Kapitel 2


Kapitel 2

 

Joseph beteiligte sich als Freiwilliger an den Erntearbeiten, und eines Nachmittags sah ihn Rosenzweig, der gleichgültig, als ob die Sache ihn nichts anginge, vorbeischritt, hoch oben stehen auf einem beinahe völlig beladenen Leiterwagen. Behend und kräftig schichtete er die Garben, und dem Doktor fiel es auf, daß der Bursche in der drollig weiten Jacke, die seinem Wohltäter als Rock gedient hatte, und in den viel zu kurzen Hosen doch ein bildschönes Menschenkind sei. Groß, schlank und stark, weiß und rot im Gesicht, den wohlgeformten Kopf umwallt von leicht gelocktem blondem Haar, sein ganzes Wesen Freudigkeit atmend an der Arbeit, an der Mühe, nahm er sich auf seiner stolzen Höhe ganz merkwürdig gut aus.

Unter den auf dem Felde beschäftigten Weibern und Mädchen befand sich auch die Tochter des Pächters, dem Rosenzweig die Gründe des Pan Theophil von Kamatzki anvertraut hatte. Ein hübsches, lebhaftes Ding, die echte Mazurentochter. Rosenzweig bemerkte, daß die braunen, funkelnden Augen des Mädchens und die blauen des Burschen einander gar oft begegneten, und wenn sich dann die braunen halb verlegen senkten, wurden sie von den blauen hartnäckig verfolgt, so hartnäckig, so kühn, daß sie sich endlich wieder erheben mußten, mit oder ohne ihren Willen.

Die Geringschätzung, die Rosenzweig für Joseph hegte, erhielt durch diesen kleinen Vorgang neue Nahrung. Ein Mensch, zu ewiger Dienstbarkeit verurteilt durch die elende Beschaffenheit seines Kopfes, befaßt sich damit, den eines Mädchens zu verdrehen? Und in welchem Alter? In dem eines Knaben, in demjenigen, in welchem der Sohn des Doktors stände, wenn der Doktor zur rechten Zeit geheiratet hätte. Was er in heroischer Selbstverleugnung so lange zu erringen säumte, bis er die Hoffnung, es zu erringen, versäumte, das Glück der Liebe, danach haschte in gedankenlosem Leichtsinn ein von fremden Gnaden lebender, unreifer Habenichts!

Am Abend berief ihn Rosenzweig auf sein Zimmer. Das war ein so kahles und ungemütliches Gelaß, daß jeden, der es betrat, fröstelte – sogar in den Hundstagen. Die Einrichtung bestand aus einigen an die Wände gereihten Sesseln, aus einem riesigen, mit weißer Ölfarbe angestrichenen Schreibtisch und aus einer gleichfalls weiß angestrichenen, langen und niederen Bücherstelle, die, einer Gewölbbudel ähnlich, das Gemach in zwei Hälften teilte. In der kleineren, zunächst den Fenstern, hielt sich der Doktor auf, in der größeren, nächst der Türe, hatten die Patienten, die ihn besuchten, zu warten, bis er zu ihnen trat durch einen schmalen Raum, der zwischen der Wand und dem Büchergestell frei geblieben war. Auf dem obersten Brett desselben lagen oder standen allerlei Dinge, mit deren gruselnder Betrachtung die Leute sich die Zeit des Wartens vertrieben. Sonderbare Instrumente, Messer und Zangen und fest verschlossene Gläser, gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, in welcher der galizische Instinkt sofort Weingeist witterte. Nur war leider das gute Getränk verdorben durch höchst unappetitliche Gebilde, die darin schwammen.

Über all diesen Sachen hinweg rief Rosenzweig jetzt dem eintretenden Joseph zu: »Sag einmal, was hast du mit der kleinen Lubienka des Pächters?«

Wie gewöhnlich, wenn sein Wohltäter ihn scharf anredete, wurde der Bursche feuerrot, fand auch nicht gleich eine Antwort. Erst nachdem Rosenzweig seine Frage wiederholte, nahm Joseph sich zusammen und entgegnete halblaut, aber bestimmt: »Ich hab sie lieb.«

»Und – sie?«

»Sie hat mich auch lieb.«

Der Doktor lachte bitter und höhnisch: »Das bildest du dir ein?«

»Das weiß ich, gnädiger Herr –«

»Wohin soll dieses Liebhaben führen?«

Nun meinte Joseph, der Doktor habe ihn zum besten, wolle ihn nur ein wenig aufziehen, und erwiderte ganz munter: »Zu einer Heirat, Herr.«

»Einer Heirat! Du denkst ans Heiraten?«

»Ja, Herr! und Lubienka denkt auch daran.«

»Sie auch! … Was sagt denn ihr Vater dazu?«

»Dem ist es recht, Panje Kochanku!« rief Joseph mit einem Ausbruch überwallender Empfindung und machte Miene, auf dem jedem andern als dem Doktor verbotenen Weg in den Bereich seines Wohltäters zu stürzen…

Der aber erhob sich gebieterisch von seinem Stuhle und bannte den Jüngling mit einem strengen: »Bleib, wo du bist!« an seinen Platz.

In grausamen Worten hielt er dem Burschen seine Armut und seine Aussichtslosigkeit vor. Ihn empörte der Gedanke, daß dieser Mensch vielleicht auf ihn gerechnet habe, respektive auf seinen Geldbeutel, und er faßte den Entschluß, dem interessierten Schlingel nach beendeter Erntearbeit die Tür zu weisen. Vorläufig wies er ihn aus dem Zimmer und legte sich mit dem Vorsatz zu Bette, den Pächter am folgenden Tage ernstlich zu ermahnen, der Löffelei zwischen seiner Tochter und Joseph ein Ende zu machen.

Gerade an diesem Tage jedoch ereignete sich etwas, das ihn von jedem unwesentlichen und nebensächlichen Gegenstand ein für allemal abzog.

Er wurde am frühen Morgen zu dem plötzlich erkrankten Sohn einer benachbarten Gutsfrau berufen, konnte die besorgte Mutter über den Zustand des Patienten beruhigen und wäre am liebsten sogleich wieder nach Hause gefahren. Das gestattete jedoch die landesübliche Gastfreundschaft nicht. Gern oder ungern hieß es an einem reichlichen Frühstück teilnehmen, das im Salon aufgetragen war, in welchem sich eine große Anzahl Schloßgäste versammelt hatte, eine Gesellschaft, dem Doktor wohlbekannt und so widerwärtig, als ob sie aus lauter Kurpfuschern bestanden hätte. Anhänger und Anhängerinnen »König« Adam Czartoryskis, Konspiranten gegen die bestehende gute Ordnung, Schwärmer für die Wiedereinführung der alten polnischen Wirtschaft. Die Frau des Hauses, noch jung, schön, enthusiastisch, seit dem Tode ihres Mannes unumschränkte Herrin der großen Güter, die sie ihm zugebracht hatte, war die Seele der ganzen Partei und ihre mächtige Stütze. Sie unterhielt eine lebhafte Korrespondenz mit der Nationalregierung in Paris, empfing und beherbergte deren Emissäre und verwendete jährlich große Summen für Revolutionszwecke.

Dieses fanatische Treiben mißfiel dem Doktor und entstellte ihm das Bild der in jeder anderen Hinsicht, als gute Mutter, als kluge Verwalterin ihres Vermögens und als humane Herrin ihrer Untertanen, verehrungswürdigen Frau.

Mit verdrießlicher Miene nahm er am Teetisch Platz, aß und trank und sprach kein Wort, indessen Herren und Damen eifrig politisierten. Ihm war, als sei er von Kindern umgeben, die, statt Soldaten zu spielen, zur Abwechselung einmal Verschwörer spielten.

Da legte eine weiße Hand sich plötzlich auf die Lehne seines Sessels.

»Warum so verstimmt angesichts des schönsten Wunders, mein lieber Doktor?« sprach Gräfin Aniela W. zu ihrem Lebensretter.

Rosenzweig erhob und verneigte sich: »Welches Wunder meinen Euer Hochgeboren?«

»Das der Wiedererweckung des polnischen Reiches!« versetzte die reizende Frau, und aus ihren Taubenaugen schoß ein Adlerblick, und ihre zierliche Gestalt richtete sich heroisch auf.

Der Doktor verbiß ein Lächeln, und sogleich riefen mehrere Patriotinnen in schmerzlicher Enttäuschung: »Sie zweifeln? O Doktor – ist das möglich? Ein so gescheiter Mann!«

»Ich zweifle nicht, meine Damen! Wer sagt, daß ich zweifle?«

»Ihr Lächeln sagt es, das ganz unmotiviert ist, da wir Ernst machen«, sprach die Gräfin und kreuzte die Arme wie Napoleon.

»Der Augenblick, das fremde Joch abzuschütteln, ist gekommen… Sie dürfen es erfahren, weil Sie ein guter Pole und unser Vertrauter sind! Das Zeichen zum Ausbruch der Revolution wird in Lemberg auf dem ersten Balle des Erzherzogs gegeben werden!«

Allgemeines Schweigen folgte dieser freimütigen Erklärung. Die Verschworenen waren betroffen über die Eigenmächtigkeit, mit welcher Aniela über das gemeinsame Eigentum – den Plan der Partei – verfügte.

Doch war sie viel zu liebenswürdig und sah auch viel zu reizend aus, als daß man ihr hätte zürnen können. Sie trug ein Pariser Häubchen mit einer Kaskade aus gesinnungstüchtigen rot und weißen Bändern. Den köstlichen Stoff des Morgenkleides hatte ihr Gemahl von seiner letzten Missionsreise nach Rußland aus Nischnij-Nowgorod mitgebracht – unter welchen Gefahren!

Ach, es war eine ganze Geschichte… Heute wurde sie aber nicht erzählt, am wenigsten in diesem Augenblick, in dem es vor allem galt, den üblen Eindruck zu verwischen, den die Politikerin auf ihre Umgebung hervorgebracht hatte.

»Ihr Kleingläubigen!« rief sie, »zweifelt ihr an der Treue und Zuverlässigkeit eines Mannes, der dem Vaterlande mein Leben erhalten hat?«

Einige junge Herren beeilten sich zu protestieren, und ein alter Schlachtschitz mit langem herabhängendem Schnurrbart erhob sein Madeiragläschen, leerte es auf einen Zug und sprach: »Vivat Doktor Rosenzweig!«

Die Frau vom Hause wiederholte: »Vivat Doktor Rosenzweig, dem so viele von uns ihre eigene Gesundheit und die ihrer Kinder verdanken!«

Sie stürzte nach diesem Toaste den Rest ihrer sechsten Tasse Tee hinunter, und statt sich erkenntlich zu zeigen, brummte der Arzt: »Wie oft habe ich Euer Hochgeboren ersucht, nicht soviel Tee zu trinken. Sie ruinieren sich die Nerven.«

Die schöne Festgeberin lächelte überlegen: »Guter Gott, meine Nerven! An diese werden bald ganz andere Zumutungen gestellt werden!«

»Ich verstehe – auf jenem Revolutionsballe!«

»Ja, Doktor! Ja!« rief Gräfin Aniela dazwischen, »dem Balle, auf dem wir ein welthistorisches Ereignis inaugurieren!«

»Bei der Mazurka oder bei der Française?«

»Beim Kotillon. Die Damen wählen zugleich alle anwesenden Offiziere. Die Offiziere legen zum Tanze ihre Säbel ab. Die Säbel werden fortgeschafft. Kaum ist das geschehen, so werfen sich die Polen auf die waffenlosen Feinde und machen sie nieder!«

»Vivat!« rief der Schlachtschitz, »Pardon wird nicht gegeben!«

Einige Damen widersprachen und schlugen vor, denjenigen Offizieren Pardon zu gewähren, die ihn verlangen würden. Sie zogen jedoch ihren Antrag zurück, als sie bemerkten, daß er Zweifel an der Echtheit ihres Patriotismus erregte.

»Meine Herrschaften«, sagte Rosenzweig, »dieser Plan ist wundersam ausgedacht, aber ausführen werden Sie ihn nicht.«

»Warum?« rief’s von allen Seiten, »was soll uns hindern?«

»Ihre eigene Hochherzigkeit, Ihr eigener loyaler Charakter. Edle Damen und edle Herren wie Sie können hassen, können befehden, aber sie verraten nicht, und sie morden nicht.«

»Monsieur!« entgegnete ein neunzehnjähriges Bürschlein, das eben aus einer Pariser Erziehungsanstalt heimgekehrt war, »Ihr Argument würde im Kriege gelten, aber es gilt nicht in einer Konspiration.«

»Ganz richtig – weil ja…« Dem alten Schlachtschitz war plötzlich eingefallen, daß er jetzt eine Rede halten sollte; er sprang auf, schlug die Fersen aneinander und rief nach langer Überlegung: »Vivat Polonia! Vivat König Adam!«

Nun erhob sich in der Ecke des Zimmers eine zitternde, klanglose Stimme. Wie aus der Tiefe eines Berges kam sie hervor, einem Berge von Seiden- und Schalstoffen, von Spitzen, Rüschen und Bändern. Die Stimme gehörte der Starostin Sulpicia, Großtante der Hausfrau, bei welcher die hochbejahrte Dame ein sehr reich mit Butter bestrichenes Gnadenbrot genoß.

»Olga, Duschenka moja«, sprach sie, »denke vor allem an dein ewiges Heil!«

Mit Schrecken hatte die Schloßdame das leise Sinken des Enthusiasmus ihrer Gäste wahrgenommen, indessen sie selbst nach der siebenten Tasse Tee auf dem Gipfel der Begeisterung angelangt war. Die Greisin goß mit ihrer Ermahnung Öl ins Feuer. Es schlug auch sogleich lichterloh empor in dem lauten, feierlichen Ausrufe: »Alles für Polen! Mein zeitliches und mein ewiges Heil!«

Gräfin Aniela warf sich, ganz entzückt von dieser Größe, ihrer Freundin in die Arme, die Herren küßten die Hände der Patriotinnen. Einer von ihnen erbat sich die Ehre, aus dem Schuh der Hausfrau trinken zu dürfen. Sie gestattete es aber nicht, aus Rücksicht für den erhabenen Ernst dieser Stunde, und der Abgewiesene setzte sich ans Klavier und intonierte ein melancholisches Nationallied.

Alle schwiegen, alle horchten gerührt, in manches Auge traten Tränen.

Die unwiderstehliche Macht dieses Gesanges ergriff sogar einen, der bisher unbeweglich in einer Fensterecke gestanden und am Gespräch nicht teilgenommen hatte.

Rosenzweig kannte ihn nicht und war in angestammtem Mißtrauen geneigt gewesen, ihn, seiner auffallenden Blässe wegen, für einen der verschämten Patienten zu halten, die sich berühmten Ärzten so gern auf neutralem Gebiet in den Weg stellen, um im Vorübergehen eine Konsultation abzuhalten, für welche sie später das Honorar schuldig bleiben.

Indessen hatte Rosenzweig sich geirrt. Der Fremde machte keinen Versuch, in seine Nähe zu gelangen, während er selbst nicht mehr vermochte, seine Aufmerksamkeit von ihm abzulenken.

Er war ein mittelgroßer, schlanker Mann mit blondem, dünnem Bart, mit blauen, offenbar sehr kurzsichtigen Augen. Der Eindruck eines ungemein regen Geisteslebens, den seine Züge hervorbrachten, wurde durch die Blässe erhöht, die den Doktor anfangs verleitet hatte, ihn für einen Kranken zu halten. Doch auch von dieser Meinung war er bald abgekommen. Krankheit vergeistigt nicht, wie die Poeten oft behaupteten, sie zeichnet vielmehr die Kinder des Staubes mit deutlichen Merkmalen ihrer Abkunft.

In dem Wesen dieses Mannes aber gab sich kein Zeichen von körperlicher Mühsal kund. Die Leidensspuren auf seiner marmorgleichen Stirn waren durch rastlos arbeitende Gedanken ausgeprägt worden und der Schmerzenszug um den jungen Mund durch frühe, schwere Seelenkämpfe. Die Geringschätzung, mit welcher das Treiben der Gesellschaft ihn zu erfüllen schien, wurde allmählich besiegt. Die Klänge des schönen Volksliedes ergriffen und bewegten auch ihn. Eine Empfindung verband ihn mit seinen Brüdern: Sehnsucht, leidenschaftlich heiße Sehnsucht nach dem verlorenen Vaterland.

An diesem Leidenshorn hat kein Volk sich so übersatt getrunken wie dasjenige, aus dessen Herzen solch ein Lied geströmt. Es singt von dem verirrten Sohne, der heimkehrt zum Elternhaus, voll Reue und glühender Liebe. Zagend steht er an der verschlossenen Tür und hört die Stimme seines Vaters, die nach ihm ruft, und hört das Weinen seiner Mutter… Vater! Mutter! stöhnt er. Sie antworten: Komm! Erlöse uns, wir liegen in Banden… Er rüttelt an der eisernen Pforte, zerpocht sich die Hände, zerschlägt sich die Stirn, schon fließt sein Blut. Vergeblich. Nie wird diese Pforte weichen, nie vermag er sie aus den Angeln zu heben. – Er wird auf der Schwelle verschmachten.

Der Gesang war verstummt, und die Stille, die ihm folgte, wurde erst nach einer Weile durch die Wirtin unterbrochen, die sich erhob, auf den Fremden zuschritt und leise mit ihm zu parlamentieren begann.

Die stattliche Dame machte sich förmlich klein vor ihrem Gaste, jede ihrer Mienen bezeugte Ehrfurcht, jede ihrer Gebärden war Huldigung.

Sie faltete die Hände und flehte: »Sprechen Sie, o sprechen Sie zu der Versammlung!«

Die Aufforderung der Hausfrau fand lebhafte Unterstützung.

»Ach ja, sprechen Sie!« riefen viele Stimmen durcheinander. – »Es würde uns beseligen.« – »Wir wagten nur noch nicht, Sie darum zu bitten.« – »Aus Bescheidenheit.«

Alle kamen heran, sehr freundlich, mit auserlesener Höflichkeit – keiner ohne eine gewisse Scheu. Sogar die siegessichere Gräfin Aniela war befangen, und ihre anmutigen Lippen zitterten ein wenig, als sie sprach: »Gehen Sie uns eine Probe Ihrer wunderbaren Beredsamkeit, von der wir schon soviel gehört haben. Man sagt, daß Sie steinerne Herzen zu rühren und moralisch Tote zu den größten Taten zu wecken vermögen!«

Der Fremde lachte, und dieses Lachen war hell und frisch wie das eines Kindes. Unwillkürlich mußte Rosenzweig denken: Du hast eine unschuldige Seele.

»Wie heißt der Mann?« fragte er die Hausfrau.

Sie errötete und gab mit nicht sehr glücklich gespielter Unbefangenheit zur Antwort: »Es ist mein Kusin Roswadowski aus dem Königreich.«

Niemals hatte der Doktor von einem berühmten Redner Roswadowski auch nur das geringste gehört; aber was lag daran? In Zeiten nationaler Erhebung pflegen ja von heut auf morgen nationale Größen aus dem Boden zu wachsen.

Roswadowski erwiderte den Blick, den der Arzt auf ihm ruhen ließ, mit einem ebenso forschend gespannten, und sich leicht gegen ihn verneigend, sagte er: »Bitten Sie doch Herrn Doktor Rosenzweig zu sprechen. Er möge Ihnen sagen, was er von der Revolution erwartet.«

»Das wissen wir im voraus«, entgegnete Aniela, »wie jeder gute Pole die Wiederherstellung des Reiches, das allgemeine Wohl!«

»Olga, Duschenka moja«, ließ wieder die Großtante sich vernehmen, »sage deiner Freundin, daß keiner ein guter Pole ist, der nicht ein guter Katholik ist.«

Ohne auf die Unterbrechung zu achten, fuhr Roswadowski fort: »Das allgemeine Wohl soll jedes besondere in sich begreifen, also auch dasjenige dieses Mannes und seiner Glaubensgenossen. Warum höre ich keinen von euch, die ihr seines Lobes voll seid, davon sprechen, daß ihr die Schuld abzutragen gedenkt, in der wir alle ihm gegenüber stehen und seinem Volke?«

»Ce cher Édouard!« rief Graf W. und fügte, sich in den Hüften wiegend, mit süßlichem Lächeln, nur vernehmbar für seine Frau und für den neben ihr stehenden Rosenzweig, hinzu: »Er wird immer verrückter.«

Auch die Schloßdame war unzufrieden mit dem unerwarteten Ausfall ihres Kusins und erklärte sehr scharf, in einer Schuld der Dankbarkeit und Verehrung fühle sie wenigstens sich dem vortrefflichen Doktor gegenüber nicht.

»Und was die Gleichberechtigung aller Konfessionen im Königreiche Polen betrifft«, sagte Aniela, »so ist sie bereits im Prinzip festgestellt. Mit den Modalitäten wird man sich beschäftigen. Bis jetzt hatte man aber noch nicht Zeit, auf Details einzugehen.«

»Ich falle Ihnen zu Füßen!« sprach Rosenzweig. »Um die Sache der Juden ist mir nicht mehr bang.«

»Ihre Verheißung macht ihn lachen, so groß ist sein Vertrauen«, nahm Roswadowski wieder das Wort. »Er, dessen ganzes Leben nur eine Übung im Dienste der Pflicht gegen uns ist, erwartet von uns – nichts.«

»Herr, wenn ich meine Pflicht nicht täte, käme ich um mein Amt«, fiel der Doktor ein, im Tone eines Menschen, der einer unangenehmen Erörterung ein Ende machen will.

Sein unberufener Parteigänger jedoch entgegnete: »Wenn ich von Pflicht sprach, so hatte ich eine höhere im Auge als diejenige, die Ihr Amt Ihnen auferlegt. Von Amts wegen sind Sie ein tüchtiger Kreisphysikus, zum Samariter macht Sie Ihr eigenes Herz.«

»Samariter! … Ich?«

»Jawohl, Sie! Der des Evangeliums pflegte des Sterbenden an der Heerstraße und übergab ihn dann fremder Hut. Sie haben den Sterbenden, den Sie auf Ihrem Wege fanden, in Ihr Haus aufgenommen, das dem verwaisten Christenknaben ein Vaterhaus geworden ist.«

Der Doktor deprezierte: »Wie man’s nimmt«, und dachte im stillen ganz grimmig: Du bist gut unterrichtet, Lobhudler! Mein Haus ein Vaterhaus für einen solchen Chamer!

Und in dem Augenblick beantwortete sich ihm eine Frage, die er oft erwogen hatte, die Frage: Ob man wohl zwei Gedanken auf einmal haben könne, denn wahrhaftig, er hatte zugleich auch den: Ich will dem Chamer, bevor ich ihn wegschicke, doch einen neuen Anzug machen lassen.

»So hat ein Jude getan«, wandte der Redner sich an die Gesellschaft, »aus freiem Willen für einen Andersgläubigen, und was haben wir Andersgläubigen jemals aus freiem Willen für einen seines Volkes getan? Lest eure Geschichte und fragt euch selbst, ob ein Jude die Tage herbeiwünschen kann, in denen in Polen wieder Polen herrschen!«

Olga und Aniela erhoben Einwendungen; was die Herren betraf, so waren die meisten von ihnen dem Grafen W. in das Nebenzimmer gefolgt und hatten dort an Spieltischen Platz genommen. Nur der ehrwürdige Schlachtschitz und der Ankömmling aus Paris hielten ritterlich bei den Damen aus, und der erste versicherte, er habe sich in seiner Jugend auch mit der Geschichte seines Landes beschäftigt, darin jedoch niemals andere als glorreiche Dinge gelesen.

Jetzt wurde die Tür aufgerissen, ein Diener stürzte herein und meldete: »Der Herr Kreishauptmann. Er wird gleich in den Hof fahren.«

Die mutigen Damen stießen einen Schrei des Entsetzens aus: »Um Gottes willen, der Kreishauptmann!«

Voll Todesangst ergriff die Hausfrau die Hand ihres Vetters: »Fort! fort! verbergen Sie sich!«

»Ich denke nicht daran«, erwiderte er ganz ruhig, »ich bleibe, ich freue mich sehr, die Bekanntschaft eines liebenswürdigen Mannes zu machen.«

»Sie bleiben nicht! Sie gehen – weil Ihre Gegenwart uns kompromittiert«, rief Graf W., der mit bestürzter Miene in den Salon zurückgekehrt war.

Ein Wortwechsel entspann sich…

»Doktor! Ich beschwöre Sie, eilen Sie dem Kreishauptmann entgegen, suchen Sie ihn so lange als möglich auf der Treppe aufzuhalten«, flehte die Herrin des Schlosses und drängte Rosenzweig zur Tür.

»Ich werde tun, was ich kann, ich empfehle mich, meine Herrschaften!« antwortete er und verließ den Salon, im Grund der Seele höchlich ergötzt über das Ende, das die Versammlung der Verschwörer genommen hatte.

Vom Gange aus sah er den Kreishauptmann soeben in das Haus treten. Ein behäbiger, feiner, mit äußerster Sorgfalt gekleideter Herr. Der Deckel seines Zylinders glänzte in der Vogelperspektive, in welcher er sich zuerst dem Doktor zeigte, wie die Mondesscheibe. Nicht minder glänzte der Lackstiefel an dem kleinen Fuße, den der Beamte auf die erste Stufe der niederen Treppe setzte, als Rosenzweig bei ihm anlangte.

»Ich habe die Ehre, Euer Hochwohlgeboren zu begrüßen!« sprach der Doktor, seinen Hut feierlich schwenkend.

»Wie, mein lieber Doktor? Sind Sie es wirklich? Was?« sprach der Beamte mit dem gnädigsten Lächeln, »auch Sie im Neste der Verschwörer?«

»Herausgefallen, als ein noch nicht flügges Vögelein! – Wie befinden sich Euer Gnaden?«

»Gut. Dank Ihren Ordonnanzen.«

»Und der Pünktlichkeit, mit welcher Euer Gnaden sie erfüllen. Sie sind ein so vortrefflicher Patient, daß Sie verdienen würden, immer krank zu sein.«

»Sehr verbunden für den christlichen Wunsch… Entschuldigen Sie – da habe ich mich versprochen.« Und nun kam die Frage, die der Kreishauptmann dem Doktor auch bei der flüchtigsten Begegnung nicht erließ: »Aber, mein lieber Doktor, wann werden Sie sich denn endlich taufen lassen?«

Auf die stehende Frage erfolgte die stehende Antwort: »Ich weiß es noch nicht genau.«

»Entschließen Sie sich! Sie sind ja ohnehin nur ein halber Jude.«

»Ich würde vermutlich auch nur ein halber Christ sein.«

»Oho! das ist etwas anderes!« entgegnete der Beamte streng. »Wir sprechen noch davon; jetzt sagen Sie mir« – seine Miene blieb unverändert, aber seine kleinen, klugen Augen blickten den Doktor durchdringend an: »Ist er oben, der Sendbote? Haben Sie ihn gesehen?«

»Welchen Sendboten?«

»Hier im Hause wird er als Herr von Roswadowski vorgestellt.«

Auf dem Gesichte Rosenzweigs malte sich ein so aufrichtiges Erstaunen, daß der Beamte ausrief: »Sie sind nicht eingeweiht! – Nun, ich will Ihnen Ihre politische Unschuld nicht rauben… Ganz charmant, diese Konspiranten! besonders die Damen. Übrigens haben wir uns weniger in acht vor ihnen zu nehmen als sie sich selbst vor – anderen. Es ballt sich ein Gewitter über ihren Häuptern zusammen, von dessen Aufsteigen sie keine Ahnung haben. Diese harmlosen Unzufriedenen, die sich für bedrohlich halten, sind selbst von ganz anders Unzufriedenen in ganz anders gefährlicher Weise bedroht.«

Rosenzweig konnte eine Erklärung dieser Worte nicht mehr erbitten. Auf der Höhe der Treppe erschien soeben die Hausfrau, strahlend vor Freundlichkeit, und der Kreishauptmann schwebte ihr in zierlichen Schritten eiligst entgegen.

Kapitel 3


Kapitel 3

 

Rosenzweig ließ seinem Kutscher den Befehl erteilen, anzuspannen und ihm auf der Straße nachzufahren. Er selbst ging zu Fuße voraus und schlug bald einen schmalen Weg ein, der, die Felder quer durchschneidend, in der Nähe eines steinernen Kreuzes in die Landstraße ausmündete. Dort wollte er seinen Wagen erwarten.

Er sehnte sich danach, tüchtig auszuschreiten, frische, freie Luft zu atmen und den gesunden Erdgeruch einzuziehen, der aus den aufgerissenen Schollen emporstieg. Nur wundernahm es ihn, daß er die Wonne und Wohltat, der parfümierten Salonluft und Gesellschaft entronnen zu sein, nicht so recht zu empfinden vermochte.

Ein tiefinnerliches Unbehagen erfüllte ihn, ein unbestimmtes Etwas ging ihm nach, von dem er sich keine andere Rechenschaft zu geben wußte, als daß es sehr quälend sei.

Plötzlich rief er mehrmals nacheinander laut aus: »Narr! Narr!«

Die Apostrophe galt demjenigen, den der Kreishauptmann soeben einen Sendboten genannt hatte, und die Erinnerung an das unverdiente Lob, das dieser Mensch ihm gespendet, die war’s, die dem Doktor die Laune verdarb. Jedes Wort, das der »Narr« gesprochen, jeder Zug seines durchgeistigten Apostelgesichts, der Ausdruck der schwärmerischen Ehrfurcht, mit welchem seine tiefblauen Augen auf ihm geruht – alles hörte, alles sah er wieder, und eine zornige Beschämung erfüllte ihn.

Er, der trockene, auf seinen Vorteil bedachte Nathanael Rosenzweig – ein Menschenfreund und Samariter? – So einsam er da wandelte auf dem Felde, ihm schoß das Blut in die Wangen, daß sie glühten. Er gedachte all der Hände, die sich im Verlaufe seines langen Lebens flehend zu ihm ausgestreckt, und sagte sich: Nie hast du geholfen außer im Beruf. Und was wir dem zuliebe tun, tun wir uns selbst zuliebe. Seine Schuldigkeit hatte er erfüllt in ihrem ganzen Umfang; aber Schuldigkeit – es liegt schon im Worte – ist nur ein Tausch. Mehr als getauscht hatte er nie. Seine Kraft, sein Talent, die Früchte seines rastlos vermehrten Wissens gegen den Wohlstand, den er durch sie erwarb, und gegen die Achtung der Menschen. So hatte er es bisher gehalten, und – Nathanael warf den Kopf zurück in seinen breiten Nacken – so wollte er es auch ferner halten. Möge erst jeder seinem Beispiel folgen! Möge diese, im Grunde niedere Stufe der Moral erst von der Mehrzahl erreicht sein, dann werden sie zu Worte kommen, die Idealisten, die Träumer von einem Goldenen Zeitalter allgemeiner Nächstenliebe. Früher – nicht!

Jetzt hatte er sich wieder zurechtgefunden und schritt rüstig und sorglos weiter in gewohnter Seelenruhe.

Lange vor seinem Wagen, von dem trotz allen Ausblickens keine Spur zu entdecken war, erreichte er das steinerne Kreuz. Am Fuße desselben kauerte eine klägliche Gestalt. Ein alter Mann, die Knie heraufgezogen bis ans Kinn, eine hohe Schafpelzmütze auf dem Kopfe, um die Schultern die Reste eines blauen Fracks, den vermutlich dereinst in Tagen schlummernden Nationalgefühls der verewigte Gutsherr getragen. Die mageren Beine des Greises wurden von einer ausgefransten Leinwandhose umschlottert und befanden sich, wie sein ganzer kleiner Körper, in einer unaufhörlich zitternden Bewegung.

Als der Doktor sich ihm näherte und ihn ansprach, erhob er langsam, mühsam das juchtenfarbige, faltige Gesicht und blickte aus halb erloschenen, rot umränderten Augen mit dem demütigen Leidensausdruck eines alten Jagdhundes zu ihm empor.

»Was tust du hier?« fragte Rosenzweig.

»Ich warte, mein gnädiger Herr, ich bete und warte«, antwortete der Angeredete und streckte seine knöcherne Rechte aus, an deren Fingern ein vielgebrauchter Rosenkranz hing, »ich warte immer auf einen Brief von unserem lieben Herrgott.«

»Was soll denn unser lieber Herrgott dir schreiben?«

»Daß ich zu ihm kommen darf, es ist ja hohe, hohe Zeit.«

»Wie alt bist du?«

»Siebenzig, nicht mehr. Aber wie ich aussehe, und wenn Euer Gnaden wüßten, wie mir ist. Da« – er klopfte auf seine eingefallene, pfeifende Brust –, »kein Atem. Jeden Tag meine ich, ich sterbe auf dem Wege, ich erreiche das Kreuz nicht mehr.«

»Warum bleibst du nicht zu Hause?«

Der Alte öffnete die Arme mit einer unbeschreiblich hilflosen Gebärde: »Sie jagen mich ja hinaus, die Tochter, der Schwiegersohn, die Kinder. Nun ja – sie haben selbst keinen Platz in der kleinen Schaluppe.«

»Wem gehört die Schaluppe?«

»Der Tochter. Ja, der Tochter. Ich habe sie ihr zur Aussteuer geschenkt.«

»Ein Schürzenvermögen also!« spöttelte der Doktor. »Und jetzt jagt sie dich aus dem Haus, das du ihr geschenkt hast?«

»Mein Gott, was soll sie tun? Der Schwiegersohn prügelt sie ohnehin, weil ich so lang lebe. Der Schwiegersohn sagt zu den Kindern: ›Kinder, betet, daß der Großvater bald stirbt.‹ – Ja!«

»Du hast da einen saubern Schwiegersohn.«

»Mein Gott, Herr, die Leute sind schon so. Solche Herren wie du wissen nicht, wie die Leute sind. Es gibt noch viel, viel Ärgere im Dorf. Besonders jetzt in dieser Zeit.« Er senkte die keuchende Stimme. »Weh allen Panowies und Panies, die das nächste Jahr erleben!«

»Warum denn? Was meinst du damit?«

»Oh, die armen Herrschaften! Die armen, armen!« wimmerte der Greis und begann bitterlich zu weinen. »Alles wird man ihnen wegnehmen, und erschlagen wird man sie auch.«

Der Doktor fuhr auf: »Du bist nicht bei Trost!«

Nun begann der andere die Hände zu ringen: »Auch du antwortest mir so? Das ist ein Unglück! Ach, das ist ein Unglück! … So hat der Herr Pfarrer mir geantwortet, wie ich in der Beichte ausgesagt habe, was ich weiß, so hat der Herr Mandatar mir geantwortet, und der Herr Verwalter hat gar gedroht, mich auf die Bank legen zu lassen, wenn ich solche Sachen rede…« Er richtete seinen unsicher suchenden Blick auf den Doktor: »Bist auch du mit ihnen einverstanden?«

»Einverstanden – ich? Mit wem? … Sag alles!« befahl Rosenzweig. »Was wird ums neue Jahr geschehen?«

»Männer von jenseits des Meeres werden kommen und werden alle adeligen Besitzungen unter die Bauern verteilen.«

Auch die des Pan Teophil Kamatzki? – Wartet, Kanaillen! dachte der Doktor und sprach: »Was wird denn die Regierung dazu sagen?«

»Die Regierung? Ach Jesus! Von der Regierung aus ist im vorigen Frühjahr schon alles Land vermessen worden, damit die fremden Männer wissen, wie geteilt werden soll.«

Rosenzweig brach in ein schallendes Gelächter aus: »O dieses Volk! … Seit fünfzig Jahren verkehre ich mit diesem Volk, aber die Wege seiner Dummheit habe ich noch nicht erforscht… Alter! die Vermessungen hat der Kaiser vornehmen lassen, weil er wissen will, wie groß sein Galizien ist und wieviel Steuern es ihm zahlen kann.«

Ungläubig wackelte der Greis mit dem Kopfe: »Das wissen wir besser, verzeih. Der Kaiser nimmt den Herren, die gegen ihn sind, das Land und schenkt es den Bauern, die für ihn sind. Dann wird es gut sein, glauben die meisten… Ich glaube, daß es schlecht sein wird. Jeder Tag wird Sonntag sein, und was tun die Bauern am Sonntag als raufen und sich betrinken? … Oh, mein gnädiger Herr, könnt man’s doch verhüten!«

»Sei du ganz ruhig, das wird gewiß verhütet werden«, entgegnete Rosenzweig und lachte wieder.

Da wurde der Alte plötzlich aufgebracht: »Wenn du gestern abend im Wirtshaus gewesen wärest und den Kommissär hättest predigen gehört, du würdest nicht lachen.«

»Den Kommissär? Den Emissär, willst du wohl sagen! Ein Emissär, wie sie jetzt zu Dutzenden herumziehen.«

»Nein, nein, kein solcher. Einer, der einmal ein Herr war und jetzt sagt, daß es keine Herren mehr geben soll. Er weiß so gut, was für Zeiten kommen werden, daß er lieber gleich von selbst ein Bauer geworden ist, und hat alles verschenkt.«

Diese Worte erweckten Nathanaels ganze Aufmerksamkeit und erhoben es ihm zur Überzeugung, daß der Alte von demselben Manne sprach, den der Kreishauptmann den Sendboten genannt und vor dem er selbst eben erst Aug in Auge gestanden hatte.

Derselbe! Er war es – er gewiß, der Rätselhafte, dessen Lebensgeschichte die Vernünftigen einander mit Hohn und Spott erzählten, die Furchtsamen mit Haß, die Phantasten mit Begeisterung, es war – Eduard Dembowski.

Oft hatte er sagen gehört, daß von diesem Menschen ein Zauber ausgeht, dem sich niemand zu entziehen vermöge, und dieser geheimnisvollen Einwirkung den größten Unglauben entgegengebracht; nun gestand er sich, daß er doch etwas ihr Ähnliches erfahre.

Ja! der bleiche Schwärmer schritt wie ein Gespenst neben ihm her. Ja! sein Bild verfolgte ihn mit unleidlicher Hartnäckigkeit. Vergeblich suchte er seine Gedanken von ihm abzulenken, immer wieder tauchte es auf und trotzte dem Willen, es zu verscheuchen.

Das Gefährt des Doktors stand schon seit geraumer Weile auf der Straße. Eine bequeme Britschka, bespannt mit einem Paar kugelrunder Falbenstuten in zierlichen Krakauergeschirren mit glockenbehangenen Kummeten. Der Kutscher war ein schlanker Bursche im saubern, einfach verschnürten Leibrock, und das Ganze bildete eine hübsche Equipage, um die so mancher Edelmann den Doktor beneidete.

Dieser klopfte den Falben die starken Hälse und legte ihnen die Zöpflein der schwarzen, eingeflochtenen Mähnen zurecht. Schon war er im Begriffe, in den Wagen zu steigen, da wandte er sich zu dem Alten am Fuße des Kreuzes zurück: »Du! Wie heißest du?«

»Semen Plachta, Herr.«

»Hör an, Semen! Krieche heim und sage deinem Schwiegersohn, daß Doktor Rosenzweig morgen kommen wird, dich zu besuchen. Er soll dich zu Hause lassen. Verstehst du mich? Wenn ich komme und dich nicht zu Hause finde, werde ich dafür sorgen, daß dein Schwiegersohn noch vor der allgemeinen Verteilung als erste Abschlagzahlung auf das Künftige eine Tracht Prügel erhält.« Rosenzweig hatte seine Brieftasche gezogen und ihr eine Fünfguldenbanknote entnommen. Sein Gesicht wurde sehr ernst, während er sie betrachtete. Ein kurzes Zögern noch – dann reichte er sie dem Greise hin.

»Das aber gehört dir. Ich will morgen hören, ob das Geld für dich verwendet worden ist.«

Semen streckte die Hand nach dem fabelhaften Reichtum aus; zu sprechen, zu danken vermochte er nicht. Auch der Kutscher auf dem Bocke blieb starr, riß die Augen auf, ließ vor Erstaunen beinahe die Zügel fallen. Was sollte das heißen, um Gottes willen? Sein Herr verschenkte fünf Gulden an einen Straßenbettler?!

»Herr«, sagte er, als der Doktor in den Wagen stieg, »du hast ihm fünf Gulden gegeben. Hast du dich nicht geirrt?«

»Schweig und fahr zu!« befahl Rosenzweig, und die Peitsche knallte, und die Falben griffen aus.

Bald kam auf der weiten Ebene das Doktorhaus in Sicht. Es stand jetzt nicht mehr so allein da wie ein Grenzstein; sehr nette Stallungen und Schuppen erhoben sich hufeisenförmig im Hintergrunde, und eine wohlgepflegte Baumschule füllte den Raum zwischen den Wohn- und Wirtschaftsgebäuden.

Die letzteren waren wirklich nach einem Plane des Chamers, dem der Architekt seine Sanktion gegeben hatte, ausgeführt worden und gut ausgefallen, das mußte man gelten lassen.

Ob Rosenzweig zu seinem Daheim zurückkehrte aus dem Gehöft eines Schlachtschitz, aus dem Hause eines Grundherrn oder aus dem Schlosse eines Magnaten – sein geliebtes Besitztum begrüßte er stets mit der gleichen Freude. Den anderen das Ihre, das Meine mir! – Aufrichtig gesagt, getauscht hätte er, wenn auch noch so gewinnreich, mit keinem. Er hatte ja nie ein lebendes Wesen – seine Großmutter ausgenommen – so geliebt, wie er sein kleines Gut liebte. Und wie es da so schmuck vor ihm lag, das langsam und mühsam Erworbene, die Verkörperung seiner Kraft und Tüchtigkeit, ein so wahrhaft zu Recht bestehendes Eigentum, wie es wenige gab, da ballten sich seine Fäuste, und er vollzog einen imaginären Totschlag an dem imaginären ersten, der es wagen würde, ihm seinen Besitz anzutasten.

Am Abend noch besuchte er den Kreishauptmann und berichtete ihm Wort für Wort sein Gespräch mit Semen Plachta.

Der Beamte ließ sich in eine ausführliche Erörterung der kommunistischen Umtriebe im Lande ein, die eigentlichen Absichten ihres Urhebers jedoch, das Wesen des seltsamen Mannes überhaupt wußte er nicht zu erklären, so genaue Kenntnis er auch von dessen ganzem Lebenslaufe besaß.

Der Sendbote, der das Land rastlos durchpilgerte und in den Palästen und den Hütten das Evangelium der Gleichberechtigung aller Menschen und der Gleichteilung allen Grund und Bodens verkündete, gehörte, als Sohn des Senatorkastellans von Polen und Herrn der Herrschaft Rudy im Warschauer Gouvernement, dem hohen Adel an. Auch er war wie seine Standesgenossen aufgewachsen und erzogen worden im Bewußtsein überkommener Rechte, ererbter Macht und der Pflicht, sie zu wahren und sie auszuüben.

Kaum jedoch in ihren Besitz gelangt, hatte er sich ihrer freiwillig entäußert. Die Erträgnisse seiner Güter flossen in die Bettelsäcke der Güterlosen oder wurden zu Revolutionszwecken verwendet. Er aber zog umher und warb Jünger für seine Lehre und fand ihrer in den Reihen seiner eigenen Standesgenossen. An die eindrucksfähigen Herzen der Jugend wandte er sich, und Je reiner und unschuldiger diese Herzen waren, desto feuriger erglühten sie in Verehrung für ihn und in Sehnsucht, seinem opfermutigen Beispiele zu folgen. Boten des Sendboten tauchten auf im Königreiche Polen, im westlichen Rußland, in Posen, in Galizien. Die Worte ihres Abgotts auf den Lippen, riefen sie dem Adel zu: Wirf deine Reichtümer und deine zu lang genossenen Vorrechte von dir! Vorrecht ist Unrecht. Und dem Volke: Kommt, ihr Armen! Nehmt euren Anteil an dem Boden, den seit Jahrhunderten euer Schweiß und, wie oft! auch euer Blut gedüngt hat. – Zu allen aber sprachen sie: Erhebt euch, schüttelt das Joch der Fremden ab! Wir wollen ein Reich gründen, darin es weder Überfluß noch Armut, nicht Herrschaft noch Knechtschaft gibt, das Reich – das Christus gepredigt hat.

Der geistige Leiter dieser Missionen hatte sich inzwischen an dem gegen Rußland geplanten und fast im Augenblick des Losbruchs gescheiterten Aufstande des Jahres 1843 beteiligt. Als Flüchtling entkam er nach Posen, wurde dort binnen kurzem wegen Verbreitung kommunistischer Grundsätze zur Rechenschaft gezogen, in Haft genommen, endlich verbannt. Er begab sich nach Brüssel, wo Lelewel die Verirrungen seiner allzu heißen Freiheits- und Vaterlandsliebe in den Qualen bittersten Heimwehs verbüßte. Der Umgang mit diesem »Großmeister der Revolutionäre« steigerte die Begeisterung Dembowskis zum Fanatismus. Was seine Seele fortan erfüllte, war nicht mehr Mitleid allein mit den Elenden und Armen, es war auch Haß gegen die Starken und Reichen, hießen sie nun die Beherrscher der Teilungsmächte oder die Inhaber der polnischen Zentralgewalt in Paris und Usurpatoren des Königreichs, das sie wiederherstellen wollten.

Der Apostel der Nächstenliebe kehrte als ein politischer Agitator nach der Heimat zurück. Er, den bisher nur seine eigenen Eingebungen geleitet hatten, übernahm die Ausführung fremder Pläne und die Aufgabe, Galizien zur Empörung reif zu machen. In dieser Aufgabe wirkte er nun. Wußten diejenigen, die ihn mit ihr betrauten, was sie taten? Sahen sie ihn und seine Lehre nur als das Ferment an, das die stumpfsinnige Menge in Gärung bringen, in eine Bewegung setzen sollte, der die Richtung vorzuschreiben sie sich anmaßten? –

Die Sympathie und Bewunderung, die jeder echte Pole für denjenigen empfindet, der im Kampfe gegen die Fremdherrschaft gelitten hat, bewährte sich von neuem. Der Adel nahm den Geächteten in Schutz, obwohl er einen Gegner seiner Interessen in ihm erkannte. Mochte er welcher Partei immer angehören, die Befreiung Polens war auch sein Ziel, auf dem Wege traf man zusammen und drückte einander die Hand.

»Und sehen Sie«, schloß der Kreishauptmann, »so sehr ist der Mensch in mir im Beamten doch nicht aufgegangen, daß ich diese Polen um solcher Züge ihres oft unbesonnenen, blinden, stets aber hochherzigen Patriotismus willen nicht lieben und zugleich – beneiden müßte.«

»Euer Gnaden!« rief Nathanael mißbilligend aus, und beide Männer schwiegen. Nach geraumer Zeit erst nahm der Doktor wieder das Wort: »Ich glaube, Euer Gnaden, es wäre Sache der Regierung, vor allem sich und den Adel vor dem verderblichen Einfluß des kommunistischen großen Herrn zu schützen.« Hier flocht er das ruthenische Sprichwort ein: Ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. – »Ich begreife nicht, warum man so lange untätig zusieht. Warum man ihn nicht hindert, gleichsam unter den Augen der gesetzlichen Macht sein tödliches Gift auszustreuen.«

Unangenehm berührt durch die Entschiedenheit, mit welcher Rosenzweig sprach, entgegnete der Kreishauptmann mit kühler Überlegenheit: »Es geschieht schwerlich ohne Grund. Übrigens unter uns! –, wir haben Weisung, auf ihn zu fahnden – in unauffälliger Weise.«

»Oh – dann!« rief Nathanael übereifrig, »dann beschwöre ich Euer Gnaden, meine Dienste in Anspruch zu nehmen. Unauffälliger wäre nichts, als einen Kranken dem Arzte anzuvertrauen. Und daß Ihr ›Sendbote‹ krank ist – hier«, er deutete auf die Stirn, »und in das Beobachtungszimmer des Kreisphysikus gehört, darauf schwöre ich!«

Der Ausdruck im Gesichte des Beamten wurde immer kälter, er richtete plötzlich eine gleichgültige Frage an den Doktor und entließ ihn, indem er beim Abschied warnend Talleyrands berühmtes Surtout pas trop de zèle! zitierte.

Die Warnung blieb fruchtlos. Des Doktors einmal entfesselter Eifer für die Sache der Ordnung und des Gesetzes war nicht mehr zu bändigen. Er hätte die Friedlosigkeit, die ihn umherjagte, auch den anderen mitteilen mögen, legte einen Abscheu ohnegleichen gegen die zuwartende Geduld an den Tag, deren man sich in maßgebenden Kreisen befliß, und nannte sie verbrecherischen Leichtsinn und unverzeihliche Lauheit.

Sein politisches Glaubensbekenntnis hatte sich bisher in dem Satze zusammenfassen lassen: »Unsere Regierung wird die denkbar beste sein, sobald sie sich nur noch herbeiläßt, den Juden das Recht zu geben, Grund und Boden zu besitzen.« Jetzt aber war ihm der Glaube an die Weisheit dieser Regierung erschüttert, und er begann sich als ihr Belehrer und Ratgeber zu gebärden. Auf dem Kreisamt hatte man wenig Ruhe vor ihm, er brachte täglich neue, immer bedenklicher lautende Nachrichten von dem Umsichgreifen der kommunistischen Propaganda und riet immer dringender, man möge sich doch entschließen, energische Sicherheitsmaßregeln zu ergreifen.

Die genaue Bekanntschaft des Schwiegersohnes Semen Plachtas, die er gemacht hatte, gab ihm viel zu denken. Er hatte sich bisher niemals mit dem Studium einer Bauernseele beschäftigt. Ein Bauer war in seinen Augen der uninteressanteste von allen mit einer Menschenhaut überzogenen Bipedes. Jetzt nahm er einen von der Sorte aufs Korn, beobachtete ihn genau, ging sogar mit ihm ins Wirtshaus, ließ sich mit ihm in Gespräche ein und wußte am dritten Tage, was er schon im ersten Augenblick gewußt hatte, daß der Mann faul, trunksüchtig und einfältig sei. Wie einfältig, das kam erst zum Vorschein, wenn ihm der Branntwein die schwere Zunge löste und es nur weniger geschickt gestellter Fragen brauchte, um sich zu überzeugen, daß ihm sogar die Kardinalerkenntnis der Unterscheidung zwischen Mein und Dein fehlte.

Der Doktor fuhr zur Gräfin Aniela und hielt ihr einen Vortrag über den Zustand der Landbevölkerung. »Ja«, schloß er denselben, »der Bauer ist dumm, aber wodurch soll er denn gescheit werden, wenn er es nicht zufällig von Natur ist? Ja, der Bauer ist faul, aber was würde die Arbeitsamkeit ihm nützen, sie brächte ihn doch nimmer auf einen grünen Zweig. Seine Arbeitsamkeit käme mehr dem Herrn zugute als ihm. Ja, der Bauer trägt den heute verdienten Groschen heute noch in die Schenke, aber diese Verschwendung kommt von seinem Elend. Das Elend ist nicht sparsam, das Elend vermag einen so gesunden und fruchtbringenden Gedanken wie den der Sparsamkeit gar nicht zu fassen.«

Gräfin Aniela streckte das zierliche Hälschen in die Höhe, ihre lieblichen Lippen verzogen sich spöttisch.

»Verehrter Lebensretter, Sie sprechen ja ganz wie der ›Sendbote‹«, sagte sie; »man glaube, ihn zu hören.«

Der Doktor schwieg; der scherzhaft gemeinte Vorwurf traf ihn tief.

Eine Stunde später stand er in seiner Baumschule vor einem Stämmchen, nicht viel dicker als ein Finger, und doch trug es schon unter seiner kleinen Blätterkrone drei herrliche Äpfel, völlig reif beinah, mit gelblich glänzender Schale. Zu jeder anderen Zeit hätte der Doktor an dem Anblick seine Freude gehabt, heute vermehrte sich durch ihn nur sein Mißmut. Joseph kam aus dem Hause, sein Arbeitsgerät auf der Schulter, und wollte den Wohltäter noch zu anderen Bäumchen führen, die ein ebenso kräftiges Streben, brave Bäume zu werden, an den Tag legten wie dasjenige, das er staunend betrachtete.

Er erhielt keine Antwort. Mit finsterer Strenge funkelten die schwarzen Augen Rosenzweigs unter ihren buschigen Brauen den Jüngling an, und plötzlich sprach er: »Sag einmal, hast du nie etwas von einem Freiheitshelden, so einer Art Narren gehört, der sich hier in der Gegend aufhält und den Bauern in den Wirtshäusern Revolution predigen soll?«

Joseph sah offenbar betroffen aus und schwieg.

»Gesteh! Gesteh!« befahl Rosenzweig, und sein drohendes, zornrotes Gesicht näherte sich dem des Jünglings.

»Ich weiß nicht, Herr«, stammelte dieser, »Ob du denjenigen meinst, den sie den Sendboten nennen.«

»Den eben meine ich!«

»Der predigt aber nicht Revolution, der predigt Fleiß und Nüchternheit.«

»Fleiß im Stehlen, Nüchternheit beim Totschlagen – was?« höhnte der Doktor.

Ungewohnterweise ließ sich Joseph nicht außer Fassung bringen. Noch mehr! Er erlaubte sich einen Widerspruch: »Du bist im Irrtum. Ich kenne ihn.«

Rosenzweig prallte mit einem unartikulierten Ausruf zurück, und Joseph fuhr fort: »Ich habe lange mit ihm gesprochen.«

»Wo? und wann? und was?«

»Auf dem Felde, in der vorigen Woche; und von dir ist die Rede gewesen.«

»Von mir?«

Aus dem Munde des Chamers hat er seine Nachrichten über mich? dachte der Doktor. – Nun, sie sind danach!

»Ich habe ihn nie predigen gehört«, nahm Joseph wieder das Wort.

»Möchtest aber wohl?«

»O ja! – Ich möchte wohl. Kein Pfarrer kann es ihm gleichtun, heißt es. Es heißt auch, daß er heute nacht zum letzten Male in unserer Gegend sprechen wird, in der Schenke des Abraham Dornenkron, eine Meile von hier, auf der Straße nach Dolego.«

Eine lange Pause entstand, welcher der Doktor ein Ende machte, indem er Joseph befahl, an die Arbeit zu gehen; er selbst begab sich zum Kreishauptmann, meldete, was er soeben in bezug auf den Emissär in Erfahrung gebracht hatte, und fragte an, ob es nicht geraten wäre, ein Pikett Husaren nach der Schenke zu schicken und den Aufwiegler gefangennehmen zu lassen.

»Was nötig ist, wird geschehen, mein lieber Rosenzweig!« antwortete der Beamte. »Wir sind von allem, was vorgeht, auf das genaueste unterrichtet und finden darin keinen Grund zur Sorge. Wovor fürchten denn Sie sich? Sie gehören zu uns. Ich wollte, ich könnte etwas von Ihrer Vorsicht denen einflößen, die ihrer bedürftiger wären als Sie und wir.«

Rosenzweig machte noch einige Krankenbesuche und kam erst spät am Abend heim. Vor dem Gartentor fand er Joseph, der ihn erwartete.

»Was hast du dazustehen? Geh schlafen!« herrschte er ihm zu.

Auch er hätte gern Ruhe gefunden, aber sie floh ihn in dieser Nacht wie in den vorhergehenden Nächten.

Auf einmal fiel es ihm ein, ob es nicht möglich wäre, daß Joseph sich jetzt aus dem Hause schliche, um nach der Schenke zu rennen und die Abschiedsrede des Agitators zu hören. Der Weg ist freilich weit und die Nacht schon vorgeschritten, aber der Bursch hat junge Beine… Übrigens – wer weiß? Wenn er fürchtet, zu spät zu kommen, nimmt er am Ende gar ein Pferd aus dem Stall…

Nun, der Zweifel wenigstens sollte ihn nicht lange quälen. Rasch nahm er den Leuchter vom Tische und eilte über die Treppe, den Gang nach der von Joseph bewohnten Stube.

In Jahren hatte er sie nicht betreten; sie war die einzig schlechte im Hause und ärgerte ihn, sooft er sie sah. Ein länglicher, schmaler Raum, einfenstrig, mit Ziegeln gepflastert. Wäre Rosenzweig nicht der Wohltäter, sondern der Arzt Josephs gewesen, er hätte ihm verboten, da zu schlafen auf dem Strohsack, im Winkel zwischen der Drehbank und der Mauer, die förmlich troff von Feuchtigkeit.

Er sagte sich das, als er eintretend denjenigen, den er auf dem Wege nach Dolego vermutete, der Länge nach ausgestreckt fand auf seiner mehr als bescheidenen Lagerstätte, tief und selig schlafend.

Als Rosenzweig sich über ihn beugte und ihm ins Gesicht leuchtete, zuckten seine Augenlider, sein roter, frischer Mund zog sich trotzig zusammen, aber nur um gleich wieder mit leicht aufeinanderruhenden Lippen ungestört weiterzuatmen. Hätte er tausend Zungen gehabt, sie würden nicht vermocht haben, kräftigere Fürsprache für die Lauterkeit seines Herzens einzulegen, als es der Ausdruck des bewußtlosen, schweigenden Friedens auf seinem Antlitz tat.

Der Doktor stellte den Leuchter auf die Drehbank und begann sich in der Kammer umzusehen. Was es da gab an begonnenen, an halb und an fast beendeten Arbeiten, das alles war die Frucht des Fleißes emsig schaffender und geschickter Hände. Und es mußte doch kein so übler Verstand sein, der ihr Tun leitete, denn nirgends fand sich die Spur verwüsteten Materials oder kindischer Spielerei. Und worauf sich das ganze Sinnen und Denken dieses Verstandes richtete, das war das Wohl und Gedeihen des Doktorhauses, ihm kam all sein Streben zugute, das förderte er nach bester Kraft und Einsicht. Ein Beispiel für hundert fiel dem Doktor auf, und – fast rührte es ihn.

Er hatte unlängst das hölzerne Gartenpförtlein durch ein eisernes ersetzen lassen und war zufrieden gewesen mit der vom Stadtschlosser gelieferten Arbeit, aber Joseph meinte: »Sie ist nicht schön genug, ich will eine Verzierung anbringen.« Rosenzweig verhöhnte ihn damals, und nun war das Werk schon unternommen, war schon mit unsäglicher Mühe aus starkem Eisenblech herausgesägt und gefeilt, und inmitten schmucker Arabesken zeichnete sich bereits, gar künstlich verschlungen, der Namenszug Rosenzweigs.

Dieser lächelte, kreuzte die Hände und versank in eine zum ersten Male wohlwollende und mitleidige Betrachtung des bescheidenen Tausendkünstlers. Zu Häupten seines Lagers bemerkte er ein Bild des heiligen Joseph, mit vier Nägeln an der Wand befestigt, und darunter stand in ungefügiger Schrift: »Von meiner Lubienka.«

Die deine, du armer Junge, der auf der weiten Erde nichts besitzt? Hab erst festen Boden unter deinen eigenen Füßen, eh du es wagst, einem schwächeren Menschenkinde zuzurufen: Tritt zu mir! Du hast dir noch nichts erworben, noch nichts verdient trotz deiner Arbeitsfreudigkeit und Treue, nichts – keinen Lohn, keinen Dank, kein Recht. Was du mir leistest und nützest, gilt nur als Zahlung einer dereinst – unfreiwillig eingegangenen Schuld.

Wann wird diese Schuld endlich getilgt sein, armer Geselle? … Ist sie es denn im Grunde nicht längst? Besäßest du Klugheit genug, um abzurechnen und abzuwägen, vor Jahren schon hättest du gesagt: Wir sind quitt! Von nun an bezahle mich, Herr! Ich will auch für mich erwerben. – Ich sei ein harter Mann, heißt es, aber ungerecht darf mich niemand schelten. Wenn du gefordert hättest, ich hätte dir gegeben, ich hätte dich gelten lassen, wenn du dich geltend gemacht hättest… Du hast es aber nicht getan; du bist schweigend unter deinem Joche weitergeschritten und wirst so weiterschreiten, bis du zusammenbrichst und am Ausgang deines Lebens so hilflos dastehst, wie du an seinem Eingang gestanden hast… Wessen Schuld? – Warum denkst du nicht? … Warum sprichst du nicht? … Warum verschwendest du die kostbaren Kräfte deiner Jugend? … Aber es geschieht, und ich verbrauche sie – und so wie ich tun Tausende und so wie du Hunderttausende…

Noch einen Blick auf den sanft Schlafenden, und Nathanael schloß die Augen und preßte die Hände an seine Stirn. Grell und blendend drang es auf ihn ein, wie ein im Dunkel aufflammendes Licht. Mit Granen und Entsetzen erfüllte ihn das Bewußtsein: Da schläft er noch still und harmlos, und die Hunderttausende seinesgleichen schlafen wie er… Doch werden sie erwachen – schon weckt man sie. Zu welchen Taten? Wie werden sie hausen, die plötzlich entfesselten Knechte?

Ein Schwindel ergriff ihn, ihm war, als wanke sein Haus.

»Noch nicht!« rief er und stieß den Fuß heftig gegen den Boden.

Joseph erwachte, sprang auf: »Was befiehlst du, Herr?« Das Bewußtsein kehrte ihm nicht schneller zurück, als diese Frage auf seine Lippen trat.

»Wissen will ich, was vorgeht, hören, was euch gepredigt wird. Ich will den Sendboten hören. Spann die Falben vor den Wagen, du wirst mich nach der Schenke des Dornenkron fahren. Spann ein!«

Kapitel 4


Kapitel 4

 

Die Nacht war dunkel, ein feiner, dichter Regen strömte unablässig, emsig auf die Erde nieder, und ein andrer, ein kompakter Regen spritzte von ihr auf beim energischen Gestampfe der wackeren Rößlein. »Polens fünftes Element« umwirbelte und übersprühte das von Joseph gelenkte Gefährt, das zwischen einer doppelten Reihe riesiger Pappeln auf der Kaiserstraße dahinrollte.

Der Doktor saß lange Zeit schweigend in seinen Mantel gehüllt. Ungeduld verzehrte ihn.

»Wir kommen zu spät«, sagte er endlich. »Treib die Falben an.«

»Sie laufen ja, was sie können«, antwortete Joseph. »Wir sind schon weit.« Er deutete nach einem großen weißlichen Fleck im Nordwesten des bleigrauen Horizonts: »Die Weichsel und der Dujanec stecken schon ihre Fahnen aus.«

Eine Viertelstunde später war das Ziel erreicht: ein niedriges, weitläufiges Gebäude. Vor demselben standen allerlei Fuhrwerke und hinderten Joseph, sich mit dem seinen zu nähern.

Rosenzweig hieß ihn halten, stieg ab und suchte sich einen Weg durch das Gewirre der Wagen und Pferde zu bahnen. Es war keine leichte Aufgabe für einen, der möglichst unbemerkt in das Haus gelangen wollte.

Die meisten Kutscher hatten ihr Gespann verlassen, die andern schliefen auf dem Bocke oder taten so und leisteten dem Befehl des Doktors, ein wenig Raum zu geben, keine Folge. Er hob eben den Stock, um sich ihnen deutlicher verständlich zu machen, als Abraham Dornenkron auf der Schwelle des Hauses erschien, einen brennenden Span in der Hand.

»Schaff mir Platz, Abraham«, sprach der Doktor, »ich bin’s, ich, Doktor Rosenzweig.«

»Gott der Gerechte!« stieß der Wirt erschrocken hervor, faßte sich aber sogleich und patschte dienstwillig in den Sumpf, der die Zufahrt zu seinem Gasthofe bildete. Er schob die künstlich aufgestellte Wagenburg auseinander und rief dabei fortwährend mit überflüssigem Stimmaufwand: »Der Herr Doktor Rosenzweig! – Is wer krank? Wohin belieben zu reisen der Herr Doktor?«

Sobald die Möglichkeit vorhanden war, sich ihm zu nähern, sprang Nathanael auf ihn los und packte ihn beim Ohr: »Sei still, Spitzbube! Du brauchst mich bei deinen Gästen nicht anzumelden. Ich will das schon selbst besorgen.«

Und als das Männlein trotzdem nicht aufhörte, seine Verwunderung über die Ankunft des Doktors laut auszuschreien, drückte der ihn gegen den Türpfosten, daß ihm der Atem verging, und drang an ihm vorbei in den Flur.

»Ein Gibor! Schema Isroel, ein Gibor der gewaltige Doktor!« raunte Abraham einem mißgestalteten Wesen zu, das plötzlich im Dunkel, geräuschlos wie eine Eidechse, krummbeinig wie ein Kobold, neben ihm aufgetaucht war.

Es wiegte den unförmigen Kopf, seine nachtschwarzen Augen funkelten klug und feurig.

»Er ist eingezogen, zu spionieren, Tateleben. Wir wollen ihm kommen zuvor, daß uns nicht kann begegnen ein Unglück«, flüsterte der Kleine.

