53. Kapitel


53. Kapitel

Die Spur

Mr. Bucket und sein dicker Zeigefinger halten unter den gegenwärtigen Umständen sehr häufig Beratung miteinander. Wenn Mr. Bucket eine Sache von so großer Wichtigkeit in Händen hat, so scheint sich sein dicker Zeigefinger zur Würde eines Daimonions zu erheben. Ans Ohr gehalten, flüstert er ihm Ratschläge zu. Sein Herr hält ihn an seine Lippen, und er befiehlt ihm Schweigen; reibt seine Nase damit, und ihre Witterung wird schärfer; droht dem Schuldigen mit ihm, bezaubert ihn und stürzt ihn ins Verderben. Die Auguren der Geheimpolizei prophezeien stets, wenn sie Mr. Bucket mit seinem Finger Beratung pflegen sehen, daß man in kurzem von einer schrecklichen Vergeltung hören werde.

Ein sanfter sinniger Beobachter der menschlichen Natur, im großen ganzen ein wohlwollender Philosoph, dem es fern liegt, streng über die Torheiten der Menschen zu urteilen, läßt sich Mr. Bucket in einer Anzahl von Häusern blicken und schlendert in einer Menge von Straßen herum, anscheinend gelangweilt und ohne ein besonderes Ziel im Auge zu haben. Er ist in der freundlichsten Stimmung gegen seine Mitmenschen und pflegt mit den meisten von ihnen einen Schoppen zu trinken. Er ist freigebig mit Geld, leutselig in seinen Manieren, unschuldig in seiner Haltung. Aber durch den Frieden seines Lebens zieht sich eine verborgne Zeigefinger-Unterströmung.

Zeit und Raum können Mr. Bucket nichts anhaben. Wie der Mensch im allgemeinen, so kann er von heute auf morgen verschwunden sein. Aber darin ist er dem Menschen sehr unähnlich, daß er am nächsten Tag wieder aufzutauchen imstande ist. Heute abend wirft er im Vorbeigehen einen Blick auf die Fackelauslöscher vor der Tür von Sir Leicester Dedlocks Haus in der Stadt, und morgen früh sieht man ihn auf den Bleidächern von Chesney Wold umherwandern, wo früher der alte Mann herumging, dessen Geist jetzt mit einem Sühnopfer von hundert Guineen zur Ruhe gebracht werden soll. Schubladenpulte, Taschen, kurz, alles, was Mr. Tulkinghorn gehörte, untersucht Mr. Bucket. Ein paar Stunden später sind dann immer er und der Römer allein beisammen und vergleichen, was ihre Zeigefinger wissen.

Wahrscheinlich vertragen sich diese Beschäftigungen nicht mit häuslichen Freuden, jedenfalls ist es sicher, daß Mr. Bucket gegenwärtig nie nach Hause geht. Obgleich er im allgemeinen das Beisammensein mit Mrs. Bucket sehr hoch schätzt – die Dame erfreut sich eines gewissen angebornen Detektivgenies, das bei weiterer Ausbildung und praktischer Übung Großes hätte leisten können, leider aber auf der Stufe eines geschickten Dilettantismus stehen geblieben ist –, entsagt er doch gegenwärtig ihren zärtlichen Tröstungen. Mrs. Bucket ist daher, wenn sie nicht ganz auf Gesellschaft und Unterhaltung verzichten will, auf ihre Mieterin angewiesen, glücklicherweise eine liebenswürdige Dame, an der sie großes Interesse nimmt.

Eine große Menschenmenge versammelt sich in Lincoln’s-Inn-Fields am Tage des Leichenbegängnisses. Sir Leicester Dedlock allerdings wohnt der Feierlichkeit persönlich bei; aber streng genommen sind außer ihm nur noch drei andre menschliche Leidtragende da, nämlich Lord Doodle, William Buffy und als Zugabe der hinfällige Vetter; aber die Zahl der leeren untröstlichen Equipagen ist unendlich. Der Hochadel stellt mehr vierrädrige Beileidsbezeugungen bei, als jemals in dieser Gegend der Stadt gesehen worden sind. Die Versammlung von Wappen auf Kutschenschlägen ist so groß, daß man fast auf die Vermutung kommen könnte, das Heroldsamt habe Vater und Mutter in einer Nacht verloren. Der Herzog von Woodle schickt einen Trauerprachtbau mit silbernen Beschlägen, Patentachsen und den allerneuesten Verbesserungen, nebst drei Waisenknaben, jeder sechs Fuß hoch, die sich als »letzter Gruß« hinten anklammern. Alle Staatskutscher in London stecken bis über die Ohren in Trauer, und wenn der tote alte Mann mit dem rostigen Anzug nicht bereits hoch über Rosseprunk erhaben ist, so muß er sich an diesem Tag von Herzen freuen.

Ganz still, mitten unter den Leichenbesorgern und den Equipagen und den Waden so vieler gramumflorter Beine, sitzt Mr. Bucket verborgen in einer der untröstlichen Kutschen und überschaut durch die Vorhänge in aller Muße die versammelte Menge. Er hat ein scharfes Auge für das Gewimmel – und für was sonst nicht noch alles –, und wie er umherblickt, bald aus dem linken, bald aus dem rechten Wagenfenster, bald hinauf zu den Fenstern der Häuser und über die Köpfe der Leute hinweg, entgeht ihm nichts.

»Aha, da sind Sie ja, werte Ehehälfte«, sagt Mr. Bucket zu sich selbst und meint damit Mrs. Bucket, die durch seine hohe Verwendung einen Platz auf den Stufen des Trauerhauses bekommen hat. »Da bist du ja. Und recht hübsch siehst du aus, Mrs. Bucket.«

Der Zug hat sich noch nicht in Bewegung gesetzt und man wartet, bis die Leiche herausgebracht wird. Mr. Bucket, in dem vordersten mit Wappen geschmückten Wagen, hält mit seinen beiden dicken Zeigefingern die Vorhänge ein Haarbreit auseinander, um hindurch zu spähen.

Es spricht wirklich sehr für seine Zärtlichkeit als Gatte, daß er sich immer noch mit Mrs. Bucket beschäftigt. »Also da sind Sie ja, werte Ehehälfte«, wiederholt er halblaut. »Und unsre Mieterin auch. Ich sehe Sie ganz gut, Mrs. Bucket, und hoffe, wir sind wohlauf.«

Mr. Bucket spricht kein Wort weiter, sondern sitzt nur mit Augen, denen nichts entgeht, wartend da, bis das eingesargte Depositorium der adligen Geheimnisse heruntergetragen wird.

Wo sind sie jetzt alle, diese Geheimnisse? Bewahrt sie Mr. Tulkinghorn immer noch? Begleiten sie ihn vielleicht auch auf dieser unvorhergesehnen Reise?

Der Zug setzt sich in Bewegung, und Mr. Buckets Gesichtskreis bekommt Abwechslung. Er macht sich’s für eine längere Spazierfahrt bequem und besichtigt die innere Ausstattung der Kutsche, für den Fall ihm einmal eine solche Kenntnis von Nutzen sein könnte.

Kontrast genug zwischen Mr. Tulkinghorn in seiner dunkeln Kutsche und Mr. Bucket in der seinigen. Zwischen der kleinen Wunde, die den einen in ewigen Schlaf versetzt hat, der jetzt so dumpf über das Straßenpflaster rumpelt, und der schmalen Blutspur, die den andern in Wachsamkeit erhält und sich dennoch auch nicht in einem Haar seines Hauptes verrät! Aber eins ist beiden gemeinsam, daß sich keiner von ihnen stören läßt.

Mr. Bucket macht die Prozession mit und schlüpft aus dem Wagen, als die Gelegenheit gekommen ist, die er sich ausersehen hat. Er macht sich auf nach Sir Leicesters Wohnung, wo er zurzeit ganz zu Hause ist, nach Belieben zu allen Stunden kommt und geht, stets willkommen ist und mit Aufmerksamkeit behandelt wird, den ganzen Haushalt kennt und, mit einer Atmosphäre von Geheimnis umgeben, umherwandelt.

Er braucht weder zu klopfen noch zu klingeln. Er hat sich einen Schlüssel geben lassen und kann nach Belieben eintreten. Als er durch die Vorhalle geht, benachrichtigt ihn der Merkur: »Die Post hat wieder einen Brief für Sie gebracht, Mr. Bucket«, und übergibt ihm das Schreiben.

»Wieder einen, so?« sagt Mr. Bucket.

Sollte der Merkur zufällig von Neugierde hinsichtlich Mr. Buckets Briefen gequält werden, so ist der Detektiv der letzte, der sie befriedigen würde. Er blickt in das Gesicht des Mannes wie in eine Aussicht in weiter Ferne, die er sich in aller Muße betrachtet.

»Haben Sie vielleicht eine Tabaksdose bei sich?« fragt Mr. Bucket.

Unglücklicherweise ist der Merkur kein Schnupfer.

»Könnten Sie mir vielleicht irgendwoher eine Prise verschaffen. Ja? Danke schön. Es ist mir gleich, was es für Tabak ist. Ich bin nicht wählerisch. Danke schön.«

Nachdem er mit Muße aus einer unten im Portierstübchen entliehenen Dose eine Prise genommen und sie mit großer Wichtigkeit erst mit einem Nasenloch und dann mit dem andern geprüft hat, erklärt er die Sorte für die richtige und geht mit dem Brief in der Hand hinauf.

Obgleich nun Mr. Bucket die Treppe hinauf nach der kleinen Bibliothek, die an die größere anstößt, mit der Miene eines Mannes geht, der täglich Dutzende Briefe bekommt, ist dennoch ein lebhafter Briefwechsel durchaus nichts Gewöhnliches bei ihm. Er ist kein Mann der Feder und führt sie etwa wie den Amtsstab, den er beständig bei sich trägt, und es ist nicht seine Gewohnheit, Leute aufzufordern, mit ihm Briefe zu wechseln, da es eine zu kunstlose und unmittelbare Art ist, delikate Geschäfte zu erledigen. Außerdem hat er zu oft erlebt, wie häufig kompromittierende Briefe zur Entdeckung führten, und hat daher alle Veranlassung, zu bedenken, wie wenig schlau es gewesen, sie zu schreiben. Aus allen diesen Gründen hat er sehr wenig mit Briefen, weder als Absender noch als Empfänger, zu tun, und um so auffallender ist es, daß er innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden genau ein halbes Dutzend erhielt.

»Und dieser hier«, sagt Mr. Bucket und breitet den eben empfangnen auf dem Tische aus, »enthält dieselben zwei Worte.«

Was für zwei Worte?

Er sperrt die Tür ab, öffnet seine schwarze Brieftasche, die schon für so viele verhängnisvoll geworden ist, legt einen andern Brief daneben und liest in beiden die mit festen Zügen geschriebnen Worte:

»Lady Dedlock.«

»Ja, ja«, sagt Mr. Bucket., »Aber ich hätte das Geld auch ohne diesen anonymen Wink verdienen können.«

Nachdem er die Briefe wieder eingesteckt hat, schließt er die Tür gerade zur rechten Zeit auf, um sein Mittagessen hereinzulassen, das auf einem gedeckten Servierbrett nebst einer Karaffe Sherry gebracht wird.

Mr. Bucket erwähnt häufig im Kreise vertrauter Freunde, ein hohler Zahn voll schönem braunem altem ostindischem Sherry sei ihm das Liebste, was man ihm anbieten könne. Daher füllt und leert er jetzt sein Glas mit schmatzenden Lippen und schlürft seinen Wein. Aber plötzlich fällt ihm etwas ein.

Er öffnet vorsichtig die in das anstoßende Zimmer führende Tür und späht hinein. Die Bibliothek ist leer, und die Glut im Kamin sinkt zusammen. Nach einem raschen Blick durch das ganze Zimmer fällt sein Auge auf einen Tisch, wo man Briefe hinzulegen pflegt, wenn sie ankommen. Die für Sir Leicester angekommene Post liegt jetzt dort. Mr. Bucket tritt näher und liest die Aufschriften. »Nein«, sagt er, »von dieser Hand ist keiner darunter. Man hat also bloß an mich geschrieben. Ich kann es morgen Sir Leicester Dedlock, Baronet, mitteilen.«

Darauf kehrt er wieder zu seinem Essen zurück, verzehrt es mit gutem Appetit und wird nach einem kurzen Schläfchen in den Salon befohlen.

Sir Leicester hat ihn dort die letzten Abende wiederholt empfangen, um zu erfahren, zu welchem Resultat die Nachforschungen bisher geführt haben. Der hinfällige Vetter, von dem Leichenbegängnis stark mitgenommen, und Volumnia sind anwesend.

Mr. Bucket macht jeder der drei Personen eine besondere Verbeugung: Sir Leicester eine huldigungsvolle, Volumnia eine galante und dem ausgemergelten Vetter eine wissende, die ungefähr soviel sagt wie: Sie sind ein etwas anrüchiges Gigerl, werter Herr, und wir kennen uns.

Nachdem er diese kleinen Proben seines Taktgefühls gewissenhaft verteilt hat, reibt er sich die Hände.

»Können Sie mir bereits etwas mitteilen, Inspektor?« fragt Sir Leicester. »Wünschen Sie vielleicht mit mir unter vier Augen zu sprechen?«

»Nein –, heute abend nicht, Sir Leicester Dedlock, Baronet.«

»Sie wissen, meine Zeit steht Ihnen ganz zur Verfügung, wenn es gilt, die Übertretungen des Gesetzes zu ahnden, Inspektor.«

Mr. Bucket hustet und blickt die in Schminke und Halsband prangende Volumnia an, als wolle er ehrerbietig sagen: Ich versichere Ihnen, Sie sind ein entzückendes Geschöpf. Ich habe Hunderte gesehen, die in Ihrem Alter sich zehnmal schlimmer ausnahmen. – Ehrenwort!

Die schöne Volumnia, sich der Wirkung ihrer Reize nicht so ganz unbewußt, hält im Schreiben eines Stoßes dreieckiger Briefchen inne und rückt versonnen das Perlenhalsband zurecht. Mr. Bucket überschlägt im Geiste den Wert des Schmuckes und hält es nicht für ausgeschlossen, daß Volumnia Verse schreibe.

»Wenn ich Sie nicht schon auf das nachdrücklichste beschworen haben sollte, Inspektor«, fährt Sir Leicester majestätisch fort, »all Ihre Geschicklichkeit zur Entdeckung dieser schrecklichen Tat aufzubieten, so möchte ich eine solche Unterlassungssünde jetzt wieder gut machen. Sie dürfen auf Geld keine Rücksicht nehmen, hören Sie? Sie können sich bei Verfolgung der Sache, die Sie in die Hand genommen haben, keine Kosten machen, mit deren Bezahlung ich nur einen Augenblick zögern würde.«

Mr. Bucket verbeugt sich tief, solcher Freigebigkeit seine Anerkennung zu zollen.

»Ich habe mich noch immer nicht«, fährt Sir Leicester mit edler Wärme fort, »seit dieser teuflischen Tat erholen können; wie sich leicht denken läßt. Es wird mir auch fürder nicht so leicht fallen, aber heute abend, nachdem ich die schwere Pflicht vollzogen, einen treuen, eifrigen und ergebenen Diener bestattet zu haben, bin ich geradezu von Entrüstung erfüllt.«

Sir Leicesters Stimme zittert, und sein graues Haar sträubt sich. Tränen treten ihm in die Augen, und die beste Saite seines Wesens vibriert.

»Ich erkläre«, sagt er, »ich erkläre feierlich, daß, solange das Verbrechen nicht entdeckt und der Täter den Händen der Gerechtigkeit überliefert ist, ich fast so darunter leide, als ob ein Schandfleck auf meinem Namen ruhte. Ein Mann, der einen so großen Teil seines Lebens mir gewidmet hat, und zwar bis zum letzten Tage, der beständig an meiner Tafel gesessen und unter meinem Dach geschlafen hat, geht von meinem Haus nach dem seinigen und wird eine Stunde darauf erschlagen. Wie kann ich wissen, ob man ihn nicht von meinem Hause aus verfolgte, vor meinem Hause ihm auflauerte, ja, vielleicht zu der Tat dadurch angeregt wurde, weil er mit meinem Haus in Verbindung stand, und dadurch auf den Gedanken geriet, er sei vermögender und einflußreicher, als sein zurückgezognes Leben mutmaßen ließ? Wenn ich nicht alle Mittel, meinen ganzen Einfluß und meine Stellung aufböte, um sämtliche Mitschuldigen an einem solchen Verbrechen der verdienten Strafe zu überliefern, ließe ich es an Hochachtung dem Gedächtnis des Mannes gegenüber und der Treue, die ich dem schulde, der immer treu zu mir gehalten hat, fehlen.«

Während er dies mit großem Ernst und tiefer Bewegung beteuert und dabei mit der Miene eines Redners vor einer Versammlung um sich blickt, sieht ihn Mr. Bucket ernst und beobachtend an, mit einem Ausdruck, dem, wenn der Gedanke nicht gar so kühn wäre, eine Spur von Mitleid beigemischt sein könnte.

»Die heutige Begräbnisfeierlichkeit«, fährt Sir Leicester fort, »ein glänzendes Zeichen der Hochachtung, die die Blüte des Landes für meinen verstorbnen Freund fühlt« – er legt auf das Wort »Freund« einen besonderen Nachdruck, denn der Tod hebt bekanntlich alle Unterschiede auf – »hat, sage ich, die seelische Erschütterung, die sich meiner bei diesem schrecklichen und unerhörten Verbrechen bemächtigte, noch vertieft. Selbst meinen Bruder würde ich nicht schonen, wenn er die Tat begangen hätte.«

Mr. Bucket macht wiederum ein sehr ernstes Gesicht.

Volumnia äußert über den Verstorbenen, er sei der zuverlässigste und liebste Mensch gewesen.

»Sie müssen seinen Verlust schwer empfinden, Miß«, tröstet Mr. Bucket. »Sicherlich. Er ist ganz ein Mann gewesen, dessen Verlust man schwer fühlt. Wahrhaftig, ja.«

Volumnia verrät Mr. Bucket, ihr gefühlvolles Herz sei fest entschlossen, sich von dem Stoß, solange es schlage, nie wieder zu erholen, und daß ihre Nerven unwiderbringlich zerrüttet seien und sie selbst keine Aussicht mehr habe, je wieder lächeln zu können. Dabei faltet sie ein dreieckiges Briefchen an den alten gefürchteten General in Bath zusammen, in dem sie ihren traurigen Gemütszustand geschildert hat.

»So etwas muß natürlich einer zartbesaiteten Dame einen Stoß geben«, sagt Mr. Bucket voll Mitgefühl. »Aber man erholt sich schon wieder.«

Vor allem wünscht Volumnia zu wissen, was weiter geschehen wird. Ob man nicht schon endlich diesen schrecklichen Soldaten verurteile, ob er Mitschuldige habe, oder wie sie es vor Gericht nennen.

»Ja, sehen Sie, Miß«, erklärt Mr. Bucket und fängt an, seinen Zeigefinger ausdrucksvoll zu bewegen, und seine natürliche Galanterie ist so groß, daß er beinahe gesagt hätte: Meine Liebe. »Es ist nicht so leicht, diese Fragen, wie die Sache gegenwärtig steht, zu beantworten. – Ich habe mich mit dieser Sache, Sir Leicester Dedlock« – Mr. Bucket zieht den Baronet als Hauptperson in das Gespräch – »zu allen Stunden des Tages ununterbrochen und eingehend beschäftigt; ohne ein paar Gläser Sherry hätte ich kaum meinen Geist in einer so beständigen Spannung erhalten können. Ich könnte Ihre Fragen beantworten, Miß, aber die Pflicht verbietet es mir. Sir Leicester Dedlock, Baronet, wird sehr bald alles erfahren, was ich bis jetzt herausgebracht habe. Und ich will hoffen«, – Mr. Bucket macht wieder ein ernstes Gesicht – »daß es ihn befriedigen wird.«

Der hinfällig aussehende Vetter hofft nur, daß – äh – Schweinehund hinjerichtet – äh –, Exempel statuiert, jlaubt, heutzutage mehr alljemeines Interesse. – Mann an Galgen bringen, als jemand Stelle verschaffen mit zehntausend jährlich Jehalt. Ist überzeugt – Beispiels wegen –, viel besser, falschen Kerl hängen, als überhaupt niemanden.

»Sie kennen das Leben, Sir«, sagt Mr. Bucket mit einem gewissen vertraulichen Zwinkern des Auges und einem Krümmen seines Zeigefingers, »und Sie können bestätigen, was ich soeben dieser Dame gesagt habe. Ihnen brauche ich nicht erst zu verraten, daß Nachrichten, die ich bekommen habe, mich dazu veranlaßt haben. Sie verstehen, was man dem Verständnis einer Dame nicht zumuten kann. Besonders einer Dame in Ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung, Miß«, sagt Mr. Bucket und wird blutrot, denn bei einem Haar wäre ihm zum zweiten mal die Anrede »Meine Liebe« entschlüpft.

»Der Inspektor tut seine Pflicht und ist vollkommen im Recht, Volumnia«, betont Sir Leicester.

»Sehr erfreut, mein Vorgehen von Ihnen gebilligt zu sehen, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, murmelt Mr. Bucket.

»Tatsächlich, Volumnia«, fährt Sir Leicester fort, »gibt man kein gutes Beispiel, wenn man dem Inspektor solche Fragen vorlegt, wie Sie sie soeben gestellt haben. Er muß am besten wissen, was er beantworten kann, und es schickt sich nicht für uns, die wir die Gesetze mitmachen helfen, denen, die sie in Anwendung bringen, hindernd in den Weg zu treten. Oder«, sagt Sir Leicester etwas streng, denn Volumnia wollte ihn unterbrechen, noch ehe er seinen Satz abgerundet hatte, »oder denen ihre Pflicht schwer zu machen, die die rächenden Organe unsrer Gesetzgebung repräsentieren.«

Volumnia rechtfertigt sich in aller Demut, daß sie nicht nur als Entschuldigung den Hinweis auf die Neugierde, die eine Eigenschaft der leichtsinnigen Jugend im allgemeinen und die ihres Geschlechtes im besondern bilde, für sich habe, sondern auch fast von Sinnen sei vor Schmerz und Teilnahme für den lieben reizenden Menschen, dessen Verlust sie alle so sehr beklagen.

»Sehr gut, Volumnia«, entgegnet Sir Leicester, »um so mehr können Sie nicht diskret genug sein.«

Mr. Bucket benützt die eingetretne Pause, um sich wieder hören zu lassen.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, eines kann ich jedenfalls der Dame mit Ihrer Erlaubnis, und ganz im Vertrauen, verraten, nämlich, daß ich die Angelegenheit bereits für ziemlich abgeschlossen halte. Es ist ein schöner Fall – ein schöner Fall –, und das Wenige, was noch zu seiner Vervollständigung fehlt, hoffe ich in ein paar Stunden beisammen zu haben.«

»Es freut mich sehr, das zu hören«, sagt Sir Leicester. »Es macht Ihnen sehr viel Ehre.«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich hoffe, die Sache wird nicht nur mir Ehre machen, sondern auch allen Teilen Befriedigung gewähren. Wenn ich sage, es ist ein schöner Fall, Miß«, fährt Mr. Bucket fort und wirft einen ernsten Seitenblick auf Sir Leicester, »müssen Sie im Auge behalten, daß ich ihn von meinem Standpunkt aus betrachte. Von andern Gesichtspunkten aus gesehen, ziehen solche Fälle immer mehr oder weniger Unannehmlichkeiten nach sich. Oft kommen sehr sonderbare Familienangelegenheiten zu unsrer Kenntnis, Miß. Ja, wahrhaftig Dinge, die Sie geradezu für unmöglich halten würden.«

Volumnia glaubt das gern und sagt es mit ihrem naiven halblauten Schrei.

»Ja, und sogar in feinen Familien, in vornehmen Familien, in sehr hohen Familien« – Mr. Bucket sieht abermals Sir Leicester ernst von der Seite an. »Ich habe die Ehre gehabt, schon früher in vornehmen Familien zu Rate gezogen zu werden, und Sie haben keinen Begriff – ich gehe soweit zu sagen, daß selbst Sie keinen Begriff haben, Sir« – dies sagt er zu dem hinfällig aussehenden Vetter – »was da für Geschichten vorkommen.«

Der Vetter, der sich, halbtot vor Langweile, in den Sofakissen gerekelt hat, gähnt: »Woh ö – i« – was »wohl möglich« heißen soll.

Sir Leicester hält es für an der Zeit, den Inspektor zu entlassen, sagt majestätisch: »Sehr gut, ich danke Ihnen«, und gibt mit einer ausdrucksvollen Handbewegung zu verstehen, daß das Gespräch als beendet anzusehen ist und daß vornehme Familien, wenn sie in schlechte Gewohnheiten verfallen, sich eben die Folgen selbst zuzuschreiben haben.

»Vergessen Sie nicht, Inspektor«, setzt er herablassend zu, »daß ich zu jeder Zeit zu Ihrer Verfügung stehe.«

Wieder sehr ernst, erkundigt sich Mr. Bucket, ob es vielleicht morgen vormittag angenehm wäre, falls die Sache bis dahin soweit gediehen sein sollte.

Sir Leicester gibt zur Antwort: »Jede Stunde ist mir recht.«

Mr. Bucket macht seine drei Verbeugungen und will sich entfernen, da fällt ihm ein, daß er noch etwas vergessen hat.

»Dürfte ich beiläufig fragen«, sagt er, geräuschlos und vorsichtig umkehrend, »wer die Bekanntmachung wegen der ausgesetzten Belohnung an der Treppe angeschlagen hat.«

»Ich selbst ließ sie dort anschlagen«, entgegnet Sir Leicester.

»Würde ich mir eine Freiheit herausnehmen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, wenn ich Sie fragte, warum?«

»Durchaus nicht. – Ich wählte die Treppe deswegen, weil diesen Teil des Hauses jedermann betritt. Ich glaubte, es könnte gar nicht aufmerksam genug darauf gemacht werden. Ich wünschte meinen Leuten die Größe des Verbrechens, meinen festen Entschluß, es zu bestrafen, und die Unmöglichkeit, der Strafe zu entgehen, tief einzuprägen. Aber wenn Sie, Inspektor, bei Ihrer größeren Erfahrung in solchen Sachen etwas dagegen einzuwenden haben…«

Mr. Bucket hat jetzt nichts dagegen einzuwenden; da die Bekanntmachung einmal angeschlagen ist, sei es besser, sie nicht zu entfernen. Er wiederholt seine drei Verbeugungen und entfernt sich. Volumnia läßt wieder ihren leisen Schrei hören und leitet damit die Bemerkung ein, daß die Seele dieses entzückend furchtbaren Menschen die reinste Blaubartkammer sei.

Mit seinem Hang zur Geselligkeit und seiner Gewandtheit, mit allen Menschenklassen zu verkehren, steht Mr. Bucket gleich darauf vor dem Kaminfeuer in der Vorhalle – so hell und warm in der frühen Winterabendstunde – und bewundert den Merkur.

»Wahrhaftig, ich glaube, Sie sind sechs Fuß zwei Zoll?«

»Drei«, verbessert der Merkur.

»Wirklich so groß? Aber freilich, ja, Sie sind breit im Verhältnis, und man sieht es Ihnen nicht an. Sie sind keiner von den Spindelbeinen. Haben Sie nie Modell gestanden?« Mr. Bucket sieht ihn mit auf die Seite geneigtem Kopf und dem Blick eines Künstlers an.

Der Merkur hat nie Modell gestanden.

»Dann sollten Sie’s tun«, sagt Mr. Bucket. »Ein Freund von mir, von dem Sie noch eines schönen Tages hören werden, daß er Bildhauer der königlichen Akademie geworden ist, würde etwas springen lassen, wenn er Sie als Modell für eine Marmorstatue bekommen könnte. Mylady ist nicht zu Hause, nicht wahr?«

»Zum Diner ausgefahren.«

»Fährt wohl ziemlich jeden Tag aus, nicht wahr?«

»Ja.«

»Nicht zu verwundern«, meint Mr. Bucket. »Eine so vornehme Frau wie sie, so schön, so anmutig und elegant, ist wie eine frische Zitrone auf einem Speisetisch und eine Zierde überall, wo sie hinkommt. War Ihr Vater auch in einer Stellung wie Sie?«

Die Antwort fällt verneinend aus.

»Aber meiner«, sagt Mr. Bucket. »Mein Vater war erst Page, dann Bedienter, dann Kellermeister, dann Steward, dann Gastwirt. War zu Lebzeiten allgemein geachtet und starb tief betrauert. Sagte mit seinem letzten Atemzug, er betrachte seine Bedientenzeit als den ehrenvollsten Teil seiner Laufbahn, und so war es auch. Ich habe einen Bruder, der Bedienter ist, und einen Schwager. Ist Mylady gut mit den Leuten?«

Der Merkur entgegnet, soweit man das von ihr erwarten könne.

»Aha«, sagt Mr. Bucket, »ein bißchen verwöhnt? Ein bißchen launenhaft? Mein Gott, wie kann es anders sein, wenn man so schön ist. Und je launenhafter sie ist, desto lieber hat man sie.« Der Merkur, die Hände in den Taschen seiner schönen pfirsichblütnen Kniehose, streckt seine symmetrischen seidenüberzognen Beine mit der Miene eines Stutzers von sich und kann es nicht leugnen. Draußen kommt ein Wagen angerollt, und es wird heftig geklingelt.

»Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt«, sagt Mr. Bucket. »Da ist sie.«

Die Türen werden weit geöffnet, und Mylady schreitet durch die Vorhalle. Sie ist immer noch sehr bleich, in Halbtrauer gekleidet, und trägt zwei kostbare Armbänder. Entweder ihre Schönheit oder die Schönheit ihrer Arme erregen Mr. Buckets ganz besondre Aufmerksamkeit. Er sieht mit spähendem Blick hin und klappert mit etwas in der Tasche – vielleicht mit Halfpences.

Sie bemerkt ihn im Hintergrund und wendet sich mit einem fragenden Blick an den andern Merkur, der sie nach Hause brachte.

»Mr. Bucket, Mylady.«

Mr. Bucket macht einen Kratzfuß und tritt hervor, indem er sich mit seinem Hausdämon über den Mund fährt.

»Warten Sie auf Sir Leicester?«

»Nein, Mylady. Ich war bereits bei ihm.«

»Haben Sie mir etwas zu sagen?«

»Jetzt gerade nicht, Mylady.«

»Haben Sie neue Entdeckungen gemacht?«

»Ein paar, Mylady.«

– Sie stellt ihre Fragen nur so im Vorübergehen. Sie bleibt kaum stehen und schwebt allein die Treppe hinauf. –

Mr. Bucket tritt einen Schritt vor und beobachtet sie, wie sie die Stufen hinaufgeht, die der alte Advokat herunterstieg in sein Grab, an mordgierigen Gruppen von Bildhauerwerk vorüber, die sich mit dem Schatten ihrer Waffen an der Wand wiederholen, an der gedruckten Bekanntmachung, auf die sie im Vorbeigehen einen Blick wirft, vorüber. Dann verschwindet sie.

»Wahrhaftig, eine schöne Frau«, sagt Mr. Bucket und kommt zu dem Merkur zurück. »Sieht aber nicht ganz gesund aus.«

Sei auch nicht ganz gesund, teilt ihm der Merkur mit, leide sehr an Kopfschmerzen.

Wahrhaftig? Schade! Spazierengehen würde Mr. Bucket als Heilmittel anempfehlen.

»O, sie geht spazieren«, entgegnet der Merkur. »Geht manchmal zwei Stunden spazieren, wenn ihr Zustand sich verschlimmert. Sogar in der Nacht.«

»Wissen Sie auch ganz sicher, daß Sie genau sechs Fuß drei Zoll hoch sind?« fragt Mr. Bucket. »Sie müssen schon entschuldigen, daß ich Sie einen Augenblick unterbreche.«

»Darüber besteht gar kein Zweifel.«

»Ich hätte das wirklich nicht geglaubt bei Ihren guten Proportionen. Die Garden gelten doch auch als schöne Leute, aber sie sind mir zu schlenkrig und aufgeschossen. – Geht also bei Nacht spazieren? Wenn Mondschein ist?«

O ja, wenn Mondschein ist! Natürlich. Ja natürlich.

– Übereinstimmung auf beiden Seiten. –

»Sie selbst gehen wohl nicht viel spazieren?« fragt Mr. Bucket. »Haben wahrscheinlich nicht viel Zeit dazu übrig?«

Außerdem findet der Merkur keinen Geschmack daran. Zieht Fahren vor.

»Selbstverständlich.« – Mr. Bucket sieht das ein. – »Das ist etwas ganz andres. Übrigens, jetzt fällt mir ein«, sagt Mr. Bucket, indem er sich die Hände wärmt und vergnüglich in die flackernde Flamme schaut, »sie ist an demselben Abend, wo die Geschichte geschehen ist, auch spazieren gegangen.«

»Ja, freilich! Ich schloß ihr den Garten drüben auf.«

»Und verließen sie dort. Richtig, ja. Ich hab es zufällig mit angesehen.«

»Ich habe Sie nicht bemerkt«, sagt der Merkur.

»Ich hatte ziemliche Eile«, erklärt Mr. Bucket, »denn ich wollte gerade eine Tante besuchen, die in Chelsea wohnt – die zweitnächste Tür von dem alten ehemaligen Bun-Haus. Neunzig Jahre alt. Unverheiratet und im Besitz eines kleinen Vermögens. Ja, ich ging gerade zufällig vorbei. Wie spät mochte es wohl gewesen sein? Warten Sie mal. Es war noch nicht zehn.«

»Halb zehn.«

»Ganz richtig. Halb zehn war’s. Und wenn ich mich nicht ganz irre, war Mylady in einen weiten schwarzen Mantel, mit breiten Fransen daran, gehüllt.«

»Ganz richtig.«

»Ganz richtig.« Mr. Bucket muß wieder zu einer kleinen Arbeit zurück, die er oben noch zu verrichten hat, muß aber vorher noch dem Merkur erkenntlich für die angenehm verlebte Viertelstunde die Hand schütteln, und ob er wohl – möchte er noch ein Mal fragen – ob er wohl, wenn er einmal eine halbe Stunde übrig habe, sie dem Bildhauer der königlichen Akademie zum Nutzen beider Teile schenken möge?

54. Kapitel


54. Kapitel

Eine Mine fliegt auf

Vom Schlaf gestärkt, steht Mr. Bucket zeitig morgens auf und macht sich fertig zum Kampfe. Aufgeputzt mit Hilfe eines reinen Hemdes und einer nassen Haarbürste, mit der er bei feierlichen Gelegenheiten die dünnen Locken befeuchtet, die ihm nach einem solchen Leben angestrengten Studiums noch übrig geblieben sind, nimmt er ein Frühstück ein, von dem zwei Hammelkoteletten den Grundstein und Tee, Eier, Zwieback und Marmelade in entsprechender Menge den Aufbau bilden. Nachdem er diese kräftigenden Speisen mit Genuß verzehrt und eine geheime Konferenz mit seinem Hausdämon gehalten hat, ersucht er den Merkur vertraulich, Sir Leicester Dedlock, Baronet, im stillen wissen zu lassen, daß er für ihn bereit sei, wenn es jetzt genehm wäre. Auf die gnädige Antwort, daß Sir Leicester seine Toilette beschleunigen und den Inspektor binnen zehn Minuten in der Bibliothek sehen wolle, begibt sich Mr. Bucket dorthin, steht dort vor dem Kamin, den Finger am Kinn, und blickt in die glühenden Kohlen. Er ist gedankenvoll wie ein Mann, der ein hochwichtiges Werk zu vollenden hat, aber gefaßt, sicher, voller Selbstvertrauen. Nach dem Ausdruck seines Gesichtes könnte man ihn für einen berühmten Whistspieler halten, der um einen großen Einsatz spielt – sagen wir, um hundert Guineen – und der das Spiel in der Hand hat, es aber seinem großen Ruf schuldig ist, auf meisterhafte Weise bis zur letzten Karte durchzuspielen. Mr. Bucket zeigt sich nicht im mindesten erregt, als Sir Leicester erscheint; und wie der Baronet langsam nach seinem Lehnstuhl geht, blickt er ihn wieder wie gestern von der Seite mit dem beobachtenden Ernst an, in den eine Spur von Mitleid gemischt zu sein scheint.

»Es tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen müssen, Inspektor, aber ich habe mich heute morgen ein wenig länger mit dem Ankleiden aufgehalten als gewöhnlich. Ich fühle mich nicht recht wohl. Die Aufregung der letzten Tage hat mich zu sehr angegriffen. Überdies bin ich – Gichtanfällen unterworfen.« Sir Leicester hat anfangs bloß Unpäßlichkeit vorschützen wollen und hätte es auch jedermann gegenüber aufrecht erhalten, aber Mr. Bucket durchschaut ihn offenbar. »Und die Ereignisse der letzten Zeit haben wieder einen Anfall herbeigeführt.«

– Während er, mit einiger Schwierigkeit und seine Schmerzen verbeißend, Platz nimmt, tritt Mr. Bucket etwas näher und stützt sich mit einer seiner großen Hände auf den Bibliothekstisch. –

»Ich weiß nicht, Inspektor«, bemerkt Sir Leicester und blickt auf, »ob Sie mit mir unter vier Augen zu sprechen wünschen. Ich überlasse das ganz Ihnen. Wenn Sie es wünschen, gut, wenn nicht, so würde Miß Dedlock gern…«

»Nun, Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich glaube, wir können gerade jetzt die Sache nicht geheim genug behandeln. Sie werden gleich selbst einsehen, daß wir sie nicht geheim genug behandeln können. Die Anwesenheit einer Dame würde mir unter allen Verhältnissen, zumal wenn sie eine so hohe gesellschaftliche Stellung einnimmt wie Miß Dedlock, nur angenehm sein, aber wenn ich von mir absehe, muß ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen zu versichern, daß wir die Sache nicht geheim genug behandeln können.«

»Das genügt.«

»So geheim, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, fährt Mr. Bucket fort, »daß ich Sie um Erlaubnis bitten wollte, die Tür absperren zu dürfen.«

»Tun Sie das nur.«

Mr. Bucket vollzieht geschickt und geräuschlos diese Vorsichtsmaßregel und bückt sich aus bloßer Gewohnheit einen Augenblick nieder, um den Schlüssel in dem Schloß so zu drehen, daß von außen niemand hereinsehen kann.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich erwähnte gestern abend, daß mir nur noch sehr wenig fehle, um den Fall ganz beisammen zu haben. Heute bin ich so weit und habe die Beweise gegen die Person in Händen, die das Verbrechen begangen hat.«

»Gegen den Soldaten?«

»Nein, Sir Leicester Dedlock. Es ist nicht der Soldat.«

Sir Leicester macht ein erstauntes Gesicht und fragt:

»Ist der Täter verhaftet?«

Mr. Bucket sagt nach einer Pause: »Es ist eine Frau.«

Sir Leicester lehnt sich in seinen Stuhl zurück und ruft atemlos aus: »Gott im Himmel!«

»Jetzt, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, fängt Mr. Bucket an, steht aufrecht da, die Hand auf den Tisch gestützt und den Zeigefinger der andern ausdrucksvoll hin und her bewegend, »jetzt ist es meine Pflicht, Sie auf eine Verkettung von Umständen vorzubereiten, die Sie wahrscheinlich, und ich will soweit gehen, zu sagen, gewiß sehr erschüttern werden. Aber Sir Leicester Dedlock, Baronet, Sie sind ein Gentleman, und ich weiß, was ein Gentleman ist und was ein Gentleman alles ertragen kann. Ein Gentleman wird einen Stoß, der sich nicht abwenden läßt, tapfer und standhaft aushalten. Ein Gentleman muß imstande sein, sich fast auf jeden Schlag gefaßt machen zu können. Nehmen Sie einmal sich an, Sir Leicester Dedlock, Baronet. Wenn ein Schlag Sie treffen soll, so denken Sie natürlich zuerst an Ihre Familie. Sie legen sich die Frage vor, wie alle Ihre Ahnen, bis zu Julius Cäsar zurück – um vorläufig nicht noch weiter zu gehen –, solche Schläge ertragen haben würden, und Sie können dabei gewiß an eine große Anzahl von ihnen denken, die es mit Ehren getragen hätten, und um ihretwegen und des Ansehens der Familie willen ertragen Sie es auch. So würden Sie denken, und so würden Sie auch handeln, Sir Leicester Dedlock, Baronet.«

Sir Leicester, in seinen Lehnstuhl zurückgelehnt, umklammert krampfhaft mit den Fingern die Armlehnen und sieht den Inspektor mit starrem Gesicht an.

»Wenn ich Sie auf diese Weise vorbereite, Sir Leicester Dedlock«, fährt Mr. Bucket fort, »möchte ich Sie bitten, sich keinen Augenblick darüber Sorgen zu machen, daß etwas zu meiner Kenntnis gekommen ist. Ich weiß soviel von einer Unmenge Personen hohen oder niedern Standes, daß eine Geschichte mehr oder weniger nicht das mindeste zu bedeuten hat. Ich glaube nicht, daß es einen Zug auf dem Brett gibt, der mich in Erstaunen setzen würde. Und ob ich nun weiß, daß dieser oder jener Zug in Wirklichkeit geschehen ist, hat weiter nichts zu sagen. Jeder mögliche Zug ist meiner Erfahrung nach ein wahrscheinlicher Zug. Ich sage Ihnen daher nur nochmals, Sir Leicester Dedlock, Baronet, machen Sie sich nur ja deswegen keine Sorgen, daß ich etwas von Ihren Familienangelegenheiten weiß.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Vorbereitung«, entgegnet Sir Leicester nach einer längeren Pause und bewegt weder Fuß noch Hand noch einen Muskel seines Gesichts. »Ich hoffe, sie ist nicht vonnöten, aber ich weiß die gute Absicht zu schätzen. Haben Sie die Güte, fortzufahren. Bitte, nehmen Sie« – Sir Leicester scheint in dem Schatten des Inspektors, in dem er sitzt, zusammenzuschauern – »nehmen Sie einen Stuhl, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Durchaus nicht.« – Mr. Bucket holt sich einen Sessel und verkleinert seinen Schatten. – »Jetzt, Sir Leicester Dedlock, Baronet, komme ich nach dieser kurzen Einleitung zur Sache. Lady Dedlock…«

Sir Leicester erhebt sich halb in seinem Stuhl und starrt den Inspektor wild an.

Mr. Bucket bewegt seinen Finger besänftigend hin und her.

»Lady Dedlock, sehen Sie, wird allgemein bewundert. Ja, das wird die Gnädigste. Sie wird allgemein bewundert.«

»Ich würde vorziehen, Inspektor«, entgegnet Sir Leicester abweisend und kalt, »daß Myladys Name in dieser Angelegenheit überhaupt nicht genannt würde.«

»Ich auch, Sir Leicester Dedlock, Baronet, aber – es ist unmöglich.«

»Unmöglich?«

Mr. Bucket schüttelt erbarmungslos das Haupt.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es ist rein unmöglich. Was ich zu sagen habe, bezieht sich auf die Gnädigste. Sie ist der Punkt, um den sich alles dreht.«

»Inspektor«, entgegnet Sir Leicester mit flammendem Auge und zuckenden Lippen, »Sie kennen Ihre Pflicht. Tun Sie ihre Pflicht, aber hüten Sie sich, darüber hinauszugehen. Ich würde das unter keinen Umständen dulden. Ich würde es nicht ertragen können. Wenn Sie Myladys Namen mit der Sache in Verbindung bringen, so tun Sie das auf Ihre Verantwortung, – auf – Ihre – Verantwortung! Myladys Name ist kein Name, mit dem gewöhnliche Leute spielen dürfen!«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich sage, was ich sagen muß, und nicht mehr.«

»Ich hoffe, daß sich das erweisen wird. Gut. Fahren Sie fort. Fahren Sie fort, Sir.«

Mit einem Blick auf die zornfunkelnden Augen, die ihm jetzt ausweichen, und auf die Gestalt, die vom Kopf bis zu den Füßen in Entrüstung bebt und sich dennoch bemüht, ruhig zu erscheinen, tastet sich Mr. Bucket seinen Weg und fährt mit leiser Stimme fort.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es ist jetzt meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen – daß der verstorbne Mr. Tulkinghorn seit langer Zeit Argwohn und Verdacht gegen Lady Dedlock hegte.«

»Wenn er gewagt hätte, das nur mit einer Silbe anzudeuten, Sir, hätte ich ihn mit eigner Hand getötet«, ruft Sir Leicester aus und schlägt mit der Faust auf den Tisch. Aber selbst mitten in seinem Zornesausbruch hält er inne, gebannt von den wissenden Augen Mr. Buckets, der jetzt seinen Zeigefinger wieder langsam hin und her bewegt und voller Selbstvertrauen und Geduld den Kopf schüttelt.

»Sir Leicester Dedlock, der verstorbne Mr. Tulkinghorn war listig und verschlossen, und was er von Anfang an eigentlich im Sinn gehabt hat, getraue ich mich nicht zu sagen. Aber ich weiß aus seinem eignen Munde, daß er seit langer Zeit Lady Dedlock im Verdacht hatte, sie habe beim Anblick einer Handschrift, die ihr vor Augen gekommen – in diesem Hause hier und in Ihrer Anwesenheit, Sir Leicester Dedlock –, zu ihrem Entsetzen entdeckt, daß eine gewisse Person noch am Leben sei (und zwar in höchst ärmlichen Verhältnissen), die, ehe Sie um Mylady geworben, ihr Geliebter gewesen und ihr Gatte hätte werden müssen.« Mr. Bucket hält inne und wiederholt nachdrücklich: »Der ihr Gatte hätte werden müssen. Darüber ist kein Zweifel. Ich weiß aus Mr. Tulkinghorns eignem Munde, daß er, als dieser Mann kurz darauf starb, Lady Dedlock im Verdacht hatte, seine elende Wohnung und sein noch elenderes Grab allein und im geheimen besucht zu haben. Durch meine eignen Nachforschungen und durch das Zeugnis meiner eignen Augen und Ohren weiß ich, daß Lady Dedlock in den Kleidern ihrer Zofe heimlich diese Orte besucht hat, denn der verstorbne Mr. Tulkinghorn gebrauchte mich dazu, die Gnädigste dingfest zu machen – wenn Sie das Wort entschuldigen wollen, das wir gewöhnlich brauchen –, und ich habe sie so weit vollständig dingfest gemacht. Ich konfrontierte die Zofe in der Kanzlei in Lincoln’s-Inn-Fields mit einem Zeugen, der Lady Dedlock als Führer gedient hatte, und es blieb nicht der Schatten eines Zweifels übrig, daß Mylady die Kleider der Zofe angehabt hatte, ohne daß diese es wußte. Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich habe mich gestern bemüht, sie ein wenig auf diese unangenehme Enthüllung durch die Äußerung vorzubereiten, daß selbst in vornehmen Familien zuweilen sehr seltsame Dinge geschehen. Alles dies und noch mehr hat sich in Ihrer eignen Familie, in Verbindung mit der Gnädigsten, zugetragen. Ich glaube, daß der verstorbne Mr. Tulkinghorn seine Nachforschungen bis zur Stunde seines Todes fortgesetzt hat und daß Lady Dedlock und er sich noch am Abend vor seiner Ermordung wegen dieser Sache entzweit haben. Sie brauchen dies bloß, Sir Leicester Dedlock, Baronet, Mylady mitzuteilen und sie zu fragen, ob sie nicht, nachdem er das Haus hier verlassen, nach seiner Kanzlei gegangen ist, um noch weiter mit ihm darüber zu sprechen, und bei dieser Gelegenheit einen weiten schwarzen Mantel mit langen Fransen daran angehabt hat.«

– Sir Leicester sitzt wie ein Steinbild da und starrt den grausamen Finger an, der in seinem innersten Herzen wühlt. –

»Legen Sie der Gnädigen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, die Frage als von mir, dem Inspektor Bucket von der Geheimpolizei, kommend, vor. Und wenn die gnädige Frau Schwierigkeiten machen sollte, es zuzugestehen, so sagen Sie ihr, daß das nichts nütze. Inspektor Bucket wisse es genau und wisse auch, daß sie an dem Soldaten, wie Sie ihn nennen, vorübergegangen ist und ihm auf der Treppe begegnet ist. Nun, Sir Leicester Dedlock, Baronet, warum, glauben Sie wohl, erzähle ich Ihnen alles das?«

Sir Leicester, das Gesicht mit den Händen verhüllt, läßt nur ein einziges tiefes Stöhnen vernehmen und bittet den Inspektor, einen Augenblick inne zu halten. Als er nach einer Weile seine Hände wieder wegnimmt, hat sein Gesicht seine Würde und äußere Ruhe, wenn es auch nicht mehr Farbe hat als sein weißes Haar, so wiedergewonnen, daß Mr. Bucket fast ergriffen ist. Sein Benehmen hat etwas Starres, Erfrornes, ganz abgesehen von der gewohnten Maske des Hochmuts, und Mr. Bucket fällt es auf, daß er ungewöhnlich langsam spricht und manchmal bei den Anfangsbuchstaben der Worte stottert, was ihn veranlaßt, unartikulierte Töne vernehmen zu lassen. Mit solchen Tönen bricht er jetzt das Schweigen, gewinnt aber bald wieder soviel Herrschaft über sich, daß er sagen kann, er begreife nicht, warum ein so pflichteifriger, wahrheitsliebender Gentleman wie Mr. Tulkinghorn ihm nicht selbst diese peinliche, unerwartete, niederschmetternde und unglaubliche Enthüllung gemacht habe.

