüderlichen Gefühl, das nichts wanken machen konnte – »daß ich mich vor ihr nicht verstellen kann. Ich schwanke ein wenig, es ist ja wahr. Manchmal hoffe ich, liebe Esther, und manchmal – bin ich ganz verzweifelt. Aber nur scheinbar. Ich werde so müde…« Er ließ sanft meine Hand fallen und ging im Zimmer auf und nieder… Dann warf er sich auf das Sofa.

»Ich werde so müde«, wiederholte er trüb. »Es ist eine aufreibende, aufreibende Arbeit.«

Er stützte sich auf seinen Arm, seine Augen suchten den Boden, und er sagte diese Worte in einem so nachdenklichen Ton, daß mein Liebling aufstand, den Hut abband, neben ihm niederkniete, daß ihr goldblondes Haar wie Sonnenlicht auf sein Haupt herniederfiel, ihn mit ihren beiden Armen umschlang und mir ihr Gesicht zuwendete. – Welche Liebe und Hingebung lag in diesem Antlitz! –

»Liebe Esther«, sagte sie sehr ruhig, »ich gehe nicht wieder nach Hause.«

Mir ging plötzlich ein Licht auf.

»Nein, niemals wieder. Ich bleibe bei meinem lieben Gatten. Wir sind jetzt zwei Monate verheiratet. Geh nach Hause ohne mich, meine liebe Esther. Ich werde nie mehr wieder zurückkommen.«

Mit diesen Worten zog sie sein Haupt an ihre Brust und ließ es dort ruhen. Und wenn ich jemals in meinem Leben eine Liebe gesehen habe, die nur der Tod trennen kann, sah ich sie jetzt in ihrem Gesicht.

»Sprich mit Esther, meine liebe Ada«, unterbrach Richard das Schweigen. »Erzähle ihr, wie alles gekommen ist.«

Ich hob sie auf und schloß sie in meine Arme. Keins von uns sprach; ihre Wange ruhte an der meinen, und ich wollte nichts hören.

»Mein Herz«, sagte ich. »Mein Liebling. Mein armes, armes Kind!«

Ich bedauerte sie so sehr. Ich hatte Richard sehr gern, aber es drängte mich innerlich, sie tief zu bemitleiden.

»Esther, kannst du mir verzeihen ? Wird mir Vetter John verzeihen?«

»Liebes Kind, daran auch nur einen Augenblick zu zweifeln, hieße ihm ein schweres Unrecht tun. Und was mich betrifft…«

Was mich betraf, was hatte ich zu verzeihen?

Ich trocknete meinem schluchzenden Liebling die Tränen und setzte mich neben sie auf das Sofa, und Richard saß auf meiner andern Seite. Ganz so wie damals an jenem denkwürdigen Abend, wo sie mich ins Vertrauen gezogen und mir in ihrer jungen Begeisterung von ihrer Liebe geschwärmt hatten, erzählten sie mir, wie es gekommen war.

»Alles, was ich hatte, gehörte doch Richard«, sagte Ada, »aber er wollte es nicht annehmen, und was konnte ich da anderes tun, als seine Frau werden, wo ich ihn so innig liebte?«

»Und Sie waren so vollkommen von guten Werken in Anspruch genommen, Mütterchen«, erklärte Richard, »daß wir uns nicht entschließen konnten, Ihnen damals etwas davon zu sagen. Und überdies hatten wir nicht lange Zeit zur Überlegung. Wir gingen eines Morgens aus und ließen uns trauen.«

»Und als es geschehen war, Esther«, fiel mein Liebling ein, »sann ich beständig darüber nach, wie ich es dir am besten mitteilen sollte. Manchmal glaubte ich, du müßtest es auf der Stelle erfahren, und manchmal wieder, es dürfte nie sein und ich müßte es vor meinem Vetter John verheimlichen, und so schwankte ich unentschlossen hin und her, und es quälte mich sehr.«

– Wie selbstsüchtig mußte ich gewesen sein, daß ich nicht vorher daran gedacht hatte! –

Ich wußte nicht, was ich jetzt dazu sagen sollte. Es tat mir so leid, und doch hatte ich sie beide so lieb und freute mich, daß sie so aneinander hingen; ich bedauerte sie so sehr und empfand es doch wie Stolz, daß sie sich liebten. Noch nie haben in mir so schmerzliche und milde Empfindungen zu gleicher Zeit gekämpft, und ich wußte nicht, welches Gefühl das stärkere war. Aber eins war sicher, ich durfte ihren Lebensweg nicht verfinstern.