»Elend über Elend! Wie haißt ihm kommen zuvor?«

»Ich will nehmen ein Pferd, Tateleben, und reiten nach Tarnow wie ein Windstoß, zu melden bei der Polizei, daß bei uns Versammlung halten die rebellischen Gojim und daß die kaiserliche Regierung soll ausschicken gegen sie Soldaten, wenn es is gefällig der kaiserlichen Regierung.«

Abraham betrachtete seinen Sprößling mit Blicken bewundernder Liebe: »Reit wie ein Windstoß, mein Sohnleben, daß du mit Gott bald kommst ans Ziel. Reit«, wiederholte er, und er setzte in naiver Fürsorge hinzu: »Tu dich nur nehmen in acht, daß du nicht kommst um deine geraden Glieder.«

Rosenzweig war inzwischen in die Wirtsstube getreten oder hatte sich vielmehr hineingezwängt.

Es herrschte darin eine dicke, dumpfe Atmosphäre, das Produkt von mehr als hundert dicht aneinandergepferchten Menschen in nassen Pelzen, Kleidern und Stiefeln. Fuseldünste und der Qualm einer an der Decke hängenden Naphthalampe trugen dazu bei, das Atmen in diesem Raume zu erschweren. Die Anwesenden jedoch erfuhren unbewußt den beklemmenden Einfluß, der die Gesichter der einen glühen machte und die anderer bis zur Todesblässe entfärbte. Es waren Männer, den verschiedensten Altersstufen und Ständen angehörig, in ärmlicher Kleidung, im reichen Nationalkostüm, im Priestertalar, im Studentenrock, im schäbigen schwarzen Gewand des Winkelschreibers. Die keinen anderen Platz mehr gefunden hatten, waren auf die Bänke gestiegen, und zwischen die Mauern und die Menge geklemmt, bezahlten sie bei jeder Bewegung derselben den Vorteil ihrer erhöhten Stellung mit der Gefahr, erdrückt zu werden.

In der vordersten Reihe, seine Umgebung überragend, stand ein grauhaariger, graubärtiger, breitschultriger Herr in kostbarer Magnatentracht. Wenn er den Kopf wandte, zeigte sich dem beobachtenden Nathanael das ausdrucksvolle asiatische Profil eines der mächtigsten Fürsten des Landes.

Auch du, Starosta princeps nobilitatis? dachte Rosenzweig. Aber eine noch größere Überraschung erwartete ihn.

Der einzige in der Stube freigebliebene Raum war der vor dem Eingang in das Nebenzimmer, dessen offene Tür von einigen jungen Leuten mit wahrhaft wildem Eifer vor der Zudringlichkeit der Neugier oder des Fanatismus gehütet wurde. Dort schritt Dembowski im Gespräch mit einem Schlachtschitz auf und ab, in dem Rosenzweig zu seinem grenzenlosen Erstaunen den vertrauter Freund des Kreishauptmanns erkannte. Er lebte in glücklichen Familien- und geordneten Vermögensverhältnissen, war ein harmloser, aufrichtiger Mensch, dem der Frieden über alles ging. Nie hatte er es dahin gebracht, einer politischen Debatte seiner Gutsnachbarn bis ans Ende zu folgen, weil er regelmäßig vor demselben einschlief. Und dieser ruhigste und stillste aller Staatsbürger, da wandelte er nun flammend und glühend in einem Seelenkampfe, dessen Pein sich in seinem zuckenden Gesicht malte, neben dem Aufwiegler einher.

Der aber, leicht vorgebeugt, den Arm des Neophyten sanft berührend, sprach eindringlich und leise zu ihm, sprach Worte, auf welche dieser keine Erwiderung mehr zu finden schien. Ein letztes noch – und er wandte sich von dem Erschütterten und trat zu seiner Gemeinde, die ihn mit unendlichem Jubel empfing.

Der Sendbote war als Bauer gekleidet. Er trug einen langen weißen Kaftan, der am Halse durch zwei große Metallknöpfe geschlossen war, hohe Stiefel, ein Hemd aus grober Leinwand und Pluderhosen aus demselben Stoffe. Ein lederner Riemen, an welchem ein kleines Kruzifix aus schwarzem Holze hing, umgürtete seine Lenden. Sein dichtes, dunkelblondes Haar war kurz geschoren, es wuchs in scharfer Spitze in die Stirn und zog einen schönen gewölbten Bogen um die mattweißen, etwas eingedrückten Schläfen.

Ruhig ließ er den Freudensturm des Willkomms verbrausen, stand da mit herabhängenden Armen, die Finger nur leicht gekreuzt, und schaute ins Gewühl lässig und obenhin, wie sehr Kurzsichtige pflegen, die schauend schon im voraus auf das Sehen verzichten.

»Freunde, Brüder«, begann er, ohne die Stimme zu erheben, und sogleich wurde es still bis zur Lautlosigkeit, »ich grüße euch zum letzten Male vor dem Kampf, vielleicht zum letzten Male vor dem Tode.«

»Sei uns gegrüßt!« antwortete ein brauner Kumpan von martialischem Aussehen, »im Kampf, im Tod, im Sieg!«

»Im Sieg!« durchlief’s die Menge als Seufzer der Sehnsucht, als Schrei der Hoffnung, als Ausruf der Zuversicht.

»Sieg?« wiederholte der Redner, »ihr habt ihn schon errungen. Ein Kampf wie der eure ist ein Sieg und ein Sieger jeder von euch, ob er den Fuß auf seine Feinde stellt, ob er, zertreten von ihren Rossen, auf dem verlorenen Schlachtfeld liegt. Meine Brüder! Was immer uns beschieden sein mag, der Gedanke, der uns beseelt, kann nicht mehr sterben. Er wird fortleben, sogar auf den Lippen derjenigen, die uns um seinetwillen verfolgen und töten. Sie selbst werden die heilige Lehre noch verbreiten, indem sie von dem Märtyrertum erzählen, das wir um ihretwillen erlitten haben.«

Allmählich war die lähmende Müdigkeit von ihm gewichen, seine geschmeidige Gestalt hatte sich emporgerichtet: »Vielleicht ist die Erinnerung an unseren Tod das einzige, was wir denen hinterlassen können, für welche wir so gern gelebt hätten. Wir müssen dafür sorgen, daß dieses Erbe ein glorreiches sei… Es wird kein glorreiches sein, wenn nicht jeder einzelne, der zu unserem Bunde geschworen hat, sich als ein Priester fühlt, dessen Ehrgeiz Entsagung und dessen Ruhm grenzenlose Hingebung an die Sache Gottes ist.«

Vereinzelte Laute der Zustimmung ließen sich vernehmen, aber so manches Antlitz drückte Enttäuschung aus.

»Die Sache Gottes, meine Brüder!« wiederholte der Redner. »Vermöchte ich den Feuereifer, ihr zu dienen, in euren Seelen zu erwecken, den er in der meinen erweckt hat, und euch den Abscheu und die Scham kennen zu lehren, mit der ich zurückblicke auf meine einst genossenen Erdenfreuden. Mitten in der Fülle ihrer Genüsse fand mich der Herr. Aus ihrem Taumel schrak ich auf bei seinem Rufe. Und die Stimme, mit der der Allerbarmer mich rief, war die des Mitleids, und das Mitleid gebar den Zweifel und der Zweifel die Erkenntnis.«

Verklärung breitete sich über seine Züge, das Licht der schönsten Liebesgedanken leuchtete auf seiner Stirn.

»Ich lebte, wie die verwöhnten leben Weil der Zufall mir zuviel beschert hatte, kannt ich kein Genügen, in meiner heißen Hand zerschmolz das Gold.

Da war einer unter meinen Dienern – Jelek hieß er, ein Bauerssohn, der, aufgeweckt und tüchtig, es bis zu dem Amte meines Güterverwalters gebracht hatte. Er allein wagte es einmal, eine Warnung gegen mich auszusprechen, und stand seitdem in Ungnade bei mir.

An einem Sommermorgen ritt ich nach fröhlich durchlebter Nacht mit meinem Anhang von einem Feste bei meiner Geliebten heim. Ihre Küsse brannten noch auf meinen Lippen, die Klänge der Musik summten mir noch im Ohr, liebliche Bilder gaukelten vor meinen Augen, eine glückliche Lebenslust erfüllte mich. In meiner Seele vermählte sich die Erinnerung an genossene Freuden mit der Erwartung künftiger, und übermütig rief ich meinen Gefährten zu: ›Wie heute, so morgen und immer!‹

Wir waren am Ausgang des Waldes angelangt; vor uns lagen im schimmernden Duft des jungen Tages die taufrischen Wiesen, das Ährenmeer der Felder, und aus der Ferne grüßte mein bewimpeltes Schloß mit seinen starken Türmen. Seine Fenster blinkten, auf seinem altersgrauen Gemäuer lag der Glanz der aufgehenden Sonne wie ein Lächeln auf dem Antlitz eines Greises. Einen schönen Anblick bot mein ehrwürdiges, gastliches Haus, und mit Jauchzen sprengten meine Gefährten ihm zu.

Ich aber verhielt mein ungeduldiges Roß.

Ich hatte längs des Waldessaumes einen Mann in hastender Eile herbeikommen gesehen und Jelek, meinen Verwalter, in ihm erkannt. – ›Woher und wohin?‹ rief ich ihn an. Er nannte einen weit entfernten Meierhof, nach dem ihn der Intendant mit einem Auftrag geschickt. -›Fand sich dazu kein Geringerer? Seit wann machst du Botengänge?‹ Auf diese meine Frage gab er zur Antwort: ›Seit ich bei dir in Ungnade gefallen bin. Dein Intendant hat mich meines Amtes entsetzt und bedenkt mich dafür mit allerlei Ämtern.‹ Er keuchte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, und ich sah es ihm an, daß ihm der Boden unter den Füßen brannte. Ich sah auch, daß sich vom Dorfe aus ein langer Zug nach der Straße hin bewegte und daß der es war, dem er entgegenstrebte. Ich setzte mein Pferd in Schritt, und er folgte mir. So kamen wir zur Landstraße, auf der die Leute wanderten. Ein paar hundert Männer, Jünglinge, Greise, ihre Sensen auf den Schultern, Säcke auf den Rücken. Sie schritten stumm, mit gesenkten Köpfen, die meisten barfuß und zerlumpt – meine Bauern! … Und wie sie, sich bis zur Erde verneigend, an mir vorüberschlichen, unlustig wie eine Herde, die nach fremdem Pferch getrieben wird, da wußt ich: die Leute sind vermietet für die Erntezeit, weithin vielleicht, und werden den Boden, auf dem ihre eigene ärmliche Ernte reift, nicht wiedersehen, eh der Schnee ihn bedeckt.

Jelek hatte ein Tüchlein hervorgezogen, in dem einige Münzen eingebunden waren, und drückte es einem Alten in die Hand, der am Ende des Zuges mühsam nachhumpelte. ›Damit du nicht darbst unterweges, Vater. Gott tröste dich. Meinetwegen mußt du fort.‹

Der Alte barg das Tuch an seiner Brust, und der Heiduck, der die Schar geleitete, stieß ihn vorwärts.

In die Augen Jeleks traten Tränen des Schmerzes und der Wut.

›Warum sagtest du‹, fragte ich ihn, ›dein Vater müsse um deinetwillen fort?‹

›Weil es so ist. Der Intendant hätte sich nicht getraut, ihn zu vermieten, wenn du mir noch gnädig wärest wie sonst.‹

Ein paar Tage später traf ich meinen Jelek, wie er einen Arbeiter auf dem Felde, einen hochbejahrten Mann, der Faulheit anklagte und erbärmlich schlug.

›Siehst du nicht, daß der Mann erschöpft ist und nicht mehr arbeiten kann‹, sagte ich, und er erwiderte: ›So werden sie es in der Fremde auch meinem Vater tun. Warum soll es dem einen besser gehen als dem andern?‹

Was ich ihm antworten sollte, wußte ich nicht, aber zu dem Alten sagte ich: ›Tun dir die Schläge nicht weh, daß du dastehst und nicht einmal klagst?‹

›O mein gnädigster Herr!‹ entgegnete er, ›was würde das Klagen mir nützen?‹

Und auch darauf mußte ich schweigen…

Heimkehrend fand ich das Haus zum Empfang meiner Geliebten geschmückt, und alle, die um meine Gunst buhlten, waren versammelt, um meiner Herzenskönigin zu huldigen. Sie erschien in ihrer königlichen Schönheit, und ihr Anblick und der Anblick der Pracht, die mich umgab, und der kriechenden Dienstfertigkeit meines Anhangs – Grauen, meine Brüder! Grauen erweckten sie mir.. Ein Dämon, meint ich, habe tückisch mein Auge zu furchtbarem Hellsehen geschärft… All der Glanz, alle die Pracht und Herrlichkeit und die Liebe des Weibes und die Treue der Freunde – sie hatten einen Preis, und bezahlt hatte ihn das Elend. Die hatten ihn bezahlt, die zum Frondienst vermietet hingezogen waren in die Fremde… Das Gewühl vor mir, die Wände des Saales wurden durchsichtig, wie durch schimmernde Schleier sah ich eine wandernde Schar, deutlich jede Linie der Gestalten, jeden Zug der Gesichter, die mein Auge an jenem Morgen nur flüchtig gestreift hatte… Ergebung auf allen! Nicht schöne, männliche – nein! die trost- und hoffnungslose Ergebung des Stumpfsinns… Was jenes Opfer der ungerechten Vergeltung, die mein Diener übte, gesprochen hatte, das sprachen auch sie in ihrem Schweigen: Was würden Klagen uns nützen?

Brüder! in dieser Stunde habe ich meiner Macht geflucht und mein Glück gerichtet… Meine Macht war zum Unheil anderer ausgeübt worden, mein Glück wuchs nicht wie eine Blume aus dem gesunden Mutterschoß der Erde, es war ein Wuchergebilde, ihrer Krankheit Frucht, und nährte sich parasitisch von kostbaren Lebenssäften.«

Der Redner bog den Kopf zurück; seine Lider schlossen sich, einem Gepeinigten gleich zog er den Atem ein: »Da ergoß sich in meine Brust ein Strom der Schmerzen… Die Schmerzen jedes einzelnen, der um meinetwillen gelitten hatte, ergossen sich in meine Brust! … Und jede Schuld und jedes Unrecht, das die begangen hatten, die mir dienten, als meine Schuld empfand ich sie und vernahm schaudernd, wie ihr Schrei gegen mich zum Himmel stieg…

Die Luft im Saale lastete wie Blei, aus den Augen meiner Geliebten blickte die Sünde, die Töne der Musik girrten sinnverwirrende Melodien, und – fort trieb es mich, hinweg von dem durchschauten Trug in die kühle, klare Nacht. Ich wanderte unter ihren schimmernden Sternen, soweit meine Füße mich trugen, und wie auch mein Herz blutete und rang, mir war, als lebt ich auf. In der herben Qual, die ich litt, fühlte ich die Hand meines Herrn, verstand die Mahnung, deren Er mich gewürdigt. Und während sie mich suchten im Schlosse und in den Gärten, lag ich im Waldesgrund auf dem Angesicht vor meinem Gott und flehte um Kraft zur Buße und Sühne und bat mich ihm dar zum Werkzeug Seines Willens, zum Verkünder Seiner Lehre, und flehte den Urquell des Lichtes um Erleuchtung auf meinem Wege an.

Sie wurde mir. Wie das Auge des Blindgeborenen, als der Finger des Heilands es berührte, sich der alten, vertrauten und ihm doch unbekannten Welt erschloß, so erschloß sich meine Erkenntnis der Offenbarung, in deren Licht ich gewandelt war, von Jugend an – ein Blinder. Und je tiefer ich in den Geist des göttlichen Wortes eindrang, desto klarer ward es mir: Inbegriff seiner Weisheit ist die Liebe. Für uns Menschen – die Nächstenliebe!«

Die hochgehenden Wogen der Begeisterung, mit welcher der Sendbote empfangen worden, waren allmählich verebbt. Ein Gemurmel der Mißbilligung, in das sich nur vereinzelt warme Zurufe mischten, erhob sich jetzt. Aus der Gruppe, die den Fürsten umdrängte, scholl rauh die Mahnung: »Laß den Pfarrer von Nächstenliebe sprechen, sprich du von der Befreiung des Vaterlandes!«

»Eines, die beiden!« antwortete der Redner. »Keine Befreiung ohne die Liebe des Nächsten. Sie ist der unermeßlich reiche Schatz, der uns an dem Tag erlöst, an dem wir uns entschließen, ihn zu heben. Nur verstehen müßt ihr ihr Gesetz. Für euch, ihr Mächtigen und Reichen, lauten seine ersten Worte: Entsagung, Entbehrung, Sühne!«

Die Lippen des Fürsten kräuselte ein Lächeln, aber mit immer mächtiger werdender Stimme fuhr der Redner fort: »Es gibt nur einen Herrn, den König der Himmel und der Welten, und nur ein Menschenvolk gleichgeborener Brüder. Der sich Herrschaft anmaßt über seine Brüder, säet und erntet Unheil die Seele des Knechtenden wie die des Geknechteten verdirbt.«

Mit einem raschen Schritte trat er auf den Fürsten zu: »Rette deine Seele, demütige dich! Gedenk der Sünden deiner Väter, gedenk der Flüche, die auf deinem Haupte lasten. Wie? – Befreiung von fremder Tyrannei verlangt ihr? Was habt denn ihr jemals ausgeübt an dem bejammernswerten Volke als Tyrannei? Ihr, der Adel, ihr wart der Staat. Niemals ist in Polen ein anderer Stand zu Wort gekommen als der eure, und wohin habt ihr das Land gebracht? … Euer Eigennutz hat es ausgebeutet, eure Zwietracht es zerrissen, euer Verrat hat es den Feinden ausgeliefert!«

»Du lügst! Schweig! Wir wollen dich nicht mehr hören!« tönte es ihm zurück.

Ein rasender Tumult erhob sich.

»Platz da! Platz für den Fürsten!« riefen die Begleiter des Magnaten, der sich schweigend und verächtlich umgewandt hatte und dem die Seinen mit Stoßen und Drängen einen Weg zum Ausgange zu bahnen suchten. Nathanael, in der Nähe stehend, erwies sich ihnen hilfreich. Die Menge war wie eingekeilt unter der Tür; aber sein eiserner Arm teilte sie, um den Fortstürmenden Raum zu schaffen, und ein allgemeines Aufatmen gab es, als der Fürst und seine Schar das Freie gewonnen hatten.

Von draußen vernahm man ihr Schreien, Fluchen und Lachen. Die Herren pfiffen ihren Kutschern und ihren Hunden, Peitschen knallten, Fuhrwerke setzten sich in Bewegung.

Der Blick des Sendboten glitt schwermütig über die gelichteten Reihen seiner Jünger.

»Auf die Großen dieser Erde habe ich nicht gezählt; wohl uns, wenn wir keine anderen Gegner hätten als sie«, sprach er ruhig. »Der Bedrücker sind wenige, der Bedrückten viele. Wenn die Bedrückten sich erheben und im Namen des Allgerechten ihren Anteil am Besitz der Erde fordern würden, dann wäre die Macht der Mächtigen wie Spreu. Aber der Koloß, der sich nur zu regen brauchte, um seine Bande zu sprengen – er regt sich nicht. Er duldet und front und wird ewig dulden und fronen. Durch das unwürdige Leben, das er seit Jahrhunderten führt, ist das Bewußtsein seines Menschentums, seines freien Willens in ihm erstickt worden… Diejenigen aber, die ihm dieses Bewußtsein raubten, haben nicht nur gegen das elende, von ihnen verachtete Volk, sie haben – und dessen gedenken sie nicht! –, sie haben gegen Gott gefrevelt, indem sie Tausende seiner Geschöpfe unfähig machten, sein Bild widerzuspiegeln.«

Er hielt inne, und die jungen Leute jubelten ihm Beifall zu. Die älteren Männer schwiegen. Einige Geistliche hatten sich in die Nähe der Tür begeben. Der treulose Freund des Kreishauptmanns war samt den Edelleuten verschwunden, nachdem er mit staunendem Schrecken den großen Kopf Rosenzweigs aus dem Gedränge hervorragen gesehen. Der Doktor jedoch, mit der Wucht eines Pfeilers auf seinem Vordermann lastend, brachte jeden allmählich zum Weichen und stand nun auf demselben Fleck, auf dem früher der Fürst gestanden hatte, dicht vor dem Sendboten.

Eine freudige Röte stieg diesem in die Wangen, als er Nathanaels ansichtig wurde.

»Gott wird die Schuldigen richten!« nahm er wieder das Wort. »Was uns zukommt, ist die Erlösung der Armen, deren Jammer zu ermessen wir besser vermögen als sie selbst. Was ich von euch fordere, ihr Herren, ihr wißt es, besprochen und wieder besprochen haben wir’s in langen Stunden. Ihr aber, Studenten und Männer der Wissenschaft, die ihr dem Volke nahesteht wie eurem Vater, betreut es, als wäre es euer Kind. Lehrt es euch lieben und vertrauen, verwendet zu seinen Gunsten euer Wissen, euer Können, eure Erfahrung, Kraft und Zeit. Vergeßt euch selbst in seinem Dienst. Keiner von euch pflege mehr seinen Geist in kaltsinniger Abgeschlossenheit… Mit welchem Rechte vertieft ihr euch in die Erforschung der schwierigsten Welt- und Daseinsrätsel, während um euch her noch Menschen leben, mit dem gleichen Anspruch auf Erkenntnis ausgestattet wie ihr – und unfähig, die einfachste Gedankenreihe zu bilden? … Ihr sucht nach Zielen in euren Wissenschaften und werdet immer nur Grenzen finden. Ich nenne euch ein Ziel, das sich erreichen läßt: die Verminderung des Irrtums, des Wahns, des Aberglaubens unter euren Brüdern… Dem Zug einer ungeheuren Heersäule, die nachts aufbricht, um zum Kampfplatz zu eilen, gleicht das Wandeln des Menschengeschlechts über die Erde. Diejenigen, denen Kraft gegeben ward, die andern zu überholen, haben sich an die Spitze gestellt. Sie schreiten schon im rosigen Morgenlicht, die Schatten fliehen, ein Wunderland öffnet sich vor ihnen. Unaufhaltsam jagen sie ihm zu, auf sonnenbeglänzter Bahn, unbekümmert um die Nachhut, die hinter ihnen im Dunkel tappt und sich verirrt und keinen Steg mehr findet, der zu den Glücklichen hinüberführt, an deren Seite auch sie den Kampf des Lebens zu kämpfen berufen waren… Deshalb, ihr Führer, macht halt! Öffnet eure Reihen, laßt die Nachhut herankommen. Einen breiten Weg für die Nachhut! Zu ihrem Heil, meine Brüder! aber auch zu dem eurigen, denn aus jedem bisher blöden Auge, das sich dank eurer fürsorgenden Liebe einem Strahl der Wahrheit öffnet, wird euch der Himmel grüßen…«

Einige Schulmänner in der Nähe Rosenzweigs wechselten bedeutungsvolle Blicke: »Ich bin sehr enttäuscht«, flüsterte ein Advokatenschreiber den gelehrten Herrn zu. »Das ist ja gar nichts.«

Der Doktor stand nach und nach ganz bequem, von einem Gedränge war keine Rede mehr. Das Auditorium machte sich langsam und geräuschlos fort. Wagen um Wagen rollte, Reiter trabten davon.

Die Zurückbleibenden widersetzten sich endlich dieser Flucht. Die Verwünschungen, mit denen die Abtrünnigen begleitet wurden, begannen in Tätlichkeiten auszuarten.

Gebieterisch erhob der Redner seinen Arm.

»Laßt jeden unbehelligt ziehen«, befahl er. »Wer von euch kann sagen, ob das Samenkörnlein Wahrheit, das jetzt von der Brust dieser Männer abzuprallen schien, nicht, ohne daß sie selbst es ahnen, in ihr Wurzel geschlagen hat? Vielleicht tritt mancher von denen, die uns jetzt verlassen, noch dereinst in unsere Reihen ein… Mir aber, meine Brüder, mir ist es ein Segen zu fühlen: Was mich in dieser Abschiedsstunde umgibt, ist Treue, was mich vernimmt – Verständnis. Den tiefsten Inhalt meiner Lehre, in eure Herzen darf ich ihn gießen wie in köstliche Schalen, die ihn rein und lauter bewahren und ihn anderen Herzen also mitteilen werden.

Brüder, wir müssen immer hören, ohne Kampf der Menschen untereinander könne die Welt nicht bestehen; in einem allgemeinen Frieden würden unsere Kräfte einrosten und unsere Geister erschlaffen. Das ist falsch. Friede zwischen den Menschen bedeutet ja nicht das Ende aller Kämpfe, es bedeutet vielmehr den Beginn eines neuen, eines herrlichen Kampfes. Indessen der Haß der Urheber der bisherigen Kämpfe gewesen ist, wird die Liebe die Mutter der künftigen sein. Die Streiter, die sie aufruft, werden nicht etwa ein leichtes Spiel haben, denn die Feinde, denen sie gegenüberstehen, gönnen ihren Überwindern nicht Ruhe, nicht Rast, täglich besiegt, erheben sie sich täglich wieder. Das Leiden und die Leidenschaft sind ihre Namen. Sie nur einmal ins Auge gefaßt, und ihr werdet an eure Stirnen greifen und euch fragen: Ist es möglich, daß wir jemals einen anderen Streit unternommen haben als den gegen sie, als den gegen die Leiden der anderen und den gegen die Leidenschaft in unserer eigenen Brust? Wie? es gibt in der Welt diese fürchterlichen Gewalten, und wir haben mit ihnen einen faulen Frieden geschlossen? Wir haben sie hingenommen wie das Notwendige und Unentrinnbare, wir haben schläfrig und lau den Vampir an unserem Marke zehren lassen und unsere Streitlust nicht an ihm gebüßt, nein, an unseren Brüdern, unseren mitleidenden Brüdern! Wir haben Beladenen neue Lasten aufgelegt, wir haben Verwundete verletzt…

O des Wahnsinns! Oder des Verbrechens – oder vielmehr der beiden! Verbrechen ist Wahnsinn, die Torheit ist die Quelle jedes Unrechts.«

Ja, und tausendmal ja! dachte Rosenzweig, Tränen in den Augen, erschüttert in allen Fugen seines Wesens. Ein unermeßliches Glück durchdrang ihn, er empfand die höchste aller Wonnen – die Wonne, aus den beengenden Schranken der Selbstsucht aufzusteigen wie aus einem Grabe. Was er bisher am meisten geschätzt hatte, erschien ihm wertlos, die Arbeit vergeudet, die er auf die Erwerbung seines Reichtums verwandt, verächtlich seine engherzige Freude an ihm, der, ein toter Staub, in seinen Händen gelegen. Beschämung erfüllte seine Seele, aber mit Entzücken gab er sich ihr hin als dem Wahrzeichen seiner Wandlung, dem Beginn seines inneren Wachsens und Klärens. Nur ein Gedanke trübte die reine Seligkeit dieses Augenblicks – er galt dem Apostel des Mitleids und der Liebe und wurde schmerzlicher und sorgenvoller, als dieser die Zukunft, die er träumte, als eine erreichbare zu schildern begann. – Täusche dich nicht! hätte er ihm zurufen mögen. Das Land deiner Verheißung hat auf Erden keine Stätte. Begnüge dich damit, unsere Sehnsucht nach ihm erweckt zu haben. Schon das ist Befreiung.

Aber der Sendbote sprach… Der Klang seiner Stimme füllte wie etwas Körperliches den Raum, der Glutstrom seiner Beredsamkeit trieb seine kühnsten, prächtigsten Wogen, und endlich schloß er: »Zweck und Ziel unseres Bundes ist das Wohl des Volks, das Wohl eines jeden Bewohners der polnischen Erde; schwört Treue unserem Bunde!« Da riefen alle, da tönte es mit der Stimme einer Begeisterung aus der Brust von jung und alt, von Erfahrenen und Unerfahrenen, von Besonnenen und Schwärmern: »Wir schwören!«

Sie fielen vor ihm nieder und küßten seine Hände, seine Knie, seine Füße. »Wir schwören dir Gehorsam bis in den Tod!« überschrie einer aus der Menge alle übrigen. Der Sendbote wehrte ab: »Nicht mir Gehorsam – – der Sache. Schwört, die Armen und Bedrückten zu lieben wie euch selbst, und das Vaterland mehr als euch selbst.«

Die Beteuerungen wiederholten sich.

»So geht denn hin. Werbt im Volke, werbt Werber für das Volk. Entsendet keinen, der nicht auf das Kruzifix geschworen hat. Ich bringe euch die Eidesformel und den Katechismus«, sprach der Agitator, und Stille trat während der Verteilung der Schriften ein.

Plötzlich wurde sie durch ein so angstvolles Gekreisch unterbrochen, daß alle zusammenfuhren. Abraham Dornenkron stürzte herein, schreckensbleich, mit aufgelösten Locken: »Rette sich, wer kann sich retten! Mein Sohnleben ist gewesen in Tarnow, hat gesehen steigen auf die Husaren, gleich werden sie sein hier, mein Sohnleben is geritten ihnen voraus.«

Die Warnung Abrahams erweckte Hohn, Trotz, Bestürzung. Einige stammelten ein leises Abschiedswort und eilten rasch davon. Was Waffen trug, scharte sich um Dembowski und schickte sich zu seiner Verteidigung an. Er aber wies seine Getreuen hinweg: »Fort! Ihr, ich, wir alle. Noch ist es nicht Zeit zum Kampfe. Ein Hochverräter jeder, der den Kampf zu früh beginnt. Fort! Alle fort!«

Die Stube leerte sich. Der letzte, der hinaustrat, war der Sendbote, knapp vor ihm schritt Nathanael. In tiefer Stille bestiegen die Verschworenen ihre Wagen und stoben auseinander wie Schatten. Das Pferd des Redners wurde vorgeführt er schwang sich hinauf und gab ihm die Fersen. Das Tier bäumte sich, fiel schwer auf seinen Vorderfuß zurück und zog den andern mit schmerzvollem Zucken in die Höhe.

Eilends sprang Rosenzweig herbei. »Ihr Pferd lahmt«, sagte er, »auf dem Pferd kommen Sie nicht weit.«

Der Wirt näherte sich, eine Flasche tragend, in deren Hals eine tropfende Unschlittkerze stak, hockte am Boden nieder und bestätigte jammernd den Ausspruch des Doktors. Diesen ergriff ein Verdacht, er hielt dem Juden die geballte Faust vors Gesicht: »Wart, Kerl, wenn du das getan hast!«

Abraham brach sofort in Wehklagen und Unschuldsbeteuerungen aus. Der Emissär war vom Pferde gestiegen, stand regungslos und horchte.

Deutlich vernahm man schon das Heransprengen der Reiter auf der Straße. Sie ritten mit dem scharf herüberpfeifenden Wind. Gelblichgrau begann der Horizont zu schimmern. Der fahle Schein der ersten Dämmerung verbreitete sich über die Ebene. Nathanael fröstelte und glühte. Kalter Schweiß rann ihm über die Stirn, eine eiserne Kralle schnürte ihm die Kehle zu. Das war Furcht, deren Symptome er so oft an andern beobachtet, die er an sich selbst nie erfahren hatte.

»Verbergen Sie sich im Haus«, sprach er zum Emissär.

»Was würde mir das nützen, wenn der Wirt falsch ist – und er ist es«, antwortete jener. »Ich will meinen Beinen vertrauen. Soviel Klugheit wie das gehetzte Wild habe ich auch. Irgendwo findet sich ein Hohlweg, ein Baum, ein mitleidiger Strauch, der mich verbirgt.«

Er wandte sich zur Flucht.

Da faßte ihn der Doktor mit überlegener Kraft und drängte ihn zu seinem Wagen hin: »Herunter, Joseph!« befahl er, »und sieh zu, wie du nach Hause kommst. Sie aber, nehmen Sie seinen Platz ein. Rasch!«

Der Widerstrebende war auf den Wagen hinaufgehoben, bevor er sich’s versah. Der Doktor warf ihm seinen im Wagen zurückgebliebenen Mantel über die Schultern, Joseph legte die Zügel in seine Hand und trat sofort im Eilschritt den Heimweg an.

»Du!« sprach Nathanael, und Abraham beugte sich beinahe bis zur Erde unter dem Blitz, der aus den Augen des Doktors auf ihn niederfuhr, »du sollst mich kennenlernen, wenn du den Verräter weiterspielst!« Einige Verwünschungen folgten, die ihm leicht von den Lippen flossen. Schwerer wurde es ihm hinzuzusetzen: »Wenn du aber dein Maul hältst – dann kriegst du von mir für dein Schweigen das Doppelte von dem, was deine Angeberei dir eingetragen hätte.«

Er machte eine rasche Wendung den immer näher kommenden Reitern entgegen.

»Holla ho!« rief er, die Hände vor dem Munde zum Sprachrohr geformt, »zu spät! zu spät!«

Ein Pikett Husaren mit einem blutjungen Kadetten an der Spitze kam hergaloppiert. Der Kadett riß sein Pferd dicht vor Nathanael zusammen: »Gottes Donner! der Herr Doktor! Was führt Sie her?«

»Beim Zeus! die Neugier, mein Gräflein. Aber Sie – warum just Sie? Ein heißer Ritt in kalter Morgenstunde, das gibt, so wahr ich Sie kenne, eine Halsentzündung.«

»Gottes Donner! scherzen Sie nicht! Komm ich wirklich zu spät? Ist das Nest leer? War der Emissär wirklich da? Haben Sie ihn gesehen?« fragte der Jüngling in überstürzter Hast.

»Gesehen, gehört, ihn als unschädlichen Schwärmer diagnostiziert.«

»Unschädlich? Dann war er’s nicht.«

»Er war’s!«

»Es is gewesen er!« fiel Abraham geläufig ein. »Der Herr Kadett können noch sehn stehen hier sein Pferd, das ich hab vernagelt, damit er nicht kann reiten davon.«

»Was ihn zwang«, bemerkte Rosenzweig, »im Wagen eines seiner Freunde davonfahren!«

Der Jüngling nahm das Pferd in Augenschein, ließ ihm das Eisen abreißen und befahl einem Soldaten, es am Zügel mitzuführen.

»Ich nehm es mit als Pfand«, sagte er. »Und nun – in welcher Richtung ist er davongefahren, Doktor?«

»Das verrate ich Ihnen um keinen Preis.«

»In welcher Richtung? Die Sache ist ernst. Ich bin ein gemachter Mann, wenn ich ihn fange. Wir haben verschärfte Order erhalten, heute nachmittag. – In welcher Richtung, Doktor? … Gottes Donner! sprechen Sie!«

Rosenzweig entgegnete mürrisch: »Ich habe keine Katzenaugen. Wahrscheinlich sind Sie ihm selbst begegnet auf der Straße.«

»Niemandem bin ich begegnet außer einigen guten Bekannten… Übrigens« – er hielt inne und schlug sich vor die Stirn. »Auch die sind ja verdächtig… Rechts um!« kommandierte er seinen Leuten, und die Husaren machten kehrt. »Adieu, Doktor. Und du, Jude, merk auf! Es soll ein Preis auf den Kopf des Emissärs gesetzt sein, heißt es, ein Preis von tausend Gulden. Dein wäre er gewesen, hätt ich den Kerl hier erwischt.«

Abraham zuckte zusammen, wand sich wie ein Wurm und kreischte laut. Der Fuß des Doktors stand auf dem seinen und trat ihn unbarmherzig.

»Was gibt’s?« rief der Husar.

»Er weint um die tausend Gulden, die ihm an der Nase vorbeigeflogen sind«, entgegnete Rosenzweig.

Der Kadett setzte sich wieder an die Spitze seiner Mannschaft: »Ich reite zurück. Die Wagen holen wir noch ein… Gottes Donner! die wollen wir jetzt aufs Korn nehmen… In Galopp, Marsch!« Und das Pikett rasselte davon.

Abraham hüpfte kläglich auf einem Fuße und hielt den andern, zurückgekrümmten wie in einer Schlinge in der Hand.

»Zweitausend Gulden!« winselte er. »Sie haben mir zerquetscht, Herr Doktor, Sie Gibor, zwei Zehen… Aber Sie sollen gehen drein, ich verlang kein Schmerzensgeld, wenn Sie mir auszahlen morgen meine zweitausend Gulden, die Sie sind mir schuldig, so wahr Gott lebt!«

Rosenzweig antwortete dumpf: »Komm nur, Halunke. Was ich verspreche, halte ich – auch einem Halunken.«

Er trat an den Wagen und sprach, auf den Rücksitz deutend, zu seinem Fahrgast: »Da hinüber steigen Sie, überlassen Sie mir Ihren Platz. Ich bringe Sie in Sicherheit.«

Der Sendbote stand mit einem Satze neben ihm und drückte kräftig seine Hand: »Haben Sie Dank. Sorgen Sie nicht weiter um mich; ich finde Freunde überall.«

Vergeblich suchte der Doktor ihn zurückzuhalten; er entwand sich ihm und war bald den Augen seines Retters im verhüllenden Zwielicht entschwunden.

Kapitel 5


Kapitel 5

 

Rosenzweig kutschierte nach Hause, im kurzen Trab, im Schritt – wie es den Falben beliebte. Er hatte keine Eile. Wäre der Weg noch einmal so lang gewesen, er würde ihm nicht zu lang geworden sein. Demjenigen, der über ein an sich selbst erlebtes Wunder nachdenkt, vergeht die Zeit geschwind.

Gelogen, betrogen, einen Schurken bestochen – hatte er das wirklich getan, er, der redliche Rosenzweig? Um eines Menschen willen getan, den er noch vor kurzem für einen Feind der Gesellschaft, für seinen eigenen Feind gehalten? …

Die widersprechendsten Empfindungen lieferten sich eine Schlacht in Nathanaels sonst so gleichmütiger Seele. Nur die schlimmste von allen – die Reue war nicht unter ihnen.

Am Nachmittag kam Abraham, sein Geld zu holen. Ja, der Spitzbube nannte es sein, das schöne, zum Ankauf eines neuen Feldes bestimmte Geld. Finster gab der Doktor es hin.

Dann begab er sich auf das Kreisamt.

Er hatte die Absicht, seinem Chef die Ereignisse in der Schenke genau zu berichten, fand ihn jedoch so beschäftigt und in so ungewöhnlicher Aufregung, daß er vorzog zu schweigen. Auch in den folgenden Tagen ging es nicht besser.

Auf dem Amte herrschte in dieser Zeit eine beständige Unruhe, eine außerordentliche Tätigkeit. Der Kreishauptmann bewahrte mit Mühe den Schein seines heiteren Selbstvertrauens. Die Zuversicht war erzwungen, mit welcher er beteuerte, alle Fäden des Netzes in seiner Hand zu halten, an dem Tyssowski in Krakau, Skarzynski im Bochnier, Julian Goslar im Sandezer, Wolanski im Jasloer und Mazurkiewicz im Sanoker Kreise spannen. Die Untreue seines besten Freundes, der offen zur Revolutionspartei übergetreten war, machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Er und der Doktor tauschten allmählich die Rollen. Der Ängstliche wurde der Sorglose und der Sorglose der Ängstliche.

Eines Morgens überbrachte Joseph seinem Herrn einen Brief, der durch einen Boten im Hause abgegeben worden war. Er enthielt zwei Eintausendguldennoten in ein Blatt gefaltet, auf dem die Worte geschrieben standen: »Meine Schuld bleibt ewig ungetilgt.«

Nathanael barg das Blatt an seiner Brust und legte die Noten vor sich hin auf den Tisch.

»Joseph«, rief er.

»Was befiehlst du?«

»Sieh diese zwei Bilder gut an. Weißt du, was sie vorstellen?«

»Viel Geld, mein ich.«

»Geld! Geld! nun ja – aber noch etwas anderes.«

»Was denn, Herr?«

»Den Lohn deiner jahrelangen Arbeit… Nein, nicht ihren Lohn – ihren redlich verdienten Ertrag.«

Joseph sah den Gebieter fragend an.

»Dahin sieh, auf die Bilder, nicht auf mich«, rief dieser. »Sie stellen noch ein drittes vor.«

»Was denn, Herr?« wiederholte Joseph.

»Was denn? Soll ich Lubienka rufen? Die wüßte es gleich, daß es nichts anderes sein kann als – dein Heiratsgut.«

Da rief Joseph mit einem Schrei der Wonne: »Mein Wohltäter, mein Herr, du Gütigster!« und wollte sich vor ihm niederwerfen.

»Steh!« befahl Nathanael, legte beide Hände auf seine Schultern und blickte ernst in sein Angesicht, das sich zu ihm emporwandte wie zu einem Gotte.

»Du hast eine harte Jugend gehabt, mein Joseph.«

»Ich? – Was sagst du, Herr? – Warest du nicht immer wie ein Vater gegen mich?«

»Nein, nein, mein Junge, wirklich nicht. Aber du bist gegen mich immer wie ein Sohn gewesen«, antwortete der Doktor und setzte die für Joseph unverständlichen Worte hinzu: »Gäb es viele deinesgleichen, dann wäre der himmlische Sendbote kein Tor.« –

Von nun an hatte Joseph glückliche Tage, und noch viel glücklicher wären sie gewesen, wenn die große Veränderung, die mit seinem Herrn vorgegangen war, ihn nicht bekümmert hätte. Sie fiel jedem auf und erregte das Befremden aller Freunde des Doktors. Er, der emsige Sparer, wurde von großmütigen Regungen ergriffen. Er, für den der Bettler und der Dieb bisher in eine Kategorie gehört hatten, begann zwischen ihnen einen gewaltigen Unterschied zu entdecken. Er, auf den bisher die Reichen und der Reichtum eine starke Anziehungskraft ausgeübt, betrat nur noch gerufen die Schlösser, ungerufen aber die Hütten der Armen. Die Unruhe, die ihn umhergejagt hatte, war verschwunden. Mit stillem, hartnäckigem Eifer ging er seinem Berufe nach. Als die Revolution ausbrach und ihre ersten blutigen Opfer forderte, verstand er es, immer da zu sein, wo man seiner am meisten bedurfte. Nie, auch nicht in den schlimmsten Tagen, verließ ihn die kaltblütige Zuversicht: von der Revolution ist nichts zu fürchten.

Anderer Ansicht war der Kreishauptmann.

Alle Mutigen wandten sich bereits der Überzeugung zu, der Aufstand müsse in kurzem beendet sein, als er noch davon sprach, die Provinz sei verloren, wenn nicht in höchster Eile eine Armee einrücke, die tausendköpfige Hyder der »verwüstenden Insurrektion« zu bekämpfen. Er meinte, Rosenzweig habe den Verstand verloren, als ihm dieser eines Tages erwiderte: »Die Insurrektion ist keine tausendköpfige Hyder, sondern ein hilfloses Kind. Mit Blumen in den Händen kommt es heran, mit einem Herzen voll Liebe und mit Worten der Erlösung auf den Lippen… So kommt es zu uns. Aber wir sind Wölfe, Bären, Tiger, aber wir sind reißende Bestien. Wir verstehen die Sprache dieses Kindes nicht. Es predigt Erbarmen, Gerechtigkeit und Güte, und wir wollen von alledem nichts wissen, wir wollen mit niemandem Erbarmen haben als mit uns selbst, wir wollen bleiben, was wir sind, behalten, was wir haben, womöglich noch andern etwas wegnehmen, um uns zu bereichern. Und so wird es immer sein, und ein Narr, der daran zweifelt! Und wir, reißende Tiere, wir werden das Kind zerfleischen und fressen und uns zufrieden schlafenlegen nach dieser Heldentat.«

»Phantasterei! Das ist ja pure Phantasterei!« rief der Beamte voll Bestürzung aus… »Was ist mit Ihnen vorgegangen? Welcher Teufel hat Ihre gesunden Sinne verwirrt?

Wissen Sie«, nahm er nach kurzem Schweigen wieder das Wort, »daß mir berichtet wurde, Sie hätten einer Zusammenkunft beigewohnt, in welcher der gefährlichste Kommunistenführer eine seiner berüchtigten Ansprachen hielt? Wissen Sie, daß schlechte Spötter behaupten, seine Beredsamkeit habe Sie zum Schwärmer gemacht?«

Nathanael ließ sich durch diese Anklage nicht außer Fassung bringen.

»Ein Schwärmer wäre ich«, entgegnete er, »wenn ich an die Verwirklichung der Utopien glaubte, für welche dieser ›Kommunistenführer‹, wie Sie ihn nennen, lebt und für die er sterben wird. Nun, nicht einmal unter dem Einfluß seiner Nähe, beim Wohllaut seines Wortes, unter den Blitzen seines Auges ist es mir auch nur durch den Sinn geflogen: Wer weiß? vielleicht doch! … Vielleicht vermag ein Beispiel wie das deine uns Selbstlosigkeit zu lehren und allgemeine Erfüllung der einfachsten Pflichten. O nein, nein! dazu kenne ich uns Menschen zu gut. Aber gedacht habe ich mir: Du wirst zu Boden geworfen, zertreten, ein Narr geheißen und – vergessen werden. Kaum gibt es in zehn Jahren noch einen unter allen, die du liebtest, der deinen Namen nennt. Trotzdem ist der mächtige Fürst, den die Neugier oder der Wunsch, sich populär zu machen, in deine Versammlung trieb, ein Bettler gegen dich. Reich bleibt ewig nur der Schenkende, und die Größe des Mannes mißt sich nach der seiner Idee und der Opfer, die er ihr bringt. Die deine hat das Maß überschritten, das sich in unserer kleinen Welt verwirklichen läßt. Ihre Größe macht sie zum Irrtum und dich zum Irrenden. So dachte ich – und ich, der Arzt, der eingefleischte Hasser und Verfolger alles Krankhaften, Überspannten, Wahnbefangenen, ich tat ein Gebet für ihn zu meinem Gott: Laß ihn sterben, umringt von allen Gebilden seiner Torheit, laß ihn ungeheilt sterben, o Herr!«

 

Dieses Gebet schien bald im vollkommensten Maße erhört. Die Erhebung war am Widerstand der Landbevölkerung gescheitert, das Korps, das die Insurgenten aufgebracht hatten, durch dreihundert Mann kaiserlicher Truppen und eine zehnfache Anzahl Bauern, die sich ihnen anschlossen, unter Benedeks energischer Führung bei Gdow geschlagen worden.

Von der erlittenen Niederlage erhielt die Revolutionsregierung in Krakau entstellte Kunde.

Die Freiheitshelden waren, so lautete sie, nicht durch reguläre Truppen, sondern durch fanatisierte Bauernhorden überwältigt worden, die, bis Wieliczka vorgedrungen, sich jetzt im Anmarsche auf die Stadt befanden.

Ein Schrei der Rache erhob sich und – verstummte vor der Beredsamkeit eines Mannes, der Schonung des verblendeten und irregeführten Volkes forderte und verlangte, ihm als Bekehrer entgegengesendet zu werden. Dieser Mann war Eduard Dembowski, und sein Wille geschah.

Vertrauend auf die Gewalt des Glaubens und seiner Beredsamkeit, verließ er Krakau, von Priestern im reichen Ornate, von Fahnen und Kreuze tragenden Mönchen begleitet. Eine große Menschenmasse folgte, dreißig Scharfschützen deckten den Zug. Er überschritt die Weichselbrücke und bewegte sich durch die Vorstadt Podgorze auf die Straße nach Wieliczka.

Sie lag still und öde – soweit das Auge reichte, keine Spur von herannahenden Bauernrotten. Von Podgorze aus jedoch eine Schreckenskunde, der Nachhut durch eilende Boten zugetragen. Sie durchlief den Zug wie ein Blitz: Österreichische Truppen marschieren gegen Podgorze.

Ein rascher Befehl seines Führers, und der Zug trat den Rückweg an, in der Hoffnung, die Stadt vor den Kaiserlichen zu erreichen und die Brücke noch gewinnen zu können.

Auf den Anhöhen rechts von Podgorze angelangt, konnte der Sendbote schon den Sturm auf die Stadt und das siegreiche Vordringen der Truppen überblicken.

Die Kaserne war genommen, die Kirche besetzt, die polnischen Schützen, aus den Häusern vertrieben, jagten in ungeordneter Flucht der Brücke zu.

Grimm und Schmerz erfüllten bei diesem Anblick die Seele des Emissärs.

»Vorwärts! Mit Gott vorwärts, wir schlagen uns durch, wir erreichen noch die Brücke. Mut!« rief er den zögernden Priestern zu. »Ihr habt nichts zu fürchten. Die man zum Sturme zwingt, folgen widerwillig. Es sind Galizier, sie schießen nicht auf ihre Landsleute, schießen nicht auf geweihte Priester!«

Er befahl, ein geistliches Lied anzustimmen, und in majestätischer Ordnung, langsam und feierlich, kam die Prozession die Anhöhe herab. Der Emissär schritt voran im Bauernkleide, sein heller Kaftan schimmerte in der anbrechenden Dämmerung, in der Hand hielt er ein kleines schwarzes Kreuz.

Ungehindert gelangte der Zug durch den noch unbesetzten Stadtteil bis zur Kirche. Hierher aber war schon eine Kompanie vorgedrungen, die den Weg zur Brücke versperrte.

Der Emissär machte halt.

»Seht eure Brüder!« sprach er die Soldaten an und deutete auf die Scharen, die ihm folgten. »Auch ihr seid Polen. Keinen Kampf, Brüder – gebt Raum!«

Schweigen antwortete ihm. Noch einmal begann er die Soldaten zu beschwören – da ertönte das Kommando: »Fällt das Bajonett.«

Mit einem Blick der Verzweiflung sah Dembowski sich um.

Die Geistlichen und Mönche waren zurückgewichen. Seine Getreuen jedoch und die Schützen drängten sich um ihn.

»Kein Ausweg… Schießt – und vorwärts!« rief er plötzlich mit wilder Entschlossenheit und drang auf die Soldaten ein.

Zwei Dechargen erwiderten den unerwarteten Angriff.

Nach der ersten sah man Dembowski noch aufrecht stehen, das Kreuz hoch über seinem Haupte schwingend. Nach der zweiten sank er, in den Kopf getroffen.

Rosenzweig erfuhr den Tod des Sendboten durch den Kreishauptmann, der seinen Bericht mit den Worten schloß: »So mußte ein Wahnsinniger enden.«

Die Prophezeiung Nathanaels traf ein, der idealste Vertreter der Revolution erfuhr den einstimmigen Tadel und Hohn aller Parteien, sein Andenken verlöschte auch bald im Volke.

Seine Leiche war unter denen der in Podgorze Gefallenen nicht aufgefunden worden, und eine Zeitlang erhielt sich das Gerücht, er sei nicht tot, er lebe versteckt als Bauer und werde beim Ausbruch neuer Freiheitskämpfe auf deren Schauplatz erscheinen.

Als jedoch die Stürme des Jahres 1848 aufstiegen und verbrausten, ohne ihn aus seiner vermeintlichen Verborgenheit gelockt zu haben, erlosch auch in denen, die sie am längsten genährt hatten, die Hoffnung auf seine Wiederkehr.

 

Es war zu Ende der fünfziger Jahre, an einem milden Septemberabend, in einem Dorfe unweit der schlesischen Grenze. Vor der Schenke hielt eine gedeckte Britschka, der ein Paar tüchtige Braune vorgespannt waren. Behaglich, ohne Eile, wie es guten Fressern geziemt, ließen sie sich den Inhalt einer vor ihnen aufgestellten Futterkrippe schmecken. Der Kutscher, ein ältlicher Mann, so wohlgenährt wie seine Pferde, hatte sich auf die Bank vor dem Hause gesetzt, dampfte aus einer kurzen Pfeife und machte sich ein Vergnügen daraus, die Fragen der hübschen Wirtsmagd mit einer schelmischen Zurückhaltung zu beantworten, die darauf abzielte, ihre durch die Ankunft völlig fremder Gäste ohnehin erregte Neugier noch zu spannen.

»Ihr fahrt wohl recht weit über Land?« fragte sie.

»Weiter, als du denken kannst«, erwiderte er.

»Vielleicht gar ins Ungarn hinein?«

»Pah! Das wäre ja nur ein Katzensprung!«

Das Mädchen stemmte den Arm in die Seite und lachte: »Die möcht ich sehen, die Katz, die so springen könnt!«

»Bei uns zu Haus gibt’s ihrer genug. Komm du nur hin, dann wirst sie sehen.«

»Ei, so was! … Aber wo ist denn Euer Zuhaus?«

»Wo?« Er deutete mit der Hand nach drei verschiedenen Richtungen: »Da – und da, und dort.«

»Geh weg, du spaßest.«

»Frag meinen Herrn, wenn du mir nicht glaubst.«

»Ja, just«, spottete sie, »fragen – so einen Herrn!«

»Fürcht’st dich?« Er zwinkerte sie verschmitzt an. – »Hast es schon weg, daß er ein Hexenmeister ist?«

Sie schlug rasch und verstohlen ein Kreuz: »So? Das hätt ich ihm nicht angesehen.«

»Ja, ein gar großer Hexenmeister. Macht die Kranken gesund, macht die Toten lebendig.«

»Die Toten? …« Das Mädchen schauerte.

»Die Halbtoten also. Zu so einem sind wir grad auf dem Weg.«

»Da kommt ihr ja zu spät, wenn ihr noch lange zu fahren habt.«

»Wir kommen nie zu spät. Der Herr sagt nur: Wart! – und der Tod wartet.«

»So? – Hat dein Herr auch eine Frau?«

»Eine Frau hat er nicht, aber mehr als hundert Kinder.«

»Was du sagst!« und wieder lachte sie hellaut auf.

Derjenige, der den Gegenstand dieses Gespräches bildete, war ein Greis von kräftiger Gestalt. Er trug eine Reisekappe und einen langen, auf der Brust leicht verschnürten Rock. Den unteren Teil des markigen, dunkelfarbigen Gesichtes bedeckte der Bart, weiß und dicht wie die Haare, und wallte, in zwei mächtige Strähne geteilt, fast bis zum Gürtel herab. Der Alte, die Hände auf dem Rücken, stand am jenseitigen Ufer des Teiches, der sich auf eines Steinwurfs Entfernung vom Wirtshaus befand und ein langgestrecktes Oval bildete, an dessen einem schmalen Ende knorrige, ganz schiefgewachsene Weiden ihre Zweige zu seinem trüben Spiegel niedersenkten, während das andere sich sanft gegen die ansteigende Dorfstraße verflachte.

Der Teich war alles in allem: Badeort für die Jugend, Waschanstalt für die Hausfrauen, See für das schwimmtüchtige Geflügel, Schwemme für die Pferde. Am Werktagabend ging es in seiner Umgebung lebendig zu. Große und kleine Knaben, barfüßig, die Hosen übers Knie gezogen, ritten ihre Pferde ins Wasser, bewundert und beneidet von den Kindern, die am Ufer standen oder saßen, die meisten als ziemlich lässige Hüter jüngerer Geschwister. Männer und Weiber kehrten vom Felde heim, und von weitem schon angekündigt durch die Töne eines schallenden Gesanges, kam eine Mädchenschar, Rechen und Sicheln tragend, ins Dorf gezogen.

Unter den am Teiche spielenden Kindern war eines, das die besondere Aufmerksamkeit des Fremden erregte. Ein Bürschlein von etwa sechs Jahren, mit sehr lieblichem, aber blassem Gesichtchen. Seine schlichten blonden Haare, im Nacken lang, über der Stirn gerade geschnitten, quollen reich unter dem Mützchen hervor. Er hatte tiefliegende, blaue Augen, eine schmale, leicht gebogene Nase und einen feinen, ausdrucksvollen Mund. Nach der Beschaffenheit seines Kaftans und seiner Stiefel zu schließen, gehörte er wohlhabenden Eltern an.

In der offenen Tür eines der nächstgelegenen Häuser war ein junges hübsches Weib mit einem Kind auf dem Arm erschienen und rief dem Knaben zu: »Jasiu, der Vater kommt.«

Da machte das Bübchen einen Luftsprung, ließ seine Spielgefährten und rannte dem Angekündigten entgegen. Der blieb stehen, beugte sich und lachte, als sein Junge in vollem Laufe an ihn anprallte. Er rückte ihm die verschobene Mütze zurecht, nahm seine Hand und schritt mit ihm weiter.

Es war ergötzlich, sie daherkommen zu sehen, den Bauern und das Bäuerlein, das zweite in Haltung, Gang, Gestalt und Kleidung das verkleinerte Ebenbild des ersten.

Sie näherten sich, und der Fremde bemerkte auf dem Gesicht des Bauers die entstellenden Spuren einer schweren Verwundung. Die rechte Wange war eingefallen und von Narben zerrissen, das rechte Auge geschlossen.

Auch ein Veteran der letzten Kämpfe, dachte der Greis und heftete den Blick immer aufmerksamer auf den Herankommenden. Ein märchenhaft wunderlicher Einfall durchzuckte ihn. Plötzlich machte er ein paar rasche Schritte, stand dicht vor dem Bauer, starrte ihn an und rief: »Ist es möglich?!«

Überrascht wich jener zurück, aber nur, um schon im nächsten Augenblick auf ihn zuzustürzen.

»Sie! O Gott, Sie – Doktor Rosenzweig!« sagte er mit einer Stimme, deren Wohllaut unvergessen in der Erinnerung des Alten gelebt hatte. Früher als dieser gewann er seine Fassung wieder: »So habe ich Sie nicht umsonst erwartet, nicht vergeblich gehofft, daß Sie auf einem Ihrer Samariterzüge den Weg durch unser Dorf nehmen würden, um –« fügte er mit Rücksicht auf das Publikum, das sie umgab, hinzu – »Ihren Diener Hawryl zu besuchen.«

»Hawryl –« stammelte Rosenzweig, »Hawryl also… Wie geht’s, Hawryl?«

»Überzeugen Sie sich selbst. Erweisen Sie mir die Ehre, in mein Haus einzutreten, ruhen Sie ein wenig aus unter meinem Dache.«

Schweigend, noch ganz betäubt, folgte der Doktor dieser Einladung und ließ sich zu dem Hause geleiten, auf dessen Schwelle die junge Frau stehengeblieben war und sich bemühte, das kräftige Kind in ihren Armen, das dem Vater jauchzend und mit ausgestreckten Händchen entgegenstrebte, festzuhalten.

»Mein liebes Weib, Herr Doktor«, sprach Hawryl, und zu ihr gewandt: »Heiße ihn willkommen, Magdusia, einen werteren Gast kann uns der Himmel nicht schicken.«

Ihr Gesicht spiegelte die Freude, die sich auf dem ihres Mannes malte, rein und innig wider: »Seien Sie schön gegrüßt, Herr«, sagte sie und lachte ihn mit ihren großen Augen treuherzig an.

Nathanael war wie im Traum. Erst in der Stube, allein mit Hawryl, begann er sich von seinem Staunen zu erholen: »Sie leben! – Mensch, Sie leben! Ist das auch wahr, daß Sie leben? Aber wenn es wahr ist, so stehen Sie doch nicht so gleichgültig da –«

»Gleichgültig?« rief Hawryl.

»So reichen Sie mir doch die Hand!«

Zum zweitenmal hielt er sie in der seinen – eine andere als damals, eine derb gewordene Hand, deren Besitzer den Bauer nicht nur spielte.

Sie nahmen Platz am Tische, der mitten in der freundlichen Stube stand, und lange dauerte es, bevor Hawryl, immer von neuem durch die verwunderten Ausrufungen des Doktors unterbrochen, die seltsame und doch so einfache Geschichte seiner Rettung erzählen konnte.

Zunächst schrieb er diese der Kleidung zu, die er trug, als er bei der Kirche in Podgorze verwundet wurde und für tot liegenblieb. Er war, da sich noch Leben in ihm fand, mit andern Landleuten und Soldaten ins Spital nach Krakau gebracht worden. Dort hatte er das Bewußtsein wiedererlangt, bald aber auch die Überzeugung, daß der Arzt, der ihn behandelte, ihn keineswegs für einen Bauer hielt. Später verrieten ihm einige wie absichtslos hingeworfene Worte desselben, daß er von ihm als der erkannt worden, der er war.

Am Tage, an dem man ihn für geheilt erklärte, kam der Direktor, ein Pole – man hatte die Spitalsleitung noch nicht gewechselt –, in die Rekonvaleszentenstube.

Der Agitator sah diesen Mann damals zum ersten und letzten Mal in seinem Leben.

»Du heißest Hawryl Koska«, sagte er zu ihm, »bist ein aus dem Königreiche zugereister Untertan des Grafen Branski, der dich nach seiner galizischen Herrschaft, auf ein Bauerngut, übersiedelt. So lese ich in deinem Passe. Ist das richtig?«

Und ohne seine Antwort abzuwarten, reichte er ihm einen auf den Namen Hawryl Koska lautenden, mit einer auf ihn passenden Personalbeschreibung versehenen Paß, wandte sich an seinen Nachbar und ließ den Umgetauften stehen. – –

»In der verworrensten Gemütsstimmung, Freund«, rief Hawryl, »in der ein Mensch sich befinden kann. Ich hatte zuversichtlich erwartet, nach meiner Genesung vor Gericht gebracht und als einer der Unruhstifter erschossen zu werden, und mich auf den Tod vorbereitet wie ein gläubiger Christ. Und nun sollte ich leben. – Mein erstes Gefühl war das der Enttäuschung, mein erster Gedanke schon ein Gedanke des Hochmuts: Gott spart dich auf. Er will nicht deinen Tod, er will deinen Dienst. Das Werk, das zu beginnen du ausersehen warst, du sollst es auch vollenden…

Von dem stolzen Glauben erfüllt, trat ich ins Volk und wurde sein Genosse; scheinbar ein Gleicher unter Gleichen, in meinen eigenen, eitlen Augen – ein verkleideter Prophet… O Freund! ein einziges Jahr dieses Lebens, und der vermeinte Prophet war ein demütiger Mann geworden. Das für erreichbar gehaltene Ziel rückte in unabsehbare Fernen. Zu der Kirche, die ich mit einer herrlichen Kuppel krönen wollte, war der Grundstein noch nicht gelegt, ja, der Boden für ihn noch nicht ausgehoben! Nicht die Arbeit des Künstlers war zu tun, sondern die des bescheidenen Taglöhners.

Das erkannte ich.

Und nun – wäre ich nicht ein elender Wortheld gewesen, wenn ich es verschmäht hätte, mich an dieser Arbeit, dieser allerwichtigsten, zu beteiligen? … So griff ich denn zu Schaufel und Spaten – nicht bloß im bildlichen Sinn. Das Kruzifix, in dessen Zeichen ich dereinst zum Kampfe schritt – da hängt es über dem Bette meiner Kinder. O sehen Sie die ausgebreiteten Arme der Liebe, die verwundete Brust, das geneigte, edelste Haupt… Wer darf sich vermessen, in dieses Versöhners Namen aufzurufen zu Kampf und Streit?«

Er seufzte, aber sein Angesicht bewahrte den Ausdruck tiefsten, klarsten Friedens, und mit einem heitern Lächeln fuhr er fort: »So finden Sie den gefährlichen Agitator wieder. Ach, wenn ich an meinen Ausgang denke, an alles, was ich gehofft, was ich mir zugetraut habe – und jetzt! Vergnügt lege ich mich zur Ruhe und preise den Tag, an dem es mir gelungen ist, den an abzuhalten, sein Weib zu prügeln, oder den Martin, in die Schenke zu gehen, oder den Basil dahinzubringen, seinen alten Pflug in den Winkel zu werfen und mit dem neuen auf den Acker zu fahren.«

»Ihr Geheimnis aber«, fragte Nathanael, den Gang des Gespräches unterbrechend, »war das nie in Gefahr, verraten zu werden?«

»Der vorige Gutsherr hat es mit ins Grab genommen. Für einen Nachfolger bin ich ein Bauer wie ein anderer.«

»– Ein Bauer! Ein Bauer! … Und so wollen Sie es forttreiben bis an Ihr Ende?«

»Bis an mein Ende und nicht glauben, damit etwas Großes getan, vielleicht kaum denen, mit welchen ich verkehre, mehr gegeben zu haben, als ich von ihnen empfing. Ich bin keineswegs immer ihr Lehrer, sie sind auch die meinen. In ihre Freuden mich zu teilen, vermag ich nicht, aber in Leid und Schmerz habe ich sie oft gefunden. Ich habe Bauern vor ihrem verhagelten Feld, ich habe Mütter an der Leiche ihrer Kinder stehen gesehen und Ehrfurcht gefühlt. Selten ist mir einer von ihnen verachtungswürdig erschienen, aber Hunderte unzählige Male beklagenswert.«

In seinem Auge leuchtete die alte schwärmerische Glut, seine gebräunten Wangen erbleichten vor innerer Bewegung: »Es ist ein Schatz an Geduld, Ausdauer, heldenmütiger Ergebung in einen höheren Willen in diesem Volke, den alle Mißhandlung, die es erfahren hat, nicht zu erschöpfen vermochte. Aber seines Reichtums unbewußt, streut es ihn aus und erwirbt nichts dazu. Die Einsicht fehlt und mit ihr das Wirken der tätigen, sittlichen Kräfte. Genug! Genug! das alles wissen Sie so gut wie ich, und somit auch, daß es vieles nicht Geringe zu tun gibt auf meinem geringen Posten. Ihn auszufüllen, reicht mein Können gerade hin. Hawryl Koska wird nicht umsonst gelebt haben. – Der Sendbote ist gestorben, ohne einen Jünger zu hinterlassen.«

»Einen doch!« rief Nathanael. »Einen, den Sie aus den Reihen Ihrer eifrigsten Gegner geholt. Einen Mann, dessen Zwecke irdischer Natur gewesen, dessen Herz an verlierbaren Gütern gehangen und den Sie den Wert der unverlierbaren kennen gelehrt haben. Sendbote! da steht er vor Ihnen, Ihr Jünger in weißen Haaren.«

Beide waren zugleich aufgesprungen, stürzten einander an die Brust und hielten sich fest umschlungen.