»Auch diese Frage können Sie der Gnädigen vorlegen, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, entgegnet Mr. Bucket. »Und wenn Sie es für gut finden, wiederum im Namen des Inspektors Bucket von der Geheimpolizei. Sie werden erfahren, oder ich müßte mich sehr irren, daß der verstorbne Mr. Tulkinghorn die Absicht hatte, Ihnen alles mitzuteilen, sobald er die Sache für reif gehalten haben würde, sowie auch, daß er es der gnädigen Frau zu verstehen gegeben hat. Mein Gott, vielleicht wollte er es Ihnen gerade an dem Morgen, als ich den Tatort besichtigte, mitteilen! Sie wissen auch nicht von mir, Sir Leicester Dedlock, Baronet, was ich nach Ablauf der nächsten fünf Minuten sagen oder tun werde, und angenommen, ich fiele jetzt auf der Stelle tot um, würden Sie sich da wundern, warum ich es nicht getan hätte?«

»W-w-wahr!« Sir Leicester wird nur mit Mühe des Stöhnens Herr, das sich ihm immer wieder in die Kehle drängt, und sagt: »Wohl wahr.« Da lassen sich plötzlich draußen in der Vorhalle lärmende Stimmen vernehmen. Mr. Bucket horcht auf, geht nach der Türe, schließt sie leise auf und öffnet und lauscht wieder.

Dann steckt er den Kopf herein und flüstert hastig, aber bestimmt: »Sir Leicester Dedlock, Baronet, die unglückselige Familiengeschichte ist ruchbar geworden, wie ich gleich befürchtete, als der selige Mr. Tulkinghorn eines so plötzlichen Todes starb. Die einzige Möglichkeit, sie zu vertuschen, ist, die Leute, die sich jetzt da unten mit Ihren Bedienten herumzanken, vorzulassen. Können Sie es über sich bringen, ruhig dazusitzen – der Familie wegen –, während ich mit ihnen fertig werde? Und wollen Sie mir nur zunicken, wenn ich Sie darum zu bitten scheine?«

Sir Leicester gibt verworren zur Antwort: »Inspektor, tun – Sie –, was – Sie für das Beste halten.«

Mr. Bucket nickt, krümmt schlau seinen Zeigefinger und huscht in die Vorhalle hinunter, worauf das Stimmengewirr schnell verstummt.

Nicht lange darauf kehrt er wieder zurück, und einige Schritte hinter ihm kommen der Merkur und ein ebenfalls gepuderter Gott vom selben Rang in pfirsichblütenen Beinkleidern mit einem Stuhl herein, in dem sie einen hilflosen alten Mann tragen. Ein andrer Mann und zwei Frauen schließen den Zug. Mr. Bucket erteilt mit leutseligem, unbefangnem Wesen Befehle, wo der Stuhl hinzustellen sei, entläßt dann die Merkure und schließt die Tür wieder ab. Sir Leicester sieht diesem Einbruch in seine geheiligten Räume starr und eisig zu.

»Sie werden mich vielleicht kennen, meine Damen und Herren«, beginnt Mr. Bucket in vertraulichem Ton. »Ich bin der Inspektor Bucket von der Geheimpolizei, und dies hier« – er läßt die Spitze seines handlichen kleinen Stabes aus der Brusttasche hervorgucken – »ist mein Amtszeichen. Also Sie wünschen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, zu sehen? Gut! Hier sehen Sie ihn, und bedenken Sie wohl, es widerfährt nicht jedermann diese Ehre. Und Ihr Name, mein ehrenwerter alter Herr, ist Smallweed; ich kenne ihn recht gut.«

»So. Und werden noch nichts Böses von ihm gehört haben«, schreit Mr. Smallweed mit schriller lauter Stimme.

»Sie wissen wahrscheinlich nicht, weshalb sie das Schwein geschlachtet haben«, entgegnet Mr. Bucket mit einem durchdringenden Blick, ohne nur im geringsten aus der Fassung zu kommen.

»Nein.«

»Nun, sie schlachteten es, weil es gar zu laut quiekte. Bringen Sie sich nicht in dieselbe Lage, es wäre Ihrer nicht würdig. Sind Sie vielleicht gewöhnt, mit Taubstummen zu verkehren?«

»Ja«, knurrt Mr. Smallweed. »Meine Frau ist taub, wenn auch nicht stumm.«

»Nun, das erklärt, warum Sie so laut sprechen. Aber da sie nicht hier ist, stimmen Sie vielleicht Ihren Ton ein oder zwei Oktaven tiefer. Sie würden mich dadurch nicht nur verpflichten, sondern auch mehr Ehre damit einlegen«, sagt Mr. Bucket. »Der andre Herr hier ist wohl vom Predigergeschäft, nicht wahr?«

»Mr. Chadband«, stellt Mr. Smallweed vor, mit viel leiserer Stimme als vorher.

»Hatte einmal einen Freund und Kameraden, der ebenso hieß«, sagt Mr. Bucket und streckt bewillkommnend seine Hand aus. »Und daher berührt mich der Name sehr wohltuend. – Mrs. Chadband, nicht wahr?«

»Und Mrs. Snagsby.« – Mr. Smallweed stellt die Damen vor.

»Gattin eines Schreibmaterialienhändlers. Eines Freundes von mir«, sagt Mr. Bucket. »Liebe ihn wie einen Bruder! Also, was gibt’s?«

»Meinen Sie, weshalb wir hierhergekommen sind?« fragt Mr. Smallweed, ein wenig verblüfft von der plötzlichen Frage.

»Sie wissen schon, was ich meine. Lassen Sie uns einmal hören, was Sie uns hier vor Sir Leicester Dedlock, Baronet, zu sagen haben. Nur heraus damit.«

Mr. Smallweed winkt Mr. Chadband zu sich und berät sich mit ihm einen Augenblick flüsternd. Mr. Chadband preßt eine beträchtliche Menge Öl aus den Poren seiner Stirn und seiner Handflächen und sagt dann laut:

»Ja. Nach Ihnen.« Dann zieht er sich wieder auf seinen früheren Platz zurück.

»Ich war ein Klient und Freund Mr. Tulkinghorns«, fängt Großvater Smallweed mit dünner Stimme an. »Ich stand mit ihm in Geschäftsverbindung. Ich war ihm nützlich und er mir. Der verstorbne Krook war mein Schwager. Er war der leibliche Bruder der Höllenschwefel – wollte sagen, Mrs. Smallweeds. Ich erbte Krooks Nachlaß. Ich habe alle seine Papiere und alle seine Sachen untersucht. Sie wurden vor meinen Augen ausgepackt. Es befand sich ein Paket Briefe darunter, die einem dort verstorbnen Mieter gehört hatten und hinter einem Brett neben Lady Janes – ich meine die Katze – Korb versteckt waren. Er hat überhaupt allerlei Sachen da und dort versteckt. Mr. Tulkinghorn brauchte die Briefe und hat sie bekommen. Aber ich las sie zuerst durch. Ich bin Geschäftsmann und habe einen Blick hineingeworfen. Die Briefe waren von der Geliebten des Mieters, und mit Honoria unterzeichnet. Das ist kein gewöhnlicher Name, Honoria, was? Es gibt vielleicht in diesem Hause niemanden, der Briefe mit Honoria unterzeichnet, was ? Gott bewahre. Und die Handschrift stimmt auch nicht? Gott bewahre.«

– Mitten in seinem Triumph bekommt Mr. Smallweed einen solchen Hustenanfall, daß er innehalten muß und ausruft: »O Gott, o Gott, das reißt mich noch in Stücke.« –

»Na, wenn Sie jetzt fertig sind«, sagt Mr. Bucket, nachdem er abgewartet hat, bis Mr. Smallweed wieder zu sich gekommen ist, »fangen Sie vielleicht endlich von dem an, was Sir Leicester Dedlock, Baronet, den Herrn dort, angeht.«

»Hab ich vielleicht noch nicht damit angefangen, Mr. Bucket?« ruft Großvater Smallweed. »Geht es den Herrn nichts an? Kapitän Hawdon und seine ewig getreue Honoria und ihr Kind gehen ihn auch nichts an? Kurz und gut, ich möchte wissen, wo die Briefe sind? Das geht mich etwas an, wenn es schon Sir Leicester Dedlock nichts angeht. Ich möchte wissen, wo sie sind. Es kann mir nicht passen, daß sie so mir nichts dir nichts verschwinden. Ich habe sie meinem Freund und Rechtsanwalt Mr. Tulkinghorn übergeben und niemandem sonst.«

»Nun, ich dächte, er hat Sie recht anständig dafür bezahlt«, meint Mr. Bucket.

»Das ist mir einerlei. Ich muß wissen, wer sie hat, und ich will Ihnen sagen, was wir verlangen –; was wir alle hier verlangen, Mr. Bucket. Wir verlangen, daß man sich mit der Entdeckung der Mordtat ein bißchen mehr Mühe gibt! Wir wissen ganz gut, wem der Tod Mr. Tulkinghorns gelegen kommt. Sie haben nicht genug getan. Wenn George, der liederliche Dragoner, die Hand im Spiel hatte, so war er nur ein Komplize und ist dazu angestiftet worden. Sie wissen schon, was ich meine.«

»Hören Sie einmal.« – Mr. Bucket ändert augenblicklich sein Benehmen, tritt dicht an Mr. Smallweed heran und bewegt seinen Zeigefinger mit einer ganz ungewöhnlichen Eindringlichkeit. – »Ich will verdammt sein, wenn ich auch nur einem Menschen auf der Welt gestatte, sich in meine Sachen hineinzumischen oder mir auch nur um eine halbe Sekunde vorzugreifen. Sie verlangen mehr Eifer und Anstrengung? Sie? Schauen Sie sich einmal diese Hand an. Glauben Sie wirklich, daß ich nicht den rechten Zeitpunkt wüßte, wann ich sie auszustrecken habe, um damit den Arm zu packen, der den Schuß abgefeuert hat?«

– So groß ist die Macht des gefürchteten Detektivs, und es ist so schrecklich offenbar, daß er nicht prahlt, daß Mr. Smallweed sofort einlenkt und sich zu entschuldigen beginnt. –

Mr. Bucket ist im Augenblick wieder versöhnt und unterbricht ihn. »Der Rat, den ich Ihnen gebe, ist also, zerbrechen Sie sich den Kopf nicht wegen des Mordes. Das ist meine Sache. Sie richten manchmal, glaube ich, Ihr Augenmerk auf die Zeitungen, und es sollte mich nicht wundern, wenn Sie ziemlich bald etwas darüber lesen sollten, wenn Sie ordentlich aufpassen. Ich kenne mein Geschäft, und weiter habe ich Ihnen über die Sache nichts zu sagen. Jetzt zu den Briefen. – Sie wollen wissen, wer sie hat? Ich will es Ihnen sagen. Ich habe sie. Ist es vielleicht dies Paket hier?«

Mr. Smallweed blickt mit gierigen Augen auf das kleine Bündel, das Mr. Bucket aus den geheimnisvollen Tiefen seines Rockes hervorholt, und erklärt es für das richtige.

»Was haben Sie jetzt weiter zu sagen, Mr. Smallweed? Reißen Sie den Mund nicht zu weit auf. Es steht Ihnen nicht besonders.«

»Ich will fünfhundert Pfund haben.«

»So, so! Sie meinen natürlich fünfzig«, sagt Mr. Bucket gutgelaunt.

Es erweist sich jedoch, daß Mr. Smallweed wirklich fünfhundert Pfund meint.

»Ich bin nämlich von Sir Leicester Dedlock, Baronet, beauftragt, das Geschäft in Erwägung zu ziehen, wohlverstanden, nur in Erwägung zu ziehen.« Sir Leicester neigt mechanisch das Haupt. »Und Sie schlagen fünfhundert Pfund vor. Nun, das ist ja eine wirklich recht – unvernünftige Forderung! Zweimal fünfzig wäre schon schlimm genug, aber immerhin diskutabel. Möchten Sie nicht lieber sagen, zweimal fünfzig?«

Mr. Smallweed möchte das lieber nicht.

»Dann wollen wir uns Mr. Chadband anhören. Mein Gott, wie oft habe ich meinen alten Kameraden mit demselben Namen nennen hören! Ach, und er war ein so gemäßigter Mann, wie man es sich nur wünschen konnte. In jeder Hinsicht. In jeder Hinsicht.«

So eingeladen, tritt Mr. Chadband vor und hält, nachdem er zur Einleitung ölig gelächelt und aus seinen Handflächen ein wenig Tran gequetscht hat, folgende Rede:

»Meine Freunde. Wir sind jetzt – Rachael, meine Gattin, und ich – in den Palästen der Reichen und Großen. Warum sind wir jetzt in den Palästen der Reichen und Großen, meine Freunde? Sind wir etwa eingeladen? Sind wir etwa gebeten, mit ihnen zu schmausen? Sind wir etwa gebeten, mit ihnen die Laute zu spielen? Sind wir vielleicht gebeten, mit ihnen zu tanzen? Nein. Wozu sind wir dann hier, meine Freunde? Sind wir im Besitz eines sündigen Geheimnisses und verlangen wir Korn und Wein und Öl – oder, was dasselbe ist, Geld –, auf daß es bewahrt werde? Wahrscheinlich, meine Freunde.«

»Sie sind Geschäftsmann, wie ich sehe«, entgegnet Mr. Bucket sehr aufmerksam, »und wollen infolgedessen darauf zu sprechen kommen, welcher Art Ihr Geheimnis ist. Sie haben recht. Sie können nichts Besseres tun.«

»So lasset uns denn, mein Bruder, im Geiste der Liebe damit beginnen«, sagt Mr. Chadband mit schlauem Blick. »Rachael, meine Gattin, tritt vor!«

Mehr als bereitwillig kommt Mrs. Chadband dieser Aufforderung nach und drängt dadurch ihren Gatten in den Hintergrund der Aufmerksamkeit. Mit einem harten finstern Lächeln pflanzt sie sich vor Mr. Bucket auf. »Da Sie hören wollen, was wir wissen, will ich es Ihnen sagen. Ich habe Miß Hawdon, die Tochter der Gnädigen, auferziehen helfen. Ich stand in Diensten der Schwester der Gnädigen. Sie hat die Schande, die die Gnädige über sie brachte, tief empfunden und gegenüber jedermann, und selbst gegenüber der Gnädigen, vorgegeben, das Kind sei tot. Es war es auch fast, als es geboren wurde, aber es lebt, und ich kenne es.« Mit diesen Worten und einem Lachen verschränkt Mrs. Chadband, die jedes Mal einen bitteren Nachdruck auf die Worte »die Gnädige« gelegt hat, die Arme und sieht Mr. Bucket herausfordernd an.

»Ich vermute also«, entgegnet der Inspektor, »Sie erwarten demnach eine Zwanzigpfundnote oder ein Geschenk von ungefähr diesem Wert.«

Mrs. Chadband lacht bloß und sagt verächtlich, er könne gerade so gut zwanzig Pence anbieten.

»Nun, und meines Freundes, des Papierhändlers, werte Gattin drüben?« – Mr. Bucket lockt Mrs. Snagsby mit dem Finger zu sich heran. –»Um was handelt es sich denn bei Ihnen, Maam?«

Mrs. Snagsby kann anfangs vor lauter Tränen und Wehklagen kein Wort herausbringen, aber allmählich und sehr konfus wird es offenbar, daß sie eine unter der Last des ihr widerfahrnen Unrechts zusammengebrochne Frau ist, die Mr. Snagsby planmäßig hintergehe, vernachlässige und im dunkeln zu erhalten suche. Ihr Haupttrost in all ihren Leiden sei die Teilnahme des seligen Mr. Tulkinghorn gewesen, der ihr anläßlich eines Besuchs in Cook’s Court, in Abwesenheit ihres treubrüchigen Mannes, soviel Mitleid entgegengebracht habe, daß sie von da an immer ihm ihr Leid geklagt hätte. Alle Welt, nur die Anwesenden ausgenommen, habe sich gegen ihren Seelenfrieden verschworen. Da sei vor allem Mr. Guppy, der Schreiber bei Kenge & Carboy, der anfangs so offenherzig gewesen wie die Sonne um Mittag, plötzlich so geheimnisvoll geworden wie die Mitternacht, zweifellos von Mr. Snagsby verführt und bestochen. Und desgleichen Mr. Weevle, der Freund Mr. Guppys, der geheimnisvolle Mieter in Mr. Krooks Haus, jedenfalls aus denselben naheliegenden Gründen. Nicht minder der verstorbne Krook, der selige Nimrod und der verstorbne Jo. Sie alle seien Eingeweihte gewesen.

In was sie eingeweiht gewesen sein sollen, darüber erklärt sich Mrs. Snagsby nicht besonders deutlich, aber sie wisse ganz gut, daß Jo Mr. Snagsbys Sohn gewesen sei; so unumstößlich sicher, als ob es »mit Drommeten verkündet worden wäre«. Sie sei Mr. Snagsby nachgeschlichen bei seinem letzten Besuch am Sterbelager des Jungen. Wenn es nicht sein Sohn gewesen wäre, warum wäre er dann hingegangen? Die einzige Beschäftigung ihres Lebens sei schon seit langem gewesen, Mr. Snagsby auf Schritt und Tritt zu beobachten und verdächtige Umstände zusammenzutragen – und alles, was sich begeben, wäre höchst verdächtig gewesen. Und auf diesem Weg habe sie bei Tag und Nacht ihr Ziel verfolgt, ihren treubrüchigen Gatten seiner Schuld zu überführen. Bei dieser Gelegenheit und ganz zufällig hätten die Chadbands und Mr. Tulkinghorn einander kennengelernt, und als sie Mr. Tulkinghorn hinsichtlich der an Mr. Guppy bemerkten Veränderung zu Rate gezogen, seien die Umstände an den Tag gekommen, die jetzt die Anwesenden so interessierten. Immer noch befinde sie sich daher auf der breiten Straße, die zu Mr. Snagsbys Entlarvung und zu einer Ehescheidung führen müsse und solle.

Alles das wollte Mrs. Snagsby als schwergekränkte Frau und als Freundin Mr. Chadbands und als Leidtragende um den seligen Mr. Tulkinghorn unter dem Siegel des Vertrauens und mit jeder möglichen und unmöglichen Verwicklung der Tatsachen bestätigen.

Geld ist bei ihr kein Beweggrund, und sie hat kein andres Ziel als das eben erwähnte und bringt hierher und überall hin ihre eigne dicke Staubatmosphäre mit, die aus dem unablässigen Arbeiten der Mühle ihrer Eifersucht entstanden ist.

Während sich ihre Rede abwickelt und viel Zeit in Anspruch nimmt, geht Mr. Bucket, der Mrs. Snagsbys Essigseele bereits auf den ersten Blick durchschaut hat, mit seinem vertrauten Hausdämon zu Rate und läßt die Chadbands und Mr. Smallweed nicht aus den Augen. Sir Leicester Dedlock sitzt unbeweglich da, eingefroren in seinen Eispanzer, und wirft nur hie und da einen Blick auf Mr. Bucket, als verlasse er sich von allen Menschen nur mehr auf ihn.

»Sehr gut«, sagt Mr. Bucket. »Jetzt verstehe ich Sie, sehen Sie; und da mich Sir Leicester Dedlock, Baronet, beauftragt hat, mich in diese kleine Angelegenheit zu mischen« – abermals nickt Sir Leicester mechanisch –»so kann ich ihr ja meine Aufmerksamkeit schenken. Ich will hier nicht auf einen Versuch, Geld zu erpressen, anspielen oder von ähnlichen Dingen sprechen, denn wir sind hier lauter welterfahrne Leute und wollen die Sache in Frieden beilegen; aber ich muß mich wirklich wundern und bin sehr überrascht, wie Sie auf den Einfall kommen konnten, unten in der Vorhalle Lärm zu schlagen. Das war doch ganz gegen ihr Interesse. So betrachte ich die Sache wenigstens.«

»Wir wollten vorgelassen werden«, erklärt Mr. Smallweed.

»Selbstverständlich wollten Sie das«, gibt Mr. Bucket freundlich und bereitwillig zu. »Aber einem alten Herrn in Ihren Jahren und von so wahrhaft ehrwürdigem Alter, muß ich schon sagen, dessen Geist noch durch die Lähmung seiner Glieder geschärft ist, weil das seine ganze Lebendigkeit in den Kopf hinaufsteigen macht, hätte denn doch bedenken müssen, daß für ihn die ganze Sache auch keinen Pfifferling wert ist, wenn er sie nicht gegenwärtig so geheim wie möglich hält. Sie sehen, Sie haben sich von Ihrem Temperament fortreißen lassen und dadurch wesentlich an Terrain verloren«, sagt Mr. Bucket in überzeugendem und freundschaftlichem Ton.

»Ich sagte doch nur, ich wollte nicht eher gehen, als bis einer der Bedienten uns bei Sir Leicester Dedlock anmeldete«, wendet Mr. Smallweed ein.

»Das ist’s ja eben. Da ist Ihr Temperament mit Ihnen durchgegangen. Ein ander Mal werden Sie sich vielleicht besser zu beherrschen wissen, wenn Sie Geld verdienen wollen. Soll ich klingeln, daß man Sie wieder hinunterbringt?«

»Wann werden wir wieder von der Sache hören?« fragt Mrs. Chadband mit großer Entschiedenheit.

»Gott segne Sie! Sie sind eine echte Frau. Immer neugierig ist Ihr entzückendes Geschlecht«, erwidert Mr. Bucket galant. »Ich werde mir das Vergnügen geben, morgen oder übermorgen bei Ihnen vorzusprechen – und auch Mr. Smallweeds Vorschlag von zwei Mal fünfzig Pfund nicht vergessen.«

»Fünfhundert«, verbessert Mr. Smallweed.

»Ganz richtig! Nominell fünfhundert.«

Mr. Bucket legt die Hand an den Klingelzug. »Darf ich Ihnen jetzt guten Tag wünschen, in meinem und im Namen des Herrn vom Hause?« fragt er mit einschmeichelndem Ton.

Da niemand keck genug ist, etwas dagegen einzuwenden, tut er es, und der Besuch entfernt sich, wie er gekommen ist.

Mr. Bucket folgt ihnen bis an die Tür und sagt dann zurückkehrend mit ernster Geschäftsmiene:

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es ist jetzt an Ihnen, sich zu überlegen, ob Sie das Schweigen der Leute erkaufen wollen oder nicht. Ich, an Ihrer Stelle, täte es und glaube, es ist ziemlich billig zu haben. Es liegt auf der Hand, diese kleine Essiggurke Mrs. Snagsby ist von allen Beteiligten zu der Spekulation benützt worden und hat durch falsches Zusammenknüpfen der unrichtigen Enden der Fäden viel mehr Unheil angerichtet, als sie vorsätzlich imstande gewesen wäre. Der verstorbene Mr. Tulkinghorn hatte alle diese Pferde im Zügel und konnte sie beliebig lenken, darüber ist kein Zweifel. Jetzt ist er kopfüber vom Bock gestürzt, und sie haben über die Stränge geschlagen, und jedes zerrt nach einer andern Richtung. So ist es, und so ist das menschliche Leben. Wenn die Katze nicht zu Hause ist, tanzen die Mäuse frei herum. Und wenn das Eis aufgeht, fängt es an zu fließen. – Aber jetzt zu der Person, die ich verhaften muß.«

Sir Leicester Dedlock scheint plötzlich zu erwachen, trotzdem er bis jetzt mit offnen Augen dagesessen hat. Er sieht Mr. Bucket, der auf die Uhr schaut, gespannt an.

»Die zu verhaftende Person befindet sich gegenwärtig hier im Hause«, fährt Mr. Bucket fort, steckt seine Uhr wieder ein und wird lebhafter. »Ich werde sie in ihrem Beisein verhaften. Sir Leicester Dedlock, Baronet, bitte, sprechen Sie kein Wort und rühren Sie keinen Finger. Sie haben keinen Lärm und keine Störung zu befürchten. Ich werde im Lauf des Abends wiederkommen, wenn es Ihnen angenehm ist, und mich bemühen, Ihren Wünschen in bezug auf Ihre unglückliche Familienangelegenheit und über die feinste Art, sie zu vertuschen, nachzukommen. Werden Sie jetzt, Sir Leicester Dedlock, Baronet, nicht nervös darüber, daß die Verhaftung hier vorgenommen werden soll. Sie müssen einen klaren Einblick in den ganzen Fall von A bis Z gewinnen.«

Mr. Bucket klingelt, geht an die Tür, flüstert dem Merkur etwas zu, schließt die Tür wieder und bleibt mit verschränkten Armen dahinter stehen. Nach ein paar Minuten geht die Tür langsam auf, und eine Französin tritt herein. Mademoiselle Hortense.

In dem Augenblick, wo sie im Zimmer steht, schlägt Mr. Bucket die Tür zu und lehnt sich mit dem Rücken dagegen. Das plötzliche Geräusch veranlaßt sie, sich umzudrehen. Und jetzt erst sieht sie Sir Leicester Dedlock in seinem Lehnstuhl.

»Ich bitte um Verzeihung«, murmelt sie hastig. »Man sagte mir doch, es sei niemand hier.«

Sie geht nach der Tür zurück und kommt dadurch gegenüber von Mr. Bucket zu stehen. Krampfhaft zuckt es über ihr Gesicht, und sie wird totenblaß.

»Das ist meine Mieterin, Sir Leicester Dedlock«, sagt Mr. Bucket und nickt ihr zu. »Diese junge Fremde ist seit einigen Wochen meine Mieterin.«

»Was soll das Sir Leicester interessieren, mein Engel?« entgegnet Mademoiselle in scherzendem Ton.

»Das werden Sie schon erfahren, mein Engel.«

Mademoiselle Hortense sieht ihn bös an, und ihr gespanntes Gesicht verzieht sich zu einem geringschätzigen Lächeln. »Sie sind sehr miste-rieux. Sind Sie betrunken?«

»Leidlich nüchtern, mein Engel.«

»Ich bin soeben mit Ihrer Frau in diesem widerwärtigen Haus angekommen. Ihre Frau mich hat verlassen vor ein paar Minuten. Sie mir unten sagen, daß Ihre Frau hier ist. Ich komme hier, und Ihre Frau ist nicht hier. Was soll dieses Possenspiel bedeuten, sagen Sie mir?!« fragt Mademoiselle und verschränkt ruhig die Arme, während etwas in ihrer dunkeln Wange wie eine Uhr pulsiert.

Mr. Bucket droht ihr nur mit seinem Zeigefinger.

»O, mon dieu, Sie sind ein armer Idiot!« ruft Mademoiselle und wirft lachend den Kopf zurück. »Lassen Sie mich vorübergehen die Treppe hinab, großes Schwein.« – Sie stampft mit dem Fuß und runzelt die Stirn. –

»Ich will Ihnen etwas sagen, Mademoiselle«, sagt Mr. Bucket mit ruhigem, entschlossenem Ton. »Setzen Sie sich dort auf das Sofa.«

»Ich will mich setzen auf nichts«, entgegnet sie mit energischem Kopfschütteln.

»Mademoiselle«, wiederholt Mr. Bucket und droht ununterbrochen mit dem Finger, »setzen Sie sich auf das Sofa dort.«

»Warum?«

»Weil ich Sie eines Mordes verdächtig verhafte. Welchen Mordes, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Nun wünsche ich höflich gegen eine Person Ihres Geschlechts, und obendrein eine Fremde, zu sein, wenn ich kann. Wenn ich nicht kann, muß ich grob werden. Und noch Gröbere warten draußen. Wie ich mich zu benehmen haben werde, hängt von Ihnen ab. Ich rate Ihnen daher in aller Freundschaft, sich auf das Sofa zu setzen, ehe noch eine Sekunde vergangen ist.«

Mademoiselle gehorcht und sagt mit gepreßter Stimme:

»Sie sind ein Teufel.«

– Der Puls in ihrer Wange schlägt rasch und deutlich. –

»Sehen sie«, fährt Mr. Bucket billigend fort, »jetzt sind Sie ruhig und benehmen sich, wie man es von einer jungen Französin von Ihrer Einsicht erwarten darf. Daher will ich Ihnen jetzt einen Rat geben, und der lautet: Sprechen Sie nicht zu viel. Man erwartet von Ihnen nicht, daß Sie hier etwas sagen, und Sie können Ihre Zunge nicht genug im Zaum halten. Kurz, je weniger Sie parlühren, desto besser für Sie.« – Mr. Bucket ist sichtlich stolz auf seine Kenntnisse der französischen Sprache. –

Mademoiselle, den alten tigerhaften Ausdruck um den Mund, sitzt, Zornesblitze in ihren schwarzen Augen, auf dem Sofa steif aufrecht da, die Hände geballt – und vielleicht auch die Füße –, und murmelt vor sich hin: »O, Sie, Bucket, Sie sind ein Teufel.«

»Nun hören Sie, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, beginnt Mr. Bucket, und von diesem Augenblick an kommt sein Finger nicht mehr zur Ruhe. »Diese junge Person, meine Mieterin, war seinerzeit Zofe bei der Gnädigen und ist, abgesehen davon, daß sie ungewöhnlich heftig und leidenschaftlich gegen ihre Herrin war, entlassen worden…«

»Lüge«, ruft Mademoiselle dazwischen. »Ich habe selbst gekündigt.«

»Warum befolgen Sie denn meinen Rat nicht?« warnt sie Mr. Bucket in eindringlichem, fast flehendem Tone. »Ich muß mich über Ihr unvorsichtiges Benehmen wahrhaftig wundern. Sie werden plötzlich etwas sagen, was schwer belastend für Sie sein wird. Die Zeit, wo Sie reden können, wird schon kommen. Kümmern Sie sich nicht um das, was ich sage, bis es als Beweis gegen Sie angeführt wird. Ich sage es doch nicht zu Ihnen.«

»Ich, entlassen!« ruft Mademoiselle schäumend. »Von der Gnädigen ! Meiner Treu, eine schöne Gnädige! Ha, ich mich würde brrringen um meine Ruf, wenn ich geblieben wäre bei der Gnädigen, so infam.«

»Meiner Seel, ich muß mich über Sie wundern«, stellt ihr Mr. Bucket vor. »Ich habe immer geglaubt, die Franzosen wären eine höfliche Nation. Und jetzt benimmt sich ein Frauenzimmer so! Und noch dazu vor Sir Leicester Dedlock, Baronet.«

»Er ist ein armer betrogner Mann. Ich auf sein Haus spucken. Auf seinen Namen. Auf seine Einfalt.« Mademoiselle spuckt dabei drei Mal auf den Teppich. »O ja, er ist ein großer Mann. O ja, süperb !Mondieu! Fi!«

»Also, Sir Leicester Dedlock«, fährt Mr. Bucket fort, »auch diese unbändige Französin da bildete sich ein, einen Anspruch an den seligen Mr. Tulkinghorn zu haben, weil er sie bei der erwähnten Gelegenheit in seine Kanzlei bestellt hatte. Daß er sie für ihre Mühe und den Zeitverlust reichlich entschädigte, das…«

»Lüge!« ruft Mademoiselle. »Ich ihm habe geworfen sein Geld vor die Füße!«

»Wenn Sie parlühren wollen, nun gut, dann müssen Sie eben die Folgen auf sich nehmen. – Weiter, Sir Leicester Dedlock. Ob sie schon damals mit der vorgefaßten Absicht, die Tat zu begehen, zu mir zog, um mich sicher zu machen, darüber erlaube ich mir kein Urteil. Aber, kurz und gut, sie wohnte bei mir als Mieterin und hat den verstorbenen Mr. Tulkinghorn in seiner Kanzlei beständig mit ihren Besuchen belästigt, um sich mit ihm herumzuzanken, und gleichzeitig den unglückseligen Papierhändler fast zu Tode gepeinigt.«

»Lügen!« ruft Mademoiselle. »Alles Lügen!«

»Die Mordtat wurde begangen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, und Sie kennen die näheren Umstände. Ich muß Sie jetzt bitten, mir ein paar Minuten Ihre angestrengteste Aufmerksamkeit zu schenken. Man ließ mich holen und vertraute mir den Fall an. Ich untersuchte die Wohnung, die Leiche, die Papiere und alles. Infolge eines Winkes von selten des Schreibers in Mr. Tulkinghorns Kanzlei verhaftete ich George, weil man ihn nachts, ungefähr in der Zeit, als der Mord geschah, im Hause gesehen hatte und außerdem wußte, daß er schon früher heftige Wortwechsel mit dem Verstorbenen gehabt und sogar Drohungen gegen ihn ausgestoßen hatte, was alles der Zeuge bestätigte. Wenn Sie mich fragen, Sir Leicester Dedlock, ob ich von Anfang an George für den Mörder gehalten habe, so sage ich ganz ruhig, nein, aber immerhin hätte er es doch sein können, und es sprach so viel gegen ihn, daß es meine Pflicht war, ihn zu verhaften. Jetzt merken Sie wohl auf!« – Wie sich Mr. Bucket mit ziemlicher Aufregung vorbeugt und seine Rede mit einem unheilschwangeren Hieb seines Zeigefingers durch die Luft einleitet, heftet Mademoiselle Hortense ihre schwarzen Augen mit finsterm Groll auf ihn und preßt ihre fieberhaft trocknen Lippen fest zusammen. –

»Ich ging abends nach Hause, Sir Leicester Dedlock, Baronet, und fand dieses junge Frauenzimmer beim Abendbrot bei meiner Frau, Mrs. Bucket. Von dem ersten Tag an, wo sie sich bei uns einmietete, zeigte sie sich mächtig zu meiner Frau hingezogen; aber an diesem Abend war es auffälliger als je. Sie übertrieb es geradezu. In ebenso übertriebnen Farben schilderte sie ihre Hochachtung und ihre Verehrung für den beklagenswerten Mr. Tulkinghorn. Beim lebendigen Gott, da fuhr es mir durch den Kopf, wie ich sie so mir gegenüber am Tisch mit dem Messer in der Hand dasitzen sah, sie müsse die Tat begangen haben.«

Mademoiselle zischt kaum hörbar durch die Zähne:

»Sie sind ein Teufel.«

»Wo war sie nun an dem Abend, wo der Mord begangen wurde, gewesen?« fährt Mr. Bucket fort. »Im Theater! Sie war auch wirklich dort gewesen, wie ich erfahren habe, sowohl vor wie nach der Tat. Ich war mir bewußt, daß ich es mit einer schlauen Person zu tun hatte und mir der Beweis sehr schwer fallen würde, und ich legte ihr eine Schlinge – eine Schlinge, wie ich sie noch nie gelegt habe. Es war ein Wagestück, wie ich es noch nie unternommen habe. Ich dachte mir die Sache aus, während ich mich mit ihr während des Abendessens unterhielt. Als ich hinauf zu Bett ging, stopfte ich, weil unser Haus klein ist und das Ohr dieses jungen Frauenzimmers scharf, Mrs. Bucket ein Tuch in den Mund, damit sie kein Wort der Überraschung hören ließe, während ich ihr die Geschichte erzählte… Mein Schätzchen, lassen Sie sich das nicht noch ein Mal einfallen, oder ich schließe Ihnen die Füße zusammen.«

– Mr. Bucket hat plötzlich inne gehalten, ganz geräuschlos Mademoiselle überfallen und sie in das Sofa zurückgedrückt. –

»Was haben Sie schon wieder?« fragt sie ihn.

»Lassen Sie sich das nicht noch ein Mal einfallen«, entgegnet Mr. Bucket mit warnendem Finger, »zum Fenster hinausspringen zu wollen. Das habe ich wieder. Geben Sie mir Ihren Arm. Sie brauchen nicht aufzustehen. Ich werde mich neben Sie setzen. Gleich nehmen Sie meinen Arm, bitte. Ich bin doch ein verheirateter Mann, wie sie wissen, und Sie kennen meine Frau. Gleich nehmen Sie meinen Arm!«

Sie versucht, ihre trocknen Lippen zu befeuchten, kämpft stöhnend mit sich und gehorcht.

»So, jetzt sind wir wieder in Ordnung. – Sir Leicester Dedlock, Baronet, der Fall hätte sich nie so schön gestaltet ohne Mrs. Bucket. Eine Frau, wie man unter fünfzigtausend, was sage ich, unter hundertfünfzigtausend keine zweite findet. Um diese junge Person hier sicher zu machen, habe ich seither unser Haus nicht betreten, aber Mrs. Bucket in den Broten und Milchkannen, so oft es nötig war, Mitteilungen zukommen lassen. Nachdem ich ihr also damals in der Nacht das Bettuch in den Mund gestopft hatte, flüsterte ich ihr zu: ‚Meine Liebe, glaubst du, sie durch unbefangnes Erwähnen von Verdachtsmomenten gegen George oder diesen oder jenen in Sicherheit wiegen zu können? Glaubst du, imstande zu sein, sie Tag und Nacht, und ohne zu schlafen, im Auge behalten zu können? Kannst du dir fest vornehmen: sie darf nichts tun ohne mein Wissen, sie soll meine Gefangene sein, ohne es zu ahnen, und mir so wenig entkommen wie dem Tod, und ihr Leben soll mein Leben sein, und ihre Seele meine Seele, bis ich sie in Händen habe, wenn sie diesen Mord begangen hat?‘ Und Mrs. Bucket sagte zu mir, so gut es ihr gelingen wollte, trotz des Knebels zu sprechen: ‚Bucket, das kann ich.‘ Und sie hat ihr Versprechen glorreich gehalten.«

»Lügen!« fährt Mademoiselle wieder auf. »Alles Lügen, mein Freund.«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, und wie trafen nun meine Berechnungen unter diesen Verhältnissen ein? Als ich annahm, daß das leidenschaftliche junge Frauenzimmer wieder nach irgendeiner neuen Richtung hin übertreiben würde, hatte ich da recht oder unrecht? Ich hatte recht. Und was tut sie? Erschrecken Sie nicht darüber. Sie versucht den Verdacht, den Mord begangen zu haben, auf – die Gnädige zu lenken.«

Sir Leicester erhebt sich in seinem Stuhl und sinkt wieder zurück.

»Und sie wurde darin bestärkt, weil sie hörte, ich sei immerwährend hier. Jetzt öffnen Sie einmal diese Brieftasche, Sir Leicester Dedlock, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, sie Ihnen hinüberzuwerfen, und sehen Sie sich die Briefe an, die ich bekam, und von denen jeder die zwei Worte: ‚Lady Dedlock‘ enthält. Öffnen Sie den einen an Sie adressierten, den ich heute morgen auffing, und lesen Sie die drei Worte: ‚Lady Dedlock, Mörderin‘ darin. Es regnete solche Briefe so dicht wie Marienkäfer. Was sagen Sie nun dazu, daß Mrs. Bucket von ihrem Versteck aus gesehen hat, daß dieses Frauenzimmer selbst sie alle geschrieben hat? Was sagen Sie dazu, daß Mrs. Bucket noch vor einer halben Stunde die dazugehörigen andern halben Bogen, die Tinte, und was nicht sonst noch alles, in Sicherheit gebracht hat? Was sagen Sie dazu, daß Mrs. Bucket beobachtet hat, wie das junge Frauenzimmer jeden dieser Briefe selbst auf die Post trug, Sir Leicester Dedlock, Baronet« fragt Mr. Bucket voll Triumph über die Genialität seiner Ehehälfte.

Zwei Umstände fallen jetzt vor allem auf, je weiter Mr. Bucket in seinem Berichte kommt. Erstens, daß er unmerklich ein grauenerregendes Eigentumsrecht auf Mademoiselle zu gewinnen scheint. Zweitens, daß sie aussieht, als ob sogar die Luft sich enger und enger um sie schlösse, als zöge sich ein Netz oder ein Leichentuch immer fester und fester um ihre atemlose Gestalt zusammen.

»Es ist kein Zweifel, daß die Gnädige in der verhängnisvollen Stunde an Ort und Stelle war«, fährt Mr. Bucket fort, »und meine französische Freundin hat sie vermutlich vom obern Treppenabsatz aus gesehen. Die Gnädigste und George und meine französische Freundin folgten einander fast auf den Fersen. Aber das hat weiter nichts zu bedeuten, und ich brauche daher nicht mehr davon zu sprechen. Ich fand den Pfropf der Pistole, mit der der verstorbene Mr. Tulkinghorn erschossen worden war. Er bestand aus einem Stück der gedruckten Beschreibung Ihres Hauses in Chesney Wold. Daraus kann man nicht viel schließen, werden Sie sagen, Sir Leicester Dedlock, Baronet. Nein, allerdings nicht, aber wenn meine französische Freundin sich so hat einlullen lassen, daß sie es für gefahrlos hält, die andern Stücke des Blattes zu zerreißen und wegzuwerfen, und wenn Mrs. Bucket die Stücke zusammensetzt und findet, daß gerade der Fetzen fehlt, aus dem der Pfropf besteht, fängt die Sache an, bedenklich faul zu werden.«

»Das sind sehr lange Lügen«, unterbricht ihn Mademoiselle. »Sie schwatzen sehr viel. Sind Sie endlich bald fertig oder wollen Sie immer so fortreden?«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet«, fährt Mr. Bucket fort, der einen großen Genuß dabei empfindet, den vollständigen Titel herzusagen, und sich Gewalt antut, wenn er auch nur ein Stück davon wegläßt, »der letzte Umstand in dieser Sache, den ich gleich erwähnen werde, zeigt, wie notwendig es in unserm Beruf ist, Geduld zu haben und sich nie zu übereilen. Ich beobachtete die Person gestern ohne ihr Wissen, während sie dem Leichenbegängnis, in Gesellschaft meiner Frau, die sie absichtlich dazu mitgenommen hatte, zusah, und ich besaß schon soviel Beweise gegen sie und der Ausdruck von niederträchtiger Bosheit in ihrem Gesicht gegen die gnädige Frau empörte mich derart, und überdies war die Zeit so recht dazu geeignet, Vergeltung an ihr üben zu lassen, daß eine jüngere und weniger erfahrene Hand als meine sie gewiß verhaftet hätte. Auch gestern abend wieder, als die Gnädige, die so mit Recht allgemein bewundert wird, nach Hause kam und aussah – mein Gott, man könnte fast sagen, wie die Venus, die aus dem Meere emporsteigt –, war es so verletzend und peinlich, zu denken, daß sie unter dem Verdacht, einen Mord begangen zu haben, stehen sollte, daß ich mich schon heftig gedrängt fühlte, der Sache ein Ende zu machen. Aber was hätte mir dann gefehlt? Sir Leicester Dedlock, Baronet, mir hätte das corpus delicti, die Waffe, gefehlt! Meine Gefangene hier schlug nun Mrs. Bucket nach dem Leichenbegängnis vor, mit dem Omnibus über Land zu fahren und in einem hübschen Wirtshause dort einen Tee zu nehmen. Nun befindet sich aber nicht weit von diesem Wirtshaus ein Teich. Während des Tees geht die Gefangene in die Stube, wo die Damen ihre Hüte abgelegt haben, angeblich, um ihr Taschentuch zu holen, bleibt ziemlich lange weg und kommt, ein wenig außer Atem, wieder.

Dies, sowie alle ihre Vermutungen darüber, berichtet mir Mrs. Bucket sogleich, wie sie nach Hause kommt. Ich lasse im Beisein von ein paar von unsern Leuten den Teich untersuchen und habe wirklich bald darauf die Taschenpistole, noch ehe sie ein halbes Dutzend Stunden im Wasser gelegen hat, in Händen. So, und jetzt, mein Schatz, halten Sie einen Augenblick still, ich werde Ihnen nicht wehe tun.«

In einem Nu hat Mr. Bucket ihr eine Handschelle angelegt.

»Das wäre eine«, sagt Mr. Bucket. »Jetzt die andre, mein Liebling. So. Jetzt sind wir fertig.«

Er steht auf, und sie ebenfalls. »Wo«, fragt sie und schließt die Augen, damit man ihren starren, entsetzten Blick nicht sehen solle, »wo ist Ihr falsches, verräterisches, verfluchtes Weib?«

»Sie ist voraus auf die Polizei gegangen«, gibt Mr. Bucket zur Antwort. »Sie werden sie gleich dort treffen, meine Liebe.«

»Ich möchte sie küssen!« ruft Mademoiselle Hortense aus und keucht dabei wie eine Tigerin.

»Und sie beißen, wie?«

»Ja«, sagt sie und reißt die Augen weit auf, »ich möchte sie zerreißen, Stück um Stück.«

»Das kann ich mir wohl denken, mein Schatz«, sagt Mr. Bucket mit Seelenruhe. »Ihr Weiber habt eine merkwürdige Wut aufeinander, wenn ihr uneins seid. Mich hassen Sie wohl nicht halb so viel, nicht wahr?«

»Nein, obgleich Sie auch ein Teufel sind.«

»Also einmal Engel, einmal Teufel, was? Aber ich tue nur meine Pflicht, müssen Sie bedenken. Erlauben Sie mir, Ihnen den Schal umzugeben. Ich habe schon oft Kammermädchen gespielt. Fehlt noch etwas an dem Hut? Es steht ein Cab vor der Tür.«

Mademoiselle Hortense wirft einen zürnenden Blick in den Spiegel und schüttelt sich mit einer einzigen Bewegung zurecht und sieht, es ist nicht zu leugnen, ungewöhnlich elegant aus.

»Hören Sie, mein Engel«, sagt sie und lächelt höhnisch, »Sie sind schrecklich gescheit, aber können sie ihn wieder ins Leben zurückrufen?«

»Nein, das gerade nicht.«

»Das ist sehr komisch. Hören Sie weiter. Sie sind schrecklich gescheit. Können Sie der Gnädigen ihre Ehre wiedergeben?«

»Seien Sie nicht so boshaft«, warnt Mr. Bucket.