Als ich gefaßter geworden war, nahm mein Herzenskind ihren Trauring aus dem Busen, küßte ihn und steckte ihn an den Finger. Ich erinnerte mich an den gestrigen Abend und sagte Richard, sie habe ihn seit ihrer Verheiratung beständig im Schlafe getragen, und als Ada mich errötend fragte, woher ich das wisse, erzählte ich ihr, wie ich gesehen, und ohne zu ahnen, warum, daß sie die Hand unter dem Kissen versteckt gehalten hatte.

Dann fingen sie mir wieder an zu erzählen, wie alles gekommen war, und ich wurde wieder betrübt und erfreut und wieder ganz kindisch und mußte mein Gesicht verbergen, so gut es ging, um ihnen nicht allen Mut zu nehmen.

So verrann die Zeit, bis ich endlich an das Nachhausegehen denken mußte. Da wurde es am allerschlimmsten, und mein Herzenskind verlor alle Fassung. Sie warf sich an meine Brust, gab mir alle erdenklichen zärtlichen Namen und jammerte, was sie denn ohne mich anfangen solle. Richard ging es nicht viel besser, und ich selbst mußte mich zusammennehmen, um mich nicht am wenigsten gefaßt von uns allen dreien zu zeigen. Nur daß ich mir sagte: »Esther, wenn du dich nicht besser benimmst, spreche ich nie ein Wort mehr mit dir«, half mir ein wenig.

»Wirklich, ich erkläre«, sagte ich, »so eine junge Ehefrau ist mir noch nicht vorgekommen. Man sollte denken, daß sie ihren Mann überhaupt nicht lieb hat. Hier, Richard, nehmen Sie um Himmels willen mein Herzenskind!« Aber ich hielt Ada die ganze Zeit über fest an mich gedrückt und hätte, ich weiß nicht wie lange, an ihrer Wange weinen können.

»Ich gebe hiermit diesem lieben jungen Ehepaar kund und zu wissen«, sagte ich endlich, »daß ich nur gehe, um morgen wieder zu kommen, und das so Tag für Tag, bis Symond’s-Inn meinen Anblick satt hat. Deshalb sage ich ihnen auch nicht Lebewohl, Richard. Was haue das für einen Zweck, wo ich so bald wiederkomme.«

Ich hatte ihm meinen Liebling jetzt übergeben und wollte gehen. Aber ich konnte nicht fort, ohne nicht noch einen letzten Blick auf das liebe Gesicht zu werfen, von dem ich mich nicht trennen konnte, ohne daß es mir das Herz zerriß.

So sagte ich denn in erkünstelter Lustigkeit, wenn sie mich nicht aufforderten, wiederzukommen, wüßte ich nicht, ob ich mir »die Freiheit nehmen« dürfe? Mein Liebling blickte auf, lächelte unter Tränen, und ich nahm ihr liebes Gesicht zwischen meine beiden Hände, gab ihm einen letzten Kuß und lachte und lief fort.

Aber als ich die Treppe unten war, wie weinte ich da! Es war mir fast, als hätte ich Ada auf ewig verloren. Ich fühlte mich so einsam und verlassen ohne sie, und es war so unendlich traurig, nach Hause zu gehen, ohne Hoffnung, sie dort zu finden, daß ich mich eine Weile lang gar nicht trösten konnte und in einer dunkeln Ecke schluchzend und weinend auf und ab ging.

Nach und nach faßte ich mich wieder, nahm eine Droschke und fuhr nach Hause.

Mein Vormund war ausgegangen, um sich nach dem armen Jungen, den ich in St. Albans gefunden und der, wie ich hörte, jetzt im Sterben lag, zu erkundigen, und wollte erst nach dem Mittagessen zurückkehren. So war ich also ganz allein, weinte wieder ein wenig, wenn ich auch, wie ich hoffe, mich nicht mehr so gänzlich fassungslos benahm.

Es war nur natürlich, daß ich mich nicht so leicht an den Verlust meines Lieblings gewöhnen konnte, und es war erst drei oder vier Stunden her, daß ich alles erfahren hatte. Aber die ungemütliche Umgebung, in der ich sie verlassen, ging mir nicht aus dem Sinn, und immer noch sah ich den düstern versteinerten Ort vor mir und sehnte mich so sehr, in Adas Nähe zu sein und mich wenigstens einigermaßen um sie zu sorgen, daß ich mich entschloß, abends wieder hinzugehen, wenn auch nur, um zu ihrem Fenster hinaufzusehen.