Der Herr Hofrat

»Ach, wenn Sie jetzt Ihre Manschetten ansehen wollten«, seufzte Frau Riesel, als der Hofrat die frischgedruckte Zeitung, die vor ihm auf dem Tische lag, mit beiden Händen glattgestrichen hatte.

Der Hofrat sah seine Manschetten nicht an; der kleine, hagere, etwas leberleidende Herr schnalzte ungeduldig mit der Zunge und murmelte einige für seine Hausdame sehr unverbindliche Worte.

Sie setzte sich still darüber hinaus. Das gelang ihr mit einem einzigen Schwung, und sie war dann moralisch so hoch placiert, daß keine Beleidigung sie zu erreichen vermochte.

Ihr Schweigen verdroß ihn: »Aha, Sie thronen schon wieder.«

»Das fällt mir nicht ein. Wie käme ich dazu?« Und sie hob einen Augenblick den Kopf, streckte den junonisch starken Hals, und die breite, hochgewölbte Büste trat majestätisch hervor. Dann stopfte sie ruhig und kunstvoll weiter an dem feinen Taschentuche des Hofrats, in das er gestern ein Loch gebrannt, als er ein noch glimmendes Zündhölzchen darauffallen ließ.

So vertieft in ihre Arbeit sie schien, entging der Augenblick ihr nicht, in dem der Gebieter seine zweite Tasse Kaffee geleert hatte, eine dritte eingegossen und die türkische Pfeife ihm gereicht werden mußte.

Alles das geschah; dann nahm Frau Riesel die Zeitung zur Hand und begann vorzulesen.

Sie saß an der schmalen Seite des länglichen Tisches, mit dem Rücken gegen das Fenster, auf einem Lehnsessel, der die Form eines ausgehöhlten halben Apfels hatte und den sie ganz ausfüllte. Da sie die Zeitung mit beiden Händen vor sich hinhielt, konnte der kleine Hofrat von seinem Platze mitten auf dem langen Kanapee an der Breitseite des Tisches aus nur ihre Ärmel wahrnehmen. Er widmete ihnen eine scharfe und mißgünstige Aufmerksamkeit. Aha! schwarze Wollbluse heute. Aha! Aha! tiefe Trauer – Sterbetag heute irgendeines Mitglieds der Familie Riesel.

Er wünschte die unangenehme Ungewißheit in eine noch unangenehmere Gewißheit zu verwandeln und kam auf Umwegen an sie heran.

»Sie waren in der Kirche – was?«

»Ja, Herr Hofrat, um sechs Uhr früh.«

»Bei dem Wetter. Es schneit und stürmt. Sie werden sich mit Ihren Laufereien in alle Kirchen einen Schnupfen abholen, und wenn Sie einen Schnupfen haben, dürfen Sie mir nicht in die Nähe«, sagte der Hofrat, der meistens den ganzen Winter hindurch an der gefürchteten Krankheit litt und dessen feines Näschen eben wieder von einer zarten Blauröte angehaucht war.

»Ich habe nie Schnupfen, Herr Hofrat«, sprach Frau Riesel gelassen.

Er überhörte den Einwand und kam auf den Kirchengang zurück, den er als unnötig bezeichnete.

»Nicht doch. Ich habe einer bestellten heiligen Messe beigewohnt.«

»So, so, so. Erinnerungsfeier; Sterbetag des seligen Gemahls?« »Nein, Herr Hofrat. Sterbetag meines Sohnes.«

Der Hofrat knirschte in sich hinein: Ihres Sohnes. Acht Tage hat dieses Lebewesen sein armseliges Dasein gefristet, und sie besaß die Selbstüberhebung, von einem Sohne zu sprechen.

Da begann er denn Betrachtungen über den Zeitpunkt anzustellen, in dem man anfangen könne, ein Kind männlichen Geschlechts einen Sohn zu nennen, und fuhr in dieser Gedankengymnastik so lange fort, bis Frau Riesel fragte: »Darf ich weiterlesen, Herr Hofrat?«

Er schämte sich ein wenig und sagte: »Ich bitte.«

 

Den Schauplatz dieser Begebenheit bildete ein geräumiges Zimmer im zweiten Stock eines alten Hauses im Herzen Wiens. Noch eines von den lieben, guten, schönen mit dicken Mauern, gehörigen Fenstervertiefungen, schweren Doppeltüren, hohen Zimmern, ein famoses Haus, in dem niemand »Helf Gott!« zu sagen brauchte, wenn der Wandnachbar nieste.

Seinem gediegenen Charakter entsprach die Wohnung des Herrn Hofrats Hügel und deren Einrichtung im reinsten Biedermeierstil. Da gab es nicht ein beim Antiquar gekauftes Stück; Schränke, Tische, Konsolen, Sofas, Sessel und Stühle waren Familienerbe und verkündeten den Ruhm ihrer Verfertiger sowie die Ordnungsliebe und den Schönheitssinn ihrer Benützer und Erhalter.

Wenn Frau Riesel ihr Wischtuch über die Hochpolitur des hellen, gefladerten Holzwerks mit den feinen Mahagoni-Intarsien gleiten ließ, meinte sie sich sanft gestreichelt zu fühlen von zarten, unsichtbaren Händen, die durch Generationen des Amtes, das sie jetzt versah, gewaltet hatten und ihr für die Sorgfalt dankten, mit der sie ihr Werk fortsetzte.

Kamilla Riesel war in diesen Räumen gelandet wie in einem Friedensport nach schweren, drangvollen Zeiten, die ihrer sehr glücklichen Jugend folgten: dem Zusammenbruch des angesehenen Kaufmannshauses, dem sie entstammte, dem Tode ihrer Eltern, nur zu bald darauf auch des geliebten Gatten, und dann das immer näher heranschleichende, häßliche, ganz gemeine Elend. Umsonst das Gebet ums tägliche Brot, um die Möglichkeit, es zu erwerben.

Wenn es nicht Sünde wäre, von einem Schicksal zu reden statt von Gottes Fügungen, Frau Riesel hätte gesagt: Das Schicksal hat sich über mich gestürzt wie ein Geier über eine Taube und mich Stück für Stück zerrissen. Aber sie sagte es nicht, sie sprach überhaupt wenig und von ihrer Vergangenheit nie.

Um so mehr dachte sie daran und auch mit einem aus Dankbarkeit und nachträglich noch leiser Beschämung gemischten Gefühl des Augenblicks, in dem die Wendung ihrer kläglichen Lebenslage sich vollzog.

Vor acht Jahren war’s, an einem frostigen Winternachmittage. Sie hatte den Erlös einer kleinen Bestellung aus einem Weißwarenlager in der Mariahilfer Straße abgeholt und dabei erfahren, daß ein neuer Auftrag nicht in Aussicht genommen sei. Mit stummem Kopfnicken, ohne etwas von ihrer Bestürzung zu verraten, verließ sie den Laden, aber der Schlag war zu hart und unerwartet gewesen, und sie blieb wie betäubt eine Weile auf der Straße stehen. Was tun? Zurückkehren in ihr armseliges Heim – wie lang noch das ihre? der jämmerliche Unterschlupf war ihr ja schon gekündigt worden – oder auf der Suche nach Arbeit neue, gewiß vergebliche Wege machen?

Sie stand mitten auf dem Trottoir, wurde von den Passanten unwillig zur Seite gestoßen, bemerkte es nicht, stand und sann und blickte starr vor sich hin und blickte plötzlich in ein Paar blaue, gütige Augen, die sich auf sie gerichtet hatten, sie voll mitleidiger Überraschung anstaunten und fragten: Bist du’s?

Es waren die lichtblauen Augen der Frau Rosa Hügel, einer ehemaligen guten Bekannten, einer von den vielen, denen Kamilla Riesel, seitdem sie ins Elend geraten war, ängstlich aus dem Wege ging. O Gott, nur keine Begegnung mit ihnen, die in Tagen des Wohlstandes ihren Verkehr gebildet, zu ihr emporgeschaut, sie oft beneidet hatten. Erschrocken wollte sie sich abwenden, aber die kleine Dame hatte sich die Frage: Bist du’s? schon beantwortet. Sie war’s. In einer Armut, die sich nicht verhehlen ließ. Dieses Sommerkleid im Winter, diese Mantille von anno eins mit den scharf gewordenen weißlichen Falten und der Hut, die Handschuhe … Großer Gott, was für ein Hut, was für Handschuhe! Aus all dem sprach das Elend.

Ja, ja, man hatte gehört: Die armen Riesels sind zugrunde gegangen; schuldlos, ohne Schaden für andre. Sehr traurig, sehr. Aber sie hatten niemand mit Ansprüchen behelligt. Vielleicht geht es ihnen gar nicht so schlecht. O des gedankenlosen Gewäsches … Nun sah Rosa, wie es der ehemaligen Freundin erging. Freundin wurde sie in dem Augenblick von ihr genannt, die im Bettlerkleide, aber in ihrer alten würdevollen Haltung vor ihr stand. Niedergekniet vor ihr wäre die impulsive Frau, wenn das auf offener Straße sich halbwegs geschickt hätte. Da sie aber nicht gleich etwas tun konnte, begann sie wenigstens sehr viel zu reden und rief, Frau Riesels Hand ergreifend: »Kamilla, muß man auf einen Zufall warten, um dich endlich zu erwischen? Was treibst du? Gehst den besten Freunden aus dem Wege, alle beklagen sich …«

Sie schwatzte, sie log, flunkerte der ins Unglück Geratenen allerlei vor von einer Teilnahme, die es weit und breit nicht gab; sie wollte die Wiedergefundene nach Hause oder – als sie die Bestürzung bemerkte, die dieser Vorschlag erweckte – wenigstens bis an ihre Tür begleiten.

 

Rosa Hügel war eine gut erhaltene Blondine von fünfzig Jahren. Ihre kleine, aber einst berühmt schöne Gestalt hatte eine leichte Neigung nach rechts angenommen und ihre Schlankheit, nicht aber ihre Beweglichkeit eingebüßt, eine stimmungsvolle, harmonische Beweglichkeit. Alles war rund an dieser Frau, ihre Frisur, ihr Kopf, jeder Teil ihres Gesichtes, die spielenden Gebärden der in zu enge Handschuhe gepreßten Kinderhände. Gewiß waren auch ihre Empfindungen ohne Kanten und Schärfen und ihr inneres wie ihr äußeres Wesen auf dem Wege zur Kugelform, die Fechner seinen Planetenengeln verleiht.

Sie erzählte auch von sich, von ihrem Manne, einem allgemein hochgeschätzten Ministerialbeamten, von ihren Kindern und kam endlich auf den Vetter Hofrat, der in Pension getreten sei. Kaum aber hatte sie den genannt, als sie plötzlich innehielt. Ein Einfall war ihr durch den Kopf geschwirrt, kam als guter, hilfreicher Gedanke wieder, erfreute und beglückte sie. Ihre freundlichen Augen glänzten.

»Kamilla, nein, ja – ich sage dir, es ist kein Zufall, was uns da zusammenführt, es ist ein gnädiger Wink des Himmels.«

Und nun kam in stürzenden Wortwellen eine lange Geschichte herangeflutet. Der Vetter Hofrat befand sich einmal wieder – ach, es war sein gewöhnlicher Zustand! – in größter Verlegenheit. Sein Hauswesen brauchte dringend und augenblicklich eine Lenkerin. Mit der vorvorigen war es nicht gegangen und mit der vorigen schon gar nicht. Nun sollte Kusine Rosa eine der schwierigen Stellung gewachsene Persönlichkeit auffinden und ging schon seit drei Tagen vergeblich auf Entdeckungen aus … Ja, wenn Kamilla sich entschließen könnte, wollte – sie freilich, sie wäre auf diesem Posten das Ideal, von dem der Vetter und die Familie träumten … Sie, mit ihrem Charakter, ihrer Erscheinung, ihrem Verstand, ja, wenn sie den Posten annehmen wollte!

»Warum nicht?« fragte Kamilla, vor der die Hoffnung auf Erlösung aus dem Elend wie Morgenröte aufzusteigen begann.

»Also du wolltest?« – Das kam ganz leise heraus … Rosa war auf einmal sehr verlegen geworden, besann sich, stotterte: »Es ist nur die – es ist nur das … Du wirst es nicht aushalten!« stieß sie mit einem schrillen Aufseufzen hervor.

Kamilla reckte sich stolz und steif in die Höhe: »Ist er unmoralisch?«

»O nein, davon keine Rede. Was das betrifft, ein Seraph. Aber wunderlich und, ach! so schwer zu behandeln … Charmant nur beim Kartenspiel, das ja – aber man kann nicht den ganzen Tag Karten spielen … Mein armer Vetter hatte von Natur ein unangenehmes Wesen, und das hat sich schauderhaft ausgebildet in seiner langen unglücklichen Ehe.« Sie besann sich eine Weile, seufzte mehrere Male und fuhr in hastigen, abgebrochenen Sätzen fort: »Die Frau – wohl ihr! – starb, aber seine Unausstehlichkeit lebt fort und verbreitet sich jetzt über seine ganze Umgebung. Ach, daß ich dir das alles verrate – weil ich so ehrlich bin … und weil du es ohnehin merken würdest. Kamilla, wenn du dich entschließen könntest … du ahnst nicht, was uns daran läge, den alten Herrn in guten Händen zu wissen! – Er kann so leicht in schlechte geraten, in die einer Intrigantin, die ihn der Familie – ach, er hat ohnehin kein Herz für uns! – völlig entfremdet, ihn ausbeutet, die er am Ende – alte Herren sind unberechenbar –, wenn sie leidlich hübsch ist …«

Sie stockte und wurde rot bis an die Haarwurzeln … Sie war zu weit gegangen in den Ausbrüchen ihres maßlosen Vertrauens auf die Verläßlichkeit der Hausdame ihrer Wahl … Ihr »leidlich hübsch« brannte ihr auf der Zunge.

Kamilla sah ihre Bestürzung und lächelte sie ruhig und beruhigend an. Eine Vielgeprüfte wie ich ist unempfindlich für eine kleine Verletzung der Eitelkeit, sagte dieses Lächeln so deutlich, daß Rosa, tief ergriffen, nur noch Gemütsbewegung war. Ihre kleinen Hände falteten sich, und von ihren Lippen sprudelten beredsame Worte, mit denen sie die Freundin beschwor, die ihr dargebotene Stellung anzunehmen.

 

Am nächsten Tage schon hatte Kamilla ihr Amt angetreten und versah es nun seit acht Jahren mit Weisheit, heldenmütiger Geduld und Selbstaufopferung. Ihr Stolz bildete den Panzer, an dem die erfinderischen Bosheiten des Gebieters abprallten. Sie hätte Demütigungen in Gegenwart andrer nicht ertragen; aber der Hofrat war ein Gewohnheitsmensch, der seine Stunden genau einhielt. Auch die, in denen er seine Widerwärtigkeit ihre giftigen Blüten treiben ließ. Zum Glück für Frau Riesel die Morgenstunden. Die Nörgeleien, denen sie fortwährend ausgesetzt war, hatten keine Zeugen und konnten ihr wohlverwahrtes Geheimnis bleiben.

Das Leben im Hause verfloß so einförmig, daß man das regelmäßige Ticken der Zeitenuhr zu vernehmen meinte. Im Winter in Wien, im Sommer in der Villa in Mödling blieb die Tageseinteilung unverrückbar gleich. Nur daß der Hofrat die Morgenstunden je nach der Jahreszeit der Pflege seiner Rosen oder seiner vielgerühmten Sammlung alter kostbarer Münzen, Ringe, Emails widmete. Am Vormittage unternahm er einen Spaziergang bei gutem, eine Spazierfahrt bei schlechtem Wetter. Er bekam auch einige Besuche, die er nie erwiderte und selten empfing, wenn es nicht Antiquare, besondere Kunstkenner oder Verwandte waren, die sich melden ließen. Nachmittags rauchte der Hofrat wieder eine türkische Pfeife; Kamilla brachte die Abendblätter und hatte pflichtschuldigst zu fragen: »Darf ich vorlesen?«

Er machte über ihr Organ, ihre Vortragsweise einige kritische Bemerkungen und lehnte ab. Die stille und sogar freudige Dulderin schritt von dannen, um ihren Posten im Nebenzimmer zu beziehen. Ihre Aufgabe war, jede Störung des Nachmittagsschläfchens zu verhüten, dem sich der Gebieter nun überließ, eines Schläfchens, von dem jeder wußte und niemand etwas ahnen durfte.

Den Schluß des Tages bildete die Tarockpartie. Drei, wie der Hofrat sagte, »sogenannte« Freunde fanden sich dazu ein: ein pensionierter Major von der Infanterie, ein Großindustrieller und ein Professor der Botanik.

Der Major zählte sechzig Jahre, lebte in behaglichen Verhältnissen und verehrte Frau Riesel im stillen. Er hatte eine stattliche Gestalt, ein großes, schönes Gesicht, graue, glatt gescheitelte Haare. Sein Schnurrbart und sein Backenbart zeigten noch einige Reste von Blondheit. Er verfügte über einen großen Vorrat von Anekdoten, die er gern zu Ende erzählt hätte, wenn er nicht durch sein eigenes Gelächter oder durch eine bissige Bemerkung des Hofrats daran gehindert worden wäre.

Der Großindustrielle war etwas älter, ein hochgewachsener Mann mit langem, schmalem Halse, spärlichem Haarwuchs, sorgfältig gewaschen und rasiert, aber nachlässig gekleidet. Seine Geschäfte führte er genial, vergrößerte alljährlich sein Vermögen, verschenkte ohne Herzbrechen eine Tausendkronennote, konnte aber den Verlust einiger Kronen beim Spiele nur sehr schwer verwinden und bekam so, ohne ihn zu verdienen, den Ruf, geizig zu sein.

Der Professor gehörte zu den Autoritäten in seinem Fache, war der Älteste von der ganzen Gesellschaft, klein und dick. Er hatte einen breit gewölbten Kopf, eine von grauen, noch dichten Haaren umgrenzte Glatze und freundliche braune Augen, die einen zärtlichen Ausdruck annahmen, wenn sie sich auf Frau Riesel richteten. Von Zeit zu Zeit brachte er ihr wissenschaftliche Bücher und erhielt sie nach einigen Tagen, sorgfältig eingehüllt, zurückgesandt. Auf ein Urteil über das Gelesene ließ sie sich nicht ein, sondern sagte nur, wenn er danach fragte, mit ernster und bedeutender Miene: »Ein äußerst lehrreiches und interessantes Werk.« Und das freute ihn.

Die drei Herren, in allem übrigen ganz verschieden, hatten doch eine ausgesprochene Ähnlichkeit: jeder von ihnen war ein berühmt unangenehmer Spieler, und ihre Streitigkeiten bildeten für den Hofrat die Würze der Abendunterhaltung. Schlag neun Uhr trat Frau Riesel in den Salon, gefolgt von einem Diener, der das Souper auftrug. Es bestand aus feinster kalter Küche, bayerischem Bier, französischen Weinen. Die Herren kamen vom Spieltische herüber, und die Gäste machten der Mahlzeit Ehre und der Frau Kamilla Komplimente, was ihr unangenehm war und den Hofrat verdroß. Sie entschwand leise, wie sie gekommen war, sobald ihre hausmütterlichen Pflichten es ihr erlaubten. Der Tarockkrieg wurde fortgesetzt und endete gewöhnlich mit einem faulen Frieden, die Kämpfer trennten sich in brennender Erwartung neuer Gefechte. Doch kam es auch vor, daß einer der Gastfreunde, den ganzen Abend hindurch vom Unglück gar zu hartnäckig verfolgt, von den Neckereien der Spielgefährten gar zu tief verletzt, beim Fortgehen sagte: »Tut mir leid, kann morgen nicht kommen; bin verhindert.« Gleich darauf fiel den beiden andern ein, daß sie nicht nur morgen, sondern überhaupt nicht so bald wiederkommen könnten. Der Hausherr gab äußerst spöttisch sein Bedauern kund, und die drei gingen schweigend die Treppe hinab und entfernten sich vor dem Hause nach verschiedenen Richtungen.

Am nächsten Morgen teilte der Hofrat seiner Hausdame den Vorfall mit.

»Glauben Sie, daß die alten Esel heute kommen werden?« fragte er.

Gewöhnlich erwiderte Kamilla: »Heute nicht, morgen aber gewiß.« Einmal jedoch hatte sie eine Anwandlung von Renitenz und sagte in beinahe tadelndem Tone: »Die alten Esel? Wen meinen der Herr Hofrat?«

Er fuhr in die Höhe: »Oh, jammervoll, höchst jammervoll, ich habe Sie ins Herz getroffen! Ihre Courmacher meine ich.«

»Verzeihung. Ich konnte mir unmöglich vorstellen, daß Sie von Wesen sprechen, die es nicht gibt.«

»Hoho … Hat Ihnen der Major nicht gestern wieder die Anekdote von Adalbert Pointner, dem dümmsten Mann im Regimente und wahrscheinlich in der Armee, erzählt?«

»Erzählen wollen. Ich habe das Ende dieser Anekdote noch nie gehört, weil Sie den Herrn Major immer unterbrechen.«

Der Hofrat machte abwehrende Bewegungen mit der Hand, als ob er den Einwand hinwegwinken wollte: »Und der Gelehrte hat Ihnen wieder geistige Nahrung gebracht. Was denn?«

»Die Synopsis der Botanik von Leunis.«

»Hahahaha! Synopsis! – ich wette, daß Sie nicht ahnen, was das heißt.«

»Es heißt Übersicht, Abriß, kurzer Begriff einer Wissenschaft.«

»Mein Kompliment zu Ihrer Gelehrsamkeit. Haben Sie noch gestern oder erst heute im Heyse nachgeschlagen?«

Frau Riesel errötete und schwieg. Nein, in Streitigkeiten mit ihm konnte sie sich nicht einlassen, er war zu stark.

 

Wenn es keine Spielpartie gab, fuhr der Hofrat ins Theater. Kamilla sah das nicht gern, denn von dort kam er nicht nur verdrießlich, sondern betrübt und in seinen besten Gefühlen schmerzlich verletzt heim. Voll sittlicher Entrüstung aus den kleinen, voll ästhetischer Entrüstung aus den großen Theatern. Er brach in Klagen aus über alles, was er gesehen, und auch über alles, was er nicht gesehen, von dem er nur gehört und gelesen hatte: »Vorbei, vorbei! Das Theater als Kunstgenuß, als Bildungsstätte für Hohe und Geringe ist tot. Es gibt Tragödien, aber keine Tragödie mehr, kein Drama, nur noch Schauspieler. Das Sprachrohr ist Stimme geworden, das heißt, es hält sich dafür, die untergeordnete Kunst bläst sich auf, bläst den Geist der höheren hinweg, um einen Mienen-, Gesten- oder Sprechknalleffekt hervorzubringen … Und das Publikum, dem Untergeordneten immer näher als dem Hohen, jauchzt den Histrionen zu. Das Publikum, eine Handvoll Masse – ›Die Massen sind das Unglück!‹ sagt Emerson … Ich aber bin nicht Publikum, bin ich und will mich an meinen Dichtern erbauen, sie mir nicht in den Hintergrund drängen lassen durch die Gaukeleien der Interpreten. Aus der Tragödie ist die Dichtung hinweggefegt, aus der Oper die Musik. Dafür gibt’s Lärm, je wüster, je lieber … O Publikum, das entzückt dem Lärm zuhört und aus denselben Leuten besteht, die vom Recht auf Stille in der Großstadt deklamieren. In der Großstadt! Zum Kuckuck! Setz dich nicht in den Bienenkorb, wenn du nicht summen hören kannst. Lug und Trug und Pflanz und Heuchelei! Wer moderne Musik verträgt, wird auch das Getöse der Arbeit, die zum größten Teile für ihn verrichtet wird, vertragen können.«

Der Hofrat wetterte vernünftig und unvernünftig, kam vom Hundertsten ins Tausendste, von den Theatern auf die Politik, die Landwirtschaft, die Parteien, die Zeitungen, die zynische, affektierte, perverse Literatur, verachtete und verfluchte die Moden. Die Chinesinnen verunstalten nur ihre Füße, die heutigen Frauen ihren ganzen Körper.

»Wie kann der Nachwuchs aussehen, der aus diesen aufgedonnerten Hampelpuppen hervorgeht?« fragte der Hofrat in atemraubender Erregung. »Sie wissen es nicht? Nun, ich sage Ihnen: verkümmert und verkrüppelt. Man wird das Militärmaß heruntersetzen müssen, es wird lauter krummbeinige Leutnants geben und keinen Schwadronskommandanten ohne Buckel!«

Frau Riesel raffte sich endlich zu einem Einwand auf: »Ach, Herr Hofrat, die Moden wechseln heutzutage so schnell.«

»Was schnell! Die Rasse hat schon ihren Text, einige Jahrgänge sind schon hin.«

Immer hitziger redete er sich in den Jammer hinein, prophezeite den Untergang der Zivilisation, dem ganz Europa entgegenginge und dem sein Vaterland, sein abgöttisch geliebtes, mit Riesenschritten entgegenstürmte. Er beschimpfte, verurteilte es und zerriß dabei sein eigenes Herz.

Am nächsten Tage sah er dann ganz elend, klein, gelb und mager aus. Kamilla empfand ein schmerzliches Mitleid, und drei Briefe wurden geheimnisvoll abgesandt. Sie waren an die Freunde gerichtet und enthielten in zierlich gedrechseltem Stile, nur durch die Ansprache verschieden, unter strengster Diskretion, sowohl den beiden andern Herren als dem Herrn Hofrat gegenüber, die Bitte, sich heute ganz gewiß zur Partie einzufinden.

Frau Riesels Bitte war immer erfüllt und ihr Vertrauen nie getäuscht worden.

 

Der Sommer war da, der Hofrat residierte in seiner Villa, und die drei Freunde hatten ihre Wohnung in Mödling bezogen. Seit Jahren schon verließen sie zugleich mit ihm die Stadt; auch sie waren nach und nach Gewohnheitsmenschen geworden und konnten ihre an Kämpfen reiche Tarockpartie nicht mehr entbehren.

Eines besonders heißen Julimorgens begab es sich, daß Kamilla in ihrer bedingungsweisen Seelenruhe durch die Ankunft einer Botschaft gestört wurde. Frau Hügel – nun schon Frau Sektionsrat Hügel – telegraphierte aus Wien: »Um Gottes willen komm, muß dich sprechen, nichts sagen dem Onkel.«

Äußerst beunruhigt eilte sie sofort nach dem Bahnhofe, traf eine Stunde später bei der Freundin ein und fand sie halb aufgelöst vor Hitze in ihrem großen, hell tapezierten Schlafzimmer, in dem alle Rouleaus bis auf eines herabgelassen waren.

Sie saß am Toilettetisch in einem niedrigen Korbsessel in ihrer weiten, mit vielen Bändern und Stickereien verzierten Gewandung.

»Ach, daß du da bist, Kamilla«, rief sie ihr hastig und erregt entgegen. »Du Engel, denke dir, sie kommen, in den nächsten Tagen kommen sie – die Kinder, Eduard und seine junge Frau … Kamilla, wie wird der Vetter sie empfangen, und wird er sie überhaupt empfangen?… Du kennst ihn ja, du weißt ja.«

Kamilla wußte. Der Neffe, Oberleutnant Eduard Hügel, dessen Regiment in Galizien stationierte, hatte sich in die Tochter eines dortigen adeligen Gutsbesitzers verliebt und sie vor einem Jahre ohne Rücksicht auf die Einwendungen des Hofrats heimgeführt.

Die Frau Sektionsrat sagte nicht zuviel, wenn sie die Gründe dieser Einwendungen höchst abgeschmackt nannte und ganz natürlich fand, daß ihr Sohn sie unbeachtet gelassen hatte. Das blieb ihm vom Onkel unverziehen. Übersehen und überhört zu werden, vertrug er nicht; kümmerte sich blutwenig um die Familie, wollte aber ihr Orakel bleiben.

»Und was hat er gegen meine Schwiegertochter?« fragte Frau Rosa mit Tränen des Zornes in ihrer Stimme. »Daß – man schämt sich, es auszusprechen –, daß sie von Adel ist. Ein prächtiges Geschöpf, wohlerzogen, schön, aber von Adel!«

»Es ist eben sein Bürgerstolz, der …«

»Komm mir nicht mit seinem Bürgerstolz! Eitelkeit ist’s. Ihm bangt, daß eine adelige Nichte ihm nicht so devot begegnen würde, wie wir es tun, wir wissen selbst nicht warum. Aber alles hat seine Grenzen … Unterbrich mich nicht, höre!«

Sie nahm sich sehr zusammen und fuhr ruhiger fort: »Cäcilie hat keine Ahnung von der Abneigung des Vetters gegen sie und darf keine Ahnung davon haben. Sie muß ihm unbefangen entgegentreten, in ihrer ganzen Unwiderstehlichkeit … Er muß sie sehen, Kamilla! Und wird sie sehen, und wenn er sie gesehen haben wird, wird alles gewonnen sein.«

»Muß? Wird?« Frau Riesel wäre nicht erstaunter gewesen, wenn die Freundin sich vermessen hätte, den Nil ins Marchfeld zu leiten.

»Muß! Wird! Ja, tausendmal ja! Wie ständen wir da, wenn Cäcilie nach Hause schriebe: Der nächste Verwandte meiner Schwiegereltern will mich nicht kennenlernen … Wir lassen uns das nicht bieten, ohne Rücksicht auf die Einwendungen des Hofrats, wir verbrennen unsere Schiffe!«

Vor ihren begeisterten Blicken schien im verdunkelten Zimmer eine Flotte in Flammen aufzuleuchten. »Wir haben sie schon verbrannt. Der Vetter schließt uns seine Tür – wir brechen ein … Ja, brechen ein … Sieh mich nicht so bestürzt an, es ist lächerlich, mich so bestürzt anzusehen. Wir kommen ja nicht mit Hacken und Stangen. Unser Einbrecherwerkzeug ist ein Telegramm.«

Sie setzte der Freundin den Plan auseinander, gab ihr die Rolle an, die sie bei seiner Ausführung zu spielen hätte, und erpreßte ihr endlich das Versprechen, die ihr gestellte Aufgabe zu übernehmen und so gut wie möglich zu lösen. Ein halbes Versprechen, gegeben unter dem Drucke der drängenden Zeit – ach, ach, sie hätte längst zu Hause sein sollen! –, ein verwegenes Versprechen, kaum gegeben, schon bitter bereut.

 

Auf der Heimfahrt war Frau Riesel recht übel zumute. Viel öfter, als die Freundin ahnte, hatte sie dem Hofrat in aller Ehrfurcht vorgestellt, daß ein seines ganzen Wesens unwürdiges und seiner Lebensauffassung eigentlich widerstrebendes Vorurteil den Grund seiner Abneigung gegen die Heirat des Neffen bildete. Aber ihre Vorstellungen waren erst neulich wieder zurückgewiesen worden.

»Keine Belehrungen, wenn ich bitten darf. Es handelt sich nicht um ein Vorurteil. Wir waren immer stolze Bürger, wir Hügel, wir sind nie zum Plebs herabgestiegen und haben nie zu den Feudalen hinaufgestrebt.«

»Ach, Herr Hofrat«, hatte sie zu widersprechen gewagt, »zu den Feudalen wird eine kleine galizische Gutsbesitzersfamilie sich nicht zählen.«

»Galizisch, galizisch! Polnisch! Eine Polin ist sie obendrein, die Schwiegertochter der werten Kusine.«

»Kaum Halbblut. Die Mutter war eine gute Wienerin und der Vater österreichischer Offizier, hat den Dienst erst quittiert, als er das Gut erbte.«

»So, so! Höchst interessant, aber bitte, verschonen Sie mich mit diesen Familienangelegenheiten.«

Er hatte mit schweigengebietender Gebärde abgewinkt und sehr bestimmt ersucht, auf die Sache nicht mehr zurückzukommen.

Und in dieser selben Sache, in der mitzureden ihr verboten war, sollte sie nun handeln, sollte einen gegen ihren Herrn gerichteten Plan ausführen. Von einem Plane spricht die Freundin. Eigentlich ist es eine regelrecht angelegte Intrige. Als ihr der Gedanke kam, fuhr sie zusammen wie von einer Biene gestochen. Sie hatte viel erlebt, viel gelitten, aber in eine Intrige war sie noch nicht verwickelt worden.

Es stand viel auf dem Spiele, auch in materieller Hinsicht. Der Hofrat war der reichste in der Familie, und so uneigennützig Frau Rosa und ihr Gatte sich selbst immer erwiesen hatten, um ihrer Kinder willen mußte ihnen daran liegen, die ohnehin sehr lauen Beziehungen zu dem Onkel nicht in Gehässigkeit ausarten zu lassen.

Ums Leben gern hätte Kamilla vermittelnd, helfend eingegriffen; aber sich an dem kühnen Plane der Freundin zu beteiligen, war das nicht eine Aufgabe, die ihre Kräfte überstieg? Sie machte schwere Seelenkämpfe durch und war sehr echauffiert, als sie zu Tische kaum. Der Hofrat beobachtete sie eine Weile mit tückischer Aufmerksamkeit und sagte dann: »Sie sind feuerrot, was ist Ihnen denn?«

»Heiß ist mir. Ich war in der Stadt bei der Frau Sektionsrat.«

»Mußten Sie gerade heut zu ihr, bei fünfundzwanzig Grad im Schatten?«

»Sie hatte mich um meinen Besuch gebeten, sie wollte mir mitteilen … Ich fand sie so besonders erfreut, so sehr glücklich … Sie erwartet ihren Sohn Eduard, der auf Urlaub kommt, mit seiner jungen Frau.«

»So, so, so, den Sohn Eduard, den Herrn Baron.«

»Wie denn Baron?«

»Er hat ja doch eine Baronin geheiratet … Bitte widersprechen Sie nicht, bevor ich noch ausgeredet habe … In Spanien, meine liebe Frau Riesel« – der Hofrat wurde höhnisch belehrend –, »in Spanien nimmt der Gatte den Adelstitel der Frau an.«

»Daß es auch in Galizien geschieht, habe ich nicht gehört – wenn Sie es aber sagen, Herr Hofrat …«

Dieser Satz kam so nett heraus, ein klein wenig spitzbübisch und dabei doch so sehr demütig, daß der Hofrat sich beinahe entwaffnet fühlte. Er sah sie sogar mit einer Art von Wohlwollen an und gestand sich, daß sie gar nicht übel gewesen sein mußte – vor zwanzig Jahren, und heute noch gut genug sei für den Major, wenn es dem einfiele, sie ihm zu entführen. Was ihm unangenehm wäre. Denn, gab er zu, ganz still in seinem Innern: Sie ist mir zwar unausstehlich, aber unentbehrlich.

 

Zwei Tage später, an einem schönen warmen Sommermorgen, saßen Frau Riesel und der Herr Hofrat auf der Veranda der Villa beim Frühstück. Ein Zeltdach aus blau- und weißgestreiftem Stoffe spannte sich über ihren Häuptern aus, und im Garten zu ihren Füßen sprudelte ein Springbrünnelein zu dem kleinen Bassin nieder, das von zahlreichen Goldfischen belebt wurde. Sein steinerner Rand war so blank wie Schnee und von den zierlichsten Blumenbeeten umgeben. Seltene Pflanzen standen auf den wie ein Teppich gehaltenen Rasenplätzen, hohe edle Bäume beschatteten die mit feinstem, glitzerndem Kies bestreuten Wege. Den Stolz des Gartens aber bildeten zwei Gruppen prachtvoller Rosen, die vom Hofrat in eigener Person gepflegt wurden wie junge Prinzessinnen. Seine Liebe zu ihnen war sehr eifersüchtiger Natur. Nur aus respektvoller Entfernung durfte die Bewunderung für sie sich äußern. Das eiserne Gitter, das den Garten umgrenzte, erhob sich hinter dichten Gebüschen, und von der Straße aus konnte man nur zwischen den Stangen der schlanken, mit hübschem Maßwerk gekrönten Pforte hereinblicken, und wenn Neugierige sich an ihnen das Gesicht plattdrückten, lachte oder wetterte der Hofrat, je nachdem er gelaunt war.

An diesem Morgen befand er sich in ganz ausnahmsweise guter Stimmung und bot in dem weißen Flanellanzug, den er angelegt hatte, einen erfreulichen Anblick. Er trug ein weißes, weites Jackett und weiße, weite Beinkleider, und der elegante Anzug aus weichem Stoff, der eigenes Leben besaß wie die Gewandung griechischer Statuen, gab dem ernsten kleinen Herrn etwas Munteres, beinahe Flatterhaftes.

 

Auch die Toilette Frau Riesels hatte einen Zusatz von Heiterkeit; ihre schwarze Seidenbluse war geschmückt mit lilafarbigen Passepoils und kleinen lilafarbigen Knöpfchen. Sie entsprachen dem Ring mit dem Amethyst am vierten Finger ihrer Linken, von dem sie sich auch in ihrer bittersten Not nicht getrennt hatte. Verhungern – ja, aber mit ihrem Verlobungsring an der Hand. Zum neunundzwanzigsten Male jährte sich heute der Tag, an dem der einzig Geliebte ihn ihr dargeboten hatte, und sie beging die Erinnerungsfeier an einen der schönsten Augenblicke ihres Lebens voll seliger Wehmut, nicht nur im Innern, auch in stimmungsvoller äußerer Ausstattung.

Der Hofrat hatte schon die zweite Tasse Kaffee zu sich genommen und noch keine einzige Bosheit gesagt, als er plötzlich den Arm in der Richtung gegen die Gartentür ausstreckte und rief: »Hoho, was will der Kerl?«

Draußen stand ein Mann in Amtstracht, rüttelte am Schloß, öffnete, trat ein.

Der Hausherr fuhr in die Höhe: »Da haben Sie’s! Wozu ist der Seiteneingang da? Sie halten die Leute nicht in Ordnung, das Tor war nicht abgesperrt, der erste beste Bandit rennt hier herein wie in seine Spelunke!«

Der Bandit in Amtstracht war weitergeschritten, befand sich schon unter der Veranda. Kamillas Herz stand einen Augenblick still und fing dann an mit rasender Schnelligkeit zu schlagen.

»Was will der Kerl? Wer ist der Kerl?« wiederholte der Gebieter zornig.

Jetzt galt’s! Die Intrige setzte ein, die Rolle mußte gespielt werden.

»Ich glaube, es ist der Telegraphenbote«, brachte Frau Riesel mit äußerster Anstrengung hervor und bekreuzte sich verstohlen.

»Gehen Sie ihm entgegen, schicken Sie ihn fort, sagen Sie ihm: Telegramme werden hier nicht angenommen.«

»Das ist nicht gut möglich.«

»Was: nicht gut, was: nicht möglich? Alles Vernünftige ist möglich.«

»Auch alles Unvernünftige, Herr Hofrat?«

»Geistreicheln Sie nicht. Gehen Sie, bitte.«

Und sie ging. Aber es half alles nichts, sie kam wieder, und nach einigen Minuten lag das Telegramm geöffnet auf dem Tisch. Es lautete:

 

»Möchte mir erlauben, dir, lieber Onkel, meine Frau vorzustellen; wir bitten um Obdach in deiner schönen Villa, kommen ein Uhr. Eduard.«

 

Der Hofrat trommelte in kurzen, raschen Schlägen mit der Faust auf dem Telegramm herum: »Das ist stark, das ist stark unverschämt! ›Wir kommen …‹« Die Empörung raubte ihm plötzlich das Gedächtnis: »Wer kommt? – Wer ist dieser Eduard? Ich kenne ihn gar nicht.«

»Aber, Herr Hofrat, er ist ja der älteste Sohn Ihrer lieben Kusine Rosa, von dem wir erst neulich gesprochen haben.«

»Aha, der Baronessenjäger. Hat schon profitiert von dem vornehmen Umgang, leistet schon das Seine in aristokratischer Unverfrorenheit … Und jetzt, bitte recht sehr, nicht schwatzen, sondern gleich abtelegraphieren. In Ihrem eigenen Namen: Herr Hofrat empfängt keine Besuche. Im Auftrag, Frau Kamilla Riesel.«

»Und wohin telegraphieren?«

»Dahin, woher die Depesche kommt.«

»Nach Wien? Das Telegraphenamt wird eine nähere Adresse verlangen.«

»Wird, wird … So telegraphieren Sie an die Eltern –«

»Ach ja, ach – es geht nicht …«

Nun mußte Kamilla lügen und tat’s beschämt, voll Selbstverachtung, mit verzweifelter Entschlossenheit.

»Die Eltern wohnen nicht mehr in Wien, sind schon auf das Land gezogen.«

»Wohin?«

»Ich weiß nicht – es war neulich noch nicht bestimmt.«

Der Hofrat fieberte. »So telegraphieren Sie ans Platzkommando, er muß doch gemeldet sein. Dient ja bei den Dragonern, dieser E-du-ard.«

»Man müßte wissen bei welchem Regimente.«

»Ja, das weiß wieder ich nicht. Das sollten viel eher Sie wissen, die Sie ja die lebendige Chronik seiner Familie sind und Abgötterei mit seiner Mutter treiben.«

»Wie sollte ich nicht. Sie hat mich ja doch in Ihr Haus gebracht. Ich verdanke ihr meine Stellung bei Ihnen.«

Der Hofrat war gerecht und gescheit genug, um einzusehen, daß diese Stellung ihre Mißlichkeiten hatte, und warf halb spöttisch, halb gnädig hin: »Na, wenn Sie nur zufrieden sind.«

Kamilla fühlte sich von einer milderen Luft angeweht und nahm ihren Vorteil wahr.

»Ach, Herr Hofrat«, sagte sie gelassen und nachdenklich und wie ohne Zusammenhang mit dem früheren Gespräche, »da habe ich unlängst in den Gastzimmern zu ebener Erde nachgesehen, es sind wahre Schmuckkästchen, und es ist Sünd und Schade, sie unbenützt zu lassen … Herr Hofrat – schon diesen Zimmern zu Ehren sollte man sich den Besuch eines jungen, schönen Ehepaares wünschen. Wie gut würde das hineinpassen!«

»Ins Schmuckkästchen, der Dragoner? Ja, ja, solche Wohnungen werden hergestellt, damit die Soldateska ihr Lager in ihnen aufschlagen könne!«

»Soldateska! Herr Hofrat sind doch ein begeisterter Freund des Militärs und müssen sich erinnern, daß Oberleutnant Hügel ein sehr netter Mensch ist.«

»Das ist alles vollkommen gleichgültig. Ich habe ihn vergessen, mich seiner nur erinnert, um ihm meine Unzufriedenheit mit seiner Heirat kundgeben zu lassen. Er aber nimmt davon nicht mehr Notiz, als wenn ein Frosch gequakt hätte, und kündigt ganz einfach, ohne nur zu fragen: Ist’s erlaubt? seinen Besuch an. Wie finden Sie das?«

Der Hofrat bohrte einen Blick, der wie mit Nadeln stach, in die Augen Frau Riesels. Sie senkten sich schmerzhaft verletzt, und er fuhr fort: »Kündigt seinen Besuch in einer Weise an, die es unmöglich macht, ihn abzulehnen … Wie finden Sie das?«

Kamilla bewahrte nur mit größter Mühe ihre äußere Ruhe. Es geht schief! Es geht schief! dachte sie und beging in ihrer Verwirrung eine Ungeschicklichkeit und sagte: »Er wird gewiß nicht lang bleiben.«

Der Hofrat lachte grimmig: »Dafür steh ich Ihnen gut. Daß die Herrschaften bei mir einbrechen, kann ich nicht verhindern, erleben aber sollen sie, wie man Einbrecher empfängt …«

Er entwarf im stillen einen Feldzugs- und Racheplan und gab dann seine Befehle kund: »Sie werden diese Leute empfangen. Sie nicht zu mir führen. Sie werden mit ihnen im Speisezimmer auf mich warten.«

»Im Salon, Herr Hofrat. Sie kommen zu einem Onkel, der ihnen ungnädig gesinnt ist, aber zu einem Gentleman.«

»Sie schwelgen wieder in feinen Unterscheidungen, na, schwelgen Sie!« brummte er, trank tief verstimmt seinen Kaffee, rauchte zur dritten Tasse ohne den geringsten Genuß seine türkische Pfeife, unterbrach Kamilla beim Vorlesen der Zeitung. »Entfalten Sie doch nicht solches Pathos dem Leitartikler zu Ehren! Jedermann weiß ja, wer uns da Moral predigt. Setzt sich aufs hohe Roß und könnte nicht einmal auf einem Geißbock reiten.« Was auch schwerer wäre, dachte Frau Riesel, sagte es aber nicht. Und das war klug.

Der Hofrat befand sich in übelster Laune. Auf den feinen, aber harten Zügen seines kleinen Gesichtes lag eine schwere Wolke. Plötzlich, mit kurzem Danke, wurde die Hausdame entlassen.

Sie ging auf ihr Zimmer und war sehr traurig. Er tat ihr leid, und die Freundin tat ihr leid, die eine offenbar verfehlte Unternehmung ins Werk gesetzt hatte, und sie, die sich daran beteiligte, sie selbst – was ist die Welt doch voll Wehmut! –, sie selbst tat sich auch leid. Da saß sie nun, die Intrigantin, hatte ihr Gewissen mit mehreren Lügen belastet und nichts erreicht, weniger als nichts. Die jungen Leute würden die Wege, die sie ihnen bereiten sollte, verlegt finden wie mit Stacheldraht.

Schlag halb ein Uhr fuhren die unwillkommenen Gäste an der Gartentür vor. Sie kamen, Gott sei Dank, nicht im Automobil – der Hofrat haßte nichts so sehr wie diese moderne, Mißtöne und Mißgerüche verbreitende Karosse.

Kamilla stand an der offenen Pforte, begleitet von Dienern, die die Koffer in das Haus schaffen sollten. Sie bemerkte gleich, daß es nur zwei ganz kleine waren, wie man sie zu einem kurzen Ausflug mitnimmt, und wieder dachte sie: Gott sei Dank!

Unterdessen hatte sich der Offizier, der einen grauen Reiseanzug trug, schon aus dem Wagen geschwungen und wollte seiner Frau beim Aussteigen behilflich sein. Sie drückte nur die Fingerspitzen auf seine dargebotene Hand, hüpfte rasch und leicht auf den Boden, schritt Kamilla entgegen und sprach: »Stell mich vor, stell mich vor!«

»Ja«, sagte er, »ich glaube, daß ich bei mir selbst anfangen soll. Kennen Sie mich denn noch, gnädige Frau?«

Sie sah zu dem schönen, schlanken Menschen empor und lächelte: »Kaum mehr. Sie waren fast noch ein Jüngling, als ich Sie zum letzten Male sah, und jetzt –«

»Jetzt bin ich ein alter Oberleutnant und Ehemann.«

»Und ich bin seine Gattin und stelle mich Ihnen selbst vor, da er es durchaus nicht tun will. Liebe, gnädige Frau, sagen Sie mir: Grüß Gott!«

Cäcilie streckte ihr beide Hände entgegen, und in dieser Gebärde lag eine Herzlichkeit und auch etwas so respektvoll Fragendes: Darf ich? daß Kamilla sich sehr zusammennehmen mußte, um nicht einer jähen Regung der Zärtlichkeit zu folgen und das liebliche Geschöpf, das ihr so zutraulich nahte, in die Arme zu schließen.

Als sie dann dem Hause zuschritt zwischen den beiden, die munter plauderten, die blühend, sorglos, voll Zuversicht waren, denen das Glück, das ihnen aus den Augen sah, ein eigenstes, angeborenes Eigentum zu sein schien, kam eine große Ruhe über sie. Nein, nein, törichte üble Laune konnte nicht standhalten solchen Mächten gegenüber, mußte schwinden vor soviel Lebensfreudigkeit, wohltuender Wärme, Schönheit und Jugend.

 

Nachdem Kamilla die Gäste in ihre Zimmer geführt und sie gebeten hatte, pünktlich um ein Uhr im Salon zu sein, empfahl sie sich. Der Oberleutnant gab ihr das Geleite und flüsterte ihr rasch und leise zu: »Cäcilie ahnt nicht, daß wir unwillkommen sind, sie hätte sich sonst kaum entschlossen, mir hierherzufolgen. Das Revolvertelegramm hat Mama nach langem Studium selbst aufgesetzt … Mir sind alle diese Machenschaften in der Seele zuwider, und wenn meine stürmische Mutter nicht wäre, die mir am Ende immer das neue Jahr abgewinnt, ich hätte den Onkel mit seinen antediluvianischen Vorurteilen links liegen lassen.«

»Es ist doch besser nicht«, sagte Frau Riesel; aber diese mannhafte Erklärung gefiel ihr sehr gut. Sehr gut auch die Pünktlichkeit und die einfache Kleidung des Ehepaares, das eine kleine Weile später im Salon erschien.

Er trug seinen allerdings sehr eleganten Reiseanzug, sie zu ihrem hellgrauen Rock aus feinem englischen Stoff eine gestickte weiße Batistbluse. Und der Rock war nicht eben sehr faltenreich, aber kein Sack, und der graue Seidengürtel, der die runde, schmiegsame Taille umschloß, war nicht stramm gespannt, und die Schuhe an den edelgeformten Füßen hatten niedrige Hacken. Wenn böser Wille den Hofrat nicht durchaus blind machte, mußte er der Toilette der jungen Frau Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er durfte auch kein Wort des Tadels über die Frisur sagen. Da war nichts Falsches dabei, da war nicht viel Kunst angewendet. Die reichen dunkelbraunen Haare, einfach zurückgestrichen, bildeten einen schweren, flachen Knoten am Hinterhaupte, wölbten und wellten sich aus eigenem Reichtum und nach eigener Weise über der klaren, mädchenhaften Stirn.

Die Holde, die Hohe! dachte Kamilla. Alles reizvoll an ihrer anmutigen Erscheinung und ganz unwiderstehlich der Ausdruck ihrer von samtschwarzen Wimpern beschatteten Augen. Hat man je so dunkle Augen ein so helles Leuchten ausstrahlen gesehen? Es ist ja sonniger Tag, der hervorbricht aus tiefer geheimnisvoller Nacht.

»Sollten wir dem Onkel nicht vor Tische unseren Besuch machen?« fragte die junge Frau.

»Er hat Sie bitten lassen, ihn hier zu erwarten.«

»Ich bin neugierig, ihn kennenzulernen. Mama sagt, daß er eigen ist, und ich habe Menschen, die eigen sind, sehr gern.«

Kamilla und der Oberleutnant wechselten einen besorgten Blick. Cäcilie war ans Fenster getreten, sah in den Garten hinab, bewunderte die herrlichen Rosen, und Frau Riesel gab zu verstehen, daß sie große Lieblinge ihres Züchters und Pflegers wären und daß er sie gern loben höre.

Es schlug ein Uhr. Im Speisezimmer ließen die Schritte des Dieners sich vernehmen. Beide Flügel der Tür wurden geöffnet, eine Stimme meldete: »Es ist serviert.«

Der Hofrat ließ warten.

Der Fanatiker der Pünktlichkeit war einmal selbst unpünktlich. Ein böses Vorzeichen, das Unheil ahnen ließ. Mit Recht, denn als er eintrat, schien ein Strom kalter Luft mit ihm ins Zimmer gekommen und fahles gelbes Licht sich darin zu verbreiten.

Kamilla zitterte, aber die jungen Leute gingen dem Hausherrn unbefangen entgegen. Eduard verbeugte sich und sprach: »Verzeih unsern Überfall, lieber Onkel, ich habe dem Wunsche nicht widerstehen können, dir meine Frau vorzustellen.«

Der Hofrat brummte etwas zum Glück ganz Unverständliches, nahm die Hand nicht, die Cäcilie ihm bot, stand steif und stachelig wie eine Distel und sprach gletschereisig: »Ich habe die Ehre, Frau Baronin.«

Cäcilie errötete. Der Onkel kam ihr nun doch mehr »eigen« vor, als sie es gern hatte. Allerdings glaubte sie nur an einen Scherz, der ihr nicht gefiel, auf den sie aber eingehen wollte.

»Ah – nun muß ich also sagen: Herr Hofrat«, sprach sie mit etwas erzwungener Munterkeit. »Und wenn ich schon einen Titel haben soll, bitte ich um den, der mir gebührt. Ich bin Frau Oberleutnant.«

Der Hofrat hatte bisher an ihr vorbeigesehen und nur bemerkt, daß sie größer war als er. Jetzt faßte er sie ins Auge, prüfend, scharf, ungut. Aber dieser Ausdruck milderte sich, verwandelte sich in ein unwillkürliches und darum unbesiegbares Wohlgefallen. Er kämpfte dagegen. Umsonst, umsonst! Wurde sich seiner Ohnmacht bewußt, und das Unerhörte geschah – auf seinem Gesicht erschien ein Anflug von Verlegenheit. Und da auch die gescheitesten Leute in der Verlegenheit um die Herrschaft über ihre geistigen Kräfte kommen, äußerte er seine Bedenken gegen eine Verbindung zwischen Bürgerlich und Adelig, mit der Tür ins Haus fallend, seltsam hastig und recht verworren. Fühlte sein Ungeschick und hätte viel darum gegeben, gar nichts oder etwas anderes gesagt zu haben.

Cäcilie hörte ihm ratlos staunend zu. Sie wußte nicht, ob man einen Onkel, der gar so eigen ist, ernst zu nehmen hat oder nicht.

Der Ruf Kamillas: »Zu Tisch, meine Herrschaften, zu Tisch!« hatte für beide einen erlösenden Klang, und der Herr des Hauses, einmal in Unsicherheit geraten, tat, was nicht zu tun er sich vorgenommen hatte, er bot Cäcilie den Arm und führte sie ins Speisezimmer.

Frau Riesel und Eduard folgten. Er raunte ihr zu, und seine blauen Augen funkelten: »Wir sind auf dem Holzwege. Es gibt etwas. Ich werde nicht leiden, daß er sie kränkt.«

»Haben Sie Geduld, nur etwas Geduld«, erwiderte sie mit einem Anschein ruhiger Überlegenheit, aber sie bebte.

»Nun, etwas in Gottes Namen, man verlange von mir nur nicht zuviel.«

Das Gespräch bei Tische kam bald in Fluß. Der Hofrat fühlte, daß die angeheiratete Nichte, die da an seiner Seite saß, etwas merkwürdig Sympathisches hatte.

Die ernsten Augen und der wunderhübsche Mund, der so bereit schien zu lachen, vielleicht auch – auszulachen?… zum Beispiel die Menschen, die Dummheiten redeten … Hoho, das wollte er ihr doch zeigen, daß dergleichen ihm wohl einmal zufällig passieren könne, Wiederholungen aber nicht stattfänden.

Zuerst ließ er sich vom Leben in der Garnison erzählen, und sie tat es mit gutem Humor und berief sich alle Augenblicke auf das Zeugnis ihres Mannes. Er stimmte oft zu, berichtigte aber auch oft und rückte eine Großtat oder Guttat von ihm, die sie in allzu helles Licht gestellt hatte, in die gebührende Beleuchtung.

Auch von ihrem Leben zu Hause erzählte sie, von dem Gute, das nicht groß war und das ihr Vater selbst verwaltete. Ihr älterer Bruder nahm ihm schon einen Teil der Arbeit ab, und seitdem sie geheiratet hatte, machte ihre jüngere Schwester sich der Mutter nützlich bei der Führung des Haushaltes.

Das alles klang nicht gerade feudal, und mit Genugtuung dachte der Hofrat: Sind halt freiherrliche Krautjunker und stehen in der Bildung so hoch wie ihre Hühner.

»Recht schön, recht schön der Sommer auf dem Land. Was macht man aber im Winter, wenn es nichts zu tun gibt in der Wirtschaft?«

Nun, ein paar Monate wurden in Lemberg zugebracht; man unterhielt sich dort recht gut und konnte trotzdem den Augenblick kaum erwarten, in dem es hieß: Heimwärts! heimwärts! Wir fahren nach Hause. »Und dort hatten wir wieder Arbeit und Freude genug und die schönen Leseabende. Papa liest gern und gut vor.«

Der vorlesende Papa war dem Hofrat ein Dorn im Auge. Er setzte die Inquisition schärfer fort: »Und was pflegte er vorzulesen, der Herr Baron?«

»Pflegte?« wiederholte sie. Auf ihrem Gesicht stand die Frage: Wollen Sie mich zum besten haben? und sie sprach ernst und entschieden: »Er las alte und neue Klassiker und auch Modernes.«

»Mit Auswahl.«

»Mit nicht allzu strenger.«

Der Hofrat ließ ein langgedehntes, mit Abscheu und Verachtung geladenes: »S-o?« ertönen, und Frau Riesel erschrak. O Gott, nur dieses Thema nicht! Ihr angstvoll warnender Blick streifte den Oberleutnant, der neben ihr saß. Er blieb gleichgültig und erwiderte ihren Seitenblick mit einem Achselzucken, das leicht zu verstehen war. Es hieß: Werden streiten. Sollen nur. Sie schauderte vor diesem Leichtsinn, im Grunde das Herzens jedoch entzückte er sie. Ein Erbschleicher war er nicht, dieser »E-du-ard«.

Und wirklich, der Streit entbrannte. Der Hofrat sandte gegen die moderne Literatur, Journalistik, Musik, Malerei, Bildhauerei, Schauspiel- und Baukunst zuerst einzelne scharfe Pfeile, dann ganze Pfeilbündel ab. Cäcilie glaubte anfangs, daß er sie nur zum Widerspruch reizen wolle, was ihr ein wenig kindisch vorkam. So ging sie denn auf seine Übertreibungen nicht ein, machte bloß hie und da einen lässigen Einwand, nahm obenhin die Literatur in Schutz. Es gab neue Autoren, die sie liebte, es gab neue Bücher, die ihr gefielen.

»Ausnahmen wird es geben bis ans Ende der Welt«, rief er. »Aber auch sie sind nur Reflexe, einige sogar von Lichtern, die auf falschen Wegen umherirren, und sie drohen erstickt zu werden im Wust der rastlos hervorbringenden Eintagstalente. Lessing spricht von einem großen Maler ohne Hände, wir haben geschickte Hände ohne den Maler. O ja, sehr geschickte, technische Fertigkeiten glänzend. Aber wo ist das mit Naturgewalt hervorbrechende schöpferische Müssen, der große Charakter, die große Seele? Wo ist die göttliche Kraft, die uns emporträgt zu den Höhen des Lebens, wo ist die Leidenschaft, die noch begeistert, indem sie tötet und zertrümmert? Die geschickten Hände, denen die Höhen unerreichbar sind, greifen in die Niederungen. Das Gebiet der menschlichen Triebe wird durchwühlt, durchforscht, mikroskopisch beobachtet und als das Allumfassende erklärt. In ihm wird untergebracht, was sich irgend denken läßt. Lauter Triebe, nichts als Triebe, alles sexual, unser Denken, unser Träumen, das Sexuelle Grund und Ursache jedes Interesses, jeder Anhänglichkeit und Zuneigung. Eltern und Kindesliebe, Freundschaft, Andacht, Frömmigkeit, unsere Liebe zu Bäumen, Blumen, Pflanzen – sexual. Nächstens wird uns bewiesen werden, daß Kant mit dem Ding an sich in einem sexualen Verhältnis gestanden hat.«

Der Oberleutnant lachte, seine Frau lächelte, und dieses Lachen und dieses Lächeln schmeichelten dem Hofrat. Er fuhr eifrig fort: »Wenn ich heute vor einen Buchladen trete, die Titel lese und die illustrierten Umschläge ansehe, graut mir. Mir! Andern nicht. Neulich steh ich so da und koche Galle. Neben mir aber steht ein junges Fräulein und genießt den Anblick.«

»Versteht wahrscheinlich gar nichts davon.«

»Ihre Augen sagen das Gegenteil. Sie haben Ähnliches schon gesehen. Wozu hätten wir die Kunstausstellungen?… Aber das gehört zum Ganzen, ist ein Schimmer vom Geiste dieser Zeit. Wann und wo offenbart er sich nicht?… Wenn ich von irgendeinem Bahnhof in die Stadt fahre, frage ich mich: Geht es wirklich meinem alten, noblen Wien oder einer amerikanischen Yankee-Niederlassung entgegen? Krasse Riesenplakate schreien mich an. Wo mich früher nette kleine Vorstadthäuser erfreuten, aus denen es förmlich sprach: Sieh uns nur an, in uns wohnen Behagen und Zufriedenheit, wendet mein Blick sich jetzt angeekelt ab von turmhohen Wohnungetümen, ordinär aufgeputzt und herausfordernd nackt. Was sie bergen, steht ihnen auf der Fassade geschrieben. Sinnlosen Luxus und seine Geschwisterkinder Not und Anarchie … So häufen sich Zeichen auf Zeichen, so steuern wir mit herrlicher Sicherheit unaufhaltsam dem Untergange zu.«

Cäcilie hielt die Augen auf ihn gerichtet. Ihr Befremden wuchs. Sie konnte nicht mehr zweifeln, daß seine Reden ihm aus dem armen, verbitterten Herzen flossen. Es kommt vom Alter, dachte sie; er tat ihr leid, und sie sagte mit einem Bedauern in der Stimme: »Das glauben Sie, lieber Onkel?«

Und er, im Banne dieser jungen, schönen Augen, erwiderte sehr nachdrücklich: »Das glaube ich, Frau Nichte.«

Ein Aufatmen der Wonne entstieg der Brust Kamillas. Jetzt hatte die Adoption stattgefunden. Ihr aber, der dieses Glück zuteil geworden, kam es zunächst nicht zum Bewußtsein. Sie hatte sich entschlossen, den Kampf gegen den armen alten Oheim aufzunehmen. »Und die Wissenschaft?« fragte sie, »wird die mit einbegriffen in diese allgemeine Verdammnis?«

»Respekt vor ihr und ihren Entdeckungen und Erfindungen. Sie ist unsere Wohltäterin, unsere Leuchte, unser Ruhm und Stolz – unsere Rettung kann sie nicht werden. Daß sie auf der Höhe, auf der sie jetzt steht, in untergegangenen Weltreichen schon gestanden hat, ist uns jüngst, überzeugender denn je, dargetan worden. Staatenerhaltende Kräfte sind ihr versagt, die wachsen aus einem andern Boden. Die Eigenschaften, die sie fordern, sind von sittlicher Natur, und wie es mit denen aussieht, darüber täuschen wir uns doch nicht. Oder gelingt dir das, Frau Nichte, leugnest du« – du! Kamilla atmete abermals tief und wonnig auf –, »daß unser Nachwuchs besonders in dieser Hinsicht das ist, was Sombart sehr höflich ›minder qualifiziert‹ nennt?«

»Vielleicht weichen wir, wie man so sagt, nur zurück, um den Anlauf zu einem großen Sprunge zu nehmen.«

»Sprünge gibt es nicht, es gibt nur Übergänge. Das solltest du wissen, junge Weisheit.« Der Hofrat merkte nicht, daß ihm schon ein zweites »Du« entschlüpft war. »Freilich ändert es an der Sache nicht viel, ob wir in den Abgrund springen oder gleiten.«

Cäcilie sah gequält vor sich hin: »Schade wär’s um soviel Schönes, das es gibt, und um das viele Gute, das gute Menschen getan haben. Freilich geschieht auch vieles, was mir nicht gefällt, mich sogar anwidert, und schrecklich sind mir die Feindseligkeiten und der Haß und das Mißtrauen der einen gegen die andern … Es ist ein unblutiger Krieg, aber oft grausamer als ein blutiger … Und so häßlich ist er, daß die Menschen seinen Anblick nicht mehr ertragen mögen und nach Frieden verlangen werden … Und auch in den Niederungen, von denen du gesprochen hast, Onkel, wird es ihnen nicht immer gefallen, sie werden sich nach den Höhen eines geistigen Lebens sehnen … Mir kommt vor, o mir kommt oft vor, daß es heute schon vielen so geht … und nicht mehr blind, nein, mit geöffneten Augen werden sie ihnen zustreben. Dann wird es auf Erden heller werden, als es jemals war. Die soviel gelitten haben durch all das Böse, das sie einander angetan, werden sich eines lang vergessenen Wortes erinnern, des größten, das jemals an die Herzen der Menschen geschlagen hat, ihm nachleben und gut und weise und glücklich sein.«

»Das Wort lautet?«

»Du weißt es so gut wie ich.«

»Nun?«

»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«

Während sie eifrig, dabei aber doch nicht sehr sicher und oft in abgebrochenen Sätzen geredet, hatte der Hofrat kein einziges Mal gespöttelt oder widersprochen, ihr vielmehr nachsichtsvoll zugehört mit dem stillen Vergnügen, das man am Gezwitscher eines Vogels, am Gelalle eines Kindes empfindet.