»Oder ihm seinen Stolz«, wendet sich Mademoiselle mit unsäglicher Verachtung an Sir Leicester, »he? Sehen Sie ihn nur an! Der arme Kind, hahaha!«

»Kommen Sie, kommen Sie, das ist ein böseres Parlühren als vorhin«, sagt Mr. Bucket. »Kommen Sie jetzt.«

»Also Sie können alles das nicht ändern? Gut. Dann können Sie mit mir machen, was Sie wollen. Es ist nur der Tod, weiter nichts. Gehen wir, mein Engel. Leben Sie wohl, Sie alter Graukopf! Ich bemitleide Sie und verabscheue Sie!«

– Mit diesen Worten beißt Sie ihre Zähne zusammen, und ihr Mund schnappt zusammen wie unter einer Feder. –

Es läßt sich nicht beschreiben, wie Mr. Bucket sie hinausbugsiert, aber er verrichtet das Kunststück auf eine ganz besondre, ihm eigentümliche Weise. Er umgibt sie und umhüllt sie wie eine Wolke und schwebt mit ihr fort, als wäre er ein Jupiter in Zivil und sie der Gegenstand seiner Neigung.

Sir Leicester bleibt allein und rührt sich nicht, als ob er immer noch aufmerksam zuhöre. Endlich wandert sein Blick durch das leere Zimmer, und als er niemanden darin sieht, steht er unsicher auf und wankt ein paar Schritte und stützt sich dabei auf den Tisch. Dann bleibt er stehen. Wieder kommen aus seinem Munde die unartikulierten Töne; er erhebt seine Augen und scheint etwas starr anzublicken.

Der Himmel weiß, was er sehen mag. Die grünen Waldungen von Chesney Wold, den Herrschaftssitz, die Bilder seiner Vorväter, Unbekannte, die sie entstellen, Polizeibeamte, die mit roher Hand seine kostbarsten Erbstücke schänden, Tausende von Fingern, die auf ihn weisen, Tausende von Gesichtern, die ihn höhnisch angrinsen. Aber wenn diese Schatten sinnverwirrend an ihm vorüberschweben, ohne daß er sie festzuhalten vermag, einer ist darunter, den er selbst jetzt noch genau unterscheiden kann und dessen Namen er ruft, sich sein weißes Haar ausraufend und verzweifelt die Arme ausgebreitet.

Sei Jahren ist sie die Hauptwurzel seines Stolzes gewesen, aber nie hat er mit ihr einen selbstsüchtigen Gedanken verknüpft. Er hat sie geliebt, bewundert, geehrt und sie der Welt hingestellt, sich von ihr Hochachtung zollen zu lassen. Und inmitten all des ihn umwuchernden Zeremoniells und der gesellschaftlichen Formalitäten ist sie der Mittelpunkt seiner Liebe und Zärtlichkeit gewesen. Er sieht sie vor sich und vergißt sich selbst dabei. Aber er kann nicht ertragen, sie sich herabgesunken von der Höhe zu denken, die sie so herrlich geziert hat.

Und selbst, wie er schon zu Boden sinkt, um seine Qual nicht mehr zu fühlen, kann er ihren Namen noch aussprechen, mitten unter dem Stöhnen, das wieder aus seiner Brust heraufklingt, – aussprechen, viel eher mit Trauer und Mitleid als mit Vorwurf.

55. Kapitel


55. Kapitel

Flucht

Noch ehe Inspektor Bucket von der Geheimpolizei seinen Hauptcoup ausgeführt hatte und als er noch fest schlief, fuhr auf gefrornen Winterwegen ein zweispänniger Wagen aus Lincolnshire in der Richtung nach London.

Eisenbahnen werden bald die ganze Gegend durchziehen, und rasselnd werden Zug und Maschine mit einem grellen Schein gleich einem Meteor durch die weite Nachtlandschaft brausen und den Mondesglanz erbleichen machen. Aber bis jetzt ist so etwas in den Gegenden noch nicht vorhanden, wenn auch sein Kommen schon geahnt wird. Vorbereitungen aller Art sind im Gang; Messungen werden vorgenommen und Strecken abgesteckt. Brücken sind angefangen, und ihre noch nicht miteinander verbundenen Pfeiler sehen sich über Straßen und Flüsse hinüber an wie Liebespaare aus Ziegel und Kalk, deren Vereinigung noch allerlei Hindernisse im Wege stehen. Dämme sind aufgeworfen, und Ströme aus schmutzigen Wagen und Karren ergießen sich in ihre Schrunde. Dreifüße von langen Stangen erscheinen auf Hügelspitzen, und man raunt, daß da und dort Tunnels gebohrt werden sollen. Alles sieht chaotisch und verödet und hoffnungslos aus.

Die gefrornen Straßen entlang rumpelt durch die Nacht die Postchaise, und kein Gedanke an Eisenbahnen bedrückt ihr Herz.

Mrs. Rouncewell, so lange Jahre nun schon Haushälterin in Chesney Wold, sitzt darin, und neben ihr Mrs. Bagnet mit grauem Mantel und Regenschirm. Die alte Soldatenfrau säße lieber oben auf dem Bock, weil dieser Platz mehr dem Wetter ausgesetzt ist und besser mit ihrer sonstigen Art zu reisen harmoniert, aber Mrs. Rouncewell ist viel zu sehr auf ihr Wohlbefinden bedacht, um so etwas zuzulassen. Sie kann die Alte gar nicht genug ehren. Sie sitzt in ihrer stattlich steifen Weise da, hält die Hand Mrs. Bagnets in der ihren und zieht sie, so rauh sie auch ist, oft an ihre Lippen.

»Sie sind eine Mutter«, sagt sie immer und immer wieder, »und haben meines Georges Mutter aufgefunden.«

»Sehen Sie, George war immer offenherzig zu mir«, entgegnet Mrs. Bagnet. »Und als er bei uns zu Hause zu meinem Woolwich sagte, der größte Trost, den ein Mann haben könne, sei die Gewißheit, an keiner Gramesfurche auf dem Antlitz seiner Mutter und an keinem ihrer grauen Haare schuld zu sein, da erriet ich aus seinem ganzen Benehmen, daß kurz vorher etwas vorgefallen sein mußte, was ihm das Bild seiner Mutter wieder so lebendig ins Gedächtnis gerufen hatte. Er hatte schon oft früher zu mir gesagt, er habe sich schlecht gegen sie benommen.«

»Niemals, niemals!« – Mrs. Rouncewell bricht in Tränen aus. – »Meinen Segen aufsein Haupt! Niemals! Es war mir stets ein guter und zärtlicher Sohn. Mein George! Aber bei seinem Feuergeist war er ein wenig unbändig, und so ging er unter die Soldaten, und ich weiß ganz gut, er wollte uns nicht früher Nachricht geben, als bis er Offizier sein würde, und als er dann nicht avancierte, hielt er sich zu schlecht für uns und wollte uns keine Schande machen. Er hatte ein Löwenherz, mein George, schon als Kind.«

– Die Hände der Greisin greifen unsicher in die Luft, wie immer, wenn sie sich erinnert, was für ein schöner Junge, was für ein lustiger gescheiter Junge er war, wie sie ihn unten in Chesney Wold alle lieb hatten, wie ihn Sir Leicester lieb gewann, als er selbst noch ein junger Herr war, und ihn die jungen Hunde lieb hatten, und selbst die Leute, die ihm zürnten, ihm verziehen, sowie er fort war, der arme Junge! Und ihn jetzt doch noch wiederzusehen, und noch dazu im Gefängnis! Und der breite Schnürleib hebt sich, und die gerade, altmodische Gestalt beugt sich unter der Last bekümmerter Liebe.

Mit dem angebornen Takt eines guten mitfühlenden Herzens überläßt Mrs. Bagnet die alte Haushälterin ein Weilchen ihrer Rührung –nicht ohne sich mit dem Handrücken über ihre eignen Mutteraugen zu fahren – und schwatzt dann mit ihr in ihrer heiteren Weise weiter. »Und so sage ich zu George, wie ich ihn zum Tee hereinrufe, denn er schützte vor, draußen seine Pfeife rauchen zu wollen: ‚Um Gottes willen, was fehlt Ihnen denn nur heute, George. Ich habe Sie schon in jeder Stimmung gesehen, bei guter und bei schlechter Laune, daheim und im Ausland, aber noch nie haben Sie ein so melancholisches Büßergesicht gemacht.‘ – ‚Weil ich wirklich heute melancholisch und bußfertig bin, Mrs. Bagnet‘, hat George gesagt und den Kopf geschüttelt. ‚Was ich angestellt habe, ist vor langen, langen Jahren geschehen, und es ist das Beste, nichts daran mehr ändern zu wollen. Wenn ich je in den Himmel komme, geschieht es nicht, weil ich einer alten verwitweten Mutter ein guter Sohn gewesen bin. Weiter sage ich nichts.‘

Nun, Maam, wie mir George alles das sagt, mache ich mir darüber meine Gedanken, so, wie früher schon manches Mal, und locke aus ihm heraus, wieso er gerade heute nachmittag auf solche Gedanken komme.

Und da erzählt er mir, er habe zufällig bei einem Advokaten eine stattliche alte Frau gesehen, bei deren Anblick er sofort an seine Mutter habe denken müssen, und er spricht über diese alte stattliche Dame, bis er sich ganz und gar vergißt und mir schildert, wie sie vor vielen, vielen Jahren ausgesehen habe.

So frage ich ihn denn, als er fertig ist, wer die alte Dame gewesen wäre, die er gesehen, und er sagt mir, es sei Mrs. Rouncewell, die alte treue Haushälterin bei den Dedlocks unten in Chesney Wold in Lincolnshire. George hatte mir schon früher oft erzählt, er sei aus Lincolnshire, und drum sage ich an diesem Abend zu meinem alten Lignum: ‚Lignum, ich wette fünfundvierzig Pfund, das ist seine Mutter.’«

– Das alles erzählt Mrs. Bagnet jetzt mindestens zum zwanzigsten Male seit den letzten vier Stunden. Sie trillert es in ziemlich hohem Ton wie ein Vogel, damit die alte Dame es bei dem Wagengerassel verstehen kann. –

»Gott segne Sie, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen, meine gute liebe Mrs. Bagnet…«

»Aber Sie schulden mir wahrhaftig keinen Dank, gewiß nicht!« ruft Mrs. Bagnet lustig und natürlich. »Vergessen Sie nur nicht, Maam, vor allem, wenn Sie in George wirklich Ihren Sohn erkennen, darauf zu bestehen, daß er sich Ihretwegen gegen die Anschuldigungen einer Tat zur Wehr setzt, die er so wenig begangen hat wie Sie und ich. Es genügt nicht, daß er die Wahrheit auf seiner Seite hat, er muß auch das Gesetz und die Juristen auf seiner Seite haben«, versichert die Alte, offenbar fest überzeugt, daß Advokat und Gerechtigkeit sich zueinander verhalten wie zwei Kompagnons, die sich für alle Zeit miteinander entzweit haben.

»Es soll ihm jede Hilfe zur Seite stehen, die nur irgend auf der Welt zu haben ist, meine Beste. Ich will alles hingeben, was ich besitze, und mit dankbarem Herzen, wenn ich sie ihm dadurch verschaffen kann. Sir Leicester wird sein möglichstes tun, und die ganze Familie. Ich – ich weiß etwas, meine Liebe, und will auf meine eigne Art bitten als seine Mutter, die ihn so viele Jahre nicht gesehen hat und ihn jetzt endlich im Kerker wiederfindet.«

– Die große Unruhe, mit der die alte Haushälterin das sagt, ihre abgerissnen Worte und ihr Händeringen machen einen mächtigen Eindruck auf Mrs. Bagnet und würden sie noch mehr in Erstaunen setzen, wenn sie nicht alles ihrem Schmerz über die Lage ihres Sohnes zuschriebe. Aber trotzdem wundert sich Mrs. Bagnet, warum Mrs. Rouncewell immer so verzweifelt vor sich hinmurmelt: »Mylady, Mylady, Mylady!« –

Die kalte Nacht schwindet, und der Tag bricht an, und der Postwagen kommt durch den Morgennebel dahergerollt wie das Gespenst einer verstorbenen Chaise. Er hat geisterhafte Gesellschaft in Menge in den Gespenstern der Bäume und Hecken, die langsam verschwindet und der Wirklichkeit des Tages Platz macht.

Die Reisenden erreichen London und steigen aus. Die alte Haushälterin in großer Unruhe und Verwirrung, Mrs. Bagnet frisch und fröhlich wie immer. Sie würde es wahrscheinlich auch sein, wenn die nächste Haltestation das Kap der guten Hoffnung, die Insel Ascension, Hongkong oder irgendeine andre Militärstation wäre.

Als sie sich dann nach dem Gefängnis begeben, hat die alte Dame in ihrem lavendelfarbigen Kleid wieder viel von ihrer alten gefaßten Ruhe zurückgewonnen. Sie sieht aus wie ein wunderbar ernstes und schönes Stück altes Porzellan, obgleich ihr Herz schnell schlägt und sich ihr Schnürleib ungestümer hebt als seit vielen Jahren, wenn sie an ihren Sohn gedacht hat.

Sie nähern sich der Zelle, da geht die Türe auf und ein Wärter tritt heraus. Mrs. Bagnet bittet ihn mit einer raschen Gebärde, sie nicht zu verraten; er nickt beistimmend, läßt sie eintreten und macht die Türe zu.

So blickt George, der an seinem Tische schreibt, in der Meinung, er sei allein, nicht auf, sondern bleibt, in Nachdenken versunken, sitzen. Die alte Haushälterin betrachtet ihn, und ihre unruhig wandernden Hände sind Bestätigung genug für Mrs. Bagnet, selbst wenn sie jetzt, wo sie Mutter und Sohn nebeneinander sieht, noch einen Augenblick an der Verwandtschaft der beiden zweifeln könnte.

Kein Rauschen des Kleides, keine Bewegung, kein Wort verraten die Haushälterin. Sie betrachtet ihren Sohn, wie er ahnungslos weiter schreibt, und nur ihre zitternden Hände geben von ihrer inneren Bewegung Zeugnis. Aber sie sind sehr beredt, sehr, sehr beredt. Mrs. Bagnet versteht sie. Sie sprechen von Dankbarkeit, Freude, Kummer und Hoffnung, von Liebe, die nicht verblassen konnte, seit dieser stahlharte Mann dem Knabenalter entwuchs, und reden eine so rührende Sprache, daß Mrs. Bagnets Augen voller Tränen stehen und die glänzenden Tropfen über ihre sonnenverbrannten Wangen rinnen.

»George! Mein geliebtes Kind!«

Der Kavallerist springt auf, fällt seiner Mutter um den Hals und sinkt vor ihr nieder auf die Knie. Er faltet seine Hände, von dem Gedanken an seine Jugend, der ihn bei ihrem Anblick durchzuckt, überwältigt, wie ein Kind, das ein Gebet hersagt, und läßt das Haupt sinken und weint.

»George, mein lieber, lieber Sohn! Von jeher mein Liebling, wo bist du diese vielen Jahre und Jahre gewesen? Und zu einem solchen Mann herangewachsen, zu einem so schönen stattlichen Mann! So ähnlich dem Bild, daß ich mir von ihm machte, wenn ich hoffte, er sei noch am Leben.«

Eine Zeitlang können beide nichts Zusammenhängendes sprechen. Mrs. Bagnet hat sich abgewendet, lehnt sich mit dem Arm an die weißgetünchte Wand und läßt ihre ehrliche Stirn darauf ruhen. Sie wischt sich mit dem unentbehrlichen grauen Mantel die Augen und freut sich, die brave Alte, wie sie es bei ihrem guten Herzen nur imstande ist.

»Mutter«, sagt der Kavallerist, als sie wieder gefaßter sind, »zuerst vergib mir, denn ich weiß, wie sehr ich dessen bedarf.«

Ihm vergeben! Sie tut es von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Hat sie ihm doch längst verziehen. Sie erzählt ihm, wie sie vor langen Jahren ihr Testament gemacht habe und darin niedergeschrieben, daß er von jeher ihr Lieblingssohn gewesen sei. Nie habe sie etwas Böses von ihm geglaubt. Niemals. Und wenn sie gestorben wäre, ohne dieses große Glück zu erleben, hätte sie ihn mit ihrem letzten Atemzug gesegnet.

»Mutter, ich bin dir ein pflichtvergessner Sohn und ein Kummer gewesen und habe jetzt meinen Lohn. Aber in den letzten Jahren habe ich auch so eine Art Lebenszweck gehabt. Als ich von Hause fortging, wurde mir der Abschied nicht schwer, Mutter, ich fürchte nicht allzuschwer; und ich lief fort und ließ mich anwerben, mir nichts dir nichts, als stünde ich ganz allein in der Welt da.«

– Der Kavallerist hat seine Augen getrocknet und sein Taschentuch eingesteckt, aber er spricht und benimmt sich ganz anders als sonst, und seine gepreßte Stimme wird zuweilen von einem halberstickten Schluchzen unterbrochen. –

»So schrieb ich denn eine Zeile nach Hause, Mutter, wie du gewiß noch weißt, daß ich mich unter einem andern Namen hatte anwerben lassen, und ging übers Meer. Und dort dachte ich manchmal, ich wollte das nächste Jahr nach Hause schreiben, wenn ich eine bessere Stellung haben würde, und wie das Jahr vorüber war, verschob ich es wieder aufs nächste. Und so ging es eine Dienstzeit von zehn Jahren fort, bis ich älter zu werden und mich zu fragen begann, warum ich überhaupt noch schreiben sollte.«

»Ich will dich nicht tadeln, Kind, aber hättest du mir nicht dadurch die Sorgen vom Herzen genommen, George? Hättest du nicht ein Wort an deine dich liebende Mutter, die doch auch älter wurde, schreiben können?«

Das schmettert den Kavalleristen von neuem nieder; aber er bezwingt sich mit einem lauten kräftigen Räuspern.

»Der Himmel verzeihe mir, Mutter, aber ich glaubte damals, es sei kein besonderer Trost, etwas von mir zu hören. Du warst geachtet und geehrt, und mein Bruder, wie ich aus einigen Zeitungen aus dem Norden, die mir zufällig in die Hand kamen, erfuhr, reich und berühmt geworden. Und was war ich dagegen? Ein Dragoner, herumabenteuernd, ohne Heimat, nicht durch eignes Können zu etwas geworden wie er, sondern durch eignes Tun verdorben – ein Mensch, der alles von sich geworfen, das Wenige, was er gelernt, vergessen und keine neuen Kenntnisse dazu erworben hatte. Wozu sollte ich da Nachricht von mir geben? Wozu konnte es gut sein, nachdem ich die ganze lange Zeit hatte verstreichen lassen? Das Schlimmste lag hinter dir, Mutter. Ich wußte, zum Mann geworden, wie du um mich geklagt und geweint und für mich gebetet haben mußtest. Der Schmerz war vorüber oder gelindert, und in deiner Erinnerung war ich besser als in Wirklichkeit.«

Die Greisin schüttelt bekümmert den Kopf, ergreift seine Hände und legt sie liebreich auf ihre Schultern.

»Nein, ich sage ja nicht, daß es so war, Mutter, aber so stellte ich es mir vor. Ich sagte eben, wem hätte es genützt. Liebe Mutter, nur mir; und darin hätte eben die Gemeinheit für mich gelegen. Du hättest mich aufgesucht, mich losgekauft, mich nach Chesney Wold genommen, meinen Bruder mit seiner Familie zusammengetrommelt, und ihr alle hättet euch den Kopf zerbrochen, wie ihr etwas für mich tun und mich zu einem anständigen Zivilisten machen könntet. Aber wie durftet ihr euch dabei auf mich verlassen, wo ich mich doch selbst nicht einmal auf mich verlassen konnte. Mußte ich nicht in euern Augen ein alter abgetakelter Dragoner, mir selbst eine Last und eine Schmach, außer wenn mich der Zwang in Ordnung hielt, sein? Wie konnte ich meines Bruders Kindern ins Gesicht sehen und ihnen ein Vorbild sein, ich, der weggelaufne Junge, der seiner Mutter das Leben verbittert hat? Nein, George, sagte ich zu mir, Mutter, als ich mir all das überlegte – wie man sich bettet, so liegt man.«

Mrs. Rouncewell richtet ihre stattliche Gestalt in die Höhe und schüttelt mit einem Blick auf Mrs. Bagnet, der von Stolz auf ihren Sohn erfüllt ist, den Kopf, als wollte sie sagen: Habe ich es nicht gewußt? Mrs. Bagnet macht ihren Gefühlen Luft und gibt ihre Teilnahme an der Unterhaltung dadurch zu erkennen, daß sie dem Kavalleristen mit ihrem Regenschirm einen derben Stoß zwischen die Schultern gibt. Das wiederholt sie später noch verschiedne Male und ist vor Rührung und Zärtlichkeit ganz aufgelöst. Nachdem sie sich auf diese Weise in die Unterhaltung gemischt, nimmt sie wieder zu der geweißten Wand und dem grauen Mantel ihre Zuflucht.

»Auf diese Weise machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, Mutter, es sei die beste Buße für mich, so liegen zu bleiben, wie ich mich gebettet hatte, und so dereinst zu sterben. Ich besuchte wohl manches Mal heimlich Chesney Wold und sah dich bei Gelegenheiten, wo du es am wenigsten vermuten konntest, aber es wäre wohl nie zu unserm heutigen Wiedersehen gekommen, wenn nicht die Frau meines alten Kameraden hier doch zu schlau für mich gewesen wäre. Und wir dankbar bin ich Ihnen dafür. Ich danke Ihnen dafür, Mrs. Bagnet, wirklich von ganzem Herzen und von ganzer Seele.«

Mrs. Bagnet antwortet mit einem Doppelstoß ihres Regenschirms.

Und dann bindet die alte Dame ihrem Sohn George, ihrem lieben wiedergewonnenen Herzenskind, ihrer Freude und ihrem Stolz, dem Licht ihrer Augen, mit jedem zärtlichen Namen, den sie für ihn ersinnen kann, auf die Seele, er müsse den besten juristischen Berater annehmen, der sich nur durch Geld und Einfluß verschaffen lasse, müsse in dieser ernsten Lage handeln, wie der Advokat es ihm vorschreibe, und dürfe nicht eigensinnig sein, wenn er auch noch so sehr im Recht sei, und feierlich versprechen, einzig und allein seiner alten Mutter Angst und Kummer zu berücksichtigen, sonst bräche er ihr das Herz.

»Mutter, ich mache wenig genug damit wieder gut«, entgegnet der Kavallerist und schließt ihr mit einem Kuß den Mund. »Sag mir, was ich tun soll, und ich werde, wenn auch spät, anfangen, ein gehorsamer Sohn zu sein. Mrs. Bagnet, Sie werden sich meiner Mutter annehmen, nicht wahr?«

Ein derber Stoß mit dem Regenschirm ist die Antwort der Alten.

»Wenn Sie sie Mr. Jarndyce und Miß Summerson vorstellen, wird sie sich mit ihnen ins Einvernehmen setzen und sich von ihnen Beistand und gewiß den besten Rat holen können…«

»Und dann, George«, unterbricht ihn die alte Dame, »müssen wir auf der Stelle nach deinem Bruder schicken. Er ist ein verständiger tüchtiger Mann, wie man mir allgemein versichert – draußen in der Welt, jenseits von Chesney Wold –, und kann uns sehr von Nutzen sein.«

»Mutter«, entgegnet der Kavallerist, »ist es zu bald, wenn ich dich um etwas bitte?«

»Gewiß nicht, mein Sohn.«

»Dann gewähre mir diese eine große Bitte. Sage meinem Bruder nichts.«

»Was soll ich nicht sagen, mein Sohn?«

»Sage ihm nichts von mir. Wahrhaftig, Mutter, ich könnte es nicht ertragen. Ich kann mich dazu nicht entschließen. Er hat sich so verschieden von mir gezeigt und sich emporgeschwungen, während ich Soldat gespielt habe, daß ich eine frechere Stirn haben müßte, um ihn an diesem Ort, und noch dazu unter der Last meiner Anklage, zu sehen. Wie kann ein Mann wie er auch nur die geringste Freude über ein solches Wiedersehen empfinden? Es ist unmöglich. Nein, Mutter, halte ihm die Sache noch geheim. Erweise mir größere Liebe, als ich verdient habe, und halte von allen Menschen vor meinem Bruder die Sache geheim.«

»Aber doch nicht für immer, lieber George?«

»Vielleicht nicht für immer und ewig, Mutter, wenn mir das auch das liebste wäre, aber jedenfalls behalte es jetzt für dich. Ich bitte dich darum. Wenn er jemals erfahren soll, daß sich sein Galgenstrick von einem Bruder wiedergefunden hat, so möchte ich es ihm am liebsten selber sagen« – verzweifelt schüttelt der Kavallerist den Kopf – »und ich würde vorher sondieren, wie er es aufnehmen würde.«

– Offenbar hat er über diesen Punkt eine so stark vorgefaßte Meinung, daß die Mutter seinen Wunsch erfüllt, zumal ihr Mrs. Bagnets Gesicht denselben Rat gibt. –

Er dankt ihr herzlich.

»In jeder andern Hinsicht, liebe Mutter, will ich so fügsam und gehorsam sein, wie du nur wünschen kannst, bloß auf diesem Punkt möchte ich bestehen. Ich bin sogar auf die Advokaten gefaßt. Ich habe hier«, sagt er mit einem Blick auf die auf dem Tisch liegende Schrift, »einen genauen Bericht über alles aufgesetzt, was ich von dem Verstorbenen weiß, und wieso ich in die ganze unglückliche Geschichte verwickelt worden bin. Es ist einfach und genau eingetragen wie in einem Orderbuch und ohne ein überflüssiges Wort. Ich hatte vor, es geradeso abzulesen, wenn man mich auffordern würde, etwas zu meiner Verteidigung vorzubringen. Ich hoffe, man wird auch jetzt noch nichts dagegen haben, doch ich will in dieser Sache keinen freien Willen mehr haben, und mag da was immer beschlossen und geredet werden, ich verspreche, mich zu fügen.«

Da die Sachen soweit zufriedenstellend abgemacht sind und die Zeit vorrückt, schlägt Mrs. Bagnet vor, zu gehen. Immer und immer wieder wirft sich die Greisin ihrem Sohn um den Hals, und immer und immer wieder drückt sie der Kavallerist an seine breite Brust.

»Wo bringen Sie meine Mutter hin, Mrs. Bagnet?«

»In die Stadtwohnung der Familie, lieber George. Ich habe etwas dort zu tun, was keinen Aufschub duldet«, gibt Mrs. Rouncewell zur Antwort.

»Möchten Sie nicht meine Mutter in einem Wagen dorthin bringen, Mrs. Bagnet? Aber natürlich tun Sie’s. Warum frage ich noch.«

»Natürlich«, gibt ihm Mrs. Bagnet mit dem Regenschirm zu verstehen.

»Nehmen Sie sie mit, alte Freundin, und meine Dankbarkeit dazu. Und Küsse für Quebec und Malta und herzliche Grüße meinem Patenkind und einen freundschaftlichen Händedruck für Lignum. Und das für Sie. Und ich wollte, es wären zehntausend Pfund in Gold.« Mit diesen Worten drückt der Kavallerist seine Lippen auf die sonnenverbrannte Stirn der Alten, und die Türe seiner Zelle fällt wieder ins Schloß.

Kein Bitten der guten alten Haushälterin kann Mrs. Bagnet bewegen, die Droschke zu behalten und nach Hause zu fahren. Sie steigt vor der Tür des Palais fröhlich aus, begleitet Mrs. Rouncewell die Stufen hinauf, schüttelt ihr zum Abschied die Hand und marschiert fort. Bald darauf taucht sie wieder inmitten der Bagnet-Familie auf und fängt an, Gemüse zu waschen, als ob nichts geschehen wäre.

Mylady befindet sich in dem Zimmer, wo sie ihre letzte Unterredung mit dem Ermordeten hatte. Sie sitzt an derselben Stelle wie damals und blickt auf den Kamin, vor dem er stand und sie in aller Muße studierte. Da klopft es an die Tür.

»Wer ist da« ?

»Mrs. Rouncewell.«

»Was hat Sie unerwartet in die Stadt geführt, Mrs. Rouncewell?«

»Sorgen, Mylady, Schwere Sorgen. Ach, Mylady, dürfte ich ein Wort allein mit Ihnen sprechen?« Was ist denn schon wieder geschehen? Was macht diese sonst so ruhige Alte so zittern?

»Was gibt es denn? Setzen Sie sich und erholen Sie sich ein wenig.«

»Ach, Mylady, Mylady! Ich habe meinen Sohn gefunden – meinen Jüngsten, der vor langen, langen Jahren unter die Soldaten ging. Und er ist im Gefängnis.«

»Wegen Schulden?«

»Ach nein, Mylady. Ich hätte jede Schuld mit Freuden bezahlt.«

»Weshalb ist er denn dann im Gefängnis?«

»Eines Mordes beschuldigt, Mylady, an dem er so unschuldig ist wie – ich selbst –, angeklagt, Mr. Tulkinghorn ermordet zu haben.«

– Was will sie mit diesem Blick und diese flehentlichen Gebärde? Warum tritt sie so nahe heran. Was hat der Brief in ihrer Hand zu bedeuten? –

»Lady Dedlock, meine liebe Lady, meine gütige Lady, Sie müssen ein Herz haben, um mit mir zu fühlen, Sie müssen ein Herz haben, um mir zu verzeihen. Ich war in diesem Hause lange, ehe Sie geboren wurden. Ich hänge so daran. Aber denken Sie an meinen lieben, unschuldig angeklagten Sohn.«

»Aber ich klage ihn doch nicht an!«

»Nein, Mylady, nein. Aber andre. Und er ist im Gefängnis und in großer Gefahr. – Ach, Lady Dedlock, wenn Sie nur ein Wort für ihn sprechen können, sprechen Sie es.«

– In welchem Wahn mag sie leben? Welche Macht schreibt sie Mylady zu, das Unrecht, wenn es ein solches ist, abwenden zu können, daß sie sie so anblickt? Lady Dedlocks schöne Augen sehen sie mit Staunen, fast mit Furcht an. –

»Mylady, ich verließ gestern abend Chesney Wold, um meinen Sohn als bejahrten Mann wiederzufinden, und die Schritte auf dem Geisterweg klangen so unausgesetzt und feierlich, wie ich sie in all den langen Jahren noch nie gehört habe. Abend für Abend, wenn es dunkel geworden war, schritt es durch Ihre Zimmer, aber vorige Nacht klang es am grauenhaftesten, und mit Dunkelwerden gestern abend, Mylady, bekam ich diesen Brief.«

»Was für einen Brief denn?«

»Still, still!« Die Haushälterin sieht sich um und flüstert erschrocken: »Mylady, ich habe niemand ein Wort davon gesagt. Ich glaube nicht, was darin steht. Ich weiß, daß es nicht wahr sein kann. Wahrhaftig und wirklich, ich bin fest überzeugt, daß es nicht wahr ist. Aber mein Sohn schwebt in größter Gefahr. Haben Sie Mitleid mit mir. Wenn Sie etwas wissen, was andern nicht bekannt ist, wenn Sie einen Verdacht haben, oder eine Vermutung und einen Grund, es für sich zu behalten, o liebe gütige Mylady, denken Sie an mich, vergessen Sie diesen Grund und sagen Sie es. Mehr halte ich ja nicht für möglich. Ich weiß, Sie sind nicht hartherzig, aber Sie gehen immer Ihre eignen Wege, ohne jemandes Hilfe, und vertrauen sich Freunden nie an, und alle, die Sie als schöne und vornehme Dame bewundern, wissen, daß Sie hoch über ihnen stehen und daß man Ihnen nicht nahe kommen darf. Mylady, Sie haben vielleicht aus Stolz Gründe, zu verschweigen, was Sie wissen, und wenn das der Fall ist, so bitte ich Sie, denken Sie an eine treue Dienerin, die ihr ganzes Leben in diesem Hause, das sie so hoch und teuer hält, zugebracht hat; haben Sie Erbarmen und helfen Sie meinem Sohn von diesem schrecklichen Verdacht. Ach, Mylady, meine gute gnädige Lady«, fleht die alte Haushälterin in ihrer Schlichtheit. »Meine Stellung ist so bescheiden und niedrig, und Sie stehen so hoch und so weit über mir, daß Sie vielleicht nicht wissen, was ich für mein Kind fühle, aber ich bin hierher gekommen, um Sie zu bitten und anzuflehen, mir nicht zu zürnen, daß ich so kühn bin, Sie zu bitten, uns in dieser furchtbaren Zeit zu Recht und Gerechtigkeit zu verhelfen.«

Lady Dedlock hebt sie vom Boden auf, ohne ein Wort zu sagen. Dann nimmt sie ihr den Brief aus der Hand.

»Soll ich das lesen?«

»Wenn ich fort bin, Mylady, wenn ich Sie bitten dürfte. Und bedenken Sie, daß ich kein Wort davon glaube. Nur was ich Ihnen gesagt habe, halte ich für möglich.«

»Aber ich wüßte nicht, was ich tun könnte. Ich halte nichts geheim, was Ihrem Sohn nützen könnte! Ich habe ihn nie beschuldigt!«

»Mylady, dann werden Sie ihn als unschuldig Angeklagten nur um so mehr bemitleiden, nachdem Sie den Brief gelesen haben.«

– Die alte Haushälterin verläßt das Zimmer, und Mylady hält den Brief in der Hand. Sie ist von Natur gewiß nicht hartherzig, und es hat eine Zeit gegeben, wo der Anblick der ehrwürdigen Greisin, die sie mit so innigem Ernst anflehte, sie bis zu tiefem Mitleid gerührt hätte. Aber sie ist so lange gewöhnt, Gemütsbewegung niederzuhalten, ist so lange ihrer selbst wegen in die verderbliche Schule gegangen, die die natürlichen Gefühle des Herzens luftdicht absperrt, wie der Bernstein die Mücken, das Gute und das Schlechte, Gefühl und Gefühllosigkeit, Einsicht und Unvernunft mit einem Firnis überzieht, daß sie sogar ihr Staunen bis jetzt unterdrückt hat. –

Sie öffnet den Brief. Er enthält einen gedruckten Befund des Toten, wie er, mit dem Gesicht auf dem Boden, mitten durch das Herz geschossen, dagelegen hat, und darunter steht ihr Name und dabei das Wort »Mörderin« geschrieben.

Er sinkt ihr aus den Händen. Wie lange er auf dem Teppich gelegen haben mag, weiß sie nicht, aber er liegt noch auf der Stelle, wo er hingefallen ist, als ein Bedienter vor ihr steht und den jungen Mann namens Guppy anmeldet. Wahrscheinlich hat der Bediente die Worte schon mehrere Male wiederholt, denn sie klingen ihr noch in den Ohren, ehe sie sie verstehen kann.

»Lassen Sie ihn eintreten.«

Er tritt ein. Sie hat den Brief vom Boden aufgehoben und versucht ihre Gedanken zu sammeln. In Mr. Guppys Augen ist sie dieselbe Lady Dedlock in derselben erkünstelten stolzen kalten Unnahbarkeit wie immer.

»Euer Gnaden werden vielleicht den abermaligen Besuch einer Person, die Ihnen niemals willkommen gewesen ist, nicht zu entschuldigen geneigt sein, aber ich hoffe, wenn ich der Allergnädigsten meine Beweggründe auseinandersetze, wird sie mich nicht tadeln«, sagt Mr. Guppy.

»Sprechen Sie!«

»Ich danke Euer Gnaden. Ich hätte zuerst gleich erwähnen sollen« –Mr. Guppy sitzt verlegen auf der Kante des Stuhles und stellt seinen Hut vor sich auf den Teppich – »daß Miß Summerson, deren Bild, wie ich seinerzeit gegen die Allergnädigste erwähnte, einstmals tief in mein Herz eingegraben war, bis Umstände, über die ich keine Gewalt hatte, es zerstörten, mir mitteilte, sie wünsche dringend, ich möchte keine weiteren Schritte in irgendeiner sie betreffenden Angelegenheit tun. Und da mir Miß Summersons Wunsch Befehl ist, außer wenn er sich auf Verhältnisse bezöge, über die ich keine Gewalt habe, so erwartete ich natürlich niemals wieder, die ausgezeichnete Ehre zu haben, der Allergnädigsten meine Aufwartung machen zu dürfen.«

»Und dennoch sind Sie wieder hier«, unterbricht ihn Lady Dedlock ärgerlich.

»Und dennoch bin ich jetzt hier«, gibt Mr. Guppy zu. »Meine Absicht ist, Euer Gnaden unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitzuteilen, warum ich hier bin.«

Mylady bedeutet dem jungen Mann, daß er sich nicht einfach und kurz genug fassen könne.

»Auch ich«, entgegnet Mr. Guppy ein wenig verletzt, »kann die Allergnädigste nicht angelegentlich genug ersuchen, fest im Auge zu behalten, daß mich kein persönliches Interesse herführt. Wenn mein Miß Summerson gegebenes Versprechen nicht wäre, und meine Verpflichtung, es zu halten, würde ich die Schwelle dieses Hauses wahrhaftig nicht wieder betreten haben.«

– Mr. Guppy hält den Augenblick für günstig, sich mit beiden Händen in das Haar zu fahren, so daß es kerzengerade in die Höhe steht. –

»Euer Gnaden werden sich vielleicht erinnern, daß ich bei meinem letzten Hiersein mit einer in unsern Berufskreisen hoch angesehenen Person, deren Verlust wir alle beklagen, zusammengetroffen bin. Diese Person unterließ von dieser Zeit an nichts, gegen mich auf eine Weise zu verfahren, die man geradezu hart nennen muß, und ließ mich ununterbrochen befürchten, ich könne unwissentlich vielleicht doch Miß Summersons Wünschen zuwider gehandelt haben. Eigenlob ist keine Empfehlung, aber ich möchte immerhin betonen, daß ich auch gerade kein schlechter Geschäftsmann bin.«

Lady Dedlock sieht fragend und streng auf. Mr. Guppy wendet augenblicklich seinen Blick von ihrem Gesicht.

»Es war mir in der Tat so schwer«, fährt er fort, »auch nur eine Ahnung von dem zu haben, was diese gewisse Person im Verein mit andern vorhatte, daß ich bis zu dem Verlust, den wir alle so sehr beklagen, ganz ‚aufgeschmissen‘ war – ein Ausdruck, den die Gnädigste, die sich in höheren Kreisen bewegt, dahin auslegen möge, daß mir der Verstand stillstand. Auch Small – ein Name, der eine andre beteiligte Person bezeichnet –, einer meiner Freunde – Euer Gnaden kennen ihn nicht –, benahm sich mir gegenüber so versteckt und doppelzüngig, daß es einem nicht leicht wurde, sich nicht an den Kopf zu greifen. Jedoch ist es mir endlich mit Aufgebot aller meiner bescheidenen Fähigkeiten und mit Hilfe eines gemeinsamen Freundes von hocharistokratischer Gesinnung namens Tony Weevle, der in seinem Zimmer beständig das Portrait der gnädigen Frau vor Augen hat, gelungen, auf eine Spur zu kommen, die mich veranlaßt, Euer Gnaden zu warnen.

Zuvörderst erlaube mir nun die Allergnädigste zu fragen, ob sie nicht heute morgen einen etwas ungewöhnlichen Besuch gehabt hat. Ich meine nicht Besuch aus der vornehmen Welt, sondern zum Beispiel von der alten Dienerin Miß Barbarys, oder einer Person, deren untere Gliedmaßen gelähmt sind und die auf einem Stuhl die Treppe hinaufgetragen werden muß?«

»Nein.«

»Dann kann ich Euer Gnaden die Versicherung geben, daß solche Personen hier gewesen und empfangen worden sind. Ich habe sie an der Tür gesehen und an der Ecke des Platzes gewartet, bis sie wieder herauskamen. Ich habe einen Umweg von einer halben Stunde machen müssen, um ihnen nicht zu begegnen.«

»Was geht das mich an, oder was haben Sie damit zu tun? Ich verstehe Sie nicht. Was wollen Sie eigentlich?«

»Euer Gnaden, ich komme, um Sie zu warnen. Es ist vielleicht keine Veranlassung dazu. Nun gut; dann habe ich nur mein möglichstes getan, Miß Summerson gegenüber mein Versprechen zu halten. Ich hege starken Verdacht – nach dem, was Small hat fallen lassen und was wir aus ihm herausgekorkziehert haben –, daß die Briefe, die ich seinerzeit Euer Gnaden versprach, bei der bewußten Gelegenheit nicht mitverbrannt sind und ihr Inhalt, wenn er überhaupt etwas zu verraten hat, bereits verraten ist. Der Besuch, von dem ich gesprochen habe, war diesen Morgen hier, um Geld aus der Sache herauszuschlagen. Vielleicht ist es schon geschehen, oder es steht etwas dergleichen bevor.«

Mr. Guppy nimmt seinen Hut und steht auf.

»Euer Gnaden werden am besten wissen, ob das alles von Belang ist oder nicht. So oder so, jedenfalls habe ich Miß Summersons Wunsch, der Sache ihren freien Lauf zu lassen und das, was ich bereits darin getan, so gut wie möglich rückgängig zu machen, befolgt, und das genügt mir. Falls ich mir damit eine Freiheit herausgenommen haben sollte, Euer Gnaden überflüssigerweise gewarnt zu haben, so bitte ich, meine Anmaßung nicht übel auffassen zu wollen.

Ich verabschiede mich jetzt von Euer Gnaden mit der Versicherung, daß die Allergnädigste in keinem Fall wieder durch einen Besuch von mir belästigt werden wird.«

Mylady nimmt die Abschiedsworte kaum durch einen Blick zur Kenntnis; aber als Mr. Guppy eine kleine Weile fort ist, klingelt sie.

»Wo ist Sir Leicester?«

Der Merkur berichtet, daß er sich gegenwärtig in der Bibliothek eingeschlossen habe.

»Hat Sir Leicester diesen Morgen Besuch gehabt?«

»Verschiedene. Vermutlich geschäftliche.« Der Merkur will die Personen beschreiben…

Genug. Er kann gehen. So! Also alles verloren. Ihr Name geht von Mund zu Mund, ihr Gatte kennt ihre Schuld; ihre Schande wird publik werden – ist es vielleicht jetzt schon, während sie noch daran denkt; und außer diesem von ihr so lang vorausgesehenen und von ihrem Gatten so wenig geahnten Schlag klagt sie eine unsichtbare Hand der Ermordung Tulkinghorns – ihres Todfeindes – an.

Ja, er war ihr Feind, und wie oft, wie oft, wie oft hat sie sich gewünscht, er sei tot!

Ihr Feind ist er selbst jetzt noch in seinem Grabe.

Die schreckliche Anklage trifft sie wie eine neue Marter von seiner leblosen Hand. Und wie sie bedenkt, daß sie an jenem Abend in aller Stille an seiner Türe war, bedenkt, wie man den Umstand, daß sie kurz vorher ihre Lieblingszofe fortgeschickt hat, so auslegen könnte, als wollte sie sich jeder möglichen Beobachtung entziehen, schaudert sie. Sie glaubt, die Hand des Henkers bereits an ihrem Halse zu fühlen.

Dann hat sie sich auf den Boden geworfen und liegt da, das Haarwild zerrauft und das Gesicht in die Kissen des Sofas vergraben. Sie steht auf, rast in der Stube auf und ab und wiegt sich stöhnend hin und her und ächzt. Ein namenloses Entsetzen hat sich ihrer bemächtigt. Wenn sie wirklich die Mörderin wäre, könnte es kaum schrecklicher sein.

Was ist jetzt sein Tod anderes als die Beseitigung des Schlußsteins eines vom Einsturz bedrohten Gewölbes?! In tausend Trümmer fällt der Bogen, und jedes einzelne Stück zermalmt und zerschmettert sie.

Es bemächtigt sich ihrer das schreckliche Gefühl, daß es vor diesem Verfolger, lebendig oder ermordet, keine Rettung mehr gibt als den Tod. Unerbittlich und unnahbar steht der Tote vor ihr in der Gestalt, die sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben hat, unnahbarer noch im Sarg als im Leben.

Fort, nur fort! Scham, Angst, Reue und Jammer in schrecklichem Zusammenwirken werfen sie zu Boden, und selbst ihre starke Seele wird im Wirbel fortgerissen wie ein Blatt im Sturmwind. Hastig schreibt sie ein paar Zeilen an ihren Gatten, versiegelt sie und legt sie auf den Tisch.

»Wenn man mich sucht oder des Mordes anklagt, so seien Sie überzeugt, daß ich daran keine Schuld trage. In einer andern Sache, die man mir zur Last legt oder legen wird, verteidige ich mich nicht. An jenem verhängnisvollen Abend teilte er mir mit, daß er Ihnen meine Schuld enthüllen werde. Als er mich verlassen hatte, ging ich aus, unter dem Vorwand, im Garten spazieren gehen zu wollen, in Wirklichkeit, um ihn aufzusuchen und ihn anzuflehen, er möge der schrecklichen Ungewißheit, mit der er mich – Sie wissen nicht, wie lange schon – gefoltert hat, ein Ende machen und so barmherzig sein, am nächsten Morgen den Schlag zu führen. Ich fand seine Wohnung dunkel und still. Ich klingelte zwei Mal an seiner Tür, aber es antwortete niemand, und ich ging wieder nach Hause.

Ich habe kein Heim mehr. Ich werde Ihnen nicht mehr lästig fallen. Mögen Sie in Ihrem gerechten Zorn imstande sein, die Unwürdige zu vergessen, an die Sie Hochherzigkeit und Liebe verschwendet haben und die Sie mit einem Schamgefühl meidet, noch tiefer als das, mit dem sie vor sich selbst fliehen möchte, und Ihnen jetzt dieses letzte Lebewohl schreibt.«

Sie kleidet sich rasch an, verschleiert sich, läßt alle ihre Juwelen und ihr Geld zurück, horcht und geht in dem Augenblick, wo die Vorhalle gerade leer ist, die Treppe hinunter und eilt hinaus in den pfeifenden kalten Wind.

Der Brief und die Antwort


Der Brief und die Antwort

Mein Vormund rief mich am nächsten Morgen in sein Zimmer, und ich erzählte ihm alles, was ich ihm gestern abend noch nicht hatte ausführlich auseinandersetzen können.

Man könne weiter nichts tun, meinte er, als das Geheimnis zu bewahren und einem zweiten Zusammentreffen wie dem gestrigen auszuweichen. Er verstand meine Gefühle, teilte ganz meine Ansicht und übernahm es sogar, Mr. Skimpole abzuhalten, die Bekanntschaft fortzusetzen. Einer Person, die er mir nicht zu nennen brauche, Rat oder Hilfe zu erteilen, sei er jetzt leider außerstande. Er wünschte, es wäre anders. Aber leider sei es unmöglich. Wenn der Argwohn gegen den Advokaten, von dem sie gesprochen, begründet sei, woran er kaum zweifle, so fürchte er Entdeckung. Er kenne ihn flüchtig vom Sehen und auch seinem Rufe nach und glaube fest, er sei ein höchst gefährlicher Mensch. Und wiederholt stellte er mir mit fürsorglicher Güte und Liebe vor Augen, was auch immer geschehen möge, ich sei so unschuldig daran wie er selbst und nicht imstande, auch nur den geringsten Einfluß auf den Verlauf dieser Angelegenheit auszuüben.

»Übrigens, was deine Person anbelangt, sehe ich nicht, wie sich auch nur der leiseste Argwohn auf dich lenken sollte, mein Kind«, sagte er. »Der Verdacht kann auch ohne diesen Zusammenhang groß genug sein.«

»Ja, bei dem Advokaten«, wendete ich ein. »Aber es sind noch zwei andre Personen da, an die ich immerwährend denken muß.«

Und ich erzählte ihm die ganze Geschichte von Mr. Guppy, der, wie ich fürchtete, bereits damals, als ich noch gar nicht recht wußte, was er eigentlich wollte, gewisse unbestimmte Vermutungen gehabt haben mußte. Allerdings glaubte ich mich seit unsrer letzten Zusammenkunft fest auf seine Verschwiegenheit verlassen zu dürfen.