Es war kindisch, ich gebe es zu, aber es erschien mir damals gar nicht so, und auch heute denke ich nicht anders darüber. Ich zog Charley ins Vertrauen, und wir gingen bei Dunkelwerden miteinander hin. Es war finster, als wir die neue seltsame Wohnung meines Lieblings erreichten, und Licht schimmerte hinter den gelben Vorhängen. Wir gingen vorsichtig ein paar Mal vorbei und wären mit einem Haar Mr. Vholes in die Arme gelaufen, als er gerade aus seiner Kanzlei kam und ebenfalls vor dem Nachhausegehen einen Blick hinaufwarf. Der Anblick seiner hagern schwarzen Gestalt und das einsame trübe Aussehen dieses Winkelwerks bei Nacht paßten gut zu meiner Gemütsverfassung. Ich dachte an die Jugend, die Liebe und Schönheit meines lieben Mädchens, das in diesem grausamen finstern Gebäude jetzt eingeschlossen war.

Es war jetzt einsam und still, und ich glaubte mich ungesehen die Treppe hinaufschleichen zu können. Ich ließ Charley unten warten und ging auf den Fußspitzen hinauf im Schein der düster brennenden Öllaterne. Ich lauschte einen Augenblick und glaubte in der staubigen verfallenen Einsamkeit des alten stillen Hauses das Gemurmel ihrer jungen Stimmen zu hören. Ich drückte einen Kuß für mein Herzenskind auf das grabsteinartige Türschild und ging still wieder hinunter, mit dem Vorsatz, ihnen diesen Besuch an einem der nächsten Tage einzugestehen.

Ich fühlte mich erleichtert. Obgleich niemand als Charley und ich davon wußte, kam es mir doch vor, als habe der Schmerz der Trennung zwischen Ada und mir sich gesänftigt und als seien wir für einen Augenblick wieder beisammen gewesen. Dann ging ich nach Hause, noch nicht ganz gewöhnt an die Veränderung, aber durch den heimlichen Versuch immerhin ein wenig in besserer Stimmung.

Mein Vormund war inzwischen nach Hause gekommen und stand gedankenvoll am Fenster. Als ich eintrat, erhellte sich sein Gesicht, und er ging zu seinem Stuhle. Als ich mich setzte, fiel das Licht auf mein Gesicht.

»Kleines Frauchen«, sagte er, »du hast geweint?«

»Nun ja, Vormund, ich fürchte, ich habe ein wenig geweint«, gestand ich. »Ada war so betrübt und ist so voller Kummer, Vormund.«

Ich legte meinen Arm auf seine Stuhllehne und sah ihm an, daß meine Worte und mein Blick auf ihren leeren Sessel ihm bereits alles verraten hatten.

»Ist sie verheiratet, Esther?«

Ich erzählte ihm alles, und auch, daß ihr erstes Wort die Bitte gewesen sei, er möge ihr verzeihen.

»Sie braucht darum nicht zu bitten«, sagte er. »Gott segne sie und ihren Gatten!«

Aber wie es auch bei mir die erste Regung gewesen war, sie tief zu bemitleiden, so auch jetzt bei ihm.

»Armes, armes Mädchen! Armer Rick! Arme Ada!«

Wir beiden schwiegen lange, dann seufzte er nach einer Weile: »Ja, ja, es wird wieder einsam in Bleakhaus.«

»Aber seine Herrin bleibt, Vormund.« Obgleich es mir widerstrebte, das zu sagen, tat ich es doch wegen des bekümmerten Tones, mit dem er sprach. »Sie wird ihr möglichstes tun, es glücklich zu machen.«

»Es wird ihr gelingen, Esther!«

Er sah mich mit seinem alten klaren väterlichen Blick an, legte in seiner freundlichen Weise seine Hand auf die meinige und sagte wieder: »Es wird ihr gelingen, mein Kind. Dennoch wird Bleakhaus wieder einsam sein, kleines Frauchen.«

Es tat mir innerlich leid, daß wir weiter nichts darüber sprachen. Ich fühlte mich fast enttäuscht und fürchtete schon, ich sei seit dem Vorfall mit dem Brief vielleicht doch nicht immer so gewesen, wie ich hätte sein sollen.