Nun füllte er ihren Römer mit Rheinwein und forderte sie auf, mit ihm anzustoßen und auf das Wohl des kommenden Goldenen Zeitalters zu trinken. Auch Eduard und Kamilla mußten Bescheid tun, und dann fuhr er fort, seine Überzeugungen an den Tag zu legen, wurde aber immer weniger scharf, ließ auch fremde Meinungen gelten und war am Ende des Mittagessens ein höchst liebenswürdiger Hausherr.

 

Als der Hofrat die Tafel aufhob, hatte er nicht um einen Tropfen Wein mehr getrunken als gewöhnlich, befand sich aber in erhöhter Stimmung. Seine Augen leuchteten in einem ganz seltsam weichen Glanze, und die Röte seiner Wangen verdunkelte das Rosa seines zierlichen Näschens. Nach einer ritterlichen Verbeugung führte er die Nichte munteren Schrittes am Arme aus dem Speisezimmer zur Veranda. Eduard und Kamilla folgten, und mit einem sanften, seligen Lächeln flüsterte sie ihm zu: »Sie hat gesiegt.«

Ihre warme Teilnahme rührte ihn, er drückte ihre Hand und sprach: »Wie gut sind Sie, gnädige Frau!«

Beim schwarzen Kaffee sprach man nur noch von Rosen. Schon auf dem Wege ins Haus war dem Ehepaar aufgefallen, was für erlesene Exemplare sich im Garten befanden. Man ging hinab, bewunderte sie in der Nähe. Dann schlug der Hofrat seinen Gästen eine Spazierfahrt nach dem Föhrenwald in der Brühl, eine Tasse Tee auswärts im Freien vor. Sie nahmen gern an. Ein Wagen wurde sofort geholt.

Das Nachmittagsschläfchen hat er rein vergessen, dachte Frau Riesel. Weil es aber ein Inkognitoschläfchen war, wagte sie nicht, ihn daran zu erinnern. Mitzufahren lehnte sie ab und bat den Hofrat, nur nicht zu spät nach Hause zu kommen zur Tarockpartie.

Ach was, die fade Tarockpartie! Die mochte einmal ausbleiben, die konnte man doch absagen. Kamilla meinte, es sei zu spät, und die jungen Leute erhoben heftigste Einsprache. Um keinen Preis durfte der Onkel in seinen Gewohnheiten gestört werden. Er fügte sich, wenn auch ungern, und man fuhr ab.

Kamilla winkte freundlich nach, während sie schon in Gedanken ein Telegramm an die Freundin verfaßte, das ihr die beglückende Kunde bringen sollte: »Sieg auf der ganzen Linie, im Sturm genommen, beinahe verliebt!«

Wegen dieses letzten Wortes vertraute sie ihr Telegramm einem Diener nicht an, sondern trug es persönlich ins Aufgabeamt.

Die drei Freunde fanden sich rechtzeitig ein, der Hausherr nicht. Frau Riesel bemühte sich, ihn zu entschuldigen; es gelang nur halb, und das Erstaunen verwandelte sich in Entrüstung, als der Hofrat endlich erschien und nur ganz nachlässig bat, sein spätes Kommen zu verzeihen. Der Spaziergang war sehr schön gewesen, die Nichte konnte sich von dem Föhrenwalde nicht trennen.

Kamilla beobachtete den Gebieter mit Besorgnis. Seine funkensprühende Aufgeregtheit war verschwunden, er sah blaß und müde aus. Nun ja, wenn man bei Tische redet statt zu essen, wenn man sich das gewohnte Nachmittagsschläfchen versagt, bleiben die Folgen nicht aus. Doch die kriegerische Stimmung der Freunde schmolz im Augenblick dahin, in dem das junge Ehepaar sich einfand. Die drei Herren wurden der Nichte, der Neffe den drei Herren vorgestellt, und Kamilla konnte sich in ihren stillen Betrachtungen hingeben über die Veränderung, die sogleich mit ältlichen Herren vorgeht, wenn eine junge, reizende Frau in ihrem Kreise erscheint. Der Mürrische wird liebenswürdig, der Steifnackige ganz Geschmeidigkeit, der Eigensinnige hat kaum noch eine selbständige Meinung, wenn sie der ihren widerspricht.

»Kannst du Tarock spielen?« fragte der Hofrat seine Nichte.

»Miserabel, ja.«

»Dann werde ich den Ratgeber machen. Nimm meinen Platz ein, wenn es den Herren recht ist.«

Recht? Entzückt waren sie. Man setzte sich, der Hofrat rückte einen Stuhl neben den seiner Nichte, legte den Arm auf die Lehne des ihren und leitete ihr Spiel. Er war zerstreut und beging manchen Fehler, der ihm jedoch weder Spott von den Gegnern noch eine Rüge von seinem Partner eintrug. Es kam zu einer Tarockpartie, wie sie in diesem Raume noch nicht gespielt worden war. Ein abgefangener Mond, ein mißlungener Ultimo erweckten die Heiterkeit der dabei Verunglückten. Cäcilie verlor, gewann, verlor wieder, blieb immer in bester Laune, voll guter Einfälle und dankte den großen Meistern für die rührende Nachsicht, die sie mit ihr hatten.

Die Hausdame wollte sich wie gewöhnlich bis zum Abendessen in ihre Gemächer zurückziehen, aber der Oberleutnant erlaubte es ihr nicht.

»Sie müssen mir doch Gesellschaft leisten«, sagte er, »während meine Frau in der Gefangenschaft von drei Raubrittern schmachtet.«

Sie setzten sich an den großen Tisch und plauderten. Er sprach von seinen Jünglingsjahren. »Ich war damals ein rechter Aff. Eitel, eingebildet, überzeugt, daß die Welt nur auf mich gewartet hatte, um aus allen Fugen zu geraten und in die Bahnen hineinzustürmen, die ich ihr vorzeichnen wollte … Der Kampf, der mich zur Vernunft gebracht hat, war schwer, aber kurz, gottlob. Statt eines Führenden bin ich ein Dienender geworden:

 

›Ich dien!‹ Den Wahlspruch stark und mild

Trug jenes Luxemburgers Schild,

Der kämpfend bei Crécy gefallen.«

 

Kamilla hatte ihm mit hingebendem Interesse zugehört. Daß er so offen über sich selbst mit ihr sprach, war ihr schmeichelhaft, und als der Dragoner-Oberleutnant nun gar Verse von Betty Paoli, ihrer Lieblingsdichterin, zitierte, erschien er ihr als das entzückendste aller Phänomene.

»Jetzt bin ich glücklich durch und durch«, fuhr er fort. »Ich übe den Beruf aus, in dem ich das Beste leisten kann, das zu leisten mir gegeben ist, und ich habe die heimgeführt, die ich liebe. Sie war nicht leicht zu erringen, aber jetzt gehört sie mir. Kein Engel – ich wüßte auch nicht, was ich mit einem Engel anfangen sollte –, ein Schatz, der mir anvertraut ist und den ich hüte.«

Er redete vertrauensvoll wie zu einer alten Freundin, er durfte sie ja als solche ansehen und erwartete Vertrauen auch von ihr. Mindestens eingestehen möge sie ihm, daß ihr Leben an der Seite des launenhaften Onkels gar oft unerträglich schwer sei.

Sie leugnete es. Sie liebte ihre Tätigkeit, sie verehrte den Herrn Hofrat, weil er ein edler und reiner Mensch sei. »Schwerlebig ja«, gab sie zu, »aber das ist mehr sein Unglück als seine Schuld, und mißtrauisch nur in kleinen Dingen. Einen beleidigenden Verdacht faßt er nicht bald und wäre spielend leicht zu betrügen. So sehe ich in meinem gestrengen Herrn einen Schutzbefohlenen, für den ich gern und freudig sorgen darf.«

Der Oberleutnant neigte das Haupt und sagte lächelnd: »Sie sind eine Römerin: ›Es tut nicht weh, Paetus.‹ Eine Märtyrerin sind Sie, die unter Qualen noch Hymnen singt.«

Frau Riesel lächelte gleichfalls; es war ein feines, matronenhaftes Lächeln, das milde Freude an den Scherzen des jungen Offiziers verriet.

Das Abendessen fand gebührende Anerkennung. Nur der Hausherr hatte keinen Appetit, sah leidend und merkwürdig beklommen aus … Frau Riesel machte sich Gedanken … sollte das Scherzwort, das sie übermütig in ihr Telegramm gesetzt … Aber nein, um Gottes willen, nein! Was für einen lächerlichen Einfall hatte sie da gehabt. Sie verachtete sich selbst, daß sie einen so lächerlichen Einfall haben konnte.

Indessen ließen die drei Freunde ihre Geisteslichter leuchten. Das Gespräch nahm allmählich eine ernste Wendung.

Die furchtbare Schwere, mit der die Frage: Was wird die nächste Zukunft uns bringen? auf jedem lastet, der nicht völlig gedankenlos ist, kam allen zum Bewußtsein.

Der Major verkündete den Weltkrieg und war entschlossen, beim Ausbruch der ersten Feindseligkeiten wieder in Dienst zu treten. »Herr der Heerscharen, die Gelegenheit gib mir, und ich will zeigen, daß ich noch etwas anderes kann als Anekdoten erzählen« – was er nicht kann, dachte Kamilla – »und Tarock spielen. Aber wozu wird unser Soldat heute verwendet? Kordon zu ziehen bei Festlichkeiten oder bei Pest und Cholera. Gelegte Brände zu löschen. Dazustehen wie eine Mauer, wenn der Mob einmal eingeladen wird, einen Feiertag zu halten – und losgeht -losgeht –, und mittendrin steht der Soldat, wird beschimpft, verhöhnt, weiß nicht warum, kriegt Steine an den Kopf … weiß nicht warum … Seine Kameraden, sein Offizier bluten, und der Soldat« – die Stimme des Majors bebte – »hat die Waffe in der Hand und rührt sich nicht – rührt sich nicht!« stotterte er, »und – und – und –« Sein gewohntes Erzählerschicksal ereilte ihn, er kam nicht weiter.

»Rührt sich nicht, was auch in ihm vorgehen möge«, fiel der Oberleutnant rettend ein. »Ja, ja, ich habe so etwas erlebt. Auch meine Leute standen wie Mauern. Wir hatten den Befehl: ›Äußerste Schonung walten lassen.‹ Und das muß sein! weil ja fast immer bei Repressalien gar zu leicht Unschuldige getroffen werden. Und auch den anderen soll womöglich nichts geschehen. Die Strafe könnte am Ende ärger ausfallen als das Unrecht … Die Schramme da«, er wies auf eine Narbe über dem rechten Auge, »habe ich einem der emsigen Mineraliensammler zu verdanken, die bei jedem Putsch und Streik aus dem Boden wachsen. Wenn diese Jünglinge die Stücke, die sie für ihre gelehrten Studien nicht brauchen können, in knabenhaftem Übermut wegwerfen und dabei eine Laterne oder einen Kopf treffen, wer möchte ihnen das übelnehmen? Nun, ich muß schon sagen, ich hätte meinem unwillkürlichen David sehr gern ein paar Denkzettel mit dem flachen Säbel überreicht. Aber: ›Äußerste Schonung!‹ – so hab ich mich pariert.«

Sich in ein gemeinsames Gespräch zu mischen war sonst nicht Frau Riesels Sache. Aber als sie nun ihren jungen Freund im Geiste vor sich sah, wie er, beschimpft und verwundet, das Gesicht voll Blut, das Herz voll Grimm, stolze Regungslosigkeit bewahrte, weil die Pflicht es gebot, mußte ihre Bewunderung sich Luft machen, und sie sprach im Tone, in dem ein Ritterschlag erteilt wird: »Das war groß! Was Sie da getan haben oder vielmehr nicht getan haben, war – ich wiederhole: groß!«

Der Oberleutnant hatte das unangenehme Gefühl, ruhmredig gewesen zu sein, und erwiderte trocken: »Das war Disziplin, zu der wir erzogen sind und zu der wir uns bemühen unsere Leute zu erziehen.«

»Durch ein bewährtes Mittel«, meinte der Gelehrte, »durch die Furcht.«

»Nicht allein durch die!« rief Eduard entrüstet und kampfbereit.

»O bitte! bitte!« Der alte Herr streichelte ihm besänftigend den Ärmel mit seiner breiten, gutmütigen Hand. »Ich habe gar nichts dagegen, daß die Furcht der Soldaten vor ihren Offizieren größer ist als die vor einer wilden Rotte. Aber man nenne doch nicht Heldentum, was Furcht ist.«

»Was Gehorsam ist, schöner, kluger, das Fundament aller Pflicht und Treue, jeder gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung.«

»Jawohl, ich gebe Ihnen zu, daß der Gehorsam sich in mancherlei Gestalt äußert. Aber die erste darunter, die gesundeste und kräftigste, heißt: Furcht. Gönnen Sie mir doch meine Freude an ihr. Sie gehört zu unseren besten Lebensgütern. Was wäre ohne sie aus uns geworden? Sie hat den Menschen gezwungen, Waffen anzufertigen, Pfahlbauten zu errichten, Wohnhäuser zu erbauen, Städte zu gründen. Sie hat ihn an einen unsichtbaren und allvermögenden Herrn über Naturkräfte, denen die arme Kreatur hilflos gegenübersteht, glauben und um Erbarmen und Schonung zu ihm beten gelehrt.«

»Verzeihen Sie«, erhob sich plötzlich eine weiche und klangvolle Stimme, wurde aber sofort leiser, als die allgemeine Aufmerksamkeit sich ihr zuwandte. »Verzeihen Sie«, wiederholte Cäcilie, »ich habe schon oft gehört und gelesen, daß Schrecken und Todesangst den Menschen das erste Gebet erpreßten, und das kann ja vielleicht sein, viele glauben es – ich nicht, ich glaube« – sie hielt inne und sah den Gelehrten mit einem Blick an, der um Nachsicht bat –, »ich glaube, das erste Gebet ist gekommen aus einer Brust, die jubelte und jauchzte, und war ein Dankgebet … Warum soll der erste gewaltige Eindruck, den ein junger, zum Bewußtsein erwachter Mensch durch die Wunder empfing, die ihn umgaben, der des Schreckens gewesen sein? Warum nicht der des Entzückens und der Begeisterung?… Er hat ja doch die Sonne blendend schön aufgehen gesehen, und den hellen Mond, und die Sterne, und den Anblick der herrlichen Erde gehabt und ihn genossen, und ihre unerschöpflichen Gaben empfangen … Und er war jung, stark, gesund, und sein Herz war voll Fröhlichkeit. Warum soll da nicht einmal ein Gefühl heißer, brennender Dankbarkeit in ihm aufgestiegen sein und ihn ergriffen haben wie ein Sturm?… Warum soll da nicht ein Mann oder ein Weib oder vielleicht ein Kind auf die Knie gestürzt sein und die Hände gefaltet und gedankt haben, inbrünstig gedankt, gedankt!«

Sie brachte das befangen und immer leiser hervor, und in ihrem Ton lag eine Bitte um Hilfe, als sie sich nun an den Gelehrten wandte: »Wäre das nicht möglich?«

Er war äußerst galant, verneigte sich und sagte »Warum nicht, meine Gnädigste?«

Auch die anderen pflichteten ihr bei; nur der Hofrat, bis zur völligen Selbstvergessenheit in den Anblick seiner schönen Nichte versunken – schwieg. Alles Herbe und Harte war aus seinen Zügen verschwunden, und aus ihnen sprach eine milde Bewunderung, eine tiefe Traurigkeit.

Der Professor hatte nach einiger Überlegung wieder das Wort nehmen wollen: »Warum nicht? Aber …«

Da unterbrach ihn der Großindustrielle: »Nein, nein. Kein Aber mehr! Zur Partie! Meine Herrschaften, es stehen noch zwei Zweier. Darf ich bitten, Frau Oberleutnant?«

Er bot ihr den Arm und führte sie zum Spieltische.

So wurde die Konversation im Augenblick abgeschnitten, in dem sie anfing interessant zu werden.

Eduard und Kamilla gingen auf die Veranda, wo er seine Sehnsucht nach einer Zigarre erfüllen durfte. Nun saß er Kamilla gegenüber in einem bequemen Lehnsessel, und sie freute sich an dem Genuß, mit dem er weiße Wölkchen in die milde Luft der Sommernacht blies. Es war schon dunkel. Sie konnte ihn nicht deutlich sehen, von seiner Gestalt nur die Umrisse, von seinem Gesicht nur einen Schein, wenn die glühende Zigarre ihn darüber hinfliegen ließ. Aber sie hörte ihn fröhlich und munter plaudern von seinem Glücke, von seinen Zukunftsplänen, und seine Sicherheit, sein festes Vertrauen auf kommende bessere Tage erquickte sie. Sie wurde von vielen Gedanken, aber von fast noch mehr Gefühlen ergriffen. Seit dem Tode ihres seligen Riesel hatte noch nie eine Stimme ihr Ohr so sympathisch berührt wie die des Sohnes ihrer lieben Freundin. Er war ihr in kurzer Zeit teuer geworden, und daß sie etwas für ihn hatte tun können, dafür dankte sie Gott.

 

Am nächsten Morgen erwachte Frau Riesel lachend. Ihr hatte geträumt, daß sie in einer fremden Gegend am Arme des Oberleutnants spazierenging, ganz jung und schlank, leichten Schrittes und schwebend. Sie wiegte sich ein wenig in einem heiteren Nachgefühl, kniete dann nieder auf ihren Betschemel und verrichtete voll Andacht ihr Morgengebet.

Mit besonderer Liebe gedachte sie ihres Verlorenen, Unverlorenen, ihres Toten, der ein ewig Lebender für sie blieb, und des Kindleins, das seine Augen nur geöffnet hatte, um sie gleich wieder zu schließen und sie dem himmlischen Lichte zuzuwenden.

Sie hatte eben gelacht; nun weinte sie, ohne sich einer besonderen Veranlassung bewußt zu sein. Ihr kamen die Tränen inbrünstig, warm, unsäglich erquickend.

Beim Verlassen des Zimmers kam sie an ihrem großen Spiegel vorbei, blieb stehen, betrachtete ihr Bild mit ungewohnter Aufmerksamkeit. Der Anblick kränkte sie. Zu groß war der Zwiespalt zwischen ihrem Äußerlichen und ihrem Innerlichen. Ihre Empfindungen, ihre Anschauungen waren fein und zart. Ihre Seele – o gewiß! wenn Seelen sichtbar werden könnten, die ihre wäre als hohe, biegsame Sylphidengestalt zur Erscheinung gekommen. Warum mußte diese schlanke Seele in einer untersetzten Gestalt Wohnung genommen haben? Warum mußte eine Frau, die nur von Erinnerungen lebte, so wohlgenährt aussehen, warum auch noch jünger, als sie war? Sie haßte ihre starken, dunkeln Haare, die noch immer nicht grau werden wollten, und frisierte sie so unmodern wie möglich à la George Sand. Trotzdem mußte sie sich fortwährend wiederholen lassen, daß sie wunderbar konserviert sei und – was sie am meisten kränkte – vortrefflich aussähe.

Eine halbe Stunde später hatte sie ihr Tagewerk schon begonnen und das Decken des Frühstückstisches auf der Veranda überwacht.

Es war schwül, und im Westen stiegen schwere Wolken auf. Vielleicht stellte der lang ersehnte Regen sich endlich ein. Die Dürre beginnt unerträglich zu werden, die Bäume, der Rasen sind staubbedeckt. Hinabblickend sieht Frau Riesel etwas Schneeweißes aus dem Laubgang schlüpfen und sich gegen das Rosenbeet hinbewegen. Es ist der Hofrat. Die Schere in der Hand, die Tasche mit dem kleinen Werkzeug umgehängt, tritt er an seine Lieblinge heran. Nun beginnt die Pflege. Die Kelche werden mit Bürstchen von Ungeziefer befreit, die welken Blumen entfernt, die Schößlinge abgeschnitten. O schrecklich! – jetzt hat er sich vergriffen, hat eine Madame Charles Druski an langem Stiele vom Stamme getrennt, und nun eine Gloire de Dijon, eine La France, eine Coupe d’Hébé … Nein, was für Wunder man doch erfahren kann in der Alltäglichkeit. Der Hofrat, der das Verkürzen eines ohnehin kurzen Rosenlebens einen Frevel nennt, begeht ihn selbst an den erlesensten Exemplaren. Nun hat er einen prachtvollen Strauß zusammengestellt und flattert damit dem Hause zu, vergnügt wie eine Lerche.

»Guten Morgen, Frau Riesel!« ruft er ihr entgegen, »eine Blumenvase, bitte, die große, die Vieux-Saxe aus dem Salon!«

Die Vieux-Saxe, das Erbstück des Großvaters, die hinter Glas im Eckschrank residiert und bisher von keiner Hand außer der des Hofrats berührt werden durfte?

Ja, ja, die war gemeint und stand, köstlich anzusehen und mit märchenhaften Rosen gefüllt, auf dem Tische, als die Gäste sich einfanden.

Der erste Blick der jungen Frau fiel auf sie, und voll Entzücken brachte sie ihnen ihre Huldigung dar.

»Sie haben das gern, ich weiß«, sagte sie. »Ihre kleinen Seelen duften und schweben dem, der sie versteht, wonnig entgegen. Jede in ihrer Art … Von diesen Coupe d’Hébé drei an einem Stiele, welche ist die schönste? Die, die man gerade ansieht. Diese Madame Charles Druski – die Vestalin unter den Rosen – trägt den Schnee weißer Wölkchen auf ihren glanzumsäumten Blättern … Und Souvenir de la Malmaison, die reizendste von allen. Findet ihr nicht auch? Ihr melancholisches Rosa, das in der ganzen Welt der Rosen seinesgleichen nicht hat, gleitet so leise hinüber in die Stille der Farblosigkeit. Erinnerung an die Idylle in einem Heldenleben, ich liebe dich!« Sie stand auf und küßte die Rose.

Halb gerührt, halb gequält blickte der Hofrat zu ihr empor, die Bewegung seines kleinen, grauen Schnurrbartes verriet, daß seine Lippe zuckte. Mit etwas umflorter Stimme brachte er den Plan vor, am Nachmittag einen längeren Ausflug zu unternehmen.

»- Ich fürchte nur, daß es regnen könnte«, meinte Kamilla.

Da wurde er ungeduldig: »Könnte ›es‹? Ja, wenn ›es‹ wollte, könnte ›es‹. Aber ich glaube, daß ›es‹ nicht wollen wird, und bitte, lassen Sie einen Wagen bestellen.«

Frau Riesel erhob sich und mit ihr zugleich Cäcilie. Sie mußte ihren Eltern schreiben, einen großen, ausführlichen Brief über ihren Besuch in der Villa Hügel, ihnen viel, viel Böses von dem Onkel Hofrat erzählen.

»Na, mach’s gnädig«, sagte er, und nach einer kleinen Pause mit Selbstüberwindung: »Empfiehl mich dem Herrn Baron und der Frau Baronin.«

»Ich werde meinen Eltern schreiben, daß mein lieber Onkel sie grüßen läßt«, erwiderte sie und verließ mit Kamilla zugleich das Zimmer.

Die Herren gingen in den Garten.

Ein feiner Regen setzte ein, der bald dichter wurde. Die kleinen Tröpfchen, die er einzeln auf die Blumen und das Gezweige gesetzt hatte, rannen ineinander, bedeckten die Beete, Wiesen, Gesträuche mit einem kühlen Schleier.

»Es ist gut«, sagte der Hofrat, »es löscht wenigstens den Staub.«

»Ja, den löscht es«, bestätigte der Oberleutnant so harmlos, als ob er aus der Schule Frau Riesels käme. Es war völlig windstill, kein Lüftchen rührte sich, die kleine grüne Welt ringsum hielt den Atem an, schien sehnsüchtig zu warten auf etwas, das kommen und sie erquicken sollte. Und nun erhob sich in dieser Lautlosigkeit ein sanftes Rauschen, eindringlich und segensreich rieselte der Regen nieder, und was da keimte, wuchs, blühte, empfing wohlig und wonnig die Himmelsgabe. Dem Boden entstieg kräftiger, nahrhafter Duft, und welkende Zweige sahen wieder frisch und jung aus.

»Schade, daß Cäcilie nicht da ist«, sagte Eduard, »sie würde behaupten, daß sie sieht, wie die Bäume und Gesträuche sich freuen und ihre Zweige und Zweiglein dem Regen entgegen heben und strecken, um seine Labe zu genießen, und wie jeder Grashalm und wie jedes Blatt und jede Blüte dankt und dankt.«

»Hole sie.«

Er ging, kam aber allein zurück. Sie konnte sich von ihrem Briefe nicht trennen, war ja auch erst bei der fünften Seite. Der Oberleutnant schlug eine Partie Schach vor, in dessen Anfangsgründen ihn der Onkel einst unterwiesen, und beide begaben sich hinauf in das Schreibzimmer, in das Heiligtum, wie Frau Riesel diesen ernsten Raum nannte, weil er von Besuchern nur äußerst selten betreten werden durfte. Er machte mit seinen schweren Fenstervorhängen, seinen altertümlichen Lehnsesseln, den dunklen Bronzen auf Tischen und Sockeln einen düsteren Eindruck. Zwei Vitrinen aus Ebenholz bargen die Sammlung von Meisterstücken der Kleinkunst. In hohen Schränken standen hinter Glas kostbar eingebundene Bücher und Bildwerke, und über ihnen hingen ringsum an den Wänden Familienporträts in altmodischen Rahmen, die bürgerlichen Ahnen, auf die der Hofrat so stolz war. Roh und dilettantenmäßig ausgeführte Bildnisse eröffneten die Reihe; in Stieler-Manier gehaltene schlossen sie. Ein modernes Gemälde gab es nicht.

Beim Spiel, das nun begann, war der Schüler ganz versunken in Aufmerksamkeit, der Meister so zerstreut, daß er endlich in Gefahr geriet, es bloß zu einem Remis bringen zu können.

Knapp vor der Entscheidung klopfte es an die Tür. Freudiger Ahnung voll schnellte der Hofrat empor: »Herein!«

Sie war’s. Sie kam in Begleitung Frau Riesels, was ihn verstimmte und sogleich einen schnöden Verdacht in ihm erweckte.

»Aha! Sie kommen, um einen meteorologischen Triumph zu feiern!«

»Ich komme, um Ihre Befehle einzuholen«, erwiderte sie sanft, ohne den Schatten einer Duldermiene.

»Warten Sie noch, das Wetter macht sich, wir bekommen vielleicht den schönsten Nachmittag.«

»Aber warum sollen wir ihn nicht zu Hause zubringen?« fragte Cäcilie. »Ich möchte gar zu gern deine Sammlung sehen, lieber Onkel. Ich habe soviel von ihr gehört.«

»Wirklich? – Durch wen?«

»Nun, durch Mama.«

»Ja so-o, ja so-o, durch die Mama …« Er überwand die kleine Enttäuschung und versprach, den Wunsch der Nichte zu erfüllen. Aber erst später, man brauche Zeit. – »Also«, wandte er sich an Kamilla, »wenn sie also durchaus nicht ausfahren will, dann können Sie den Wagen abbestellen.«

Frau Riesel neigte das Haupt und schritt dem Ausgange zu; Eduard eilte ihr nach, öffnete vor ihr die Tür und flüsterte: »Gnädige Frau haben eine himmlische Geduld.«

Von seiner Bewunderung getragen wie von Flügeln, schwebte sie mehr, als sie ging, die Treppe hinab und begegnete in der Nähe der Gastzimmer dem alten Diener des Hofrats. Er trug die Vase mit den herrlichen Rosen und blieb lächelnd vor Kamilla stehen: »Für die gnädige Frau Oberleutnant.«

»Ja, ja, ich weiß«, log sie und ließ ihre Augen halb gerührt, halb beängstigt auf den Blumen ruhen.

In dem kostbaren Rosenbukett fehlte die Malmaison.

Beim Mittagessen wurde durch die Heiterkeit Cäciliens und durch ihre lustigen Einfälle die gute Stimmung wiederhergestellt. Zum schwarzen Kaffee ging die kleine Gesellschaft in das Rauchzimmer und hatte kaum dort Platz genommen, als sich auf der Treppe und im Gange Schritte vernehmen ließen. Eine laute, wohlbekannte Stimme fragte: »Wo sind sie? Ja so, im Rauchsalon. Josef, mein Parapluie! Betty, mein Regenmantel!«

Die Tür flog auf, und da stand Frau Sektionsrat, dunkelrosa und hellblond, den Ausdruck eines Baby im ältlichen Gesichte.

»Die Mama!« rief Cäcilie; Eduard sprang auf, breitete die Arme aus und deklamierte:

 

»Aus dem bewegten Wasser steigt

Ein feuchtes Weib empor.«

 

Wieder ein Zitat! – unglaublich nett für einen Oberleutnant von der Kavallerie, dachte Kamilla.

Rosa löste sich aus den Armen ihrer Kinder und ging auf den Vetter zu: »Verzeih den Überfall, aber ich konnte nicht vorbeifahren, ohne euch zu begrüßen.«

Dabei sah sie Kamilla mit einem unendlich vielsagenden Blick an, und die Freundin nahm in ihrem Herzen auf, was er ausdrücken wollte: Dankbarkeit, Liebe, Verehrung.

»Regnet es noch?« fragte der Hofrat.

»Nein, es schüttet.«

»Setz dich und trink eine Tasse Kaffee.«

Sie gehorchte. »Danke dir. Gern, sehr gern. Ich komme nur für einen Augenblick. Wollte nur sagen … Also Kinder, von den Wohnungen, die ich angesehen habe, paßt mir keine. Ich habe jetzt eine Sommerwohnung für den Herbst genommen.«

»Das sieht dir ähnlich«, sagte der Hofrat.

»Papa bekommt schon in vierzehn Tagen Urlaub. Wir fahren dann direkt nach Karlsbad und erwarten euch dort, und ihr bleibt bei uns, bis es wieder einrücken heißt.«

»Und vorher?« fragte der Onkel.

»Bevor wir nach Karlsbad fahren, meinst du? Wir haben große Projekte«, erwiderte Eduard. »Wir wollen wandern, wandern! großartige Fußtouren durch unsere Alpenländer unternehmen. Ich treibe mich lange genug in der Heimat meiner Frau herum, sie soll jetzt die meine kennenlernen.«

»Dazu wäre mehr Zeit nötig, als euch zur Verfügung steht.«

»Oh, wir haben Zeit«, sagte Cäcilie, »es ist ja heute erst der zwölfte Juli, und morgen abend«, es klang wie ein unterdrücktes Jauchzen, »grüßen wir schon die Ischler Berge.«

Was bei diesen Worten in dem alten Herrn vorging, bemerkte niemand, nicht einmal sie, die ihn am besten kannte. Sie war dazu viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, war ganz erfüllt von Scham und Reue. Heute der zwölfte Juli! Ihres Vinzenz’ Geburtstag. Wohl hatte sie im Gebete ihres Entschlafenen besonders liebreich gedacht, aber ohne Beziehung auf diesen doppelt geweihten Trauer- und Feiertag.

»Nach Ischl wollt ihr bei dem Wetter?« brachte der Hofrat mit gequältem Lächeln hervor.

Sie aber schwelgten in Vorfreude, machten die kühnsten Pläne, erstiegen unter tausend Gefahren und Schwierigkeiten die höchsten Berge. Ihre Beschreibungen wurden so schwindelerregend, daß die Mama erklärte, sie nicht länger mit anhören zu können. Sie stand auf und nahm allerseits herzlichen Abschied. Auch Eduard empfahl sich, aber nur für ein paar Stunden. Er wollte die Mama nach Hause bringen und den Papa noch einen Augenblick sehen.

Cäcilie erinnerte den Onkel an sein Versprechen, ihr seine Sammlungen zu zeigen, und als die beiden nun einander im »Heiligtum« gegenübersaßen, ließ der Hofrat den Kunstschatz, den er in vielen Jahren zusammengebracht hatte, vor ihren Augen erstrahlen. Er machte sie aufmerksam auf kleine Bronzen, seltene Denkmünzen, Gemmen und Emails, um die ihn die kaiserliche Schatzkammer beneiden durfte. Cäcilie folgte seinen Erklärungen mit größtem Interesse. Er freute sich an ihrem ernsten Verständnis, würdigte ihr gutes Urteil, ihren Geschmack, ihm schmeichelte ihre Bewunderung der schönen Bücher in den Schränken und die Anteilnahme, mit der sie die Gemälde an den Wänden betrachtete. Ihr Blick glitt suchend umher, sie ließ ihn auf dem Schreibtisch ruhen und fragte endlich: »Und die arme Tante? Wo ist ihr Bild?«

Er stutzte: »Wen meinst du?«

»Deine Frau …« erwiderte sie, betroffen über seinen Ton.

Er schwieg eine Weile. »Hat dir Mama Rosa nicht gesagt«, sprach er dann plötzlich, »daß ich sehr unglücklich in meiner Ehe war?«

»Nein.«

Er ließ sie nicht aus den Augen, er sah ihre Verwirrung: »Von dem, was du jetzt denkst, ist keine Spur. Meine Frau war mir treu.«

»Und trotzdem …«

»Und hat mich trotzdem unglücklich gemacht, und ich habe ihr das vergolten.«

»So habt ihr einander nicht liebgehabt?«

»Im Gegenteil. Ich habe sie geliebt bis an ihr Ende. Sie hat mich auch lange sehr geliebt … Dann aber, zuletzt … mich gehaßt.«

»Das ist fürchterlich.«

»Ja.«

Sein finsterer Ausdruck wurde ihr unheimlich, sie hätte ihn gern von den peinigenden Gedanken, die ihn erfüllten, abgelenkt und wußte nicht, wie das beginnen. Teilnahmslos wollte sie nicht erscheinen und ebensowenig neugierig. So sagte sie denn nur zaghaft und leise: »Armer Onkel.«

Er sah ihre Ratlosigkeit und fand Vergnügen daran. Sie ein wenig zu quälen freute ihn, es schmeichelte ihm, daß er die Macht dazu hatte. Jedenfalls gehörte ihm in diesem Augenblick ihr volles Interesse, und er geizte danach, es festzuhalten, sogar um den Preis von ein wenig Selbstachtung. So tat er, was er nie getan hatte, er sprach von seiner Ehe, die ein Kampf gewesen war vom ersten bis zum letzten Tag. Zwei gleichstark entwickelte Individualitäten standen einander gegenüber und rangen um das gleiche Recht, das Recht, sich zu entfalten nach dem eigenen, innersten Gesetz. Und diese Kämpfer waren zwei Liebende, und an ihnen erfüllte sich das Dichterwort: »Wir brannten, doch wir schmolzen nicht.« Den Stunden heißer Zärtlichkeit folgten Tage der Auflehnung, der Empörung. Sei anders! verlangte er von ihr, sie von ihm, tadle nicht, wo ich bewundere, und wo ich bete, da spotte nicht … Es gab weiche Stunden, in denen die Liebe sprach: Beuge dich, schmiege dich, verleugne dich. Und es geschah, aber auf Kosten der inneren Wahrhaftigkeit; es war eine Lüge und der Preis zu hoch, die Lüge rächte sich … Immer kleinlicher und häßlicher wurde der Streit. Aus welchen Arsenalen holten sie ihre Waffen! Wie heimtückisch wurden sie geschärft! Ein Nadelstich konnte vergiften wie ein Vipernbiß.

Es ging so weiter, bis die Krankheit kam, deren tödlichen Ausgang die Frau vor sich sah und von der sie nicht geheilt werden wollte. Nur fort, nur fort aus dem unerträglichen Leben wollte sie. Vor dem Manne verheimlichte sie ihre Leiden, und das war nicht schwer. Er war kein Ahner, kein Errater, lebte fest eingesponnen in das Netz seiner Friedlosigkeit, mit Blindheit geschlagen für das Nächste. Andere mußten ihm die Augen öffnen. Und andere waren es auch, die sie in den letzten Tagen ihres Lebens umgaben. Die Krankheit hatte ihr die Kraft der Selbstbeherrschung genommen, er mußte sehen, daß seine Nähe ihr quälend war. Sich fernhalten blieb die einzige Wohltat, die er ihr noch erweisen konnte. Er tat’s, er brachte es über sich. In Unfrieden gelebt, entfremdet gestorben. Wer trägt die Schuld? Sie, er, beide? keines?

Er war in seiner Rede immer gedrängter, seine Sätze waren immer kürzer geworden. Manchmal kam es ihm: Warum erzähle ich ihr das alles? Dann sah er sie an und – erzählte weiter. Sie hörte ihm mit so gespannter Aufmerksamkeit zu, so voll innigsten Mitgefühls, schüttelte nur manchmal den Kopf und sagte mit leisem, schüchternem Tadel: »Das versteh ich nicht.« Aber auf die Frage: »Wer trägt die Schuld? er? sie? keines?« antwortete sie ernst und durchdrungen: »Keines.«

»Du absolvierst also?« Ein herbes Lächeln überflog sein Gesicht. Die bösen Geister des Unmuts und der Verdrossenheit regten sich. Nun war ihm doch leid, daß er gesprochen hatte, und wieder dachte er selbstquälerisch: Wozu? Warum?… Eine Erklärung schien ihm nötig, eine Entschuldigung vor ihr und vor sich selbst. »Du solltest nur wissen«, sprach er mit erzwungener Gleichgültigkeit, »warum bei mir kein Bild von meiner Frau zu finden ist.«

Sie erriet, was in ihm vorging. Der alte Mann war ihr ehrwürdig geworden, weil er soviel gelitten hatte: »Bereue nicht, daß du mir dein Vertrauen geschenkt hast.«

»Nein, nein – wenn’s auch überflüssig war. Findest du nicht?«

»Gewiß nicht, es ehrt mich ja.«

Er schwieg, vermied, sie anzusehen, hielt die Augen auf ein Fenster gerichtet, an dem die Regentropfen in langen Fäden, lichte Streifen bildend, niederglitten.

Cäcilie geriet wieder in Ratlosigkeit. Sollte sie das Schweigen unterbrechen? Von gleichgültigen Dingen reden war ebenso unmöglich wie ein Zurückkommen auf das frühere Gespräch, und die Stille begann peinlich zu werden.

Da schlug die große Renaissanceuhr auf dem Kamin die Stunde an.

»Sechs Uhr«, sagte die Nichte mechanisch, und der Onkel fragte ungläubig: »Wirklich, schon sechs Uhr?«

Jawohl, und da kam denn auch Eduard und entschuldigte, wie der Hofrat fand, sehr unnötigerweise sein langes Ausbleiben. Er hatte den Papa zu Hause gefunden und ihn nicht sogleich wieder verlassen können. Ein heller Freudenglanz war bei seinem Eintreten über das Gesicht seiner Frau geflogen. Er schloß sie in die Arme und küßte sie: »Morgen um diese Stunde sind wir weit fort.«

Zur Partie kamen die drei Herren heute zu früh. Und dann war wieder so ziemlich alles wie gestern und wie es morgen sein wird und übermorgen und alle die armen noch kommenden farblosen Tage im Zeichen der alten Tyrannin Gewohnheit. Das innerhalb der vier Mauern. Und – außerhalb? Der Widerstreit, in dem der Hofrat stand mit seiner Zeit, hatte ihn noch nie mit solcher Bitterkeit erfüllt; er war sich noch nie so entsetzlich einsam vorgekommen.

An der Konversation beim Souper beteiligte er sich zum allgemeinen Erstaunen nur selten und dann ohne die gewohnte Schärfe. Um so eifriger führten die drei Freunde das Redeturnier. Jeder wollte den Preis erringen, die Anerkennung und Bewunderung einer reizenden jungen Frau. Der Professor verteidigte die neue Zeit gegen die Angriffe der beiden anderen Herren und führte seine Sache, wenn auch durchaus nicht immer mit tadellosen Waffen, so geschickt, daß die Gegner sich in ihren Sätteln bedenklich wanken fühlten. In seiner Bestürzung wurde der Major, wie er nachträglich zugab, »massiv«, und der Großindustrielle schleuderte dem Gelehrten im Zorn über eine schlaue und hinterlistige Behauptung die Worte zu: »Ach was! Verschonen Sie mich! Am Ende hat noch Bakunin recht: ›Alles zerstören und sehen, was nachwachsen wird.‹«

»Zu arg!« stieß Frau Riesel unwillkürlich hervor, und auch Cäcilie wünschte das Ende des Streites herbei.

Sie legte ihre Hand auf die des Onkels, neben dem sie saß. »Ich bitte dich, sprich du, was sagst du zu alledem?«

Er hatte gezuckt bei ihrer Berührung. »Nichts, was dich freuen könnte. Was nachwachsen wird«, wandte er sich an seine erregten Gäste, »ist leicht vorauszusehen. Wenn der Anarchismus über unsere heutige Kultur wie ein wahnsinnig gewordener Dampfpflug über Getreidefelder hinrasen, zermalmen und zerstören, das Unterste zuoberst kehren wird, was für einen Nachwuchs bekommt, der’s erlebt, zu sehen? Unendliches Unkraut, saures Gras und hier und da, spärlich vereinzelt, einen Halm mit einem Ährenbüschel. Da ist ein Keimchen von der Vernichtungswut unerreicht geblieben und treibt nun aus der alten Erde die alte Blüte, die alte Frucht. Ein Sämann wird kommen, die Körner sammeln, den Boden bereiten, vermutlich fern in einem andern Weltteil, und dort …«

»Dort«, fiel der Professor ein, »werden nach dem Verlaufe einer langen Zeit wieder unabsehbare Saaten sich dehnen, fruchtschwere Felder wallen, die wieder nach abermals langer, langer Zeit der Rost anfressen und reif machen wird zur vernichtenden Mahd. Und wieder werden gescheite Leute, vielleicht ein Staatsdiener, ein Soldat, ein Kaufherr, ein Bücherwurm, beisammensitzen und Betrachtungen anstellen über den Lauf der Welt.«

»Glaube ich nicht!« rief der Major, »ich glaube an den Fortschritt.«

»Auch ich; von ganzer Seele, aus allen meinen Kräften, ich möchte nicht leben, wenn ich an ihn nicht glauben dürfte«, sagte Cäcilie, und der Major triumphierte, ihm war der Preis des Wortgefechtes – ihre Zustimmung – zugefallen. Der Großindustrielle jedoch fühlte sich gänzlich mißverstanden und grollte.

Es war schwül geworden im Zimmer. Frau Riesel öffnete die Tür der Altane. Der Gelehrte trat hinaus, stellte Wetterbeobachtungen an und verkündete, daß der Regen aufgehört habe, daß schon einige Sterne blinkten und daß es morgen das schönste Reisewetter geben werde.

Die Tarockpartie war vor dem Souper abgeschlossen worden, die Herren empfahlen sich, und der Großindustrielle bedauerte, daß er morgen abend nicht werde kommen können.

»Dann gibt es also keine Partie«, erwiderte der Hofrat trocken, und seine treue Hausdame seufzte im stillen: Das auch noch!

Nun kam der Abschied.

Die jungen Leute nahmen ihn schon heute. Sie wollten morgen mit dem frühesten fortfahren.

»Was heißt das früheste?«

»Schlag sieben Uhr, und du darfst dich durchaus nicht durch uns stören lassen, wir werden abziehen, so leise wie ein Paar Fledermäuse«, sagte Cäcilie, und sie und ihr Mann dankten dem liebsten, besten Onkel auf das wärmste für seine Gastfreundschaft und seine große, große Güte. Sie dankten auch von Herzen der teuren gnädigen Frau. Cäcilie umarmte sie, und Eduard küßte ihr die Hand.

Noch einige Abschiedsworte, Verneigungen, Händedrücke, und der Hofrat und seine Hausdame waren allein.

Er blieb eine Weile unbeweglich und ganz in sich versunken. Sein Mund hatte einen wehmütigen Zug, den Kamilla nicht an ihm gekannt. »Also morgen reisen sie«, sagte er.

»Und das ist gut«, erwiderte sie unhörbar leise.

 

Die Prophezeiung des Gelehrten traf ein, der Sommermorgen war von strahlender Pracht. Zur bestimmten Stunde hielt der Wagen vor dem Tor, und Frau Riesel, in der Toilette ihrer Halbtrauertage, überwachte die sorgfältige Unterbringung der eleganten Reiseeffekten auf dem Kutschbocke.

Das Ehepaar trat aus dem Hause. Er trug zwei Handtaschen, sie das schöne Rosenbukett.

Und nun begrüßte man einander.

»Nein, gnädige Frau, Sie schon da! Das ist doch zuviel!…«

»Meine Schuldigkeit«, erwiderte sie gelassen, »aber bitte, sehen Sie nur, wer kommt da?…«

Der Hausherr war’s, so fein und sorgfältig angetan, als ging’s zu einem Feste.

Die jungen Leute überhäuften ihn mit liebevollen Vorwürfen.

»Onkel! So früh aufgestanden und uns zuliebe! Wir sind unglücklich, wir sind beschämt.«

Er versuchte zu scherzen, er verneigte sich tief: »Frau Baronin, ich weiß, was sich gehört.«

»Und ich auch!«

Im nächsten Augenblick fühlte er auf seiner Wange den festen Druck junger, frischer, Gesundheit atmender Lippen.

»Adieu! Adieu!« Sie stieg in den Wagen. Eduard folgte:

»Vorwärts!«

Der Hofrat und Frau Riesel blieben vor der Gartentür stehen und blickten den Davonfahrenden nach, die sich erhoben und umgewendet hatten, grüßten und winkten.

Der alte Mann folgte mit den Augen noch eine Weile der Richtung, in der sie entschwunden waren. Dann wandte er sich dem Hause zu. Seine Untergebene folgte. »Die bleibt mir«, spöttelte er, sich selbst zuleide, und bewahrte gegen sie ein feindseliges Schweigen. Die Feinfühlige ging auf in großherzigem Mitleid, verzieh alles, begriff alles, verstand alles – ach, nur zu gut!…

Ihr war wie einem Schwan, der einen kleinen Tintenklecks auf dem schneeweißen Gefieder davongetragen hat.

Ihm saß ein Stachel tief im Herzen.

 

Cäcilie sah sich noch einmal nach der Villa um.

»Der Onkel ist unbeschreiblich gut für uns gewesen«, sagte sie zu ihrem Manne. »Unser Besuch hat ihn gefreut, aber wiederzukommen hat er uns nicht eingeladen.«

»Nein, es ist eigentlich merkwürdig, das hat er nicht getan.«

Und sie fuhren mit sonnenhellen Herzen in den sonnenhellen Tag hinaus, den grünen Wäldern und Bergen, den schimmernden Seen, den ehrwürdigen Gletscherriesen munter und unternehmungslustig entgegen; sie blühten in Jugend und Schönheit, und kraft ihrer Liebe und Begeisterung gehörte ihnen die Welt.

Der Gute Mond

Vor vierzehn Tagen haben wir ihn zur letzten Ruhestätte begleitet: Herr Franz von Meyer, Herr Joseph von Müller und ich, Johann Ritter von Schmidt.

Ja, er ist tot, der gute Mond; nun gibt es keinen Königrufer mehr, und sind wir reduziert auf einen Tapper. Einen andern Stammgast des »Blauen Raben« einzuladen, den leer gewordenen Stuhl des Freundes zu besetzen ist uns nicht eingefallen, so viele Prätendenten sich derohalber auch direkt und indirekt bei uns gemeldet und so anständige Leute es auch waren, an denen unser Städtchen überhaupt, zu seiner Ehre sei es gesagt, keinen Mangel leidet. Der Platz, den der gute Mond durch neunzehn Jahre allabendlich drei Stunden lang eingenommen hat, ist infolge des hohen Alters seines Inhabers und des Ratschlusses der ewigen Vorsehung leer geworden und soll denn leer bleiben. Was die Erinnerung an den Verblichenen betrifft, so wird sie uns niemals entschwinden, und werden wir die Geschichte, die er am liebsten erzählte, niemals vergessen. Aber derweil sie noch frisch in uns lebt und seine Ausdrucksweise uns auch noch ganz geläufig ist, habe ich, der ich mich des besten Gedächtnisses erfreue und auch ziemlich gut in der Feder bin, es unternommen, dieselbe aufzuschreiben. Bin mir dabei wohl bewußt, daß die Hauptursache des Eindrucks, den die Geschichte auf uns machte, in dem Mangel an Übereinstimmung lag zwischen dem, was der Erzähler von sich selbst, und dem, was seine Erzählung von ihm aussagte.

Kaum wird es, soweit die Erde rund ist, einen Mann geben, der sich in einer Lage wie diejenige, in welche er versetzt wurde, mit ähnlicher Selbstbeherrschung und Zartheit benommen hätte. Daß er trotzdem immer auf sein derbes und brüskes Wesen zurückkam und es ihm nie einfiel, daß er auch anders hätte handeln können, als er gehandelt hat, das eben war es, was uns jenen oben angezogenen, seltsamen und rührenden Eindruck machte.

Ob dies beim Lesen in gleichem Maße der Fall sein wird, muß ich dahingestellt sein lassen; genug, daß ich mich der größten Treue in der Wiedergabe der Worte unseres Freundes befleißige.

Das Titelblatt zu dem Manuskript anzufertigen hat Herr von Müller sich bereit erklärt, und es wird den Verewigten vorstellen, wie er beim Tarock sitzt, mit seiner rosigen, etwas ins Karmoisinene spielenden Gesichtsfarbe und seinen schneeweißen Haaren.

Die Frau von Meyer, die eine gute Hausfrau und sehr praktisch ist, hat ihn immer verglichen mit einer zur Hälfte gezuckerten Erdbeere, und die Frau von Müller, die mehr poetisch fühlt und zur Schwärmerei neigt, wurde stets durch ihn an einen beschneiten Rosenhügel gemahnt. Dies in Parenthese.

Der Herr von Meyer spitzt schon ein Bund Gänsekiele – da er sich absolut nicht zur Stahlfeder bequemen will – zu einer kalligraphischen Abschrift.

Jedermann weiß, daß die schlechtesten Witze von den Jägern und von den Kartenspielern gemacht werden, und so war es denn auch ein schlechter Witz von uns, daß wir ihn den guten Mond nannten. Mond, weil er diese Karte so oft in die Hand bekam, und den guten, weil er mit ihr statt den anderen sich selbst einen Schaden zufügte, sintemalen er sie sehr oft vom Sküs fangen ließ. Sein wirklicher Name war Franz Edler von Bauer, und er hatte ein ansehnliches Gut besessen, das er bis in sein siebzigstes Jahr ausgezeichnet verwaltete. Als er jedoch seine Kräfte schwinden und sich nicht mehr recht fähig fühlte, die Wirtschaft mit der gewohnten Energie und Genauigkeit zu führen, und vielleicht auch aus anderen Gründen, verkaufte er die Besitzung und zog ins Städtchen, wo er bald zu sterben gedachte. Dieses traf jedoch lange nicht ein, und er brachte es zu einem Alter, das ihn berechtigte, uns, die wir sämtlich zwischen dem fünften und dem sechsten Jahrzehnt herumhüpfen, per grüne Grasteufel und rote Erdzeisel zu traktieren. Verheiratet war er gewesen und nicht gewesen. Aber – das ist eben die Geschichte, und die beginnt somit.

Es ist so lange her, daß ich mich nicht zu genieren brauche, sondern aufrichtig sagen darf: wir sind ein paar schöne Leute gewesen, mein Vetter Franz und ich. Franz! Ihr wißt schon, wir führten denselben Familien- und denselben Taufnamen, und er war ein einziger Sohn wie ich, und wir haben einander auch im Äußeren ähnlich gesehen. Beide blond mit blauen Augen, stattlichen Nasen und Vollbärten, nur daß bei ihm alles in die Länge und bei mir in die Breite ging. Und er so fein! Ach, was war euch dieser Mensch so fein! Ich habe nie einen so feinen Menschen gesehen … Ich dafür immer mehr brüsk, aber sonst – ganz ähnlich.

Meine Eltern starben früh, setzten mir einen schläfrigen Vormund, der mein Interesse nicht zu wahren verstand, und weil ich als Bub schon auf mein Interesse war wie der Teufel, kümmerte ich mich selbst um meine Sache und dirigierte und kommandierte bereits als ein Unmündiger bei mir herum. Zeit hatte ich dazu; damals verdummten und verweichlichten die jungen Leute noch nicht wie jetzt auf der Schulbank. Bei meinem lieben Vetter und Nachbar ging’s anders zu; seine Eltern trieben Abgötterei mit ihm und hätschelten ihn, als ob er eine brustkranke Prinzessin gewesen wäre. Wenn er ein Gewehr in die Hand nahm, wurden sie blaß, und wenn er junge Pferde zuritt oder einführte, beteten sie für ihn. Wenn er aber ein Gedicht machte – denn er machte Gedichte; ja, Gedichte in Versen, und die Verse reimten sich sogar – und wenn er die Poesie dem Papa oder der Mama am Geburtstag oder Namenstag unter die Serviette legte, da weinten sie vor Freude. Kurz, die Aufgabe ihres Lebens war, den Sohn zu verzärteln, und als sie dieselbe fertiggebracht hatten, verließen sie ihn – just, da sie ihm am nötigsten gewesen wären, dem unerfahrenen und unschuldigen Kind von fünfundzwanzig Jahren. Die Mutter wurde plötzlich von einem Herzschlag hinweggerafft, der Vater folgte ihr bald nach – aus Sehnsucht, meiner Treu. Auf dem Totenbett empfahl er mir den Sohn und das Gut, das, wie gesagt, an das meine grenzte. Da hatte ich ihn auf dem Hals und die Ehre, alle Tage mit ihm auf den Friedhof zu laufen zu den Gräbern seiner Eltern, die er mit Kränzen schmückte und mit sentimentalen Inschriften. Und nach Dresden ist er gereist und hat bei einem berühmten Bildhauer einen Engel machen lassen, der seine Züge trug. Sie können denken, was das gekostet hat – mich nämlich; erst die Statue und dann der weite Transport von Dresden bis herunter zu uns nach Siebenbürgen. Aber dafür welch ein Aufsehen! Von weit und breit kamen die Leute aus der Nachbarschaft, den schönen Grabesengel zu sehen und die Inschriften zu lesen, und was jung war und eine Frau oder ein Fräulein, das verliebte sich in das Urbild des Engels und in den Urheber der Inschriften. Es regnete nur so Einladungen und Briefchen, und er hatte bald eine Korrespondenz wie ein Minister. Was mir recht war, denn es zerstreute ihn doch. Und Partien hätte er machen können – prächtige! und hätte nur die Wahl gehabt zwischen einem halben Dutzend Erbtöchtern. Aber diese Unentschlossenheit und Zaghaftigkeit und dieses Nichtwissen, in welche er verliebt war!… Heute schien es ihm die und morgen jene, und wenn ich es mir einfallen ließ, auch einmal der oder jener die Cour zu schneiden, dann fühlte er sich tief gekränkt, und dann wäre gerade diese die eine und einzige gewesen, die ihm gefallen und gepaßt hätte. So, daß ich richtig immer zurücktreten mußte, wenn ich eben anfing Feuer zu fangen. Wenn ich aber sagte: »Gut, so bewirb du dich«, machte er den Großartigen und rief, er brauche kein Opfer, und jetzt sei ihm die Freude schon verdorben, und deklamierte etwas von einem kalt gewordenen Bissen auf Cäsars Teller.

Um seine Besitzung kümmerte er sich gerade soviel, um zu bemerken, daß sie ihm nichts eintrug. Hat auch nicht anders sein können, die Regie fraß ihn auf. Ich war mein eigener Verwalter, Förster, Stallmeister und Barbier. Er hat für das kleinste Amt einen eigenen Menschen besoldet und wäre dabei weiß Gott wie oft zugrunde gegangen, wenn ich nicht ausgeholfen hätte. Was ist mir anderes übriggeblieben? War es aber geschehen, das beruhigte ihn mitnichten, da ging erst das Wimmern los, daß seine Verpflichtungen gegen mich ihn niederdrückten. Um nur sein Lamentieren nicht hören zu müssen, habe ich die dummen Quittungen, die er mir aufnötigte, mehr als einmal vor seinen Augen zerrissen.

Einige Jahre ging es so fort, er näherte sich schon seinem dreißigsten, da geriet euch der Mensch in die Bande einer koketten Frau. Hochgebildet, wie bereits ihr Taufname Aglaja verriet. Ich tat, was ich konnte, um ihn loszumachen, aber es wollte mir nicht gelingen, die Dame hielt ihn fest mit schmachtenden Blicken und mit geistreichen Gesprächen. Mit Absicht machte ich mich zum unwillkommenen Dritten in ihrem zarten Bunde, scherte mich nicht um die üble Laune, mit der sie mich merken ließen, daß ich überflüssig sei, und langweilte mich wie ein Toter bei ihren Konversationen. Sie warfen herum mit Namen wie Schopenhauer, Eliot, Sand, Chopin, und ich hatte keine Idee, ob von Männlein oder Fräulein die Rede war.

Nun denn! Dieser schwärmerische Umgang und seine vielen Sorgen wegen seiner Mißwirtschaft und seine innere Friedlosigkeit und – glauben Sie mir – hauptsächlich sein ewiges Dichten brachten ihn endlich so herab, daß der Arzt ihn zur Nervenstärkung ins Bad schickte.

Drei Wochen war er dort, da bekam ich einen Brief von ihm, wißt ihr, so einen, den man meint nur mit der Feuerzange anrühren zu können, so einen, bei dem man staunt, daß das Papier dem Glutstrom widerstanden hat und nicht in Flammen aufgegangen ist.

Der Franz ist verliebt wie ein Italiener aus der Gegend des Vesuvs, wo sie am hitzigsten sind. In ein blutjunges Fräulein, das er in dem Badeorte kennengelernt hat. Er ist auch schon verlobt, die Hochzeit wird im nächsten Monat gefeiert, auf dem Gut der alten Tante, der einzigen, weiblichen Verwandten der »göttlichen Kleinen«, männliche hat sie gar keine. Ich weiß nicht, warum es mir, wie ich das gelesen habe, gleich durch den Kopf gefahren ist: Du armes schutzloses Ding. Am Schluß des Briefes teilt mir der Mensch noch mit, daß er in acht Tagen nach Haus kommt, um seine Angelegenheiten zu ordnen (o weh! denk ich und schau meine eiserne Geldkasse im Winkel recht traurig an), in vierzehn Tagen aber wieder abreisen wird, zu ihr! zu ihr! seiner Sonne, seiner Wonne, seinem weißen Schäfchen, seiner Taube. Und ganz am Schlusse heißt es: »Tiefstes Schweigen! Aglaja darf um Gottes willen nichts erfahren, bevor die Hochzeit vorüber ist.«

Das gefällt mir nicht, ich tu ihm aber den Willen, halte mein Maul und erkundige mich sub rosa nach den Verhältnissen der Braut. Alles in Ordnung, alles sehr anständig, nur im Geldpunkt, da hapert’s. Das Gut der Tante (es hieß Folt, lag an der Grenze des Banats und war viel wert) kriegt die Kleine nicht, das hat die Tante einem Kloster verschrieben, in das sie eintreten will, sobald die Nichte angebracht sein wird.

Aus den acht Tagen, nach denen Franz heimkehren wollte, werden vierzehn. Er hat sich nicht losreißen können von der Geliebten, dunkle Ahnungen haben ihn bedrängt, und beim Abschied, den er für ein paar Wochen genommen, ist ihm gewesen, als sei es ein Abschied für immer. Ich lache ihn aus, ihn und seine Nerven, und meine nichts Besseres tun zu können, als ihn aufzumuntern, sein Haus herzurichten zum Empfang der jungen Frau. Aber da geht der sentimentale Teufel in ihm erst recht los. Auf Tritt und Schritt begegnen ihm Erinnerungen an seine »goldene Junggesellenzeit«. Trockene Blumen und Lorbeerkränze mit seidenen Bändern und Widmungen, gestickte Pantoffeln und Kissen und Schlafsessel … mir ein Graus, das Zeug. Um jedes Stück, das ich vernichten oder verschenken wollte, feilschte er, und als ich über die Kassette kam, in welcher Aglajas Briefe lagen, in Paketen zusammengebunden mit rosafarbenen Schleifen, da wurde er wild und erklärte, die Briefe dürften nicht vernichtet werden, die müsse er ihr, die seine Muse gewesen war, selbst zurückbringen. – »So tu’s!« rief ich, »bring ihr die Briefe und sag: Es ist aus; sei ein Mann und sag: Es ist aus und vorbei, ich heirate.« – Er versprach’s – hat auch gewiß in dem Augenblick die besten Vorsätze gehabt, das heißt, daß er geholfen hat, den Weg zur Hölle pflastern. Ist euch von der Aglaja zurückgekommen wie ein getaufter Pudel.

Bald darauf finde ich ihn ausgestreckt auf dem Ruhebett, und er hat neben sich auf dem Tisch einen offenen Brief liegen. – »Von wem denn schon wieder?« fragte ich. – »Von meiner Braut.« – »So? Hat sie geschrieben, die Wonne, die Sonne?…« Da wird euch sein Gesicht ellenlang und seine Miene essigsauer, und er gibt dem Blatt einen Schneller, daß es bis zu mir hinübergleitet, und seufzt, als ob ihn ein schweres Unglück getroffen hätte: »Unorthographisch.«

Ich konnte nicht umhin auszurufen: »Gott sei Dank dafür!« und nehme den Brief und lese ihn, und es ist ein solcher Schatz von einem unschuldigen liebreizenden kindlichen Brief, daß mir das Herz hüpft, der neuen Kusine entgegen. – »Du hast ja heute reisen sollen«, sage ich; und er: »Ich habe geschrieben, daß ich erst am Hochzeitstage komme; sie sollen nur alle Vorbereitungen treffen.«

Nun, wie ich das höre, da steigen mir die Grausbirnen auf. Weil ich ihn aber kenne und seinen Stütz nicht reizen will, tue ich nichts dergleichen, sondern bemerke einfach: »Und wenn dir unterwegs der Wagen bricht oder wenn dir ein Pferd ausspannt, was dann?« Er schweigt und schaut mit seinem hochmütigsten Blick zum Fenster hinaus, und mir läuft die Galle über, und ich schreie ihn an: »Schreib doch lieber ganz ab!« – »Du weißt recht gut, daß ich nicht mehr aus kann«, entgegnet er, »werde schon zur rechten Zeit dort sein. Sie erwarten mich gar nicht vor der letzten Stunde.«

»Aha«, versetzte ich, »die Braut muß am Altar stehen, dann wirst du erscheinen wie der Prinz im Feenmärchen – wirst du?« – Keine Antwort. Der Mensch versinkt wieder in seine träumerische Stummheit und erhaben sein sollende Ruhe.

Glaubt mir, wenn es damals wie jetzt auf eine Tagereise von meinem Gut ein Telegraphenamt gegeben hätte, aufs Pferd würde ich mich geworfen haben, hingeritten wäre ich und hätte auf eigene Gefahr nach Folt depeschiert: »Unvorhergesehene Hindernisse, Ankunft zweifelhaft, Brief folgt.« Aber damals, da war es so bei uns, daß der Postmeister von Türsdorf, wie ich zum erstenmal das Wort Telegraph vor ihm ausgesprochen habe, der Meinung gewesen ist, das sei etwas Eßbares.

Eine gräßliche Woche vergeht; der Tag, an dem der Franz durchaus hätte reisen müssen, um noch knapp zurechtzukommen, ist da, und wieder finde ich ihn auf seinem vermaledeiten Lotterbett, dieses Mal mit Eisumschlägen auf dem Kopf. Wie eine kranke Schlange wand er sich: »Ich kann nicht fort, Bruder, ich kann nicht! Sie stirbt, meine Muse stirbt, wenn ich gehe, es ist ihr Tod!« – So winselt er … »Bruder, fahre du hin, entschuldige mich, sage der guten Kleinen, es war ein Irrtum, ich habe mich übereilt. Nein, sage ihr, ich habe mich besonnen – ich verdiene sie nicht!«

Von jeher habe ich gewußt, daß ich ein heftiger Mensch bin und rauh von Natur. Die Wut aber, die in dem Augenblick bei mir losgebrochen ist, deren hätte ich mich nicht für fähig gehalten. »Weißt du«, sag ich ihm, »du bist doch ein miserabler Kerl«, sag ich ihm … »Und wenn du noch einen meiner Namen führtest, aber du führst beide, und ein schlecht Unterrichteter kann glauben, daß von mir die Rede ist, wenn jemand sagt: Franz von Bauer heißt die Kanaille!« So rase ich, der Zorn umnebelt meinen Geist, trotzdem aber steht es klar vor mir, daß mit dem elenden Waschlappen von einem Menschen nichts anzufangen ist und daß ich nur gleich meine sieben Zwetschen zusammenpacken und davonkutschieren muß.

Ein paar Stunden später bin ich auf der Reise gewesen und bin gefahren mit der Post, mit dem Bauer, mit allem, was mir den Wagen vom Fleck gebracht hat – er war zum Glück neu und gut –, bin gefahren vom äußersten Nordosten des Landes bis zum äußersten Südwesten, Tag und Nacht, in der linken Hand die Geldkatz, in der rechten die Peitsche … Herrgott im Himmel! nur einen Tag einbringen, einen einzigen, damit die armen Damen wenigstens den Hochzeitsgästen absagen und die Musikanten nach Haus schicken können. – Das hab ich erreichen wollen. Ist mir aber nicht geglückt … In der Geldkatz haben die letzten Muttergottes-Zwanziger gescheppert, von der Peitsche war das Schmißl abgehauen, und der einunddreißigste August hat mich noch auf dem Wege gefunden.