»Gut«, sagte mein Vormund. »Dann können wir ihn vorderhand beiseite lassen. Aber wer ist die andre Person?«

Ich erinnerte ihn an die französische Zofe und ihren damals so leidenschaftlich vorgebrachten Wunsch, bei mir in Dienst zu treten.

»Hm!« sagte er nachdenklich. »Sie ist mehr zu fürchten als der Schreiber. Aber vielleicht suchte sie wirklich nur einen neuen Dienst bei dir, liebes Kind. Sie hatte dich und Ada damals eben erst gesehen, und es ist ganz natürlich, daß sie auf dich verfiel. Sie bot sich dir als Zofe an und wollte vielleicht nichts weiter.«

»Ihr Benehmen war höchst merkwürdig«, wendete ich ein.

»Ja, und ebenso sonderbar war es, daß sie damals die Schuhe auszog und soviel Genuß an einem kühlen Spaziergang fand, bei dem sie sich hätte den Tod holen können«, gab mein Vormund zu. »Aber es wäre ein nutzloses Kopfzerbrechen, über solche Zufälligkeiten und Möglichkeiten nachzudenken. Der harmloseste Umstand kann, so betrachtet, die gefährlichsten und bedeutungsvollsten Formen annehmen. Sei guten Mutes, kleines Frauchen! Bleib so, wie du warst, ehe du das Geheimnis wußtest, das ist das Beste, was du im Interesse aller tun kannst. Da ich Mitwisser deines Geheimnisses bin –«

»– und es mir dadurch tragen hilfst, Vormund –«

»– so werde ich ein aufmerksames Auge auf das haben, was in der Familie vorgeht, soweit ich dazu hier von meinem entfernten Standpunkt aus imstande bin. Und wenn die Zeit kommen sollte, wo ich eine Hand ausstrecken kann, um auch nur den kleinsten Dienst derjenigen zu leisten, deren Namen selbst hier auszusprechen nicht ratsam sein dürfte, so werde ich es schon ihrer lieben Tochter wegen nicht verabsäumen.«

Ich dankte ihm von ganzem Herzen. Was konnte ich mehr tun, als ihm danken! Ich wollte das Zimmer verlassen, aber er bat mich, noch einen Augenblick zu bleiben. Ich drehte mich rasch um, und wieder sah ich denselben Ausdruck auf seinem Gesicht. – Und auf ein Mal, ich weiß nicht, wie, leuchtete es mir wie eine neue und weit in der Ferne liegende Möglichkeit ein, daß ich ihn vielleicht doch verstünde.

»Meine liebe Esther, ich habe lange etwas auf dem Herzen gehabt, was ich dir gern gesagt hätte.«

»Was ist es denn?«

»Es ist mir recht schwer geworden, davon anzufangen, und es wird mir immer noch schwer. Ich möchte, daß es mit Überlegung gesagt und mit ebensolcher Überlegung überdacht würde. Hast du etwas dagegen, wenn ich es dir schreibe?«

»Lieber Vormund, wie könnte ich etwas dagegen haben, daß du mir etwas schreibst.«

»Dann sag mir, meine Liebe, erscheine ich in diesem Augenblick ebenso klar und unbefangen, ehrlich und altmodisch wie zu jeder andern Zeit?«

»Vollkommen«, antwortete ich mit allem Ernst und streng der Wahrheit gemäß, denn sein Zaudern hatte keine Minute gedauert, und sein schönes herzliches offnes Wesen war wiedergekehrt.

»Sehe ich aus, als ob ich etwas verhehlte, etwas andres meinte, als ich sage, oder einen geheimen Vorbehalt hätte, welcher Art er auch immer sei?« fragte er und heftete seine hellen klaren Augen auf mich.

»Ganz und gar nicht.«

»Kannst du mir ganz vertrauen, und glaubst du dich vollständig auf das, was ich beteuere, verlassen zu können, Esther?«

»Vollkommen und ganz«, sagte ich aus tiefstem Herzen heraus.

»Liebes Kind, gib mir deine Hand.«

Er nahm sie, zog sie durch seinen Arm und sah mit derselben natürlichen Frische und Treuherzigkeit auf mich herab, mit der alten väterlichen Weise, die mich damals in einem Augenblick in seinem Hause mich hatte heimisch fühlen lassen, und sagte:

»Du hast gewisse Veränderungen in mir hervorgebracht, kleines Frauchen, seit jenem Wintertag in der Landkutsche. Vom ersten bis zum letzten Tag seit jener Zeit hast du mir unendlich viel Gutes getan.«

»Ach, Vormund, was hast du erst für mich alles getan!«

»Daran«, wehrte er ab, »darf jetzt nicht gedacht werden.«

»Ich kann es aber nie vergessen.«

»Esther«, sagte er mit sanftem Ernst, »es muß aber jetzt vergessen werden. Eine Weile wenigstens vergessen werden. Du sollst jetzt nur daran denken, daß nichts, was auch kommen mag, mich anders machen kann, als ich dir je erschienen bin. Bist du davon felsenfest überzeugt, liebes Kind?«

»Ja, felsenfest.«

»Dann ist es gut. Weiter wünsche ich nichts. Aber trotzdem darf ich das nicht auf ein Wort hin glauben. Ich will das, woran ich denke, dir nicht eher schreiben, als bis du dir auch innerlich ganz klar darüber bist, daß mich nichts anders machen kann, als wie du mich kennst. Wenn du im mindesten daran zweifelst, so schreibe ich nie. Wenn du aber nach reiflicher Überlegung noch immer davon überzeugt sein wirst, so schicke Charley heute in acht Tagen am Abend zu mir – ‚wegen des Briefes‘. Aber bist du deiner Sache nicht ganz gewiß, dann schicke sie nie. Bedenke, ich verlasse mich auf deine Wahrhaftigkeit in diesem wie in allen andern Punkten. Also wenn du dir über diesen einen Punkt nicht ganz klar bist, so schicke sie nicht.«

»Vormund«, sagte ich, »ich bin mir darüber vollständig klar. Diese Überzeugung kann sich in mir ebensowenig mehr ändern, als du jemals gegen mich anders werden könntest. Ich werde Charley um den Brief schicken.«

Er schüttelte mir die Hand und sagte weiter kein Wort. Auch während der ganzen Woche berührte er das Gespräch nicht mit einer Silbe.

Als der festgesetzte Abend kam, sagte ich zu Charley, als ich mich zurückgezogen hatte: »Geh und klopfe an Mr. Jarndyces Tür und sage, du kämst von mir wegen des Briefes.«

Charley ging die Treppen hinauf und die Treppen hinab und die Gänge entlang, und der Zickzackweg durch das altmodische Haus erschien meinen lauschenden Ohren diesen Abend unendlich lang zu dauern. Dann kam sie zurück, die Gänge entlang, die Treppen herunter, die Treppen herauf, und brachte den Brief.

»Lege ihn auf den Tisch, Charley«, sagte ich.

Und Charley legte ihn auf den Tisch und ging zu Bett. Ich setzte mich hin und sah das Schreiben an, ohne es in die Hand zu nehmen, und mancherlei ging mir durch den Kopf.

Ich durchlebte im Geiste die Zeit meiner umdüsterten Kindheit bis zu dem schweren Tag, wo meine Tante, das entschloßne Gesicht so kalt und starr, als Leiche dalag und ich bei Mrs. Rachael einsamer war, als hätte ich gar niemand auf der Welt gehabt, um mit ihm ein Wort oder einen Blick zu tauschen. Ich ging zu den anders gewordnen Tagen über, wo ich so glücklich war, überall um mich herum Freunde zu finden und von ihnen geliebt zu werden. Dann kam die Zeit, wo ich das erste Mal meinen Liebling sah und sie mich mit der schwesterlichen Liebe umfing, die den Glanz und die Schönheit meines Lebens bildete. Ich erinnerte mich an den ersten freundlichen Willkommensschimmer, der in der kalten hellen Nacht unsrer Ankunft aus diesen selben Fenstern hier auf unsre erwartungsvollen Gesichter gefallen und seit jener Zeit nie blasser geworden war. Noch einmal lebte ich mein ganzes glückliches Leben hier durch, meine Krankheit und meine Genesung, und mußte daran denken, wie verändert ich war und wie unverändert alle rings um mich. Und all dieses Glück strahlte wie ein Licht von einem Mittelpunkte aus. Von demselben, der mir dieses Briefchen hier auf dem Tisch geschickt.

Ich öffnete es und las es. Er war so eindringlich in seiner Liebe zu mir, und seine uneigennützigen Warnungen und die rücksichtsvolle Zartheit in jedem Wort machten, daß meine Augen sich zu oft verschleierten, als daß ich lange Zeit hintereinander hätte fortlesen können. Aber ich las den Brief drei Mal durch, ehe ich ihn hinlegte. Ich hatte schon vorher geglaubt, seinen Inhalt ahnen zu können, und sah mich nicht getäuscht.

Er fragte mich, ob ich die Herrin von Bleakhaus werden wollte.

Es war kein Liebesbrief, obgleich sich so unendlich viel Liebe darin aussprach. Er lautete ganz so, wie er selbst zu mir gesprochen haben würde. Ich sah sein Gesicht vor mir und hörte seine Stimme und fühlte den Einfluß seines väterlichen Wohlwollens in jeder Zeile. Er sprach zu mir, als ob unsre Stellung zueinander umgekehrt wäre; als ob alle guten Taten von mir herrührten und alle Dankesempfindungen, die sie hervorgerufen, nur in ihm lebten. Er stellte mir vor, wie jung ich sei, während er die Blüte der Jahre überschritten habe –, sagte, er stehe im reifen Alter und ich sei noch ein Kind –; er schreibe an mich als ergrauter Mann und wisse alles das so gut, daß er mich bäte, reiflich mit mir zu Rate zu gehen. Er schrieb, ich würde durch eine solche Ehe nichts gewinnen; und nichts verlieren, wenn ich sie zurückwiese. Kein neues Band könne seine Liebe zu mir vermehren, und er werde meine Handlungsweise billigen, möge mein Entschluß ausfallen so oder so. Er habe sich seit unsrer letzten vertraulichen Besprechung den Schritt nochmals reiflich überlegt und sich entschlossen, ihn zu tun, und wenn auch nur, um mir in einem kleinen Beispiel zu zeigen, daß sich die ganze Welt gern vereinigen würde, um die düstre Prophezeiung meiner Kindheit zunichte zu machen. – Ich könne nicht ahnen, wie glücklich ich ihn machen würde, aber davon wollte er weiter nicht sprechen. Ich solle stets im Auge behalten, daß ich ihm nichts schulde, sondern daß er im Gegenteil mein Schuldner in jeder Hinsicht sei.

Er hätte oft an unsre Zukunft gedacht, wohl wissend, daß die Zeit kommen werde – leider nur zu bald –, wo Ada mündig sein und uns verlassen werde und unsre gegenwärtige Lebensweise aufhören müsse. Deshalb hätte er sich gewöhnt, über seinen jetzigen Antrag nachzudenken, und deshalb mache er ihn jetzt. Wenn ich fühlte, ich könnte ihm überhaupt jemals das beste Recht, mein Beschützer zu sein, geben, und glaubte, die in Wahrheit geliebte Gefährtin seines noch übrigen Lebens werden und dabei glücklich sein zu können, erhaben über alle kleinen Zufälle und Veränderungen außer den Tod, selbst dann sollte ich mich nicht unauflöslich binden, solange mir der Brief noch so neu sei –, selbst dann müßte ich reichlich Zeit zur Überlegung haben. In diesem oder dem entgegengesetzten Fall wünsche er das alte Verhältnis, den alten ungezwungnen Ton und den Namen, den ich ihm von Anfang an gegeben, beibehalten zu sehen. Was sein munteres Mütterchen Spinnweb als kleine Wirtschafterin beträfe, so würde sie, wie er wisse, immer dieselbe bleiben.

Das war so der wesentliche Inhalt des Schreibens. Aus jedem Wort sprach ein Gerechtigkeitsgefühl, als wäre er nur ein verantwortlicher Vormund, der mir ganz unparteiisch den Vorschlag eines Freundes mitteilte und selber alle dagegen sprechenden Punkte mir vor Augen stellte.

Was er mir aber nicht verriet, war, daß er schon dieselbe Absicht hatte, als ich noch hübscher ausgesehen, davon aber abgestanden war, daß er jetzt, wo mein Gesicht verunstaltet war, mich noch ebenso lieben konnte wie in den Tagen meiner Schönheit. Auch daß die Entdeckung der Umstände meiner Geburt keinen nachteiligen Eindruck auf ihn gemacht habe, verschwieg er mir.

Aber ich wußte es, ich wußte es jetzt gar wohl. Am Schluß seines Briefes kam es über mich, und ich fühlte, daß mir nur ein Weg übrig blieb. Mein Leben seinem Glück zu widmen, war ein armseliger Dank. Und hatte ich mir neulich nachts etwas anderes gewünscht, als etwas zu finden, wie ich ihm danken könnte?!

Dennoch weinte ich sehr viel, nicht bloß aus der Überfülle meines Herzens heraus, nicht bloß wegen der Neuartigkeit der Aussicht, denn sie war neu und befremdend, obgleich ich keinen andern Inhalt erwartet hatte –, sondern, als ob etwas, für das ich keinen Namen und von dem ich keinen deutlichen Begriff hatte, nun für immer für mich verloren sei. Ich war sehr glücklich, sehr dankbar und hoffnungsfreudig, aber ich mußte heiße Tränen weinen.

Ich wagte mich vor meinen alten Spiegel. Meine Augen waren rot und geschwollen, und ich sagte: »Esther, Esther, bist du das wirklich?« Ich fürchtete, das Gesicht im Spiegel wolle bei diesem Vorwurf wieder zu weinen anfangen, aber ich hielt meinen Finger in die Höhe, und es bezwang sich.

»So! Das ist dem gefaßten Aussehen, mit dem du mich tröstetest, als du mir die große Veränderung damals nach der Krankheit zeigtest, ähnlicher«, sagte ich, indem ich mein Haar löste. »Wenn du erst die Hausfrau hier bist, mußt du so fröhlich sein wie ein Vogel. Du mußt überhaupt immer fröhlich sein, und deshalb wollen wir jetzt damit gleich ein für alle Mal anfangen.«

Ich löste mir vollends das Haar. Ich mußte noch ein wenig schluchzen, aber bloß weil ich geweint hatte, sonst war ich wieder ganz gefaßt und ruhig.

»Also, liebe Esther, du bist jetzt für dein ganzes Leben glücklich. Glücklich unter deinen besten Freunden, glücklich in dem gewohnten heimischen Haus, glücklich in der Möglichkeit, viel Gutes tun zu können, und unverdient glücklich, von dem besten aller Menschen geliebt zu werden.«

Dann dachte ich mir, was ich wohl gefühlt und getan haben würde, wenn mein Vormund eine andre geheiratet hätte. Wie so ganz anders wäre da alles gewesen! Mein Leben stellte sich mir bei dem Gedanken daran in einer so neuen Form und so inhaltsleer dar, daß ich mit meinen Wirtschaftschlüsseln klingelte und sie freudig küßte, bevor ich sie wieder in das Körbchen zurücklegte.

Dann, während ich mir das Haar vor dem Spiegel für die Nacht aufsteckte, dachte ich daran, wie oft ich mir schon vorgehalten hatte, daß die tiefen Spuren, die meine Krankheit zurückgelassen, und die Umstände meiner Geburt nur neue Gründe für mich wären, sehr, sehr, sehr tätig zu sein und mich liebenswürdig und dienstfertig zu erweisen in jeder Hinsicht. Das wäre jetzt so die richtige Zeit gewesen, sich betrübt hinzusetzen und zu weinen! Und war es so sonderbar, was jetzt werden sollte? Und warum sollte es sonderbar sein? Andre Leute hatten daran gedacht. »Erinnerst du dich, meine Liebe«, sagte ich zu meinem Spiegelbild, »was Mrs. Woodcourt darüber zu dir sagte, noch ehe diese Narben hier waren?«

Vielleicht erinnerte mich der Name an die getrockneten Blumen. Besser, sie jetzt nicht mehr aufzubewahren. Ich hatte sie nur zur Erinnerung an etwas, was jetzt für immer vorüber war, aufgehoben. Besser, sie jetzt nicht länger mehr aufzuheben.

Sie lagen in einem Buch, das sich zufällig in dem anstoßenden gemeinschaftlichen Zimmer zwischen Adas Schlafgemach und dem meinen befand. Ich nahm eine Kerze und ging leise hinein, um es zu holen. Als ich es in der Hand hielt, sah ich meinen schönen Liebling durch die offne Tür im Schlaf daliegen und küßte sie leise.

Ich weiß wohl, es war eine Schwäche, und ich konnte keinen Grund haben, zu weinen, aber ich ließ eine Träne auf ihr liebes Gesicht fallen, und noch eine und noch eine. Und was noch eine größere Schwäche war, ich nahm die verwelkten Blumen aus dem Buch und hielt sie ihr einen Augenblick an die Lippen. Ich dachte dabei an ihre Liebe zu Richard, obgleich im Grund die Blumen nichts damit zu tun hatten. Dann nahm ich den Strauß in mein Zimmer und verbrannte ihn am Licht, und im Augenblick war er zu Asche geworden.

Als ich am nächsten Morgen in das Frühstückszimmer trat, fand ich meinen Vormund ganz wie gewöhnlich dort. So offen, frei und herzlich wie immer. Nicht das mindeste von gezwungnem Wesen war an ihm zu bemerken, und auch bei mir nicht, hoffe ich. Ich war im Lauf des Vormittags mehrere Male mit ihm allein und dachte, er werde von dem Brief zu sprechen anfangen. Aber er sagte kein Wort.

So war es auch am nächsten Morgen und am übernächsten und die ganze Woche lang, bis zu welcher Zeit Mr. Skimpole seinen Besuch bei uns ausdehnte.

Ich erwartete jeden Tag, daß mein Vormund von dem Brief anfangen werde, aber er sagte kein Wort.

Ich wurde schließlich unruhig und überlegte, ob ich ihm nicht schriftlich antworten sollte. Ich versuchte es nachts in meinem Zimmer immer und immer wieder mit einem Brief, aber ich konnte keine Antwort zustande bringen und keinen richtigen Anfang finden. Und so verschob ich es von Tag zu Tag. Ich wartete eine ganze Woche, und er spielte noch immer nicht auch nur mit einem Wort darauf an.

Endlich war Mr. Skimpole abgereist, und wir drei wollten eines Nachmittags eine Spazierfahrt miteinander machen. Früher mit dem Ankleiden fertig als Ada, ging ich hinunter und fand hier meinen Vormund, den Rücken mir zugekehrt, zum Salonfenster hinaussehen.

Er drehte sich um, als ich eintrat, und sagte lächelnd:

»Ach, du bist es, kleines Frauchen.«

Dann sah er wieder hinaus.

Ich hatte mir vorgenommen, diesmal mit ihm zu sprechen. Kurz, ich war eigentlich zu diesem Zweck heruntergekommen. »Vormund«, sagte ich etwas zögernd und zitternd, »wann wünschest du die Antwort auf den Brief zu haben, den Charley geholt hat?«

»Wenn sie fertig ist, mein Kind.«

»Ich glaube, sie ist fertig.«

»Wird sie Charley überbringen?« fragte er freundlich.

»Nein, ich habe sie selbst mitgebracht, Vormund!«

Ich schlang meine Arme um seinen Hals und küßte ihn, und er fragte, ob das die Herrin von Bleakhaus getan habe, und ich sagte ja.

Und es machte keinen Unterschied zwischen uns, und wir gingen alle zusammen hinaus, und ich sagte meinem Liebling nichts davon.

45. Kapitel


45. Kapitel

Im Vertrauen

Eines Morgens, nachdem ich wieder mit meinem Schlüsselkörbchen herumgeklingelt hatte und gerade mit meinem Liebling im Garten spazieren ging, wendete ich zufällig meinen Blick auf das Haus zurück und sah einen langen dünnen Schatten die Mauer entlang gehen, der Mr. Vholes sehr ähnlich sah. Ada hatte erst diesen Morgen zu mir geäußert, sie hoffe, Richard werde durch sein allzu emsiges Betreiben des Kanzleigerichtsprozesses in seinem Eifer darin nachlassen, und um dem lieben Kind nicht die fröhliche Laune zu verderben, sagte ich nichts von Mr. Vholes Schatten.

Gleich darauf kam Charley leicht auf den Wegen zwischen den Gebüschen dahergehuscht, so rosig und hübsch wie eine von Floras Dienerinnen, und sagte:

»Ach, wenn Sie so gut sein möchten, Miß, hineinzukommen zu Mr. Jarndyce, er möchte gern mit Ihnen sprechen.«

– Es war eine von Charleys Eigenheiten, wenn sie eine Botschaft ausrichten sollte, sie augenblicklich herzusagen, sobald sie in der Ferne die Person, für die sie bestimmt war, erblickte. –

Deshalb sah ich Charley mich in ihrer gewohnten Art bitten, zu Mr. Jarndyce hineinzukommen, lange, ehe ich sie hören konnte. Und als sie vor mir stand, hatte sie es so oft wiederholt, daß sie ganz außer Atem war.

Ich sagte Ada, ich käme gleich wieder, und fragte Charley unterwegs, ob nicht ein Herr bei Mr. Jarndyce sei, worauf Charley, deren Grammatik, muß ich zu meiner Schande gestehen, meiner Erziehungskunst nicht viel Ehre machte, zur Antwort gab: »Ja, Miß, der Herr, wo uns mit Mr. Richard besucht hat.«

Einen schärfern Gegensatz als meinen Vormund und Mr. Vholes konnte es nicht gut geben. Als ich eintrat, saßen sie einander gegenüber am Tisch und sahen sich an. Der eine so offen, der andre so in sich verschlossen. Der eine breitschultrig und aufrecht, der andre schmal und gebückt. Mr. Jarndyce, alles mit voller klingender Stimme sagend, was er zu sagen hatte, und der andre in seiner froschblütigen, fischkalten Art alles in sich hineinflüsternd, daß ich glaubte, nie zwei so ungleiche Menschen beisammen gesehen zu haben.

»Du kennst diesen Mr. Vholes hier, liebe Esther«, begann mein Vormund mit nicht besonders erfreutem Ton, muß ich gestehen.

Mr. Vholes stand auf, wie gewöhnlich behandschuht und zugeknöpft, und setzte sich wieder. Genau so, wie er sich damals neben Richard in das Gig gesetzt hatte. Da er aber Richard jetzt nicht ansehen konnte, schaute er gerade vor sich hin ins Leere.

»Mr. Vholes«, fuhr mein Vormund fort und sah die schwarze Gestalt wie einen unglückverkündenden Vogel unfreundlich an, »hat uns schlimme Nachrichten von unserm höchst unglücklichen Richard gebracht.« Er legte einen besonderen Nachdruck auf die Worte »höchst unglücklich«, als ob er damit auf die zwischen Richard und Mr. Vholes stehende Verbindung anspielen wollte. Ich nahm zwischen beiden Platz. Mr. Vholes verzog keine Miene. Nur hie und da kratzte er sich heimlich an einem der roten Pickel in seinem gelben Gesicht.

»Da ihr glücklicherweise gute Freunde seid, Rick und du, so hätte ich gern gehört, was du von der Sache denkst, mein Kind«, begann mein Vormund. »Wollen Sie so freundlich sein, offen herauszusprechen, Mr. Vholes.«

In einer Art, die dieser Aufforderung nichts weniger als entsprach, begann Mr. Vholes:

»Ich sagte soeben, Miß Summerson, daß ich als Mr. Carstones Rechtsbeistand Grund habe, mit Sicherheit anzunehmen, daß seine Angelegenheiten gegenwärtig in einer höchst fatalen Lage sind. Nicht so sehr, was die Höhe der Summe anbetrifft, sondern hinsichtlich der besondern und dringlichen Art der Verpflichtungen, die Mr. C. eingegangen ist, im Verhältnis zu den geringen Einkünften, die er bezieht und die ihm nicht erlauben, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Ich habe manche kleine Zahlungsverpflichtung für Mr. C. hinausgeschoben, aber es gibt eine Grenze in solchen Dingen, und wir haben sie erreicht. Ich habe einige Vorschüsse aus eigner Tasche gegeben, muß aber natürlich an Wiederbezahltwerden denken, denn ich habe mich nie als Kapitalisten ausgegeben und muß, abgesehen davon, daß ich für meine drei lieben Töchter zu Hause ein kleines Sümmchen zu ersparen suche, noch im Tal von Taunton einen greisen Vater unterstützen. Ich befürchte, mit einem Wort, Mr. C.s Verhältnisse sind derart, daß er um Bewilligung wird nachsuchen müssen, sein Patent verkaufen zu dürfen, und es ist jedenfalls wünschenswert, daß seine Verwandten von diesen Umständen in Kenntnis gesetzt werden.«

Mr. Vholes hatte mich während seiner Rede angesehen, ließ jetzt seine Blicke sinken und versank wieder in das Schweigen, das er eigentlich nie unterbrochen hatte, so gedämpft und klanglos war der Ton seiner Stimme gewesen.

»Man denke sich den armen Burschen, wenn ihm jetzt selbst diese letzte Hilfe fehlt«, sagte mein Vormund zu mir. »Aber was kann ich tun? Du kennst ihn, Esther! Er würde um keinen Preis eine Unterstützung von mir annehmen. Sie ihm jetzt anzubieten oder nur darauf hinzudeuten, würde ihn zu Unbesonnenheiten treiben, wenn nicht noch zu etwas Schlimmerem.«

Mr. Vholes nickte bestätigend.

»Was Mr. Jarndyce bemerkt, Miß, ist ohne Zweifel richtig, und darin liegt die Schwierigkeit. Ich sehe nicht, daß irgend etwas getan werden könnte. Ich sage auch nicht, daß etwas getan werden sollte. Weit entfernt davon. Ich komme bloß hierher, ganz im Vertrauen, und berichte, damit man später nicht sagen kann, ich hätte es an Offenheit fehlen lassen. Mein Wunsch ist, daß alles so offen wie möglich betrieben wird. Ich wünsche vor allem, einen guten Namen zu hinterlassen. Wenn ich bloß mein eignes Interesse in dieser Sache mit Bezug auf Mr. C. berücksichtigte, würden Sie mich nicht hier sehen. Er selbst würde jede Einwendung dagegen erhoben haben, das wissen Sie am besten. Mein heutiger Besuch ist also nicht geschäftlicher Art. Er kann niemandem aufgerechnet werden. Ich habe kein andres Interesse daran als das eines Mitgliedes der menschlichen Gesellschaft und als Vater – und als Sohn«, ergänzte Mr. Vholes schnell, als er merkte, daß er diesen Punkt einen Augenblick ganz vergessen hatte.

Es schien uns, als ob Mr. Vholes hinsichtlich der Verpflichtungen Richards gerade nur die knappe Wahrheit verraten habe. Ich konnte nichts andres vorschlagen, als selber nach Deal, wo Richard damals in Garnison stand, zu reisen, um ihn zu sprechen und zu versuchen, das Schlimmste noch abzuwenden. Ohne Mr. Vholes darüber zu Rate zu ziehen, nahm ich meinen Vormund beiseite, um ihm diesen Vorschlag zu machen, während Mr. Vholes an den Kamin trat und sich die Leichenbitterhandschuhe wärmte. Als Haupteinwand führte mein Vormund sofort die Anstrengung der Reise an. Da ich aber sah, daß er keinen andern wußte, und selbst nur zu gern ging, erwirkte ich leicht seine Zustimmung. Wir hatten uns also nur noch mit Mr. Vholes auseinanderzusetzen.

»Nun, Sir«, sagte Mr. Jarndyce zu ihm. »Miß Summerson wird sich mit Mr. Carstone in Verbindung setzen, und wir wollen nur hoffen, daß seine Stellung noch nicht endgültig verloren ist. Gestatten Sie, daß ich Ihnen ein Frühstück bringen lasse.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Jarndyce«, lehnte Mr. Vholes ab und streckte seinen langen schwarzen Ärmel aus, um meinen Vormund am Klingeln zu verhindern. »Ich danke Ihnen. Nein. Nicht einen Bissen. Meine Verdauung ist gar nicht in Ordnung, und ich bin überhaupt von jeher niemals stark mit Messer und Gabel gewesen. Wenn ich um diese Tageszeit kompakte Speisen genösse, weiß ich nicht, was die Folgen sein würden. Da jetzt vollkommene Klarheit zwischen uns besteht, Sir, möchte ich mich mit Ihrer Erlaubnis verabschieden.«

»Und ich wollte, daß wir uns alle auch von einem gewissen Prozeß verabschieden könnten, Mr. Vholes«, sagte mein Vormund bitter.

Mr. Vholes, dessen schwarzer Anzug am Kamin einen sehr unangenehmen Geruch nach Tuch verbreitete, verbeugte sich halb und schüttelte langsam den Kopf.

»Wir, deren Ehrgeiz es ist, in jedermanns Augen als achtbare Advokaten zu erscheinen, können nur unsre Schultern gegen das Rad stemmen. Wir tun es, Sir. Wenigstens tue ich es und denke von meinen Kollegen ohne Ausnahme gut. Ich muß Sie selbstverständlich bitten, Miß, meine Mitteilung als vertraulich zu betrachten und nichts davon gegenüber Mr. C. zu erwähnen.«

Ich versprach es.

»Ich danke, Miß. Guten Morgen. Mr. Jarndyce, guten Morgen.« Mr. Vholes legte seinen Totenhandschuh erst mir und dann meinem Vormund auf die Finger und verschwand.

Ich stellte mir vor, wie sein langer dünner Schatten von der Außenseite der Postkutsche auf die sonnige Landschaft zwischen uns und London fiel, über die Felder hinglitt und das Samenkorn im Erdboden frösteln machte.

Ich mußte natürlich Ada sagen, wohin ich ginge und weshalb, und sie war sehr besorgt und betrübt darüber. Aber sie hielt zu treu zu Richard, um von ihm anders als in Ausdrücken des Mitleids und der Entschuldigung zu sprechen. Und mit noch größerer Liebe – braves treues Mädchen – schrieb sie ihm einen langen Brief, den ich zu besorgen versprach.

Charley sollte meine Reisebegleiterin sein, obgleich ich sie eigentlich nicht brauchte und gern zu Hause gelassen hätte. Wir begaben uns am Nachmittag nach London, bestellten zwei Plätze und fuhren abends seewärts mit der kentischen Post.

Es war in jenen Zeiten der Landkutschen eine Nachtfahrt, aber wir hatten den Wagen ganz allein für uns und fanden die Reise nicht sehr ermüdend. Sie verging mir, wie sie wohl den meisten Leuten unter solchen Umständen zu vergehen pflegt. Manchmal kam sie mir hoffnungsvoll, dann wieder ganz aussichtslos vor. Zuweilen glaubte ich Richard nützlich sein zu können, dann wieder wunderte ich mich, wie ich nur einen solchen Gedanken je hatte fassen können. In welchem Zustand ich ihn finden würde, was ich ihm sagen sollte, was er mir antworten würde, beschäftigte abwechselnd meinen Geist, und die Räder schienen in einem fort eine ewig gleiche Melodie, der sich die letzten Worte des Briefes meines Vormundes anpaßten, zu spielen.

Endlich kamen wir in die schmalen Straßen von Deal. Sie sahen an diesem rauhen nebligen Morgen sehr düster aus. Der lange flache Strand mit den kleinen unregelmäßigen Häusern aus Holz und Ziegeln und dem Gewirr von Ankerwinden, großen Booten, Schuppen, kahlen, aufrecht stehenden Stangen mit Flaschenzügen boten einen trüben, wüsten Anblick dar. Die See wogte unter einem dicken weißen Nebel dahin, und kein lebendes Wesen war zu sehen als ein paar Seiler, die mit ihrem um den Leib gewickelten Werg aussahen, als ob sie sich selbst, des Erdenlebens müde, zu Tauen verspännen.

Aber als wir in einem vortrefflichen Hotel in eine warme Stube kamen, uns gewaschen und angekleidet hatten und uns zu einem zeitigen Frühstück hinsetzten, fing Deal an, heiterer auszusehen. Unser kleines Zimmer war eine Art Schiffskajüte, und das machte Charley große Freude. Dann fing der Nebel an, sich wie ein Vorhang zu heben, und eine kleine Menge Schiffe, von deren Nähe wir bis dahin keine Ahnung gehabt hatten, wurden sichtbar. Ich weiß nicht mehr, wie viele Segelboote nach Angabe des Kellners damals in den Dünen lagen. Einige dieser Schiffe waren sehr ansehnlich, vor allem ein großer Ostindienfahrer, der eben angelegt hatte. Und als die Sonne durch die Wolken schien und silberne Flecke auf die schwarze See zeichnete, war es sehr schön anzusehen, wie die Kolosse zu glänzen anfingen und scharfe Umrisse bekamen, während ein Gewimmel von Booten vom Ufer zu ihnen und wieder zurückfuhr und allgemeines Leben ringsum zu herrschen begann. Der große Ostindienfahrer interessierte uns am meisten, zumal er diese Nacht erst im Hafen angekommen war. Eine Menge von Jollen umringten ihn, und wir sagten uns, wie froh die Leute an Bord sein müßten, endlich an Land gehen zu können. Charley war sehr wißbegierig und fragte viel über ferne Länder, über die Hitze in Indien, die Schlangen und die Tiger, und da sie auf diese Art rascher lernen konnte als durch Hocken über der Grammatik, sagte ich ihr, was ich von diesen Sachen wußte. Ich erzählte ihr auch, wie auf solchen Reisen die Leute manchmal Schiffbruch erlitten, auf Felsen geworfen und manchmal durch die Unerschrockenheit und Menschenliebe eines einzelnen gerettet würden. Und da Charley mich ausfragte, wie das zugehen könnte, erzählte ich ihr, wie wir selbst von einem solchen Beispiel gehört hätten.

Ich wollte anfangs Richard ein Billett mit der Anzeige unsrer Ankunft schicken, aber dann schien es mir besser, zu ihm zu gehen, ohne ihn vorher zu benachrichtigen. Da er in der Kaserne wohnte, zweifelte ich ein wenig an der Ausführbarkeit, aber wir gingen doch hin, um zu rekognoszieren. Als wir einen Blick durch das Tor in den Kasernenhof warfen, fanden wir zu dieser frühen Morgenstunde alles noch sehr still, und ich fragte den wachhabenden Sergeanten nach Richards Wohnung. Er gab uns einen Soldaten mit, der sie uns zeigen sollte, und dieser ging ein paar Stufen hinauf, klopfte an eine Tür und verließ uns dann.

»Was gibt’s?« rief Richard drinnen.

Ich ließ Charley auf dem schmalen Gang stehen, trat an die halb geöffnete Tür und sagte:

»Kann ich hereinkommen, Richard? Es ist nur Mütterchen Hubbard.«

– Er hatte gerade an einem Tische geschrieben; und in großer Unordnung lagen Kleider, Blechkästen, Bücher, Stiefel, Bürsten und Mantelsäcke umher. Er war nur halb angekleidet – in Zivil, nicht in Uniform –, sein Haar war ungebürstet, und er sah so unordentlich aus wie sein Zimmer. Das alles bemerkte ich, nachdem er mich herzlich bewillkommnet hatte und ich jetzt neben ihm saß. Er war aufgesprungen, als er meine Stimme gehört hatte, und hielt mich im nächsten Augenblick in seinen Armen. Der liebe Richard! Er war immer noch der alte gegen mich – war es bis ans Ende –, der arme, arme Junge! Bis ans Ende empfing er mich stets mit seiner alten lustigen knabenhaften Art.

»Gott im Himmel, mein liebes kleines Mütterchen, wie kommen Sie denn hierher? Doch nichts vorgefallen? Ada befindet sich doch wohl?«

»Ganz wohl. Sie ist schöner als je, Richard.«

»Ach«, sagte er und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Meine arme Kusine! Eben schrieb ich einen Brief an Sie, Esther.«

– Wie angegriffen und hohläugig er aussah trotz seiner Jugend, wie er sich jetzt in den Stuhl zurücklehnte, den engbeschriebnen Bogen in der Hand zerknitternd. –

»Sie haben sich die Mühe gegeben, den ganzen langen Brief zu schreiben, und jetzt soll ich ihn nicht einmal lesen?«

»Ach, liebe Esther«, entgegnete er mit einer Gebärde der Hoffnungslosigkeit, »was drin steht, können Sie hier im ganzen Zimmer lesen. Es ist alles vorbei.«

Ich bat ihn sanft, sich doch nicht so der Niedergeschlagenheit hinzugeben. Ich sagte ihm, ich hätte zufällig gehört, er befände sich in Verlegenheiten, und sei gekommen, um mit ihm wegen der zu ergreifenden Mittel zu beraten.

»Das sieht Ihnen ganz ähnlich, Esther, aber es ist nutzlos«, sagte er mit einem trüben Lächeln. »Ich habe mir heute Urlaub geben lassen – ich wäre in der nächsten Stunde schon abgereist gewesen –, nur zu dem Zweck, meinen Austritt aus der Armee vorzubereiten. Geschehen ist geschehen. Ich brauche mich nur noch der Theologie zu widmen, um die Runde durch alle Berufsarten gemacht zu haben.«

»Richard«, drang ich in ihn, »ist wirklich alle Hoffnung verloren?«

»Ja, Esther, es ist so weit. Man ist bereits so unzufrieden mit mir, daß mich meine Vorgesetzten am liebsten gehen sehen möchten. Und sie haben recht. Abgesehen von Schulden und Gläubigern und andern Unannehmlichkeiten der Art tauge ich nun einmal nicht zu diesem Beruf. Ich kümmere mich um nichts, habe keinen Sinn, kein Herz und keine Seele für etwas andres als nur für die eine Sache. Wenn diese Blase jetzt nicht geplatzt wäre«, er zerriß den Brief und zerstreute die Stückchen mit trüber Miene in der Stube, »wie hätte ich jetzt England verlassen können. Ich hätte jedenfalls Ordre bekommen, in die Kolonien zu gehen, aber wie hätte ich fort können! Wie hätte ich, wo ich jetzt diese Sache kenne, sogar Vholes trauen dürfen, ohne nicht immer hinter ihm zu stehen.«

– Ich glaube, er las mir am Gesicht ab, was ich sagen wollte, denn er nahm meine Hand, die ich ihm auf den Arm gelegt hatte, und legte sie auf meine Lippen, um mich zu verhindern, fortzufahren. –

»Nein, Mütterchen! Zwei Themen bitte ich Sie, nicht zu berühren. Ich muß es tun. Das erste betrifft John Jarndyce. Das zweite, Sie wissen schon, was. Nennen Sie es meinetwegen Wahnwitz, aber ich kann mir nicht helfen. Oder ich müßte verrückt werden. Aber es ist nicht Wahnwitz. Es ist der eine Zweck, den ich im Leben habe. Es ist schade, daß ich mich jemals habe bewegen lassen, mich etwas anderm zuzuwenden. Es würde unendlich weise sein, nach soviel Aufwand von Zeit, Sorge und Mühen davon abzulassen! O ja, unendlich weise! Es würde auch gewissen Leuten sehr angenehm sein, aber ich will nicht.«

Er war in einer Stimmung, in der ich es für das Beste halten mußte, ihn in seinem Entschluß nicht noch durch Widerspruch zu bestärken, wenn so etwas überhaupt möglich war. Ich zog Adas Brief hervor und legte ihn ihm in die Hand.

»Soll ich ihn jetzt lesen?« fragte er.

Da ich bejahte, öffnete er ihn, stützte die Stirn auf die Hand und fing an zu lesen.

Er war noch nicht weit gekommen, da stützte er den Kopf auf beide Hände, um mir sein Gesicht zu verbergen, und nach einer kleinen Weile stand er auf, als ob er nicht Licht genug zum Lesen habe, und trat ans Fenster. Dort blieb er, den Rücken mir zugekehrt, und als er mit dem Brief fertig war und ihn wieder zusammengefaltet hatte, blieb er ein paar Minuten dort stehen. Ich sah Tränen in seinen Augen, als er wieder zu dem Stuhl zurückkehrte.

»Sie wissen natürlich, Esther, was sie schreibt?« – Er sprach mit weicher Stimme und küßte den Brief. –

»Ja, Richard.«

»Sie bietet mir die kleine Erbschaft an«, fuhr er fort und klopfte dabei aufgeregt mit dem Fuß auf den Boden, »die ihr binnen kurzem zufallen muß – gerade so wenig und so viel, als ich bis heute durchgebracht habe –, und bittet mich aufs inständigste, sie anzunehmen, meine Angelegenheiten damit in Ordnung zu bringen und in der Armee zu bleiben.«

»Ich weiß, daß Ihr Glück ihr heißester Herzenswunsch ist«, sagte ich. »Lieber Richard, Ada hat ein edles Herz.«

»Das weiß ich. Ich – ich wollte, ich wäre tot.«

Er ging wieder ans Fenster zurück und legte das Gesicht auf seinen Arm.

Es schnitt mir ins Herz, ihn so zu sehen. Aber ich hoffte, er könnte jetzt nachgiebiger werden, und schwieg deshalb. Meine Menschenkenntnis war offenbar sehr gering, denn ich war durchaus nicht darauf vorbereitet, daß er sich aus seiner Rührung zu einem neuen Gefühl des Beleidigtseins aufschwingen würde.

»Und das ist das Herz, das dieser selbige John Jarndyce, dessen Namen ich eigentlich gar nicht mehr in den Mund nehmen sollte, mir zu entfremden versucht hat«, rief er entrüstet aus. »Das gute Mädchen macht mir dies hochherzige Anerbieten aus desselben John Jarndyces Haus mit desselben John Jarndyces Genehmigung, wage ich zu behaupten, als ein neues Mittel in seinen Augen, mich zu verkaufen.«

»Richard!« rief ich aus und stand hastig auf. »Ich will solche schändlichen Worte nicht mehr von Ihnen hören.«

Ich war das erste Mal in meinem Leben wirklich recht böse auf ihn, aber es dauerte nur einen Augenblick. Als ich sein abgespanntes junges Gesicht mich schmerzlich anblicken sah, legte ich ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Bitte, lieber Richard, sprechen Sie nicht in einem solchen Ton zu mir. Bedenken Sie doch!«

Er machte sich die bittersten Vorwürfe und sagte mir in seiner herzlichsten Art, er sähe ein, er sei im Unrecht, und bäte mich tausend Mal um Verzeihung. Ich lächelte, zitterte aber ein klein wenig dabei, denn ich war von meinem Zorn noch zu aufgeregt.

»Dieses Anerbieten anzunehmen, meine liebe Esther«, knüpfte er sein früheres Gespräch wieder an und setzte sich neben mich, » – noch ein Mal, bitte, bitte, verzeihen Sie mir, es tut mir aufs tiefste leid, was ich gesagt habe –, dieses Anerbieten meiner lieben Kusine anzunehmen, ist, wie ich wohl nicht erst zu erklären brauche, unmöglich. Überdies könnte ich Ihnen Belege bringen, die Sie überzeugen würden, daß hier alles vorbei ist. Mit dem roten Rock habe ich nichts mehr zu schaffen, glauben Sie mir. Aber es ist mir eine gewisse Genugtuung, mitten in meinen Sorgen und Verlegenheiten zu wissen, daß ich mit meinen Interessen zugleich die Adas fördere. Vholes hat die Schulter an das Rad gestemmt, und er muß es für sie, Gott sei Dank, ebensoweit schieben wie für mich.«

Seine sanguinischen Hoffnungen wachten wieder in ihm auf und erhellten seine Züge, aber auf mich machte sein Gesicht einen nur noch traurigeren Eindruck als vorher.

»Nein, nein! Und selbst wenn jeder Pfennig von Adas Vermögen mir gehörte, so sollte auch kein Bruchteil davon verwendet werden, um mich an einen Beruf festzubinden, für den ich nun einmal nicht passe, der mir gleichgültig ist und den ich satt habe. Es müßte vielmehr zu etwas verwendet werden, woran sie ein wichtigeres Interesse hat und das bessere Zinsen verspricht. Machen Sie sich keine Sorgen meinetwegen. Ich werde mein ganzes Augenmerk nur noch auf die eine Sache richten, und Vholes und ich werden dafür arbeiten. Ich werde nicht ganz ohne Mittel dastehen. Nach dem Verkauf meines Patents werde ich imstande sein, mit einigen kleinen Wucherern, die jetzt von nichts als ihrem Wechsel hören wollen, einen Vergleich zu schließen, sagt Vholes. Ich würde auch sowieso einen Überschuß haben, aber dadurch wird er noch größer. Kommen Sie! Nehmen Sie einen Brief von mir an Ada mit, Esther, setzen Sie mehr Hoffnung auf mich und denken Sie nicht, ich sei schon ganz und gar verloren.«

Ich will nicht wiederholen, was ich zu Richard sagte. Ich weiß, daß es langweilig war und sich keineswegs durch besondre Weisheit auszeichnete, aber es kam mir aus dem Herzen. Er hörte mir geduldig und teilnehmend zu, ich sah jedoch, daß gegenwärtig keine Hoffnung war, ihm über die beiden Themen, deren Erörterung er sich verbeten hatte, mit Erfolg Vorstellungen zu machen. Ich sah jetzt deutlich bestätigt, was mein Vormund mit seinen Worten gemeint hatte: Es ist schädlicher, bei ihm Überredung anzuwenden, als ihm seinen Willen zu lassen.

Ich mußte ihn schließlich fragen, ob es ihm nicht widerstrebe, mir zu beweisen, daß wirklich hier alles vorbei sei, wie er mir gesagt habe, und er es sich nicht bloß einbilde. Ohne Zaudern wies er mir Briefe vor, aus denen aufs deutlichste hervorging, daß sein Austritt aus der Armee bereits beschloßne Sache war. Ich erfuhr von ihm, daß Mr. Vholes Abschriften von diesen Papieren habe und von ihm in allen Angelegenheiten zu Rate gezogen worden sei. Meine Reise war also nutzlos gewesen, höchstens abgesehen davon, daß ich ihn nach London zurückbegleiten sollte und ihm Adas Brief hatte selbst überbringen können. Ich wollte also, sagte ich, nach dem Hotel zurückkehren und ihn dort erwarten. Er warf einen Mantel um, begleitete mich bis an das Kasernentor, und Charley und ich gingen den Strand entlang nach Hause.

An einem Landungssteg waren viele Leute zusammengelaufen. Sie standen um einige Seeoffiziere herum, die eben aus einem Boot ausgestiegen waren, und zeigten ein ungewöhnliches Interesse für sie. Ich sagte zu Charley, das würde wohl eins von den Booten des großen Ostindienfahrers sein, und wir blieben stehen, um zuzusehen.

Die Herren kamen langsam vom Ufer herauf und unterhielten sich heiter mit einander und den sie umringenden Leuten und schauten um sich, sichtlich voll Freude, wieder in der Heimat zu sein.

»Charley, Charley«, rief ich, »komm fort!« Und ich eilte so rasch fort, daß meine kleine Zofe ganz erstaunt darüber war.

Erst als wir in unserm Zimmer waren und ich wieder zu Atem kommen konnte, fing ich an, zu überlegen, warum ich mich eigentlich so beeilt hatte. In einem der Herren hatte ich Mr. Allan Woodcourt erkannt und gefürchtet, er werde mich entdecken. Ich wollte ihn mein entstelltes Gesicht nicht sehen lassen, war ganz überrascht gewesen und hatte all meinen Mut eingebüßt.