Kinder! Keinem von euch wünsche ich, daß er sich einen Begriff davon machen könne, wie mir war, als ich beim Dorfe Folt ankomme und den ersten Böllerschuß höre, der mich begrüßt … was – mich! den Bräutigam, den sein sollenden – und ich dahinfahre unter dem ersten Triumphbogen und die ganze Bevölkerung im Sonntagsstaat auf den Beinen ist. Vom Kirchturm bimmelt Glockengeläute, vor dem Herrenhause stehen Wagen an Wagen, Menschen an Menschen, und auf dem Balkon schimmert’s blau und rosenfarbig vor lauter Kranzeljungfern. Und ein so donnerndes Hurra empfängt mich, als ich in den Hof hineinfahre, daß mein Geschrei: »Ich bin’s nicht! Stillgeschwiegen! – Ich bin’s nicht!« geradesoviel Wirkung macht wie das Stöhnen eines Verwundeten im Schlachtgewühl. Eine Unzahl Hände streckt sich mir entgegen, mir aus dem Wagen zu helfen … Ich stoße alle fort und rufe einem alten Diener zu, der dasteht mit schlotternden Knien und wackelndem Kopf und dem Tränen des Entzückens und der Rührung über die Wangen laufen: »Führe mich zur gnädigen Frau. Ich muß mit ihr sprechen unter vier Augen.« – »Bitte, bitte!« stammelt er und macht noch Zeremonien wegen des Vortritts. Das war, sag ich euch, zum Teufelholen.

Nun, der alte Mensch geleitet mich in ein Zimmer, einfach, solid; an der Wand ein großer Schreibtisch wie von einem Amtmann, drüber ein Kruzifix. Da warte ich kaum eine Minute. Eine hohe Gestalt tritt ein – klösterlich gekleidet, streng, majestätisch. Stutzt nicht einmal bei meinem Anblick, zieht nur die Brauen finster zusammen, als ich mich nenne, und wird nur bleicher, während ich ihr kurz und bündig melde, wie die Sachen stehen.

»Und was gedenken Sie jetzt zu tun, Herr von Bauer?« fragt sie.

»Das weiß ich nicht, Gnädigste«, antworte ich.

Sie richtet die Augen auf das Kruzifix, ich glaube, daß sie gebetet hat.

Dann wendet sie sich wieder in ihrer steinernen Hoheit zu mir und fragt: »Sind Sie verheiratet?«

»Nein, Gnädigste.«

»Ist Ihr Herz frei?«

»Ja, Gnädigste.«

»Sie haben gegen kein weibliches Wesen Ihres oder eines anderen Standes irgendwelche bindende Verpflichtung?«

Ich mußte lächeln.

Eine bindende Verpflichtung – ich! Ich hatte nie eine Liebschaft gehabt und mit den Weibern überhaupt so wenig als möglich zu tun. Sie verdienen keinen Respekt, meinte ich damals, und fühlte höchstens Mitleid mit ihnen, wenn ich sah, wie sie dem Franz nachliefen, an dem ja gar nichts war, einzig und allein wegen seines hübschen Gesichtes und seiner verdammten Versschmiederei.

Ich mußte also lächeln und verneinte.

Die Dame sah mich mit Augen an, mit Augen, wie ich vorher keine gesehen hatte und nachher keine gesehen habe, Augen, die Herz und Nieren prüfen, und sagte: »Sie sind brav und redlich.«

Ja – Sie sind! sagte sie und nicht, wie es doch natürlich gewesen wäre: Ich halte Sie für brav und redlich.

Noch einen Blick nach dem Kruzifix, noch ein Stoßgebet, und sie sprach: »Der gute Name meiner Nichte fordert, daß meine Nichte heute mit Herrn Franz von Bauer vor den Traualtar trete.«

»Fordert? würde fordern«, versetzte ich – »es gibt leider kein Auskunftsmittel.«

»Es gibt eines, Herr von Bauer, ein gefährliches allerdings … Herr von Bauer, wollen Sie verhindern, daß ein unbescholtenes Mädchen Schmach erfahre durch ein Mitglied Ihrer Familie?«

»Gott weiß, daß ich’s verhindern wollte!« rief ich. »Wäre ich sonst hier? Hätte ich mich sonst zum Überbringer der elendesten Botschaft gemacht? Meine Schuld ist es nicht, daß ich zu spät gekommen bin!«

»Nicht zu spät«, lautete ihre Entgegnung, »wenn Sie sich entschließen könnten, Ihren wortbrüchigen Verwandten zu vertreten.«

Da wurde mir schwindelig, und ich fragte: »Am Traualtar?«

Sie erhob die rechte Hand wie aus Wellen von allerlei Spitzenzeug, das um sie herumflutete, und sah mich an. Eine Norne, sag ich euch, eine Sibylle! Ich sag euch – etwas Überirdisches.

»Nur am Traualtar«, sprach sie feierlich, ging an den Schreibtisch, schellte und gab dem herbeieilenden Diener Befehl, ihre Nichte zu rufen.

Liebe Jungens, da kam euch ein Kind herein, ein Kind im Brautschleier und Myrtenkranz, das holdeste, das die Welt je gesehen, keine Schönheit, etwas tausend- und tausendmal Lieblicheres als eine Schönheit.

Ich habe immer meinen Spaß gehabt an den plötzlichen Verliebungen, die in Romanen und in Theaterstücken vorkommen, und gesagt, mir selbst muß sowas passieren, sonst glaub ich’s nicht … Als das Kind im Myrtenkranz hereintrat, da hat mich’s gepackt … Versteht mich! Nicht à la Romeo; behüt der Himmel! in viel sanfterer Manier, aber mit einer großen Macht … Wo ist denn nur geschwind eine Gefahr, aus der ich dich retten könnte? – Das war mein Gefühl. Eine ungemeine Verlegenheit dazu, wegen meiner bestaubten Stiefel und Kleider, und die bestürzte Frage: Wie seh ich aus?

Das Kind, heiter wie das Sonnenlicht, dankt meinem tiefen Gruße und sagt zu mir: »Wo ist Herr Franz?« und zur Tante: »Das ist der gute Vetter, nicht wahr? von dem er uns so oft erzählt hat.« Die Tante nickt, führt mich einige Schritte weiter und flüstert: »Nun?« – und ich antworte: »Oh – was mich betrifft – aber sie – wird sie denn wollen?«

»Meine Nichte hat keinen Willen«, erwiderte die Gnädigste und gibt dem Diener – es ist immer derselbe Alte, der kein Ende finden kann mit Flennen – Befehl, den Herrn Bräutigam auf sein Zimmer zu geleiten und ihm behilflich zu sein beim Ankleiden.

Es war mein Glück, daß ich mir einen anständigen Anzug mitgebracht hatte, und während ich mich wasche und mir die Haare bürste, nimmt der Alte meinen Frack aus dem Koffer, drückt ihn an seine Brust und weint, daß mir bange wird, der sammetene Kragen könne Spiegel kriegen.

»So ein Engel, gnädiger Herr! und ich habe ihre Mutter – und die war auch schon so ein Engel – auf diesen meinen Armen getragen … Und seien der gnädige Herr gut mit dem Engel; wir alle, wir haben ihm unsere Hände unter die kleinen Füße gelegt … Und die Allergnädigste sind wie eine Königin in ihrem Reich, aber weiches Wachs in den Fingern der kleinen Alma.«

»So?« entgegne ich und lebe auf, denn wie die Gnädige gesprochen hatte: Meine Nichte hat keinen Willen, ist sie mir vorgekommen wie Iwan der Schreckliche und ich mir wie sein gehorsamer Henker. – »So hat die Kleine doch einen Willen?«

Der Diener geriet in Bestürzung und stotterte: »Willen, halten zu Gnaden, das nicht, wie sollte sie? – einen Willen hat sie nicht.«

Ich wandte mich von dem alten Esel ab und hörte nicht mehr auf sein Geplapper.

Eine volle Stunde verging.

Die Kleine wehrt sich, hoffte und – fürchtete ich, die Kleine macht Gebrauch vom Recht des Schwachen, vom Recht, nein zu sagen.

Das Jubilieren der Gäste, denen man vermutlich brav einschenkte, um ihnen die Wartezeit zu versüßen, drang zu mir herüber. Die Glocken begannen mit erneuerter Kraft zu läuten, an der Tür pochte es. Ein Geistlicher von kleiner Statur und klugem Aussehen näherte sich: »Unsere Allergnädigste«, sprach er mit leiser, etwas heiserer Stimme, »beliebten mir mitzuteilen, daß Euer Hochwohlgeboren in der Eile der Abreise einige Ihrer Dokumente zu Hause vergessen haben, aber hoffentlich doch nicht alle.«

Ich hatte meinen Paß, und damit Punktum. Den reichte ich dem geistlichen Herrn. Er nahm ihn in genauen Augenschein und sagte: »Das ist ja gut. Was noch fehlt, werden Euer Hochwohlgeboren die Gnade haben nach der Vermählung herbeizuschaffen.«

»Vermählung? – So ist Vermählung?«

Der Geistliche überhörte meinen unwillkürlichen Ausruf. – »Unsere Allergnädigste«, fuhr er fort, »die nicht mehr Zeit hat, das Geschäftliche noch einmal mit Euer Hochwohlgeboren durchzusprechen, läßt Euer Hochwohlgeboren durch mich in Erinnerung bringen, daß Fräulein Nichte keine Anwartschaft auf die Herrschaft Folt besitzt, diese vielmehr nach dem Ableben der Allergnädigsten laut getroffener testamentarischer Verfügung in das Eigentum der Kirche übergeht. Hingegen erhalten Fräulein Nichte als Heiratsgut von hochdero Frau Tante ein Geschenk von fünfzigtausend Gulden Konventionsmünze, das nach geschlossener Trauung Euer Hochwohlgeboren übergeben werden wird.«

»Hat gar keine Eile«, antwortete ich und verließ, von dem Pfäfflein geleitet, das Zimmer.

Notabene: Hier pflegte unser verehrter Gönner und Freund eine Pause zu machen, und ich pflegte ihm meine Dose hinzureichen, lediglich als Zeichen der Hochachtung, sintemal er eigentlich kein Schnupfer war. Und er, aus Artigkeit, nahm eine Prise, hielt sie eine Weile zwischen den Fingern, sagte plötzlich: »Aha!« und deponierte sie in das Markenkästchen des Nachbars oder in sein eigenes.

»Kinder«, rief er, »wo sind wir?« Und einer von uns antwortete: »Auf dem Weg zur Kirche.«

»Ja, ja, zur Kirche!« Und regelmäßig wurde bei der Stelle der alte Herr ganz weich und bewegt und fuhr also fort:

Zur Kirche, zwischen Bäumen, über gestreute Blumen wandere ich, neben mir zwei rosenfarbige Fräulein und vor mir die Kleine, die Weiße, im Myrtenkranz und Brautschleier.

Ringsum ein Menschengedränge, in dem es dumpf und leise und gleichsam ehrerbietig wogt. Keine Stimme ist laut als die eherne der Glocken … Und auch die verstummt – ich steh vor dem Altar, und an meiner Seite steht die Braut. Ich wünschte innig, daß sie sich ein Herz fassen und mich nur ein wenig ansehen möchte, daß ich ihr mit einem Blick hätte sagen können: Fürchten Sie sich nicht. Aber sie wandte kein Auge von dem Priester und war mehr einer bleichen jungen Nonne ähnlich als einem lebensfreudigen Mädchen, das einem Manne angetraut wird.

Die Rede des Geistlichen dauerte lang, und bei jedem Wort der Ermahnung, das der Kleinen galt, dachte ich: Zuviel! zu hart! – und bei jedem, das mir galt: Das versteht sich ja alles von selbst.

Beim Hochzeitsschmaus bin ich neben ihr gesessen, habe aber mit ihr nicht sprechen können, weil fortwährend Toaste ausgebracht wurden, auf die ich antworten mußte, und weil ich über eine kleine Rede nachsann, die ich selbst zu guter Letzt halten wollte. In dieser sagte ich denn, daß ich kein Flausenmacher sei und eher derb, daß ich jedoch gestehen müsse, ich hätte bei den Hochzeiten, denen ich bisher angewohnt, immer tüchtig geweint – mir ist leid um die Braut gewesen. Sei es, wie es sei; komme, was da wolle; für die Frau ist der Schritt in die Ehe der wichtigere Schritt. Davon aber hat noch keiner, den ich den ehelichen Trauring wechseln sah, etwas wissen wollen, vielmehr jeder sich als Hauptperson bei der heiligen Handlung betrachtet. Als ob es nicht eine kleinere Sache wäre, eine Verantwortung – oft schlecht und recht, und meist nur vor dem eigenen, in dem Punkt gewöhnlich sehr dehnbaren Gewissen – zu übernehmen, als überantwortet zu werden mit Gut (ich dachte an die fünfzigtausend Gulden) und Blut und für das ganze Leben. Daher meine innige Rührung bei jeder fremden Hochzeit, daher auch meine Standhaftigkeit bei meiner eigenen. Die Jungfrau, welche heute vertrauensvoll ihre Hand in die meine gelegt, befände sich nicht in dem eben von mir angeregten Fall – ich wisse, wer von beiden, Mann oder Frau, mehr riskiert bei der Schließung eines unlösbaren Bundes. Und so, wie sich ein Starker, der wenig wagt, einem Schwächeren gegenüber, der viel wagt, zu benehmen hat, so werde ich mich allzeit meiner Gemahlin gegenüber benehmen.

Ein großer Jubel, besonders von seiten der Damen, belohnte diese meine Erklärung. Die Gnädigste erhob sich von ihrem Platz und umarmte mich vor der ganzen Gesellschaft. Nach der Tafel gab es feierliche Aufzüge der Dorfbewohner, glückwünschende Deputationen aus den nächsten Ortschaften und endlich Ball vor dem Haus, unter Gottes freiem Himmel, bei Mondenschein und Sternenschimmer, und Ball im Haus unter den Kronleuchtern bei Kerzenglanz. Eine Polonaise eröffnete ihn, bei welcher mir die Auszeichnung zuteil wurde, mit der Gnädigsten, die ihre Fingerspitzen auf meinen Arm legte, die Runde um den Saal zu machen. Den ersten Ländler tanzte ich mit der verehrten Kleinen. Bis tief in die Nacht dauerte das Fest, und nachdem der letzte Gast sich bei uns empfohlen hatte, empfahlen die Gnädigste und ihre Nichte sich bei mir.

Und ich sage euch, liebe Freunde, ich habe gut und sanft geschlafen und angenehm geträumt, und zwar von der Kleinen. Wir gingen miteinander spazieren daheim in meinem Garten, und ich hielt sie umschlungen, und sie sprach zu mir: »Das war ein Irrtum, das mit dem andern Franz. Du bist der Rechte – du!«

Ein Mensch, der mir die Hand küßte, weckte mich – der Alte, der heute viel weniger ängstlich tat und mich in schmelzendem Tone ersuchte, ich möge geruhen, mich ankleiden zu lassen und mich dann zum Frühstück zu begeben zu der Allergnädigsten und zu meiner jungen Gemahlin. Das letztere hatte er mit einem für den Scherz um Verzeihung bittenden untertänigen Bückling hinzugesetzt. Ich gab ihm einen leichten Schlag auf den gekrümmten Rücken und sagte: »Was nicht ist, kann werden«, worauf er mit freundlichem Ernst erwiderte: »Das walte Gott!« und mir wieder die Hand küßte.

Dieser alte Mensch ist mein getreuer Anhänger geblieben während der ganzen Zeit, die ich noch in Folt zugebracht habe, hat mir auch manchen nützlichen Wink gegeben und mir manches Licht aufgesteckt, das meinen sehr nebeligen Pfad freundlich erhellte. So zum Beispiel erfuhr ich durch ihn, daß die Gnädigste, als Franz sich um Fräulein Alma bewarb, an einen Gewährsmann in unserer Nähe geschrieben und sich bei ihm nach Herrn Franz von Bauer erkundigt hatte. Infolge eines Irrtums in ihrem Briefe mußte besagter Gewährsmann meinen, die gewünschte Auskunft beträfe mich, und auf meinen Leumund hin hat Franz das Jawort erhalten. Was die Repräsentation anbelangt, die verstand er, und die Gedichte haben auch ihren Effekt gemacht. Von einer Neigung des Kindes zu ihm fand ich keine Spur, und ihr könnt euch denken, wie ich darauf aus war zu erfahren: Hat sie ihn liebgehabt, die Kleine, hat sein niederträchtiges Benehmen sie empört? und schließlich: Welches Mittel hat die Gnädigste angewendet, um sie zu bewegen, mir zum Altar zu folgen?

Die Lösung des Rätsels war einfach – die Kleine war eben ein Kind; ahnungsvoll und doch gedankenlos, verwöhnt und doch willenlos. Willenlos! der einzige dunkle Punkt in der Sache … Wenn ich fragte: »Beliebt es Ihnen spazierenzugehen?« Ja, es beliebte ihr. »Beliebt es Ihnen zu Hause zu bleiben?« Es beliebte ihr gleichfalls. »Täten wir nicht besser auszureiten?« Gewiß, wir täten besser.

Eines schönen Morgens wanderten wir zusammen im Wald herum. Und sie war euch so herzig in ihrer sanften und aufmerksamen Heiterkeit. Merkte alles, wußte genau, daß hier zwischen den weggescharrten Blättern Rehwild gerastet und daß sich dort im aufgewühlten Boden ein Hirsch niedergetan. Scharfsichtig wies sie hin auf die Spuren der Wilddiebe und entdeckte sie an den Bäumen böswillig befestigte Vogelschlingen, gleich heraus mit dem Taschenmesserchen und fort mit ihnen.

Ich, ich stand neben ihr und bewunderte sie; keine Sprache spricht es aus, wie gut sie mir gefiel. Fräulein sagte ich nicht mehr zu ihr, sondern einfach Alma, aber immer noch Sie. Damals im Walde kam mir dieses Sie so dumm vor, daß ich sie frischweg fragte: »Alma, wollen wir nicht du zueinander sagen?«

Sie war eben mit dem Wegtilgen einer Vogelschlinge fertiggeworden, steckte ihr Messerchen ein, machte mir einen kleinen Knicks und erwiderte: »Wenn Sie erlauben.«

»Ich bitte darum!« rief ich heftig.

Sie erschrak, wurde rot, sah sich um wie nach Hilfe und stammelte: »Sie haben zu befehlen.«

»Ich werde dir nie etwas befehlen, Alma, am wenigsten in dieser Hinsicht«, versetzte ich so ruhig, als mir möglich war bei meinem Naturell.

»Nie etwas befehlen?« wiederholte sie und brauchte ein paar Minuten, um sich von ihrer Verwunderung so weit zu erholen, daß sie die Erklärung abgeben konnte: »Ich werde Ihnen aber doch gehorchen.«

»Ihnen?«

»Dir … Oh, verzeihen Sie: dir.«

Mit welcher Angst sie das sagte, könnt ihr euch nicht vorstellen, und mein Entsetzen über diese Angst auch nicht.

Sie vergaß noch sehr oft, mir du zu sagen, und geriet darüber jedesmal in große Bestürzung und Reue. Ich gab mir Mühe, einen Spaß aus der Sache zu machen, aber es wollte mir nicht recht gelingen. Zu tief verdroß mich das unglückliche Sie, das ihr von selbst auf die Lippen kam; zu wenig freute mich das zögernde Du, zu dem sie immer erst einen Vorsatz fassen mußte.

Kindisch! kindisch! Wer wußte das besser als ich, wer hätte verstanden, mir so tüchtig die Leviten zu lesen, wie ich selbst es tat? Aber von Tag zu Tag wurde meine Neigung zu der Kleinen inniger und wärmer und ebenso der Wunsch, daß sie Zutrauen zu mir gewinne, wenn schon kein anderes, doch ein solches wie zu einem älteren Bruder. Deshalb verfehlte ich’s meistens und war, zu meinem eigenen Schaden, bitter und grämlich. Und an dergleichen war die Kleine nun gar nicht gewöhnt. Geführt werden auf Tritt und Schritt, nach Pflicht und Vorschrift fühlen, denken, atmen, geleitet werden wie ein Maschinchen, o ja! aber wohlgemerkt, ohne ein rauhes, womöglich ohne ein lebhaftes Wort.

Die Gnädigste hatte ein scharfes Auge auf mich, und der geistliche Herr, der mir am Hochzeitstage meine Papiere abgefordert, gleichfalls, und detto noch einige andere geistliche Herren, die im Hause ein- und ausgingen. Ich sah wohl, daß sie mich beobachteten, aber ich dachte: Nur zu! Wie ich bin, so bin ich. Müßte übrigens lügen, wenn ich behaupten sollte, daß sie mir das geringste in den Weg gelegt haben; bin vortrefflich mit ihnen ausgekommen. Glaube auch, daß die Gnädigste ihrem Rat Folge geleistet hat, als sie mir nach Verlauf von ungefähr sechs Wochen eröffnete, wenn es mir angenehm wäre heimzureisen, wolle sie mich nicht länger aufhalten.

Es würde sich nicht für mich schicken, die Komplimente, die sie mir damals gemacht hat, zu wiederholen. Als sie jedoch mit ihnen fertig war, sagte sie: »Das Walten einer gnädigen Vorsehung über meinem Hause hat sich mir stets geoffenbart; niemals jedoch so sichtbarlich wie in dieser letzten Zeit, bei der letzten weltlichen Angelegenheit, die zu bestellen mir noch auferlegt war. Gott hat meine Ziehtochter einer großen Gefahr entrückt, in welcher sie untergegangen wäre ohne seine Dazwischenkunft. Statt des Unwürdigen, an den ich im Begriffe stand sie zu vermählen, hat er einen ihrer würdigen Lebensgefährten, hat er Sie gesandt. Lieber Sohn« – zum ersten Male nannte sie mich so –, »Sie haben Alma aus der Hand der Kirche empfangen: empfangen Sie Ihre Frau jetzt aus der meinen und meinen mütterlichen Segen und Glückwunsch dazu.«

»Alles wohl und gut, Gnädigste«, entgegnete ich, »aber die Hauptsache fehlt.«

Sie sah mich steif und groß an: »Wieso?«

»Das Herz der Kleinen hat noch nicht ja gesagt.«

»Ihr Herz! Haben Sie nicht ihren Schwur vor dem Altar? Ihr Herz? Wo ihre Pflicht ist, da ist ihr Herz.«

Dieses schöne Wort rührte mich nicht, schien mir vielmehr eines von denjenigen zu sein, mit welchem die Schwärmer sich aus der Verlegenheit helfen und ihrer eigenen Empfindung ein X für ein U vormachen. Aber froh war ich, von der Gnädigsten und ihrem Anhang das Absolutorium erhalten zu haben, und traf mit Almas Einwilligung – daß Gott erbarm, die Einwilligung einer Willenlosen! – meine Reisevorbereitungen.

Der Abschied der Kleinen von ihrem Zuhause und von jedem einzelnen Hausgenossen war schwer. Nie wieder habe ich so viele Weinende auf einem Fleck beisammenstehen gesehen wie an jenem Tage. Das Bild der Gnädigsten, die uns noch vom Balkon aus mit erhobenen Händen und zum Himmel gerichteten Blicken segnete, wird mir unvergeßlich bleiben. Den alten Diener hätten wir gern mitgenommen, und er wäre gern mit uns gegangen, fühlte sich aber zu gebrechlich zur Reise und mochte uns keine Ungelegenheiten verursachen. – »Sterben muß ich«, sagte er zu seiner kleinen Herrin; »da ist’s schon besser, ich sterbe hier in der Heimat aus Sehnsucht nach Ihnen als dort bei Ihnen aus Sehnsucht nach der Heimat.« Einige Monate später haben wir denn auch die Nachricht seines Todes erhalten.

Es versteht sich von selbst, daß ich längst an meine Leute geschrieben und Befehl gegeben hatte, den Garten und das Schlößchen so gut als nur möglich zum Empfang der Gebieterin herzurichten. Da war fast mehr geschehen, als ich gewünscht hatte, aber zu meiner Verwunderung keine einzige Ungeschicklichkeit, und auch im größten Jubel der festlichen Begrüßung kam keine von den Derbheiten und plumpen Anspielungen vor, die einem neuvermählten Paar von einer getreuen Landbevölkerung sonst nicht erspart werden und die bei uns am wenigsten am Platz gewesen wären.

Als ich meinen Wirtschafter herzlich belobte, tat er zuerst geheimnisvoll und gestand sodann, der Herr Franz von drüben sei in der verwichenen Woche täglich dagewesen, habe alle Vorbereitungen geleitet, aber dringend aufgetragen, mir nichts von seiner Einmischung zu verraten. Und gestern war er abgereist, und niemand wußte wohin, und hatte sehr übel ausgesehen und so aufgeregt, daß jedem um ihn bange geworden.

Was soll das wieder heißen? fragte ich mich und ging ernstlich mit mir zu Rate, ob ich mit der Kleinen von ihm sprechen sollte oder nicht. Bevor ich aber zu einem Entschluß kam, hatte ich nicht mehr nötig, einen zu fassen. In der Gegend wurde allgemein bekannt, daß der Franz seiner treulos gewordenen Muse nachgefahren war, sie in der Nähe von Vatra-Dorna in der Bukowina eingeholt und den Begleiter, in dessen Gesellschaft sie an den Ufern der goldenen Bistriza lustwandelte, herausgefordert hatte. Dies mußte in einem jener Anfälle blinder Wut geschehen sein, denen der Sklave seiner Impulse unterworfen war, und mit großer Übereilung und ohne Beachtung der üblichen Formalitäten hat das Duell stattgefunden. Die Gegner sollen (ich glaube es heute noch nicht) zugleich geschossen haben. Einer war maustot auf dem Platz geblieben, der andere, der Franz, hatte eine Kugel in die Hüfte bekommen und wurde in jammervollem Zustand heimtransportiert.

Ich befand mich im Garten mit der Kleinen, als ein Reitender daherjagte und mir meldete, es gehe zu Ende mit dem Herrn Franz, und er wünsche mich noch einmal zu sehen. Das hört die Kleine, verfärbt sich und sagt: »Oh, der arme Herr Franz! der Arme! Komm, fahren wir gleich zu ihm.«

Wir, sagte sie, und, denkt euch, mir gefiel’s, daß sie es so frank und frei und natürlich aussprach. Erst später fanden sich Skrupel bei mir ein, und auf dem Wege zum Sterbebett meines nächsten Anverwandten dachte ich nicht an ihn, sondern fortwährend an das junge Wesen neben mir und fragte mich voll Herzensangst: Was mag sie fühlen? Was geht in ihr vor?… Und nie war es mir so sehr aufgefallen wie damals, um wieviel schöner das Gut des Vetters doch lag als das meine. Schöner, romantischer, eine grüne Zunge im Gebirgsrachen.

»Bemerkst du, Alma, wie hübsch diese Gegend ist?« sagte ich zu ihr, und sie antwortete: »Ich habe nichts bemerkt, ich bin zu sehr in Sorgen um den armen Herrn Franz.«

»So hast du ihm verziehen?«

»Was denn?«

»Nun«, rief ich, »wenn du fragen kannst!«

Sie lächelte mich an mit ihren klugen, klaren, unschuldigen Augen. »Ach freilich«, sagte sie.

Wir fanden ihn schwach zum Auslöschen und trotz seiner zahlreichen Dienerschaft schlecht versorgt und verpflegt. Es war wirklich nichts zu tun, als dazubleiben und sich seiner anzunehmen. Ist denn geschehen und er langsam genesen und nach seiner Genesung in meinem Hause oft ein- und ausgegangen wie in der früheren Zeit.

Die Kleine war mit ihm viel unbefangener als mit mir, und wenn er etwas sagte, was ihr nicht gefiel, widersprach sie ihm ohne Umstände.

»Widersprich auch mir einmal!« bat ich sie.

»Dir nie!« war ihre rasche Antwort; sie besann sich ein Weilchen und wiederholte mit heiligem Ernst: »Dir nie!«

Es kam vor, daß sie ganz plötzlich und ohne Grund meine Hand ergriff und küßte, und das war mir das Ärgste – so ein kindlicher Handkuß.

Nicht immer habe ich mich überwinden und schweigen können, ich habe sie leider nicht selten angefahren: »Wofür bedankst du dich?« Oder gar: »Bittest um Verzeihung?« Aber dann – ihr Entsetzen! und meine Verzweiflung … Um tausend Meilen zurückgeworfen von meinem Ziel – das hatte ich davon. Herrgott! was für ein plumper Bengel bin ich euch gewesen, und was war sie für ein holdseliges Mädchen – holdselig! Wie kein zweites paßte dieses Wort auf sie. Dabei war sie aber auch ganz klug und vernünftig, waltete ruhig und emsig im Hause, konnte nicht einen Augenblick müßig bleiben. Denkt euch nicht etwa eine träumerische Romanprinzessin, die nicht imstande ist, Gerste von Weizen zu unterscheiden, und immer in höheren Regionen schwebt. Davon keine Spur. So gut wie im Walde kannte die Kleine sich unter den Ähren der Felder, den Blumen der Wiesen aus und fühlte sich recht daheim auf der Erde, deren lieblichstes Kind sie war … Und wenn ich sie auch hie und da barsch anließ, mein höchstes Kleinod ist sie doch gewesen, und ich habe sie gehütet und gehegt mit mehr Liebe, als ich ihr zu zeigen wagte, denn ihre Nähe schüchterte mich sehr ein. Sie war ja die erste junge Frau, mit der ich jemals in täglichem Verkehr gestanden habe. Übrigens ging es ihr nicht schlecht bei mir; ihre früher so blassen Wangen färbten, ihre zarte Gestalt kräftigte sich, und Augenblicke gab es, in denen mir vorkam, als erwache in der aufblühenden Jungfrau – das Weib.

Der Franz hat sich – in seiner Weise natürlich – musterhaft benommen. Ein gewisses Kokettieren konnte er allerdings jungen hübschen Frauen gegenüber nicht lassen. – Es war seine Natur, es kam ihm unbewußt, im Schlaf, wie ihm seine Gedichte kamen. Diese verfluchten Gedichte, um die ich mich sonst nicht gekümmert hatte und die mir jetzt soviel zu denken gaben, weil sie der Kleinen gefielen. Sie waren hübsch, und merkwürdigerweise, dieser Mensch, der eitel war auf seine Augen, auf seinen Schnurrbart, seine Nägel – auf sein Bestes, eben die Gedichte, war er’s nicht. Hat sie nie gesammelt, nie drucken lassen; aber sie leben, viele von ihnen leben im Munde unseres Volkes. Es sind lauter Liebeslieder, Mädchen und Bursche singen sie, ich habe es oft gehört und mit Vergnügen.

Als jedoch eines wonnigen Sommerabends die Kleine anhob, eines dieser Lieder zu singen mit ihrer wunderbaren Stimme, dem tönenden Schlüssel zu allen Geheimnissen meiner Brust, da faßte mich ein heißer Zorn, und von der Stunde an war ich eifersüchtig … Verachtete mich darum und war’s, und alles, wovon mein Verstand mir riet: Das solltest du nicht tun, nicht sagen – das tat ich, das sagte ich. Und so kindisch machte mich die törichtste von allen Leidenschaften, daß mir, dem praktischen Mann, nichts wünschenswerter schien, als nur eine Stunde lang ein Dichter sein und ein Lied erfinden zu können, ein Lied, das zum Herzen geht. Einige Strophen sollte es haben und nach jeder derselben den Schlußreim bringen: Du Meine und nicht Meine!

Umsonst zerbrach ich mir den Kopf, der Schlußreim war da – die Strophen wollten mir nicht einfallen.

Aus diesen poetischen Anwandlungen wurde ich durch die nüchternste Prosa gerissen.

Eine Seuche war bei uns unter dem Geflügel ausgebrochen und lockte Zigeuner herbei, die das gefallene Vieh ausgruben und aßen. Ich wollte den Unfug nicht dulden, paßte den Leuten auf, und wo ich einen auf frischer Tat erwischte, packte ich ihn zusammen und ließ ihn aus dem Dorfe jagen.

»Unglaublich«, meinte Franz, »daß du dich darum kümmerst, ob sich das Gesindel die Pest an den Hals frißt.«

Ich war just besonders bärbeißig und rief: »Es kümmert mich, und ich duld’s einmal nicht!« und bemerkte, daß Franz und die Kleine einander so ansahen, wie zwei tun, die von einem Dritten denken: Ja, so ist er, der Mensch! Und zum Unglück muß die Kleine sagen: »Laß die Zigeuner gewähren, sie sind bös und werden uns noch etwas antun.«

Immer hatte ich sie aufgefordert: Rede, sprich deine Meinung aus; nun tat sie’s einmal – oh, hätte sie es lieber nicht getan! Alles würde anders gekommen sein, ich hätte der glücklichste Mensch werden können … Aber, daß sie ihm recht und mir unrecht gab, das reizte mich blinden Maulwurf, der ich war!… Und wie zum Trotz übte ich schärfer denn je meine polizeiliche Gewalt aus.

Einige Zeit darauf – wir hatten den siebzehnten Geburtstag der Kleinen gefeiert und saßen auf dem Balkon beim Abendessen –, da wirbelte uns gegenüber im Tal, so auf ein Halbtausend Schritte, eine Rauchsäule in die Höhe … Franz streckte den Arm aus und sagte: »Die Zigeuner lassen sich empfehlen!«

Hol mich der Teufel, die alte Scheuer brannte. Eine Baracke, um die mir nicht leid gewesen wäre, hätte sie nicht voll Heu gesteckt.

Wir laufen in den Meierhof. Dort spannen sie schon die Feuerspritze ein, und mein Wirtschafter steht dabei und ruft mir entgegen: »Brennt wie ein Span, die Scheuer! Ist nichts zu machen!«

Ja, so gescheit bin ich auch; aber um das Arbeiterhaus in der Nähe, um das ist mir’s zu tun. – Mein Wirtschafter steckt den Finger in den Mund, zieht ihn naß heraus und hält ihn an die Luft: »Nichts zu machen. Der Wind bläst alles hinüber.«

Nun, ich ruf: »Vorwärts!« spring auf die Spritze, der Franz mir nach, und der Knecht jagt, was er kann, den Berg hinunter. – »Warum hast nicht die Schwarzbraun’ genommen?« frag ich ihn noch. – »Daß wir früher drüben sind«, antwortet er. – »Was hilft’s«, geb ich zurück, »wenn uns die Rappen vorm Feuer ausreißen?« Und zu gleicher Zeit fliegt mir der Gedanke durch den Kopf: Die Kleine wird sich’s doch nicht einfallen lassen, uns nachzulaufen?

Wir sind an Ort und Stelle, die Rappen ruhiger, als ich erwartet hatte; ich kann mich dicht ans Haus aufstellen und die Pferde ausspannen lassen. Die Scheuer brennt lichterloh, jeder Windstoß treibt einen Funkenregen auf das Dach, das ich schützen möchte, so lange wenigstens, bis die Leute ihre Habseligkeiten geborgen haben … Alles ist voll Menschen; die meisten gaffen, einige erweisen sich hilfreich; rein wie besessen stürzt der Franz herum, rettet Sessel, Kissen, Pfannen mit einer Hingebung, als ob es lauter Kinder wären, die er aus den Flammen trägt … Ja, ja, leider schon Flammen … Wasser war in Fülle vorhanden, die Spritze tat ihre Schuldigkeit, reichte aber nicht aus, furchtbar qualmte der Rauch, die Sparren krachten. »Franz«, ruf ich, »laß es gut sein!« Und er: »Nichts mehr zu retten?«

»Das Kind vom Schlosser ist vergessen, o Jesus, das Kind in der Wiege!« kreischt eine Tagelöhnerin. – Ich hätte sie totschlagen mögen, und ihn auch – besonders ihn. Weil er keinen angehört, der ihm sagt: Das Kind ist da, ist längst geborgen. Er will nichts, er hat nichts im Kopf, als daß die Leute sein Lob singen sollen vor der Kleinen, daß sie ihr sagen sollen: Oh, welch ein Anblick, wie er aus den rauchenden Trümmern sprang, ein Kindlein in seinen Armen!… Das hat er gewollt, ich kenne ihn, den Schwärmer, der nichts umsonst tut, den Unberechenbaren, der immer rechnet. Ich verlier kein Wort, als er zurückrennt, zum allgemeinen Entsetzen, in das brennende Haus. Hinter ihm poltert der ganze Krempel zusammen, aus den Fenstern, aus der Tür bricht die Lohe – lebendig kommt er da nicht heraus … Die Leute in lauter Verzweiflung klagen: »Der gnädige Herr! Gott im Himmel, er ist verloren!«… Weiber werfen sich auf die Knie und beten; Kinder weinen. Ich rufe in den Lärm hinein: »Herum ums Haus mit der Spritze! Nehmt Äxte – wir schlagen die Lehmwand durch!«

Drüben hoff ich noch des Feuers Meister zu werden, bis man ein Loch gebrochen hat, durch das er schlüpfen kann, der Narr. Ein halbes Dutzend Männer springt vor, taucht an. »Mehr rechts!« befehl ich, »sonst geht’s in den Graben …« Da war’s schon geschehen, und wir stecken … Ich mein aus der Haut zu fahren: »Die Rappen her! die Rappen!«

Es ist ein Gedränge, ein Wechsel von Licht und Dunkelheit; jetzt glüht weithin der grelle Feuerschein, eine Minute später umhüllt mich ein Qualm, daß ich den Schlauch nicht sehe in meiner Hand. Ich höre nur, daß sie die Pferde bringen … Mit Müh und Not, denn jetzt scheuen sich die Luder und schlagen aus … Plötzlich ertönt ein Schrei: »Franz!…« ein unsagbar jammervoller Schrei – das war sie!… Kinder, ich steh im Feuer wie ein Salamander, und vom Wirbel bis zur Sohle wird mir eiskalt … und die Leute sind starr vor Schrecken, und ich spring zur Erde … Da liegt eine weiße Gestalt, da liegt mein Liebstes. – »Tot«, sagt jemand neben mir, »das Roß hat sie geschlagen – ich hab’s gesehen.«… Einbildung! – nicht tot, nur besinnungslos, denk ich, entdecke auch kein Zeichen von Verletzung an ihr, außer einem einzigen großen Blutstropfen, welcher aus ihrem Munde gequollen ist … Und vergesse alles andere – oder vielmehr mit allem anderen ist’s aus – und beuge mich und hebe sie sanft vom Boden auf und bitte die Leute: »Macht Platz, daß ich sie nach Hause tragen kann!« Alle weichen zurück – ein einziger wagt sich heran, ein rauchgeschwärzter, verstörter Mensch (es ist ein Wunder, daß er da ist, aber in dem Moment wundere ich mich über nichts); der Mensch, dem sie nachfliegen wollte ins Feuer wie ein kleiner Schmetterling ins Licht, und ich wettere ihn an: »Aus dem Weg! Du bleibst und machst dich weiter nützlich!«

Und der Franz spricht kein Wort und gehorcht.

Beim Nachhausegehen ist es mir manchmal vorgekommen, als ob sie atme, die Kleine … Als ich sie in ihrem Zimmer auf ihr Bett legte, blieb sie lange Zeit ganz starr, und wir verzweifelten schon, ihre Dienerinnen und ich. Bis nach Besztercze mußte gefahren werden um einen Arzt, und der konnte im besten Fall am Abend des nächsten Tages bei uns sein. Es war mir recht, als ich hörte, daß der Franz sich’s nicht hatte nehmen lassen, das Abholen des Doktors selbst zu besorgen.

Nach Mitternacht sank die Kleine allmählich aus ihrer Ohnmacht in einen tiefen Schlaf, ich fühlte unter meinen Fingern das leise Klopfen ihres Pulses, und als ich ihr Händchen betrachtete, das in meiner rauhen Hand lag, tat mir der Kontrast weh. Da saß ich an ihrem Bett, und derjenige, an dem ihr armes törichtes Herz hing, kutschierte draußen auf der Landstraße. Wenn sie erwacht und sieht nur mich, es wird ihr sehr traurig sein. Sie war so hilf- und harmlos und – daran zweifelte ich nicht – so schwer krank … Ein grenzenloses Erbarmen kam über mich; eine größere Liebe, als ich je für sie gehabt hatte, erfüllte meine Seele, und ich tat ein Gelübde: Wenn sie gesund wird, will ich jedem Anspruch auf sie entsagen. Unsere Ehe ist leicht gelöst. Mag sie mit dem leben, mit dem sie sterben wollte. Auf ihn achtgeben und dafür sorgen, daß er keine Dummheiten macht, das soll meine Sache sein, dazu bin ich der Stärkere.

Mit diesem Vorsatz steh ich auf von meinem Platz am Fußende ihres Bettes, und wie ich mich über sie beuge – was seh ich? Sie hat die Augen offen und richtet einen unsicheren, fragenden Blick auf mich: »Franz?« sagt sie, und ich antworte: »Er kommt, mein Kind, kommt bald …«

»Wer kommt?… O Lieber!« und auf einmal hebt sie die Arme und schlingt sie um meinen Hals. »Bist du’s? fehlt dir nichts? bist da?«

»Jawohl, ich bin da.«

»Dann ist alles gut«, flüsterte sie, »alles gut, du Bester!«

Was hat das zu bedeuten? Ich habe es nicht gleich begriffen und gefragt: »Träumt mein Kind?«

»Nein, ich bin wach.«

»Wach – und nennst mich Bester?«

»Weil du’s bist«, antwortet sie und lächelt mich so zutraulich an wie noch nie.

Ich ringe mit der Wonne, die, begleitet von tausend Schmerzen, einziehen möchte in meine Brust. »Jetzt weiß ich, daß du träumst, du Kind. Ich bin ja immer so barsch mit dir gewesen.«

»Du? Ach geh!«

Ewige Güte! Ach geh, sagte sie – und ich habe mich nicht mehr beherrschen können, ich bin auf meine Knie gesunken und habe ihre Augen geküßt und meinen Kopf neben den ihren auf das Kissen gelegt und mit zitternder Seligkeit gefragt: »Besinne dich, warum wolltest du in das brennende Haus?«

»Nicht ins Haus – nur zu dir, nur dir nach, nur dich abhalten … Aber« – unterbrach sie sich plötzlich – »warum weinst du?«

Ihre Augenlider waren schwer geworden, sie lehnte ihr Gesicht an das meine und schlief wieder ein.

Der Arzt kam zur Zeit, um welche ich ihn erwartet hatte. Er sprach von einer inneren Verletzung, er gab keine Hoffnung. Einige Wochen haben wir ihr teueres Leben aber doch gefristet. Sie hat wenig gelitten und bis zum letzten Augenblick die feste Zuversicht auf ihre baldige Genesung bewahrt. An ihrem Sterbebett ist keine Träne geweint worden; ich habe jeden, der seine Rührung nicht zu unterdrücken vermocht hätte, ferngehalten – und auch die letzten Tröstungen der Religion. Die Kleine brauchte keine Tröstungen, denn sie hatte keinen Gram, und den meinen verbarg ich ihr.

Daß es mir gelang, das war meines Herrn und Gottes wundersames Geschenk. Wer außer ihm hätte mir diese Kraft geben können? Und so hab ich denn alles allein mit ihm abgemacht und mich nicht erschüttern lassen in meinem Glauben, daß ich keinen Frevel beging, indem ich sie unvorbereitet scheiden ließ, die Seele, die zurückgekehrt ist zu ihrem Schöpfer, so rein, als er sie dereinst ins Leben entließ.

In meinen Armen, an meiner Brust ist sie oft eingeschlafen, einmal denn auch, um nicht wieder zu erwachen – die Meine und nicht Meine!

Unser verehrter Freund pflegte seine Erzählung mit diesen Worten zu beschließen. Es bedurfte auch für uns keiner Fortsetzung, da wir aus anderweitigen Berichten wußten, daß er auf seinem Gute noch so manches Jahr still und ruhig verblieb. Erst nach dem Tode seines Herrn Vetters Franz von Bauer hörte der Aufenthalt in dortiger Gegend auf ihm angenehm zu sein, und er vertauschte ihn mit demjenigen in unserem Städtchen.

Das Schädliche

Lieber Freund!

 

Wir haben eine Zeitlang im öffentlichen Leben Seite an Seite gekämpft. Du wirst mit den Waffen in der Hand sterben; ich habe mich vom Schlachtfeld abgewandt. Es war Dir unlieb, aber Du ließest die Gründe, die mich dazu bestimmten, gelten und gabst mir recht. Tue das noch einmal, gib mir noch einmal recht. In einer ganz andern Sache.

Unlängst hörte ich eine berühmte Schauspielerin zu einem großen Arzte sagen: »Sie müssen auch manchmal Komödie spielen.« Er antwortete: »Ja, aber wir spielen schlecht.« – Recht schlecht, nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe. Schon vor Wochen, als ich nach Wien fuhr, um meinen Arzt zu konsultieren, las ich es ihm vom Gesicht ab: Dir ist nicht zu helfen. Und neulich, da ich ihn wieder aufsuchte und ein schmerzstillendes Mittel von ihm verlangte, verriet mir seine Bereitwilligkeit, mich in die Kunst, ein Morphinist zu werden, einzuweihen, daß er die Gefahr einer zukünftigen Entwöhnungskur für ausgeschlossen hielt.

Finita la commedia. – Eine Komödie war’s übrigens nicht. Wir haben von meinen Verhältnissen nie gesprochen; Du weißt von meinem Privatleben nicht mehr als alle Welt, das heißt: was geschah; nicht, wie es geschah. Ich will Dir meine Geschichte erzählen, ich will eine Generalbeichte ablegen.

Deiner Gerechtigkeit sicher, sehne ich mich nach Deiner Lossprechung.

 

Ich bin im Jahre 1829 geboren auf unsrem Schlosse Niedernbach.

Ich habe von meinem Vater eine eiserne Gesundheit und eine eiserne Willenskraft geerbt. Meiner Mutter verdanke ich den Abscheu vor allem Unreinen, der mich schon im Obergymnasium dem Spotte fünfzehnjähriger Jungen preisgab.

Sie lachten über mich und nannten mich einen heiligen Antonius; ich verachtete sie und nannte sie angefaultes Grünzeug.

Ich war nicht dumm, aber ich lernte schwer. Gott weiß, welche Mühe es mich gekostet hat, immer der Erste in der Klasse zu sein.

Während der acht ersten Studienjahre – mein Vater hatte mich für die staatsmännische Laufbahn bestimmt – wohnte ich in der Hauptstadt unsrer Provinz bei einem Gymnasialprofessor.

Er war ein guter und gescheiter Mann, ließ sich aber ganz beherrschen von seiner hübschen, um viele Jahre jüngern Frau. Albern und mißgünstig, machte sie ihm und auch mir das Leben schwer.

Die Weihnachts-, die Oster- und die Ferienzeit brachte ich in Niedernbach zu, wünschte die Stunde der Heimkehr jedesmal mit einer Sehnsucht herbei, die mir tagelang und nächtelang vorher den Appetit und den Schlaf raubte, und konnte doch nirgends so unglücklich sein wie zu Hause.

Meine Eltern führten eine traurige Ehe. Die Liebe hatte einmal wieder zwei Leute zusammengeführt, die nicht füreinander paßten. Das Lebenselement meiner Mutter war der Friede. Sie strömte ihn förmlich aus. Sie hatte sich ihn errungen nach schweren Leiden, durch die Kraft einer wahrhaft erhabenen Entsagung. Mein Vater besaß eine Kämpfernatur, und während meine Mutter früh alterte, blieb er jugendlich in seiner schönen Erscheinung, seinen Leidenschaften und Neigungen bis an sein Ende. Er starb lange vor dem Eintritt ins Greisenalter. Die Krankheit, die ihn in wenigen Tagen hinwegraffte, trat plötzlich und mit furchtbarer Heftigkeit auf. Sterbend rang er noch wie ein Held mit dem Tode und begriff erst wenige Augenblicke vor dem letzten, daß auch er seinen Meister gefunden hatte.

Da richteten seine Augen sich auf meine Mutter. Wir alle, die sein Bett umstanden, schauderten. In diesem Blick lag ein Ausdruck von unaussprechlicher Reue und Todesangst, ein verzweiflungsvolles Flehen, wie das eines Verdammten zum Urquell des Heils.

Meine Mutter beugte sich über ihn und küßte seinen qualverzerrten Mund und schloß seine armen Augen mit ihren Lippen.

Nicht so sterben! Ich will nicht so sterben! loderte es in mir empor.

Der Eindruck, den ich in dieser Stunde empfing, hat sich nie verwischt. Ich werde nicht sterben wie mein Vater, ich werde ruhig hinübergehen, trotz des furchtbaren Ereignisses in meinem Leben, und obschon ich eigentlich ein Mörder bin.

 

Ich war sechsundzwanzig Jahre alt, als mein Vater starb, und hatte mir eben auf der Universität in Wien den Doktorhut errungen. Mühsam, mit Anspannung aller meiner Kräfte.

Zunächst verstand es sich von selbst, daß ich das Trauerjahr bei meiner Mutter in Niedernbach zuzubringen habe, und nachdem es verflossen war, dachte ich nicht mehr daran, unsern gemeinsamen Aufenthaltsort zu verlassen.

Die Tätigkeit des Landwirts, die paßte mir. Freilich hieß es beim Abc anfangen, und das geschah unter der Leitung meines alten Verwalters, eines ungelehrten, aber tüchtigen Ökonomen. Niedernbach war für ihn die Welt, und zwar die denkbar beste, und das Interesse des Herrn dieser Welt das höchste Interesse überhaupt.

Die glücklichste Zeit meines Lebens begann. Bis jetzt war Lernen für mich eine Plage, jetzt erfuhr ich, daß es ein Genuß sein kann. Ich habe mir ihn gegönnt und wurde mit der Zeit ein Landwirt, zu dem die Leute in die Schule gehen konnten und auch fleißig gegangen sind.

So günstige Verhältnisse wie die, die damals in Niedernbach herrschten, treffen sich freilich selten.

Eine aus arbeitsamen und in der Mehrzahl braven und friedfertigen Leuten bestehende Bevölkerung. Der Pfarrer ein Mann nach dem Geiste des Evangeliums; der Lehrer, zu seinem Amte innerlichst berufen, betrachtete die Kinder nicht nur als Schüler, sondern auch als Zöglinge. Zum Bürgermeister wurde ich gewählt, und ich habe weder mir noch den Gemeinderäten das Amt bequem gemacht. Aber Ordnung hielten wir, die ehrlichen Leute waren obenauf, und die Lumpe mußten kuschen.

Das alles ist heute anders geworden.

Abgesehen von meiner amtlichen Tätigkeit führte ich tagsüber dasselbe Leben wie mein Verwalter. Wenn es dunkel wurde, legte er sich zu Bette, ließ drei lange Pfeifen, drei Gläser Bier, den Unterbeamten und den Oberknecht kommen und nahm ihnen den Rapport ab.

Ich wechselte die Kleider und ging meine Mutter begrüßen.

Nach dem Abendessen, das wir im Bibliothekzimmer einnahmen, begaben wir uns in die Gesellschaft irgendeines großen Menschen. Um seinen gebannten Geist zu beschwören, brauchte man nur eines seiner Werke aufzuschlagen. Sogleich offenbarte er sich, ließ uns in sein Herz blicken, enthüllte uns seine tiefsten Gedanken.

Schöne, allzu rasch entschwundene Abende, die wir so zubrachten, zu dreien. Die Tage wieder kürzte mir viel zu knapp die gewaltige Zeitvertreiberin Arbeit. Und wenn einem die Tage zu schnell vergehen, wie erst die Jahre!

Ihrer fünf des ungetrübten Glückes rannen dahin, dann begann meine Mutter zu kränkeln. »Der Anfang vom Ende, das aber noch länger auf sich warten lassen kann, als der Leidenden zu wünschen ist«, sagten die Ärzte. Ich verfluchte ihre Weisheit, und in Zeiten, in denen das Übel stillstand, hoffte ich immer wieder gegen alle Wahrscheinlichkeit und alle Vernunft auf Heilung.

Während einer solchen Ruhepause meiner Sorgen legte ich den Grund zum Unglück meines Lebens. Ich verliebte und verlobte mich.

In unserer Nachbarschaft hatte sich ein Herr von C., ein ehemaliger Großindustrieller, mit seiner Familie angesiedelt. Er war ein Mann von Geist, Talent und strengster Redlichkeit. Ein geborener Österreicher, der aber viele Jahre in England zugebracht, dort ein ansehnliches Vermögen erworben und eine Familie gegründet hatte. Mit seiner stattlichen, einem alten schottischen Adelsgeschlechte entstammten Frau führte er die beste Ehe. Er war stolz auf seine Lady, und sie liebte ihren munteren, immer gut gelaunten »Sir James« noch viel heißer, als sie selbst passend fand für ihre zweiundvierzig Jahre. Sie hatten drei Töchter, drei Schönheiten. Die älteste und die jüngste waren blond wie die Mutter, die mittlere sah dem Vater ähnlich. Was man so ähnlich sehen nennt. Auch sie hatte braune Haare und einen olivenfarbigen Teint und große, tiefblaue Augen. – Aber – ihn könnte ich deutlich beschreiben, sie zu beschreiben wäre sogar einem Dichter unmöglich gewesen. Sie war das verkörperte Geheimnis, ein wunderbares, lockendes Rätsel. Ich habe nie wieder Augen gesehen, die so inbrünstig beschwören, so demütig flehen und so schrecklich drohen konnten, nie eine Stimme gehört von so bestrickendem Wohllaut, solchem Reichtum an Tönen für jeden Ausdruck der Zärtlichkeit und so herbem Klang für den Haß.

Das heißt – doch! Einmal lebte das alles wieder vor mir auf mit grauenhafter Treue.

 

Ich habe Edith geliebt, vom ersten Augenblick an. Ihre Schönheit blendete, ihre Anmut bezauberte mich. Sie war die schönste unter den Schwestern, die begabteste und doch – das zurückgesetzte Kind. In jeder Kleinigkeit, in jedem Blick, den ihre Eltern auf sie richteten, in dem Ton, in dem sie zu ihr sprachen, verriet sich’s: an der hatten sie keine Freude.

Und sie schien ein trotziges Gefallen an dem Unterschied zu finden, der zwischen ihr und ihren Schwestern gemacht wurde. Sie klagte nie darüber, versäumte aber auch nie eine Gelegenheit, ihr Aschenbrödeltum recht ins Licht zu setzen. Das vor allem hätte mich warnen sollen, aber – ich war ja verliebt, mehr als verliebt; ich dreißigjähriger Mann liebte zum erstenmal und so blind und heiß wie ein Jüngling. Selbstverständlich wurde meine Mutter meine Vertraute. Sie hatte einen harten Kampf mit sich selbst zu bestehen gehabt, bevor sie sich entschloß, Edith zu sehen.

»Die Tochter eines Großindustriellen und viel zu reich für dich«, sagte sie. »Gibt’s denn kein armes, schönes Prinzeßchen auf irgendeinem verwunschenen Schlosse mehr?«

Ihre Standesvorurteile und ihr Stolz schwiegen erst, als sie den Ernst und die Tiefe meiner Leidenschaft erkannte.

Frau von C. hielt gute Nachbarschaft. Sie besuchte meine Mutter, die damals schon den Umkreis des Hauses nicht mehr überschritt, sehr oft und war immer willkommen. Von ihren Töchtern hatte sie sich trotz wiederholter Aufforderungen noch nie begleiten lassen, und das wurde sehr recht und sehr feinfühlig gefunden von meiner Mutter. Ich mußte lange warten und lange bitten, bis endlich eine so dringende Einladung von ihr an alle Damen C. erging, daß sie nicht mehr ignoriert werden konnte.

Den Brief, der sie enthielt, überbrachte ich selbst. Am 12. Juli 1853 war’s. Das Datum bleibt mir unvergeßlich.

Die Familie, regelmäßig bis zur Pedanterie in ihrer Lebensweise, brachte zur Sommerszeit die Vormittage im Maleratelier zu, das sich C. in einem Saale des Halbstocks eingerichtet hatte. Ein schöner, mit großem Luxus dekorierter Raum.

Seiner Begabung nach war C. ein Kaufmann im großen Stil, seiner Neigung nach ein Kleinmaler von peinlichem Bienenfleiß und, wie er offenherzig eingestand, voll Ehrgeiz. Die Bilder, die er auf die Ausstellungen schickte, wurden fast immer angenommen und sogar verkauft. Darüber konnte er sich freuen wie ein Kind, und die paar hundert Mark, mit denen er für monatelange Arbeit bezahlt wurde und die er sogleich verschenkte, machten ihn glücklich.

Seine Töchter malten auch. Die blonden – habe ich schon gesagt, daß sie Maud und Ethel hießen? – mit vielem Eifer und wenig Talent, Edith mit großem Talent und ohne Eifer. Sie brachte es nie über einen mehr oder minder flüchtigen Entwurf hinaus. Aber ein solcher Entwurf, an den sie einige Stunden gewendet hatte, war mehr wert als die besten Bilder ihres Vaters zusammengenommen. Nicht etwa nach meiner parteiischen Meinung, sondern nach der der Künstler, die Herr von C. als gefeierte Gäste in sein Haus zog. Er selbst und seine Frau waren in dem Punkt mit Blindheit geschlagen.

»Sehen Sie doch unsre Maud, unsre Ethel, dieser Ernst! Sie haben das Genie des Fleißes. Edith spielt nur.« – Es hieß überhaupt nur: Unsre Maud, unsre kleine Ethel und – Edith kurzweg. Das besitzanzeigende Fürwort blieb weg, wenn sie von ihr sprachen. Ich aber dachte im stillen: Je weniger die eure, um so mehr die meine.

An jenem Vormittag, an dem ich als Bote meiner Mutter zu den Nachbarn hinüberritt, fand ich Edith allein im Atelier. Ihre Eltern und ihre Schwestern waren in das »Kostümzimmer« gegangen, dem Auspacken einer längst sehnlich erwarteten Sendung alter Trachten vorzustehen. Edith machte sich ein wenig lustig über die »Anregungen« zu neuen Kunstwerken, die aus diesem Moder steigen würden, und ich segnete im stillen seine Ankunft, der ich das erste Alleinsein mit der Vielgeliebten verdankte.

Sie saß am großen Atelierfenster im vollen Tageslicht und war schön.

Ihr Anzug, ein hellgraues Kleid aus leichtem, weichem Stoff, mit einem einfachen Gürtel um den Leib, erinnerte an die Tunika der römischen Frauen. Sie hatte ihren rechten Fuß auf einen Schemel gestützt. Auf ihrem erhobenen Knie lag ein Zeichenbuch, in dem sie herumkritzelte in gewohnter nachlässiger Art. Bei meinem Eintreten war sie flammend rot geworden, hatte sich aber in ihrer Beschäftigung nicht unterbrechen lassen.

»Darf man fragen, was da gezeichnet wird?« sagte ich.

Edith überlegte eine kleine Weile und – reichte mir das Buch. Ich mußte laut lachen. Sie hatte eine Karikatur von mir gemacht, eine geniale. Zum Aufschreien ähnlich meine große Nase, mein großer Mund, mein dicker Schnurrbart. Bei längerem Betrachten dieses durchaus nicht geschmeichelten Ebenbildes fiel mir aber der widerwärtige Ausdruck auf, den sie mir gegeben hatte, und ich fragte: »Komm ich Ihnen wirklich so boshaft vor, wie Sie mich da verewigt haben?«

Sie antwortete ausweichend: »Daß Sie sehr bös werden könnten, das, ja, das glaub ich.«

»Also doch nicht boshaft, nur bös, und bin’s noch nicht, sollt’s erst werden.«

»Es bleibt nicht aus, alle Menschen sind bös, wenigstens gegen mich«, sagte sie in dem unbefangenen und kühlen Ton, in dem man eine im Grund gleichgültige Tatsache bestätigt.

Ich fand das kindisch, und sie fragte: »Warum denn kindisch? Wenn ich Ihnen sage, es ist nie jemand durch lange Zeit gut gegen mich gewesen, können Sie mir das Gegenteil beweisen?«

»Gewiß nicht; mir ist auch das Unbegreifliche wahr, sobald Sie es behaupten«, erwiderte ich.

Und sie – ja, so ausführlich, wie ich da angefangen habe, kann ich nicht fortfahren. Wenn ich mich noch so sehr bemühen würde, mir jede Einzelheit unsres Gesprächs zurückzurufen, es wäre vergeblich. Tot, tot. Auch Erinnerungen sterben, gottlob!

Nur einige Worte der – am Ende meines Lebens stehend, sage ich: armen Edith und die Art, in der sie geäußert wurden und die mich bezauberte, sind mir unvergeßlich geblieben.

Sie war nie geliebt worden, sie stand allein mitten unter den Ihren, und es konnte nicht anders sein, ihr »unglücklicher Charakter« verschloß ihr die Herzen auch der »besten und liebreichsten Menschen«. Ich natürlich wünschte zu wissen, wie der »unglückliche Charakter« sich betätige. Da erhob sie den Kopf und richtete ihre Augen auf mich. Um ihren rosigen Kindermund spielte ein um Verzeihung bittendes Lächeln.

»Nun«, sagte sie, »durch Verleumdung zum Beispiel, durch eine mit dem Bleistift verübte Verleumdung.«

Ich hatte Mühe, nicht aufzuspringen, nicht ihre Hände zu fassen, nicht zu sprechen: Böses Kind, werden Sie meine liebe Frau. Ich nehm’s auf mit Ihrem unglücklichen Charakter.

Aber ich beherrschte mich, setzte das Verhör fort und kam zur Überzeugung, daß ich ein Opfer der Familie vor mir habe, eines der vielen jungen Wesen, deren Seelenregister, nach einem andern Grundton gestimmt als der ihrer Umgebung, die verkörperte Dissonanz bilden im Kreis der Angehörigen.

Eine Frage stellte ich noch, es sollte die letzte sein: »Sie sind also nicht geliebt worden; haben Sie auch nie geliebt?«

Ohne Zögern, mit immer gleicher Einfachheit, antwortete sie: Doch, sie hätte sich’s wenigstens eingebildet. Sie war damals siebzehn Jahre alt, er vierundzwanzig. Sie wußte heute noch nicht, was ihr mehr gefallen hatte an ihm, das Böse oder das Gute: sein Leichtsinn, seine Verschwendungssucht, sein tollkühnes Spielen mit der Gefahr. Sie hatten einander nur in Gesellschaft getroffen und dennoch – wie leicht verständigen sich zwei junge Narren! – Schwüre ewiger Liebe getauscht. Er nannte sie Julia, und sie nannte ihn Romeo – ihre Eltern nannten ihn einen Abenteurer. Mit ihrer Einwilligung hätte sie seine Frau nicht werden können, so forderte er ihr das Versprechen ab, mit ihm zu entfliehen. Sie gab es; sie gab ihm auch den einzigen Schmuckgegenstand, den sie besaß, einen kleinen Ring, einen schmalen Reifen mit einem Rubin.

Kurz vor dem zur Entführung bestimmten Tag beging Romeo eine Unbesonnenheit, das heißt etwas, das dafür gelten sollte. Er schrieb einen Brief an Julia, den sie nie gelesen hat, der in die Hände der Mutter kam. Selbstverständlich bei den klösterlichen Einrichtungen im C.schen Hause.

Eine Zeit hindurch wurde Edith mit besonderer Kälte behandelt und erfuhr erst nach langem Ringen und Bangen in den Qualen der Ungewißheit, daß ihre Eltern den unvorsichtigen Briefschreiber zu einer Besprechung eingeladen und ihn bewogen hatten, vom Schauplatz zurückzutreten, sehr weit, bis nach Kanada. Der Ring war dageblieben und ein kostbares Ding geworden. Nur um hohen Preis hatte der Liebende sich von ihm getrennt. Die Summe, die Romeo dafür forderte, betrug ungefähr soviel wie seine Schulden.

Eine klägliche Liebesgeschichte, die einen entsetzlichen Eindruck auf ein siebzehnjähriges Herz gemacht haben mußte.

So schwer hat das Leben schon an dir gesündigt, du armes Kind. Das Herz wollte mir übergehen, das entscheidende Wort drängte sich auf meine Lippen.

Edith machte eine flehend abwehrende Gebärde, faltete die Hände auf ihrem Schoß und lehnte den Kopf zurück. Ein seltsamer Blick aus ihren halb geschlossenen Augen, hilflos, trostlos, streifte mich.

Im Nebenzimmer wurden Schritte und Stimmen laut.

»Die Eltern kommen. Wollen Sie ihnen eine große Freude machen?« sprach Edith, »werben Sie um Maud.«

Ich machte ihnen diese Freude nicht, ich übergab Frau von C. den Brief meiner Mutter, und die Antwort darauf lautete: »Ich werde die Ehre haben, morgen, mittags um zwölf Uhr, der Frau Gräfin meine Töchter vorzustellen.«

 

Am nächsten Morgen ging ich wie gewöhnlich an mein Tagwerk. Ich hatte auf einem ziemlich entlegenen Hofe zu tun. Anfangs war ich ruhig und voll Zuversicht. Als die Stunde herankam, in der Edith die Schwelle meines Hauses überschreiten und zum erstenmal vor meine Mutter treten sollte, wurde ich von einer unbeschreiblichen Unruhe erfaßt. Es klopfte und hämmerte in allen meinen Adern, ich sprach und wußte nicht was und gab einen verkehrten Befehl nach dem andern. Die Leute sahen mich ängstlich und verwundert an. Ich hielt’s nicht mehr aus, ich ließ mein Pferd vorführen und jagte heim.

Eine furchtbare Hitze herrschte an dem Tag, die Sonne brannte herunter, als ob sie alles in Flammen setzen wollte.

Schweißbedeckt, wie ich war, gestiefelt und gespornt trat ich ins Zimmer meiner Mutter. Sie lag auf ihrem Ruhebett, leichenblaß und erschöpft, ein Bild des Leidens. So hatte ich sie nie gesehen, so mußte ich sie überraschen. Vor mir überwand sie sich, ihr edles, geliebtes Gesicht zeigte sich mir nie anders als beseelt vom Ausdruck sanfter Heiterkeit. In diesem Augenblick aber waren ihre Schmerzen stärker gewesen als sie.

Als sie mich erblickte, machte sie einen verunglückten Versuch, sich aufzurichten, fiel in ihre Kissen zurück und streckte mir stumm die Hand entgegen.

»Der Besuch hat dich ermüdet«, sagte ich. »Sind sie zu lange geblieben?«

»Ganz kurz.«

»Nun, Mutter, wie findest du Fräulein Edith?«

Sie sah mich bestürzt an, als hätte sie ein böses Gewissen.

»Mutter, wie findest du sie?«

»Unheimlich. Lieber Franz, nur die nicht!«

Das war der erste Eindruck.

Meine Mutter würde aber nicht die hochherzige und gerechte Frau gewesen sein, die sie war, wenn sie sich seiner Macht unterworfen hätte. Sie hat ehrlich getrachtet, ihrer Herr zu werden, und oft wiederholt, daß es ihr unmöglich wäre, den Grund des Widerstrebens zu nennen, das ihr Edith bei der ersten Begegnung eingeflößt hatte. Später scherzte sie selbst darüber: »Wer weiß, vielleicht war’s Eifersucht auf meinen Einzigen, vielleicht auch regte sich beim Anblick seiner Erkorenen die berüchtigte Schwiegermutter in mir.«

Edith verstand allmählich ihre ganze Liebe zu gewinnen. Um so sicherer, als sie sich weniger darum bewarb, immer den letzten Platz einnahm, immer zurücktrat hinter ihren Schwestern. Sie tat das unauffällig, scheinbar absichtslos, als ob es das Natürliche wäre und nicht anders sein könnte. Ich hatte noch kein Liebeswort mit ihr getauscht, sie nicht wieder allein gesprochen seit unsrem Zusammentreffen im Atelier und war doch im stillen ihrer Zuneigung gewiß.

Nicht ängstlich, selig war mir zumute, als ich eines schönen Tages um sie werben ging bei ihren Eltern. Ich wurde ins Schreibzimmer C.s geführt und fand dort das Ehepaar. Sie hielt eine Arbeit, er ein Buch in der Hand, aus dem er ihr vorlas. Vorlesen war auch eine seiner Liebhabereien, und eine der ihren war Zuhören.

Die beiden Leute boten ein friedliches Bild, und ich meinte einen Blick in die Zukunft zu tun und dachte mir: Ein Menschenalter, und wir sitzen ebenso stillvergnügt und glücklich beieinander, Edith und ich.

Bevor ich ein Wort sagte, wußten sie natürlich schon, was mich zu ihnen führte.

Frau von C. senkte den Kopf. Ihr Profil war mir zugewandt; ich sah, daß ihr feiner Nasenflügel bebte und daß sich über ihre Wange ein heller Streifen zog. Blonde, hochgefärbte Menschen erbleichen so. C. hielt sich gerade wie gewöhnlich und hatte die Arme auf die Seitenlehnen seines Sessels gestützt. Die Finger seiner herabhängenden Hände, die sich aus seinem schneeweißen Anzug braun wie die eines Indiers herausstreckten, zuckten, auf seinem treuherzigen, glattrasierten Gesichte dunkelte ein Schatten von Verlegenheit.

Als ich ausgeredet hatte, was bald der Fall war, trat tiefes, unangenehmes Schweigen ein.

Dann sagte C.: »Sie sind uns ein sehr willkommener Schwiegersohn.«

»Sehr willkommen«, bestätigte seine Frau, und ihre noch schlanke und imposante Gestalt emporrichtend, setzte sie hinzu: »Was Edith betrifft, ihres Jaworts können Sie gewiß sein.« Das bestätigte wieder er, und das ging so fort. Sie sprachen abwechselnd, und was sie sagten, entsprang einer und derselben Überzeugung. Sie hatten zusammen nur eine Seele, einen Verstand, ein Urteil. Solche Eltern sind schlechte Erzieher; statt der vier Augen, die sie brauchen, haben sie nur zwei.

Als die Ehrenmenschen, die sie waren, teilten sie mir das große Ereignis im Leben Ediths, die geplante Flucht, mit, und daß sie sich darüber nie würden trösten können. Sie legten das beschämendste Geständnis ab, das Eltern tun können: »Wir haben nicht gewußt, das Vertrauen dieser Tochter zu gewinnen. (Traurig für euch, dachte ich, mir ward es geschenkt.) Sie ist eben anders als ihre Schwestern, die durch einen Wink zu leiten waren. Bei ihr hieß es biegen oder brechen. Das Kind verschlossen und eigenwillig, wir streng bis zur Härte ihr gegenüber, weil wir das als unsere Pflicht ansahen. So hat sich allmählich eine Eiswand zwischen uns aufgerichtet. Edith liebt uns nicht, aber wir glauben, nein, wir sind überzeugt und danken Gott dafür, sie liebt Sie, ihr selbst unbewußt verrät sie’s, und einmal ist es uns gegönnt, ihr ins Herz zu blicken. Das erste Wunder, das die Liebe an ihr tut. Wer weiß, vielleicht nicht das letzte, vielleicht gewinnen wir an Edith eine Tochter, indem wir sie Ihnen zur Frau geben.«

Sie wurde gerufen. Ein Blick auf ihre Eltern, auf mich, und sie blieb neben der Tür stehen, sie suchte mit beiden Händen eine Stütze an der Wand.

Ich war mir während der Unterredung mit Herrn und Frau von C. wie eingefroren vorgekommen. Als ich Edith so bewegt dastehen sah, übermannte mich mein Gefühl. Ich ging auf sie zu, ich wollte reden, ich konnte nicht; ich öffnete die Arme, und sie stürzte hinein.

Sie sprach zuerst: »Ist’s wahr? Ist’s möglich, mich? Nicht Maud, nicht Ethel – mich!«

 

Nun kamen Tage, deren ich mit Stolz und Wonne gedächte, wenn sie den Eingang bilden würden zu einem schönen Leben. Jetzt aber eile ich über die Erinnerung an das Glück hinweg, das wie ein Giftpilz rasch emporschoß und rasch verdorrte.

Ediths Eltern und meine Mutter sagten: »Ihr kennt euch kaum«, und sie drangen darauf, daß unser Brautstand lange dauere. Mir konnte die Zeit des Hangens und Bangens nicht rasch genug verfliegen, ich wollte sie kurz haben und setzte meinen Willen durch. Wir heirateten, wir reisten, kehrten heim. Ein Kind, ein Mädchen, kam zur Welt und erhielt in der Taufe den Namen meiner Mutter, Eleonore.

An dem Verhältnis zwischen Edith und mir hatte ein Jahr der Ehe nichts verändert. Wonach Edith sich gesehnt, seitdem sie dachte, grenzenlose Liebe, einen Menschen, dessen Abgott sie war, der sie töricht verzog, sie besaß es nun. Mit aller Kraft ihres mächtigen Wesens hielt sie ihr Eigentum fest, wachte mit eifersüchtigem Geiz über jede Regung meines Herzens. Das Gesetz der Gesetze lautete bei ihr: Du sollst mich, deine Frau, lieben, mich allein. Freilich gab auch sie sich ganz, und sie war ein reiches Geschöpf. Ich bin nie wieder einem Weibe von soviel Geist und Verstand, von so unerschöpflicher Einbildungskraft begegnet. Dazu ihr großes Talent, das hingereicht hätte, zwanzig »ewig Strebenden« einen Lebensinhalt zu schaffen, und mit dem sie spielte, das sie verwüstete. Bat ich einmal: »Führe diese Skizze aus, sie gäbe ein hübsches Bild«, da hieß es: »Willst du mich los sein? Soll ich einen halben Tag an die Staffelei angenagelt bleiben?« Und wenn ich meinte: »Schade um dein Talent«, war ihre Antwort: »Ich will kein Talent haben und ausbilden als das, dich anzubeten.«

Aus der Mappe verschwand die Skizze, die ich gelobt hatte, und ich fand an einem der nächsten Tage ein Stück von ihr neben meinem Papierkorb recht absichtlich hingelegt.

Noch vor meiner Verheiratung hatte sich meine Mutter auf ein kleines Gut, das ihr Eigentum war und unfern von Niedernbach lag, zurückziehen wollen. Ich gab es nicht zu. Sie mußte bei uns bleiben, das Schloß war groß genug, um zwei voneinander unabhängige Haushaltungen zu beherbergen. – »Wir werden uns vertragen«, meinte ich und behielt recht. Wir vertrugen uns. Meiner Frau wurde kein Grund gegeben, das landläufige oder, mit einem andern Wort für dieselbe Sache, das ordinäre Vorurteil gegen die Schwiegermutter zu teilen. Die ihre hat auch nicht den Schatten eines Anspruchs an sie erhoben und die geringste, selbstverständliche Rücksicht immer dankbar und fast als Gnade empfunden. Seitdem sie sich in ihrer frommen Menschenunkenntnis einbildete, Edith kennengelernt zu haben, hatte sie nur Lob und Liebe für »ihre Tochter«.

Die Liebe fand keine Gegenliebe; das Lob zu erwidern nahm Frau von C. auf sich. Sie sprach es oft mit feierlicher Überzeugung aus, wenn sie zu uns herüberkam aus den Zimmern meiner Mutter. Dabei blickte sie Edith fest und streng in die Augen und pries sie glücklich, in der Nähe einer solchen Frau leben, sich erbauen zu dürfen an diesem Vorbild der heldenmütigen Geduld im Leiden, der Güte gegen die Menschen und der Ergebung in den Willen Gottes.

Diese herausfordernde Bewunderung hat böse Früchte getragen. Sie hat mitgeholfen, das traurige Wunder zu vollbringen, daß eine Frau, der selbst die Fernstehenden, die Stumpfsten Verehrung und Liebe zollten, nicht vermochte, dem Wesen, das ihr nach mir das teuerste war, die kleinste herzliche Regung abzugewinnen. Sie suchte sich und mich darüber zu täuschen, sie behauptete, Edith gehöre zu den jungen Geschöpfen, die sich schämen, eine warme Empfindung zu zeigen: »Und das sind die Besten, die Stärksten«, sagte sie. »Wie sie ist, so ist sie mir recht. Eine Schwiegertochter, die mich mit Aufmerksamkeiten verfolgt, würde mir lästig! Ich bliebe ewig in ihrer Schuld, ich alte, an mein Ruhebett gefesselte Maschine, und käm aus den Gewissensqualen nicht heraus.«

Ich aber dachte bei mir: Warte nur, Mutter, deine Güte wird die Gleichgültigkeit Ediths besiegen, und dann wirst du sehen, wie wohl es tut, von einem Sohn und von einer Tochter geliebt zu werden.

In dieser Hoffnung wurde ich betrogen.

Ich kam eines Vormittags früher als gewöhnlich nach Hause. Wir hatten Ethel zu Tische. Als ich ins Speisezimmer trat, hörte ich unsern Gast im Salon nebenan lachen und zugleich schelten: »Pfui, Edith, das ist abscheulich.« Darauf ein unterdrücktes Gewimmer und wieder Lachen und Schelten. Ich öffnete die Tür und sah Edith auf dem Kanapee ausgestreckt liegen. Ihr Spitzentaschentuch hatte sie wie eine Haube auf den Kopf gestülpt, das Gesicht in Falten gezogen und äffte das Gebaren meiner Mutter nach in einer ihrer schweren Leidensstunden.

Meine Fäuste ballten sich: »Bravo, Komödiantin!« rief ich aus, stürzte auf sie zu und faßte sie hart an beiden Schultern. Die Todesangst, in die Ethel geriet, brachte mich zu mir. Sie war auf die Knie gestürzt und schrie: »Verzeih, verzeih ihr, es war nicht bös gemeint.«

Edith hatte nicht gezuckt unter meiner grausamen Berührung. »Ich hasse deine Mutter«, sagte sie langsam und ließ auf jedem Wort die Stimme ruhen und biß die blanken Zähne zusammen. »Ich hasse sie, weil du sie mehr liebst als mich. Ich hab’s immer gefürchtet, jetzt weiß ich’s.«

 

Bis hierher bin ich neulich gekommen. Dann wollte ich überlesen, was ich aufgeschrieben habe. Aber das darf ich nicht, sonst lege ich die Feder weg. Sie ist in meiner Hand ein schwaches Werkzeug, und was sie schildert, bleibt gar zu weit hinter der Wirklichkeit zurück. Diese Aufzeichnungen erwecken kaum einen schwachen Begriff von dem Wesen Ediths, von der Kraft ihrer Leidenschaft, von der Lieblichkeit ihrer Hingebung, von der Anmut, die ihr treu geblieben ist durch Irrtum und Sünde bis in die Verworfenheit.

Arme Edith! Wer weiß, wenn meine Liebe zu ihr die Stärke der ihren zu mir gehabt hätte, ebenso ausschließend, rücksichtslos, unbedingt gewesen wäre, vielleicht würde ich sie doch gerettet haben, die arme Edith – und dann auch die andere …

Vielleicht – das ist ein Wort! Ich muß es streichen aus meinem Vokabularium. Ich darf nicht denken: vielleicht, sonst ist mir eins gewiß – der Wahnsinn.

Nach der Rückkehr von unsrer Hochzeitsreise hatte ich meine landwirtschaftliche Tätigkeit wieder aufgenommen. Sechs Wochen nach der Geburt des Kindes war Edith schon an meiner Seite gewesen: »Nimm mich mit und kümmere dich nicht um mich, ich werde dir nie lästig werden.« Sie hielt Wort, sie wurde mir nie lästig, im Gegenteil, sie machte sich nützlich durch ihr Interesse an der Sache, ihren scharfen Blick, ihr richtiges Urteil über die Menschen. Wir ritten oder fuhren zusammen aus und kamen zusammen nach Hause. Ihr war kein Weg zu weit, keine Beschäftigung zu gering, wenn sie nur bei mir sein konnte.

Mit dem Kind gab sie sich wenig ab. Ich machte ihr Vorwürfe darüber; es war am selben Tag, an dem sie meine Mutter verspottet hatte. »Wenn es dir ähnlich sähe, würde ich’s lieben. Aber das bin ja ich, das ist noch einmal die unglückselige Edith«, erwiderte sie. »Aus der Art geschlagen, sagten die Eltern. Unfähig, das Ehrwürdige zu verehren, sagst du!«

Weinend, außer sich stürzte sie in meine Arme. »Lehr mich’s, lehr mich gut sein, hab grenzenloses Erbarmen! Hab mehr Liebe zu mir als Abscheu vor meinen Fehlern.«

Der Winter kam; C.s reisten mit Ethel nach dem Süden und ließen Maud, die meiner Mutter eine wahrhaft kindliche Zuneigung entgegentrug, bei ihr zurück. Edith und ich sollten den Fasching in Wien zubringen, und täglich mahnte meine Mutter: »Geht, Kinder, geht. Eure kleine Lore bleibt in guter Hut. Ihr habt euch etwas Zerstreuung wohl verdient, genießt sie.« Maud stimmte bei, Edith verhielt sich passiv.

Ich weiß nun schon lange, meine Mutter wollte mich forthaben, ich sollte nicht Zeuge sein ihres letzten Martyriums, dem sie sich nahe fühlte. Und gerade um diese Zeit schien sie mir auffallend wohler, und meine Zuversicht wurde durch die des Arztes erhöht.

Wir nahmen Abschied – wir. Ich ging nie mehr allein zu ihr hinüber, um nicht mit der Frage empfangen zu werden: »Wo ist Edith?« Sie gab sich Rechenschaft von der Eifersucht, die sie erregte, sosehr Edith auch bestrebt war, sie vor ihr zu verbergen. Meine Mutter sah alles in zu schönem Licht, und was sie in schönem Licht durchaus nicht sehen konnte, dafür fand sie eine Entschuldigung; aber – sie sah.

Sie hatte Toilette gemacht zu diesem unvergeßlichen Abschied. Man hätte sie für gesund halten können an dem Vormittag; auf ihren Wangen schimmerte ein Anflug von Farbe, ihre Augen glänzten. Wie ein lichter Engel stand Maud neben ihrem Ruhebett. Sie ist gut versorgt, dachte ich, und dennoch überfiel mich’s: Du solltest nicht fort von ihr. Aber ich verscheuchte die weichmütige Empfindung, scherzte über die elegante Haube meiner Mutter und über das Spitzenkleid, in das sie sich geworfen hatte, und sie scherzte mit: »Ich habe auch meine Eitelkeit, ich will euch in angenehmer Erinnerung bleiben.«

Sie küßte Edith und dann mich auf die Stirn; gar gerecht teilte sie die Zeichen ihrer Zärtlichkeit zwischen uns.

Edith wandte sich. Ich aber schloß meine geliebte Mutter noch einmal an mein Herz und preßte meine Lippen auf ihren viel zu früh weiß gewordenen Scheitel und fühlte das Beben ihrer armen wunden Brust an der meinen. »Du leidest, Mutter«, sagte ich. Sie schüttelte den Kopf, sie lächelte.

»Sei ganz ruhig, ich verspreche dir, wenn es gegen allen Anschein ernst werden sollte, rufe ich dich.«

 

Wir stürzten uns kopfüber in die Weltfreuden. Es ging, wie’s immer geht beim Auftauchen einer neuen, die Aufmerksamkeit erregenden Erscheinung. Das Cliquenunwesen, das jetzt in der Wiener Gesellschaft herrscht, begann schon damals sich auszubilden. Viele kleine, streng abgeschlossene Kreise in dem großen Kreis mit den verschwimmenden Konturen. Es gibt keine bestimmbaren Grenzen zwischen denen, die zur Gesellschaft gehören, und denen, die sich zu ihr zählen und von Außerhalbstehenden zu ihr gezählt werden. Aus den kleinen Kreisen gucken sie hinüber, herüber, mißtrauen, lästern, ziehen sich zurück in ihren Bau, aber mit einer Beute, irgendeinem Klatsch, irgendeiner lächerlichen Empfindung. Sie rollt, vergrößert sich, wird durch die Leichtgläubigkeit erhärtet, eine steinerne Legende, an der sich kein Jota ändern läßt.

Von Edith wußte man schon nach den ersten Tagen, daß sie eine Kreolin, die einzige Tochter eines unermeßlich reichen Pflanzers auf Barbados war. Ihr grausamer Vater hatte sie gezwungen zuzusehen, wenn er unbotmäßige Sklaven totpeitschen ließ. In ihrer Heimat nannte man sie die Perle der Antillen.

Diesen Unsinn, der mich ärgerte, fand Edith ergötzlich. »Jetzt brauch ich mich nicht erst interessant zu machen, ich bin’s«, meinte sie. Die scharfen, eindringenden Pfeile ihres Spottes schwirrten, die Witzworte, die sie sagte, bekamen Flügel, die Karikaturen, die sie zeichnete, hatten einen ganz außerordentlichen Erfolg. Man buhlte um die Ehre, in der Sammlung Ediths zu figurieren. Was die Stellung einer jeden andern untergraben hätte, befestigte die ihre. Das alles schmeichelte mir und verdroß mich zugleich. »Dir ist nichts heilig«, sprach ich einmal zu ihr, und sie zuckte die Achseln. »Weil ich nichts Heiliges finden kann auf dieser unheiligen Erde.« Empört fuhr ich auf: »Edith!« Da schmiegte sie sich schon an mich, demütig und flehend, die Vielgefeierte. »Verzeih deinem armen, albernen Kinde, glaub ihm nicht. Unsre Liebe ist mir heilig.«

Die Gesellschaftsmenschen nannte sie dumme Awaren, die sich hinter ihre Ringwälle verkriechen und von dort aus die Welt beurteilen. Aber einen Ringwall nach dem andern zu erobern, im Triumph in jeden einzuziehen, das unternahm sie und das gelang ihr. Es konnte nicht anders sein. Nie hat jemand, den zu gewinnen sie sich bemühte, ihr widerstanden. Sie bezauberte die Männer und gewann die Frauen. Ich habe die Zähesten, die Unüberwindlichsten, die Vorurteilsvollsten klein beigeben gesehen, wenn sie sich herbeiließ zum Kampf mit ihnen. Ihr Verstand besaß im höchsten Grad, was man beim Auge das Akkommodationsvermögen nennt. Sie stellte jeden in die rechte Sehweite und sich neben ihn in seinen Gesichtskreis und war gescheit mit den Klugen, ernst mit den Ernsten, frivol mit den Oberflächlichen.

Bald gab es kein Fest ohne sie, und sie gehörte zu den gefeiertsten Frauen in der »großen Welt«. Wenn wir vom Schauplatz eines ihrer Siege nach Hause fuhren, legte sie die Arme um meinen Hals und den Kopf auf meine Schulter und fragte: »Hast du mich wieder recht lieb, weil ich den andern so gut gefalle?« Jede Huldigung, die ihr dargebracht wurde, heimste sie ein mit Entzücken, um sich ihrer vor mir rühmen zu können.

Den letzten Ball im Fasching wollten wir noch mitmachen vor unsrer Rückkehr nach Niedernbach, und auf dieses glänzende Abschiedsfest hatte Edith sich besonders gefreut und genoß es mit vollkommener Unbefangenheit.

Am nächsten Morgen, sehr früh, weckte sie mich, stand in Reisekleidern an meinem Bette. »Wir müssen nach Niedernbach, Lieber, mit dem ersten Zug. Es ist ein Telegramm von Maud gekommen, deine Mutter ist etwas weniger wohl.«

Ich sprang auf, verlangte das Telegramm. Es war verlegt worden; vielleicht war es in den kleinen Koffer geraten, den Edith und die Kammerfrau in aller Eile gepackt hatten. Niemand nahm sich Zeit, es zu suchen, nur rasch in die Kleider; das Frühstück wartete, der Wagen war bestellt. Meine Frau hatte schon für alles gesorgt.

Eine furchtbare Reise trotz aller Mühe, die Edith sich gab, mich zu beruhigen. Eine entsetzliche Ankunft. Vor dem Tor trat Maud uns entgegen. Auf ihrem Gesicht las ich: Du kommst zu spät.

Edith sprang aus dem Wagen auf ihre Schwester zu und flüsterte ihr hastig etwas ins Ohr. Maud horchte, ihre Augen wurden starr, sie wich vor Edith zurück, unwillkürlich, mit Abscheu. Sie konnte nicht lügen, sie konnte nicht, die Fähigkeit fehlte ihr. Ich erfuhr alles auf einmal. Meine Mutter war vor einer Stunde gestorben, sie hatte sich in ihren letzten Augenblicken vergeblich nach mir gesehnt. Ich war zu spät gekommen, weil Edith, um den Ball nicht zu versäumen, das Telegramm, das mich nach Hause berief, unterschlagen hatte.

 

An diesem Verrat starb meine Liebe. Aber – ein Geständnis, schwer abzulegen – die Leidenschaft überlebte den Haß und die Liebe. Der herbe Zusatz, den meine Selbstvorwürfe ihr gaben, vertiefte sie nur, sie wurde so recht eine erniedrigende Wonne, eine selige Bitternis, um so mächtiger, je elender sie macht, denn sie nährt sich von unsrer besten Kraft. Sie ist der aus Nektar und Wermut gemischte Trank, nach dem ewig lechzen wird, der ihn einmal gekostet hat. Er allein löscht den Durst des Erdgeborenen nach Lust und Leid zugleich.

Was heiße Reue – das heißt, nein, dieses Wort muß ich zurücknehmen, eigentlicher Reue war Edith unfähig; sie rühmte sich dessen sogar –, was heiße Liebe tun kann, um einen Frevel zu sühnen, das hat Edith damals getan. Ich hätte ihr verzeihen oder sie von mir stoßen sollen, fand aber weder zu dem einen noch zu dem andern die Kraft. Es war ein gräßliches Wirrsal in mir. In einem Atem verurteilte und entschuldigte ich seine Urheberin. Ich sprach nicht die Verdammnis über sie wie ein Richter, ich fluchte ihr, wie man einem Spießgesellen flucht.

An der Leiche meiner Mutter war mein Gewissen erwacht. Ich lernte alle seine Qualen kennen. Die stummen Lippen der Toten hatten gesprochen: Schlechter Sohn!

Wie war’s möglich gewesen? Ich begriff’s nicht mehr, daß ich mich hatte täuschen lassen durch ihren frommen Betrug, irreführen durch ihre großmütige Verstellung; daß ich nicht erraten hatte, was sie mir verschwieg, den unaufhaltsamen Fortschritt der Krankheit, die an ihr zehrte, daß ich nicht gegeizt hatte mit jeder Minute ihres entschwindenden Lebens. Und sie – die letzten Worte, den letzten Wunsch, alles, was sie aufgespart für den Augenblick, in dem es »ernst werden sollte«, hatte sie nicht aussprechen, mich nicht mehr segnen können.

Sie war so schwer hinübergegangen, hörte ich. Die Sehnsucht nach mir in ihrem mütterlichen Herzen verlängerte den Todeskampf, ließ sie nicht friedlich hinübergehen.

Von der Zeit an habe ich eine reine Freude nicht mehr gekannt, ich war unheilbar verwundet.

Ob der Grund meines veränderten Benehmens gegen Edith ihren Eltern ein Geheimnis blieb, weiß ich nicht. Sie haben darüber nie Rechenschaft von mir verlangt, mir nicht die geringste Unzufriedenheit gezeigt. Im Gegenteil, sie waren rücksichtsvoller und aufmerksamer denn je für mich, kälter denn je gegen ihre Tochter. Auch an ihren Schwestern fand Edith keine Stütze. Maud, so vortrefflich, so pflichttreu, so liebevoll, wenn sie verehrte, war doch nicht ohne die gewisse Härte, die von großer Frömmigkeit unzertrennlich scheint. Diese Härte bekam Edith jetzt zu fühlen. Die kleine Ethel, die vor der unberechenbaren Schwester immer eine instinktive Scheu gehabt hatte, zog sich ganz und gar von ihr zurück, nahm keine Einladung mehr an. Umsonst forderte Edith sie auf, bat (und wie inständig!) umsonst: »Komm zu uns. Bleib bei uns.«

Dagegen empörte ich mich. An mir hatte Edith sich versündigt, mir, nicht den andern kam’s zu, sie zu strafen. Einmal stellt ich meine Schwägerin Ethel zur Rede: »Was hat Edith dir getan?« – Nun, ihr nichts, aber was mußte sie mir getan haben, daß ich so bös mit ihr sein konnte?

Sie war nur das Echo ihres Vaterhauses, und ich fand die Parteinahme, die mir dort zuteil wurde, sehr unberufen und sehr beschämend für mich.

Das absolute Alleinstehen Ediths erweckte am Ende doch wieder mein Mitleid, und wieder schlichen sich in mein Herz noch andere Empfindungen als die leidenschaftlicher Mißachtung oder leidenschaftlicher Hingerissenheit. Ich konnte nicht ausrufen: Du irrst, wenn sie sagte: »Hätten wir deine Mutter am Leben gefunden, mein Unrecht wäre dasselbe geblieben, aber wie anders würdest du’s beurteilt haben!«

Es ergriff mich, wenn ich meine Schwäche verwünschte nach einer Rückkehr zu ihr und sie dann sprach: »Sei ruhig, ich fühle deine Lieblosigkeit nie demütigender als jetzt in deinen Armen.«

Es rührte mich, wenn sie meine rauheste Abweisung mit der Bitte beantwortete: »Mißhandle mich, je ärger, je besser. Um so früher tilgst du meine Schuld gegen dich und wirst endlich in der meinen stehen. Dann sollst du erfahren, wie die Liebe und was sie verzeiht. Alles, alles! Es gibt nichts im Bereich des Denkbaren, das ich dir nicht verzeihen würde.«

So brachte sie mich langsam wieder in ihren Bann, aber wo blieb das Glück? An eine stille, gleichmäßige Existenz in wohlgeordneter Häuslichkeit war an der Seite Ediths nicht zu denken; ein Haus führen ist eine Mühewaltung, und davor graute ihr. Ihr graute auch vor dem Lesen eines ernsten Buches, und unrettbar lächerlich machte sich in ihren Augen, wer mit ihr ein Gespräch führen wollte, das nicht ausschließend vom Nächsten, seinen Schwächen und Fehlern handelte. Wenn es etwas gab, das ihr Interesse und sogar ihre Bewunderung erregte, so war’s ein schönes Bild, und wenn es Menschen gab, die wenigstens eine Zeitlang von ihren Spöttereien und Lästerungen verschont wurden, so waren es Künstler. Aber Pietät flößte ihr selbst der größte nicht ein. Diese Empfindung ist ihr fremd geblieben bis ins Grab. Sie hatte zu scharfe Augen für alle menschlichen Fehler, ihre eigenen nicht ausgenommen. Ich muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie zwei große Vorzüge besaß; sie war nicht eitel, und sie kannte sich selbst. Die Stunden der Einkehr kamen selten und hinterließen keinen bleibenden Eindruck; kamen sie aber, dann waren sie furchtbar.

Später noch, in Tagen, in denen ich ihr noch viel schwerere Schuld zu verzeihen hatte, meint ich, sie müsse Erlösung finden können in der Kunst und in der Religion. Sie wollte davon nichts wissen. »Das lebendige Leben interessiert mich, nicht das gemalte«, sagte sie; »und beten? Lieber nicht. Mein Gebet wird immer zur Anklage. Warum hat der Ewige ein verpfuschtes Werk, wie ich bin, nicht zurückgeschleudert in das Nichts, da er es geschaffen hatte und sah, daß es nicht gut war.«

Mit der kleinen Lore, die leidenschaftlich an ihr hing, beschäftigte sie sich wenig. Sie hatte kein rechtes Herz für das Kind. »Weil es dir nicht ähnlich sieht«, sagte sie zu ihrer Entschuldigung, »sondern mein Ebenbild ist. Sieh nur, Lieber, die Gestalt, die Kopfform, die Augen: die meinen! Ihr Sprechen, ihr Lachen: das meine! Es ist schrecklich. Ich bin hineingeschneit gekommen in die Familie, wer weiß wie? Ich sehe keinem der Unsern gleich, erinnere an keinen. Dieses Kind ist Fleisch von meinem Fleisch und Geist von meinem Geist. Es ist noch einmal ich, doppelt ich und wird doppelt unselig sein.«

Sie verfiel in wahnsinniges Schluchzen. Ich ging aus dem Zimmer, ich wollte nicht weich werden.

Eine Viertelstunde später saß Edith am Klavier, spielte einen Walzer und lachte, lachte schallend über die Kleine, die zu tanzen versuchte und alle Augenblicke über ihre eigenen, ungelenken Füßchen stolperte und hinfiel. Endlich hatte sie genug und blieb auf dem Boden sitzen, ganz artig und erschöpft. Edith ließ sie hart an. Sogleich brach das Kind in Schreien aus, strampelte und plärrte und entwickelte soviel Zorn und Bosheit, als einem dreijährigen Ding nur irgend möglich ist. Seine Mutter betrachtete es eine Weile höchlich ergötzt, sprang plötzlich auf, hob’s in ihre Arme, überflutete es mit Zärtlichkeiten und drehte sich mit ihm und tanzte und sang dabei ihrem wilden, schönen Kind ein wildes, schönes Zigeunerlied vor. Jede ihrer Bewegungen, jede ihrer Gebärden paßte zu der Musik, war – wenn man so sagen darf – stumme Musik. Sie sah wohl, daß ich dastand und sie beobachtete, tat aber nicht dergleichen. Und das Kind, belohnt für seine Unart, war entzückt und jauchzte laut.

So erzog sie’s.

Mein Haus hatte keine Herrin, mein Kind hatte keine Mutter, ich hatte keine Lebensgefährtin, ich hatte – eine schöne Geliebte.

 

Meine landwirtschaftliche Tätigkeit erweiterte sich von Jahr zu Jahr. Ein gemeinnütziges Unternehmen, das ich ins Leben gerufen hatte, gedieh viel schneller und nahm größeren Umfang an, als ich im Beginn mir hätte träumen lassen. Die leidige Politik erhob auch Anspruch auf einen Teil meiner Zeit; so hatt ich Beschäftigung in Hülle und Fülle. Sie zog mich ab von meiner unfruchtbaren Reue, von der Pein meines inneren Zwiespalts.

Edith war nun oft allein. Sie klagte darüber; ich gab ihr zur Antwort: »Du hast dein Haus, dein Kind, deine sträflich vernachlässigte Kunst, du hast die Nachbarschaft deiner Eltern, nütz all den Reichtum aus.«

Wieder muß ich ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen: sie hat sich bemüht, meine Ratschläge zu befolgen.

Über meinem Schreibtisch hängt ein Bild – ich hab’s von da nie verbannen wollen –, das stammt aus dieser Zeit und bittet für die arme Edith. Es ist ein Aquarell, mit außerordentlicher Kraft und Leichtigkeit hingeworfen, nicht ausgeführt. Einsam steht ein junges Weib am Rande einer Klippenwand. Tiefer Schatten um sie her, die Nacht bricht an. Aus dem Dunkel leuchtet, von durchsichtigen Schleiern umwallt, der blühende Leib. Hoch am Himmel sind die Umrisse einer dem Wolkendunst entrückten Lichtgestalt angedeutet. Zu der hebt das Weib den Kopf empor, der streckt sie hilferufend die Arme entgegen. Verzweiflungsvolle Sehnsucht glüht und schmachtet in ihren Augen, spannt jede Fiber ihres Körpers. Er ringt vergeblich. Geister der Tiefe haben ihn in Ketten geschlagen. Gestalten, schön und ungeheuerlich, aus einer selbstquälerischen, einer erfindungsreichen Phantasie geboren, kriechen, stürzen herbei. Sie zerren an den Fesseln und werden ihr Opfer in den Abgrund reißen. Hilfe! möchte man mit der Unglückseligen rufen.

Aber die Lichtgestalt bleibt abgewendet.

 

Ein Jahr nach dem Tode meiner Mutter wurde die Verlobung der kleinen Ethel gefeiert. Ein, wie’s in Romanen und Novellen heißt, »schmucker Reiteroffizier« hatte ihr Herz und, was viel entscheidender war, die Sympathie ihrer Eltern gewonnen. Die Ehrlichkeit, mit der er ihnen eingestand, daß er sich um die Kleine nicht beworben hätte, wenn sie arm wäre, sosehr sie es ihm auch angetan, gefiel ihnen. Er trug einen großen Namen und hatte von einem kürzlich verstorbenen Verwandten die schwer belasteten Familiengüter geerbt. Nun hieß es (immer die alte Geschichte!) entweder heiraten und den Dienst verlassen oder ledig bleiben und weiterdienen. Zu dem letzteren erklärte er sich entschlossen, wenn er die kleine Ethel nicht zur Frau bekäme.

Meine Schwiegereltern legten die Angelegenheit in meine Hand, und ich brachte sie zu gutem Ende. Es war ebenso leicht, über die Verhältnisse meines zukünftigen Schwagers ins reine zu kommen, wie über ihn selbst. Man brauchte keinen besonderen Scharfblick, um zu erkennen, daß in dem gutmütigen Lebemann, der sein Geld hinauswarf, solange er wenig hatte, ein solider Hausvater und Sparmeister schlummerte.

Die Eltern gaben denn ihren, im Sinne des Wortes, reichen Segen, und Ethel, die Tag und Nacht geweint hatte wie ein Fontänchen, während die Unterhandlungen mit ihrem Karl oder vielmehr mit seinen Gläubigern noch in der Schwebe waren, glänzte jetzt vor Glück an seiner Seite wie eine kleine Sonne.

Das Regiment Karls stationierte in der Nähe; er führte seine Kameraden, von denen er bald Abschied nehmen sollte, was ihm und ihnen schwer wurde, im Hause C. ein. Bisher hatte es dort von Malern gewimmelt, jetzt wimmelte es von Malern und von Offizieren. Sie vertrugen sich vortrefflich miteinander. Schöne Pferde wurden vorgeritten und in allen Gangarten skizziert, gezeichnet und gemalt. Eine Hälfte des Tages gehörte der Kunstbegeisterung und der »Arbeit« (sie nannten das so), die andre der Erholung bei Tisch, im Park oder im Tanzsaal. Es ging heiter her, und der Heiterste der Gesellschaft war mein Schwiegervater.

Eines seiner Bilder, ein spannlanger Landsknecht, hatte auf irgendeiner Ausstellung irgendeinen Preis bekommen. All sein Ehe- und übriges Glück in Ehren, aber der Augenblick, der die Nachricht der Erfüllung eines jahrelang still gehegten Wunsches brachte, war doch der schönste seines Lebens. Er kam vielen zugute. Daß ihm das Herz manchmal schwer war, dafür sorgte Edith, bewußt und unbewußt. Dann hieß es bei ihm: Wenn ich keine Freude habe, sollen doch die andern Freude haben, und er gab und half, wo er konnte. – War ihm aber eine Freude zuteil geworden, dann sollten die andern doppelt Freude haben, und seine Großmut überstieg die kühnsten Zumutungen, die an sie gestellt wurden.

Die Meistgefeierte bei den Unterhaltungen und Festlichkeiten im Elternhause blieb immer Edith. Es war einmal so. Ob sie’s darauf abgesehen hatte oder nicht, sie herrschte, wo sie erschien, und verdrehte den Leuten die Köpfe. Die leichten Siege über junge Künstler- und Soldatenherzen schmeichelten ihr nicht. Sie hatte etwas ganz anderes im Sinn als spielende Eroberungen, wenn sie sich herbeiließ, liebenswürdig zu sein mit diesen (ihr Ausdruck) armen Teufeln. Sie wollte mich eifersüchtig machen. Ich merkte die Absicht und wurde nicht verstimmt.

Daß sie selbst von Eifersucht gepeinigt wurde, suchte sie zu verbergen; aber Verstellung war ihre Sache nicht. Einmal eingestanden, wuchs die kläglichste aller Leidenschaften bis an die Grenze des Wahnsinns. »Du liebst mich nicht mehr, wen liebst du?« mit der Frage peinigte sie mich. Sie war eifersüchtig auf ein Buch, das ich las, auf jedes kleine Andenken an meine Mutter, auf eine unsichtbare Geliebte, die ich, sie wußte nur nicht wo, vor ihr verbarg. Sie war eifersüchtig auf Maud, die ich nur zu oft bitten mußte, sich des vernachlässigten Kindes anzunehmen, das der Willkür der Dienerschaft überantwortet blieb.

Eines Abends trat Edith plötzlich bei mir ein und fand mich schreibend. Sie war wie im Fieber, durchstöberte meine Mappe, riß die schon geschlossenen Briefe aus den Kuverts: »An wen adressierst du deine Liebesepisteln, wer vermittelt sie? Ich will’s wissen – ich hab das Recht.«

Ihre Aufregung erschreckte mich, und ich sagte: »Lies nur, lies alles, es wird dir als Schlafmittel dienen.«

»Du fängst es eben sehr geschickt an. Ein Zeichen mehr, wie durchtrieben …«

»Edith!« schrie ich auf – und sie lag an meiner Brust, schmiegte sich an mich, angstvoll und bebend an allen Gliedern.

»Tu ich dir unrecht? Liebst du keine andre? Dann verzeih, und um des Guten, um Gottes willen liebe mich! Liebe mich wieder wie einst, aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele. Wenn du mich nicht mehr so lieben kannst, bin ich verloren. Ich hab zu wenig Seele, wie ich glaube, und zu wenig Herz, wie ich weiß. Ich habe keins, außer für dich. Gib mir deine Seele, dein Herz, damit ich wieder lebe. Willst du – willst du?« fragte sie heftig, fast drohend, und ich kämpfte zwischen Zorn und Erbarmen. Was forderte diese Frau? Meine Seele, die sie belastet hatte mit einem Vorwurf, der nicht ruhte, mein Herz, das sie in seiner heiligsten Empfindung verwundet hatte.

»Willst du?« wiederholte sie.

»Wollen ist nicht Können«, antwortete ich. Sie sprang auf. Sie sah mich an, mit einem Blick, finster wie die Hölle, kreuzte die Arme über der Brust und sprach: »Auch gut.«

Die zwei Worte sollte ich noch einmal hören.

 

Sie hatte gesagt: »Ich bin verloren«, und sie war’s, und ich war blind. Ich ließ mich in Sicherheit wiegen durch die Überzeugung, daß ich von Edith geliebt wurde über alles. Eine Frau, die liebt, wird nicht treulos, bildete ich mir ein. Die Pflicht ist nur ein schwacher Halt im Vergleich zu dem, den die Liebe bietet, die allgewaltige.

Falsch! – falsch, wie das Generalisieren immer ist, dieser trübe Born, aus dem Dummköpfe ihre Weisheit schöpfen.

Als ich die Gewißheit erlangte, daß Edith ihre unsinnige Rache an mir genommen hatte, nahm ich die meine. Die Frau verstand es, mich verrückt zu machen, und noch mehr ihn, den »armen Teufel«. Ein lieber, braver Mensch, um den einem leid sein konnte. Grausam hatte sie ihn die längste Zeit zum Narren gehalten und, als ich sie deshalb zur Rede stellte, lachend gesagt: »Imperator, dulde, daß deine Sklavin vor dir kämpft und siegt.«

Er war kein unerfahrener Jüngling, er war ein Mann. Vor wenigen Jahren hatte ein Zufall mich in die Lage gebracht, ihm einen wichtigen Dienst erweisen zu können. Als ich es erfuhr … Nun, wir waren von Sinnen, er und ich, und fürchteten beide, zu früh wieder zu Verstand zu kommen.

Keine Zeugen, eine Pistole geladen, die andre nicht. Übers Taschentuch wird geschossen, zugleich. Das machten wir aus. Er zitterte, er war wie die Wand, indes ich glaubte, mir müsse das Blut bei den Augen herausspritzen. – Eins, zwei, drei – ich drückte los. Ein kurzer, harter Knall, das Zündhütchen war abgebrannt. Er hatte die geladene Pistole. Ja, was ist das? Er läßt den Arm sinken. »Schieß!« ruf ich ihm zu, »schieß du …« und geb ihm einen Schimpfnamen, der mich heute noch reut.

»Nenn mich, wie du willst«, sagt er, »ich kann auf dich nicht schießen, aber –« und hebt die Pistole und richtet sie gegen sich. Ich schlug sie ihm aus der Hand; unser Benehmen kam mir albern und kindisch vor.

Ich forderte von ihm: »Ertrag dein Dasein, ertrag’s, sei’s, wie’s sei.« Er versprach’s, versprach auch, Edith nie wiederzusehen, und hat Wort gehalten.

 

Maud, zu der Edith nach der Entdeckung ratlos und verzweifelt geflohen war, machte sich zu ihrer Fürsprecherin. Sie erlangte von mir, was niemand außer ihr erlangt hätte. Ich verzieh.

Soll ich mich deshalb verachten? Verachtet mich, wer diese in Qual, Scham und Zorn hingeworfenen Bekenntnisse kalten Herzens Seite für Seite durchblättert? Ich bin euch ja nur ein Buchmensch, für den ihr eine andere, viel feinere Moral in Bereitschaft habt als für euch selbst und eure Freunde. Seht euch nur um. Wie viele von euch und von ihnen, mit denen ihr in einem Regiment dient, im Landtag sitzt, im Reichsrat, im Klub und so weiter, haben verziehen. Und ihr drückt ihnen die Hand und nennt sie Ehrenmänner.

Nun, ich bin wie sie und kein Buchmensch, ich bin ein lebendiger Mensch und schreibe meine lebendige Geschichte.

Ich verzieh also. Einmal – mehrmals. Das erstemal, weil es ihrem Anwalt, dieser edlen Maud, gelang, Entschuldigungen für sie zu finden. Später, als es für sie keine Entschuldigung mehr gab – aus Verachtung.

Wir lebten in Wien und auf dem Lande unter einem Dache, wir sahen uns vor Fremden und waren dann höflich gegeneinander. Darin bestand unser Verkehr. Das Kind hatte eine verläßliche Wärterin; seine Mutter, die in Weltfreuden unterging, beschäftigte sich fast nie mit ihm, und das war mir recht.

Um der kleinen Lore willen hätte ich einen Skandal gern vermieden. Edith provozierte ihn. Es war die letzte Probe, auf welche sie meine feige Langmut stellte. Auch die versagte endlich, und wir trennten uns. Sie brachte ihr Leben fortan teils auf Reisen (an aufmerksamer Begleitung fehlte es ihr nicht), teils in Paris zu. Ich löste mein Haus in der Stadt auf und zog mich vom politischen Leben zurück. Der Eigennutz in der Maske der Fürsorge für das allgemeine Wohl, der mir dort auf allen Gebieten begegnete, ekelte mich zu sehr an.

Beschäftigung hatte ich genug. Mein Schwiegervater übertrug mir die Leitung seines Gutes, und in Niedernbach gab’s vollauf zu tun. Die Wirtschaft war zurückgegangen, seitdem mein alter Verwalter unter der Erde schlief, die er geliebt und gepflegt, und seitdem ich meinen kleinen Wirkungskreis vernachlässigt hatte, um in einem großen – nichts zu leisten.

Von Vereinsamtsein war keine Rede. Mein Schwager und Ethel besuchten mich oft und brachten ihre lieben, schönen Kinder mit. Maud, die entschlossen war, unverheiratet zu bleiben, und das Leben einer weltlichen Klosterfrau führte, zog mit Erlaubnis ihrer Eltern nach Niedernbach, nahm sich der Erziehung Lores an und brachte den außer Rand und Band geratenen Haushalt wieder ins Geleise.

Meine Schwiegereltern – seien sie noch im Grabe gesegnet, die Vortrefflichen, sie waren für mich wie Vater und Mutter – sagten: »Jetzt sind wir wieder allein«, fügten sich aber in diese Tatsache mit sehr freudiger Ergebung.

An jedem Ersten des Monats schickte Maud einen Bericht über Lore an Edith ab. Es kam manchmal eine höhnische und gehässige, ein andres Mal eine im Sturm des Schmerzes und der Sehnsucht geschriebene Antwort. Es kamen auch Briefe an mich. Ich antwortete nie, las überhaupt nur die ersten; ich litt zuviel dabei.

Ich habe einen guten Bekannten gehabt, der war ein Kinderfeind: »Kinder! Tiere mit menschlichen Angesichtern, egoistisch, gefräßig, grausam! Pfui!« Er ging ihnen aus dem Weg. Fand er bei seinen liebsten Freunden die Kinder im Salon, an der Tür kehrte er um. Er hätte gern geheiratet; aus Angst vor den möglichen Folgen blieb er ledig. Erst als alter Junggeselle verliebte er sich so ernstlich und flößte so ernstliche Gegenliebe ein, daß er sich endlich doch an den Traualtar wagte. Sich und seiner nicht mehr jungen, aber sehr lieben Frau hatte er eingeredet: »Wir kriegen keine Kinder mehr.«

Statt dessen war schon nach kurzer Ehe Aussicht auf Nachkommenschaft vorhanden, und der Kinderfeind geriet außer sich und quälte seine Gattin aufs Blut mit den Drohungen, die er gegen das Ungeborene ausstieß. Es erschien, und im Momente erwachte in dem bärbeißigen Manne der zärtliche Vater. Er war nicht wegzubringen von der Wiege, verstand jeden Quietsch, den das Würmchen tat, besser als Hebamme und Wärterin. Wenn er seinen Sprößling für einige Stunden verlassen mußte, sprach er wenigstens von ihm, langweilte damit alle Welt und brachte seine Frau in die größte Verlegenheit.

Ein zweites Knäblein kam, ein drittes, die Leutchen brachten es auf vier, und jeder neue Ankömmling war in den Augen des begeisterten Vaters immer der schönste, der meistversprechende. Bei jedem avancierte der Papa von der Wärterin zur Kindergärtnerin, von dieser zum Lehrer und zum Korrepetitor. »Wo ist jetzt dein Kinderhaß?« fragte ich ihn einmal. »Wo soll er sein? Da ist er, immer derselbe«, gab er mir zur Antwort. »Kinder, gräßlich; pfui!« – »Aber die deinen?« Er riß die Augen weit auf und war grenzenlos verwundert. »Die meinen? Du wirst doch meine Kinder nicht mit andern vergleichen wollen!«

Das Beispiel dieses übrigens ganz tüchtigen und gescheiten Menschen warnte mich. Ich war nur zu sehr geneigt, in seinen Fehler zu verfallen. Mir schien Lore auch etwas ganz Unvergleichliches. Ich setzte mich nur zur Wehr gegen mich selbst, wenn ich spöttelte über das Entzücken, das sie allenthalben hervorrief. Im stillen gab ich ihr süßere Namen, als irgend jemand sie ersinnen konnte. Sie war das Licht meines Lebens, Hoffnung und Erfüllung.

Ihr Spielplatz lag den Fenstern meines Arbeitszimmers gegenüber. Das sogenannte Kapuzinergärtchen stieg da terrassenförmig empor, fast bis zur Höhe des ersten Stockes, und gerade vor mir, auf der Wiese, hüpfte die Kleine herum, schlug den Reif, den Ball oder bepflanzte ein Beet mit den winzigsten Blumen, die sie auftreiben konnte: Augentrost, Phlox, zwerghafte Hauswurz. Von den großen Blumen sagte sie: »Die sind alt, die mag ich nicht.« Alles Alte flößte ihr Scheu ein, sie fürchtete sich vor alten Menschen, vor alten Tieren. Ich freute mich immer über das gute, frische Aussehen meiner Schwiegereltern; es täuschte das Kind, und sie bekamen nie von ihm den grausamen Ausspruch zu hören: »Ich mag euch nicht, ihr seid alt.«

Ihretwegen hätte Lore ihn freilich ohne weiteres tun dürfen und – was nicht? Ihre Großeltern würden es allerliebst gefunden haben. Über Edith urteilten C.s klar und unbefangen, über die Enkelin waren sie verblendet und blieben’s, Gott sei Dank, bis ans Ende. Einen entschuldbareren Irrtum wüßte ich nicht zu finden. Das Kind war wirklich ein holdes, bezauberndes Geschöpf. Ich stand oft stundenlang am Fenster, hinter dem Vorhang versteckt, und sah ihr zu. Alles gelang ihr, alles gedieh unter ihren geschickten Händchen. Ihr Gärtlein wurde ein Schmuck der Wiese. In ihre Arbeit konnte sie sich versenken bis zur Weltvergessenheit. Da saß sie auf einem Puppensessel unterm Tannenbaum und stickte ein selbsterfundenes Muster auf durchlöchertes Papier oder auf irgendeinen Stoff, ein Kleidungsstück. Eine Mantille Tante Mauds fand man einmal so verziert. »Ich mache kleine, junge Stiche, damit ich nicht so oft einfädeln lassen muß, weißt du, Johanna«, sagte sie zu ihrer Kinderfrau und stocherte und stocherte. Manchmal hielt die eifrige Arbeiterin ihr Werk weit von sich, um zu sehen, wie sich’s aus der Entfernung machte, und fuhr dann fort mit einem Fleiß, einer Ausdauer …

»Nein«, jubelte ich, »sie wird nicht werden wie ihre Mutter, die Ähnlichkeit ist nur eine äußere. Fleiß, Ausdauer waren Edith fremd.«

Wenn Lore endlich doch arbeitsmüde wurde, sprang sie auf und rief ihrer Johanna zu: »Jetzt schau, jetzt werd ich fliegen wie eine Schwalbe.« Sie breitete die Arme aus und stob über den Rasen hin, leichtfüßig, anmutig, in großen Kreisen, in kleinen Kreisen, geradeaus. Jetzt rasch ein paar Flügelschläge mit den Armen angedeutet, ein Gezwitscher, dem Vogel, den sie nachahmte, abgelernt, eine rasche Wendung und wieder ein sanftes Hingleiten, das wahrlich einem Fluge glich. Ihre dunklen, seidenweichen Haare, die sie halblang und offen trug, flatterten, sie streckte den Kopf vor, richtete ihre Augen aufmerksam und regungslos in die Ferne, drückte den Mund fest zu und hielt in ihrem Flug nur inne, um ihre Johanna anzurufen: »Schau nur, schau, mach ich ein rechtes Schwalbengesicht?«

Ich hätte auflachen und zu ihr stürzen, sie in meine Arme nehmen, ihr Spielgefährte sein mögen, ihr Neger, ihr Hund.

Ich rang mit den zerschmelzenden Gefühlen, die mich beim Anblick dieser Kleinen, meines höchsten, des einzigen mir ganz zugehörenden Gutes, überfielen. Ich beherrschte mich immer. Ich habe das Kind nicht verwöhnt, nicht verzogen, ich bin mir keiner Schuld gegen meine Tochter bewußt, ich war im Anfang nicht zu mild, in der Folge nicht zu streng.

Lore stand im vierten Jahre, als ihre Mutter uns verließ. Sie hatte einen stummen, tränenlosen Abschied von der Kleinen genommen, und diese suchte sie am Abend im ganzen Hause, fragte jeden nach ihr, und als es hieß, sie sei fortgefahren, lief das Kind zum Tor des Hofes und wollte dort auf die Mama warten. Man mußte sie endlich mit Gewalt in ihr Bettchen bringen. Am zweiten Tage war sie halb, am dritten ganz getröstet. Vergessen hatte sie ihre Mutter nicht, ich merkte es oft. Sie sprach nur selten von ihr; sie erriet mit wunderbarem Instinkt, daß sie’s nicht sollte, nicht zu Hause und nicht bei ihren Großeltern. Die Anbetung, die sie für Edith gehabt hatte, übertrug sie auf mich – eine Zeitlang. Dann wurde der Großvater von ihr vergöttert. Bei ihm war sie am liebsten, bei ihm unterhielt sie sich am besten, es war nirgends so schön wie bei ihm. Auch diese Begeisterung legte sich, und Tante Maud trat in Gunst, und dann einer ihrer Vettern und dann ihr Pony. Sie trieb stets Götzendienst mit irgendeinem Menschen oder mit irgendeiner Sache, und mir schien die jeweilige Vorliebe immer mehr aus der Phantasie als aus dem Herzen zu kommen. Die Treulosigkeiten Lores beunruhigten mich.

Maud fand das ganz ungerechtfertigt. In ihren Augen war Treue das Höchste, die Blüte und Frucht der edelsten Kräfte im Menschenherzen. Zur Treue wie zur Dankbarkeit müsse man heranreifen; sie von einem Kind verlangen sei töricht.

Wie gern ließ ich mich beschwichtigen! Doch gab es kein Ende für meine Sorgen; es traten immer neue an die Stelle der alten. Ich mußte der Kleinen nach und nach ihren Hund, ihr Lamm, ihre Vögel wegnehmen, denn sie quälte diese Tiere. Nur dem Pony ließ sie Ruhe, weil es sie einmal tüchtig gebissen hatte. Den Armen ging sie aus dem Wege, nicht nur den greisen, auch den jungen, denn wenn sie selbst nicht alt waren, so trugen sie doch alte Kleider.

Und so schrecklich dies alles mir war, trostlos machte es mich nicht. Unter den vielen Fehlern Lores entdeckte ich nicht einen von ihrer Mutter ererbten. Angeboren war das Schlechte ihr nicht, es konnte ausgerottet werden. Der Körper des Kindes entwickelt sich nicht gleichmäßig, warum sollten seine Seelenkräfte sich gleichmäßig entwickeln? Lore war gescheit weit über ihre Jahre, gut hatte sie noch zu werden, und gut sollte sie werden. An dieser Hoffnung hielt ich fest.

 

Eines Tages, eines schönen Sommertags, kehrte ich vom Feld zurück. Ich war nur vergnügten Gesichtern begegnet, die Ernte versprach vortrefflich zu werden. Freudige Erwartung lag gleichsam in der Luft und warf sogar in meine Seele einen Widerschein. Brot für alle. Brot, der Leckerbissen der Armen, Brot, das der Volksmund bei uns mit verkleinerndem Kosenamen nennt. Wahrlich ein trostvoller Gedanke.

Das letzte Stück Weges führte durch einen ziemlich entlegenen Teil des Gartens, zu dessen Pförtchen ich den Schlüssel bei mir hatte. Beim Einbiegen in einen breiten, dichten Laubgang, wen erblickte ich vor mir? Lore. Sie war allein; ich ging hinter ihr her, ohne daß sie es wußte. Da sah ich, daß sie Studien machte und sehr ernsthaft und unverdrossen wiederholte, was ihr nicht gleich gelang. Sie streckte sich, nahm eine steife Kopfhaltung an, änderte ihren leichten Kindergang. Die Ellbogen an den Leib gepreßt und ein bißchen zurückgeschoben, schritt sie kerzengerade einher, grüßte nach rechts und nach links mit freundlichem und doch würdevollem Neigen des Hauptes. Sie riß ein Blatt vom Strauch und brachte es dicht vor die Augen und betrachtete es, genau wie die kurzsichtige Tante Maud oft tat, Tante Maud, die sie nachzuahmen suchte – mit dem größten Glück.

Diese kleine Verruchtheit führte sie aus mit einer Anmut, einem Humor, die meine ungelenke Hand nicht schildern kann. Es hätte mich ergötzen müssen, wenn die Komödie nur nicht von der Tochter Ediths aufgeführt worden wäre, wenn sie mir nur nicht die Erinnerung an jene ebenfalls sehr gelungene Nachahmung …

Kein Vergleich! Ich wollte ihn nicht machen, ich wollte auch Herr der Erregung werden, die mich ergriffen hatte, und dann erst dem Kind die verdiente Strafpredigt halten. Ich blieb stehen, wartete, hörte Johanna rufen und ihren Zögling schelten, weil er ihr davongelaufen war.

Am Abend, als Lore schlief, ging ich, wie so oft, zu ihr hinüber, setzte mich an ihr Bett und versenkte mich in ihren Anblick. Auch im Schlafe wechselte ihr Gesichtchen fortwährend seinen Ausdruck. Es begab sich immer etwas in ihrer Gedankenwelt, ihre junge Phantasie ruhte nicht, und die Bilder, die sie dem schlafenden Kinde vorgaukelte, spiegelten sich in seinen lieblichen Zügen. Es lächelte, es zürnte, die feinen Brauen zogen sich zusammen.

»Wen ahmt sie jetzt nach?« fragte ich die Wärterin und sah sie dabei scharf an.

Sie geriet in Verlegenheit, sie war dem Weinen nahe. Du lieber Gott. Sie hatte sich schon alle Mühe gegeben, es dem Kinde abzugewöhnen, aber umsonst. Lorchen entwischte, lief ins Frauenzimmer, in die Küche und führte dort ihre Komödien auf. Niemand war ihr heilig – die Worte trafen mich ins Herz –, nicht die Großeltern, nicht der … Johanna stockte. Und die dummen, abscheulichen Dienstleute lachten über sie, munterten sie noch auf.

Auch Maud erschrak, als ich ihr meine Entdeckung und Johannas Geständnis mitteilte. Aber sie riet: »Keine Ermahnung, keine Strafe; Lore soll nicht wissen, wie schlecht das ist, was sie tut. Wir dürfen den bei ihr so mächtigen Widerspruchsgeist nicht wecken.«

Von nun an ließ Maud das Kind nicht mehr von ihrer Seite. Die Stunden ausgenommen, die ihren Andachtsübungen und ihren Armen gehörten, widmete sie Lore ihre ganze Zeit. Sie gab ihr den ersten Unterricht, und bei diesen Lektionen mußte man Lehrerin und Schülerin sehen! Die eine voll Hingebung an die Sache, von der Wichtigkeit ihres Amtes durchdrungen, die andere mit halbem Ohr hinhörend, immer zerstreut, den Kopf immer von der Tante abgewendet. Sagte die: »Ich bitte dich, Lore, gib acht!« bekam sie zur Antwort: »Sekkier mich nicht, ich geb genug acht!« und wie’s zuging, wer könnte das sagen? Das scheinbar so lässige Persönchen hatte alles gehört, alles verstanden, sich alles gemerkt. Sie hatte auch Freude an den Unterrichtsstunden, aber wie hütete sie sich, das zu zeigen! Es hätte Maud Freude gemacht, und die sollte keine haben. Sie war ja selbst eine Freudeverderberin mit ihrer fortwährenden Überwachung der Nichte, mit ihrem langweiligen: »Tu das, es ist schön, tu das nicht, es ist nicht schön.«

In Ungnade gefallen bei dem Kind, die Tante Maud! Sie teilte das Schicksal aller, für die sich das wandelbare kleine Ding eine Zeitlang fanatisch begeistert hatte – auch mein Schicksal.

Meine Tochter liebte mich nicht. Ich wußte es längst. Indessen – lächerlich, so etwas zu sagen! –, ich wußte es und – glaubte es nicht.

Als ich’s endlich doch glauben mußte, warb ich um die Liebe meines Kindes, wie man um Liebe nur werben kann. Von Pflicht, von Dankbarkeit nie ein Wort. Sie sollte sich selbst überzeugen, mit ihren eigenen klugen Augen sehen lernen, daß es einen Menschen gab, dem sie und ihr Wohl in Gegenwart und Zukunft alles war. Nichts konnte meine Liebe zu meinem Kind erschüttern. Sie hatte ihre Wurzeln im tiefsten Grund meiner Seele. Väterliche Liebe ist doch noch mächtiger als die Liebe zu einem Weibe.

 

Lore war sieben Jahre alt geworden, als sie mir zum erstenmal bewies, daß sie des Mitleids fähig sei. Ein Marder, den ich erschossen hatte, flößte es ihr ein. Sie warf sich neben ihn auf die Erde, streichelte, küßte ihn und brach in Anschuldigungen aus gegen mich. »Wie bös bist du, o wie bös! Du hast ihn erschossen, und er war so schön und so jung. Armes Marderl, armes, armes!« klagte sie. »Es ist tot, seine schönen Augen sind tot, es kann nicht mehr herumlaufen, es kann sich sein Fell nicht mehr putzen, sein weiches, feines Fell. Wer hat dir das erlaubt?« schrie sie auf, schlug mit ihrer Faust auf den Boden und funkelte mich mit ihren zornsprühenden Augen an.

Ich zwang sie aufzustehen, nahm sie bei der Hand, führte sie in den Hühnerhof und zeigte ihr die Verwüstungen, die der Marder dort angerichtet hatte. »Siehst du«, sagte ich, »nicht nur erlaubt ist’s mir, ein so gefährliches Tier zu töten, ich muß das tun, um unser und der andern willen. Heute hat es unsre Hennen erwürgt, ihr Blut ausgetrunken und ihre Eier, morgen würde es beim Nachbarn einbrechen. Es ist gut und recht, das Schädliche wegzuschaffen aus der Welt.«

»Das Schädliche?« wiederholte sie. »Nennt man einen Marder das Schädliche?«

»Man nennt in der Jägersprache alle Tiere so, die sich vom Fraße nützlicher Tiere nähren, des guten, armen Federviehs im Haus, im Wald und auf dem Feld, des kleinen Hasen, der jungen Rehe.«

Sie besann sich. Über ihre Stirn flog ein Schatten. Die Augen langsam erhebend, richtete sie ihren erschreckend klugen und durchdringenden Blick zu mir hinauf, und spöttische Schadenfreude lachte aus dem Ton, in dem sie sprach: »Du bist also das Schädliche, und ich bin das Schädliche. Wir essen ja Hühner, Eier, Fasanen, Hasen und Rehe.«

Ich hab ihr nicht geantwortet. Was hätte ich ihr antworten können?

In der Nacht hatte ich einen furchtbaren Traum. Ich lag da, wehrlos und gelähmt an allen Gliedern, und sah einen Marder an mich heranschleichen, mit leisen, leichten Schritten. Es war ein unvergleichlich schönes Raubtier, ich konnt’s nicht hassen, ich mußte es bewundern, während es mein Herzblut trank, denn es hatte Lores Augen.

In Angstschweiß gebadet wacht ich auf …

 

Maud war, obwohl sie fortfuhr, regelmäßig zu schreiben, lange Zeit ohne Nachricht von ihrer Schwester geblieben. Fast ein halbes Jahr. Endlich, am 12. Mai 18.., kam ein Brief. Die Adresse war von fremder Hand, der eines berühmten Pariser Arztes, der auch ein Krankheitszeugnis geschrieben und beigelegt hatte.