Ich wußte jetzt, das ginge so nicht, und sagte zu mir: »Meine Liebe, es ist kein Grund vorhanden – es ist und darf kein Grund vorhanden sein –, warum es für dich jetzt schlimmer sein sollte als früher. Was du damals warst, bist du noch heute, und du bist nicht schlimmer und nicht besser. Das ist nicht deine alte Entschlossenheit. Raffe dich auf, Esther, raffe dich auf!«

– Ich zitterte noch – vom Laufen – und war anfangs ganz außerstande, mich zu beruhigen. Aber allmählich wurde mir freier zumute, und ich freute mich, als ich es bemerkte. –

Die Angekommenen stiegen in unserm Hotel ab. Ich hörte sie auf der Treppe reden. Ich wußte, daß es dieselben Herren waren, denn ich erkannte ihre Stimme wieder – ich meine, ich erkannte Mr. Woodcourts Stimme. Es wäre mir eine Erleichterung gewesen, wenn ich hätte abreisen können, ohne mich ihm zu erkennen zu geben, aber ich war entschlossen, es nicht zu tun: »Nein, meine Liebe, nein. Nein, nein, nein!«

Ich band meinen Hut um, schlug meinen Schleier halb zurück – ich meine, halb herunter, aber es kommt darauf wenig an – und schrieb auf eine Karte, daß ich zufällig mit Mr. Richard Carstone hier sei, und schickte sie an Mr. Woodcourt. Er kam augenblicklich. Ich sagte ihm, daß ich mich freute, zufällig unter den ersten zu sein, die ihn in der Heimat begrüßten. Und ich sah, daß ich ihm sehr leid tat.

»Sie haben Schiffbruch erlitten und sind in Lebensgefahr gewesen, seit Sie uns verlassen haben, Mr. Woodcourt«, sagte ich. »Aber man kann wohl kaum ein Unglück nennen, was Sie instand gesetzt hat, sich so wacker und tapfer zu benehmen. Wir haben es mit aufrichtigster Ergriffenheit gelesen. Ich erfuhr es zuerst von Ihrer alten Patientin, der armen Miß Flite, als ich von meiner schweren Krankheit genas.«

»Ach, ach, die kleine Miß Flite! Führt sie immer noch dasselbe Leben?«

»Ganz dasselbe.«

– Ich war ihm gegenüber jetzt so unbefangen, daß ich es wagen konnte, den Schleier ganz zurückzuschlagen. –

»Ihre Dankbarkeit gegen Sie, Mr. Woodcourt, ist unbegrenzt. Sie ist Ihnen wirklich von Herzen zugetan.«

»Sie – Sie haben das an ihr bemerkt?« entgegnete er. »Das – das freut mich sehr.«

– Ich tat ihm so außerordentlich leid, daß er kaum sprechen konnte. –»Ich kann Ihnen nur versichern«, sagte ich, »daß mich ihre Ergriffenheit und Freude damals tief gerührt haben.«

»Ich hörte zu meinem Bedauern, daß Sie sehr krank gewesen sind, Miß Summerson.«

»Ja, ich war sehr krank.«

»Aber Sie haben sich doch wieder ganz erholt?«

»Meine Gesundheit und gute Laune habe ich wieder zurückgewonnen«, sagte ich. »Sie wissen, wie gut mein Vormund ist und welch glückliches Leben wir führen. Ich besitze alles, wofür man nur Gott danken kann, und es bleibt mir auf der Welt nichts mehr zu wünschen übrig.«

– Es war, als fühlte er größeres Mitleid mit mir als ich selbst. Der Gedanke, eigentlich ihn beruhigen zu müssen, gab mir neue Kraft und Ruhe. Wir unterhielten uns über seine Reisen und über seine Pläne für die Zukunft und die Möglichkeit seiner Rückkehr nach Indien. –

Er sei drüben nicht mehr vom Glück begünstigt gewesen als in der Heimat und es sei ihm daher zweifelhaft, ob er es nicht für vorteilhafter halten werde, vorläufig in England zu bleiben, sagte er. Er wäre als armer Schiffsarzt hingereist und als nichts besseres zurückgekommen.

Noch während wir sprachen, kam Richard. Er hatte unten gehört, wer bei mir sei, und er und Mr. Woodcourt begrüßten sich voller Herzlichkeit.

Ich bemerkte, als sie dann von Richards Aussichten sprachen, daß Mr. Woodcourt eine Ahnung zu bekommen schien, wie die Sachen stünden. Er blickte ihm öfter ins Gesicht, als ob er dort etwas sähe, was ihm Schmerz bereitete, und mehr als ein Mal warf er einen Blick auf mich, als suchte er in meinen Mienen die Wahrheit zu lesen. Richard selbst war wieder in einer seiner sanguinischen Stimmungen und vortrefflichen Laune und freute sich sehr, Mr. Woodcourt, den er immer gern gehabt hatte, wiederzusehen. Er schlug vor, wir sollten alle zusammen nach London reisen. Mr. Woodcourt mußte aber noch einige Zeit auf seinem Schiff bleiben und konnte uns daher nicht begleiten. Er aß jedoch mit uns zeitig zu Mittag und war ganz wieder wie früher. Nur Richard schien ihm nicht aus dem Sinn zu gehen. Als die Postkutsche schon bereit stand und Richard hinuntereilte, um nach seinem Gepäck zu sehen, sprach er mit mir über ihn.

Ich fühlte mich nicht berechtigt, seine ganze Geschichte zu erzählen, deutete aber in wenigen Worten auf die zwischen ihm und Mr. Jarndyce entstandne Entfremdung und den Einfluß des unseligen Kanzleigerichtsprozesses hin. Mr. Woodcourt hörte mit Interesse zu und gab seinem Bedauern lebhaft Ausdruck.

»Ich bemerkte schon vorhin, daß Sie ihn genau beobachteten«, sagte ich. »Halten Sie ihn für sehr verändert?«

»Er hat sich allerdings verändert«, gab Mr. Woodcourt, traurig den Kopf schüttelnd, zur Antwort.

– Ich fühlte zum ersten Mal, wie mir das Blut ins Gesicht schoß, aber es war nur ein Augenblick. Ich wendete mein Gesicht ab, und es war wieder vorüber. –

»Nicht etwa, daß er älter, magerer oder dicker, blässer oder röter aussähe, aber sein Gesicht hat einen so eigentümlichen Ausdruck. Bei einem so jungen Menschen ist das um so merkwürdiger und mir bisher noch nie vorgekommen. Man kann nicht sagen, daß es bloß Sorge oder bloß Abspannung sei, und doch ist es beides und sieht einer aufkeimenden Verzweiflung sehr ähnlich.«

»Also Sie glauben nicht, daß er krank ist?«

»Nein. Körperlich sieht er sehr kräftig aus.«

»Daß er zu keinem innern Frieden kommen kann, haben wir Grund genug zu wissen«, fuhr ich fort. »Mr. Woodcourt, Sie gehen nach London?«

»Morgen oder übermorgen.«

»Nichts fehlt Richard so sehr wie ein Freund, Mr. Woodcourt. Er hat Sie immer gern gehabt. Bitte, bitte, besuchen Sie ihn doch, wenn Sie nach London kommen, unterstützen Sie ihn manchmal mit Ihrem Rat, wenn Sie können. Sie wissen gar nicht, welchen Freundschaftsdienst Sie ihm damit erweisen würden. Sie können sich gar nicht denken, wie Ada und Mr. Jarndyce und auch ich – wie sehr wir Ihnen alle dafür dankbar sein würden, Mr. Woodcourt!«

»Miß Summerson«, sagte er mit größerer Bewegung, als er bisher gezeigt hatte, »beim Himmel, ich will ihm ein wahrer Freund sein. Ich will ihn als ein mir anvertrautes Pfand betrachten, und es soll mir heilig sein.«

»Gott segne Sie«, sagte ich, und meine Augen füllten sich mit Tränen; aber ich schämte mich ihrer nicht, da ich ja nicht meinetwegen weinte. »Ada liebt ihn – wir alle lieben ihn –, aber Ada liebt ihn, wie wir es nicht können. Ich will ihr mitteilen, was Sie gesagt haben. Ich danke Ihnen, und Gott segne Sie in ihrem Namen.«

Richard kehrte zurück, kaum daß wir diese hastigen Worte mit einander gesprochen hatten, und reichte mir den Arm, um mich zur Kutsche zu führen.

»Woodcourt«, sagte er, ohne zu ahnen, wie gut es zu dem paßte, was wir eben besprochen hatten, »wir sehen uns doch in London?«

»Sehen? Ich habe jetzt kaum einen andern Bekannten dort als Sie. Wo kann ich Sie dort treffen?«

»Ich muß mich natürlich nach einer Wohnung umsehen«, sagte Richard nachdenklich. »Sagen wir bei Vholes, Symond’s-Inn.«

»Also gut! Spätestens übermorgen.«

Sie schüttelten sich herzlich die Hände, und als ich in der Kutsche saß und Richard noch auf der Straße stand, legte Mr. Woodcourt wie freundschaftlich die Hand auf seine Schulter und sah mich dabei an. Ich verstand ihn. In seinem letzten Blick, als wir fort fuhren, las ich, wie sehr ich ihm leid tat. Ich freute mich darüber.

Ich fühlte für mein ehemaliges Ich, wie vielleicht die Toten fühlen mögen, wenn sie diese Erde wieder besuchen.

46. Kapitel


46. Kapitel

Aufhalten! Aufhalten!

Finsternis ruht auf »Toms Einöd«. Immer mehr und mehr hat sie sich ausgebreitet, seit abends die Sonne unterging, und ist allmählich so angeschwollen, daß sie alles ausfüllt. Eine Zeitlang brannten noch einige halbverhungerte Lichter, wie die Lebenslampe in »Toms Einöd« brennt, schwer atmend in der ekelhaften Luft. Jetzt sind sie erloschen. Der Mond hat »Toms Einöd« trüb und kalt angestarrt, als sei dieser Ort ein jämmerliches Abbild seiner Wüsteneien, in deren ausgebrannten Kratern nichts leben kann und alles von vulkanischen Feuern zerstört ist. Dann ist er weiter durch die Wolken gezogen. Ein höllischer Alpdruck aus den schwärzesten Regionen liegt auf dem schlafenden »Toms Einöd«. Ein gewaltiges Gerede ist über »Tom« in- und außerhalb des Parlaments gewesen, und zornig wurde darüber gestritten, wie »Tom« geholfen werden könne. Ob ihn Konstabler oder Büttel, Glockenläuten oder ästhetische Grundsätze, die Hochkirche oder die gewöhnliche auf den rechten Weg bringen solle; ob er die polemischen Strohhalme mit dem schartigen Messer seines Geistes spalten oder lieber Steine klopfen solle. Unter all dem aufgewirbelten Staub und dem Lärm ist nur das eine klar: daß »Tom« nur theoretisch, aber nicht praktisch gebessert werden kann, soll und wird. Und in der hoffnungsreichen Zwischenzeit geht »Tom« mit seiner alten entschloßnen Weise, den Kopf voran, zum Teufel. Aber er hat seine Rache. Selbst der Wind ist sein Bote und dient ihm in diesen Stunden der Finsternis.

Da ist kein Tropfen von »Toms« verderbtem Blut, der nicht irgendwohin Ansteckung und Seuche verpflanzte. Noch heute nacht wird er das erlauchte Blut eines normannischen Hauses vergiften, und Seiner Erlaucht, dem Familienoberhaupt, wird es nicht gestattet sein, zu dieser verunehrenden Blutsverbindung nein zu sagen. Nicht ein Atom geht verloren von »Toms« Schmutz, kein Kubikzoll der verpesteten Luft, das er atmen muß, keine Untätigkeit oder Verkommenheit um ihn herum, nichts von der Bosheit, Unwissenheit und Roheit seines Tuns geht verloren, ohne durch alle Gesellschaftsklassen hindurch bis zu den Stolzesten der Stolzen und dem Höchsten der Hohen hinauf Vergeltung zu üben. Wenn man Ansteckung, Raub und Verderbnis zusammen rechnet, wahrhaftig, dann hat »Tom« seine Rache.

Ein strittiger Punkt ist, ob »Toms Einöd« scheußlicher aussieht bei Tag oder bei Nacht. Da es Tatsache ist, daß es um so häßlicher wird, je mehr man davon sieht, und die Phantasie in diesem Fall von der Wirklichkeit noch weit übertroffen wird, so trägt der Tag den Sieg davon.

Er bricht jetzt langsam an, und wenn auch im britischen Reich die Sonne nie untergeht, so wäre es für den Nationalruhm vielleicht besser, wenn sie über einem so scheußlichen Weltwunder wie »Toms Einöd« auch nie aufginge.

Ein sonnenverbrannter feiner Herr, der, außerstande zu schlafen, lieber herumwandern zu wollen scheint, als die Stunden auf schlummerlosem Pfühl zu zählen, hat sich bis hierher verirrt. Von Neugierde getrieben, bleibt er oft stehen und blickt die elenden Seitengassen hinauf und hinunter. Er ist aber auch nicht bloß neugierig, denn in seinem lebhaften dunklen Auge glänzt es wie Mitleid, und wie er umherschaut, scheint er ein gewisses Verständnis für solches Elend zu haben und es vielleicht von früher her zu kennen.

Am Rande des stagnierenden Schmutzkanals, der die Hauptstraße von »Toms Einöd« bildet, ist nichts zu sehen als baufällige Häuser, verschlossen und stumm. Kein wachendes Geschöpf zeigt sich, nur die einsame Gestalt einer Frau sitzt auf einer Türstufe. Dorthin lenkt Mr. Allan Woodcourt seine Schritte, und wie er näher kommt, bemerkt er, daß sie einen langen Weg gereist sein muß und wunde und bestaubte Füße hat. Sie sitzt auf der Türstufe wie jemand, der wartet, den Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in der Hand ruhend. Neben ihr liegt ein leinenes Bündel, das sie getragen hat. Sie scheint im Halbschlummer dazusitzen, denn sie achtet nicht auf das Geräusch seiner näher kommenden Schritte. Der holprige Fußsteig ist so schmal, daß Allan Woodcourt, als er die Frau erreicht, auf den Fahrweg treten muß, um an ihr vorbei zu kommen. Wie er ihr ins Gesicht blickt, begegnet sein Auge dem ihren, und er bleibt stehen.

»Was machen Sie hier?«

»Nichts, Sir.«

»Wollen Sie vielleicht hinein? Hört man Sie nicht drin?«

»Ich warte nur, bis sie in der Nähe aufsperren – das Logierhaus«, gibt die Frau geduldig zur Antwort. »Und auf die Sonne, um mich zu wärmen.«

»Sie sind wohl müde? Es tut mir leid, Sie so auf der Straße sitzen zu sehen.«

»Ich danke Ihnen, Sir. Es macht weiter nichts.«

– Er ist gewohnt, mit armen Leuten zu sprechen, und vermeidet geflissentlich alles Gönnerhafte oder Herablassende und ist dadurch mit der Frau sofort gut freund. –

»Lassen Sie mich Ihre Stirne ansehen«, sagt er und beugt sich nieder. »Ich bin Arzt. Haben Sie keine Angst. Ich werde Ihnen nicht weh tun.«

– Er weiß, daß er durch die Berührung seiner geschickten und geübten Hand ihre Schmerzen nur lindern kann. – Sie wehrt sich ein wenig und sagt: »Es ist nichts.« Aber er hat kaum mit seinen Fingern den wunden Fleck berührt, da dreht sie ihre Stirn dem Licht zu, damit er besser sehen könne.

»Hm! Eine arge Wunde; die Haut ist sehr zerrissen. Es muß sehr weh tun.«

»Es tut ein bißchen weh, Sir«, gibt die Frau zu, während eine Träne über ihre Wange rollt.

»Ich werde versuchen, sie Ihnen weniger schmerzhaft zu machen. Mein Taschentuch wird Ihnen nicht weiter weh tun.«

»Oh, gewiß nicht, Sir.«

Er reinigt die Wunde und trocknet sie, und nachdem er sie sorgfältig untersucht und mit der Handfläche leise gedrückt hat, nimmt er ein Etui aus der Tasche und verbindet sie. Während er so beschäftigt ist, sagt er, bei diesem Versuch, auf der Straße ein Lazarett zu errichten, lächelnd:

»Ihr Mann ist Ziegelstreicher?«

»Wieso wissen Sie das, Sir?« fragt die Frau verwundert.

»Nun, ich schließe es aus der Farbe der Flecken auf Ihrem Bündel und an Ihrem Kleid. Und ich weiß, daß Ziegelstreicher, die auf Stück arbeiten, oft von Ort zu Ort ziehen. Es ist sehr bedauerlich, daß sie oft ihre Weiber mißhandeln.«

Die Frau blickt hastig auf, als wolle sie leugnen, daß ihre Verletzung von einem Schlag herrührt. Aber da sie die Hand des Arztes auf ihrer Stirn fühlt und sein ruhiges Gesicht sieht, läßt sie den Blick stumm wieder sinken.

»Wo ist er jetzt?«

»Er hat gestern abend Ärger mit der Polizei gehabt, Sir, und will mich im Logierhaus aufsuchen.«

»Er wird noch in schlimmere Ungelegenheiten kommen, wenn er seine schwere Hand nicht besser im Zaum hält. Aber da Sie ihm verzeihen, wie ich sehe, so brutal er auch ist, rede ich nichts weiter davon. Ich wünschte nur, er wäre dessen würdig. – Sie haben kein Kind?«

Die Frau schüttelt den Kopf. »Eins, das ich zwar mein nenne, Sir, aber es gehört Liz.«

»Ihres ist tot? Ich verstehe schon. Das arme Kleine!«

– Er ist jetzt fertig und packt sein Etui wieder zusammen. »Ich vermute, Sie haben eine ständige Bleibe. Ist sie weit von hier?« – Er winkt ihr gutmütig ab, als sie aufsteht und ihm danken will.

»Es sind gute zwei- oder dreiundzwanzig Meilen von hier, Sir. St. Albans… Sie kennen St. Albans, Sir?« – Mr. Allan Woodcourt war zusammengezuckt. –

»Ja, ich kenne es ein wenig. Und jetzt will ich Ihnen eine Frage stellen. Haben Sie Geld für Ihre Unterkunft?«

»Ja, Sir. Wirklich und wahrhaftig.« Und sie zeigt es ihm.

»Schon gut, schon gut«, sagt er, als sie wieder halblaut ihren Dank beteuert, wünscht ihr guten Tag und geht.

»Toms Einöd« schläft immer noch, und nichts regt sich.

Doch! Etwas regt sich. Als der Arzt wieder nach der Stelle zurückgeht, von wo aus er die Frau auf der Türstufe hat sitzen sehen, bemerkt er eine zerlumpte Gestalt, die sich vorsichtig dicht an den feuchten Wänden hinschleicht. Dem Äußern nach ist es ein junger Mensch von abgezehrtem Aussehen und mit fieberhaft glühenden Augen. Er ist so darauf bedacht, unbemerkt zu bleiben, daß sogar die Erscheinung eines Fremden in guten Kleidern ihn nicht in Versuchung bringt, sich umzusehen. Wie er zu einem Straßenübergang kommt, verbirgt er das Gesicht hinter seinem zerlumpten Ellbogen und schleicht zusammengekauert, fast kriechend, weiter, die Hand suchend vor sich ausgestreckt. In Lumpen hängen die zerfetzten Kleider um ihn herum, und es ist unmöglich, zu sagen, aus welchem Stoff sie jemals gemacht wurden. Der Farbe und Beschaffenheit nach sehen sie wie ein Bündel im Morast gewachsner Blätter aus, die längst verfault sind.

Allan Woodcourt bleibt stehen und blickt dem Knaben nach, mit dem dunklen Gefühl, ihn schon einmal irgendwo gesehen haben zu müssen. Er kann sich nur nicht erinnern, wann oder wo. Er denkt zuletzt, er werde ihn wohl in einem Hospital oder in einem Asyl getroffen haben, aber er kann nicht herausbekommen, warum er sich so besonders in seiner Erinnerung abhebt.

Er kommt allmählich aus den Grenzen von »Toms Einöd« heraus in den lichten Morgen und denkt noch darüber nach, als er laufende Schritte hinter sich hört und, wie er sich umsieht, den Knaben in großer Eile, verfolgt von der Frau, auf sich zurennen sieht.

»Aufhalten, aufhalten!« ruft die Frau atemlos. »Halten Sie ihn auf, Sir!«

Er springt in die Mitte der Straße, um dem Jungen den Weg abzuschneiden. Aber dieser ist rascher als er, schlägt einen Haken, duckt sich, entschlüpft seinen Händen, kommt ein halbes Dutzend Schritte weiter wieder zum Vorschein und setzt seine Flucht fort.

Immer noch verfolgt ihn die Frau mit dem Ruf: »Aufhalten! Halten Sie ihn auf, Sir!«

Allan, in der Meinung, daß der Junge ihr vielleicht ihr Geld gestohlen habe, macht auf ihn Jagd und läuft so rasch, daß er ihn wohl ein Dutzend Mal überholt, aber jedes Mal schlägt dieser wieder einen Haken, duckt sich und entwischt. Ihm bei einer solchen Gelegenheit einen Schlag zu versetzen, würde der Jagd sogleich ein Ende machen, aber dazu kann sich Mr. Woodcourt nicht entschließen, und so dauert die phantastische lächerliche Verfolgung fort. Endlich verläuft sich der Flüchtling in seiner Bedrängnis in eine schmale Sackgasse. Hier, an einer morschen Planke, kann er nicht mehr entkommen und kauert sich zusammen, seinen Verfolger ankeuchend, der ebenfalls außer Atem vor ihm steht und wartet, bis die Frau herankommt.

»Du, Jo«, ruft die Frau. »Was? Habe ich dich endlich gefunden!«

»Jo?« wiederholt Allan und betrachtet den Jungen aufmerksam. »Jo! Wart einmal. Ja richtig! Ich erinnere mich, dich vor einiger Zeit bei einer Leichenschau gesehen zu haben.«

»Ja, i hab Ihna schon amal bei der Totenschau gsehn«, wimmert Jo. »Was is da weiter? Können S net an Unglücklichen wie mich in Ruh lassn? Bin i net auch so schon unglücklich genug. Wie unglücklich soll i denn noch werdn. I bin hin- und hergestoßn worn, erst von dem einen, dann von dem andern, bis i nur noch Haut und Knochen bin. An der Totenschau war i net schuld. I hab nie nix tan. Er war immer sehr gut gegen mich. Er war der einzige, was mit mir gsprochn hat, wenn er über die Straßen gangen is. Warum hätt i ihm denn a Totenschau wünschn sollen? I wollte, i war selbst schon so weit. I weiß überhaupt net, warum i net hergeh und a Loch ins Wasser mach. Wirkli net…«

Er bringt das mit so einer erbärmlichen Miene vor, seine schmutzigen Tränen scheinen so echt zu sein, und er liegt in dem Winkel der Verplankung, einem Schwamm oder einem andern aus Unreinlichkeit oder dergleichen entstandnen krankhaften Gewächs so ähnlich, daß Allan Woodcourt milder gegen ihn gestimmt wird.

»Was hat denn dieses jämmerliche Geschöpf getan?« fragt er die Frau.

»O du, Jo, habe ich dich endlich gefunden!« Sie schüttelt mehr in Verwunderung als in Zorn den Kopf, wie sie auf die auf dem Boden kauernde Gestalt heruntersieht.

»Was hat er denn getan?« wiederholt Allan. »Hat er Sie beraubt?«

»Nein, Sir, nein. Mich beraubt? Er ist immer gut zu mir gewesen, und das ist eben das Wunder.«

– Allan sieht Jo und die Frau fragend an und wartet, daß eines der beiden ihm das Rätsel lösen werde. –

»Er hat sich einmal zu mir geflüchtet«, sagt die Frau. »O du, Jo… Und er lag krank bei mir, Sir, unten in St. Albans, und eine junge Dame – Gott segne ihr gutes Herz! – hat sich seiner erbarmt und ihn mit nach Hause genommen…«

Allan fährt mit plötzlichem Grausen einen Schritt zurück.

»Ja, Sir, ja! Hat ihn nach Hause genommen und gepflegt, und das undankbare Scheusal ist in der Nacht fortgelaufen und hat nichts mehr von sich sehen oder hören lassen, bis heute. Die junge Dame war so hübsch und hat sich von ihm angesteckt! Sie hat ihr schönes Gesicht verloren, und man würde sie gar nicht mehr wiedererkennen, wenn nicht ihr gutes Herz, ihre hübsche Gestalt und ihre liebe Stimme wären. Weißt du das, du undankbares Geschöpf?! Weißt du, daß alles wegen dir und ihrem Erbarmen zu dir so gekommen ist! ?« fragt die Frau voll Zorn bei der Erinnerung und bricht in leidenschaftliche Tränen aus.

Der Junge, in seiner verwilderten Art und ganz bestürzt von dem, was er hört, fängt an, sich die Stirn mit seiner schmutzigen Hand zu beschmieren, die Erde anzustarren und von Kopf bis Fuß zu zittern, bis die gebrechliche Planke, an die er sich lehnt, klappert. Allan winkt heimlich der Frau, sich zu beruhigen.

»Richard hat mir das schon erzählt«, sagt er stockend. »Ich meine, ich habe davon gehört… Achten Sie einen Augenblick nicht auf mich. Ich werde gleich mit Ihnen sprechen.«

– Er wendet sich weg und blickt eine Weile aus der Sackgasse heraus. Als er zurückkommt, ist er wieder vollkommen gefaßt, nur kämpft er sichtlich gegen eine gewisse Scheu vor dem Knaben an, die so merkwürdig ist, daß sie der Frau auffällt. –

»Du hörst, was sie sagt. Steh doch endlich auf!«

Bebend und zähneklappernd steht Jo langsam auf und steht, wie Menschen seiner Art, wenn sie in einer Klemme sind, mit der Schulter an die Planke gedrückt und reibt sich mit dem linken Fuß den rechten.

»Du hörst, was sie sagt, und ich weiß, daß es wahr ist. Bist du seitdem hier gewesen?«

»I will augenblicklich tot umfalln, wenn i vor heut morgen ‚Toms Einöd‘ wiedergsehn hab«, beteuert Jo mit heiserer Stimme.

»Weshalb bist du jetzt hergekommen?«

Jo schaut sich in der Sackgasse um, sieht dann den Fragenden an, aber nicht höher als bis zum Knie, und antwortet endlich:

»I weiß net, was anfangen, und krieg nix zu tun. I bin sehr arm und krank und hab mi zurückschleichen wolln, wann noch neamd auf is. I hab mi verstecken wollen, bis s dunkel wird, und dann zu Mr. Sangsby gehen und mir was von ihm ausbetteln. Er hat mir immer gern was gebn, wenn auch Mrs. Sangsby immer hinter mir drein gewesen is, wie alle Leut überall.«

»Wo kommst du her?«

Jo sieht sich wieder in der Sackgasse um, blickt wieder das Knie des Fragenden an und lehnt schließlich resigniert den Kopf seitwärts an die Planke.

»Hast du nicht gehört? Wo du jetzt herkommst?«

»Rumgstrichn bin i.«

»Sag mir jetzt«, fährt Allan fort, zwingt sich, seine Scheu zu überwinden, tritt nahe an Jo heran und bückt sich freundlich über ihn. »Sag mir jetzt, warum bist du eigentlich aus dem Hause entflohen, als die gutherzige junge Dame das Unglück hatte, dich aus Mitleid mitzunehmen?«

Jo erwacht plötzlich aus seiner Resignation und erklärt in großer Aufregung der Frau, daß er nie von der jungen Dame vorher gewußt oder gehört habe, ihr nie ein Leid habe tun wollen und sich lieber den Kopf abhacken lassen möchte, als ihr Böses zuzufügen. Sie sei sehr gut gegen ihn gewesen, sehr gut. Und er benimmt sich dabei in seiner verwilderten Art, daß man sehen kann, wie ernst es ihm ist, und schließt dann mit einem kläglichen Schluchzen.

Allan Woodcourt sieht, daß das keine Verstellung ist. Er überwindet sich und faßt den Jungen an. »Komm, Jo, sag es mir!«

»Na. I darf net«, sagt Jo und drückt sich wieder an die Planke. »I darf net, sonst möcht i s schon sagen.«

»Aber ich muß es doch wissen. Trotzdem! Komm, Jo, sag es nur.«

Nach wiederholtem Drängen hebt Jo wieder den Kopf, schaut sich wieder in der Sackgasse um und sagt halblaut: »No, i will Ihnen was sagen. Er hat mi fortgeholt. Das is s.«

»Fortgeholt? In der Nacht?«

»Mhm!« – Voll Angst, es könne ihn jemand belauschen, schaut Jo besorgt umher, und auf den Rand der Planke hinauf, und späht durch die Spalten, ob nicht jemand dahinter versteckt sei.

»Wer hat dich denn weggeholt?«

»I darf n net nennen. Ich darf net, Sir.«

»Aber ich muß es wegen der jungen Dame wissen. Du kannst mir ruhig vertrauen. Es wird es niemand erfahren.«

»Aber i weiß net, ob er’s net am End doch hört«, antwortet Jo und schüttelt in banger Besorgnis den Kopf.

»Aber er ist doch gar nicht hier!«

»Ja, wenn man das wüßt«, sagt Jo. »Er ist immer überall zur gleichen Zeit.«

Allan sieht ihn betroffen an, erkennt aber, daß dieser verwirrten Antwort etwas Wahres zugrunde liegen müsse. Er wartet ruhig auf eine deutlichere Auskunft, und Jo, auf den seine Geduld zwingender wirkt als alles andre, flüstert ihm schließlich verzweifelt einen Namen ins Ohr.

»So!?« sagt Allan. »Was hast du denn angestellt?«

»Nix, Sir. Hab nie nix Unrechts net angstellt, außer die Totenschau, und daß i mi net druckt hab. Aber jetzt muß i fort. I will auf n Friedhof.. . Dort ghör i hin.«

»Nein, nein. Wir wollen versuchen, das zu verhindern. Aber was hat er denn mit dir gemacht?«

»Hat mi ins Siechenhaus gsteckt, bis i wieder gsund worn bin«, erklärt Jo flüsternd. »Nacher hat er mir Geld geben, vier halbe Stutz, und nacher hat er gsagt, bist hier nix nutz, hat er gsagt. Da nimm und schau, daß d weiter kommst. Daß i di net wieder innerhalb vierzg Meilen von London siech, sonst sollst mir’s büßen. Und i wers büßen müssen, wann er mi sieht, und er wird mi sehgn, solang i über der Erd bin«, schließt Jo und wirft wieder forschende Blicke voller Unruhe in der Sackgasse auf und ab.

Allan denkt ein wenig nach, dann bemerkt er, zur Frau gewendet, und sieht dabei immer noch Jo freundlich und ermutigend an:

»Sehen Sie, er ist nicht so undankbar, wie Sie angenommen haben. Er hatte einen Grund zum Fortgehen, wenn auch keinen genügenden.«

»I dank Ihna recht schön!« ruft Jo. »Da sehgn S es wieder, wie hart S gegen mi gewesn sin. Aber sagen S nur der jungen Dame, was der Herr sagt, und s is schon in Ordnung. Denn Sie sin immer gut gegen mi gwesn, i weiß doch.«

»Komm jetzt mit, Jo«, sagt Allan und läßt den Jungen nicht aus den Augen. »Ich will einen bessern Platz für dich finden, wo du dich ausruhen und verstecken kannst. Wenn ich auf der einen Seite der Straße gehe und du auf der andern, damit es nicht auffällt, wirst du nicht fortlaufen, wenn du es versprichst, das weiß ich recht gut?!«

»Na, gwiß net, außer wann i ihn kommen seh, Sir.«

»Also gut. Ich verlasse mich auf dein Wort. Die halbe Stadt steht jetzt erst auf, und eine Stunde drauf wird erst die ganze auf den Beinen sein. Komm mit. Nochmals guten Tag, gute Frau!«

»Guten Tag, Sir, und ich dank Ihnen auch noch vielmals.«

Die Frau hatte sich während der Gespräche auf ihr Bündel gesetzt und aufmerksam zugehört. Jetzt steht sie auf und nimmt es wieder unter den Arm. Jo wiederholt noch ein Mal: »Sagn S es nur der jungen Dame, daß ich ihr nie ka Leid net hab antun wolln, und was der Herr vorhin gsagt hat.« Er zittert, wetzt sich an der Planke, halb lachend, halb weinend, nickt ihr ein Lebewohl zu, setzt dann schleichend an der Wand seinen Weg hinter Allan Woodcourt fort und geht, seinem Auftrag gemäß, dicht an den Häusern auf der andern Seite der Straße hin. So treten sie beide aus »Toms Einöd« hinaus in die vollen Strahlen des Sonnenscheins und in reinere Luft.

47. Kapitel


47. Kapitel

Jos letzter Wille

Während Allan Woodcourt und Jo durch die Straßen gehen, wo die hohen Kirchtürme im Morgenlicht so rein und frisch aussehen, als ob auch die Stadt sich durch den Schlaf erquickt hätte, überlegt Allan, wo und auf welche Art er seinen Begleiter unterbringen könnte. Es ist doch seltsam, denkt er sich, daß mitten im Herzen einer zivilisierten Welt dieses Geschöpf von menschlicher Gestalt schwerer unterzubringen ist als ein herrenloser Hund. Aber trotz seiner Seltsamkeit bleibt es eine Tatsache, und die Schwierigkeit wird dadurch nicht behoben. Anfangs blickt er oft zurück, um zu sehen, ob Jo ihm wirklich noch folge. Aber beständig sieht er ihn dicht an den Häusern gegenüber sich seinen Weg von einer Tür zur andern tasten und dabei gelegentlich aufmerksam zu ihm herüberblicken. Bald überzeugt, daß Jo durchaus nicht daran denkt, davonzulaufen, geht Allan weiter und überlegt mit weniger geteilter Aufmerksamkeit, was er tun solle.

Ein Frühstücksstand an einer Straßenecke erinnert ihn an das, was vor allem nötig ist. Er bleibt dort stehen, blickt zurück und winkt. Jo kommt hinkend und schlotternd über die Straße und reibt die Knöchel seiner rechten Hand in der hohlen Fläche der linken, Schmutz in einem natürlichen Mörser knetend. Ein für Jo leckeres Mahl wird ihm jetzt vorgesetzt, und er fängt an, Kaffee hinunterzuschlingen und Butterbrot zu kauen, und während er ißt und trinkt, sieht er sich wie ein gehetztes Tier ängstlich nach allen Richtungen um. Aber er ist so krank und herabgekommen, daß ihn selbst der Hunger verlassen hat.

»Zerst hab i glaubt, i verhunger fast, Sir«, sagt er und legt das Essen wieder hin. »Aber i kenn mi gar nimmer aus, net amal dadrin mehr. Mir is jetzt ganz gleich, ob i was eß oder was trink.« Dann steht er fieberzitternd auf und sieht das Frühstück verwundert an. Allan Woodcourt befühlt ihm den Puls und die Brust. »Hol einmal Atem, Jo.«

»Er geht so schwer wie a Lastwagn«, sagt Jo. Er könnte sagen, »und rasselt auch so«, aber er murmelt nur vor sich hin: »Jetzt mach i wirkli ‚Marsch vorwärts‘, Sir.«

Allan sieht sich nach einer Apotheke um. Es ist keine in der Nähe, aber eine Schenke ist gerade so gut oder noch besser. Er holt ein wenig Wein und gibt dem Knaben mit großer Vorsicht einen kleinen Schluck davon. Fast schon beim ersten Tropfen fängt Jo an, wieder aufzuleben.

»Wir können die Dosis wiederholen«, bemerkt Allan, nachdem er Jo mit aufmerksamem Gesicht beobachtet hat. »Jo! Jetzt wollen wir fünf Minuten Rast machen und dann weitergehen.«

Er läßt den Jungen auf der Bank des Frühstücksstandes, mit dem Rücken gegen ein eisernes Gitter gelehnt, sitzen und geht in der Morgensonne auf und ab, wobei er von Zeit zu Zeit einen Blick auf ihn wirft, ohne sich anmerken zu lassen, daß er ihn beobachtet. Es bedarf keines Scharfblickes, um zu bemerken, daß es Jo wärmer geworden ist und er sich erquickt fühlt. Wenn sich ein so umdüstertes Gesicht überhaupt aufhellen kann, so ist das jetzt der Fall, und in kleinen Bissen verzehrt Jo den Schnitt Brot, den er vorhin verzweifelt aus der Hand gelegt hat. Als Allan diese Zeichen von Erholung bemerkt, knüpft er ein Gespräch mit dem Knaben an und lockt zu seiner nicht geringen Verwunderung das Abenteuer mit der verschleierten Dame und allen seinen Folgen aus ihm heraus. Jo kaut langsam, wie er es ihm nach und nach erzählt.

Wie er dann mit seiner Geschichte und seinem Brot fertig ist, setzen sie ihren Weg fort.

In der Absicht, sich bei seiner ehemaligen Patientin, der dienstwilligen Miß Flite, Rat zu holen, wo er in seiner Verlegenheit für den Knaben vorläufig einen Zufluchtsort finden will, geht Allan nach dem Hof, wo er und Jo das erste Mal miteinander in Berührung gekommen waren.

In dem Hadern- und Flaschenladen ist jetzt alles anders geworden, und Miß Flite wohnt nicht mehr dort. Er ist geschlossen, und ein Frauenzimmer mit harten, staub geschwärzten Zügen, dessen Alter niemand erraten kann – es ist niemand anders als die interessante Judy –, gibt spitze und kurze Antworten. Aus ihnen entnimmt der junge Arzt, daß Miß Flite mit ihren Vögeln gegenwärtig bei Mrs. Blinder in Beil-Yard wohnt, und begibt sich nach diesem benachbarten Platz, und Miß Flite, die immer früh aufsteht, um pünktlich in dem von ihrem Freund, dem Lordkanzler, abzuhaltenden Gerechtigkeitsschauspiel zu erscheinen, kommt ihm mit Tränen des Willkommens und offnen Armen die Treppe herunter entgegengelaufen.

»Mein lieber Doktor!« ruft sie, »mein verdienstvoller ausgezeichneter höchst ehrenwerter Offizier.« Sie gebraucht einige sonderbare Ausdrücke, aber sie ist so warm und herzlich, wie man es nur von einem Menschen mit gesundem Verstand verlangen könnte –, ist es mehr, als man es oft bei einem solchen findet.

Allan, gewohnt, viel Geduld mit ihr zu haben, wartet, bis ihr die Worte ausgegangen sind, dann zeigt er auf Jo, der zitternd im Torweg steht, und erzählt ihr, wie und wo er ihn gefunden habe.

»Wo kann ich ihn hier in der Nähe unterbringen? Sie wissen so viel und sind so verständig und können mir vielleicht einen Rat geben.«

Miß Flite ist auf dieses Kompliment gewaltig stolz und fängt an, zu überlegen. Aber es dauert lange, ehe ihr etwas einfällt. »Mrs. Blinder hat alles vermietet und wohnt jetzt selbst im Zimmer des armen Gridley. – Gridley!!« ruft sie plötzlich und klatscht in die Hände, nachdem sie den Namen ungefähr zwanzig Mal wiederholt hat. »Gridley! Aber natürlich! Mein bester Doktor, General George wird uns helfen.«

Es wäre ein vergebliches Bemühen, Näheres von General George zu erfahren, auch wenn Miß Flite nicht bereits die Treppen hinaufgelaufen wäre, den zerdrückten Hut aufzusetzen, ihren armseligen kleinen Schal umzunehmen und sich mit ihrem Strickbeutel voll Dokumenten zu bewaffnen. Wie sie dann in vollem Staat herunterkommt, in ihrer zerstreuten Weise erzählt, General George, den sie oft besuche, kenne ihre liebe Fitz Jarndyce und interessiere sich für alles, was sie beträfe, außerordentlich, glaubt Allan, sie könne doch vielleicht das Richtige gefunden haben. Er sagt daher Jo, um ihm wieder Mut zu machen, das Herumlaufen werde jetzt bald vorbei sein, und sie begeben sich zu dem General. Glücklicherweise ist es nicht weit.

Beim Anblick von Georges Schießgalerie, dem langen Gang und der kahlen Perspektive dahinter faßt Allan Hoffnung. Auch Mr. George, der, gerade mit seiner Morgenpromenade beschäftigt, ohne Halsbinde und mit den vom Fechten und Hantelstemmen gestählten Armen, deren gewaltiges Muskelspiel man durch die Hemdärmel hindurch bemerkt, die Pfeife im Mund, auf ihn zuschreitet, flößt ihm Vertrauen ein.

»Ihr Diener, Sir«, grüßt Mr. George militärisch.

Mit einem freundlichen Lächeln, das bis in das krause Haar hinaufspielt, wendet er sich dann zu Miß Flite, die sehr zeremoniell und wortreich Mr. Woodcourt vorstellt. Er grüßt nochmals militärisch mit einem abermaligen »Ihr Diener, Sir«.

»Entschuldigen Sie, Sir, Sie sind Seemann?«

»Es freut mich, daß Sie finden, ich sähe wie ein solcher aus, aber ich bin nur Schiffsarzt«, entgegnet Allan.

»Wirklich, Sir! Ich hätte Sie für eine regelrechte Blaujacke gehalten.«

Mr. Woodcourt gibt der Hoffnung Ausdruck, Mr. George werde ihm die verursachte Störung deshalb um so bereitwilliger verzeihen und vor allem seine Pfeife nicht weglegen, wozu dieser in seiner Höflichkeit Anstalten gemacht hat.

»Sie sind sehr gütig, Sir«, bedankt sich der Kavallerist. »Da ich aus Erfahrung weiß, daß es Miß Flite nicht stört, und Sie auch nichts dagegen haben…« er schließt den Satz, indem er seine Pfeife wieder zwischen die Zähne steckt. Allan erzählt ihm sodann alles, was er von Jo weiß, und Mr. George hört ernsthaft zu.

»Und das ist der Junge, Sir?« fragt er und wirft einen Blick auf den Eingang, wo Jo die großen Buchstaben an der weißen Wand, die für ihn so gar keine Bedeutung haben, unverwandt anstarrt.

»Das ist er. Und, Mr. George, ich befinde mich nun in folgender Verlegenheit seinetwegen. Ich möchte ihn nicht gern in ein Spital schaffen lassen, selbst wenn ich ihn dort sofort unterbringen könnte, weil ich voraussehe, er würde dort nur wenige Stunden bleiben, wenn er überhaupt hinginge. Ebenso verhält es sich mit dem Armenhaus. Selbst wenn ich die Geduld hätte, mich an der Nase herumführen und von Pontius zu Pilatus schicken zu lassen. Ich kann dem System keinen Geschmack abgewinnen.«

»Das kann niemand, Sir«, nickt Mr. George.

»Ich bin überzeugt, er würde an keinem der beiden Orte bleiben, weil er sich vor dem Mann, der ihm befohlen hat, sich nirgends mehr blicken zu lassen, ganz außerordentlich fürchtet. In seiner Unwissenheit glaubt er nämlich, dieser Mensch sei überall und wisse alles.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagt Mr. George, »aber Sie haben den Namen des Mannes nicht genannt. Ist es ein Geheimnis, Sir?«

»Der Junge wenigstens hält es dafür. Der Mann heißt Bucket.«

»Bucket von der Geheimpolizei, Sir?«

»Ja, derselbe.«

»Ich kenne ihn, Sir!« Der Kavallerist bläst eine mächtige Rauchwolke von sich und dehnt seine Brust gewaltig aus. »Der Junge hat insofern recht, als Bucket zweifellos ein – eigentümlicher Kunde ist.«

Mr. George raucht mit einer bedeutungsvollen Miene weiter und sieht Miß Flite schweigend an.

»Nun wünsche ich, daß Mr. Jarndyce und Miß Summerson wenigstens erfahren, daß Jo, der übrigens eine seltsame Geschichte zu erzählen weiß, wieder aufgefunden ist und daß sie mit ihm sprechen können, wenn sie es für gut befinden sollten. Ich möchte ihn deshalb vorderhand in einer ganz bescheidnen Wohnung bei anständigen Leuten unterbringen. Anständige Leute und Jo, Mr. George«, sagt Allan und folgt den Augen des Kavalleristen, die jetzt wieder nach dem Eingang blicken, »haben bisher nicht viel miteinander zu tun gehabt, wie Sie sehen. Darin liegt die Schwierigkeit. Kennen Sie vielleicht zufällig jemand in der Nähe, der ihn gegen Vorausbezahlung eine kurze Zeit bei sich aufnehmen würde?«

Noch während er die Frage stellt, bemerkt er einen kleinen Mann mit einem pulvergeschwärzten Gesicht, der jetzt plötzlich neben dem Kavalleristen steht und zu diesem mit einer seltsam verzwickten Miene aufsieht. Der Kavallerist pafft noch ein paar Züge, blickt dann auf den kleinen Mann herunter und sagt dann: »Ich versichere Ihnen, Sir, ich ließe mir jeder Zeit bereitwillig eins zwischen die Augenbrauen geben, wenn ich damit Miß Summerson einen Dienst leisten könnte. Ich rechne es mir als Ehre an, dieser Dame auch nur den kleinsten Dienst erweisen zu können. Wir behelfen uns hier natürlich ziemlich vagabundenhaft, ich und Phil. Sie sehen ja selbst, was es für ein Lokal ist. Ein stiller Winkel für den Jungen steht Ihnen aber hier zu Diensten, wenn es Ihnen paßt. Zu bezahlen ist nichts. Außer für die Ration. Wir sind hier nicht gerade in blühenden Verhältnissen und können unter Umständen, ohne eine Minute Kündigung, jeden Augenblick mit Sack und Pack hinausgeworfen werden. Aber solange es noch unser ist, steht Ihnen das Lokal so, wie es ist, zu Diensten.« Mit einem umfassenden Schwung seiner Pfeife stellt Mr. George Allan das ganze Gebäude zur Verfügung.

»Da Sie Arzt sind, Sir«, setzt er hinzu, »nehme ich an, daß diesmal vorderhand bei dem armen Jungen nichts von Ansteckung zu befürchten ist?«

Allan beruhigt ihn in dieser Hinsicht.

»Wir haben nämlich schon genug davon gehabt, Sir«, sagt George mit betrübtem Kopfschütteln.

Mr. Woodcourt nickt bekümmert. »Dennoch darf ich Ihnen nicht verhehlen«, bemerkt er, nachdem er seine Versicherung hinsichtlich der Ansteckungsgefahr wiederholt hat, »daß der Knabe sehr angegriffen und schwach ist, vielleicht – ich sage nur vielleicht – überhaupt schon zu schwach ist, um sich jemals wieder zu erholen.«

»Glauben Sie, daß er augenblicklich in Gefahr schwebt, Sir?«

»Ja, ich fürchte es.«

»Dann, Sir«, fällt der Kavallerist mit großer Entschiedenheit ein, »ist es das Beste, wenn er unverzüglich hereinkommt. Ich gehöre selbst ein wenig zu den Vagabunden und verstehe das. Phil! Bring ihn herein!«

Mr. Squod krebst seitwärts hinaus, um den Befehl auszuführen, und der Kavallerist legt die jetzt ausgerauchte Pfeife weg. Jo wird hereingebracht. Er ist nicht einer von Mrs. Pardiggles Tokahupo-Indianern, keins von Mrs. Jellybys Lämmern und hat mit Borriobula-Gha auch nichts zu schaffen; die weite Ferne und der Reiz des Fremdartigen lassen ihn nicht in besserem Licht erscheinen; er ist kein wirklicher, in der Fremde aufgewachsner Wilder, sondern ein ganz gewöhnlicher einheimischer Artikel. Schmutzig, scheußlich, allen Sinnen eine Qual, äußerlich ein niedriges Geschöpf der Straße, ist er auch der Seele nach ein Heide. Heimischer Schmutz bedeckt ihn, heimisches Ungeziefer verzehrt ihn, heimische Krankheiten wüten in ihm, und heimische Lumpen umhüllen ihn. Eingeborne Unwissenheit, auf Englands Boden gewachsen, drückt seine unsterbliche Natur auf eine tiefere Stufe als die eines verendeten Tiers. Ja, ja, zeig dich nur, Jo, ganz so, wie du bist! Vom Scheitel bis zur Sohle ist nichts Interessantes an dir!

Langsam kommt er in Mr. Georges Schießsaal gehumpelt und steht – ein Lumpenbündel – da und hebt seinen Blick nicht von der Erde.

Er scheint zu wissen, daß alle eine Neigung fühlen, von ihm zurückzuweichen, teils wegen dessen, was er ist, teils wegen dessen, was er verschuldet hat. Auch er scheut sich vor ihnen. Er gehört nicht zur selben Wesensreihe in der Schöpfung wie sie. Er gehört zu keiner Klasse und nirgends hin, weder zu den Tieren noch zu den Menschen.

»Schau mal her, Jo«, sagt Allan. »Das ist Mr. George.«

Jo sucht noch eine Zeitlang mit den Augen auf dem Fußboden herum, blickt eine Sekunde lang auf und dann wieder zu Boden.

»Er meint es gut mit dir und will dich hier beherbergen.«

Jo macht mit der Hand eine schaufelnde Bewegung, was wahrscheinlich eine Verbeugung ausdrücken soll. Nach einigem Besinnen und ein paarmal den Fuß, auf dem er seinen Körper ruhen läßt, wechselnd, brummt er, er sei sehr dankbar.

»Du bist hier vollständig in Sicherheit. Vorläufig hast du nichts weiter zu tun, als gehorsam zu sein und wieder zu Kräften zu kommen, aber du mußt uns die Wahrheit sagen, Jo! Verstehst du mich?«

»I soll auf der Stelle tot umfalln, wann is net tu, Sir«, sagt Jo mit seiner Lieblingsbeteuerung. »I hab nie nix angstellt, als was Sie schon wissn, und doch habens mi immer verfolgt. I hab bloß nie nix gwußt, Sir, und hab ghungert.«

»Ich glaub es dir. Gib jetzt acht auf Mr. George. Ich sehe, er will dir etwas sagen.«

»Ich wollte ihm nur zeigen, Sir«, bemerkt Mr. George, unglaublich breitschultrig und kerzengerade aussehend, »wo er sich hinlegen und einmal ordentlich ausschlafen kann, Sir. – Komm mal her.«

Mit diesen Worten führt der Kavallerist Jo in den Hintergrund der Schießstätte und macht die Tür eines der kleinen Verschlage auf. »Das ist für dich. Schau her! Und dort ist eine Matratze. Hier kannst du, wenn du dich gut aufführst, solang bleiben, als Mr… Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, – er wirft einen Blick auf die Karte, die ihm Allan gegeben hat – »solange es Mr. Woodcourt beliebt. Erschrick nicht, wenn du schießen hörst. Es wird auf die Scheibe geschossen und nicht nach dir. – Ich möchte nur noch etwas empfehlen, Mr. Woodcourt. – Phil, komm einmal her!«

Phil laviert in seiner gewohnten Art auf seinen Herrn los.

»Hier ist ein Mann, Sir, den sie einst als kleines Kind im Rinnstein gefunden haben. Daher ist anzunehmen, daß er ein natürliches Interesse an dem armen Teufel nimmt. Was meinst du, Phil?«

»Gewiß und wahrhaftig, Govner«, versichert Phil.

»Meine Meinung ist, Sir«, sagt Mr. George mit einer gewissen soldatischen Offenherzigkeit, als ob er in einem Kriegsrat bei Trommelwirbel etwas vorbrächte, »daß, wenn dieser Mann den Jungen in ein Bad steckte und für ein paar Schillinge ein paar ordinäre Sachen besorgte…«

»Sie denken an alles, Mr. George«, unterbricht ihn Allan und zieht seine Börse heraus. »Ich wollte Sie gerade darum bitten.«

Phil Squod und Jo werden auf der Stelle fortgeschickt, um den Reinigungsprozeß vorzunehmen. Miß Flite, ganz entzückt, daß alles so glatt geht, eilt, so schnell sie kann, nach dem Gerichtshof, denn sie ist in großer Angst, ihr Freund, der Lordkanzler, könne ihretwegen in Sorge sein oder das lang erwartete Urteil in ihrer Abwesenheit erlassen. »Und das«, bemerkt sie, »wäre nach so vielen Jahren denn doch gar zu schrecklich, mein lieber Doktor, und Sie, General.«

Allan benützt die Gelegenheit, einige stärkende Arzneien in der Nähe zu besorgen. Dann kehrt er zurück, findet den Kavalleristen in der Schießstätte auf- und abmarschieren und schließt sich ihm an.

»Ich vermute, Sie kennen Miß Summerson ziemlich gut?« fragt Mr. George.

»Ja, allerdings.«

»Nicht verwandt mit ihr, Sir?«

»Nein, das nicht.«

»Entschuldigen Sie meine Neugierde. Es schien mir wahrscheinlich, daß Sie mehr als gewöhnliche Teilnahme für den armen Teufel deswegen fühlen, weil sich Miß Summerson schon – leider zu ihrem Schaden – so sehr für ihn interessiert hat. So geht es wenigstens mir, Sir.«

»Und mir auch, Mr. George.«

– Der Kavallerist betrachtet von der Seite Allans gebräunte Wange, und sein lebhaftes dunkles Auge mißt mit raschem Blick seinen Wuchs und scheint Gefallen an ihm zu finden. –

»Als Sie fort waren, Sir, ist mir eingefallen, daß ich die Zimmer in Lincoln’s-Inn-Fields, wo Bucket den Jungen, seiner Aussage nach, hinbrachte, kenne. Wenn er auch den Namen nicht weiß, ich kann ihn Ihnen nennen. Tulkinghorn! So heißt er.«

Allan sieht den Kavalleristen fragend an und wiederholt den Namen.

»Tulkinghorn. So heißt er, Sir. Ich kenne den Mann und weiß, daß er früher mit Bucket wegen eines inzwischen Verstorbnen, der ihn einmal beleidigte, zu tun gehabt hat. Ich kenne den Mann, Sir. – Zu meinem Leidwesen.«

Allan fragt natürlich, was für ein Mann Mr. Tulkinghorn sei.

»Was für ein Mann? Meinen Sie, wie er aussieht?«

»Ich glaube, soweit kenne ich ihn. Ich meine, in seinem Wesen. Was er so im allgemeinen für ein Mensch ist?«

»Nun, das will ich Ihnen sagen, Sir.« Der Kavallerist bleibt stehen, verschränkt die Arme über der breiten Brust und wird dabei so zornig, daß sein Gesicht über und über rot wird.

»Er ist eine verdammt schlechte Art Mensch. Einer, der die Leute langsam martert. Er hat ebensowenig Fleisch und Blut wie ein verrosteter alter Karabiner. Er ist ein Mann – beim heiligen Georg –, der mir mehr Unruhe und Sorgen und Unzufriedenheit mit mir selbst verursacht hat als alle Menschen zusammengenommen. Von der Sorte ist Mr. Tulkinghorn einer.«

»Es tut mir leid, eine wunde Stelle berührt zu haben«, entschuldigt sich Allan.

»Eine wunde Stelle?« Der Kavallerist stellt sich breitbeinig hin, befeuchtet die Fläche seiner breiten rechten Hand und legt sie auf die Stelle, wo früher wahrscheinlich sein Schnurrbart gewesen ist. »Das ist Ihre Schuld nicht, Sir. Aber urteilen Sie selbst. Er hat mich ganz in der Hand. Er ist es, von dem ich vorhin sagte, daß er mich jeden Augenblick mit Sack und Pack hinauswerfen könne. Und er hält mich stets in einer beständigen Unruhe. Er greift nicht zu und läßt mich nicht los. Wenn ich ihm eine Zahlung zu machen oder um Stundung zu bitten oder sonst etwas mit ihm zu tun habe, ist er für mich nicht zu Hause – schickt mich zu Melchisedek in Clifford’s-Inn, und Melchisedek in Clifford’s-Inn schickt mich wieder zurück –, und so muß ich endlos hin und her laufen, als sei ich aus Stein wie er. Bei Gott, mein halbes Leben vergeht jetzt damit, daß ich in einem fort an seiner Tür herumlungern muß. Was kümmert’s ihn? Nichts. Gerade so wenig wie den verrosteten alten Karabiner, mit dem ich ihn vorhin verglichen habe. Er peinigt und quält mich bis… Bah, Unsinn, ich vergesse mich, Mr. Woodcourt.« Der Kavallerist nimmt seinen Marsch wieder auf. »Ich sage weiter nichts, als daß er ein alter Mann ist. Aber froh bin ich, daß ich nie Gelegenheit haben kann, meinem Pferd die Sporen zu geben und mit ihm unter gleichen Bedingungen Mann gegen Mann zu stehen. Denn wenn ich dann in einer der Stimmungen wäre, in die er mich immer hineinzwingt, würde ich ihn mir ausborgen, Sir!«

Mr. George hat sich so in die Wut hineingeredet, daß er sich die Stirn mit dem Hemdärmel abwischen muß. Er pfeift zwar seinen Zorn mit der Nationalhymne weg, aber an seinem gelegentlichen Kopfschütteln und dem tiefen Aufatmen seiner breiten Brust kann man erkennen, daß er innerlich immer noch nicht ganz beruhigt ist. Auch zerrt er noch zuweilen mit beiden Händen an seinem offnen Hemdkragen, als sei er ihm zu eng. Kurz, Allan Woodcourt hat nicht den geringsten Zweifel, daß Mr. Tulkinghorn, Mann gegen Mann, in freiem Feld den kürzern ziehen würde.

Der fürsorgliche Phil kehrt bald darauf zurück und geleitet Jo nach seiner Matratze. Allan reicht dem Kranken eigenhändig die Medizin, erteilt Mr. Squod die nötigen Ratschläge und vertraut ihm dann die Mittel an. Es ist jetzt bereits Vormittag. Er begibt sich, um sich umzuziehen und zu frühstücken, in seine Wohnung und dann unverzüglich zu Mr. Jarndyce, um diesem von der gemachten Entdeckung Mitteilung zu machen.

In seiner Begleitung und von ihm im Vertrauen eingeweiht, daß Gründe vorhanden seien, die Sache so geheim wie möglich zu halten, kommt er voll Interesse wieder. Jo wiederholt vor Mr. Jarndyce im großen ganzen genau und ohne wesentliche Abschweifungen, was er heute morgen erzählt hat, nur daß der Lastkarren noch schwerer geht und noch hohler rasselt.

»Lassen S mi ruhig hier liegen und quälen S mi nimmer«, ächzt Jo. »Und sin S so gut, wenn S in die Näh kommen, wo i früher die Straßn kehrt hab, so sagen S Mr. Sangsby, daß Jo, den er früher gut kennt hat, jetzt urdentlich ‚Marsch vorwärts‘ macht. I möcht schön danken dafür.«

– Im Lauf des Tages und noch am nächsten erwähnt er so oft den Schreibmaterialienhändler, daß Allan sich in seiner Gutmütigkeit entschließt, nachdem er mit Mr. Jarndyce beraten hat, selbst nach Cook’s Court zu gehen; um so mehr, als der Lastkarren bald das Ende der Fahrt erreicht zu haben scheint. –

Er begibt sich also nach Cook’s Court. Mr. Snagsby steht in grauem Rock und Schreibärmeln hinter seinem Ladentisch und sieht einen Stoß Akten auf Pergament, der eben von einem Kopisten gekommen ist, durch. Es ist eine unermeßliche Wüste aus Kanzleihandschrift und Pergament, in der nur hie und da ein paar große Buchstaben als Rastorte dienen, um Abwechslung in die grauenhafte Monotonie zu bringen und den Reisenden vor Verzweiflung zu retten. Mr. Snagsby macht bei der Durchforschung einer dieser Titenzisternen halt und begrüßt den Fremden mit einem allgemeinen Einleitungshüsteln.

»Sie erinnern sich meiner wohl nicht mehr, Mr. Snagsby?«

Dem Papierhändler fängt das Herz an heftig zu klopfen, denn er ist seine alten Befürchtungen nie ganz los geworden. Kaum kann er herausbringen: »Nein, Sir, ich kann mich wirklich nicht entsinnen. Ich sollte meinen – um nicht durch die Blume zu sprechen –, daß ich Sie noch nie im Leben gesehen habe, Sir.«

»O doch, zwei Mal«, hilft Allan Woodcourt seinem Gedächtnis nach. »Ein Mal am Totenbett eines Unglücklichen und ein Mal…«

»Also doch!« denkt der Papierhändler niedergeschmettert, und es dämmert in seinem Kopf. »Da haben wir’s! Jetzt ist alles aus!« Aber er hat noch Geistesgegenwart genug, um seinen Besuch in das kleine Komptoir zu drängen und die Türe zu schließen.

»Sind Sie verheiratet, Sir?«

»Nein.«

»Möchten Sie nicht vielleicht, wenn Sie auch Junggeselle sind«, flüstert Mr. Snagsby bekümmert, »so leise wie nur irgend möglich sprechen? Denn meine kleine Frau horcht bestimmt irgendwo. Mein Geschäft und fünfhundert Pfund dazu möchte ich darauf wetten.«

In tiefer Bekümmernis setzt sich Mr. Snagsby auf seinen Stuhl, den Rücken zum Pult gekehrt, und beteuert:

»Ich habe nie ein Geheimnis für mich gehabt, Sir. Ich kann mich nicht entsinnen, meine kleine Frau seit dem Tag, wo wir versprochen wurden, ein einziges Mal absichtlich hintergangen zu haben. Ich würde es unter keinen Umständen getan haben, Sir. – Um nicht durch die Blume zu sprechen –, ich hätte es auch nicht können, nicht einmal wagen dürfen. Und doch bin ich von Geheimnissen und Rätseln so umgeben, daß es mir fast das Leben zur Last macht.«

Der Arzt gibt sein Bedauern zu erkennen und fragt, ob Mr. Snagsby sich Jos erinnere.

»Ja, leider«, seufzt der Papierhändler. »Sie könnten kein menschliches Wesen nennen – mich selbst vielleicht ausgenommen –, gegen das meine kleine Frau entschiedner aufträte als gegen Jo.«

Allan fragt, warum.

»Warum!?« Mr. Snagsby packt in seiner Verzweiflung das Büschel Haare am rückwärtigen Teil seines sonst ganz kahlen Kopfes. »Wie kann ich wissen, warum? Aber Sie sind eben ein lediger Mann, Sir. Mögen Sie lange Zeit nicht nötig haben, einer verheirateten Person eine solche Frage zu stellen.«

– Mit diesem wohlwollenden Wunsch hüstelt Mr. Snagsby einen Husten bekümmerter Ergebenheit und hört mit Duldermiene an, was der Besuch ihm mitzuteilen hat. –

»Da haben wir’s wieder«, sagt er dann, teils aus tiefem Mitgefühl, teils, weil er angsterfüllt so leise flüstert, ganz blaß geworden. »Da geht’s schon wieder los in einer neuen Richtung. Eine gewisse Person beschwört mich aufs feierlichste, niemandem, selbst nicht meiner kleinen Frau, etwas von Jo zu sagen. Dann kommt eine andre gewisse Person in Ihrer Person und beschwört mich in gleich feierlicher Weise, der andern gewissen Person um Gottes willen nichts von Jo zu sagen. Das ist ja das reinste Privatirrenhaus. – Um nicht durch die Blume zu sprechen –, es ist die Landesirrenanstalt selbst, Sir«, sagt Mr. Snagsby.

Aber trotz alledem sieht er ein, daß es hätte noch schlimmer kommen können. Es ist weiter keine Mine unter ihm explodiert, und die Fallgrube, in die er schon früher gestürzt ist, hat sich weiter nicht vertieft.

Und da er ein weiches Herz hat und von dem, was er über Jos Befinden hört, sehr gerührt ist, verspricht er gern, »mal einen Blick hinüber zu werfen«, sobald er es heute abend irgendwie unbemerkt tun kann.

Und als der Abend kommt, begibt er sich ganz im stillen hinüber…

Aber wer weiß, vielleicht tut das Mrs. Snagsby ebenfalls.

Jo freut sich sehr, seinen alten Freund wiederzusehen, und sagt, als sie allein sind, es sei von Mr. Snagsby unendlich freundlich, seinetwegen einen so weiten Weg gemacht zu haben. Ergriffen von dem Anblick, legt der Schreibmaterialienhändler sofort eine halbe Krone auf den Tisch, seinen Zauberbalsam für alle Arten Wunden.

»Und wie geht es dir denn, mein armer Junge?« fragt er mit seinem Teilnahmshüsteln.

»I bin jetzt ganz ausm Wasser, Mr. Sangsby. I brauch gar nix mehr. Mir is wohler, als Ihna denkn können, Mr. Sangsby. Mir is arg leid, daß is tan hab, aber i habs net mit Fleiß tan, Sir.«

Der Papierhändler legt leise noch eine halbe Krone auf den Tisch und fragt ihn, was ihm denn leid tue, getan zu haben.

»Mr. Sangsby«, sagt Jo, »i bin hergangen und bin schuld, daß die Dame krank wordn is, was die andre Dame war und doch wieder nicht war. Keiner von ihnen hat mir deswegn was gsagt, weil s alle so gut sin und i so unglücklich bin. Die Dame is gestern selber herkommn und hat gsagt: ‚Jo‘, hats gsagt, ‚wir dachten schon, mir hätten dich verloren‘, hats gsagt und hat sich ruhig lächelnd hingsetzt und hat net a böses Wort und kan bösen Blick net für mi ghabt, und i hab mi gegen die Wand drehen müssn, Mr. Sangsby, und Mr. Jarnders hat si auch abwendn müssn, wie i gsehgn hab. Und Mr. Woodcot hat mir bei Tag und Nacht was zur Beruhigung gebn, hat si über mi gebeugt und hat mir Mut zugsprochen, aber dabei sin ihm die Tränen heruntergloffn, Mr. Sangsby!«

Gerührt legt der Papierhändler abermals eine halbe Krone auf den Tisch. Nur eine Wiederholung dieses unfehlbaren Mittels ist imstande, sein Herz zu erleichtern.

»Was i mir denkt hab, Mr. Sangsby«, fährt Jo fort, »is, ob Sie leicht recht groß schreiben könnan?«

»Ja, Jo. Gott sei Dank!«

»So ganz groß leicht?« fragt Jo eindringlich.

»Ja, natürlich, mein armer Junge.«

Jo lacht vor Freude. »Was i mir also denkt hab, Mr. Sangsby, is, wenn i so weit Marschvorwärts gmacht hab, bis s kein Schritt mehr weiter geht, ob S da nicht vielleicht so gut sein möchten, es so ganz groß hinzuschreiben, daß es jeder überall sehgn kan, daß es mir wirklich so arg leid tut, daß is tan hab. Und daß is nie hab net tun wolln und daß Mr. Woodcot drüber geweint hat, und er soll mirs vergeben. Wenn die Schrift es so ganz groß sagn könnt, tut ers vielleicht.«

»Ich werde schon machen, Jo. Sehr groß!«

Jo lacht wieder. »I dank Ihnan, Mr. Sangsby. Es is sehr gut von Ihna, Sir, und s is mir jetzt viel wohler, als mir jemals gwesn is.«

Der gutmütige kleine Schreibmaterialienhändler bleibt mitten in seinem Hüsteln stecken und legt leise seine vierte halbe Krone hin. Er hat einen Fall, wo er so viele brauchte, bisher noch nie vor Augen gehabt, und geht erleichtert fort.

Jo und er sollen sich auf dieser kleinen Erde nie mehr begegnen.

Nie mehr. Denn der immer schwerer werdende Lastkarren ist jetzt dem Ziel der Reise nahe und rasselt über steinigen Boden dahin. Das ganze Zifferblatt herum strengt er sich an, die steile und unebne Straße hinaufzukommen, und jeden Augenblick kann er in Trümmer gehen.

Die Sonne kann nicht mehr oft aufgehen und ihn immer noch auf dem mühseligen Wege sehen.

Phil Squod mit seinem pulverrauchgeschwärzten Gesicht ist zugleich Krankenwärter und Büchsenmacher und arbeitet an einem kleinen Tischchen in der Ecke. Er sieht sich von Zeit zu Zeit um und sagt mit einem Nicken seiner grünen Wollmütze, seine eine Augenbraue ermutigend in die Höhe gezogen: »Kopf hoch, mein Junge, Kopf hoch!«

Auch Mr. Jarndyce ist häufig da, und Allan Woodcourt fast immer. Beide denken oft, wie seltsam das Schicksal diesen armen Ausgestoßnen mit den Fäden anderer von seinem so unendlich verschiednen Lebenswege verknüpft hat. Auch der Kavallerist ist ein häufiger Besucher. Er füllt die Tür mit seiner athletischen Gestalt aus und scheint von seinem Überfluß an Leben und Gesundheit Jo, der sich immer bemüht, seinem heiteren Zuruf lauter als andern zu antworten, vorübergehend Kraft zu übertragen.

Jo schläft heute oder ist halb bewußtlos, und Allan Woodcourt, eben erst angekommen, steht vor ihm und blickt auf die abgezehrte Gestalt herab. Nach einer Weile nimmt er vorsichtig neben dem Bett Platz, das Gesicht dem Kranken zugekehrt – gerade wie damals bei dem Advokatenschreiber –, und fühlt nach der Brust und dem Herzschlag.

– Der Karren kann fast nicht weiter und schleppt sich nur noch ein Stück fort. –

Stumm steht der Kavallerist im Torweg. Phil hat mit dem leisen Klopfen aufgehört und hält seinen kleinen Hammer regungslos in der Hand. Mr. Woodcourt sieht sich mit der ernsten Miene des Arztes um, wirft dem Kavalleristen einen bedeutsamen Blick zu und gibt Phil einen Wink, sein Tischchen hinauszutragen.

– Wenn der kleine Hammer wieder gebraucht wird, wird ein Rostfleck darauf sein. –

»Nun, Jo! Warum erschrickst du so?«

»I hab mir denkt«, sagt Jo, der in die Höhe gefahren ist und entsetzt um sich blickt, »i hab mir denkt, i war wieder in ‚Toms Einöd‘. Ist niemand da als Sie, Mr. Woodcot?«

»Niemand.«

»Und man wird mi net wieder nach ‚Toms Einöd‘ bringen, Sir?«

»Nein.«

Jo schließt die Augen und brummt vor sich hin:

»I bin so sehr dankbar.«

Nachdem Allan ihn eine Weile lang aufmerksam beobachtet hat, legt er den Mund dicht an sein Ohr und fragt ihn mit leiser, aber sehr deutlicher Stimme:

»Jo! Kannst du beten?«

»Hab nie nix gwußt, Sir.«

»Auch nicht ein ganz kurzes Gebet?«

»Nein, Sir. Gar keins. Mr. Chadbans hat amal bei Mr. Sangsby bet, und i habn ghört. Aber er hat mit sich selber gsprochn und net mit mir. Er hat viel bet, aber i hab n net verstandn. Dann sin auch andre Leut nach ‚Toms Einöd‘ kommen und habn bet. Sie ham gsagt, daß die andern falsch beten, und ham nacher auch mit sich selbst gsprochn oder auf die andern gschimpft und net mit uns gesprochn. Mir habn nie nix gwußt. I habs net rauskriegen könnan, was s gmeint ham.«

Er braucht lange dazu, um alles das zu sagen, und nur ein erfahrner und aufmerksamer Zuhörer kann sein Flüstern verstehen. Nach einem kurzen Rückfall in Betäubung oder Schlummer macht er plötzlich eine heftige Anstrengung, aus dem Bett zu kommen.

»Bleib nur liegen! Was gibt’s denn?«

»I muß jetzt aufn Friedhof, Sir«, gibt Jo mit einem verstörten Blick zur Antwort.

»Leg dich nur wieder hin und hör mich an. Was für einen Friedhof meinst du denn, Jo?«

»Wo s n hinglegt ham. Er ist so gut zu mir gwesn. Es is Zeit, daß i auch auf n Friedhof geh, damit sie mi neben ihn legn. I möcht auch dortliegn. Er hat immer zu mir gsagt: ‚Heut bin i so arm wie du, Jo‘, hat er gsagt. Ich muß eam sagn, daß i jetzt so arm bin wie er und kommen bin, ummi neben eam z legn.«

»Das hat noch Zeit, Jo. Noch Zeit.«

»Aber vielleicht möchten sie’s net tun, wann i selber hinginget. Vielleicht möchten S mir versprechn, daß man mi neben ihn legt?«

»Ich verspreche es dir!«

»I dank Ihnan vielmals, Sir! Man wird erst den Gatterschlüssel holen müssen, sonst können s mi net einibriiign, s is immer verschlossn. Und a Stufn is dort, was i immer mit in Besen abkehrt hab. Es wird jetzt sehr dunkel, Sir. Kommt denn ka Licht?«

»Gleich kommt Licht, Jo.«

»…Ja, gleich.«

Der Karren geht in Trümmer, und gleich ist der mühsame Weg zu Ende.

»Jo, mein armer Junge!«

»I kann Sie schon hörn, Sir. Aber dunkel is. I find Ihner Hand net. Lassen S mi Ihner Hand halten!«

»Jo, kannst du nachsprechen, was ich dir sage?«

»Alls, was S wolln, Sir, i weiß, daß s gut is.«

»Vater unser!«

»Vater unser… Ja, das is sehr gut, Sir.«

»Der du bist im Himmel.«

»Bist im Himmel… Kommt ka Licht, Sir?«

»Gleich kommt es. – Geheiligt werde dein Name.«

»Geheiligt werde – dein…«

Endlich ist das Licht auf diesen dunkeln umnachteten Weg gefallen!

Tot!

Tot! Euer Majestät. Tot, Mylords und Gentlemen. Tot, Euer Ehrwürden aller Konfessionen. Tot, ihr Männer und Frauen mit himmlischem Erbarmen in euren Herzen.

Ja, ja, so sterben sie rings um uns jeden Tag.

48. Kapitel


48. Kapitel

Das Verhängnis nimmt seinen Lauf

Das Schloß in Lincolnshire hat seine hundert Augen wieder geschlossen, und das Haus in der Stadt ist aufgewacht. In Lincolnshire träumen die Dedlocks der Vergangenheit in ihren Bilderrahmen, und leise seufzt der Wind durch den langen Salon, als ob die Toten regelmäßig atmeten im Schlaf. In der Stadt rasseln die Dedlocks der Gegenwart in ihren feueräugigen Karossen durch die Dunkelheit der Nacht, und die Dedlock-Merkure, Asche oder vielmehr Puder auf dem Haupt zum Zeichen ihrer großen Unterwürfigkeit, verdämmern die schläfrigen Morgenstunden in den kleinen Fenstern der Vorhalle. Die fashionable Welt – fast fünf Meilen im Umkreis – ist in voller Bewegung, und das Sonnensystem kreist um sie ehrfurchtsvoll in der gebührenden Entfernung.

Wo das Gewühl am dichtesten ist, die Lichter am hellsten und den Sinnen mit dem größten Luxus gehuldigt wird, da ist Lady Dedlock. Sie fehlt nie auf der glänzenden Höhe, die sie erstürmt und erobert hat, wenn auch ihr alter Glaube, sie könne unter dem Mantel ihres Stolzes alles, was sie will, verbergen, verschwunden ist. Wenn sie auch nicht weiß, ob das, was sie den andern scheint, morgen noch sein wird, liegt es doch nicht in ihrem Naturell, sich schwach zu zeigen, solange neidische Augen auf sie gerichtet sind. Man sagt von ihr, sie sei in der letzten Zeit noch schöner und stolzer geworden. Der hinfällig aussehende Cousin sagt, sie sei »schön jenuch, um nem janzen Schock Weiber auf die Beene zu helfen, – aber sie is von ner dollen Sorte –, erinnere an – das ekliche Frauenzimmer, das im Schlaf – äh – Bett verläßt und im Hause – äh –rumfuhrwerkt – äh – Shakespeare«.

Mr. Tulkinghorn sagt nichts.

Weder mit Worten noch mit Blicken.

Jetzt wie jemals sieht man ihn an den Türen der Säle mit dem locker umgebundnen weißen Halstuch mit der altmodischen Schleife. Er wird vom Hochadel begönnert und gibt kein Zeichen der Anerkennung von sich. Von allen Menschen möchte man von ihm am letzten glauben, er könne Einfluß auf Mylady haben. Von allen Frauen ist sie noch immer die letzte, der man zutrauen könnte, sie fürchte ihn.

Seit dem Gespräch im Turmzimmer in Chesney Wold liegt ihr ununterbrochen eine Sache auf der Seele. Sie ist jetzt entschlossen und bereit, die Last von sich zu werfen.

Es ist Morgen in der großen Welt, das heißt, Nachmittag in der kleinen gewöhnlichen. Die Merkure, erschöpft vom Zumfensterhinaussehen, ruhen aus in der Vorhalle und lassen ihre schweren Köpfe hängen – diese prachtvollen Geschöpfe – gleich überreifen großen Sonnenblumen. Wie diese scheinen sie mit ihren Fangschnüren und dem übrigen glitzernden Behänge Wassertriebe angesetzt zu haben.

Sir Leicester ist in der Bibliothek über dem Bericht eines Parlamentskomitees zur Hebung vaterländischer Interessen eingeschlafen.

Mylady sitzt in dem Zimmer, wo sie dem jungen Mann namens Guppy einmal Audienz gegeben hat. Rosa ist bei ihr, hat nach dem Diktat ihrer Herrin geschrieben und ihr vorgelesen. Rosa ist jetzt mit einer Stickerei oder einer ähnlichen niedlichen Arbeit beschäftigt, und während sie sich darüber beugt, beobachtet Mylady sie schweigend. Nicht zum ersten Mal heute.

»Rosa!«

Die kleine Dorfschöne blickt munter auf. Aber als sie Myladys ernste Miene sieht, nimmt ihr Gesicht einen verlegnen und überraschten Ausdruck an.

»Sieh mal nach, ob die Türe geschlossen ist.«

»Ja.«

Sie geht, überzeugt sich und sieht noch überraschter drein.

»Ich will dir etwas anvertrauen, mein Kind. Ich weiß, daß ich mich auf deine Anhänglichkeit, wenn nicht auch auf dein Urteil, verlassen kann. In dem, was ich jetzt vorhabe, will ich dir gegenüber ohne alle Verkleidung erscheinen. Aber ich verlasse mich ganz auf dich. Verrate niemandem ein Wort von dem, was ich dir jetzt sage!«

– Die schüchterne kleine Schöne verspricht mit innigem Ernst, sich des geschenkten Vertrauens würdig zu erweisen. –

»Hast du bemerkt«, – Lady Dedlock winkt ihr, mit dem Stuhle näher zu rücken – »hast du bemerkt, Rosa, daß ich gegen dich anders bin als gegen irgend jemanden sonst.«

»Ja, Mylady. Viel gütiger. Aber dann denke ich mir oft, ich kenne Sie eben, wie Sie wirklich sind.«

»Du denkst oft, du kennst mich, wie ich wirklich bin? Armes Kind, armes Kind!«

– Mylady sagt das mit einer Art Hohn – der jedoch nicht Rosa gilt –und sitzt dann eine Weile brütend da mit versonnenem Gesicht. –

»Bist du überzeugt, Rosa, daß du mir ein Trost und eine Erquickung bist? Bist du überzeugt, daß es mir Freude macht, dich in meiner Nähe zu haben, bloß, weil du jung und natürlich bist und mich lieb hast?«

»Ich weiß es nicht, Mylady; ich kann es kaum hoffen. Aber von ganzem Herzen wünsche ich, es wäre so.«

»Es ist so, Kleine!«

– Das freudige Erröten Rosas wird gehemmt durch den düstern Ausdruck Myladys. Schüchtern fragend blickt sie auf. –

»Und wenn ich heute sagte: Geh! Verlaß mich! würde ich etwas sagen, was mir sehr schmerzlich wäre und mich ganz und gar einsam machen würde.«

»Mylady, habe ich Sie beleidigt?«

»Durchaus nicht. Komm zu mir!«

– Rosa kniet vor Myladys Fußbank nieder. Wie damals in der Nacht nach dem denkwürdigen Gespräch mit dem Eisenwerksbesitzer legt Lady Dedlock mütterlich die Hand auf das dunkle Haar der Kleinen und läßt sie sanft dort ruhen. –

»Ich sagte dir damals, Rosa, ich möchte dich glücklich machen, wenn ich überhaupt imstande bin, jemanden auf Erden noch glücklich zu machen. Ich habe jetzt Gründe, an denen du keine Schuld trägst, die es aber ratsam machen, daß du nicht mehr bei mir bleibst. Du darfst nicht hier bleiben! Ich bin fest dazu entschlossen. Ich habe an den Vater deines Geliebten geschrieben, und er wird heute hierher kommen. Ich habe es deinetwegen getan.«

Weinend bedeckt das Mädchen die Hand ihrer Herrin mit Küssen und sagt, sie wisse nicht, was sie tun solle, wenn sie von einander scheiden müßten. Mylady küßt sie auf die Wange und gibt keine Antwort.

»Mögest du unter bcssern Verhältnissen glücklich sein, Kind. Sei geliebt und glücklich!«

»Ach, Mylady, ich habe mir manchmal gedacht – verzeihen Sie mir, daß ich mir eine solche Freiheit herausnehme –, daß Sie selbst nicht glücklich sind.«

»Ich!«

»Würden Sie glücklicher sein, wenn ich nicht mehr bei Ihnen bin? Bitte, bitte, bedenken Sie das noch einmal. Lassen Sie mich nur noch eine kurze Zeit bleiben.«

»Ich habe dir gesagt, mein Kind, daß, was ich tue, nur deinetwillen geschieht. Es ist geschehen. So, wie ich jetzt zu dir bin, Rosa, so bin ich wirklich, und nicht so, wie du mich in einer kleinen Weile sehen wirst. Vergiß das nicht und verschließe in deinem Herzen, was ich dir anvertraut habe. Tue es um meinetwillen, und dann sind alle Bande zwischen uns zerschnitten.«

Sie macht sich von dem Mädchen los und verläßt das Zimmer. Als sie spät nachmittags wieder auf der Treppe erscheint, hat sie ihre stolzeste und kälteste Miene auf; so teilnahmslos ist sie, als ob Leidenschaft, Gefühl und Interessen jeder Art längst in ihrer Seele seit vorsintflutlichen Epochen gestorben wären.

Der Merkur hat Mr. Rouncewell angemeldet. Deshalb erscheint sie jetzt. Mr. Rouncewell ist noch nicht im Bibliothekzimmer, aber sie begibt sich dorthin. Sir Leicester ist dort, und sie wünscht zuerst mit ihm zu sprechen.

»Sir Leicester, ich wollte mit Ihnen… Aber wie ich sehe, sind Sie beschäftigt.«

»Oh, durchaus nicht, Mylady. Nur Mr. Tulkinghorn ist hier.«

– Immer anwesend! Überall lauert er herum! Keinen Augenblick Sicherheit vor ihm! –

»Ich bitte um Entschuldigung, Lady Dedlock. Darf ich mich entfernen?«

Mit einem Blick, der deutlich sagt: Sie wissen doch ganz gut, daß Sie die Macht haben, zu bleiben, wenn Sie wollen, bedeutet sie ihm, es sei nicht nötig, und geht zu einem Sessel. Mr. Tulkinghorn tritt ihr mit seiner altmodischen Verbeugung ein paar Schritte entgegen und zieht sich dann in ein gegenüberliegendes Fenster zurück.

Er steht zwischen ihr und dem sinkenden Licht des Tages, und sein Schatten fällt auf sie und macht alles vor ihr dunkel. So, wie er auch ihr Leben verdüstert.

Auch im besten Fall ist das eine langweilige Straße draußen, in der die beiden langen Häuserzeilen sich gegenseitig mit einer solchen Strenge anstarren, daß ein halbes Dutzend ihrer größten Paläste schon unter solchen Blicken langsam zu Stein geworden wären, wenn man sie nicht schon vorher aus diesem Material gebaut hätte. Es ist eine Straße von so eisiger Größe, so entschlossen, sich nie zum atmenden Leben herabzulassen, daß die Türen und Fenster, staubbedeckt und schwarz, düster Cercle halten – und die hallenden Marställe dahinter ausgestorben und massiv aussehen, als wären sie bestimmt, die steinernen Schlachtrosse der adligen Statuen in sich aufzunehmen. Labyrinthisches eisernes Gitterwerk schlingt sich um die Vortreppen in dieser Ehrfurchtschauer erregenden Straße, und in steinernen Wölbungen gähnen die Auslöscher für die aus der Mode gekommenen Fackeln den Emporkömmling »Gas« an. Hie und da hat ein schwacher eiserner Ringbügel, durch den tagsüber kecke Jungen die ihren Spielgefährten herabgerissnen Mützen zu werfen sich bemühen, seinen Platz unter dem verrosteten Laubwerk behauptet und denkt trauervoll an lang entschwundne Zeiten. Ja sogar das Öl, das noch hie und da in kleinen sonderbaren Glasnäpfchen, mit einem Fleck auf dem Boden gleich einer Auster, übrig geblieben ist, blinzelt jeden Abend die neuen Lichter an, nicht so ganz unähnlich seinen hochgestellten Herren im Oberhaus.

Es ist daher wohl nicht gut möglich, daß Lady Dedlock von ihrem Stuhl aus durch das Fenster, in dessen Nische Mr. Tulkinghorn steht, besonders viel zu sehen wünschen sollte, und doch wirft sie einen Blick in diese Richtung, als ob es ihr innigster Herzenswunsch wäre, daß seine Gestalt sich von dort entfernte.

Sir Leicester bittet Mylady um Verzeihung: sie habe etwas sagen wollen?

»Bloß, daß Mr. Rouncewell da ist – ich habe ihn kommen lassen –, und daß wir am besten der Angelegenheit mit dem Mädchen ein Ende machen sollten. Ich bin der Sache endlich müde.«

»Was kann ich – dabei – tun?« fragt Sir Leicester zögernd und unsicher.

»Empfangen wir ihn hier und machen wir der Sache ein Ende. Möchten Sie ihn nicht herauf kommen lassen?«

»Mr. Tulkinghorn, würden Sie vielleicht die Güte haben, zu klingeln – danke bestens –, lassen Sie den… Eisengentleman«, sagt Sir Leicester zu dem Merkur und kann nicht gleich das richtige Wort finden, »lassen Sie den Eisengentleman heraufkommen.«

Der Merkur entfernt sich, um den »Eisengentleman« zu suchen, findet ihn und bringt ihn. Sir Leicester empfängt ihn sehr gnädig.

»Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, Mr. Rouncewell? Nehmen Sie Platz. – Hier mein Anwalt, Mr. Tulkinghorn. – Mylady wünscht mit Ihnen zu sprechen.« Sir Leicester überweist ihn geschickt mit einem feierlichen Wink seiner Hand Lady Dedlock. »Hem.«

»Es wird mir eine Ehre sein, allem, was Lady Dedlock mir mitzuteilen geruhen wird, mit der größten Aufmerksamkeit zuzuhören.«

– Wie sich Mr. Rouncewell zu Mylady wendet, scheint sie ihm einen weniger angenehmen Eindruck zu machen als damals. Ein gewisses abweisendes geringschätziges Benehmen verbreitet eine eisige Atmosphäre um sie, und in ihrer ganzen Haltung ist nicht mehr das zu entdecken, was ihn bei seinem ersten Besuch zur Offenherzigkeit aufmunterte. –

»Würden Sie mir gestatten, zu fragen«, sagt Lady Dedlock gleichgültig, »ob zwischen Ihnen und Ihrem Sohn in bezug auf dessen Grille etwas vorgefallen ist?«

– In ihrer gelangweilten Stimmung scheint es ihr fast Mühe zu machen, Mr. Rouncewell einen Blick zu schenken, während sie diese Frage stellt. –

»Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, Lady Dedlock, sagte ich, als ich zuletzt die Ehre hatte, Sie zu sehen, daß ich meinem Sohn allen Ernstes raten würde, dieser – Grille Herr zu werden.«

– Der Eisenwerksbesitzer legt auf das Wort einen gewissen Nachdruck. –

»Und haben Sie das getan?« »Ja, natürlich.«

– Sir Leicester nickt billigend. »Sehr schicklich.« – Da der Eisengentleman doch gesagt hatte, er würde es tun, war er auch dazu verpflichtet. In dieser Hinsicht ist zwischen edlen und unedlen Metallen kein Unterschied. »Sehr schicklich.« –

»Und hat er Ihren Rat beherzigt?«

»Darüber kann ich Ihnen wirklich keine bestimmte Antwort geben, Lady Dedlock. Ich fürchte, nein. Wahrscheinlich sogar nicht. Wir in unserm Stande verbinden manchmal mit unsern – unsern Grillen einen Entschluß, der nicht so leicht wankend zu machen ist. Ich glaube, es ist so unsre Art, die Sachen ernst zu nehmen.«

– Sir Leicester hat das unangenehme Gefühl, daß sich unter diesen Worten eine gewisse revolutionäre Bedeutung verbergen könne, und es wird ihm ein bißchen heiß. Mr. Rouncewell ist vollkommen guter Laune und sehr höflich, aber innerhalb dieser Grenzen paßt er offenbar seinen Ton dem Empfang an, den man ihm bereitet hat. –

»Ich habe nämlich über die Sache nachgedacht«, fährt Mylady fort, »und sie ennuyiert mich.«

»Das tut mir wirklich sehr leid.«

»Und auch über das, was Sir Leicester darüber sagte, womit ich ganz übereinstimme.« – Sir Leicester fühlt sich geschmeichelt. – »Und wenn Sie uns nicht die Versicherung geben können, daß die Grille vergessen ist, bin ich zu der Ansicht gekommen, daß es besser ist, wenn das Mädchen geht.«

»Ich kann eine solche Versicherung nicht geben, Lady Dedlock.«

»Dann ist es besser, sie geht.«

»Mylady wolle entschuldigen«, bemerkt Sir Leicester rücksichtsvoll, »aber vielleicht würden wir auf diese Art dem Mädchen ein Unrecht zufügen, das es nicht verdient hat. Wir haben hier ein junges Mädchen«, sagt Sir Leicester und unterbreitet Mr. Rouncewell die Sache großartig wie ein silbernes Service, »das das Glück gehabt hat, die Beachtung und Gunst einer vornehmen Dame zu gewinnen. Die verschiednen Vorteile, die ihr eine solche Stelle gewährt und die unzweifelhaft sehr groß sind, geben zu bedenken. Es fragt sich nun, soll dieses junge Mädchen so vieler Vorteile und einer so glücklichen Lebensstellung verlustig gehen, bloß weil sie« – Sir Leicester schließt mit einer würdevollen Neigung seines Kopfes – »die Aufmerksamkeit von Mr. Rouncewells Sohn auf sich gezogen hat? Hat sie diese Strafe verdient? Ist es gerecht gegen sie gehandelt? Haben wir das vorher wohl bedacht?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, unterbricht ihn Mr. Rouncewell. »Sir Leicester, würden Sie mir ein Wort gestatten? Ich glaube, dazu beitragen zu können, die Sache abzukürzen. Wenn Sie etwas so Unbedeutendes im Gedächtnis behalten haben sollten – was nicht zu erwarten ist –, werden Sie sich vielleicht entsinnen, daß mein erster Gedanke war, sie nicht hier zu lassen.«

– Die Gunst der Dedlocks nicht in Erwägung zu ziehen! O! – Sir Leicester müßte einem Paar Ohren, die er von einer solchen Reihe von Ahnen geerbt hat, mißtrauen, wenn er nicht so deutlich gehört hätte, was der Eisenwerksbesitzer soeben selbst sagte. –

»Es ist nicht notwendig«, bemerkt Mylady mit eisiger Kälte, ehe Sir Leicester noch etwas andres tun kann, als erstaunt Atem zu holen, »näher auf die Sache einzugehen. Rosa ist ein sehr gutes Mädchen, und ich habe ihr durchaus nicht auch nur das Geringste nachzusagen, aber sie ist insofern für all ihre Vorteile hier und ihr Glück unempfänglich, als sie eben – armes Närrchen – verliebt ist oder es zu sein glaubt.«

Sir Leicester erlaubt sich zu bemerken, daß das allerdings die Sache vollständig ändere. Er hätte gleich überzeugt sein können, daß Mylady die besten Gründe für ihre Ansicht habe, und er stimme vollständig mit Mylady überein. Ja, es sei tatsächlich besser, daß das junge Mädchen gehe.

»Wie Sir Leicester schon das letzte Mal bemerkte, wo uns diese Angelegenheit fatiguierte«, fährt Lady Dedlock gelangweilt fort, »können wir Ihnen nichts vorschreiben. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist das Mädchen hier durchaus nicht an seinem Platz, und es ist das Beste, sie geht. Ich habe ihr das selbst gesagt. Ziehen Sie vor, daß wir sie in das Dorf zurückschicken, oder wollen Sie sie selbst mitnehmen?«

»Lady Dedlock, wenn ich offen sprechen darf –«

»Ich bitte darum.«

»– so würde ich den Weg vorziehen, der Ihnen die Last am ehesten abnimmt und das Mädchen am frühesten aus seiner gegenwärtigen Lage entfernt.«

»Und um ebenso offen zu sprechen«, erwidert Mylady mit derselben einstudierten Gleichgültigkeit, »würde ich in Ihrer Lage auch so handeln. Verstehe ich Sie recht, Sie wünschen sie gleich mit sich zu nehmen?«

Der Eisengentleman macht eine steife Verbeugung.

»Sir Leicester, würden Sie wohl die Güte haben, zu klingeln?«

Mr. Tulkinghorn tritt aus der Fensternische und zieht die Klingel. »Ich habe Sie ganz vergessen, ich danke Ihnen.« Der Advokat macht seine gewohnte Verbeugung und tritt wieder ruhig in die Fenstervertiefung zurück. Der Merkur erscheint auf der Stelle, nimmt seine Instruktion, wen er zu bringen habe, entgegen, schwebt fort, bringt das Verlangte und verschwindet.

Rosa hat geweint und ist noch immer sehr bekümmert. Bei ihrem Eintritt steht der Eisenwerksbesitzer von seinem Sessel auf, zieht ihren Arm durch seinen und bleibt mit ihr bei der Tür stehen, bereit, sich zu empfehlen.

»Sie sind in guter Obhut, wie Sie sehen«, sagt Mylady in ihrer müden Weise, »und verlassen uns, verläßlichen Händen anvertraut. Ich habe Ihnen das Zeugnis ausgestellt, daß Sie sehr brav waren, und Sie haben keine Veranlassung zu weinen.«

»Immerhin«, bemerkt Mr. Tulkinghorn und tritt ein wenig aus der Nische hervor, »scheint es ihr leid zu tun, daß sie fortgeht.«

»Wohlerzogen ist sie allerdings nicht«, entgegnet Mr. Rouncewell ein wenig rasch und laut, als sei er froh, wenigstens über den Advokaten herfallen zu können. »Sie ist ein unerfahrnes junges Ding und weiß es nicht besser. Wenn sie hier geblieben wäre, Sir, würde sie sich sicher mehr Schliff angewöhnt haben.«

»Ohne Zweifel«, gibt Mr. Tulkinghorn gelassen zur Antwort.

Rosa schluchzt, es tue ihr sehr, sehr leid, Mylady zu verlassen, und sie sei so glücklich in Chesney Wold gewesen und so glücklich bei Mylady. Und immer und immer wieder dankt sie Mylady.