Der Brief war von Edith. Er liegt vor mir, ich habe mich eben wieder in die schattenhaften, hastend und müd hingeworfenen Züge der einst so festen, künstlerisch ausgearbeiteten Schrift versenkt. Der Inhalt lautet: »Maud, ich richte meinen Brief an Dich, sonst wird er nicht gelesen; ich schicke ein ärztliches Zeugnis, sonst wird mir nicht geglaubt. Du vermagst alles über Franz, bestimme ihn, zu mir zu kommen.

Ich möchte ihn noch einmal sehen vor meinem Tode.

Die Eltern nicht, Dich auch nicht. Lore …« Ein Fragezeichen, eine große leergelassene Stelle, dann: »Ich weiß es nicht. Franz soll kommen; er soll nicht Rache dafür nehmen, daß er durch meine Schuld vom Totenbett seiner Mutter ferngeblieben ist. Er soll kommen, es beschwört ihn Edith.«

Karl und Ethel waren bei uns, als dieses Schreiben eintraf. Sie übernahmen es, die traurige Kunde den Eltern mitzuteilen und sie auf alle Fälle abzuhalten, uns zu folgen. Uns, das heißt Lore, Johanna, mir und Maud, die sofort entschlossen war mitzukommen. Edith konnte vielleicht doch im letzten Augenblick wünschen, Abschied von ihr zu nehmen und ihr eine Botschaft an Vater und Mutter aufzutragen. In zwei Stunden waren wir reisefertig und auf dem Weg zur Eisenbahnstation. Der Kleinen wurde vorläufig das Ziel der Fahrt und auch deren Veranlassung verschwiegen. Sie erriet alles und war während der ganzen Reise von einer ausgelassenen Lustigkeit, die wir an ihr gar nicht kannten. Die sparte sie sonst wohl auf für die Gesindestube.

»Warum bist du so lustig?« fragte ich.

»Nun, weil wir auf der Eisenbahn sind, und ich bin so gern auf der Eisenbahn.«

»Weißt du, wohin wir fahren?«

»Nein«, erwiderte sie mit der größten Unbefangenheit, und Johanna platzte heraus: »Aber Lore, du hast mir doch selbst gesagt: Wir fahren nach Paris.«

Ich wollte wissen, woher sie das hatte, und sie provozierte förmlich ein Frag- und Antwortspiel und war übermütig und schlagfertig und gab die seltsamsten Einfälle und Beobachtungen zum besten. Maud und ich sahen einander oft ganz verwundert an. Unmöglich, den Spuren der Gedanken nachzugehen, die sich in diesem jungen Kopfe jagten. Und dasselbe Kind, das so rasch begriff, für so vieles ein unerhörtes Verständnis hatte, hatte keins für die Gemütsstimmung, in der wir uns befanden, keine Teilnahme, keine Schonung.

»Ich glaube wirklich, du bist lustig, weil du siehst, daß Tante Maud und ich traurig sind«, sagte ich, und sie zuckte die Achseln und tollte herum im Waggon, bis der Abend kam und sie einschlief.

»Du kennst die Kinder nicht«, versicherte mir Maud. »Sie sind am muntersten, wenn ihre Umgebung übler Laune oder betrübt ist. Es liegt darin eine Art Notwehr, ein Bedürfnis, die Last abzuschütteln, die sich auch ihnen aufbürden möchte und die ihrer innersten Natur widerstrebt. Das haben die meisten Kinder, beobachte es nur.«

Getreue Maud! Sie wußte, daß mir nichts auf Erden einen größeren Trost gewährte, als zu hören: Dein Kind ist wie andre Kinder. Sie wollte mich beruhigen und beruhigte mich.

In Paris stiegen wir im Hotel du Louvre, in unmittelbarer Nähe von Ediths Wohnung, ab.

Als ich die Meinen installiert hatte und mich anschickte, meinen schweren Gang anzutreten, kam es zu einer Szene, die peinliches Aufsehen erregte im Hause. Lore lief mir nach bis zur Treppe, klammerte sich an mich und schrie, ich müsse sie mitnehmen zu ihrer Mama. Ihre Mama sei in Paris, der Großvater habe es ihr gesagt und die Großmutter (das log sie), und nicht mich, o nein, nicht den Papa, sie, ihre kleine Lore, wolle Mama sehen.

Unter Mitleidskundgebungen des Auditoriums, das ihr Toben um uns versammelt hatte, wurde sie ins Zimmer zurückgebracht.

 

Als ich vor ein paar Tagen diese Erlebnisse aufzuschreiben begann, war ich ein ruhiger Mensch und mit mir selbst im reinen. Jetzt hat meine Ruhe mich verlassen. Zweifel bedrängen mich. Es taugt doch nichts, in Erinnerungen zu wühlen. Wenn ich nicht so innig und so heiß nach deiner Lossprechung verlangen würde, Freund … aber – mich verlangt nach ihr. Sie ist das letzte, das ich noch ersehne.

Weiter also!

Der Arzt, ein alter, verehrungeinflößender Mann, empfing mich. Unser Gespräch dauerte nicht lang.

»Keine Hoffnung?«

»Keine.«

»Stündliche Gefahr?«

»Nein, es kann noch einige Tage dauern.«

»Wollen Sie ihr sagen, daß ich da bin?«

»Sie erwartet Sie; sie hat den Augenblick Ihres Eintreffens genau ausgerechnet. Ihr Wegbleiben hätte ihr verhängnisvoll werden können, Ihr Kommen wird ihr wohltun.«

Das Krankenzimmer war groß und hell, die Vorhänge waren weit zurückgezogen. Im Sterben noch brauchte Edith das volle Tageslicht nicht zu scheuen. Wir begrüßten einander stumm. Als ich an ihr Bett trat, griff sie nach meiner Hand und wollte sie an ihre Lippen ziehen; die Kraft dazu fehlte ihr. Lang, forschend, mit strengem Ernst sah sie mir in die Augen.

»Ich sterbe«, sprach sie endlich, ganz in ihrer alten Art, das Ärgste zu sagen, ohne bewegt zu scheinen.

Ich behielt ihre Hand in der meinen; ihr Anblick tilgte allen Groll gegen sie aus meiner Seele.

»Ich habe gebeichtet und kommuniziert«, sagte sie; »ich habe auch die Letzte Ölung empfangen. Gott hat mir verziehen, verzeih mir auch. Ich verzeih dir.«

»Du verzeihst mir – und was?«

»Ich verzeih dir, daß du mich nicht geliebt hast …«

»Edith!«

»Nicht genug geliebt, nicht so, wie’s mich gerettet hätte. Deine Liebe hätte nicht sein dürfen wie die eines Mannes zu einem Weibe – sie hätte sein müssen grenzenlos, göttlich, wie die des Heilands für die Sünderin, für den armen Zöllner. – Vorüber … Verzeihen wir einander.«

»Ja! ja!«

»Du liebst mich gar nicht mehr?«

»Du tust mir unsagbar leid.«

»Wirst du bei mir bleiben, bis ich sterbe?«

»Du wirst nicht sterben«, sagte ich, wie jeder Teilnehmende zu jedem Sterbenden sagt, und bemühte mich, ihr Trost zuzusprechen. Ich sagte ihr auch, daß Maud und das Kind mich begleitet hätten.

Sie bäumte sich auf: »Du hast Maud mitgebracht? Das tust du mir an?«

»Edith, wie versündigst du dich an ihr und an mir. Ich schwöre …«

»Laß nur – ich hab ja gar kein Recht.«

»So willst du sie nicht sehen?«

»Nein! nein!«

»Und das Kind? Es sehnt sich so sehr nach dir.«

»Liebt es mich denn?… Es soll kommen.«

Ich schickte hinüber. Maud geleitete die Kleine bis zur Tür des Krankenzimmers, kniete dort nieder und betete.

Lore war in die Wohnung Ediths eingezogen wie im Triumph. Ihr Gesichtchen strahlte vor Glück. Sie sah sich um in den reich geschmückten Räumen, sie schwelgte in Wohlgefallen in dem Luxus, der hier herrschte. Beim Anblick ihrer in Spitzen und Seide gehüllten Mutter stieß sie einen Schrei der Bewunderung aus und eilte auf sie zu.

Edith blieb regungslos und starrte sie an: »Mein Gott … Franz … das arme Kind«, murmelte sie.

»Ich bin nicht arm, ich bin bei dir!« rief Lore, »und bleibe bei dir, immer, immer!«

Es war schrecklich. Das Kind vermochte nicht, ihr eine mütterliche Regung abzugewinnen. Und wie die Kleine sich mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an sie schmiegte und die Sterbende mit geheimem Grauen zu ihr niederblickte, überlief’s auch mich; ich mußte der Worte Ediths gedenken: »Das bin ja ich, das bin noch einmal ich.«

Viel Selbstüberwindung kostete es sie, ihre Tochter zu küssen und zu segnen. »Werde anders«, sprach sie und legte ihr die Hand aufs Haupt, »werde anders als deine Mutter. Leb wohl. Sie soll fort, Franz, und du bleib bei mir.«

Lore bat nicht mehr, sie weinte auch nicht. Sie biß die Zähne zusammen, und ein Ausdruck von unaussprechlicher Bitterkeit verzog ihren Mund. Sie ging, und ich, gefoltert von Mitleid mit ihr, hätte ihr nacheilen mögen …

Aber ich blieb den ganzen Tag, die ganze Nacht und noch einen Tag und noch eine Nacht. Edith ist schwer gestorben. Herr, mein Gott, du hast eine Entschädigung für alle Leiden des Lebens, du hast ein Zeichen der Vergebung für alle Schuld. Herr, mein Gott, gönne jedem einzelnen des gequälten Menschenvolkes diese Entschädigung, gib jedem dieses Zeichen – schenke jedem einen sanften Tod.

Meine Schwiegereltern fanden im ersten Augenblick einen Trost in dem Gedanken, daß Edith losgesprochen von ihren Sünden und versöhnt mit Gott gestorben war. Dann aber kam die Reue. Sie nahmen den größten Teil des Unrechts, das ihre Tochter im Leben begangen hatte, auf sich. Edith wäre anders geworden, wenn sie ihr mehr Liebe gezeigt hätten, meinten sie. Dieser Selbstvorwurf vergällte ihnen ihre letzten Jahre.

Es fiel mir auf, daß Karl und Ethel ihre Kinder nicht mehr nach Niedernbach mitnahmen und mich auch nicht mehr aufforderten, Lore zu ihnen zu bringen. Warum? Ich ließ Ausflüchte nicht gelten, fragte ganz bestimmt: »Meint ihr, daß Lore einen schlechten Einfluß auf eure Kinder nimmt?« – »Sie sind ihr zu klein, zu gering, sie neckt und quält sie, ist auch für sie viel zu gescheit, weiß zuviel«, lautete die so schonend als möglich hervorgebrachte Antwort. »Laß einige Jahre vorübergehen, der Unterschied im Alter wird sich dann weniger geltend machen. Ganz ehrlich« – damit kamen sie zuletzt heraus –, »es würde einem manches an ihr nicht auffallen, oder man würde ihm keine Bedeutung zuschreiben, wenn sie nicht die Tochter Ediths wäre.«

Zu gescheit! Lieber Gott, ihre Gescheitheit wäre mir feil gewesen um ein wenig Unbefangenheit, Gedankenlosigkeit, um einen Hauch Wärme und Liebe … Und: Wenn sie nicht die Tochter Ediths wäre! Sie hatte es also schon angetreten, das mütterliche Erbe – die vorgefaßte Meinung … Wenn ihre Nächsten sich von diesem Vorurteil nicht befreien konnten, was hatte das Kind von Fremden zu erwarten? Ein namenloses Mitleid erfüllte mich …

 

Der Blick getrübt, die Hand unsicher. Ich spähe, ich taste, statt zu schauen, zu greifen. Die Farben des düstern Bildes, das ich zu malen unternommen habe, weil ich mußte, weil ich nach Befreiung lechze, schwimmen ineinander. Hilf nach, wo mein Können versagt. Ordne, stell alles an seinen rechten Platz, wo ich verworren werde.

In dem Jahre, in dem Lore ihren vierzehnten Geburtstag beging, schieden meine guten Schwiegereltern aus dem Leben. Mein Schwiegervater ging zuerst, seine Frau starb ihm nach. Buchstäblich. Man stirbt nicht aus Gram, sagen die Leute. Sie sollten sagen: Es stirbt nicht aus Gram, wer will; der erste beste trifft’s nicht, man muß dazu etwas Rechtes sein. Ich scheine zu jenen ersten besten zu gehören. Beim Tod ihres Großvaters war Lore ganz gleichgültig geblieben. Während ihre Vettern und Basen, die großen und die kleinen, in Tränen schwammen, verbarg sie die Freude nicht, die ihre Trauertoilette ihr machte. Maud sagte nicht mehr: »Das ist Kinderart«, sie sagte: »Lore ist ebenso ergriffen wie die andern, sie will’s nur nicht zeigen.«

Sie hatte den Toten durchaus nicht sehen und ich hatte sie dazu nicht zwingen mögen. An den Sarg ihrer Großmutter führte ich sie trotz ihres Widerstrebens. Die schöne, alte Frau in ihrer tiefen Ruh bot ein edles Bild des Friedens. Der Anblick machte auf Lore keinen andern Eindruck als den einer angenehmen Überraschung. Ich kannte sie nicht ganz, aber doch genug, um ihr den Gedanken vom Gesicht abzulesen: Sieh nur, der Tod ist nicht so häßlich, wie ich geglaubt habe.

»Niederknien!« flüsterte ich ihr zu. Es waren Leute im Sterbezimmer. Sie sah zu mir hinauf mit ihrem ewig verneinenden, ewig rebellischen Blick; er sagte: Ich knie nicht, ich weine auch nicht. Du willst es, ich weiß recht gut, du willst, daß ich weine, aber ich weine nicht. Der Zorn übermannte mich. Ich legte die Hände auf ihre Schultern und zwang sie nieder. Ihre Muskeln waren wie aus Stahl, sie stemmte sich mit ihrer ganzen Kraft … Heute noch fühl ich den zarten, jungen Leib mit Widerstreben und schmerzlichem Zucken nachgeben unter der Wucht meiner Hände.

Lache mich aus. Ich fühle auch noch, wie damals der Haß des Kindes mich anfiel wie etwas Körperliches und mir zuraunte in lautloser Sprache: Mich überwindest du nie.

Am Abend beim Gutenachtwünschen sagte sie: »Du hast mich gezwungen zu knien, du bist der Stärkere; aber nur meine Knie haben sich gebeugt. In Wirklichkeit beuge ich mich vor keinem Menschen mehr, das habe ich meiner toten Mutter auf den Knien versprochen.«

 

Ich ermüdete nicht im Kampf um diese Seele. Die Nachsicht hatte sich ohnmächtig erwiesen, nun wurde ich streng, streng bis zur Härte.

Sie war immer geistig rege gewesen und blieb es auch. Ihre Gedanken arbeiteten rastlos. Wer ihr aber zumutete, diese Gedanken auf ernste Dinge zu richten, erschien ihr als eine komische Person. Darin glich sie ihrer Mutter und den allergewöhnlichsten Weibern. Das Interesse, das Lore als Kind, ohne es zu wissen und zu wollen, an ihren Studien genommen hatte, schwand mit den Jahren immer mehr. Sie lernte unglaublich leicht und unglaublich flüchtig. Wenn ich staunte, wie rasch sie vergaß, was sie eben erst gewußt hatte, lachte sie triumphierend.

»Ich wüßt’s, wenn ich mir’s merken wollte; ich will mir’s aber nicht merken. Wozu?« sagte sie mir einmal in einem Anfall von Aufrichtigkeit. »Atme ich lieber und leichter, wenn ich weiß, woraus die Luft besteht? Gefallen mir die Sterne, die Blumen, die Bäume, die Berge und Flüsse besser, wenn man mich in die Intimitäten ihres Privatlebens einführt? Und die Geschichte, mit der ihr mich plagt! Die alte ist gewiß nicht wahr, und die neue erlebe ich. Ich lebe, lebe, will leben, nur leben, mich freuen, mich unterhalten, glücklich sein!«

Als sie so sprach, hatte sie kürzlich ihr sechzehntes Jahr erreicht. Wir standen auf einer Wiese im Garten. Es war ein sonniger Frühlingsmorgen. Die Erde, das feine, üppige Gras, das junge Laub, die jungen Blüten dufteten, der Wasserfall rauschte, die Vögel sangen ihre verbuhlten Lieder. Und mein Kind, in seinem Trotz und Liebreiz, erschien mir wie eine Verkörperung der blinden, brutalen Lebens- und Triebkraft, die nichts will, das heißt nichts muß als sich durchsetzen und dabei nebenher alle die Licht-, Duft-, Klangerscheinungen hervorruft, die uns entzücken.

Eine Libelle kam vom Teiche hergeschwirrt und rastete auf einem Grashalm. Vorsichtig hob Lore den Fuß und zertrat sie. »Warum tust du das?« fragte ich. »Weil sie mich ärgert; sie darf tun, was sie will – ich werde wie eine Sklavin gehalten.«

Aber wartet nur, meine Zeit kommt, hatte sie offenbar hinzusetzen wollen. Es schwebte ihr auf den Lippen. Ich sah’s, ich kannte sie so gut. Doch besann sie sich und schwieg und lächelte mich mit spöttischer Drohung an.

Damals hatte sie angefangen, ihr großes musikalisches Talent mit leidenschaftlichem Eifer auszubilden. Ihre Lehrerin war einst eine sehr gefeierte Künstlerin gewesen. Durch eine unglückliche Heirat ins tiefste Elend gebracht, fand sie in meinem Hause eine Zufluchtsstätte und an Maud eine Freundin. Unsere Absicht war, sie bei uns absterben zu lassen, geschützt vor Armut und Not und vor den Erpressungen ihres nichtsnutzigen Mannes.

Lore hatte anfangs Abgötterei mit ihr getrieben und in hellem Entzücken über ihr geniales Klavierspiel mehr als einmal ausgerufen: »So spielen wie Frau Mitter und dann sterben!« Aber sie spielte nicht wie Frau Mitter. Sie spielte wie das frühreife, leidenschaftlich veranlagte Kind, das sie war. Ihr ganzes zugleich kaltes und unbändiges Naturell kam zutage in ihrem Spiele, damals schon – und später erst … Am Klavier ließ ihr scharfer Verstand sie im Stiche, und sie verriet von ihrem eigensten Wesen mehr, als sie wollte. Große Kälte bei großer Sinnlichkeit. Eine unvergleichliche Kunst, Feuer anzulegen, ohne selbst Feuer zu fangen. Moralische Mordbrennerei.

Um wie vieles schlechter war sie doch als ihre Mutter, die nicht nur hinriß, die sich hinreißen ließ, hingerissen werden konnte.

Ich setzte die Zahl der Stunden fest, die sie der Musik widmen durfte, und wies Frau Mitter an, den Unterricht auf das Studium der Klassiker zu beschränken. Sie tat es, und ihre Schülerin rächte sich dafür. Sie setzte ein System von kleinen raffinierten Quälereien ins Werk, die sich nicht bezeichnen, also nicht rügen ließen. Scheinbar harmlose, in Wirklichkeit aufs Blut verletzende Anspielungen, fortwährende Mißverständnisse. Sie brachte die Unglückliche dahin, das Haus zu verlassen und in ihre jammervolle, immer bedrohte Existenz zurückzukehren. Natürlich brachten Maud und ich die alte Dame in Sicherheit; davon aber erfuhr Lore nichts. Maud versuchte eine Regung der Reue in ihr zu wecken und sagte ihr eines Tages plötzlich: »Du hast sie vertrieben; sie wird im Elend untergehen durch deine Schuld.« Aber das Kind ließ sich nicht verblüffen, war gleich bei der Hand mit seiner rohen und altklugen Weisheit: »Warum soll sie nicht einen andern Platz finden? Es gibt noch mehr Leute, die Klavierlehrerinnen brauchen.«

Bald darauf kam eine Zeit, in der sie Fügsamkeit heuchelte. Sie wurde freundlich gegen mich, aufmerksam gegen Maud. Sie protestierte nicht mehr gegen die »eiserne Fuchtel«, wie sie sich ausdrückte, unter der ich sie hielt. Sie ließ sich meine Wachsamkeit gefallen und spottete ihrer und durfte ihrer spotten, denn trotz all und allem wußte sie sich ihr zu entziehen. Das einzige, was sie wohl je wirklich geliebt hat, war das Böse. Weil sie aber nicht treu sein konnte, war sie auch dem Bösen manchmal untreu.

Sie hatte Anwandlungen von Frömmigkeit, sie, die Skeptikerin, die an nichts glaubte als an sich, an die Macht ihrer Schönheit und ihres Liebreizes. Manche Menschen hielten sie für gut. Sie hatte eine kühle, überzeugte Art zu schmeicheln, die dem Geschmeichelten wunderbar einleuchtete. Den Spott, der ihr dabei tief innerlich falsch aus den Augen blitzte, auf den Lippen tanzte, sah nur ich.

 

Ich habe noch nicht gesagt, daß Lore einen Spielgefährten gehabt hat, den Sohn unsrer Johanna. Er wuchs in meinem Hause auf; sein Vater, einer meiner Beamten, war früh gestorben. Er hieß, oder vielmehr heißt, er lebt ja noch – im Irrenhause –, Rupert. Ein stämmiger, wilder Junge, die verkörperte Unbotmäßigkeit gegen seine Umgebung; aber vor Lore mußte ich ihn schließlich retten, wie ich ihre Hunde und Vögel vor ihr hatte retten müssen. Es gab immer Streitigkeiten zwischen den beiden Kindern, und immer endigten sie mit der Unterwerfung des älteren, starken Buben unter die Tyrannei des kleinen Mädchens. Ein gutes Wort, eine Liebkosung, und er lag auf dem Boden und setzte ihr Füßchen auf seinen Nacken; faktisch.

Sein höchster Wunsch wurde erfüllt, als Johanna ihm erlaubte, Soldat zu werden. Er hat sich brav gehalten und in den Militärschulen immer zu den Vorzugsschülern gehört. Wir ließen ihn während der Erziehungszeit selten nach Niedernbach kommen, seine Mutter brachte die Ferien meistens auf kleinen Reisen mit ihm zu. Als er aber Leutnant geworden war und sich als solcher bei uns präsentierten wollte, mochte ich ihm nicht die Tür weisen.

Er war ein hübscher Bursch geworden, etwas klein zwar und untersetzt, sah aber vortrefflich aus in seiner neuen Jägeruniform. Sein etwas zigeunerhaftes Gesicht, seine braunen Augen hatten einen Ausdruck von männlicher Willenskraft und Energie, der mir gefiel. Die Gunst Mauds errang er nicht. Sie sagte: »Der ist vierhundert Jahre alt, der kommt aus der Holkischen Bande und nicht aus der Militärakademie.«

Anfangs benahm er sich Lore gegenüber sehr gemessen im Gefühl seiner jungen Würde. Allmählich stellte das alte Verhältnis zwischen ihnen sich wieder her. Einmal luden wir ihn zu Tische, Maud und ich, und wollten, daß auch seine Mutter mit uns speise. Sie war nicht dazu zu bewegen. »Was mein Sohn, der Leutnant, an Ehren erfährt, ist für mich Ehre genug«, erwiderte sie. Und wir konnten froh sein, daß sie unsere Einladung nicht angenommen hatte und nicht Zeuge der Grausamkeit sein mußte, mit der ihr Rupert von Lore behandelt wurde.

Er aß, wie die Zöglinge unsrer Militärschulen zu essen pflegen, schnitt sein Brot, führte sein Messer zum Munde, fiel über sein Roastbeef her und legte es in Stücke. Lore verfolgte jede seiner Bewegungen mit gespannter Aufmerksamkeit und fing an ihm alles nachzumachen. Höchst diskret, ohne Übertreibung. Plötzlich legte sie Messer und Gabel hin und sprach laut und langsam: »Sie, meine Hund’ haben schon gegessen. Wissen Sie, Rupert, wer das gesagt hat?« – »Nein«, erwiderte er betroffen. – »Ein Feldmarschalleutnant zu einem Leutnant, der das Fleisch just so geschnitten hat wie – ich.«

Er wußte nicht, was antworten, er wußte auch nicht, was tun. Auf einen Wink Lores redete ihn die französische Lehrerin – auch eine der weißen Sklavinnen meiner Tochter – in ihrer Sprache an. Und er ging ganz naiv in die Falle und gab ein Französisch zum besten, das entsetzlich war. Selbst Maud hatte Mühe, ihren Ernst zu bewahren. Und Lore traf sogleich Ruperts Ton und wiederholte die Ungeheuerlichkeiten, die er sagte, und hob jeden unliebsamen Doppelsinn hervor, ohne eine Miene zu verziehen, indes die Französin sich vor unterdrücktem Lachen wand.

Er begriff endlich, daß man ihn zum besten hatte, und in ihm kochte der Zorn. Zehn Jahre lang heiß nach einem ehrenvollen Ziel gestrebt, es erreicht haben und dort ein junges Ding finden, das einen auslacht, weil man nicht so ißt und nicht so spricht, wie es in dem Kreise des jungen Dings üblich ist, das brächte wohl den Ruhigsten aus dem Geleise. Wie denn nicht diesen nur halb geleckten Bären? Ich konnte kaum den Augenblick erwarten, in dem Maud die Tafel aufhob, winkte Lore heran und befahl ihr leise, auf ihr Zimmer zu gehen und dort den Rest des Tages zu bleiben. Sie wandte sich an Rupert und erwiderte laut: »Sehen Sie, Herr Leutnant, ich bekomme Zimmerarrest, weil ich Sie geneckt habe bei Tische. Mein Vater diktiert mir noch Strafen wie einem kleinen Mädchen.«

Mit unbefangener, höchst drolliger Überlegenheit ging sie auf ihn zu, reichte ihm beide Hände und sprach: »Bitten Sie mich wenigstens für morgen los, und nichts für ungut, Spielkamerad.«

Er faßte ihre Hände und drückte sie, daß sie sich auf die Lippen biß vor Schmerz. Als er das sah, stieg ihm die heiße Röte der Bestürzung ins Gesicht. Er zitterte; er hätte sich vor ihr auf den Boden niederwerfen mögen wie ehemals. Er war noch derselbe, leidenschaftlich und unfähig der Selbstbeherrschung und der Verstellung.

Erbliche Belastung? – Possen! Seine Mutter die langmütige Unterwürfigkeit selbst. Wenn es keine »Herrschaften« mehr geben wird, solche Leute werden sich welche aus einem Bund Stroh zusammenflechten. Sein Vater ein tabakschnupfender, fischblütiger Pedant, den nichts aus seinem Gleichmut brachte, der sich weder freuen noch ärgern konnte.

Und dann wieder: Es gibt keine erbliche Belastung? – Possen! Edith wiederholte sich in jedem Blutstropfen ihres Kindes. Lores Fehler waren die Fehler ihrer Mutter, nur zur Potenz erhoben … Die Falschheit zum Beispiel. Das wenige Gute freilich fehlte. Lore war einer großen Liebe unfähig. Bei ihr schlich sich überall Berechnung ein. Wie sie so geworden? Nein, nicht geworden, sie war so geboren, hat sich ihren innersten Gesetzen gemäß entfaltet, wie es in ihrer urkräftigen Natur lag, allen äußeren Einwirkungen zum Trotze. –

Rupert war nicht geheilt von seiner Anbetung für sie, und sie sorgte dafür, daß er’s auch nicht wurde. An diesem Menschen hat sie ihre ersten Studien gemacht in der Kunst, sich andere zu unterwerfen. Es war ein erster Waffengang mit einem schwachen Gegner.

Nach acht Tagen blieb mir nichts übrig, als der armen Johanna zu sagen: »Ihr Sohn muß fort.« Sie weinte bitterlich, aber sie gab es zu, tadelte nur ihn. »Warum ist er auch so ein Narr! Was bildet er sich ein, der Narr!«

Der Unglückliche schrieb an Lore, und sie brachte mir den Brief … lachend, wie nur sie lachen konnte. Du warst entsetzt, daß sie lachte, und ihr Lachen gefiel dir doch.

»Eine Erklärung in Militärgeschäftsstil«, sagte sie, und wirklich war’s ein wunderliches Schriftstück. So blutjunge, heiße, ehrliche, geschmacklos ausgedrückte Leidenschaft, sie brannte manchmal lichterloh durch das Phrasengedrechsel hindurch.

Sie hatten Abschied genommen, und er hatte sie geküßt. Sie gab das zu mit der größten Unbefangenheit. »Er ist ja der Sohn meiner Johanna, und ich bin noch ein kleines Mädchen; als ein solches wenigstens werd ich behandelt.« Der Kuß des »kleinen Mädchens« hatte ihn toll gemacht. Er fühlte sich gefeit, geweiht, es gab nichts Unerreichbares für ihn. Ein Eroberer, ein zweiter Napoleon wollte er werden und Lore dann zu sich erheben.

Und sie lachte und sagte verächtlich: »Der dumme, dumme Rupert, und wie frech er ist.« Sie begriff völlig, daß er um seiner Dummheit und Frechheit willen noch werde viel leiden müssen, und fand, es geschehe ihm recht.

Die Menschen hinter sich herschleifen, am Leitseil eines Verlangens und einer Sehnsucht, die man nie zu stillen gedenkt, mißhandeln, quälen und dafür vergöttert werden und unumschränkt herrschen über alle – so dachte sie sich ihre Zukunft. Und so schien sie sich auch gestalten zu wollen. Um diese Zeit war’s, wenn ich nicht irre, daß Mauds verändertes Benehmen gegen mich mir zuerst auffiel. Sie vermied, mit mir allein zu sein, sie wurde noch zurückhaltender und kühler, als es ohnehin in ihrer Art lag. In ihrer Art, nicht in ihrem Wesen. Sie fühlte tief und warm und treu. Sie sprach wenig, aber sie tat viel, sie bedauerte nicht, aber sie half. Daß sie frömmer wurde von Jahr zu Jahr, das ist die einzige Veränderung, die ich an ihr wahrgenommen habe im Laufe der Zeit. Auch ihr Äußeres veränderte sich wenig. Sie alterte, aber sie gehörte zu den seltenen Ausnahmen unter den Frauen, die auch im Alter schön bleiben.

Es war schon öfters vorgekommen, daß Lore, wenn sie mich im Salon Mauds wußte, eintrat, irgendeine Frage stellte und regelmäßig hinzufügte: »Ich gehe gleich wieder, ich will nicht stören.«

Dabei richtete sie einen Blick auf Maud, unter dem diese regelmäßig errötete.

Einmal rief ich Lore auf mein Zimmer und stellte sie zur Rede. Sie hatte ihre Antwort so bereit, daß mir schien, sie habe nur gewartet auf die Gelegenheit, sie anzubringen.

»Die Tante«, sagte sie, »hat mir Vorwürfe gemacht wegen meiner Gefallsucht. Das hätte sie sich schenken können. Ich will der Welt, die mir gefällt, gefallen. Ich bin ihr Kind, ein Weltkind, keine Fromme. Ich bin auch keine Heuchlerin wie die fromme Tante Maud.« »Wie Tante Maud?«

»Die Eifersucht auf sie hat meine Mutter aus dem Hause getrieben. Meine Mutter hat ihr nicht einmal auf dem Sterbebett verziehen …«

»Lore!« schrie ich sie an.

Mit Entsetzen, mit Verzweiflung blickte ich in den Abgrund von Schlechtigkeit in dieser jungen Seele. Worte fand ich nicht. Sie feierte einen abscheulichen Triumph.

»Tante Maud ist von jeher in dich verliebt gewesen!« fuhr sie fort, nachlässig, als ob sie von den gleichgültigsten Dingen spräche. »Alle Leute wissen es.«

Ich hatte schon die Hand gegen sie erhoben; ich hätte sie zerschmettern können, ja – mögen … Ich nahm mich zusammen, wie so oft! wie immer! und wies ihr stumm die Tür.

Vieles wurde mir jetzt erklärt, das mir früher flüchtig aufgefallen war, ohne mich weiter zu beschäftigen. Allerlei Fragen, Anspielungen. Und wer hatte die Gerüchte, die Mauds Frauenehre befleckten, in Umlauf gesetzt? Das Kind – ich zweifelte keinen Augenblick daran – das Kind, das ihr soviel verdankte.

Damals hat Maud unter einem schlecht gewählten Vorwand – sie verstand sich nicht aufs Lügen – mich verlassen wollen. Ich sprach offenherzig mit ihr und bestimmte sie, auf dem Posten zu bleiben, den sie selbst erwählt hatte. »Man muß die Verleumdung niederleben«, sagt ein englisches Sprichwort.

Sie hat treu bei mir ausgeharrt, meine edle Schwester Maud.

Mein Schwager und Ethel wohnten auf dem Gute meiner verstorbenen Schwiegereltern, und nach wie vor wurde dort Gastfreundschaft im großen Stile geübt. An Umgang das Beste zu haben, was es gibt, war das Ehepaar immer bestrebt und verstand es vortrefflich, Angehörige der verschiedensten Stände, Berühmtheiten und Kapazitäten aller Art um sich zu versammeln und jeden auf den Platz zu stellen, auf dem er sich am behaglichsten fühlte, sich am besten ausnahm und von dem aus er die anderen im besten Lichte sah.

Sie scherzten selbst über ihre »Löwenjägerei«. Ich sehe noch, wie fröhlich und stolz uns Ethel eines Nachmittags entgegenkam und uns mit den Worten begrüßte: »Ein großer Fang ist uns gelungen. Werner Klar ist da und bleibt einige Wochen bei uns.«

Du kennst den Mann, dessen wahren Namen zu nennen mir widerstrebt. Er hat einen Weltruhm errungen. Damals begannen die Sehenden unter seinen Freunden und Feinden schon zu ahnen, daß er ihn erringen werde. In jeder Hinsicht ein Auserwählter und Begnadeter, hat er die Not des Lebens nie gekannt. Er ist auf Händen getragen worden von seiner hochgebildeten und wohlhabenden Familie. Er ist nicht durch die Schulen gegangen, er ist im Triumph durch die Schulen gezogen und hat nebenbei immer etwas »ernstlich« getrieben. Musik zum Beispiel oder Malerei oder alle Arten von Sport. Daß auch in dieses glanzvolle Leben ein schwerer Schatten von Schmerz und Schuld fiel, dafür hat Lore gesorgt, und er hat ihr ein Denkmal gesetzt, das sie und – freilich auch ihn verherrlicht. Der große Philologe hat ein kleines Epos geschrieben, in dem die Tote im verklärten Bilde weiterlebt.

Heute noch wird jede Frau, wenn sie nicht ganz schwachen Geistes ist, stolzer darauf sein, seine Aufmerksamkeit zu wecken als die eines ganzen Zimmers voll Modeherren. Er ist heute noch ein Urbild männlicher Schönheit, und noch machen Maler und Bildhauer Jagd auf ihn. Zu jener Zeit lag auf seinen feinen, von Geist durchleuchteten Zügen der ganze Schmelz der Jugend …

Er war keine sinnliche Natur; die Frauen hatten bisher in seinem Leben nur Nebenrollen gespielt. Er liebte den Umgang mit ihnen, ließ sich ihre Schmeicheleien und Huldigungen gern gefallen. Einfluß nahmen sie auf ihn nicht.

Er war ein entzückender, selbst die Stumpfsinnigen hinreißender Gesellschafter. Es verstand sich von selbst, daß er nur in einen Kreis zu treten brauchte, um sogleich sein Mittelpunkt zu werden. Dabei war er durchaus nicht liebenswürdig. Liebenswürdigkeit bedingt eine gewisse Unterordnung dem Wert, der Stellung, der Ansicht anderer gegenüber. Unterordnung jedoch kannte er nicht. Er fühlte sich hoch erhaben über alle Anwesenden und dachte nicht daran, es zu verbergen, und weder Männer noch Frauen fühlten sich dadurch gedemütigt, alle bewunderten und liebten ihn.

Als Lore und er einander zum erstenmal entgegentraten und mit befremdeten Blicken maßen, das war merkwürdig.

»Also diesen langen Gelehrten dazuhaben soll Ehre sein und Glück?«

»Also diesem kleinen Mädchen soll man nicht ungestraft in die Augen sehen können?«

Lore ist aus dem Leben gegangen, ohne eine noch so flüchtige Regung des Gefühls gekannt zu haben, das den Menschen am höchsten adelt – der Verehrung.

Das Genie Werner Klars, die großen Gedanken, die er aussprach, imponierten ihr nicht; was sie bezwang, das war seine Schönheit, sein Witz, seine Geschicklichkeit. Beim Fechten, beim Pistolen- und Bogenschießen, beim Wettrudern auf dem Teiche war er der Sieger, immer er. Und daran hatte er eine kindische Freude, erwartete Komplimente und forderte sie heraus. Er hielt sich für einen guten Reiter – aber mit Unrecht, in dieser Kunst hatte er’s nicht weit gebracht. Lore machte ihm eine spöttische Bemerkung darüber, und nun mußte mein Schwager ihn täglich auf der Reitschule vornehmen und abrichten wie einen Rekruten. Diesen Menschen!

Ethel ärgerte sich darüber: »Er ist nur unter der Bedingung gekommen, daß ihm nicht der geringste Zwang auferlegt werde in der Verwendung seiner Zeit, und jetzt verliert er alle Vormittage ein paar Stunden, um es im Reiten doch nicht weiterzubringen als das gewöhnlichste Offizierlein.«

Was mir an Werner Klar immer gefallen hat, war, daß sein eigenes Interesse geweckt wurde, sobald er bei jemand anderem ein Interesse für etwas Ernstes fand, mochte es sich nun um das Abc einer Wissenschaft oder um ihre schwierigsten Probleme handeln. Er war schon sehr verliebt in Lore, und sie war’s noch mehr in ihn, als er einmal während eines ganzen Abends mit einer alten Doktorin der Philosophie von der Weltentstehungslehre, ich weiß nicht mehr welches griechischen Denkers, gesprochen hat.

Er schien sich der Anwesenheit Lores erst zu erinnern, als wir uns verabschiedeten.

Im Wagen sagte sie dann: »Dieser Werner Klar ist der größte Geck. Ich hasse ihn.« Du liebst ihn, dachte ich und segnete diese Liebe und hoffte, hoffte auf sie.

Standesvorurteil? Plunder für einen in meiner Lage. Nur keine Verantwortung mehr haben, nur erlöst sein. Ich erwartete jeden Tag, daß er kommen und sich erklären würde, aber er kam nicht und liebte sie doch und wurde wiedergeliebt. Er verriet sich manchmal durch ein rasches, unwillkürliches Aufglühen in seinen Augen, durch die selig triumphierende Art, in der er sie ansah. Sie verriet sich nie; sie war auch nie schöner, nie umworbener als in dieser Zeit. Über ihr Wesen waren alle Zauber der Anmut und Holdheit ergossen, sie schwelgte in Freude an sich selbst … Wer hat damals nicht gerungen um ihre Gunst? Wer von allen, die Aufnahme fanden im gastfreien Hause meines Schwagers? Sie entmutigte keinen, sie ließ jedem einen Schimmer von Hoffnung, bis er sie aussprach. Dann war er gerichtet und konnte seiner Wege gehen, leichter oder schwerer verwundet. Nicht alle sind genesen. Da war einer, der einzige Sohn armer Eltern, ihr ganzes Glück, ihre ganze Hoffnung – – – genug! Unheil und Schuld bezeichnen den Weg, den Lore gegangen ist in ihrem kurzen Leben.

Auf einmal hieß es: Werner Klar unternimmt eine wissenschaftliche Reise nach Indien, und es ist so gut, als wäre er schon fort, man sieht ihn nicht mehr. Seine Wirte haben ihm einen Pavillon am Ende des Parks eingeräumt, und er kommt nicht einmal zu den Mahlzeiten ins Schloß, treibt vorbereitende Studien zu seiner Gelehrtenfahrt.

Eines Tages kommt Fürst Emil Nordhausen, ganz bewegt, ganz ergriffen, der ruhige Mensch, und wirbt um die Hand Lores und hat ihr Jawort.

Du kennst auch den, du weißt von dem jahrelangen Verhältnis, in dem er zu einer liebenswürdigen Frau gestanden hat. Wenn der Ehebruch sich entschuldigen läßt, in dem Falle war er entschuldigt. Sie schmählich verlassen, er frei. Ihren, nach menschlichen Gesetzen unrechtmäßigen, Bund hat die Treue geheiligt. Nach dem Tode noch hat er sie der Vielgeliebten bewahrt – bis sein Unstern ihn Lore begegnen ließ.

Eines Tages kommt der ruhige, stille Mensch ganz bewegt, ganz ergriffen und sagt: »Ich bitte um die Hand deiner Tochter, ich hab ihr Jawort.« Das war kurz, nachdem Werner Klar sein Einsiedlerleben angetreten hatte.

»Ich hab ihr Jawort«, sagte er, und wie er mein Staunen und Zögern sah, wurde sein ehrliches Gesicht rot bis an die Haarwurzeln. »Was hast du gegen mich? Du findest mich zu alt für sie? Ich bin jünger als mancher Junge«, und er richtete seine Hünengestalt stolz auf. »Es fällt mir nicht ein zu glauben, daß sie verliebt in mich ist. Liebe fordere ich nicht. Ihre Sympathie und ihr Vertrauen schenkt sie mir.«

So dumm sind wir. Liebe nicht fordern. Damit glauben wir etwas Großmütiges und Uneigennütziges zu tun. Was du nicht »forderst«, fordert des Weibes innerste Natur.

Ich ärgerte mich und war doch gerührt – von dem Ausdruck seiner Augen. Große Hunde von edler Rasse sehen einen manchmal an, unaussprechlich traurig, ergreifend vorwurfsvoll. Jeder Hundefreund kennt den Blick. Schau nur recht, du findest ihn manchmal bei ganz guten, ehrlichen Menschen.

»Nein, lieber Freund, du bist nicht zu alt, und sie ist noch sehr jung«, gab ich ihm zur Antwort, »und deshalb habt ihr Zeit, zu warten. Man heiratet nicht über Hals und Kopf, man lernt einander kennen. Du kennst Lore nicht.«

Er sie nicht kennen! Da kam ich ihm recht! Er wollte Lore besser kennen als irgend jemand, besser jedenfalls als alle, die ihr zu Füßen lagen. Von denen ließ sie sich huldigen, ja, das tat sie. Ihr Vertrauen besaß er allein. Er wußte alles von ihr, auch von ihrer Schwärmerei für Werner Klar. Von dem war sie geblendet gewesen beim ersten Anblick. Er wäre ihr auch gefährlich geworden, wenn er’s dabei gelassen hätte, bei dem einmaligen Blenden. Das aber genügte seiner Eitelkeit nicht, und in einem Zustande immerwährenden Geblendetseins leben, hielt Lore für ein zweifelhaftes Glück.

»Ich bin ihrer sicher!« rief er aus. »Eine erste Schwärmerei hat nichts zu bedeuten. Welcher noch so heiß geliebte Mann darf sich rühmen, der erste zu sein, für den seine Frau geschwärmt hat? Und wenn er sie aus der Kinderstube wegheiratet, mit irgendeinem prince charmant ist ihre Phantasie schon beschäftigt gewesen, mag er ihr nun in Gestalt eines Unerreichbaren erschienen sein, der sein Viergespann an ihrem Fenster vorbeikutschiert, oder in der ihres Klavierlehrers.«

Er geriet immer mehr in Eifer, und ich hörte ihm zu und bewunderte – den Verstand meiner Tochter. Sie redete aus ihm; er sah und dachte, wie sie wollte, daß er sehe und denke. Nein, es gibt nichts Schwächeres, nichts Blinderes als einen stark verliebten starken Mann.

Natürlich blieb ich dabei: »Du bekommst keine Antwort, bevor ich mit Lore gesprochen habe.« Damit mußte er sich bescheiden.

Er einmal fort, und ich ließ sie rufen. »Um alles in der Welt«, sagte ich ihr, »du liebst nicht ihn, du liebst Werner Klar.« – Ich höre ihre Antwort noch, ich sehe noch ihre spöttische, unendlich kühle Miene.

»Würdest du mich dem geben? Du hast hochfliegende Pläne mit mir, das muß man dir lassen.,Frau Doktor Klar?’ Nein, ich danke.«

»Du liebst ihn also nicht, und er liebt dich nicht?«

»Ich glaube kaum.«

Sie war damals schon seine Geliebte und sagte: »Ich glaube kaum. Heiraten würde er mich auf keinen Fall; was sollte er mit einer Frau, wie ich bin, anfangen? Er braucht eine hübsche Wirtschafterin, die aufgeht in der Sorge um sein leibliches Wohl und keine Ansprüche an ihn stellt. Also wisse: Ich habe mich für Werner Klar interessiert, werde mich immer freuen, ihn kennengelernt zu haben, weiter nichts. Jetzt ist er untergegangen in seinen Studien, und ich heirate Nordhausen, bin ihm gut und will ihn glücklich machen.«

So sprach meine superkluge Tochter. Was hätte ich für ein paar jugendlich-törichte Worte des neunzehnjährigen Kindes gegeben!

Ich habe Nordhausen eine ebenso treue Schilderung ihres Charakters gemacht wie Dir, nichts verhehlt, nichts beschönigt. Die Folge davon war, daß er gegen mich zurückhaltend und mißtrauisch wurde und daß seine Liebe zu dem armen, von ihrem eigenen Vater verkannten Kinde durch heißes Mitleid verstärkt wurde.

Sie verlobten sich. Die Schwester Emils und sein Schwager kamen aus Bayern mit ihrer zahlreichen Familie, und die Familie der Familie folgte nach. Alle vergötterten Nordhausen, er war ihre Stütze, ihre Vorsehung. Sie fanden ihn verwandelt, verjüngt durch das Glück, und hüllten Lore, die das Wunder vollbracht hatte, in Weihrauchwolken. Sie schmeichelte sich bei jedem ein und verspottete ihn hinterrücks mit ihrer Französin. Maud machte ihr Vorstellungen darüber, da sprach sie: »Ach was! Sie sollen nur um mich herumhüpfen; wenn ich einmal Fürstin Nordhausen bin, wird einer nach dem andern fliegen lernen – zur Tür hinaus.«

Die Brautzeit sollte nur sechs Wochen dauern. Wir waren im Spätsommer, und Emil hing das Herz daran, seine junge Frau noch vor dem Blätterfall in ihr zukünftiges schönes Daheim einzuführen. Er wünschte, daß sie es kennenlerne und sehe, daß sich’s dort leben lasse. Sobald der Herbst anrücken würde, wollten sie nach dem Orient reisen.

Mein Schwager und Nordhausen betrieben eifrig alle geschäftlichen Angelegenheiten, Maud und die Schwester Emils hatten vollauf mit Anordnungen im Hause zu tun. Ethel und mir blieb die Sorge für die Unterhaltung unsrer Gäste überlassen. Ich bin dieser hausherrlichen Verpflichtung schlecht genug nachgekommen. Das lustige Treiben der jungen, die Gespräche der alten Leute waren mir gleichgültig und lästig. Es gab nur eine wichtige Sache für mich: meine Tochter beobachten und – eine unbestimmte, aber namenlose Angst trieb mich dazu – sie überwachen.

 

Ich muß mich hüten zu überlesen, was ich da geschrieben habe, sonst vergeht mir der Mut fortzufahren.

Vor zwei Tagen legte ich die Feder weg; heute will ich sie zum letztenmal wieder aufnehmen. Du wirst vielleicht nicht weniger Mühe haben zu lesen, als ich Mühe habe zu schreiben. Verliere trotzdem nicht die Geduld; ergänze die Lücken in meiner Erzählung, entschuldige die Wiederholungen, berichtige die Widersprüche, suche Dich zurechtzufinden, wenn ich verworren werde.

Lore schien nicht nur glücklich, sie war’s. Ihr Wille geschah, es ging alles nach ihrem Kopfe. Sich vor den Augen der Welt im Glanze des Ranges und des Reichtums zeigen, jeden Vorteil in Anspruch nehmen, den sie bieten können, und im geheimen die verbotene Frucht genießen und dabei der Narren und Toren spotten, die einen ehren und bewundern, ist genug für den Anfang.

Wie sie Werner Klar dazu gebracht haben mag, sich da, wo er Herr sein konnte, zu der Rolle des Günstlings zu erniedrigen? Oder war’s, wie sie sagte, wollte er sie nicht zur Frau nehmen? Er ist wohl zu stolz, um eine Braut aus der sogenannten Gesellschaft heimzuführen, aber nicht zu stolz, um sich zum gemeinen Diebe zu machen und das Eigentum eines andern zu stehlen …

Werner Klar zeigte sich wieder in unsrem Kreise und wieder bereit, sich von den Frauen anschmachten zu lassen, was sie redlich besorgten. Glänzend, geistsprühend, von sonniger Heiterkeit, mit einem Worte, derselbe in den Augen aller, nur nicht in denen Ethels und den meinen. »Menschen wie der und Lore sind nie ganz zu durchschauen«, sagte meine Schwägerin. Sie meinte, Lore hätte die Wahl gehabt zwischen Nordhausen und ihm, und war nun überzeugt, daß er das Äußerste tat, um zu verbergen, wie schwer die erlittene Zurücksetzung ihn traf. Ihm kann ein Weib nicht weh tun und überhaupt niemand, er ist der unverwundbare Halbgott, er steht zu hoch, als daß eine Kränkung ihn erreichen könnte. »Das trägt er zur Schau«, meinte Ethel, »was in ihm vorgeht, werden wir nie erfahren.«

Sie behielt recht; Werner Klar gehörte zu denen, die nach der Verlobung am wärmsten und herzlichsten Glück wünschten.

Kurz vor dem Vermählungstage kam noch ein moralisch bis an die Zähne Gerüsteter: Rupert. Er wolle seine ehemalige Spielgefährtin zum letztenmal im Vaterhause begrüßen und sich vorstellen als gereiften, von einer Jugendtorheit geheilten Mann. Im überfüllten Schlosse konnte er nicht aufgenommen werden und war bei seinem Freunde, dem Oberförster, abgestiegen, für einen Tag, hieß es.

Er brachte seine Gratulation in guter, natürlicher Haltung vor und empfahl sich.

Das war am Montag. Samstag sollte die Trauung stattfinden. Zwei Tage vorher hatte Emil noch eine Besprechung mit dem Notar und fuhr nach Tische in die zwei Stunden weit entfernte Stadt. Wir alle begleiteten ihn zu seinem Wagen. Er küßte zärtlich die Hände seiner Braut und sagte: »Auf morgen«, und als er schon auf dem Kutscherbocke saß und die Zügel in die Hand nahm, kam sie noch heran und reichte ihm eine schöne Rosenknospe. Glückverklärt steckte er sie ins Knopfloch und fuhr davon. Seine Schwester nahm Lore in die Arme und küßte und herzte sie.

Ethel und alle anderen gingen zu den Spielplätzen im Garten. Ich begab mich auf mein Zimmer. Ich dachte: Vielleicht sucht Lore mich auf. Es bleiben ihr nur wenige Stunden zur freien Verfügung; vielleicht will sie eine davon bei mir zubringen vor der langen Trennung, die uns bevorsteht. Ich wartete und wartete – sie kam nicht. So gab ich denn Befehl, mein Pferd zu satteln. Ein tüchtiger Ritt in solcher Stimmung, wie die meine war, hat sein Gutes.

Dann ging ich aber doch, sie auf ihrem Zimmer zu suchen. Es war leer. Nun stieg ich die Treppe hinunter und ging zu Johanna. Die wußte Bescheid. »Vor einer Weile ist sie dagewesen und jetzt mit Creschi« – das war ihr Stubenmädchen – »zum Heger gegangen, Abschied nehmen von ihren kleinen Hunden.«

Für diese kleinen Hunde hat sie merkwürdig viel Interesse gehabt, so viel, daß mich’s mißtrauisch machte und daß ich ihr schon mehrmals zum Heger nachgegangen war. Sie erriet meinen unausgesprochenen Verdacht und war auf ihrer Hut und war unendlich schlauer als ich.

Mein Befehl war mißverstanden worden, statt des Jagdpferdes führten sie mir ein Pony vor, und zugleich kam mein Jäger mit dem Stutzen und der Jagdtasche. Ich hatte nicht beabsichtigt, »auf den Bock« zu reiten, aber gut. Ich tue, was ich in letzter Zeit oft getan habe, passe den Gesellen ab, nehme ihn aufs Korn, wir sehen einander an, und ich denke: Geh deiner Wege, genieß noch eine Weile dein bißchen Leben. Ich ritt dem Walde zu und hatte ihn kaum erreicht, als mir Creschi entgegenstürzte mit zerrissenen Kleidern, zerzausten Haaren, ganz außer sich. »Ach, Herr, Sie, Sie, Gott sei Dank, Sie! Er hat mich gewürgt; ich hab ihm sagen müssen, wohin sie geht. Ins Waldhaus, Herr, vom Heger aus, durch den Buchenwald. Und er, ich bin’s gewiß, Herr, versteckt sich bei den Erlen; jagen Sie zu den Erlen, Herr, Sie kommen noch zurecht, retten Sie …«

»Wer hat Sie gewürgt? Wer versteckt sich?«

»Rupert – der sie erschießen will …«

Sie sprudelte alles heraus. Lore war Werner Klars Geliebte, und Creschi – im Hause erzogen, bisher immer brav und treu, war ihre Helfershelferin. Wo Lores Einfluß waltete, da entsprang ein Quell des Bösen. Die Zusammenkünfte hatten stattgefunden da und dort, und Rupert mußte dahintergekommen sein. Er hatte die Gegend nicht verlassen, verbarg sich beim Förster, lauerte ihr auf. Gestern war er ihr in den Weg getreten und hatte sie bedroht. Vor dem Bräutigam streiche er die Segel, vor dem Geliebten nicht. Sie beschwichtigte ihn, sie verstand das, und er versprach zu schweigen unter einer Bedingung. Da lachte sie ihm ins Gesicht. Creschi fürchtete Rupert und hatte Lore beschworen, nicht zur Waldhütte zu gehen, aber die Antwort erhalten: »Weißt du nicht, daß ich den Rupert in der Tasche habe? In einer Stunde bin ich zu Hause. Geh voraus. Wenn sie nach mir fragen, sag nur, daß ich dir langsam nachkomme.«

Das Mädchen ließ die Zügel meines Pferdes los, die sie gefaßt hatte. »Herrgott, jetzt will ich ihr entgegen, sie zu warnen, und gottlob! treffe Sie, Herr. Reiten Sie zu den Erlen, Sie kommen noch zurecht.« Sie wandte sich und rannte in den Wald, dem Hegerhause zu.

Du mußt wissen, die Laubhütte steht auf einer Anhöhe unter dichten Bäumen. Bei den Erlen trennt sich ein schmaler Pfad, der zu ihr hinaufführt, vom ebenen Waldwege. Wenn Lore aus dem Hegerhause kommt, schneidet sie die Ecke ab, geht schräg unter Buchen, die ziemlich schütter stehen, auf die Erlen zu, dem Mörder gerade in den Schuß. Creschi hat sich das alles ganz richtig ausgedacht; einen besseren Stand auf das Wild, dem er auflauert, konnte der Mörder nicht finden. Ich habe nichts im Kopfe als: vorwärts! Der Waldboden ist weich und elastisch, der Hufschlag meines kleinen Gauls unhörbar. In der Nähe der Erlen steigst du vom Pferde, denke ich, schleichst ihn an und springst ihm an den Hals.

Nur zu, nur zu! Und da seh ich schon die Erlen ihre zarten Wipfel im Winde wiegen.

Du mußt mir alles glauben, was ich sterbender Mann dir sage, so unwahrscheinlich es auch herauskommt, weil ich zur Mitteilung der Gedanken, die ich in einer Sekunde gedacht habe, eine Minute brauche. Wie ich die Erlen erblicke, besinne ich mich, daß Lore als kleines Kind dort immer Verstecken gespielt hat. »Wo ist sie hingekommen?« – »Fort auf Nimmerwiedersehen«, mußte man fragen und antworten, bis ein köstlich nachgeahmter Wachtelschlag sich im Busche hören ließ. Nun galt’s staunen: »Eine zahme Wachtel! Sie hört uns und fliegt nicht davon.« – Da trat sie hervor und weidete sich an unsrer Überraschung; ihre Augen leuchteten – leuchteten mir Seligkeit ins Herz. Sie war so unsagbar lieblich und so entzückend dumm.

Nein, es ist unmöglich: den Mann, der ihr seine Ehre, sein Lebensglück anvertraut, im voraus betrügen kann sie nicht. Sie ist das Kind ihrer Mutter, aber auch das meine. Hat sie nicht gesagt: »Ich bin ihm gut und will ihn glücklich machen?«… Wie sie ihm eben erst die Rosenknospe in den Wagen hinaufgereicht hat und zu sagen schien: Das bin ich und bringe mich dir dar …

Nein, nein, nein! es ist unmöglich. Die Todesangst, die mich quält, ist krankhaft, die Begegnung mit Creschi ein Traum; ich bin im Fieber, Wahnvorstellungen narren mich. Ich stieg ab, band das Pferd an einen Baum, schlich vorwärts und horchte in die regungslose Stille hinein. Ein dürres Blatt fällt von einem Ast zur Erde, ich wende den Kopf und – meine Haare sträuben sich. Nicht viele Menschen haben empfunden, was ich in diesem Augenblick, sonst müßte es mehr Verrückte geben.

Unter den Buchen kommt eine schlanke Gestalt leichten, raschen Ganges einher. Ihr mattweißes Kleid, die weißlich grauen Stämme sind kaum voneinander zu unterscheiden. Ich aber habe Jägeraugen, ich meine auf dem Gesicht der Nahenden helle Freude schimmern zu sehen … Einmal wieder betrüg ich euch alle. Was ihren Schritt beflügelt, ist ein sieghaftes Glücksgefühl.

Ich wollte aufschreien: »Zurück!« aber das Wort starb mir im Munde. Alle Pein der Vergangenheit und Gegenwart, alle Schauder vor der Zukunft ballten sich in eine Anklage zusammen. Sie lebt zum Unheil eines jeden, der ihr naht, ist das Schädliche; fort mit dem Schädlichen aus der Welt. Das Schicksal walte! Laß es geschehn!

Das ging wie ein Blitz durch meinen Kopf. Im nächsten Augenblick aber stürze ich vor, sie mit meinem Leibe zu decken. Ein Schuß fällt. Kommt nicht von den Erlen her, streift mich. Ich juble: »Gefehlt!« und bin bei ihr.

Sie liegt auf dem grünen Waldesgrund. Ein Blick genügt. Den Schatten, der sich über ihr Angesicht breitet, den wirft der Tod. Mein armes, vielgeliebtes, mein verlorenes Kind!

Ich knie nieder, ich bette ihren Kopf an meinem Herzen. »Einen Gedanken an den Allbarmherzigen, Lore – einen Gedanken der Reue! – Du stirbst.«

»Ich sterbe?« Ein furchtbares Entsetzen malte sich in ihren Zügen. Ihre Lippen verzogen sich wie die eines Kindes, das in Weinen ausbrechen wird. Sie sah meine Verzweiflung, hörte mein Beschwören und bezwang sich noch und blieb sich treu bis zuletzt! Ihr Blick richtete sich mit unerbittlichem Trotze auf mich, und sie flüsterte: »Ich sterbe – auch gut.«

Eine seltsame Fügung. An ihrem Todestage hat Lore nur eine Gedankensünde begangen. Werner Klar war zu dem Stelldichein, das ihr das Leben kostete, nicht gekommen. Einige Wochen später fand Maud, in der Laubhütte versteckt, einen Brief von ihm.

»Lore, ich komme nicht. Ich liebe dich mehr, als wir beide ahnten; wenn ich dich heute in meine Arme nehme, gebe ich dich lebend nicht mehr frei. Du warst schon mehr als einmal, wenn du dich von mir losrissest, dem Tode sehr nahe. Leb wohl; ich sage nicht: Auf Wiedersehen, denn ich will nicht teilen, ich will aufhören, dich zu lieben. Leb wohl, Lore. Du hast mich glücklicher gemacht, als ich glaubte durch ein Weib werden zu können.«

 

Das Gehirn könnt man sich zuschanden denken und fände keine Antwort auf die Frage: Wie war’s möglich, daß ich gezögert habe, ihr zu Hilfe zu eilen?

Lieber Freund, ich will dir ein Geheimnis anvertrauen: Es braucht nicht alles möglich zu sein, was geschieht. Kein Logiker wird das gelten lassen, und es ist doch so.

Eine Erklärung dafür, wie ich zögern konnte, werde ich nie finden. Die Erinnerung hätte mir nicht kommen dürfen. Die Erinnerung an die holde Kinderzeit Lores, der plötzliche Anblick dieses Geschöpfes auf dem Wege zum schändlichsten Verrat … Das war’s. Und es war gut, sollte mich nicht reuen. Wir sind der Schmach entgangen, die sie über sich und uns gebracht hätte. Die wenigen Wissenden schweigen, die übrigen erzählen einander die traurige Geschichte von ihrem Jugendgespielen, dem armen Rupert, der im Irrenhause starb. Er hatte den Verstand verloren aus Liebe zu der Unerreichbaren und sie am Vorabend ihrer Vermählung erschossen.

Nordhausen betrauerte sie lange, nahm dann eine schöne, brave Frau und lebt glücklich. Welche Zukunft hätte ihn an Lores Seite erwartet? Und ihre Kinder – wieviel Unheil hätten die über die Welt bringen können? – können … Da stehen wir wieder vor einem Fragezeichen. Vielleicht auch Heil. Unzählige Beispiele im Leben und in der Geschichte beweisen …aber freilich – was sind Beweise?…

Die Erzählung bricht hier ab. Was folgt, ist ein mit verzweiflungsvoller Leidenschaft geführtes Plädoyer für die Todesstrafe. Es ruft auf zum Vernichtungskampf gegen das Böse, und der feurige Haß, der aus ihm flammt, hat etwas Hinreißendes.

In diesem Haß hat der Mann Rettung vor dem Zweifel gesucht, der ihn mit wachsender Qual bedrängt haben mag, während er seine traurige Geschichte niederschrieb.

Als sein Freund sie gelesen hatte, eilte er zu ihm, fand ihn aber nicht mehr lebend.

Kapitel 15


Kapitel 15

 

Um Mitternacht wanderte Pavel nach Hause. Es war kalt und sternenhell. In der Nähe der Kirche begegnete er dem Nachtwächter Much, der ihn mit einer gewissen scheuen Verbindlichkeit grüßte und zu ihm sagte: »Unsere Hunde haben just einen fremden Hund erbissen. Verfluchtes Vieh; hat sich gerauft wie der Teufel.«

Auch einer gegen eine ganze Menge, dachte Pavel, und als er beim großen Ziehbrunnen anlangte und über ein Ding stolperte, das auf dem Boden lag, freute er sich, als er es unter seinem Fußtritt wimmern hörte. Er zog den Hund aus der Blutlache, in der er lag, schöpfte Wasser und schüttete den vollen Eimer über ihn aus. Soviel er in der Dunkelheit wahrnehmen konnte, war der unvorsichtige Eindringling übel zugerichtet. Grausam hatte sich an ihm der tierische Patriotismus bewährt, dem der blinde Zug zum Einheimischen blinden Haß gegen das Fremde bedeutet.

Der Hund gab kein Zeichen des Lebens mehr. Pavel ließ ihn liegen und setzte seinen Weg fort. Bald jedoch bemerkte er, daß das Tier ihm nachkroch, mühselig den Berg hinauf; er wehrte ihm nicht, ließ sich seine Begleitung gefallen, und daheim angelangt, pflegte er es trotz des Abscheus und Ekels, den seine außergewöhnliche Häßlichkeit und seine klaffenden Wunden ihm einflößten.

Am nächsten Tage ging er wie an jedem andern Wintertag hinüber in die Fabrik. Die Arbeit kam ihn heute schwer an; in seinem Kopfe war es schwül, und der ganze Körper schmerzte. Bei der Heimkehr am Abend erwartete er eine Vorladung zum Bürgermeister zu finden; sie war nicht da und kam auch später nicht.

In der nächsten Zeit, sooft er an einem seiner Feinde vorbeikam, machte er sich auf einen Angriff gefaßt und bereit zur Gegenwehr. Aber jedesmal umsonst. Niemand schien Lust zu haben, mit ihm anzubinden. Fürchteten sie ihn? Sie alle zusammen ihn allein; waren sie so feig? Oder gedachten sie nur, ihn sicher zu machen, und warteten auf eine Gelegenheit, sich zu rächen – waren sie so schlecht und tückisch? Jedenfalls wollte er keinen Augenblick unterlassen, auf seiner Hut zu sein, nie vergessen, daß er unter lauter Gläubigern wandelte, die eine böse Schuld bei ihm einzukassieren hatten. Indessen verging der Winter, ohne daß es zum Ausbruch von Feindseligkeiten gegen ihn gekommen war. Er konnte unangefochten in seiner Hütte hausen – der Anblick derselben, der so lange und soviel Mißgunst erweckt hatte, ließ die Leute jetzt gleichgültig. Im stillen staunte sogar mancher über den Hauch von Wohlhabenheit, der sich allmählich über die kleine Ansiedelung breitete.