»Schweig doch schon, Kindchen«, redet ihr der Eisenwerksbesitzer leise und freundlich zu. »Du mußt dich ein wenig fassen, wenn du Wat gern hast.«

Mylady winkt ihr bloß gleichgültig und sagt: »Schon recht, schon recht, Kind! Sie sind ein gutes Mädchen. Gehen Sie nur!«

– Sir Leicester hat sich würdevoll von der Sache losgemacht und sich in das Heiligtum seines blauen Fracks zurückgezogen. Mr. Tulkinghorns unbestimmte Umrisse heben sich gegen die dunkle Straße, in der jetzt vereinzelte Lampen brennen, ab, und Myladys Augen scheinen noch größer und schwärzer als zuvor. –

»Sir Leicester und Lady Dedlock«, beginnt Mr. Rouncewell nach einigen Augenblicken, »ich bitte um Erlaubnis, mich verabschieden zu dürfen, und um Entschuldigung, wenn ich Sie, zwar nicht auf meine Veranlassung, aber doch immerhin noch ein Mal, belästigt habe. Ich kann mir recht gut vorstellen, ich versichere Ihnen, wie ermüdend eine solche nebensächliche Angelegenheit auf Lady Dedlock gewirkt haben muß. Wenn ich mir zweifelhaft bin, ob ich mich richtig dabei benommen habe, so ist dies nur hinsichtlich dessen der Fall, daß ich nicht gleich anfangs im stillen meinen Einfluß geltend machte, meine junge Freundin hier, ohne Sie vorher zu inkommodieren, wegzunehmen. Aber ich habe eben die Wichtigkeit der Sache überschätzt und glaubte mir schuldig zu sein, Ihnen das Verhältnis auseinandersetzen und Ihre Meinung darüber einholen zu müssen. Ich hoffe, Sie werden meine geringe Kenntnis der Gebräuche der feinen Welt entschuldigen.«

Sir Leicester glaubt bei dieser Bemerkung aus seinem Heiligtum heraustreten zu müssen. »Mr. Rouncewell, bitte, sprechen Sie nicht weiter davon. Eine Rechtfertigung ist, hoffe ich, auf keiner Seite nötig.«

»Es freut mich, das zu hören, Sir Leicester, und wenn ich als letztes Wort noch einmal auf das zurückkommen darf, was ich damals von der langjährigen Stellung meiner Mutter bei der Familie sagte, und auf den Wert, von dem sie auf beiden Seiten Zeugnis ablegt, so möchte ich jetzt auch auf dieses kleine Beispiel hier neben mir weisen, das beim Scheiden soviel Gefühl und Anhänglichkeit an den Tag legt und in dem gewiß meine Mutter zur Erweckung solcher Empfindungen, glaube ich, sagen zu dürfen, das ihre getan hat. Obgleich natürlich Lady Dedlock bei ihrer aus dem Herzen kommenden Teilnahme und ihrer gütigen Herablassung noch viel mehr getan hat.«

– Wenn er dies auch ironisch meint, so ist doch im Grunde mehr Wahres daran, als er selbst wissen kann. Er wendet sich bei seinen Worten zu dem Halbdunkel hin, in dem Mylady sitzt. –

Sir Leicester steht auf, um seine Verbeugung zu erwidern. Mr. Tulkinghorn klingelt wieder; wieder schwebt der Merkur herein und hinaus, und Mr. Rouncewell und Rosa verlassen das Haus.

Lichter werden gebracht.

Immer noch steht Mr. Tulkinghorn, die Hände auf dem Rücken, im Fenster, und immer noch sitzt Mylady da, und seine Gestalt benimmt ihr die Aussicht auf die Nacht und auf den Tag. Sie ist sehr blaß. Mr. Tulkinghorn bemerkt es, als sie aufsteht, um zu gehen, und denkt sich:

»Sie hat –wahrhaftig Ursache dazu. Ihre Seelenstärke ist wirklich erstaunlich. Die ganze Zeit über hat sie eine eingelernte Rolle gespielt.«

Aber auch er kann seinerseits eine Rolle spielen – seine gewohnte unveränderliche Rolle. Und wie er dieser Frau die Tür öffnet, könnten auch fünfzig Paar Augen, jedes einzelne fünfzig Mal schärfer als das Sir Leicesters, keine Spur von Rachsucht in ihm entdecken.

Lady Dedlock speist heute allein auf ihrem Zimmer. Sir Leicester muß schleunigst der Doodle-Partei gegen die Coodle-Faktion beispringen. Als sich Lady Dedlock zu Tisch setzt, immer noch totenblaß, fragt sie, ob er schon fort ist.

Ja.

Ob Mr. Tulkinghorn auch schon fort ist.

Nein.

Womit er sich beschäftige?

Der Merkur glaubt, er schreibe Briefe im Bibliothekszimmer, und ob Mylady ihn zu sprechen wünsche?

Keineswegs!

Aber er wünscht Mylady zu sprechen. Nach wenigen Minuten läßt er sich durch den Diener empfehlen und bei Mylady anfragen, ob er nach dem Essen ein paar Worte mit ihr sprechen könne. Mylady wünscht es gleich jetzt.

Er kommt, bittet um Entschuldigung, daß er störe, und sie bleibt am Tisch sitzen. Als sie allein sind, winkt Mylady mit der Hand, allen Firlefanz sein zu lassen. »Was wünschen Sie, Sir?«

»Wirklich, Lady Dedlock«, sagt der Advokat, nimmt auf einem Stuhl in einiger Entfernung von ihr Platz und reibt sich die rostigen Beinkleider auf und ab, auf und ab, auf und ab. »Wirklich, ich bin sehr erstaunt über Ihr Vorgehen.«

»Wirklich?«

»Ja, ganz entschieden. Ich sehe darin eine Verletzung unsres Übereinkommens und Ihres gegebnen Versprechens. Es versetzt uns in eine neue Lage, Lady Dedlock. Ich fühle mich vor die Notwendigkeit gestellt, zu sagen, daß ich es nicht billige.«

Er hält mit dem Reiben inne und sieht sie an, die Hände auf die Knie gestützt.

So undurchdringlich und unverändert er scheinbar ist, so liegt doch in seinem Benehmen eine gewisse Freiheit, die an ihm neu ist und Myladys Blick nicht entgeht.

»Ich verstehe Sie nicht ganz.«

»Ich glaube doch. Ich bitte Sie, Lady Dedlock, wollen wir jetzt nicht mit Worten kämpfen. Sie wissen selbst, daß Sie dieses Mädchen gern haben.«

»Nun, und, Sir?«

»Und Sie wissen – ebenso wie ich –, daß Sie das Mädchen nicht aus den Gründen, die Sie angegeben haben, entließen, sondern um sie soviel wie möglich von – entschuldigen Sie, daß ich es als etwas rein Geschäftliches erwähne – vor jeder Bloßstellung, die Ihnen droht, zu trennen.«

»Nun, und, Sir?«

»Nun, Lady Dedlock«, der Advokat schlägt die Beine übereinander und faltet die Hände auf dem Knie, »dagegen habe ich gar mancherlei einzuwenden. Ich halte diesen Schritt für gefährlich. Erstens ist er nicht nötig, zweitens geeignet, Zweifel, Gerüchte und ich weiß nicht, was sonst alles noch im Hause zu erwecken, und drittens ist es ein Bruch unsrer Vereinbarung. Sie hatten genau so zu bleiben, wie Sie vorher waren. Und es ist Ihnen doch selbst klar, daß Sie an diesem Abend dem zuwiderhandelten. Mein Himmel, Lady Dedlock, einfach zuwiderhandelten!«

»Wenn ich in der Erkenntnis meines Geheimnisses…«

Mr. Tulkinghorn unterbricht sie: »Ich muß bitten, Lady Dedlock, das ist eine Geschäftssache, und in einer solchen kann man die Worte nicht präzis genug wählen. Es ist nicht länger Ihr Geheimnis. Sie entschuldigen schon, aber darin liegt eben der Irrtum. Es ist mein Geheimnis, Sir Leicester und der Familie gegenüber. Wenn es Ihr Geheimnis wäre, Lady Dedlock, säßen wir nicht hier und hielten nicht diese Unterredung miteinander.«

»Das ist sehr wahr, Mr. Tulkinghorn. Aber eben, weil ich das Geheimnis kenne, tue ich mein möglichstes, damit nicht auf ein unschuldiges Mädchen ein Schatten von der mir drohenden Schande fällt… Wenn ich an Ihre eigne Äußerung denke, als Sie meine Geschichte den versammelten Gästen in Chesney Wold erzählten, liegt doch das im Bereich der Möglichkeit. Ich habe also nach einem festen Entschluß gehandelt, und nichts in der Welt und kein Mensch auf Erden könnten mich darin wankend machen oder hätten mich bestimmen können, anders zu handeln.«

– Sie sagt dies mit großer Überlegung und Deutlichkeit und ebenso leidenschaftlich, wie er selbst ist. –

»Wirklich? Dann, Lady Dedlock«, entgegnet er ganz methodisch, als ob sie irgendein empfindungsloses Rad in seinen Machinationen sei, »müssen Sie selbst einsehen, daß kein Verlaß auf Sie ist. Sie selbst haben die Sache ganz unverschleiert dargestellt.«

»Vielleicht werden Sie sich erinnern, daß ich hinsichtlich dieses Punktes, als wir damals in Chesney Wold miteinander sprachen, eine gewisse Angst an den Tag legte, Mr. Tulkinghorn?«

»Ja«, sagt Mr. Tulkinghorn, steht gleichgültig auf und lehnt sich an den Kamin. »Ja. Ich erinnere mich, Lady Dedlock, daß Sie allerdings von dem Mädchen sprachen, aber das geschah, bevor wir unsre Übereinkunft trafen, und sowohl der Buchstabe wie der Geist unsrer Abmachung schließt jeden freien Schritt Ihrerseits, insofern er mit der Entdeckung, die ich gemacht habe, irgendwie zusammenhängt, vollständig aus. Darüber kann gar kein Zweifel bestehen. Sie sprechen von notwendiger Schonung des Mädchens, aber ich frage, welche Wichtigkeit oder welchen Wert hat diese Person? – Schonen! – Lady Dedlock, die Ehre eines Familiennamens steht auf dem Spiel! Man hätte doch denken sollen, der Weg hätte geradeaus, über alles hinweg, weder nach rechts noch nach links, gehen müssen, ohne Rücksicht auf irgend etwas zu nehmen, und ohne Schonung.«

– Mylady hat bisher den Tisch angesehen und wendet dem Advokaten nun ihre Augen zu. Ein finsterer Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht, und man sieht, wie sie die Zähne zusammenbeißt. »Diese Frau versteht mich«, denkt Mr. Tulkinghorn, während sie wieder wegsieht. »Sie rechnet nicht auf Schonung. Warum schont sie andre?« –

– Eine kleine Weile schweigen beide. Lady Dedlock hat keinen Bissen gegessen und nur ein paar Mal mit fester Hand einen Schluck Wasser genommen. Sie steht vom Tische auf, nimmt einen Lehnstuhl und legt sich darin zurück. Nichts in ihren Mienen drückt Schwäche aus oder bittet um Mitleid. Sie ist gedankenvoll auf sich selbst konzentriert. –

»Diese Frau«, denkt Mr. Tulkinghorn, der jetzt vor dem Kamin steht und wieder als schwarzer Hintergrund ihr die Aussicht versperrt, »ist ein Studium.«

Er studiert sie in Muße und spricht eine Zeitlang nicht. Auch sie grübelt über irgend etwas nach. Es ist so unwahrscheinlich, daß sie das erste Wort spräche, und wenn er auch bis Mitternacht noch dastünde, daß er sich schließlich genötigt sieht, das Stillschweigen zu brechen.

»Lady Dedlock. Es bleibt uns noch der unangenehmste Teil dieser geschäftlichen Unterredung zu erledigen. Aber es ist eben eine Geschäftssache. Unsre Abmachung ist nicht eingehalten worden. Eine Dame von Ihrer Einsicht und Charakterstärke wird darauf vorbereitet sein, daß ich sie jetzt als aufgehoben erkläre und meinen eignen Weg gehen werde.«

»Ich bin auf alles gefaßt.«

Mr. Tulkinghorn verneigt sich.

»Ich habe Sie mit nichts weiter mehr zu belästigen, Lady Dedlock.«

Als er das Zimmer verlassen will, hält sie ihn noch mit der Frage zurück:

»Das soll wohl die versprochne Benachrichtigung sein? Ich wünsche nicht, Sie mißzuverstehen.«

»Nicht genau in dem Sinn, Lady Dedlock, wie ich Sie Ihnen zugesagt habe, da das voraussetzte, daß unsre Abmachung eingehalten würde, aber im Grunde genommen ist sie es. Ein Unterschied ist nur in den Augen eines Juristen vorhanden.«

»Sie beabsichtigen also, mir keine andre Warnung zukommen zu lassen?«

»So ist es. Nein.«

»Beabsichtigen Sie, Sir Leicester heute abend aufzuklären?«

»Eine Frage, die auf den Kern losgeht«, sagt Mr. Tulkinghorn mit einem schwachen Lächeln und schüttelt vorsichtig den Kopf. »Nein, heute nicht.«

»Morgen?«

»Wenn ich mir alles genau überlege, muß ich die Beantwortung dieser Frage verweigern, Lady Dedlock. Wenn ich sagte, ich wüßte nicht genau, wann, würden Sie mir nicht glauben, und das hätte also keinen Zweck. Es könnte morgen sein. Ich will lieber nichts weiter sagen. Sie sind vorbereitet, und ich will keine Hoffnungen erwecken, die die Umstände vielleicht nicht rechtfertigen könnten. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«

Sie entfernt die Hand von ihrer Stirn, wendet ihm ihr bleiches Gesicht zu, und wie er schweigend zur Türe geht und sie eben öffnen will, ruft sie ihn noch ein Mal zurück.

»Gedenken Sie noch einige Zeit im Haus zu bleiben? Ich hörte, Sie schrieben in der Bibliothek Briefe. Gehen Sie wieder dorthin?«

»Nur um meinen Hut zu holen. Ich gehe nach Hause.«

Sie grüßt mehr mit den Augen als mit dem Kopf, so leise und seltsam ist ihre Bewegung, und er zieht sich zurück. Draußen sieht er auf seine Uhr und scheint zu mutmaßen, sie könne eine Minute oder zwei falsch gehen, und vergleicht sie daher mit einer prachtvollen Wanduhr auf der Treppe, die, was bei solchen Prunkstücken selten vorkommt, wegen ihres genauen Ganges berühmt ist. »Und was sagst du?« fragt Mr. Tulkinghorn diese Uhr. »Was sagst du?«

Was, wenn sie jetzt sagte: Geh nicht nach Hause?! Was für eine berühmte Uhr würde sie erst werden, wenn sie gerade heute nacht von allen Nächten, die sie schon abgezählt hat, gerade zu diesem alten Mann von all den jungen und alten Leuten, die schon vor ihr gestanden haben, sagen würde: Geh nicht nach Hause!

Mit ihrer lauten hellen Glocke schlägt sie dreiviertel nach sieben und tickt dann weiter.

»Was, du bist ja schlimmer, als ich dachte«, sagt Mr. Tulkinghorn tadelnd zu seiner Taschenuhr. »Zwei Minuten falsch ? Auf diese Art wirst du nicht bei mir bis zu meinem Lebensende aushalten können.«

Wie schön von ihr, vergälte jetzt die Uhr Böses mit Gutem, wenn sie ihm zur Antwort geben würde: Geh nicht nach Hause.

Er tritt auf die Straße und geht, die Hände auf dem Rücken, im Schatten der hohen Häuser dahin, von deren Geheimnissen, Verlegenheiten, Schulden und delikaten Angelegenheiten jeder Art so manches hinter seiner schwarzen Atlasweste aufgespeichert liegt. Er scheint sogar mit den bloßen Mauern im vertrauten Verhältnis zu stehen, und – wer weiß – vielleicht telegraphieren ihm die hohen Schornsteine Familiengeheimnisse zu. Aber keiner von ihnen hat eine Stimme, die ihm zuflüstern würde: Geh nicht nach Hause.

Durch das Leben und Treiben der weniger nobeln Straßen, durch das Geräusch und Getümmel vieler Fuhrwerke, zahlloser Füße und Stimmen, an den grellen beleuchteten Ladenfenstern vorbei, dem Westwind entgegen, schiebt ihn das Gedränge erbarmungslos vorwärts, und nichts ist da, was zu ihm träte und ihm zuflüsterte: Geh nicht nach Hause.

Und wie er endlich sein stilles Zimmer erreicht und die Kerzen anzündet und um sich schaut und den Römer von der Decke herunterdeuten sieht, da ist in dessen Hand keine andre Bedeutung als sonst und warnt ihn nicht: Bleib nicht hier.

Es ist eine helle Nacht, aber der Mond, der eben im Abnehmen begriffen ist, geht erst jetzt über der großen Wildnis von London auf. Die Sterne glänzen wie damals über dem bleiernen Turmdach von Chesney Wold, und die Frau blickt wieder zu ihnen auf wie damals, und in ihrer Seele stürmt es wild. Ihr Herz ist krank und ruhelos. Die großen Zimmer sind ihr zu schwül und eng. Sie kann es nicht länger in ihnen aushalten und will in einem benachbarten Garten allein spazieren gehen. Zu launenhaft und herrisch in allem, was sie tut, als daß sich irgend jemand über etwas verwundern sollte, was sie für gut befindet, geht sie, einen Plaid um die Schultern, in den Mondschein hinaus.

Der Merkur begleitet sie mit dem Schlüssel. Nachdem er die Gartenpforte geöffnet hat, übergibt er ihn Mylady auf ihr Verlangen und erhält den Befehl, wieder hineinzugehen. Sie wolle hier eine Zeitlang spazieren gehen, weil sie Kopfweh habe. Vielleicht eine Stunde, vielleicht länger. Sie bedürfe keiner weitern Begleitung.

Die Gitterpforte fällt klirrend zu, und sie schreitet hinaus in den dunkeln Schatten der Bäume.

Eine schöne Nacht, ein heller Vollmond, unzählige Sterne.

Mr. Tulkinghorn hat zu seinem Keller mit den widerhallenden vielen Türen über einen kleinen gefängnisartigen Hof zu gehen. Er blickt unwillkürlich empor und denkt: Was für eine schöne Nacht, der Vollmond so hell, und die Millionen von Sternen! Eine stille herrliche Nacht!

Ja, eine sehr stille Nacht!

Wenn der Mond besonders hell scheint, so ist es, als gösse er eine Einsamkeit und Stille über die Erde, die selbst menschenreiche und belebte Orte beeinflußt. Die Nacht ist nicht nur still auf staubigen Landstraßen und Hügelgipfeln und auf der weiten Strecke Land ringsum, die stiller und stiller wird, wie sie in einem Waldsaum in den Himmel verläuft mit dem grauen Gespenst des Nachtnebels darüber. In Ruhe liegen die Wälder und Gärten und die frischen grünen Wiesen, an denen das Wasser murmelnd zwischen lieblichen Inseln, flüsterndem Schilf und über Fischwehre dahinglitzert. Überall ist stille Nacht. Auch wo der Strom vorüberfließt an den dicht sich drängenden Häusern, unter den vielen Brücken hindurch, die ihre Bogen in seiner Fläche widerspiegeln, an den Werften vorüber, wo die vor Anker liegenden Schiffe ihm ein schwarzes und schauerliches Aussehen geben. Stille der Nacht überall auf dem Marschland, dessen Signalstangen wie an das Ufer geschwemmte Gerippe aussehen – auf sanft geflügeltem Land, reich an Kornfeldern, Windmühlen und Kirchtürmen. Stille Nacht auf dem ewig wogenden Meer –, an der Küste, wo der Wächter steht und das Schiff mit ausgebreiteten Fittichen quer über seinen Lichtpfad gleiten sieht – Stille selbst über der Wildnis Londons. Die Kirchtürme und der große, große Dom werden ätherischer, die verräucherten Giebel der Häuser verlieren ihre Körperlichkeit in dem bleichen Glanz, das Lärmen auf der Straße wird gedämpfter, und die Schritte auf dem Pflaster gehen ruhiger vorüber als sonst. In diesen Gefilden, wo Mr. Tulkinghorn wohnt und die Schäfer auf ihren Kanzleigerichtspfeifen spielen, unablässig, ohne Pause, und ihre Schafe wohl oder übel festzuhalten wissen, bis sie ganz kahl geschoren sind, verschwimmt jedes Geräusch in dieser Mondnacht in ein ferntönendes Gesumm, als wäre die Stadt ein großes vibrierendes Glas.

Was ist das? Jemand hat eine Flinte oder Pistole abgeschossen. Wo?

Ein paar verspätete Fußgänger fahren zusammen, bleiben stehen und sehen sich erstaunt um. Hie und da gehen Fenster und Türen auf, und Leute treten heraus, um spähend umherzublicken. Es war ein lauter Knall mit schwerem rollendem Echo.

»Das Haus hat förmlich gezittert«, sagt ein Mann, der vorüberging.

Der Schuß hat alle Hunde in der Nachbarschaft aufgeweckt, und sie bellen heftig. Erschrockne Katzen huschen über die Straße. Noch bellen die Hunde, und einer heult wie ein Dämon – da fangen die Turmuhren zu schlagen an, als seien auch sie erschrocken. Das Summen auf den Straßen scheint einen Augenblick zu einem Toben anzuschwellen. Aber es ist bald vorbei. Noch ehe die letzte Uhr anfängt, zehn zu schlagen, nimmt das Geräusch schon ab. Und als sie aufgehört hat, senken die schöne Nacht, der klare Vollmond und das Abertausend von Sternen wieder den alten Frieden herab.

Hat es Mr. Tulkinghorn gestört?

Seine Fenster sind dunkel und still, und seine Türe geschlossen. Ja, das müßte etwas ganz Ungewöhnliches sein, was ihn veranlassen würde, aus seinem Schneckenhaus herauszukommen. Man hört und sieht nichts von ihm. Ob wohl ein Kanonenschuß den verrosteten alten Mann aus seiner unerschütterlichen Fassung bringen könnte?

Seit vielen Jahren hat der beharrliche Römer, ohne damit etwas Besonderes haben sagen zu wollen, von der Decke heruntergedeutet. Es ist nicht wahrscheinlich, daß er heute nacht damit etwas Besonderes meint. Wer ein Mal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht, ob’s jetzt ein Römer oder sogar ein Brite ist. Darum bleibt er jetzt in seiner unmöglichen Stellung und deutet und deutet – erfolglos – die ganze Nacht herunter.

Mondlicht, Dunkelheit, Dämmerung, Morgenrot, Tag. Immer noch deutet er eifrig herunter, und niemand achtet auf ihn.

Aber kurz nach Tagesanbruch kommen Leute, um die Zimmer zu reinigen. Entweder sagt der Römer jetzt wirklich die Wahrheit, oder der erste der Leute, die hereinkommen, ist plötzlich verrückt geworden, denn wie er hinaufblickt zur Decke und dem ausgestreckten Finger folgt, schreit er auf und läuft davon. Die andern blicken ins Zimmer, so wie der erste hineinblickte, und auch sie schreien auf und laufen davon. Alarm entsteht in den Straßen.

Was hat das zu bedeuten? Man läßt kein Licht in das verfinsterte Zimmer, und Leute, die sonst nie hineinkommen, treten auf den Fußspitzen ein und kommen schweren Tritts wieder heraus, tragen etwas in das Schlafzimmer und legen es hin. Den ganzen Tag geht ein Flüstern der Verwunderung durch die Straßen. Nachforschung wird gehalten in jeder Ecke, Fußstapfen auf Fußstapfen aufmerksam verfolgt und sorgfältig die Stellung jedes Stücks Hausrat betrachtet. Aller Augen blicken hinauf zu dem Römer, und Stimmen murmeln: Wenn der reden könnte!

Er deutet beharrlich auf einen Tisch mit einer fast noch vollen Flasche Wein und einem Glas darauf und zwei Kerzen, die kurz nach dem Anbrennen ausgeblasen worden sein müssen. Er deutet auf einen leeren Stuhl und auf einen Fleck auf dem Fußboden davor, den man mit einer Hand bedecken kann. Eine aufgeregte Phantasie könnte sich einreden, es läge darin etwas so Schreckliches, daß das ganze Deckengemälde samt den dickbeinigen Amoretten, samt Wolken, Blumen und Pfeilern, kurz, die ganze Allegorie an Leib und Seele, verrückt werden müßte. Jeder, der in das verdunkelte Zimmer tritt und sich diese Sachen ansieht, blickt auch hinauf zu dem Römer, der jetzt in aller Augen etwas Geheimnisvolles und Schauerliches hat und aussieht wie ein vom Schlag getroffner stummer Zeuge.

Viele Jahre lang noch werden Schauergeschichten von dem Fleck auf dem Fußboden erzählt werden, der so leicht zu bedecken und so schwer wegzuwaschen war; und der Römer wird, solange Staub und Feuchtigkeit und Spinnen ihn verschonen, mit viel größerer Bedeutung als jemals zu Mr. Tulkinghorns Lebzeiten, vom Tode berichtend, herunterdeuten.

Mr. Tulkinghorns Zeit ist vorüber für immer, und der Römer deutete auf die Mörderhand, die sich gegen das Leben erhoben, und deutete rastlos auf den, der den Abend bis Morgen mit dem Gesicht auf dem Fußboden dagelegen hat, mitten durch das Herz geschossen.

5. Kapitel


5. Kapitel

Ein Morgenabenteuer

Obgleich der Morgen rauh war und der Nebel immer noch dicht zu sein schien – ich sage ’schien‘ – denn die Fensterscheiben waren so mit Schmutz überzogen, daß der hellste Sonnenschein durch sie trübe ausgesehen hätte –, konnte ich mir doch das Unbehagliche eines Morgens in diesem Hause zu deutlich vorstellen und war zu neugierig auf London, um den Vorschlag Miß Jellybys, einen Spaziergang zu machen, nicht für einen guten Gedanken zu halten.

»Mama wird so bald nicht herunterkommen«, sagte sie, »und dann wird möglicherweise das Frühstück eine Stunde später fertig. Sie trödeln so. Pa nimmt, was er kriegen kann, und geht dann ins Bureau. Ein ordentliches Frühstück hat er in seinem Leben noch nicht gehabt. Priscilla läßt ihm am Abend vorher Brot und Milch draußen, wenn welche da ist. Manchmal ist keine da, und manchmal säuft sie die Katze. Aber ich fürchte, Sie werden müde sein, Miß Summerson, und möchten sich vielleicht lieber ins Bett legen.«

»Ich bin durchaus nicht müde, liebes Kind, und würde viel lieber ausgehen.«

»Wenn Sie wirklich Lust haben«, sagte Miß Jellyby, »will ich mich anziehen.«

Ada erklärte sich ebenfalls bereit mitzugehen und war bald fertig. Peepy machte ich den Vorschlag, ich wolle ihn waschen – da ich nichts Besseres für ihn tun konnte – und ihn dann wieder in mein Bett legen. Er ließ sich das mit der besten Miene, die man von ihm erwarten konnte, gefallen und glotzte mich während der ganzen Prozedur an, als wäre er in seinem ganzen Leben noch nie so erstaunt gewesen. Er sah dabei recht weinerlich aus, war aber ganz still und fiel sogleich in tiefen Schlaf, als alles vorbei war.

Anfangs hatte ich so meine Bedenken, ob ich mir solche Freiheiten herausnehmen dürfe, aber dann fiel mir ein, daß niemand im Hause es bemerken würde.

Das Kind zu waschen, mich anzuziehen und Ada zu helfen, machte mich bald ziemlich warm. Miß Jellyby fanden wir am Kamin im Schreibzimmer stehen, wo Priscilla mit einem rußigen Talglicht ein Feuer anzuzünden bemüht war. Damit es besser brenne, warf sie schließlich die Kerze hinein. Alles lag noch so da, wie wir es am Abend verlassen hatten, und sollte offenbar immer so bleiben. Unten war das Tischtuch nicht weggenommen, sondern für das Frühstück liegen geblieben. Krumen, Staub und zerknülltes Papier lagen überall im Hause herum. Ein paar blecherne Bierkrüge und eine Milchkanne hingen auf dem Hofgitter. Die Türe stand offen, und wir begegneten der Köchin an der nächsten Ecke, wie sie gerade aus einer Schenke kam und sich den Mund wischte. Sie sagte uns im Vorbeigehen, sie habe nachgesehen, wie spät es sei. Vorher trafen wir noch Richard, der Thavies Inn auf und ab tanzte, um sich die Füße zu wärmen. Unser frühzeitiges Erscheinen überraschte ihn höchst angenehm, und er schloß sich mit großer Freude unserm Spaziergang an.

So nahm er Ada unter seine Obhut, und Miß Jellyby und ich gingen voraus. Miß Jellyby hatte wieder ihr mißgelauntes Wesen angenommen, und ich würde ihr nicht geglaubt haben, daß sie mich so gerne habe, wenn sie es mir nicht wiederholt gesagt hätte.

»Wohin wollen wir gehen?« fragte sie.

»Irgendwohin, liebes Kind.«

»Irgendwohin heißt nirgendshin«, sagte sie und machte störrisch halt.

»Nun, so machen Sie selbst einen Vorschlag!«

Sie fing darauf an, sehr rasch zu gehen.

»Mir ist alles gleich«, rief sie aus. »Sie haben es gehört, Miß Summerson, ich sage, mir ist alles gleich – aber wenn er auch mit seiner glänzenden buckligen Stirn jeden Abend zu uns käme, bis er so alt wäre wie Methusalem, würde ich kein Wort mit ihm sprechen. Zu was für Eseln er und Mama sich machen!«

»Aber Kind«, mußte ich sagen, »Ihre Pflicht als Tochter –«

»Ach, sprechen Sie mir nicht von Kindespflicht, Miß Summerson; erfüllt Mama vielleicht ihre Mutterpflicht? Immerfort Afrika und Öffentlichkeit! Soll Afrika und die Öffentlichkeit Kindespflicht an den Tag legen; sie haben mehr damit zu tun als ich! Das empört Sie wahrscheinlich! Nun, mich empört’s auch; so empört uns die Sache beide, und damit Schluß.«

Sie führte mich noch schneller die Straße entlang.

»Aber trotz alledem, ich sage noch einmal, mag er kommen und kommen und wieder kommen, ich habe mit ihm nichts zu schaffen. Ich kann ihn nicht ausstehen. Wenn ich etwas auf der Welt hasse und verabscheue, so ist es das Zeug, was er und Mama miteinander schwatzen. Ich wundere mich nur, daß die Pflastersteine vor unserm Haus Geduld haben, dort zu bleiben und Zeuge zu sein von solchen Widersprüchen und all dem hohltönenden Unsinn und von Mamas Wirtschaft.«

Sie konnte natürlich nur Mr. Quale meinen, den jungen Herrn, der gestern nach dem Essen erschienen war.

Aus der unangenehmen Lage, mehr über dieses Thema hören zu müssen, retteten mich Richard und Ada, indem sie uns jetzt in scharfem Schritt nachkamen und lachend fragten, ob wir einen Wettlauf veranstalten wollten. So unterbrochen, wurde Miß Jellyby still und ging mürrisch neben mir her, während ich den häufigen Szenenwechsel und die Verschiedenartigkeit der Straßen bewunderte und die vielen schon so früh umhereilenden Leute, die Menge Wagen, die Geschäftigkeit beim Auskehren der Läden und beim Arrangieren der Auslagen und die seltsamen zerlumpten Gestalten, die verstohlen im Kehricht nach Nadeln und anderm Abfall wühlten, anstaunte.

»Schauen Sie nur, Kusine«, sagte hinter mir Richards heitere Stimme zu Ada, »es scheint, als sollten wir gar nicht aus dem Kanzleigericht herauskommen! Wir sind auf einem andern Weg wieder zu dem Ort unseres gestrigen Zusammentreffens gekommen und – beim Großen Siegel –da steht schon wieder die alte Frau!«

Und wirklich, da stand sie, unmittelbar vor uns, knicksend und lächelnd, und sagte mit ihrer gestrigen Gönnermiene:

»Die Mündel in Sachen Jarndyce! Schätze mich unendlich glücklich!«

»Sie stehen zeitig auf, Maam«, sagte ich, als sie mir ihren Knicks machte.

»Ja-a! Ich gehe gewöhnlich hier früh spazieren! Ehe die Sitzung anfängt. Es ist so still hier. Ich sammle hier meine Gedanken für die Geschäfte des Tages«, schwätzte die Alte geziert. »Das Geschäft verlangt sehr viel Überlegung. Dem Kanzleigerichtsrecht zu folgen, ist unendlich schwer.«

»Wer ist das, Miß Summerson?« fragte mich flüsternd Miß Jellyby und drückte meinen Arm fester an sich.

Das Gehör der kleinen Alten war merkwürdig scharf. Sie antwortete auf der Stelle selbst.

»Eine Prozessierende, mein Kind. Zu dienen. Ich habe die Ehre, den Gerichtssitzungen regelmäßig beizuwohnen. Mit meinen Dokumenten. Habe ich die Ehre, mit noch einer der jungen Parteien in Sachen Jarndyce zu sprechen?« fragte sie und richtete sich, den Kopf auf die Seite geneigt, von einem sehr tiefen Knicks wieder auf.

Richard, der seinen gestrigen Verstoß wieder gut machen wollte, setzte mit großer Gutmütigkeit auseinander, daß Miß Jellyby mit dem Prozeß nichts zu tun habe.

»So, so! Sie erwartet also kein Urteil? Sie wird aber doch alt werden. Aber nicht so alt. O Gott nein. Das ist der Garten von Lincoln’s-Inn. Ich nenne ihn meinen Garten. Er ist ein wahres Paradies im Sommer. Wo die Vögel melodisch singen. Ich verbringe die größte Zeit der langen Gerichtsferien hier. In Betrachtung. Die großen Ferien kommen Ihnen wohl auch außerordentlich lang vor?«

– Wir sagten ja, da sie es zu erwarten schien. –

»Wenn die Blätter von den Bäumen fallen und keine Blumen mehr blühen, um zu Sträußen für den Gerichtshof des Lordkanzlers gebunden zu werden, dann sind die Ferien um, und das sechste Siegel, von dem in der Offenbarung die Rede ist, kommt wieder hervor. Bitte, kommen Sie mit und sehen Sie sich meine Wohnung an. Es wäre ein gutes Omen für mich! Jugend und Hoffnung und Schönheit kommen sehr selten hin. Seit langer, langer Zeit haben sie mich nicht besucht.«

Sie hielt mich bei der Hand gefaßt und zog mich und Miß Jellyby vorwärts, während sie Richard und Ada winkte, nachzukommen.

Ich fand keine Ausflucht und blickte hilfesuchend auf Richard. Da ihm die Sache Spaß machte und seine Neugierde erregte und ihm ebenfalls nichts einfiel, wie er die Alte loswerden könnte, ohne sie zu beleidigen, so führte sie uns unbehindert weiter, und er und Ada folgten uns. Ununterbrochen versicherte uns diese seltsame Führerin mit lächelnder Herablassung, daß sie ganz in der Nähe wohne.

Das stimmte. Sie wohnte in so unmittelbarer Nähe, daß wir gar keine Zeit gehabt hätten, uns zu sträuben, und schon in wenigen Augenblicken vor ihrer Wohnung standen. Sie führte uns durch ein kleines Seitenpförtchen in eine schmale Nebengasse, die zu Lincoln’s-Inn gehörte, blieb plötzlich stehen und sagte: »Hier wohne ich. Bitte, treten Sie ein.«

Wir hielten vor einem Laden, über dem geschrieben stand:

Krook: Hadern- und Flaschenlager

darunter in langen dünnen Buchstaben:

Krook: Lager von Kram aller Art

In einem Fenster hing das Bild einer roten Papiermühle, vor der aus einem Wagen Säcke mit Hadern abgeladen wurden. Auf einer andern Scheibe stand:

Ankauf von Knochen

auf einer dritten:

Ankauf von Küchenabfall

auf einer vierten:

Ankauf von altem Eisen

auf einer fünften:

Ankauf von altem Papier

auf einer sechsten:

Ankauf von Herren- und Damenkleidern

Alles schien hier gekauft und nichts verkauft zu werden.

Die Auslage war voll von schmutzigen Flaschen aller Art: Wichsflaschen, Medizin-, Ingwerbier- und Sodawasserflaschen, Einmachgläsern, Wein- und Tintenkrügen. Besonders letztere verliehen dem Laden das Aussehen, zumal er in der Nachbarschaft eines Gerichts sich befand, als ob er gewissermaßen ein schmieriger Schmarotzer oder verstoßener Verwandter des Gesetzes sei. Ihre Zahl war sehr groß. Vor der Tür stand eine kleine, wacklige Bank mit modrigen alten Bänden darauf und einem Zettel:

Juristische Bücher, 9 d das Stück

Von den erwähnten Inschriften waren mehrere mit einer Kanzlistenhand geschrieben, ähnlich den Akten, die ich in der Kanzlei von Kenge & Carboy gesehen, und den Briefen, die ich während so langer Zeit empfangen hatte. Mitten unter ihnen prangte ein Zettel von der gleichen Handschrift, der aber nichts mit dem Geschäfte zu tun hatte, sondern meldete, daß ein anständiger Mann von fünfundvierzig Jahren sich zum reinlichen und pünktlichen Abschreiben juristischer und anderer Schriften empfehle: Adresse: Nemo, abzugeben bei Mr. Krook, hierselbst.

Auch einige alte Advokatentaschen, blaue und rote, hingen herum. Nicht weit von der Tür lagen im Laden auf dem Fußboden Haufen von alten zerknitterten Pergamentrollen und vergilbten Akten mit großen Eselsohren. Die rostigen Schlüssel, die als altes Eisen zu Hunderten übereinander gehäuft waren, mochten wohl früher dazu bestimmt gewesen sein, die Zimmer oder die Akten- und Geldschränke von Kanzleien abzuschließen. Dicke Lumpenbündel, halb aus einer einbeinigen hölzernen Waagschale, die ohne Gegengewicht von einem Balken herabbaumelte, heraushängend, schienen aus zerrissenen Talaren von Anwälten zu bestehen, man brauchte sich nur noch einzubilden, wie Richard Ada und mir zuflüsterte, als wir in der Türe standen, daß der Haufen abgenagter Knochen in der Ecke aus Klientengebeinen bestünde, und das Bild wäre vollständig gewesen.

Da es immer noch neblig und dunkel war und außerdem die nur wenige Schritte entfernte Mauer von Lincoln’s-Inn das Licht absperrte, würden wir wenig gesehen haben, wenn sich nicht ein alter Mann mit Brille und Pelzmütze im Laden mit einer brennenden Laterne herumbewegt hätte. Er wendete sich zufällig nach der Tür und erblickte uns.

Er war klein, leichenhaft und verwittert; der Kopf stak ihm schief zwischen den Schultern, und wie der Atem als sichtbarer Dampf aus seinem Munde kam, sah der Mann aus, als ob er inwendig brenne. Hals, Kinn und Augenbrauen waren so bereift mit weißen Haaren und so runzlig von Adern und Hautfalten, daß er aussah wie eine alte überschneite Wurzel.

»Hihi«, sagte der Alte und trat in die Tür. »Haben Sie etwas zu verkaufen?«

Wir wichen natürlich einen Schritt zurück und sahen unsere Führerin an, die sich bemühte, das Haustor mit einem Schlüssel zu öffnen, nach dem sie lange in der Tasche herumgesucht hatte. Richard sagte zu ihr, wir wollten uns, zumal wir nicht viel Zeit hätten, verabschieden, da wir ihre Wohnung jetzt wüßten. Aber so leichten Kaufes war von ihr nicht loszukommen. Sie benahm sich so phantastisch und bat so ernst und dringend, mit ihr hinaufzukommen und nur einen Augenblick ihre Behausung anzusehen, beharrte in ihrer harmlosen Weise so hartnäckig darauf, besonders mich als gutes Omen hineinzuführen, daß ich ihr gewähren mußte, ohne erst die andern fragen zu können.

Wahrscheinlich waren wir alle mehr oder weniger neugierig; – jedenfalls wurden wir es, als der alte Mann sie mit seinen Überredungskünsten unterstützte und uns zuredete: »Ja, ja! Tun Sie ihr doch den Gefallen! Kostet höchstens eine Minute! Nur herein, nur herein! Kommen Sie durch den Laden, wenn die andere Tür nicht aufzuschließen geht.«

Wir traten daher alle, ermutigt durch Richards fröhliche Laune und auf seinen Schutz vertrauend, ein.

»Mein Hauswirt Krook«, stellte die kleine Alte mit großer Herablassung den Ladeninhaber vor. »Seine Nachbarn nennen ihn den Lordkanzler. Sein Laden heißt: Der Kanzleigerichtshof. Ein sehr exzentrischer Mann. Kurioser Kauz. Ich versichere Ihnen, er ist sehr sonderbar.«

Sie nickte wiederholt und deutete mit dem Finger auf die Stirn, um auszudrücken, daß wir ihm etwas zugute halten müßten.

»Er ist ein klein wenig – Sie wissen schon – ver –«, sagte sie mit gnädiger Herablassung. Der Alte überhörte es scheinbar und lachte.

»Es ist schon wahr«, sagte er, als er uns mit der Laterne vorausleuchtete, »daß sie mich den ‚Lordkanzler‘ und meinen Laden ‚Das Kanzleigericht‘ nennen. Aber warum glauben Sie wohl, nennen sie mich den ‚Lordkanzler‘ und meinen Laden ‚Das Kanzleigericht?’«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Richard ziemlich gleichgültig.

»Sie müssen wissen«, der Alte blieb stehen und drehte sich um, »daß sie… Hi! Ist das aber ein schönes Haar! Ich habe drei Säcke voll Frauenhaar unten im Keller, aber keins ist so schön und weich wie dieses. Was für eine Farbe, und die Geschmeidigkeit!«

»Ich dächte, lieber Freund«, sagte Richard, es höchlichst mißbilligend, daß der Alte eine von Adas Locken durch seine gelbe Hand gleiten ließ, »Sie könnten es bewundern, wie wir andern, ohne sich diese Freiheit zu nehmen.«

Mr. Krook schoß einen so scharfen Blick auf ihn, daß es sogar meine Aufmerksamkeit von Ada ablenkte, die erschrocken und errötend so merkwürdig schön aussah, daß sie selbst die ruhelosen Augen der kleinen Alten zu fesseln schien, – aber da Ada sich einmischte und lachend sagte, sie könne auf eine so ungeschminkte Bewunderung nur stolz sein, beruhigte sich Mr. Krook schnell wieder.

»Sie sehen, ich habe soviel Sachen hier«, fuhr er fort und leuchtete mit der Laterne herum, »so vielerlei, – und alles, wie die Nachbarn, die es nicht verstehen, meinen, nur zum Vermodern, daß man mich und meinen Laden deshalb so getauft hat. Ich habe viele alte Pergamente und Papiere in meinem Lager und eine Vorliebe für Rost und Moder und Spinnweben. Alles, was Fisch ist, geht mir ins Netz. Und es ist mir ganz unmöglich, etwas wieder herauszugeben, was ich einmal habe – so denken wenigstens meine Nachbarn, aber was verstehen die davon –, oder etwas zu ändern, rein machen oder fegen oder ausbessern zu lassen. Dadurch habe ich den Spitznamen ‚Kanzleigericht‘ bekommen. Mir ist das einerlei. Ich besuche meinen vornehmen und gelehrten Kollegen so ziemlich jeden Tag, wenn er im Gericht Sitzung hat. Er beachtet mich nicht, aber ich beachte ihn. Der Unterschied zwischen uns ist nicht groß. Wir wühlen beide in altem Plunder. Hi, Lady Jane!«

Eine große, graue Katze sprang von einem nahen Brett auf seine Achsel und erschreckte uns alle.

»Hi! Zeig ihnen, wie du kratzen kannst. Hi! Kratz, Lady Jane!« Die Katze sprang auf den Boden und hakte ihre tigerartigen Krallen in ein Bündel Hadern. Es gab einen Ton, der mir durch Mark und Bein ging.

»So macht sie es mit jedem Lebendigen auch, auf den ich sie hetze«, sagte der Alte. »Ich handle unter anderm auch mit Katzenfellen, und ihres wurde mir ebenfalls angeboten. Es ist ein sehr schönes Fell, wie Sie sehen, aber ich habe es ihr nicht über die Ohren gezogen! Das war nicht Kanzeleigerichtsbrauch, werden Sie sagen.«

Wir waren jetzt durch den Laden gegangen, und er öffnete eine Hintertür, die auf den Hausflur führte. Während er, die Hand auf das Türschloß gelegt, dastand und uns hinausgehen ließ, bemerkte die kleine Alte gnädig zu ihm:

»Schon gut, Krook. Sie meinen es gut, sprechen aber zuviel. Meine jungen Freunde haben Eile. Ich habe selbst auch keine Zeit übrig und muß bald in die Sitzung. Meine jungen Freunde sind die Mündel in Sachen Jarndyce.«

»Jarndyce!« fuhr der Alte auf.

»In Sachen Jarndyce kontra Jarndyce. In dem großen Prozeß, Krook!«

»Hi!« rief der Alte in einem Ton gedankenvollen Staunens und starrte uns mit noch größeren Augen an als vorher. »Da denke einer!«

Er schien auf einmal so in Gedanken versunken zu sein und sah uns so sonderbar an, daß Richard zu ihm sagte:

»Sie scheinen sich sehr um die Prozesse vor Ihrem vornehmen und gelehrten Kollegen, dem andern Kanzler, zu bekümmern?«

»Ja«, erwiderte der Alte grüblerisch. »Gewiß! Ihr Name muß sein –«

»Richard Carstone.«

»Carstone«, wiederholte er und zählte langsam seine Finger ab. »Ja. Dann ist da der Name Barbary, der Name Clare und der Name Dedlock, glaube ich.«

»Er weiß wahrhaftig von dem Prozeß soviel wie der wirkliche bezahlte Kanzler«, sagte Richard ganz erstaunt zu Ada und mir.

Langsam erwachte der Alte aus seinem Träumen. »Ja! Tom Jarndyce – Sie werden entschuldigen, daß ich so sage, aber man kannte ihn hier unter keinem andern Namen und kannte ihn so gut wie – diese hier.« – Er deutete mit einem leichten Nicken auf seine Mieterin; »Tom Jarndyce war oft hier im Laden. Er hatte sich ein ruheloses Herumlaufen angewöhnt, während sein Prozeß verhandelt wurde, und ließ sich in Gespräche ein mit den kleinen Ladeninhabern und riet ihnen, sich um jeden Preis von dem Kanzleigericht fernzuhalten; denn, sagte er, im Kanzleigericht sein, heißt Stück für Stück von einer langsamen Mühle gemahlen, von einem langsamen Feuer gebraten, von einzelnen Bienen zu Tode gestochen, tropfenweise ertränkt werden, schrittweise den Verstand verlieren. Er war so nahe daran, mit sich ein Ende zu machen, als man nur sein kann, auf derselben Stelle hier, wo jetzt die junge Dame steht.«

Wir hörten mit Grausen zu.