Pavel hatte sein Haus ringsum mit einem Zaun aus kreuzweis gesteckten Weidenruten umgeben, hinter dem er Gemüse zog. Alles gedieh, dank seinem unermüdlichen, eigensinnigen, seinem eisernen Fleiße. Das Fichtenbäumchen, das einzige, das den Angriffen der Übelwollenden widerstanden, hatte es glücklich bis zum Soldatenmaße gebracht; es guckte mit dem Wipfel in das Fenster an der Seite der Hütte hinein. Ein stämmiges Ding von einem Bäumchen, mit breiten Pisten, die es trotzig von sich streckte, und das sich, so jung es war, schon einen weißen Moosbart angeschafft hatte. Das ganze Anwesen, die Hütte mit ihrem schiefen Dach, der Fichtenbaum daneben, der Zaun davor, nahm sich aus wie ein Bildchen, das Kinder entwerfen bei ihren ersten Versuchen in der Zeichenkunst. Auf der Schwelle, unter welcher der Stein eingegraben war, der Pavel immer mahnen sollte an Haß und Verachtung gegen seine Mitmenschen, lag sein neuer Hausgenosse, sein bissiger Hund, den er in unbewußtem Humor l’amour genannt. – L’amour, nach Pavels Orthographie: Lamur, hatte die Größe eines Hühner- und den Knochenbau eines Fleischerhundes; seine breite Nase war von Natur aus gespalten, was ihm etwas sehr Unheimliches gab; beim geringsten Anlaß bleckte er die Zähne und sträubte sein kurzes schwarzes Haar. Ein bitterer Groll gegen alles Lebendige schien unablässig in seiner Seele zu gären. Nie ließ er sich in eine Liebesaffäre ein; Hund oder Hündin waren ihm gleich verhaßt, und er wußte sich beiden Geschlechtern gleich fürchterlich zu machen. Nur eine tiefe, stille, an Äußerungen arme Anhänglichkeit kannte er, die an seinen Herrn. Stundenlang saß er vor dem Hause, ohne den Blick von dem Wege zu wenden, auf dem Pavel kommen mußte. Wurde er seiner endlich gewahr, so verrieten höchstens einige Freudenschauer, die ihm über die Haut liefen, und ein kümmerliches Wedeln des kurzen Schwanzes etwas von den Gefühlen seines Innern. So wenig Zärtlichkeiten Lamur spendete, so wenig wurden ihm zuteil; aber sein Futter erhielt er gleich nach der Heimkehr seines Herrn, und bevor dieser noch einen Bissen zu sich genommen hatte.

Aus der ungetrübten Gemütsruhe, in welcher Pavel seit einigen Monaten dahinlebte, wurde er durch die Ankunft eines Briefes seiner Mutter gerissen. Noch hatte er ihr letztes Schreiben nicht beantwortet, und nun kam dieses nach fast einjähriger Pause und enthielt weder eine Klage noch einen Vorwurf; es wiederholte nur die Bitten, von denen schon das frühere erfüllt gewesen, Bitten um Nachrichten von den Kindern, und schloß ebenfalls wie jenes und wie alle seine Vorgänger mit den Worten: »Mir geht es soweit gut.« Dann folgte die Unterschrift und endlich eine Mitteilung, die von der Schreiberin bis zuletzt aufgespart und dann an den äußersten Rand des Papieres verwiesen worden, wo sie wie zagend und verschämt stand. »Heut über vierzehn Monat is meine Strafzeit aus.«

Das war am Abend des 6. März.

Pavel rechnete an seinen Fingern. Im Mai des nächsten Jahres wird sie also kommen, um mit ihm zu hausen, die Mutter. Die Mutter, die Genossin eines Raubmörders, die vor Gericht gegen die furchtbare Anklage, die Teilnehmerin seines Verbrechens gewesen zu sein, keine Silbe, keinen Laut der Einwendung gefunden hat, nicht geleugnet hat – nie! … Plötzlich erwachte in ihm der Gedanke: Wie ich! … Auch er hatte vor Gericht nicht geleugnet, auch er sich nicht entschuldigt. Weil er nicht gekonnt hätte? Nein – weil er nicht gewollt. Vielleicht – unaussprechlich tröstend, sein ganzes Inneres erhellend, überkam es ihn: Vielleicht hätte auch sie gekonnt und hat es nicht gewollt.

Noch am selben Tage schrieb er an seine Mutter; aber er schämte sich, ihr einzugestehen, daß er von Milada nichts wisse, und beschloß, seinen Brief erst abzuschicken, wenn er sich die Möglichkeit verschafft haben würde, darin Kunde von seiner Schwester zu geben, sollte es auch nur die kurze, karge sein: Milada ist gesund; sie läßt Euch grüßen.

Der grauende Morgen fand ihn auf der Wanderung nach der Stadt, und so früh kam er vor der Klosterpforte an, daß er lange nicht wagte zu schellen.

Er lehnte sich an die Mauer des großen Hauses, dessen Dach das Liebste barg, das er auf Erden besaß. Das einzige ihm Nahestehende, ihm Teuere, das rein und unentweiht geblieben war; das einzige, an dem sein ganzes Herz hing – die Schwester, die sich freiwillig von ihm abgewendet hatte.

Die Glocken der Klosterkirche läuteten zur Messe, feierliche Orgeltöne erklangen, und ein Gesang erhob sich so hell, so weich wie die leise bewegte Luft, die ihn auf betenden Schwingen herübertrug aus der Ferne… Aus einem irdischen Himmel, dachte Pavel – aus einem Reich der Seligen und Friedfertigen, zu hoch, zu hehr, um von der Sehnsucht eines makelvollen Erdenkindes auch nur erreicht zu werden, zu hoch, zu hehr, um ihm anderes einzuflößen als Ehrfurcht und Anbetung.

Allmählich hatte sich um Pavel eine kleine Versammlung von alten Leuten und Kindern gebildet, ständigen Kostgängern des Klosters, die auf Einlaß warteten. Als er ihnen gewährt wurde, schloß sich Pavel als der letzte ihrem Zuge an. Die Pförtnerin wies die Armen an einen Tisch, auf dem ein Frühmahl für sie bereitstand, und richtete an Pavel, der am Eingang stehengeblieben war und sich nicht rührte, die Frage: »Was wollen Sie?«

Und er, obwohl ihm war, als würde er an der Gurgel gefaßt und gewürgt, brachte doch die Worte heraus: »Ich heiße Pavel Holub.«

Eine dunkle Röte überflog das strenge Gesicht der Pförtnerin. »Ach ja«, sagte sie; die unangenehme Erinnerung an Pavels ersten Besuch dämmerte in ihr auf.

»Ich bin«, nahm er wieder das Wort, »der Bruder der kleinen Milada.«

»Ach ja, ach ja – und Sie möchten Ihre Schwester sehen?« setzte sie überstürzt hinzu.

Nein, zu einer so kühnen Hoffnung hatte er sich nicht verstiegen; erst bei dieser Frage flammte sie in ihm auf und trieb ihm schwindelnd das Blut zu Kopf. »Ob ich möchte?« stammelte er, »freilich – und wie!«

Die Pförtnerin wurde der begangenen Übereilung inne und sagte verlegen: »Es ist aber kein Einlaß zu dieser Stunde; es ist heute überhaupt kein Einlaß und… Aber da ist Mutter Afra«, unterbrach sie sich »… warten Sie ein wenig.«

Sie ging einer alten Klosterfrau entgegen, welche, gefolgt von zwei Laienschwestern, die in die Halle führende Treppe heruntergeschritten kam. Pavel erkannte sie sogleich; es war das Fräulein Ökonomin, das einst ein so wichtiges Wort gesprochen hatte in der Sache, an der ihm damals sein ganzes Heil zu hängen schien. Die Pförtnerin sprach leise zu ihr, und Pavel konnte nicht zweifeln, daß von ihm die Rede war; denn Fräulein Afra hatte, während sie schweigend zuhörte, den Blick wiederholt und mit großer Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet.

Nun winkte sie ihn heran, fragte melancholisch lächelnd, ob er wirklich Pavel Holub sei, und sagte, als er es bejahte: »Schwer zu glauben, so sehr haben Sie sich verändert. Und was bringen Sie uns Gutes?«

Rasch, wie sie entstanden, war Pavels Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seiner Schwester erloschen, und er wagte nicht einmal zu gestehen, daß er sie gehegt hatte. Einer Stube voll roher, halb betrunkener Gesellen hatte er den Meister gezeigt; diese alte Frau in ihrer heiteren Würde, mit der milden Freundlichkeit in den leidverklärten lügen, schüchterte ihn ein. Unterdrückten und bewegten Tones antwortete er: »Ich bring einen Gruß von der Mutter an meine Schwester Milada und möchte auch fragen…« seine Stimme wurde beinahe unhörbar, »wie es meiner Schwester geht?«

»Die Frage können wir beantworten, nicht wahr, Schwester Cornelia?« wandte Fräulein Afra sich an die Pförtnerin. »Ihre Schwester ist gesund an Leib und Seele, dem Himmel sei Dank, der sie geschaffen hat zu unserer Freude und Erbauung. Was den Gruß betrifft, da müssen wir erst Erlaubnis einholen, ihn zu bestellen, nicht wahr, Schwester Cornelia?« Ihr Auge ruhte wohlwollend auf Pavel, während er, immer noch schwer beklommen, sagte: »Ich möchte auch gern der Mutter schreiben, daß die Schwester sie grüßen läßt.«

»Ja so«, versetzte Afra, »nun, auch das kann bestellt werden – nicht wahr, Schwester Cornelia? Nur ein wenig gedulden müssen Sie sich. Haben Sie Zeit, sich zu gedulden?« setzte sie scherzend hinzu, nickte mit dem Kopf und schritt weiter an Pavel vorbei, der sich ungeschickt, aber tief vor ihr verbeugte.

Er wurde von der Pförtnerin in dasselbe Zimmer geführt, in dem er als kleiner Junge so unvergeßliche Stunden der peinlichsten Erwartung durchlebt hatte.

Nichts verändert in dem traurigen Raume, jeder Sessel an der alten Stelle, an der Mauer derselbe feuchte Fleck. Nur die Aussicht aus den vergitterten Fenstern bot heute ein freundliches Bild, denn die damals halb entblätterten Obstbäume prangten jetzt im Frühlingsschmuck weißer und rosiger Blüten. Am Ende des Rasenplatzes, vor dem bis an die Gartenmauer reichenden Seitenflügel des Hauses, trieb sich eine lustige Gesellschaft von kleinen Klosterzöglingen herum. Sie unterbrachen oft ihre Spiele und rannten im Wettlauf auf die Novize zu, der die Aufsicht über sie anvertraut war. Und was hatte diese nur zu tun, um sich der Liebkosungen des anstürmenden Schwarms zu erwehren! Und wie gütig tat sie’s und wie ernst; wie verstand sie, die Wildfänge zu bändigen und die Schüchternen aufzumuntern, Tadel und Lob zu verteilen, Zärtlichkeit zu spenden und Strenge walten zu lassen nach Verdienst und Gebühr! Pavels Augen hingen unverwandt an ihrer holden, gertenschlanken Gestalt. Ihre Züge genau zu unterscheiden, vermochte er nicht; doch bildete er sich ein, das Wesen des jungen Mädchens mahne an das Miladas. So – ungefähr so mochte sie jetzt aussehen, die kleine Milada… Nur nicht so groß konnte sie geworden sein; das schien ihm unmöglich; unmöglich auch, daß sie jetzt schon das Kleid der Nonnen trage.

Ein Glockenzeichen erscholl; die Novize nahm das kleinste Mädchen auf den Arm; die andern liefen vor ihr oder neben ihr her – einen Augenblick, und alle verschwanden im Hause.

Pavel trat vom Fenster zurück. Er war durch die Worte des Fräuleins Afra auf ein langes Warten vorbereitet gewesen und nun sehr überrascht, als sich schon nach wenigen Minuten die Tür in ihren Angeln drehte. Auf der Schwelle erschien, in gewohnter edler Ruhe, unverändert durch die an ihr hingegangenen Jahre, die Oberin. Sie führte ein junges Mädchen an der Hand, ein hohes, schlankes, dasselbe, dessen stilles Walten Pavel gesehen, dasselbe, das ihn an seine Schwester gemahnt hatte – Milada im Novizenkleide.

Er starrte sie an in grenzenlos wonnigem, grenzenlos wehmütigem Staunen; über ihre Lippen kam bei seinem Anblick ein Ausruf des Entzückens; die Blässe ihres zarten Gesichts wurde noch durchsichtiger, noch farbloser.

»Pavel, lieber, lieber Pavel!« sprach sie; aber sie riß sich nicht los von der führenden Hand; sie stand still und sah ihn mit großen, glückstrahlenden Augen an.

Auch er stand still. Mächtiger als der Wunsch, auf sie zuzustürzen und sie an seine Brust zu ziehen, war die ehrerbietige Scheu, die ihn ergriffen hatte und ihn gebannt hielt und ihm die geliebte Ersehnte, die Nahe – unnahbar machte.

Beklommen schwieg er; in seinem Kopf jagten sich die Gedanken: Diese junge Heilige, war das seine Schwester? … Durfte er sie noch so nennen? – War sie’s, die er tausendmal in seinen Armen gehalten, geküßt, geherzt hatte- manchmal auch geschlagen? – War sie’s, deren Geschrei »Hunger, Pavlicek, Hunger!« ihn zum Diebstahl verleitet hatte, wie oft, wie oft! – War sie’s, deren Füßchen er verbunden, wenn sie sich wundgelaufen bei den Wanderungen von Ort zu Ort, hinter dem Vater und der Mutter her? … War sie’s?

Die Oberin weidete sich an der Überraschung der Geschwister. »Nun«, sagte sie, sich freundlich zu Milada wendend, »wer hat denn einst in kindischem Vorwitz gesagt: Ich sehe dich nie mehr; sie werden mir nie mehr erlauben, dich zu sehen? … Und jetzt ist er da, dein Bruder. Begrüßt euch, gebt euch die Hände.«

Die Aufforderung mußte wiederholt werden, bevor Pavel und Milada ihr nachzukommen wagten, und dann, als Pavel die Hand seiner Schwester in der seinen hielt, beängstigte ihn ihr Glühen und das Jagen der Pulse, die an seine Finger klopften. In seiner derben Rechten lag eine kleine schmale Hand, aber nicht die weiche Hand einer Müßiggängerin, sondern eine mit der Arbeit vertraute. So hatte man die zarte Pilgerin auf dem Wege zum Himmel nicht enthoben von der gemeinen Mühsal der Erde…

Ein, als der Lehrer es zu ihm gesprochen, halb verstandenes Wort tauchte im Gedächtnis Pavels auf: »Wie lange kann eine an beiden Enden angezündete Fackel brennen!« – Sein Herz schnürte sich zusammen, er erhob die Augen von der Hand Miladas zu ihrem Angesicht: »Eine Nonne also, eine Nonne –« sagte er.

Die Oberin erwiderte: »Noch nicht; über ein kleines jedoch wird sie zu denen gehören, die mit unserem göttlichen Erlöser sprechen: Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?«

Bei dem Worte Mutter erwachte Pavel wie aus dem Traum: »Die Mutter läßt dich grüßen«, sagte er; »es geht ihr gut. Sie möchte auch gern wissen, wie es dir geht. Was soll ich ihr schreiben?«

»Schreibe ihr«, antwortete Milada, unterbrach sich jedoch und richtete einen um Erlaubnis bittenden Blick auf die Oberin. Erst als diese zustimmend genickt, begann sie wieder: »Schreibe ihr, daß mein ganzes Leben nichts ist als ein einziges Gebet für sie und – noch für einen, unseren armen, unglücklichen Vater…« ihre Stimme hatte sich gesenkt, nun erhob sie sich freudigen Klanges – »und auch für dich, lieber, lieber Pavel.«

Pavel murmelte etwas Unverständliches, seine Augen begannen unerträglich zu brennen; plötzlich ließ er Miladas Hand aus der seinen gleiten und trat einen Schritt zurück.

Sie fuhr fort: »Der Allbarmherzige hat mich erhört, er hat dich gut werden lassen… nicht wahr? Sprich, lieber Pavel, sag ja, du darfst es sagen – es ist ja ein Werk seiner Gnade. Sag, ich bitte dich, daß du gut und brav geworden bist… Pavel, Lieber, bist du gut und brav?«

Er senkte den Kopf, gepeinigt durch ihr Flehen, und sprach: »Ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?« fragte Milada, und als er schwieg, rief sie mit aufsteigender Besorgnis die Oberin an: »Er weiß es nicht – ehrwürdige Mutter, wie kann das sein?«

Die Oberin sah Bangigkeit und Unruhe sich in den Zügen der Novize malen, sah ihre bleichen Wangen sich mit immer dunkler werdender Röte färben und versetzte beschwichtigend: »Es kann wohl sein. Er hat dir eine schöne Antwort gegeben, die des Bescheidenen, der seinen Wert nicht kennt. Wir kennen ihn; wir wissen von den Fortschritten, die dein Bruder auf dem Wege des Heiles macht. Darum auch durfte er seinen Auftrag selbst bestellen und den deinen selbst einholen. Es ist geschehen, und nun, liebe Kinder, sagt euch Lebewohl.«

Pavel seufzte tief auf: »Jetzt schon?« und zugleich und mit derselben Bestürzung drangen aus Miladas Mund dieselben Worte. Aber nur ein kurzer Kampf, und dem unwillkürlichen Schrei des Herzens folgte der Ausdruck der Ergebung in fremden Willen, und sie sprach: »Lebe wohl, Pavel.«

Ihr frommer Gehorsam wurde belohnt, die Oberin lächelte gütig: »Du kannst auch sagen, auf Wiedersehen.«

»Bei meiner Einkleidung«, fiel Milada begeistert ein, »zu meiner Einkleidung wirst du kommen, das darf man… Nicht wahr, ehrwürdige Mutter, man darf – er darf… und ich«, setzte sie nach kurzem Besinnen demütig hinzu, »darf ich noch eine Frage an ihn stellen?«

»Frage!«

Milada, die schon im Begriffe gewesen, der Oberin zu folgen, wandte sich wieder Pavel zu: »Lieber, hast du allen verziehen, die dir Böses getan haben?«

Er sah die gespannte, bebende Erwartung, mit der sie seiner Antwort lauschte, er prüfte sein Herz und sagte: »Einigen schon.«

»Du mußt aber allen verzeihen; sie sind ja Werkzeuge Gottes, die dich zu ihm führen durch Prüfungen. Verzeih ihnen, liebe sie, versprich es mir.«

Sie beschwor ihn mit einem Ungestüm, der an die Milada früherer Tage gemahnte. »Versprich’s, mein Pavel. Wenn du es nicht tust, muß ich leiden«, klagte sie, »es ist ein Zeichen, daß ich noch nicht genug getan, gebetet, gebüßt habe.«

»Ich versprech es!« rief er überwältigt und streckte seine Arme nach ihr aus.

»Dank«, hörte er sie noch sagen. »Dank, lieber, lieber Pavel«, und alles war vorbei, die Lichterscheinung entglitten. Die Oberin hatte Milada mit sich fortgezogen, er war allein.

Bald darauf öffnete die Pförtnerin die Tür und blieb an derselben stehen, die Klinke in der Hand. Pavel leistete ihrer stummen Aufforderung Folge, er trat in die Halle, er trat ins Freie.

Kapitel 16


Kapitel 16

 

Pavel schritt langsam über den Platz, der ihm einst einen so großartigen Eindruck gemacht und für dessen Herrlichkeiten er heute keinen Blick hatte. Das Glücksgefühl über das unerwartete Wiedersehen mit Milada zitterte noch eine Weile in ihm nach, wich aber bald einer jede andere verdrängenden Empfindung qualvoller Besorgnis und füllte seine Seele mit Leid und mit Reue.

Er hätte sich nicht fortweisen lassen dürfen, wie er es in feiger Schüchternheit getan, er hätte bleiben und der Frau Oberin sagen sollen: Mir bangt um meine Schwester; sehen Sie nicht, daß sie sich verzehrt in Arbeit, Gebet und Buße? Das wäre seine Pflicht gewesen, wohl auch sein Recht. – Der Gedanke einmal gefaßt, und sogleich ward er auch zum Entschluß. Pavel kehrte nach dem Kloster zurück und zog an der Glocke.

Die Tür öffnete sich nicht, aber an einem in derselben angebrachten kleinen Gitter wurde ein Auge sichtbar; die Pförtnerin fragte nach dem Begehr des Schellenden, und auf Pavels Antwort kam der Bescheid, die Frau Oberin sei nicht zu sprechen. Die Klappe hinter dem Gitter schloß sich.

Was tun? Pochen, stürmen, den Einlaß erzwingen, auf die Gefahr hin, den Unwillen der frommen Frau auf sich zu laden? … Und wenn dies geschah – wer würde für Pavels Vergehen büßen, mehr büßen wollen als müssen? – Milada. Er wußte es wohl und trat von neuem seine Wanderung an.

Am Ende der Stadt, in unmittelbarer Nähe der Brücke, stand ein Einkehrhaus und davor eine breitästige Linde, die ein paar mit den dünnen Füßen in die Erde eingelassene Tische und Bänke beschattete. Pavel nahm auf einer der letzteren Platz; er war hungrig und durstig und rief nach Bier und Brot. Aber als das Verlangte ihm gebracht ward, vergaß er zu essen und zu trinken.

Im Hofe des Gasthauses ging es lebhaft zu. Ein Stellwagen war angekommen und hatte einige Reisende abgesetzt, von denen sich zwei in lebhaftem Streit mit dem Kutscher wegen des von ihm geforderten Trinkgeldes befanden. Eine alte Frau vermißte ein Bagagestück und durchstöberte, zum Verdruß der anderen Fahrgäste, den kleinen Berg von Mantelsäcken und Bündeln, der unter dem Türbogen zusammengetragen worden war.

Diesen Vorgängen schenkte Pavel anfangs nur eine flüchtige Aufmerksamkeit; aber sie wurde sehr rege, als ihm plötzlich ein Kofferchen, ein Pelz und ein Knotenstock auffielen, die er neben dem Eckstein auf der Erde liegen sah. Das waren ja drei alte Bekannte! … … besonders der Stock; der hatte ihm einmal recht lustig auf dem Rücken getanzt.

Ohne sich zu besinnen, rief er laut: »Herr Lehrer, Herr Lehrer! sind Sie da?« sprang auf und wollte ins Haus stürzen… da trat ihm Habrecht schon mit ausgebreiteten Armen entgegen.

»Alle guten Geister! Pavel, lieber Mensch…«

»Woher? Wohin?« fragte der Bursche.

»Wohin? Zu dir; dich wollte ich besuchen und treffe dich auf meinem Wege. Ein glücklicher Zufall, ein gutes Omen!«

»Sie haben mich besuchen wollen – das ist schön, Herr Lehrer.«

»Schön? I, warum nicht gar… Aber sag mir nicht: ›Herr Lehrer‹ – ich bin kein Lehrer mehr… das ist alles vorbei. Ich bin ein Jünger geworden, und« – er spitzte die Lippen und sog die Luft mit tiefem Behagen ein, als ob er von etwas Köstlichem spräche, »und ein neues Leben beginnt.«

Pavel war erstaunt; das neue Leben, hatte er gemeint, habe längst begonnen.

»War nichts, ist durchaus mißraten«, erwiderte Habrecht kopfschüttelnd, »sollst hören wie. Komm ins Haus; unter der Linde – ein schöner Baum… werde mich vielleicht sehr bald nach dem Anblick einer solchen Linde sehnen – ist’s mir zu frisch… Komm, lieber Mensch, ich habe viel für dich auf dem Herzen und will auch viel von dir hören, ehe wir uns trennen, voraussichtlich – auf Nimmerwiedersehen.«

Er bestellte ein Mittagessen für sich und Pavel, ließ das beste Zimmer des ersten Stockes aufsperren und erklärte sich ungemein zufrieden, als ihm eine große Stube angewiesen wurde, deren Einrichtung aus zwei schmalen Betten mit hoch aufgetürmten, rosenfarbigen Kissen, aus einem mit Wachsleinwand überzogenen Tisch und aus vier Sesseln bestand. Auch die trübe Suppe und der noch trübere Wein, das ausgewässerte Rindfleisch und die halbrohen Kartoffeln, die der Wirt ihm vorsetzte, begrüßte er mit unbedingten Lobeserhebungen. Sein eigenes Nahrungsbedürfnis war nicht größer als das eines indischen Büßers, aber seinen Gast munterte er fortwährend auf: »Iß und trink, laß dir’s schmecken; das Mahl ist gut, und ich würze es dir mit nützlichen Gesprächen, mit der Quintessenz meiner Erfahrungen.«

Er begann zu erzählen, geriet in immer erhöhtere Stimmung, hielt es nicht lange aus auf einem Platze, sprach jetzt stehend, jetzt sitzend, jetzt im Zimmer hin und her schwirrend und stets mit eigentümlich hastigen Gebärden.

Ja, das war ein Irrtum gewesen, das mit dem Glauben an die neue Lebenssonne, die ihm in dem neuen Wirkungskreise aufgehen würde. Die Gespenster der toten Vergangenheit huschten nach in die lebendige Gegenwart und richteten Verwirrung und Hader an, wo Klarheit und Frieden herrschen sollten. Zu gut hatte Habrecht es machen wollen, zuviel Eifer an den Tag gelegt, sich zu demütig um Gunst beworben – dies alles, verbunden mit seinem Fleiße, seiner strengen Pflichterfüllung und makellosen Lebensführung, erweckte Mißtrauen. »Der Mann muß ein schlechtes Gewissen haben«, sagten die Leute.

»Spürst du was?« fragte Habrecht. »Als ich das hörte, grinste das Gespenst mich an, von dem ich im Anfang gesprochen habe. Wär ich gewesen wie einer, der nichts gutzumachen hat – hätt ich’s nicht zu gut machen wollen, wäre meinen geraden Weg einfach und schlicht gegangen, unbekümmert um fremde Wohlmeinung… Noch eins! Sie sind dort viel rabiater tschechisch als hier, mein deutscher Name verdroß sie. Sie haben bei mir deutsche Gesinnungen gesucht, bei mir, dem die Erde eine Stätte der Drangsale ist und jeder Mensch ein mehr oder minder schwer Geprüfter! Ich werde einen Unterschied machen, ich werde sagen: Am Wohlergehen dessen, der hüben am Bach zur Welt gekommen, liegt mir mehr als am Wohlergehen dessen, der drüben geboren worden ist… Es gibt eine Nation, ja, eine, die leitet, die führt, die voranleuchtet: alle tüchtigen Menschen – der anzugehören wär ich stolz… Was jeden anderen Nationalitätenstolz betrifft –«, er griff sich an den Kopf und lachte, »Narrheit, unwürdig des Jahrhunderts. Das ist mein Gefühl… Gefällt euch mein Name Habrecht nicht – sagte ich, nennt mich Mamprav, mir gilt das gleich… Nun, damit, daß ich bereit war, ihnen auch in der Sache nachzugeben, damit hab ich’s ganz verschüttet. Jetzt war ich ein Spion, der sie kirren wollte, Gott weiß, in welchem Interesse… Und jetzt trat ich auf Schlangen bei Tritt und Schritt. Zuletzt konnte ich beim Bäcker kein Stück Brot mehr bekommen für mein gutes Geld und bei der Hökerin keinen Apfel… Oh, die Menschen, die Menschen! Man muß sie lieben – und will ja –, aber manchmal graut einem; es graut einem sogar sehr oft.«

Die Erinnerung an das jüngst Erlebte drückte ihn nieder; er blieb eine Weile still, bald jedoch gewann seine unverwüstliche Lebhaftigkeit die Oberhand, und neuerdings ließ er den Strom seiner Rede sprudeln und vergaß, von ihm hingerissen, auf die Begriffsfähigkeit seines Zuhörers Rücksicht zu nehmen. Pavels Interesse für die Auseinandersetzungen seines alten Gönners hatte große Mühe, sich dem mangelhaften Verständnis gegenüber, das er ihnen bieten konnte, zu behaupten.

Die letzte Prüfung, die Habrecht bestanden hatte, war bitter, aber kurz gewesen. Ein Freund, ein einstiger Schulkamerad, mit dem er in steter Verbindung geblieben, erschien eines Morgens bei ihm als Erlöser aus aller Pein und Not. Zwischen den Schicksalen beider Männer bestand eine gewisse Ähnlichkeit, und es war die außerordentliche Übereinstimmung ihrer Sinnesart, welche ihren Seelenbund trotz jahrelanger Trennung aufrechterhalten hatte. Sie beschlossen in der ersten Stunde des Wiedersehens, die Fortsetzung des Lebenskampfes Seite an Seite aufzunehmen. Für die Mittel, sich auf das von ihnen gewählte Schlachtfeld zu begeben, sorgte der Freund, sorgten die Freunde des Freundes. Diese lebten in Amerika in Wohlhabenheit und Ansehen und gehörten zu den eifrigsten Aposteln einer »ethischen Gesellschaft«, deren Zweck die Verbreitung moralischer Kultur war und die täglich an Anhang und Einfluß gewann.

»Bekenner einer Religion der Moral nennen sie sich«, rief Habrecht; »ich nenne sie die Entzünder und Hüter des heiligsten Feuers, das je auf Erden brannte und dessen Licht bestimmt ist, auf dem Antlitz der menschlichen Gemeinde den Widerschein einer edlen, bisher fremden Freudigkeit wachzurufen… Ihre Botschaft ist zu mir gedrungen in Gestalt eines Buches, dergleichen noch nie eines geschrieben wurde… O lieber Mensch! ein Wunderbuch und hat bei mir beinahe dasjenige ausgestochen, das du einst, du Tor, ein Hexenbuch nanntest… Ich folge der Botschaft; ich gehe hinüber, etwas zu suchen, das ich verloren und ewig vermißt habe: eine Anknüpfung mit dem Jenseits. Eins von beiden brauchen wir, wir armen Erdenkinder, ein wenn auch noch so geringes – Wohlergehen oder einen Grund für unsere Leiden; sonst werden wir traurig, und das ist eines Wackeren unwürdig.«

Hier unterbrach ihn Pavel zum ersten Male: »Ist Traurigkeit unwürdig?«

»Durchaus. Traurigkeit ist Stille, ist Tod; Heiterkeit ist Regsamkeit, Bewegung, Leben.« Er blieb vor dem Tische stehen, sah Pavel forschend an und sprach: »Sie fehlt dir noch immer, die Heiterkeit; du bist nicht munterer geworden… Und wie geht es dir im Dorfe?«

»Besser«, erwiderte Pavel.

»Das läßt sich hören. Seit wann denn?«

»Seitdem ich es ihnen einmal gesagt und gezeigt habe.«

»Gesagt, oh! – gezeigt, oh, oh! … Wie gezeigt? Hast sie geprügelt?«

»Fürchterlich geprügelt.«

»Ei, ei, ei!« Habrecht machte ein bedenkliches Gesicht und kreuzte die Arme. »Nun, lieber Mensch, Prügel sind nicht schlecht, aber nur für den Anfang, durchaus nur! und überhaupt nie mehr als ein Palliativ… Salbader freilich verstehen von Radikalmitteln nichts, leugnen darum auch, daß es solche gehe. Sei kein Salbader!« schrie er den erstaunten Pavel an, der sich nicht einmal eine ungefähre Vorstellung von dem machen konnte, was damit gemeint war.

Und nun forderte Habrecht ihn auf zu sprechen: »Ich habe dir meine Generalbeichte abgelegt, laß mich die deine hören.« Er begann ihn auszufragen, verlangte von dem Tun und Lassen seines ehemaligen Schützlings genaue Rechenschaft und erhielt sie, so rasch die Ausrufungen, Betrachtungen und guten Ratschläge, mit denen er Pavel fortwährend unterbrach, es erlaubten Dem aber war das ganz recht, störte ihn nicht mehr, als das Geräusch eines murmelnden Baches getan hätte, und gab ihm Zeit, nach jedem Satze seine Gedanken zu sammeln und einen passenden Ausdruck für sie zu suchen. Endlich hatte er ja doch sein fest verschlossenes, übervolles Herz in das seines wunderlichen Freundes ausgeschüttet.

Sie befanden sich beide in feierlicher Stimmung. Der alte Mann legte dem jungen die Hände aufs Haupt und sprach einen warmen Segen über ihn.

»Von Vernunft und Gemeinde wegen«, schloß er, »hätte ein schlechter Kerl aus dir werden müssen; statt dessen bist du ein tüchtiger geworden. Mach so fort, schlag ihnen ein Schnippchen ums andere. Arbeite dich hinauf zum Bauer, werde ihr Bürgermeister.«

Pavel machte größere Augen als je in seinem Leben und sah den Lehrer mit einem zugleich stolzen und ungläubigen Lächeln an. Habrecht nickte hastig: »Ja, ja! und wenn du’s bist, dann zahl ihnen mit Gutem heim, was sie Übles an dir getan haben.«

Der Abend brach an; die Stunde der Abfahrt näherte sich, und Habrecht wurde von fieberhafter Unruhe ergriffen. Er forderte seine Rechnung, bezahlte, schenkte den Versicherungen des Wirtes, daß es zum Aufbruch viel zu früh sei, kein Gehör, verließ das Haus und schlug, von Pavel gefolgt, der das Kofferchen, den Pelz und den Stock trug, im Eilmarsch den Weg zum Bahnhof ein.

Als er dort anlangte und fragte, ob er noch zurechtkomme zum Abendzuge nach Wien, wurde er ausgelacht, was ihn beruhigte.

Ein heftiger Sturm hatte sich erhoben und schüttelte die vor dem Stationsgebäude gepflanzten Akazienbäume, daß es ein Erbarmen war; aus den grauen, jagenden Wolken fegte kalter Strichregen nieder. Habrecht achtete dessen nicht und setzte seinen ehrwürdigen Frack, den er auch zu dieser Reise angelegt hatte, schonungslos den Unbilden der Witterung aus. Nur seinem grauen, langhaarigen Zylinder gewährte er den Schutz eines über ihn gebreiteten und unter den schnörkelförmigen Krempen befestigten Taschentuchs und pendelte so neben Pavel auf dem Perron hin und her und sprach ohne Unterlaß.

Nachdem die Kasse eröffnet worden und er ein Billett gelost hatte, kannte seine Ungeduld keine Grenzen mehr. Er zog seine Uhr, der des Bahnhofes traute er nicht. Zehn Minuten noch… möglicherweise konnte aber der Zug gerade heute um fünf Minuten früher eintreffen, und da man dann in fünf Minuten scheiden mußte, warum nicht lieber gleich? Er bat Pavel inständigst heimzugehen, sich seinetwegen nicht länger aufzuhalten. Vorher aber zwang er ihn noch, fast mit Gewalt, seine Uhr anzunehmen.

»Ich brauche sie nicht mehr, mein Freund hat eine. Denk nach: Wenn immer auf zwei Menschen eine Uhr käme, was wäre das für ein günstiges statistisches Verhältnis! – Leb wohl, geh jetzt.«

Mit einer Hand schob er ihn fort, mit der anderen hielt er ihn zurück. »Meine letzten Worte, lieber Mensch, merk sie dir! präge sie dir in die Seele, ins Hirn. Gib acht: Wir leben in einer vorzugsweise lehrreichen Zeit. Nie ist den Menschen deutlicher gepredigt worden: Seid selbstlos, wenn aus keinem edleren, so doch aus Selbsterhaltungstrieb… aber ich sehe, das ist dir wieder zu hoch – – anders also! … In früheren Zeiten konnte einer ruhig vor seinem vollen Teller sitzen und sich’s schmecken lassen, ohne sich darum zu kümmern, daß der Teller seines Nachbars leer war Das geht jetzt nicht mehr, außer bei den geistig völlig Blinden. Allen übrigen wird der leere Teller des Nachbars den Appetit verderben – dem Braven aus Rechtsgefühl, dem Feigen aus Angst… Darum sorge dafür, wenn du deinen Teller füllst, daß es in deiner Nachbarschaft so wenig leere als möglich gibt. Begreifst du?«

»Ich glaube, ja.«

»Begreifst du auch, daß du nie eines Menschen Feind sein sollst, auch dann nicht, wenn er der deine ist?«

»So etwas«, erwiderte Pavel, »hat mir schon meine Schwester gesagt.«

Habrecht drückte seine Freude an dieser Übereinstimmung aus und fuhr fort: »Ferner, verlerne das Lesen nicht. Ich habe aus meinem Vorrat von Schulbüchern, ehe ich ihn verschenkte, sechs Stück für dich beiseite gebracht – du wirst sie durch die Post erhalten –, schlichte Büchlein, von unberühmten Männern zusammengestellt; wenn du aber alles weißt, was in ihnen steht, und alles tust, was sie dir anraten, dann weißt du viel und wirst gut fahren. Lies sie, lies sie immer, und wenn du mit dem sechsten fertig bist, fange mit dem ersten wieder an… Was das Allerschwierigste im Leben betrifft, die süßeste, die grausamste, die mächtigste und fürchterlichste aller Leidenschaften – ich mag sie gar nicht nennen –, so meine ich, du wärst abgeschreckt und könntest es bleiben. Sie ist dir am Quell vergiftet worden, bei ihrem ersten Ursprung, das hilft manchmal für immer. Du hast es mit ihr so schlecht getroffen, wie dein aufrichtigster Freund, für den ich mich halte, es dir nicht besser hätte wünschen können.«

Auf dem Bahnhofe waren immer mehr Leute zusammengekommen; ein erstes Glockenzeichen wurde gegeben; aus der Ferne gellte ein Pfiff. Habrecht merkte von alledem nichts; er hatte Pavel am Rock gefaßt und redete hastig und heftig in ihn hinein: »Nicht jeder braucht einen Hausstand zu gründen; das ist der größte Wahn, daß man einige Kinder haben müsse – es gibt Kinder genug auf der Welt… und je besser ein Vater ist, desto weniger hat er von seinen Kindern – wer fühlt edel und selbstlos genug, um sich zutrauen zu dürfen, er werde ein guter Vater sein? … Und deinen Ruf, lieber Mensch, achte auf deinen Ruf, du weißt schon, die gewisse Tafel, die blank sein muß die deine war sehr verkritzelt… putze, fege, strebe vorwärts… glaube: wenn du heute nicht etwas besser bist, als du gestern warst, bist du gewiß etwas schlechter…«

»Herr Lehrer«, wollte Pavel ihn aufmerksam machen, als nun zum zweiten Male geläutet wurde; aber unter dem Zipfel des Taschentuches hervor, das sich aus der Hutkrempe losgemacht hatte und nun, vom Winde bewegt, Habrechts Gesicht umflog, sah dieser ihn liebreich an und fuhr fort: »Wende mir nicht ein: Das sind lauter zu hohe Grundsätze für unsereinen; gehen Sie damit zu denen, die ohnehin schon hoch stehen; wir sind geringe Leute; für uns ist auch eine geringe Moral gut genug… Ich sage dir, gerade die beste ist für euch die rechte; ihr Geringen, ihr seid die Wichtigen, ohne eure Mitwirkung kann nichts Großes sich mehr vollziehen – von euch geht aus, was Fluch oder Segen der Zukunft sein wird…«

»Herr Lehrer, Herr Lehrer! es ist Zeit«, sagte Pavel, und Habrecht versetzte: »Eure Zeit, jawohl – und was ihr aus derselben macht, das wird…«

»Einsteigen!« rief es dicht an seinem Ohr, und er sah sich um, sah den Zug dastehen und erschrak furchtbar. »Dritte Klasse nach Wien!« schrie er, rannte auf den ihm vom Schaffner bezeichneten Waggon zu und erklomm ihn mit nicht gerade anmutiger, aber wunderbarer Behendigkeit.

Pavel eilte ihm nach und reichte ihm seine Effekten in den überfüllten Wagen, in dem er unter vielen Entschuldigungen einen Platz gefunden hatte. Ein neuer Pfiff, der Zug setzte sich in Bewegung, eine kleine Strecke konnte ihn Pavel in scharfem Laufe begleiten.

»Gott behüte Sie, Herr Lehrer!« schrie er, und durch das Brausen der davonrollenden Lokomotive und aus Rauch und Dampfwolken kam die Antwort: »Und dich, lieber Mensch, Amen, Amen, Amen!«

Am späten Abend, nachdem Pavel heimgekommen war, fütterte er seinen Hund, nahm eine Haue und grub dem Steine nach, den er unter die Schwelle seines Hauses versenkt hatte. Lamur saß daneben und warf aus verdrießlich zugekniffenen Augen so scheele Blicke auf die Arbeit seines Herrn, leckte sich die Nase so oft und sah so verächtlich drein, daß jener seine üble Laune bemerken mußte.

»Ist dir’s vielleicht nicht recht?« fragte Pavel.

Ein höhnisches Zähnefletschen war die Antwort.

Pavel aber hatte den Stein ausgehoben, betrachtete ihn, wog ihn in der Hand und fand ihn kleiner und leichter, als er sich ihn vorgestellt.

»Da ist er, schau – nimm!« sagte er und hielt ihn dem Hunde hin, der ihn auf Befehl seines Herrn in die Schnauze nahm und ihm nachtrug.

Am Brunnen angelangt, an dem ihre erste Begegnung stattgehabt hatte, nahm Pavel dem Hunde den Stein aus dem Maul und schleuderte ihn ins Wasser, in dem er mit einem lauten Glucksen versank.

Lamur gab durch Knurren seine Mißbilligung zu erkennen.

Kapitel 17


Kapitel 17

 

Seit einiger Zeit hatte die Frau Baronin ihre Wohnung im ersten Geschoß des großen Schlosses mit einer zu ebener Erde gelegenen vertauscht. Sie fühlte sich sehr alt werden, das Treppensteigen machte ihr Mühe, und sie unterzog sich derselben nur noch bei besonderen Feierlichkeiten, die nirgends anders als im Ahnensaale stattfinden konnten. Am ersten Januar zum Beispiel, wenn die Baronin die Glückwünsche ihrer in corpore mit Gemahlinnen und courfähigen Nachkommen ausgerückten Beamten empfing; oder am Gründonnerstag, wenn sie, einer Familientradition getreu, dasselbe Fest in bescheidener Nachahmung beging, das an diesem Tage in der Hofburg zu Wien mit kaiserlichem Glanze vollzogen wird.

Das gewöhnliche Leben der Greisin verfloß in gleichmäßiger, immer tiefer werdender Stille. Sie beschäftigte sich viel mit dem Gedanken an ihren Tod, dem sie ohne Furcht und – trotz mancher quälenden Leiden und Beschwerden – ohne Ungeduld entgegensah. Sie hatte ihre letzten Anordnungen getroffen und zum Erben ihres Gutes Soleschau das Kloster eingesetzt, an dessen Spitze ihre hochverehrte Freundin stand und in dem Milada erzogen worden war, die, so es Gott und seinen Stellvertretern auf Erden gefiel, bestimmt sein konnte, die oberste Leiterin des Hauses zu werden, in das sie vorzeiten als der ärmste Zögling getreten war. Die Bedürftigen der Gemeinde waren im Testament der alten Dame nicht vergessen und auch keiner ihrer Diener; zuletzt hatte sie an sich gedacht, dann aber recht ausführlich, und das Zeremoniell, das sie bei ihrem Leichenbegängnis beobachtet wissen wollte, genau bestimmt. Die Gruft, die halb verfallen war und für deren Erhaltung sie grundsätzlich nie etwas getan hatte, sollte noch ihre Reste aufnehmen, dann zugemauert und der Eingang mit Erde und Rasen überdeckt werden. Die Leute, die da drinnen liegen, schließen sich mit Vergnügen von der heutigen Welt ab, meinte sie, ordnete jedoch an, daß die Kapelle, die den Grufthügel krönte, in gutem Stand erhalten werde und immer unverschlossen zu bleiben habe, damit jeder, dessen Herz danach verlangen sollte, an der heiligen Stätte ein Vaterunser für die alte Gutsfrau zu sprechen, diesem frommen Bedürfnisse nachkommen könne.

Die Baronin sann jetzt oft darüber nach, wer von den Leuten, denen sie manche Wohltat erwiesen hatte, den Wunsch empfinden würde, für ihre ewige Ruhe zu beten, und gewöhnte sich, jeden, mit dem sie sprach, darauf anzusehen, ob er wohl zu denjenigen gehöre, die ihrer vergessen, oder zu denjenigen, die ihrer gedenken würden. Und wenn die Bejahung oder Verneinung der von ihr darüber angestellten Vermutungen auch nicht ausschlaggebend für ihre Wertmessung der Menschen war, so übte sie auf dieselbe doch großen Einfluß.

Eines Morgens, am Tage nach Pavels letztem Klosterbesuch die Baronin saß bei ihrer Arbeit in der Mitte eines Kanapees, das bequem noch einem halben Dutzend Personen von ihrem Umfang Platz geboten hätte, hinter einem ebenso langen schwerfälligen Tisch –, öffnete sich die Tür des Zimmers, und Matthias trat ein und meldete: »Der Holub ist schon wieder draußen.«

»Schon wieder? – Meines Wissens kommt er ja nie«, sagte die Schloßfrau, und Matthias erwiderte: »Ja – aber doch.«

»Hm, hm, was will er?«

»Sprechen möcht er.«

»Mit wem?«

»Mit freiherrlichen Gnaden.«

»Soll kommen«, befahl die Baronin, und bald darauf knarrten Pavels schwere Stiefel auf den Parketten.

Er wollte auf die Baronin zugehen und ihr die Hand küssen, wie es sich geschickt hätte; aber der Tisch versperrte den Zugang zum Kanapee, und den wegzuschieben hätte sich wieder nicht geschickt. So geriet Pavel in einen peinlichen Konflikt der Pflichten, ließ in seiner Verlegenheit den Hut fallen und wagte nicht ihn aufzuheben.

Die Baronin winkte ihm, näherzutreten, stand auf, beugte sich über den Tisch und suchte sich, so gut ihre zunehmende Blindheit es erlaubte, durch den Augenschein davon zu überzeugen, daß wirklich Pavel Holub vor ihr stand. Dann setzte sie sich wieder und fragte, was ihn herführe.

Er indessen hatte abwechselnd sie und die Strickarbeiten angesehen, die, offenbar zur letzten Ausfertigung bereit, vor ihr lagen und neue und farbenfrische Ebenbilder der Röcklein und Jacken waren, in denen alle armen Dorfkinder herumliefen. Angeheimelt durch den Anblick und gerührt durch den Fleiß der alten, gebrechlichen Frau, faßte er sich auf einmal ein Herz und kam mit seinem Anliegen heraus. Es bestand in der Bitte, die Frau Baronin möge sich gnädigst dafür verwenden, daß man seiner Schwester Milada den Dienst im Kloster erleichtere, sonst könne sie es nicht aushalten und müsse sterben.

»Sterben? Milada sterben?« Die Greisin lachte, war entrüstet, befahl dem impertinenten Dummkopf, der so etwas zu denken wage, dem rohen und grausamen Schlingel, der ein solches Wort über seine Lippen bringe, das Zimmer zu verlassen, rief den Bestürzten, als er gehorchen wollte, wieder zurück und forderte ihn auf, ihr zu erklären, wie er ins Kloster und dazu gekommen sei, Milada zu sprechen. »Aber lüg nicht wie ein Zigeuner, der du bist«, setzte sie heftig erregt hinzu.

Pavel erstattete seinen Bericht in äußerster Kürze, jedoch mit einem Gepräge der Wahrhaftigkeit, das wohl den verhärtetsten Zweifler überzeugt hätte.

Die Baronin senkte den Kopf immer tiefer auf ihre Strickerei; sie bereute schon ihre Ausfälle gegen Pavel, besonders den letzten. Warum hatte sie ihn einen Zigeuner genannt? Warum ihn damit an das elende Wanderleben, das er in seiner Kindheit führen mußte, und zugleich an Vater und Mutter erinnert und ihm sein Unglück zum Vorwurf gemacht? – – Pfui, daß sie sich so weit von ihrem Ärger über den Burschen hatte hinreißen lassen, weil er eine unbegründete Besorgnis um seine Schwester geäußert. Nach allem, was die Baronin in der letzten Zeit von ihm gehört, verdiente er eher Lob als Tadel. Hatte Anton, einer ihrer Vertrauensmänner, nicht gesagt: »War Nichtsnutz Holub, aber jetzt macht sich.« Hatte der Förster ihn nicht ganz außerordentlich gerühmt? Hatte nicht sogar der ihm durchaus nicht wohlgesinnte Pfarrer, auf ihre Erkundigung nach ihm, erwidert: »Es liegt nichts gegen ihn vor.« – Und sie beschimpfte ihn! … Sie, die am Rande des Grabes stand, die bald nicht mehr vermögen würde, einem Menschen wohlzutun, tat noch einem ohnehin Hartgeprüften weh!

»Holub«, sprach sie plötzlich, »deiner Schwester fehlt nichts. Trotzdem will ich zu deiner Beruhigung und auch ein wenig zu der meinen morgen ins Kloster fahren. Denn – einen unangenehmen Eindruck machen mir deine eingebildeten Befürchtungen doch, und ich möchte ihn bald loswerden.«

Pavels Gesicht strahlte vor Freude. – »Wenn die Frau Baronin«, sagte er, »sich selbst vom Aussehen Miladas überzeugen möchte und, falls sie damit unzufrieden ist, bestimmen wollte, daß besser acht auf sie gegeben und man ihr verbieten würde, sich weit über ihre Kräfte anzustrengen, wie sie es tut, weil sie sich vorgenommen hat, gar zu schwere Sünder loszubeten – das wäre eine große Wohltat, und der liebe Herrgott würde es der Frau Baronin tausendfach vergelten.«

Sie lächelte und meinte: »Da hätte der liebe Herrgott viel zu tun, wenn er alle die Wechsel einlösen sollte, die von unbefugten Schatzmeistern auf ihn ausgestellt werden.«

»Freilich, freilich«, erwiderte Pavel gedankenlos, hob seinen Hut vom Boden auf, sah sich im Zimmer um und erkannte es als dasselbe, in welchem er nach dem Federnraube an dem bösen Pfau seine erste Audienz im Schlosse gehabe hatte. Unwillkürlich warf er einen Blick nach der dünnen Schnur an der Decke und sah, daß sie noch immer festhielt und daß der vergoldete Kübel bis zur Stunde nicht herabgefallen war. Jede Einzelheit des damaligen Vorganges tauchte vor ihm auf. Er erinnerte sich besonders deutlich der großen Abneigung, die ihm die Frau Baronin eingeflößt hatte und die in solchem Gegensatz zu der Hochachtung stand, von welcher er sich jetzt für sie durchdrungen fühlte.

Was hatte sich denn verändert? … Sie nicht, sie war dieselbe geblieben, in seinen Augen nicht einmal älter geworden, eine Greisin damals, eine Greisin jetzt. Er war ein anderer, ein reicherer Mensch, nicht mehr der stumpfe, für den es nichts Verehrungswürdiges gibt, weil ihm der Sinn, es zu erkennen, fehlt. Er empfand das mit ziemlicher Klarheit und hätte es gern an den Tag gelegt, hätte sich aber auch gern empfohlen, nachdem sein Geschäft beendet, sein Gesuch angebracht und auf das beste aufgenommen worden war. Ohne Ahnung, daß es ihm zukomme zu warten, bis er entlassen werde, sprach er: »Ich will Euer Gnaden nicht länger belästigen; ich sag der Frau Baronin tausendmal: vergelt’s Gott, und wenn Sie sterben, werde ich für Sie beten.«

»So? so?« sie richtete sich empor. »Wirst du das wirklich tun, und andächtig?«

»Sehr andächtig.«

»Pavel Holub«, sagte die Baronin in freundlichem Tone, »es freut mich, daß du für mich beten willst. – Und jetzt sag mir: Mein Feld, dasjenige, an dessen Rand deine Hütte steht, hast du es dir wohl recht aufmerksam angesehen? – Wie groß schätzest du’s?«

»Es wird so seine fünfzehn Metzen haben, nicht ganz drei Hektare«, sprach Pavel ohne Zögern.

»Ein schlechtes Feld, was?«

»Ja, die Felder dort oben sind alle schlecht. Wenn ich der Verwalter wär, würd ich dort oben nie Weizen aussäen.«

»Sondern?«

»Hafer oder Korn, und Kirschbäume würd ich pflanzen, viele, viele.«

»So pflanze Kirschbäume«, versetzte die Baronin ernst und rasch, »das Feld ist dein.«

»Mein – was ist mein?«

»Nun, das Feld, ich schenk es dir.«

»Um Gottes willen – mir – das Feld…« Ihm war, als ob alles ins Wanken geriete, der Boden unter seinen Füßen, die Wände, das Kanapee und auf dem Kanapee die Frau Baronin. Er streckte die Arme aus und griff nach einem Stützpunkt in die Luft. »Das große, das schöne, das gute Feld…«

»Hast du nicht eben gesagt, daß es ein schlechtes Feld ist?«

»Für Sie, aber nicht für mich; für mich ist es ein gutes, zu gutes… Um Gottes willen«, wiederholte er, »schenken Sie es mir im Ernst, das Feld?«

Die Baronin blinzelte: »Es tut mir leid, Holub«, sagte sie, »daß ich das Gesicht, das du jetzt machst, nicht recht deutlich sehen kann. Das Blindwerden, mein lieber Holub«, setzte sie leicht aufseufzend hinzu, »verdirbt dem Menschen manche Freude. – Geh jetzt und schicke mir den Verwalter. Ich will gleich Anordnungen treffen, daß die Schenkung rechtskräftig gemacht werde.«

»Rechtskräftig… Euer Gnaden… sogar rechtskräftig…« Pavel kannte sich nicht mehr; sein Entzücken überwand seine Schüchternheit, er stürzte auf den Tisch zu, schob ihn zur Seite, ergriff die Hände der Gutsfrau und küßte sie, und als sie ihm mit aller Kraft, die sie aufzubringen vermochte, die Hände entzog, küßte er den Saum ihres Kleides und ihre Ärmel und ihr Umhängetuch und stöhnte und jauchzte und konnte nicht sprechen.

Ihr wurde, so mutig sie war, ein wenig bang vor diesem entfesselten Sturme; sie zankte Pavel tüchtig aus und erklärte ihm, alles müsse ein Ende haben, auch Dankbarkeitsbezeigungen, und wenn er den Verwalter nicht augenblicklich holen gehe, sei es mit der ganzen Schenkung nichts.

Das brachte ihn zu sich. In der nächsten Minute war er draußen im Hofe. – Vor dem Tor stand die blonde Slava, das Häuslerkind schnöden Angedenkens. Sie diente im Schlosse seit ihrer Rückkehr und war jetzt damit beschäftigt, kecke Turteltauben zu füttern, die sich’s nicht einfallen ließen, dem heranstürzenden Pavel auszuweichen; er mußte sich in acht nehmen, nicht eine von ihnen zu zertreten. Slava rief ihm einen guten Morgen zu, und er, ganz vergessend, daß es seine schlimmste Feindin war, die zu ihm gesprochen, erwiderte: »Ich hab ein Feld, die Frau Baronin hat mir ein Feld geschenkt.«

Die Feindin wurde rot bis unter die Haarwurzeln: »Das ist aber schön«, sagte sie, »das freut mich.«

Jetzt erst besann er sich, mit wem er redete, und eilte ohne Gruß hinweg.

So ganz anderes und Wichtigeres ihn auch erfüllte, nebenbei mußte er doch daran denken, wie gut das Rotwerden ihr gestanden hatte, welch ein bildhübsches Mädchen sie war, und daß es nicht recht sei vom lieben Herrgott, einer so schwarzen Seele Wohnung anzuweisen in einer so holden Hülle. Jeder Unbefangene mußte dadurch irregemacht werden. Zum Glück war Pavel kein Unbefangener; ihn vermochte der Schein nicht zu täuschen. Er kannte diese Slava, und ob ihre Lippen sich im Sprechen bewegten, ob sie von lieblichster Sanftmut umschwebt aufeinander ruhten, er konnte sie nicht ansehen, ohne der Stunde zu gedenken, in welcher sie sich geöffnet hatten, um ihn dem Hohn und Spott preiszugeben mit der grausamen Frage: »Fahrst zum Vater oder zur Mutter?«… Verzeih allen – hatten Milada und Habrecht gesagt, und er, wahrlich, er wollte es tun; aber der gemahnt wird zu verzeihen, wird er nicht auch zugleich an das gemahnt, was er zu verzeihen hat?

Die Erinnerung bildete die unüberbrückbare Kluft zwischen ihm und denjenigen, mit welchen Frieden zu schließen seine liebsten Menschen ihn beschworen.

Die Frau Baronin hielt Wort; die Schenkung wurde rechtskräftig gemacht; Pavel war ein Grundbesitzer geworden. Das unerhörte Glück, das ihm vom Himmel gefallen, trug allerdings nichts bei zur Verminderung seiner Unbeliebtheit. Niemand gönnte es ihm; sogar Arnost hatte, als ihm Pavel die große Nachricht gebracht, den Mund verzogen und gefragt: »Wie kommst du dazu?« Auch der Förster und Anton äußerten im ersten Moment mehr Überraschung als Teilnahme. Was den Verwalter betraf, so sprach er der Frau Baronin gegenüber unverhohlen aus, sie habe sich von ihrer Großmut leider hinreißen lassen. Das Geschenk sei ein viel zu namhaftes und müsse in der Dorfbewohnerschaft Neid gegen den Empfänger erregen und Mißmut gegen die edle Spenderin.

Die Frau Baronin begnügte sich damit, diese Äußerungen der Unzufriedenheit ihres ersten Würdenträgers zur Kenntnis zu nehmen, als jedoch der Herr Pfarrer dasselbe Lied anstimmte und von edlen, aber gar zu spontanen Entschlüssen der Frau Baronin sprach, entgegnete sie: Die Schenkung an Pavel Holub sei die Frucht eines von ihr ausnahmsweise langgehegten Entschlusses und durchaus keine zu großmütige, sondern die genau entsprechende Spende für einen braven, vom Schicksal bisher vernachlässigten Burschen, der überdies der Bruder der mutmaßlich zukünftigen Oberin eines Fräuleinstiftes sei.

Hierauf schwieg der geistliche Herr.

Aus dem Kloster war die Frau Baronin nach mehrtägigem Aufenthalt ganz vergnügt zurückgekehrt, hatte Pavel rufen lassen, ihm zahllose Grüße von seiner Schwester gebracht, ihn wegen seiner Sorgen um sie beruhigt und mit unendlicher Liebe und mit unendlichem Stolz von ihr erzählt. Die alte Frau wurde förmlich schwärmerisch in ihrer Begeisterung über das »Kind«. Der Allgütige selbst hatte ihr, der alten müden Pilgerin, das Kind gesandt, damit es ihr die letzten Lebensjahre erhelle und ihr die Pforten seines Himmels öffne.

»Mache dich einer solchen Schwester würdig«, schärfte sie Pavel ein, und er faßte die besten Vorsätze, nach diesem Ziel, das ihm als das denkbar höchste erschien, zu streben, konnte aber den geheimen Zweifel, ob er auch jemals imstande sein werde, es zu erreichen, nicht loswerden. Doch kämpfte er redlich und wünschte heiß, daß die Frau Baronin und daß seine Schwester nur noch Gutes von ihm zu hören bekämen. Eine große Ängstlichkeit um seinen Ruf begann sich seiner zu bemächtigen. Die Sehnsucht, gelobt zu werden, die Freude an der Anerkennung erwachte in ihm, und er ahnte nicht, daß sie ihn so schwach machte, wie einst sein Trotz gegen die Menschen und seine herausfordernde Gleichgültigkeit gegen ihr Urteil ihn stark gemacht hatten.

»Wer kann mir was nachsagen?« wurde seine stehende Redensart. Ein scheeler Blick, ein rauhes Wort vermochten den sonst gegen die rohesten Äußerungen der Mißgunst Gefeiten zu beleidigen; der Neid, den sein Besitztum erregte und der ihm in früheren Tagen die Freude daran gewürzt hätte, verdarb sie ihm jetzt. Sein Feld wurde zum Räuber seiner Ruhe und seines Schlafes, seine geliebte Qual. Sooft er es nach kurzer Trennung wiedersah, war es in irgendeiner Weise geschädigt worden, und er brachte, um es zu verteidigen, die Energie nicht auf, mit welcher er dereinst seine Ziegel verteidigt hatte. Er wollte nicht, daß der Frau Baronin zu Ohren komme, er habe sich wieder aufs Prügeln eingelassen, und überhaupt sollte sie nie erfahren, wie sehr das Geschenk, das sie ihm gemacht hatte, ihm bestritten wurde.

Einmal fand er einen Teil des mageren, auf seinem Felde stehenden Weizens noch grün abgemäht. In der nächsten Nacht paßte er den Übeltätern auf, die auch wirklich in Gestalt einiger mit Sicheln bewaffneter Weiber und Kinder wiederkamen. Pavel begnügte sich damit, ihnen die Sicheln und die Grastücher abzunehmen, und trug dieselben am nächsten Morgen zum Bürgermeister. Der zeigte sich erfreut über dieses gesetzmäßige und schonende Vorgehen, versprach, den Schaden erheben zu lassen und das Diebsvolk zur Zahlung anzuhalten. Drei Wochen später lagen die Sicheln und Grastücher aber noch immer beim Ortsvorsteher, weil die Mittel, sie einzulösen, fehlten. Pavel ersuchte endlich selbst, sie ihren Eigentümern zurückzugeben, unter der Bedingung, daß die Leute zu ihm kämen, um sich bei ihm zu bedanken. Es geschah nur allzugern; das war ein neuer, ein guter Spaß, so wohlfeil durchzuschlüpfen und sich dann zu bedanken bei Pavel, dem Gemeindekind. Alle, welche den Scherz mitgemacht, fanden ihn so lustig, daß sie beschlossen, sich ihn bald wieder zu gönnen.

Die Diebereien hörten nicht auf, und Pavel fuhr fort, sich ihnen gegenüber erstaunlich wehrlos zu zeigen, während er andererseits eine außerordentliche Tatkraft entfaltete.

Er hätte sich vervielfältigen, an zehn Orten zugleich sein und an jedem seinen Mann stellen mögen. Er rigolte einen Teil seines Feldes und bereitete es vor zur Aufnahme der Kirschbäumchen; er half dem Schmied, wo er konnte; der Förster verließ sich beim Anlegen der Waldkulturen auf niemanden so gern wie auf ihn und meinte, das Forstwesen wäre Pavels eigentliches Fach gewesen, wenn er sich ihm von Jugend auf hätte widmen können. »Und was für ein Schmied wäre er geworden, wenn er etwas gelernt hätte!« sagte Anton. »Aber ein Gemeindekind läßt man nichts lernen; die Grundlagen fehlen, und beim Anfang anzufangen, ist es jetzt zu spät. Er wird sich mit dem schlechten Feld plagen bis an sein Ende und doch nichts Rechtes herausbringen.«

Diese Prophezeiung betrübte Pavel – ihn im Glauben an sein Feld zu erschüttern vermochte sie nicht. Er bestellte den alten Virgil, der sich seinem Pflegesohn, wie er ihn nannte, mit Haut und Haar geschenkt hatte und tagelang neben Lamur auf seiner Schwelle hockte, zum Hüter seines Grundbesitzes, und Virgil übernahm das Amt freudig, vermochte jedoch nicht mehr, es zu versehen. Vor seinen Augen vollzog sich Frevel um Frevel an Pavels Eigentum. Die Vorwürfe, die Virgil deshalb hören mußte, nahm er mit einem verschmitzt-schalkhaften Lächeln hin und sprach: »Geh, Pavlicek, was liegt dir an dem Krempel? … Du kannst ihnen bald die ganze Geschichte hinwerfen, wirst bald ganz andere Grundstücke haben.«

Pavel geriet in Zorn, verwies ihm solche Reden und wandte sich rasch ab, um den Eindruck zu verbergen, den sie auf ihn hervorbrachten.

Der Alte wurde immer aufgeräumter; sein schwaches Lebensflämmchen schien neu aufzuflackern, indes der Sommer hinwelkte. Ein Wunder, das ihn beglückte, war im Begriff, sich zu vollziehen. Er, der gebrechliche Greis, sollte den jungen, starken Peter überleben. Ja, das war das einzige, das ihn freute; er sollte den Peter überleben. Der Arzt machte kein Geheimnis daraus, daß er ihn aufgegeben; alle Leute wußten es; nur Vinska wollte es nicht glauben, und der Kranke selbst sagte: »Ich werde gesund, sobald ich mich ausgehustet habe.«

Peter kämpfte mit dem Tode wie ein Riese; je näher der ihm kam, desto mutiger wehrte er sich.

»Nützt alles nichts«, vertraute sein Schwiegervater jedem, der es hören wollte, an; »der erste Frost nimmt ihn doch mit; der Herr Doktor hat es mir gesagt« – und Virgil konnte den ersten Frost kaum erwarten.

Eines frühen Morgens, im Oktober, schallte der Klang des Zügenglöckleins durch das Dorf. An ein Fenster der Grubenhütte wurde geklopft, und Lamur schlug an. Pavel fuhr aus dem Schlafe; die Tür seiner Stube war geöffnet worden. Virgil stand da, das Gesicht brennrot, die mit einem Rosenkranz umwundenen Hände auf den Stock gestützt, und sprach: »Was sagst dazu, Pavlicek? die Vinska ist eine Wittib.«