»Er kam zur Türe herein«, fuhr der Alte fort und bezeichnete mit dem Finger langsam und gespenstisch einen Pfad durch den Laden. »Er kam an dem Tage, wo er es tat, zu der Türe dort herein – die ganze Nachbarschaft hatte schon seit Monaten gesagt, er werde es ganz gewiß tun, früher oder später – und setzte sich auf eine Bank, die damals dort in der Ecke stand, und bat mich, ihm eine halbe Flasche Wein zu holen. Denn, sagte er, ‚Krook, ich bin sehr niedergedrückt; meine Sache wird wieder verhandelt, und ich glaube, ich bin dem Richterspruch näher als je.‘

Ich wollte ihn nicht allein lassen und überredete ihn, in die Taverne drüben auf der andern Seite der Kanzleigerichtsgasse zu gehen; und ich ging ihm nach und blickte zum Fenster hinein und sah ihn ganz gemütlich, wie ich glaubte, in einem Lehnstuhl am Feuer sitzen, und Gesellschaft bei ihm. Aber kaum war ich wieder in meinem Laden, hörte ich einen Schuß drüben. Ich lief auf die Straße – die Nachbarn liefen auf die Straße – und zwanzig von uns schrieen auf einmal: Tom Jarndyce!«

– Der alte Mann hielt inne, sah uns scharf an, sah die Laterne an, blies das Licht aus und machte sie dann zu. –

»Wir hatten es erraten, das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Hi! Wie die Nachbarschaft in den Gerichtssaal strömte, als noch am selben Nachmittag der Prozeß zur Verhandlung kam! Wie mein vornehmer und gelehrter Kollege und all die andern übrigen wie gewöhnlich das alte Lied herunterleierten und sich Mühe gaben, ein Gesicht zu machen, als ob sie kein Wort von dem letzten Vorfall gehört hätten und es sie gar nichts anginge, falls zufällig die Rede darauf kommen sollte.«

Adas Gesicht hatte vollständig seine Farbe verloren, und auch Richard war kaum weniger blaß. Wenn auch mich der Prozeß selbst nichts anging, so konnte ich mich doch nicht wundern, daß für ungeprüfte und jugendliche Herzen die Aussicht etwas Erschütterndes hatte, die Erbschaft eines jahrzehntelang hingeschleppten Elends, das für so manchen mit so schrecklichen Erinnerungen verknüpft war, dereinst antreten zu müssen. Ich dachte, die peinliche Erzählung würde auch auf die arme halbverrückte Alte einen tiefen Eindruck gemacht haben, aber zu meiner Verwunderung blieb sie vollkommen gleichgültig und führte uns ruhig die Treppen hinauf. Dabei gab sie uns, nachsichtig wie ein höheres Wesen gegenüber den Schwächen eines gewöhnlichen Sterblichen, zu verstehen, ihr Hauswirt sei »ein klein wenig – ver- Sie verstehen schon!«

Sie wohnte im obersten Stock in einem ziemlich großen Zimmer, von dem sie eine Aussicht auf das Dach der Lincoln’s-Inn-Hall hatte. Dies schien sie ursprünglich hauptsächlich veranlaßt zu haben, ihre Wohnung hier aufzuschlagen.

Sie könne des Nachts hinsehen, sagte sie, besonders im Mondschein.

Das Zimmer war reinlich, aber sehr, sehr kahl. Von Möbeln konnte ich nur das Allernotwendigste bemerken; ein paar alte, aus Büchern gerissene Kupferstiche, Kanzler und Advokaten darstellend, waren mit Oblaten an die Wand geklebt, und ein halbes Dutzend Strickbeutel »mit Dokumenten«, wie sie sagte, hingen herum. Im Roste lagen weder Kohlen noch Asche, und Kleidungsstücke oder Lebensmittel waren nirgends zu bemerken. Auf einem Brett in einem offenen Küchenschrank standen ein paar Teller, eine Tasse und ähnlicher Hausrat; aber alles war bestaubt und leer. Das kümmerliche, spitze Aussehen der Alten kam mir jetzt, wo ich mich umgesehen, ergreifender vor als zuvor.

»Ich fühle mich außerordentlich geehrt«, sagte sie unendlich süßlich, »durch diesen Besuch der Mündel in Sachen Jarndyce. Und ich bin Ihnen außerordentlich für dieses gute Vorzeichen verbunden. Es ist eine stille Lage. Verhältnismäßig. Ich bin in der Wahl meiner Wohnung beschränkt wegen der Notwendigkeit, den Gerichtssitzungen beiwohnen zu müssen. Ich lebe seit vielen Jahren hier. Meine Tage bringe ich im Gerichtssaal zu. Meine Abende und meine Nächte hier. Die Nächte werden mir lang, denn ich schlafe wenig und denke viel. Das ist natürlich unvermeidlich. Denn es gehört zum Kanzleigericht. Ich kann Ihnen leider keine Schokolade anbieten. Ich erwarte binnen kurzem ein Urteil und werde dann meine Wirtschaft auf größerem Fuße einrichten. Für jetzt gestehe ich den Mündeln in Sachen Jarndyce ohne Beschämung, aber in tiefstem Vertrauen, daß es mir manchmal schwer fällt, den äußern Schein der Wohlanständigkeit zu wahren. Ich habe hier gefühlt, was Kälte heißt. Ich habe noch Schlimmeres gefühlt als Kälte. Doch das tut nichts. Bitte entschuldigen Sie, daß ich von so banalen Dingen rede.«

Sie zog den Vorhang des langen niedrigen Dachfensters etwas zurück und machte uns auf eine Anzahl dort hängender Käfige aufmerksam. Es waren Lerchen, Hänflinge und Gimpel darin; mindestens zwanzig.

»Ich fing an, die Tierchen in einer Absicht zu halten, die die Mündel leicht verstehen werden. In der Absicht, ihnen die Freiheit zu geben. Sowie das Urteil erfließen würde. Ja-a! Und dennoch sterben sie im Käfig. Das Leben der armen Dinger ist so kurz im Vergleich mit Kanzleigerichtsprozessen, daß die ganze Sammlung schon mehr als ein Mal ausgestorben ist. Wissen Sie, daß ich sehr zweifle, ob ein einziges von ihnen, so sehr jung sie noch sind, jemals den Tag seiner Freilassung erleben wird? Unendlich traurig, nicht wahr?«

– Wenn sie eine Frage stellte, schien sie selten eine Antwort zu erwarten, sondern schwatzte immer fort, als ob sie sich das so bei ihrem Alleinsein angewöhnt hätte. –

»Wahrhaftig, ich kann Ihnen versichern, manchmal fange ich an zu glauben, daß man mich, während die Sache immer noch nicht abgemacht und das sechste oder Große Siegel immer noch geschlossen ist, auch eines Tages hier tot und starr finden wird, wie ich schon so manchen Vogel im Käfig gefunden habe.«

Richard, Adas mitleidigen Blick verstehend, benützte die Gelegenheit, um leise und unbemerkt etwas Geld auf den Kaminsims zu legen. Wir traten alle näher an die Käfige und stellten uns, als betrachteten wir die Vögel.

»Ich darf sie nicht oft singen lassen«, erklärte die kleine Alte. »Sie werden es seltsam finden, der Gedanke macht mich verwirrt, daß sie singen, während ich der Beweisführung im Gerichtshof folge, und ich muß mir den Kopf so außerordentlich klar erhalten. Sie verstehen! Ein andermal will ich Ihnen ihre Namen sagen. Jetzt nicht. An einem Tag von so guten Vorzeichen sollen sie singen, soviel sie wollen. Zum Preis und Lob der Jugend« – sie lächelte und knickste – »der Hoffnung« – sie lächelte und knickste. »So! Wir wollen volles Licht hereinlassen.«

Die Vögel fingen an zu flattern und zu zirpen.

»Ich kann nicht frische Luft hereinlassen«, begann die kleine Alte wieder – das Zimmer war dumpfig und hätte einer Lüftung dringend bedurft –, »weil die Katze unten – Lady Jane – ihnen nach dem Leben trachtet. Sie lauert am Fenstersims stundenlang. Und ich habe entdeckt«, flüsterte sie uns geheimnisvoll zu, »daß ihre natürliche Grausamkeit geschärft wird durch die Furcht, sie könnten eines Tages in Freiheit gesetzt werden. Infolge des bevorstehenden Urteils. Sie ist schlau und voll Tücke. Manchmal glaube ich so halb und halb, sie ist gar keine Katze, sondern so etwas wie der Wolf aus dem alten Märchen. Es ist so schwierig, sie vom Zimmer fern zu halten.«

Die Schläge der benachbarten Turmuhr, die die Arme daran erinnerten, daß es halb zehn sei, trug mehr zur Beendigung unseres Besuchs bei, als wir selbst hätten tun können. Sie nahm hastig ihren kleinen Dokumentenbeutel, den sie beim Hereintreten auf den Tisch gelegt hatte, und fragte uns, ob wir auch mit in den Gerichtssaal gingen. Als wir verneinten und sie um keinen Preis aufhalten wollten, öffnete sie die Tür, um uns zur Treppe zu geleiten.

»Bei einem so guten Omen ist es sogar notwendiger als gewöhnlich, daß ich dort bin, ehe der Kanzler kommt«, sagte sie, »falls er meine Sache gleich vornehmen sollte. Ich habe eine Ahnung, daß sie wirklich heute morgen zuerst dran kommt.«

Auf der Treppe blieb sie stehen und verriet uns flüsternd, das ganze Haus sei mit allerlei Gerumpel angefüllt, das ihr Wirt stückweise gekauft habe und um keinen Preis mehr hergeben würde, – weil er ein wenig – ver – – – – sei.

Das war auf dem ersten Treppenabsatz. Im zweiten Stock war sie schon ein Mal stehen geblieben und hatte bloß schweigend auf eine dunkle Tür gedeutet.

»Der einzige andre Mieter außer mir!« flüsterte sie erklärend. »Ein Advokatenschreiber. Die Kinder auf der Gasse sagen, er hätte sich dem Teufel verkauft. Ich möchte nur wissen, wo er das Geld hingetan haben sollte. Sst!« –

Sie schien sogar hier zu fürchten, daß der Mietsmann oben sie hören könnte, sagte immerwährend: »Sst!« und ging auf den Zehen vor uns her, als ob der Schall der Tritte ihm schon verraten könnte, was sie gesagt hatte.

Als wir durch den Laden das Haus verlassen wollten, fanden wir den Alten beschäftigt, eine Anzahl Pakete Makulatur in eine Art Brunnen im Fußboden zu packen. Es schien ihn sehr anzustrengen, denn der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Mit einem Stück Kreide malte er jedes Mal einen Haken auf das Wandgetäfel, wenn er einen Pack Papier verstaut hatte.

Richard, Ada, Miß Jellyby und die kleine Alte waren an ihm vorbeigegangen, und ich wollte ihnen gerade folgen, als er meinen Arm berührte, damit ich bleiben sollte, und den Buchstaben J. an die Wand malte; – auf eine sehr seltsame Weise, indem er mit dem untern Ende des Buchstabens anfing und ihn nach rückwärts schrieb. Es war ein Anfangsbuchstabe, nicht von der Form eines gedruckten, sondern von der Art, wie ihn ein Schreiber aus der Kanzlei Kenge & Carboy gemacht haben würde.

»Können Sie ihn lesen?« fragte er mich mit einem stechenden Blick.

»Natürlich. Er ist sehr deutlich.«

»Wie heißt er?«

»Jot.«

Er sah mich wieder an und dann die Tür, wischte den Buchstaben weg und schrieb statt dessen ein kleines a hin und fragte: »Was ist das?«

Ich sagte es ihm.

Er wischte dann das a weg und schrieb ein r hin und stellte dieselbe Frage. So malte er rasch weiter, bis er auf diese seltsame Weise, immer an dem verkehrten Ende der Buchstaben anfangend, das Wort Jarndyce zusammenbrachte, ohne ein einziges Mal zwei Buchstaben zu gleicher Zeit an der Wand stehen zu lassen.

»Wie liest man das?« fragte er mich.

Als ich es ihm sagte, kicherte er.

In derselben seltsamen Weise, aber ebenso schnell, schrieb er dann einzeln die Buchstaben des Wortes: »Bleakhaus« hin und wischte sie einzeln wieder weg.

Auch das las ich mit einigem Erstaunen, und wieder lachte er.

»Hü« sagte er dann und legte die Kreide weg. »Ich habe so meine Art, aus dem Gedächtnis Buchstaben nachzumalen, Miß, obgleich ich weder lesen noch schreiben kann.«

Er sah dabei so häßlich aus und seine Katze starrte mich so boshaft an, als ob ich eine Blutsverwandte der Vögel oben wäre, daß ich mich ordentlich erleichtert fühlte, als Richard an der Tür erschien und sagte:

»Miß Summerson, ich hoffe, Sie verkaufen doch nicht am Ende Ihr Haar hier. Lassen Sie sich nicht verleiten! Drei Säcke im Keller sind gerade genug für Mr. Krook.«

Ich säumte nicht länger und wünschte Mr. Krook guten Morgen, schloß mich dann meinen Freunden an der Straße an, und wir nahmen von der kleinen Alten Abschied. Sie gab uns mit großer Feierlichkeit ihren Segen und erneuerte ihre Versicherung von gestern, sie wolle Ada und mich zu Erben ihrer Güter einsetzen.

Ehe wir aus der Gasse bogen, drehten wir uns noch einmal um und sahen Mr. Krook in seiner Ladentür stehen und uns durch die Brille nachblicken, während die Katze auf seiner Schulter saß und ihr Schwanz sich an seiner Pelzmütze wie eine große Feder in die Höhe bog.

»Wirklich ein Abenteuer für einen Londoner Morgen«, sagte Richard mit einem Seufzer. »Ach Kusine, Kusine, es ist ein trauriges Wort, dieses Kanzleigericht.«

»Das ist es für mich seit der Zeit, da ich denken kann«, entgegnete Ada. »Es macht mir Kummer, daß ich die Feindin einer großen Anzahl von Verwandten und andren Menschen sein muß und sie meine Feinde sein müssen und wir uns alle miteinander zugrunde richten, ohne zu wissen, wieso oder warum, und unser ganzes Leben in beständiger Spannung und Zwietracht verbringen. Da doch auf einer Seite das Recht sein muß, finde ich es wirklich seltsam, daß ein ehrlicher Richter mit rechtem Ernst in diesen vielen Jahren nicht hat herausfinden können, wo es liegt.«

»Ja, Kusine«, sagte Richard, »wirklich seltsam! Dieses zeitverschwenderische, ziellose Schachspielen ist sehr sonderbar. Wie der ganze Gerichtshof gestern so unbekümmert im alten Geleise forttrabte und dabei an den Jammer und das Elend der Steine auf dem Brett denken zu müssen, hat mir Kopfweh und Herzeleid gemacht. Der Kopf glühte mir vor Nachgrübeln, wie so etwas nur möglich sei unter Menschen, die doch weder Narren noch Gauner sind. Das Herz tat mir weh, als ich dachte, ob sie nicht doch vielleicht eins von beiden sind. Aber jedenfalls, Ada, – darf ich Sie Ada nennen?«

»Natürlich, Vetter Richard.«

»– jedenfalls, Ada, soll das Kanzleigericht seine bösen Einflüsse nicht auf uns ausüben. Unserm guten Verwandten sei Dank, daß er uns so glücklich zusammengebracht hat; das Kanzleigericht kann uns jetzt nicht trennen.«

»Niemals, hoffe ich, Vetter Richard«, sagte Ada freundlich.

Miß Jellyby drückte meinen Arm und warf mir einen bedeutsamen Blick zu. Ich antwortete mit einem Lächeln, und wir legten den Rest des Weges recht vergnügt zurück.

Eine halbe Stunde nach unsrer Ankunft erschien Mrs. Jellyby, und innerhalb einer Stunde verirrten sich die verschiedenen, zum Frühstück notwendigen Dinge einzeln in das Speisezimmer.

Ich bezweifle durchaus nicht, daß Mrs. Jellyby wie jeder andere Mensch zu Bett gegangen und wieder aufgestanden war, aber man merkte durchaus nicht, daß sie die Kleider gewechselt hatte. Sie war während des Frühstücks außerordentlich beschäftigt, denn die Morgenpost brachte ein schweres Paket Briefe über Borriobula-Gha, das, wie sie sagte, den ganzen Tag in Anspruch nehmen werde. Die Kinder purzelten herum und kerbten neue Merkzeichen ihrer Unfälle auf ihre Schienbeine, die sowieso schon vollständige kleine Unglückskalender darstellten, und Peepy war anderthalb Stunden lang nicht zu finden, bis ihn ein Polizeidiener von Newgate-Market nach Hause brachte. Der Gleichmut, mit dem Mrs. Jellyby sowohl seine Abwesenheit wie seine Wiederkehr in den Familienkreis hinnahm, setzte uns alle in Erstaunen.

Sie diktierte dann mit nimmer ermüdender Ausdauer ihrer Tochter Caddy, und diese versank wieder ziemlich schnell in den tintenbeklecksten Zustand, in dem wir sie gestern gefunden hatten.

Um ein Uhr fuhr ein offener Wagen für uns vor und ein Karren für unser Gepäck. Mrs. Jellyby trug uns viele Grüße an ihren lieben Freund Mr. Jarndyce auf; Caddy verließ ihr Pult, um uns abreisen zu sehen, küßte mich im Hausflur und stand, an der Feder kauend, schluchzend auf der untersten Stufe der Treppe; Peepy schlief zu meiner Freude, so daß ihm der Schmerz des Abschieds erspart blieb, und die andern Kinder kletterten hinten auf die Barutsche und fielen wieder herunter, und wir sahen sie zu unserm großen Schrecken über das Pflaster von Thavies-Inn hingestreut, als wir zum Tore hinausrollten.

38. Kapitel


38. Kapitel

Ein Seelenkampf

Als die Zeit unsrer Rückkehr nach Bleakhaus gekommen war, hielten wir pünktlich den Tag ein und wurden mit einem überwältigenden Willkommen empfangen. Ich fühlte mich vollständig wiederhergestellt, und als ich meine Wirtschaftsschlüssel in meinem Zimmer bereitliegen fand, läutete ich mich ein mit lustigem Geklingel wie das neue Jahr. »Jetzt wieder Pflicht, Pflicht, Esther«, sagte ich zu mir. »Und wenn du nicht überfroh bist, sie in allen und jeden Verhältnissen heiter und zufrieden erfüllen zu können, so solltest du es doch sein. Weiter habe ich dir nichts zu sagen, meine Liebe.«

Die ersten paar Vormittage waren so mit Geschäften aller Art, dem Abschließen von Rechnungen, Hin- und Herlaufen zwischen Brummstübchen und allen andern Teilen des Hauses, mit so vielem Umpacken von Schränken und Kästen und einem so allgemeinen Wiedervonvornanfangen ausgefüllt, daß ich keine Minute freie Zeit hatte.

Erst als ich damit fertig und alles in Ordnung war, machte ich einen kurzen Besuch von einigen Stunden in London, wozu mich eine in dem in Chesney Wold vernichteten Briefe enthalten gewesene Äußerung bestimmte.

Ich schützte einen Besuch bei Caddy Jellyby – ihr Mädchenname war mir so zur Gewohnheit geworden, daß ich sie stets so nannte – vor und schrieb ihr ein Billett, mit der Bitte, sie möge mich auf einem kleinen Geschäftsweg begleiten. Ich brach sehr früh am Morgen auf und kam mit der Landkutsche so zeitig nach London, daß ich den ganzen Tag noch vor mir hatte, als ich nach Newmanstreet ging.

Caddy, die mich seit ihrem Hochzeitstag nicht mehr gesehen hatte, freute sich so und war so zärtlich zu mir, daß ich fast schon fürchtete, es würde ihren Mann eifersüchtig machen. Aber er benahm sich ebenso schlimm – ich meine, ebenso liebenswürdig… Kurz, es war die alte Geschichte, die alte Verschwörung, mir Liebes zu erweisen.

Der alte Mr. Turveydrop lag noch im Bett, wie ich hörte, und Caddy kochte seine Schokolade, die ihm dann ein melancholisch aussehender kleiner Junge, ein Lehrling – es war so sonderbar, ein Tanzlehrling zu sein –, hinauftragen sollte.

Ihr Schwiegervater sei ausnehmend gütig und nachsichtig, sagte mir Caddy, und sie lebten sehr glücklich zusammen. Wenn sie von einem Zusammenleben sprach, verstand sie darunter, daß der alte Herr allen Komfort und alle besseren Zimmer für sich hatte, während sie und ihr Gatte mit dem vorlieb nahmen, was übrig blieb, und in zwei Eckstuben über dem Marstall eingepfercht hausten.

»Was macht deine Mutter, Caddy?« fragte ich.

»Ich höre bloß von ihr durch Papa, liebe Esther, bekomme sie aber wenig zu Gesicht. Es freut mich, sagen zu können, daß wir gut miteinander auskommen, aber sie hält es immer noch für eine Albernheit, daß ich einen Tanzmeister geheiratet habe, und scheint fast zu fürchten, dieser Einfluß könne sich auch auf sie erstrecken und sie anstecken.«

Ich dachte mir, wenn Mrs. Jellyby ihren eignen natürlichen Verpflichtungen und Obliegenheiten nachgekommen wäre, anstatt am fernen Horizont mit einem Teleskop nach andern weit abliegenden zu suchen, würde sie sich am besten vor einer Ansteckung durch Albernheit geschützt haben. Aber selbstverständlich behielt ich diese Ansicht für mich.

»Und dein Papa, Caddy?«

»Er kommt jeden Abend zu uns und sitzt so friedlich dort in der Ecke, daß es eine wahre Lust ist, ihn zu sehen.«

Ein Blick in die Ecke zeigte mir deutlich die Spur von Mr. Jellybys Kopf an der Wand. Es war ein Trost, zu wissen, daß er einen solchen Ruheplatz dafür gefunden hatte.

»Und du, Caddy«, sagte ich, »bist gewiß immer beschäftigt, möchte ich wetten.«

»Allerdings bin ich das, meine Liebe, denn um dir ein großes Geheimnis zu verraten, ich bereite mich vor, selbst Unterricht zu geben. Princes Gesundheit ist nicht allzu gut, und ich möchte ihm gerne helfen. Mit dem Unterricht hier und den Privatschülern und Lehrlingen hat der arme Kerl wahrhaftig mehr als zuviel zu tun.«

Ich konnte mir noch immer nicht recht vorstellen, was eigentlich ein Tanzlehrling sei, und fragte Caddy, ob sie denn so viele hätten.

»Vier«, erklärte mir Caddy. »Einen hier und drei außer dem Hause. Es sind sehr gute Jungen, aber sie können es nicht lassen, zu spielen, ganz wie Kinder, wenn sie zusammenkommen, anstatt sich um den Beruf zu kümmern. Deshalb tanzt der kleine Junge, den du soeben gesehen hast, jetzt in der leeren Küche Walzer, und die andern verteilen wir im Hause, so gut es eben geht.«

»Natürlich nur, um die Tanzschritte zu lernen?« fragte ich.

»Nur um die Tanzschritte zu lernen. Auf diese Art üben sie sich viele Stunden hintereinander in den Pas. Sie tanzen in der Akademie, und in dieser Jahreszeit üben wir die Touren täglich von fünf Uhr früh an.«

»Was für ein mühseliges Leben!« rief ich aus.

»Ich versichere dir, meine Liebe«, entgegnete Caddy lächelnd, »wenn die außer Haus wohnenden Lehrlinge uns des Morgens aufklingeln – die Klingel führt in unser Zimmer, um den alten Mr. Turveydrop nicht zu stören – und ich das Fenster in die Höhe schiebe und sie mit ihren kleinen Tanzschuhen unter dem Arm auf der Torschwelle stehen sehe, kommen sie mir manchmal wie Rauchfangkehrerzwerge vor.«

Das alles stellte mir die Kunst in einem eigentümlichen Lichte dar. Caddy schwelgte in ihren Mitteilungen und malte mir heiter die Einzelheiten ihres eignen Studiums aus.

»Siehst du, meine Liebe, damit wir Geld sparen, muß ich ein wenig Piano spielen können und auch ein bißchen Violine. Daher muß ich mich auf diesen beiden Instrumenten üben, ohne dabei unser Spezialfach vernachlässigen zu dürfen. Wenn mich Ma nur halbwegs vernünftig erzogen hätte, wäre ich wenigstens ein klein wenig musikalisch geschult gewesen. So aber war der Anfang ein bißchen entmutigend, muß ich gestehen, aber ich habe ein recht gutes Gehör und bin an Plackerei gewöhnt – dafür wenigstens muß ich Ma dankbar sein –, und wo der Wille gut ist, gibt es auch überall in der Welt einen Weg. Das weißt du ja selbst, Esther.«

Mit diesen Worten setzte sich Caddy an einen kleinen Klimperkasten und rasselte wirklich fehlerlos und mit großer Lebendigkeit eine Quadrille herunter. Fröhlich und errötend stand sie dann wieder auf und sagte: »Bitte, liebe Esther, lach mich nicht aus.«

Ich hätte lieber weinen mögen, tat aber keins von beiden. Ich sprach ihr Mut zu und lobte sie von ganzem Herzen. Ich begriff, daß sie, wenn auch nur die Frau eines Tanzmeisters und in ihrem bescheidnen Ehrgeiz bestrebt, nur eine Tanzlehrerin zu werden, doch aus Liebe ein natürliches und gesundes Betätigungsfeld für ihren Fleiß und ihre Ausdauer gefunden hatte, das ebenso gut war wie eine Mission.

»Liebe Esther, du kannst dir gar nicht denken, wieviel Mut mir dein Beispiel immer gibt«, sagte Caddy fröhlich. »Ich verdanke dir, du weißt gar nicht, wieviel. Was hat sich alles in meiner kleinen Welt geändert. Erinnerst du dich noch jenes Abends, wo ich so unhöflich und tintenbekleckst war? Wer hätte damals an die Möglichkeit gedacht, daß ich Tanzunterricht erteilen würde.«

Ihr Gatte, der uns während dieser Plauderei allein gelassen hatte, kehrte jetzt zurück, bevor er die Stunde für die Lehrlinge im Tanzsaal anfing, und Caddy sagte mir, sie stünde jetzt ganz zu meiner Verfügung. Aber meine Zeit war noch nicht gekommen, wie ich ihr zu meiner Freude sagen konnte, denn es hätte mich geschmerzt, sie jetzt zu entführen. Deshalb gingen wir alle drei zu den Lehrlingen, und ich nahm mit an der Tanzstunde teil.

Die Lehrlinge waren ein wunderliches kleines Volk. Außer dem melancholisch aussehenden Jungen, den, wie ich hoffte, nicht das Alleintanzen in der Küche so trübe gestimmt hatte, waren noch zwei andre Knaben und ein schmutziges, schlampig angezognes kleines Mädchen in einem Gazekleid da. Die kleinen Jungen zogen, wenn sie nicht gerade tanzten, allerhand Bindfaden, Marmeln und Hühnerknochen aus der Tasche, hatten so schmutzige Beine und Füße wie nur möglich und schiefgetretne Absätze. Das frühreife kleine Mädchen trug einen großen altväterischen Gazehut und hatte ihre Tanzschuhe in einem alten abgenutzten Samtstrickbeutel mitgebracht. Ich fragte Caddy, was denn die Eltern der Kleinen veranlaßt habe, ihre Kinder zu einem solchen Gewerbe zu bestimmen. Caddy wußte es nicht und meinte, sie sollten später wahrscheinlich selbst Unterricht geben oder vielleicht im Theater auftreten. Die Eltern seien durchwegs unbemittelte Leute und die Mutter des melancholisch aussehenden Jungen verkaufe Ingwerbier.

Wir tanzten eine Stunde lang mit großem Ernst, und das melancholische Kind verrichtete Wunder mit seinen unteren Extremitäten. Die Tanzbegeisterung schien ihm aber nie über die Hüfte hinaufzusteigen.

Caddy beobachtete unablässig ihren Gatten und hatte sich eine natürliche Anmut und Unbefangenheit angeeignet, die in Verbindung mit ihrem hübschen Gesicht und ihrer schlanken Gestalt sie ungemein anziehend erscheinen ließen. Sie half ihm bereits im Unterrichten der Kinder, und er mischte sich selten ein, außer um seinen Teil bei den Touren zu tanzen, oder wenn er etwas Besonderes vormachen mußte. Er spielte immer die Melodie. Die Geziertheit des in Gaze gekleideten Mädchens und ihre Herablassung gegenüber den Jungen war ein Anblick für Götter. – So tanzten wir also eine geschlagne Stunde lang.

Als die Übungen vorüber waren, machte sich Caddys Gatte fertig, um außerhalb der Stadt in einer Schule Lektionen zu geben, und Caddy lief fort und zog sich an, um mit mir auszugehen.

Ich blieb unterdessen in dem Tanzsaal sitzen und betrachtete mir die Lehrlinge. Die beiden außer dem Hause wohnenden Knaben gingen die Treppe hinauf, um ihre Schuhe zu wechseln und den hier wohnenden Jungen an den Haaren zu beuteln, wie ich aus seinen lauten Einwendungen schloß. Als sie dann mit zugeknöpften Jacken und darunter gesteckten Tanzschuhen wieder zurückkamen, zogen sie aus ihren Taschen Brot und Fleischschnitten und biwakierten unter einer bemalten Lyra an der Wand. Das kleine gazebekleidete Mädchen paßte, nachdem sie ihre Sandalen in den Strickbeutel geschoben und ein Paar schiefgetretne Schuhe angezogen hatte, ihren Kopf mit einem einmaligen wilden Schütteln unter ihren großen Hut und gab mir auf meine Frage, ob sie gern tanze, zur Antwort: »Mit Jungen nicht!« band sich ihre Hutbänder unter dem Kinn fest und ging voll Verachtung nach Hause.

»Der alte Mr. Turveydrop bedauert unendlich«, sagte Caddy, als sie wiederkam, »noch nicht mit Ankleiden fertig zu sein und nicht das Vergnügen haben zu können, dich zu sehen, ehe wir gehen. Du bist nämlich sein Liebling, Esther.«

Ich versicherte, daß ich ihm sehr verbunden sei, hielt es aber nicht für notwendig, hinzuzusetzen, daß ich seinen Aufmerksamkeiten gern entsagte.

»Das Ankleiden kostet ihn viel Zeit«, sagte Caddy, »denn wie du weißt, ist er in solchen Dingen Autorität und hat seinen Ruf zu wahren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie freundlich er zu Papa ist. Er erzählt ihm immer abends von dem Prinzregenten, und ich habe noch nie Pa so interessiert zuhören sehen.«

Mr. Turveydrop seine Allüren vor Mr. Jellyby entfalten zu sehen, war ein Bild, das meine Phantasie mächtig reizte. Ich fragte Caddy, ob es ihm gelänge, ihren Vater gesprächig zu stimmen.

»Nein«, sagte Caddy. »Das könnte ich gerade nicht behaupten, aber er spricht mit Pa, und Pa bewundert ihn, hört zu und freut sich. Ich weiß natürlich, daß Papa keine Ansprüche auf vornehme Allüren machen kann, aber sie kommen vortrefflich miteinander aus. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut sie einander Gesellschaft leisten. Ich habe Papa vorher nie schnupfen sehen, aber jetzt nimmt er regelmäßig aus Mr. Turveydrops Dose eine Prise an und riecht den ganzen Abend daran, ohne sie ein einziges Mal zu schnupfen.«

Daß der alte Mr. Turveydrop in den Wechselfällen und Wandlungen des Lebens jemals dazu bestimmt gewesen war, Mr. Jellyby von Borriobula-Gha zu erlösen, erschien mir als eine der komischsten Schicksalsmerkwürdigkeiten.

»Was Peepy betrifft«, fuhr Caddy ein wenig zögernd fort, »von dem ich am meisten fürchtete – vielleicht von eignen Kindern abgesehen, Esther –, daß er Mr. Turveydrop lästig fallen würde, so übersteigt die Freundlichkeit des alten Herrn gegen den Jungen alle Grenzen. Er fragt nach ihm, meine Liebe! Er läßt sich von ihm die Zeitung ins Bett bringen, gibt ihm die Rinde von seinem Zwieback zu essen und schickt ihn mit kleinen Botschaften im Hause herum! Und ich muß ihm Sixpences schenken. Kurz«, sagte Caddy, »ich bin unendlich glücklich und muß wahrhaft sehr dankbar sein. Wohin gehen wir eigentlich, Esther?«

»Nach Oldstreet-Road. Ich habe dort ein paar Worte mit dem Advokatenschreiber zu sprechen, der mich an dem Tag, als ich in London ankam und dich das erste Mal sah, meine Liebe, an der Landkutsche abholte. Übrigens jetzt fällt mir ein, er brachte uns ja nach deiner Wohnung.«

»So? Dann bin ich ja sozusagen deine vom Schicksal bestimmte Begleiterin«, entgegnete Caddy.

Wir gingen nach Oldstreet-Road und fragten nach Mr. Guppy in seiner Wohnung. Mrs. Guppy, die im Erdgeschoß wohnte und eben Gefahr lief, wie eine Nuß zwischen der Tür des vorderen Wohnzimmers aufgeknackt zu werden, da sie verstohlen herauslugte, erschien, noch ehe wir nach ihr fragen konnten, und lud uns zum Eintreten ein.

Sie war eine alte Dame mit einer großen Mütze, einer etwas roten Nase und einem unsicheren Auge, aber über und über Lächeln. Ihr kleines Wohnstübchen war für einen Besuch hergerichtet, denn ich hatte ihr von Bleakhaus aus geschrieben, und es hing darin ein Porträt ihres Sohnes, das noch viel ähnlicher war als das Original selbst.

Aber nicht nur das Porträt war da, sondern auch das Original.

Es war in vielerlei Farben gekleidet, saß an einem Tisch und las Akten, wobei es von Zeit zu Zeit nachdenklich den Zeigefinger an die Stirn legte.

»Miß Summerson«, begrüßte es mich und stand auf, »das ist in der Tat eine Oase. Mutter, möchtest du so gut sein, der andern Dame einen Stuhl zu geben und uns dann nicht weiter zu stören.«

Mrs. Guppy, deren beständiges Lächeln ihr einen fast schalkhaften Ausdruck verlieh, tat, wie ihr Sohn sie geheißen, und setzte sich dann in eine Ecke und drückte ihr Taschentuch wie einen warmen Umschlag mit beiden Händen an ihre Brust.

Ich stellte Caddy vor, und Mr. Guppy sagte, eine Freundin von mir sei stets mehr als willkommen. Dann fing ich von dem Zweck meines Besuchs an.

»Ich nahm mir die Freiheit, Ihnen einen Brief zu schreiben.«

Mr. Guppy bekannte sich damit zu seinem Empfang, daß er ihn aus seiner Brusttasche zog, an die Lippen drückte und mit einer Verbeugung wieder in die Tasche steckte. Das ergötzte Mr. Guppys Mutter derart, daß sie lächelnd mit dem Kopf wackelte und Caddy mit dem Ellbogen einen bedeutsamen Stoß gab.

»Könnte ich mit Ihnen einen Augenblick allein sprechen?« fragte ich.

Etwas, das der Lustigkeit von Mr. Guppys Mutter in diesem Augenblick gleichgekommen wäre, habe ich nie wieder gesehen. Sie lachte geräuschlos, wackelte mit dem Kopf, schüttelte ihn, hielt sich das Taschentuch vor den Mund und stieß auf Caddy mit dem Ellbogen, der Hand und der Schulter ein und war überhaupt so unbeschreiblich aufgeregt, daß Caddy sie kaum durch die kleine Flügeltür in das anstoßende Schlafzimmer bugsieren konnte.

»Miß Summerson«, sagte Mr. Guppy, »Sie müssen die Lebhaftigkeit einer immer an das Glück ihres Sohnes denkenden Mutter entschuldigen. Wenn auch meine Mutter einen nervös macht, so handelt sie doch immer aus mütterlichen Gefühlen heraus.«

Ich hätte kaum geglaubt, daß jemand in einem Augenblick so rot werden oder sich so verändern könnte wie Mr. Guppy, als ich jetzt plötzlich den Schleier emporschlug.

»Ich bat Sie um die Gefälligkeit, mit Ihnen ein paar Augenblicke lieber hier als bei Mr. Kenge sprechen zu dürfen«, begann ich, »um Sie nicht am Ende in Ungelegenheiten zu bringen, Mr. Guppy.«

– Ich hatte ihn schon so verlegen genug gemacht, aber sein Stammeln, seine Verwirrung und seine Angst waren jetzt unbeschreiblich. –

»Miß Summerson«, stotterte er, »ich – ich – ich – bitte um Verzeihung, aber in unsrer Branche – finden – wir es notwendig, uns – uns stets deutlich auszusprechen. Sie spielen auf eine Gelegenheit an, Miß, wo ich – wo ich mir die Ehre nahm, einen Antrag zu machen, der…«

Es schien ihn etwas im Halse zu würgen, was er nicht hinunterschlingen konnte. Er legte die Hand auf die Kehle, hustete, schnitt Gesichter, versuchte abermals, es hinunterzuschlingen, hustete wieder, schnitt wieder Gesichter, sah sich rings im Zimmer um und kramte verlegen in seinen Papieren.

»Ich habe eine Art Schwindelanfall, Miß, der mich ein wenig aus der Fassung bringt«, erklärte er mir. »Ich-äh-bin solchen Anfällen zuweilen unterworfen – äh – bei Gott.«

Ich ließ ihm einige Zeit zur Erholung. Er legte dabei die Hand an die Stirn, nahm sie wieder weg und rutschte mit seinem Stuhl in die hinter ihm befindliche Ecke.

»Ich wollte nur bemerken, Miß«, sagte er, »mein Gott – irgend etwas mit den Bronchien, glaube ich – hem –, wollte nur bemerken, daß Sie damals so gütig waren, meinen Antrag nicht anzunehmen, besser gesagt, zurückzuweisen. Sie – Sie werden das gewiß zugeben ? Wenn auch keine Zeugen anwesend sind, könnte es vielleicht eine Beruhigung sein – für – Ihr Gewissen –, wenn Sie – das zugeben wollten.«

»Daran kann doch gar kein Zweifel sein, daß ich Ihren Antrag ohne allen Vorbehalt und ohne alle Nebenbedingungen dankend ablehnte, Mr. Guppy.«

»Ich danke Ihnen, Miß«, entgegnete er und maß geistesabwesend den Tisch mit seinen unruhigen I landen ab. »Soweit wäre das zufriedenstellend und macht Ihnen Ehre. Ah – sicher die Bronchien –, muß in der Luftröhre sein – äh –, Sie würden es vielleicht nicht übel aufnehmen, wenn ich erwähne – nicht, daß es notwendig wäre, denn Ihr eigner oder jedermanns gesunder Menschenverstand muß Ihnen das sagen –, wenn ich bemerke, daß dieser Antrag von meiner Seite mein letzter war und die Sache ganz und gar abgemacht ist?«

»Das sehe ich vollkommen ein«, sagte ich.

»Vielleicht – äh – ist es solche Umständlichkeit nicht wert, aber es könnte doch eine Beruhigung für Sie selbst sein… Vielleicht würden Sie nichts dagegen haben, das zuzugeben, Miß?«

»Ich gebe das vollkommen und freiwillig zu.«

»Ich danke Ihnen. Höchst ehrenwert, muß ich sagen, Miß Summerson. Ich bedauere, daß meine Lebenspläne – und Verhältnisse, über die ich keine Macht habe – mich außerstand setzen, jemals auf diesen Antrag zurückzukommen oder ihn in irgendeiner Form zu erneuern, aber er wird stets eine Erinnerung sein, die – äh – die Palme der Freundschaft in der Hand trägt.«

Die Bronchitis kam hier Mr. Guppy zu Hilfe und unterbrach ihn im Abmessen des Tisches.

»Ich darf jetzt vielleicht auf das kommen, was ich Ihnen zu sagen wünschte«, fing ich an.

»Es wird mir eine große Ehre sein«, sagte Mr. Guppy. »Ich bin so fest überzeugt, daß Ihr richtiges Gefühl und Ihre gesunde Lebensauffassung, Miß, alles in dem rechten Lichte sehen werden, daß ich jedenfalls nur mit Vergnügen allem, was Sie mir zu sagen haben, zuhören kann.«

»Sie waren so gütig, damals anzudeuten…«

»Entschuldigen Sie, Miß«, unterbrach mich Mr. Guppy, »aber es ist besser, unsern vorgesteckten Weg nicht aus dem Auge zu verlieren und uns nicht auf Andeutungen einzulassen. Ich kann nicht zugestehen, daß ich etwas angedeutet hätte.«

»Sie sagten bei jener Gelegenheit«, fing ich wieder von neuem an, »daß Sie möglicherweise die Mittel haben könnten, durch gewisse mich betreffende Entdeckungen meine Interessen zu fördern. Ich vermute, daß Sie diese Annahme darauf gründeten, daß Sie wußten, ich sei eine Waise, die der Wohltätigkeit Mr. Jarndyces alles verdankt. Das Um und Auf alles dessen, was ich Ihnen hier sagen möchte, ist nun, daß ich Sie bitte, Mr. Guppy, die Güte zu haben, jeden Gedanken, mir auf diese Weise gefällig sein zu wollen, aufzugeben. Ich habe oft darüber nachgedacht, und am meisten während meiner Krankheit. Ich habe mich schließlich entschlossen, im Falle Sie zu irgendeiner Zeit wieder diesen Plan aufgreifen und an seiner Ausführung arbeiten sollten, zu Ihnen zu kommen und Ihnen zu versichern, daß Sie sich in jeder Hinsicht im Irrtum befinden. Sie könnten keine Entdeckungen in bezug auf mich machen, die mir den kleinsten Dienst leisten oder das geringste Vergnügen bereiten würden. Ich kenne meine eigne Lebensgeschichte und bin imstande, Ihnen zu versichern, daß Sie mein Wohlergehn durch solche Mittel auf keine Weise fördern können. Sie haben nun vielleicht den Plan längst aufgegeben. Wenn das der Fall ist, bitte ich, zu entschuldigen, daß ich Sie aufgehalten habe. Wenn es nicht der Fall ist, so ersuche ich Sie, aufgrund der Versicherung, die ich Ihnen soeben gegeben habe, solche Pläne von nun an gänzlich fallen zu lassen. Ich bitte Sie, dies um meines Friedens willen zu tun.«

»Ich fühle mich verpflichtet zu gestehen, Miß«, sagte Mr. Guppy, »daß Sie sich mit dem richtigen Gefühl, das ich Ihnen zutraute, ausdrücken. Nichts kann befriedigender sein als ein solch richtiges Gefühl, und wenn ich soeben hinsichtlich Ihrer Absichten im Irrtum war, so bin ich bereit, Sie aufs tiefste um Verzeihung zu bitten. Ich möchte damit sagen, Miß, daß ich hiermit in aller Form um Verzeihung bitte.«

Mr. Guppys anfangs so gedrücktes Wesen wurde jetzt wesentlich freier. Er schien aufrichtig erfreut zu sein, mir einen Gefallen tun zu können, und man sah ihm an, daß er sich wirklich schämte.

»Wenn Sie mir gestatten möchten, das, was ich Ihnen zu sagen habe, ohne Unterbrechung zu beenden, damit ich nicht Veranlassung habe, noch einmal darauf zurückkommen zu müssen«, fuhr ich fort, da ich sah, daß er eine längere Rede halten wollte, »würden Sie mir damit eine Freundlichkeit erweisen, Sir. Ich komme so privatim wie möglich zu Ihnen, weil Sie mir Ihre damalige Mitteilung als vertraulich bezeichneten und ich wirklich stets gewünscht habe, Ihr Vertrauen zu respektieren, und es auch nie verletzt habe, wie Sie wissen. Ich habe meine Krankheit erwähnt. Es ist wirklich kein Grund vorhanden, warum ich anstehen sollte, zu sagen, daß jede kleine Delikatesse, die mich hätte abhalten können, Sie um etwas zu ersuchen, jetzt, wie ich recht gut weiß, ganz wegfällt. Deshalb sagte ich Ihnen offen, um was ich Sie bitte, und hoffe, Sie werden rücksichtsvoll genug gegen mich sein, mir meinen Wunsch nicht abzuschlagen.«

Ich muß Mr. Guppy Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er sah sehr beschämt aus, als er jetzt mit feuerrotem Gesicht zur Antwort gab:

»Bei meinem Wort und meiner Ehre, bei meinem Leben, bei meiner Seele, Miß Summerson, so wahr ich lebendig vor Ihnen stehe, ich will Ihrem Wunsch nachkommen. Ich will nie wieder einen Schritt in der erwähnten Angelegenheit tun und mich eidlich dazu verpflichten, wenn Sie das beruhigen sollte. Bezugnehmend auf mein gegenwärtiges Versprechen«, fuhr er zungenfertig fort, als wiederhole er eine ihm vertraut gewordne juristische Formel, »bekräftige ich, daß ich die Wahrheit spreche, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so…«

»Ich bin vollständig zufrieden«, sagte ich und stand auf. »Ich danke Ihnen recht sehr. – Liebe Caddy, ich bin bereit.«

Mr. Guppys Mutter kam mit Caddy wieder herein – sie richtete ihr geräuschloses Lachen und ihre Ellbogenstöße jetzt an mich –, und wir verabschiedeten uns. Mr. Guppy sah uns mit der Miene eines Mannes, der entweder nicht ganz wach ist oder schlafwandelt, nach, und wir ließen ihn an der Tür stehen.

Eine Minute später kam er uns jedoch ohne Hut und mit fliegenden Haaren nachgelaufen, hielt uns an und sagte mit Wärme:

»Miß Summerson, auf Ehre und Seligkeit, Sie können sich auf mich verlassen.«

»Das tue ich auch mit der größten Zuversicht.«

»Ich bitte um Verzeihung, Miß«, fuhr er fort und ging langsam und zögernd neben uns her. »Aber da diese Dame dabei ist, ihre eigne Zeugin, und ich Sie wirklich ganz beruhigt zu sehen wünsche, so wäre es vielleicht gut, wenn Sie Ihr Zugeständnis von vorhin wiederholen wollten.«

»Caddy«, sagte ich und wendete mich an meine Freundin. »Du wirst dich wahrscheinlich nicht besonders wundern, wenn ich dir sage, daß niemals eine Verlobung -«

»– kein Eheversprechen irgendeiner Art«, verbesserte Mr. Guppy.

»–- kein Eheversprechen irgendeiner Art zwischen diesem Herrn…«

»William Guppy von Penton-Place, Pentonville in der Grafschaft Middlessex«, murmelte er.

»– zwischen diesem Herrn, Mr. William Guppy von Penton-Place, Pentonville in der Grafschaft Middlessex, und mir vereinbart wurde.«

»Ich danke Ihnen, Miß. Das genügt. – Äh –, entschuldigen Sie… Den Namen der Dame, Vor- und Zuname?«

Ich nannte sie ihm.

»Verheiratet?«

»Verheiratet.«

»Ich danke Ihnen.«

»Geborne Miß Karoline Jellyby von Thavies-Inn, London City, zu keinem Kirchspiel gehörig, jetzt wohnhaft in Newmanstreet, Oxfordstreet. Sehr verbunden.«

Er lief nach Hause und kam wieder zurück.

»Was die Angelegenheit betrifft, möchte ich noch sagen, so tut es mir wirklich und – wahrhaftig sehr leid, daß Lebenspläne sowie Verhältnisse, die sich meinem Machtbereich entziehen, eine Erneuerung meines Antrages, der schon damals zurückgewiesen wurde, ausschließen«, sagte Mr. Guppy traurig und niedergeschlagen zu mir. »Aber es ist nicht möglich. Ich frage Sie selbst, wäre es möglich?«

Ich gab zur Antwort, daß es gewiß nicht möglich wäre. Die Sache sei über jeden Zweifel erhaben. Er dankte mir, eilte wieder zu seiner Mutter und kehrte noch einmal um.

»Es ist wirklich sehr ehrenhaft von Ihnen, Miß. Wäre es möglich, einen Altar unter den Palmen der Freundschaft zu errichten, so… Aber, meiner Seel, Sie können sich auf mich in jeder Hinsicht verlassen – Herzensbeziehungen ausgenommen.«

Die Kämpfe in Mr. Guppys Brust und die zahlreichen Schwankungen, die sie zwischen seiner Mutter Haustür und uns in ihm hervorriefen, traten in der windigen Straße, zumal sein Haar dringend des Schermessers bedurfte, so auffällig zutage, daß wir uns nach Möglichkeit beeilten, fortzukommen. Ich tat es mit erleichtertem Herzen, und als wir uns in der Ferne noch einmal umsahen, schien Mr. Guppy immer noch nicht ganz beruhigt zu sein.