Kapitel 1

Kapitel 1

Es ist schon ziemlich lange her, seit ich die Entdeckung gemacht habe, daß ich anfange ungesellig zu werden. Ein gewisser Schrecken bemächtigt sich meiner, sooft mir ein Billett ins Zimmer gebracht wird, das danach aussieht, als ob es eine Einladung oder eine Ansage enthielte. Kein Tag vergeht mir so rasch, hinterläßt mir eine so angenehme Erinnerung wie einer, an dem ich weder einen Besuch zu machen noch zu empfangen brauche. Kein Abend scheint mir besser angewendet als der, den ich in meiner Kaminecke verträume, allein mit meinen Gedanken und mit meiner Strickerei.

Indessen, es gibt eine Ausnahme. Es gibt eine Frau Hofrätin, die mich noch niemals zu sich beschieden hat, ohne daß ich ihrem Rufe mit Freude und Eilfertigkeit Folge geleistet hätte.

Die Hofrätin ist eine liebenswürdige, schöne, ja bildschöne, mehr als siebzigjährige Frau. Edlere Züge lassen sich nicht denken als die ihres zarten, blassen, mit unzähligen Fältchen bedeckten Gesichtes. Die großen hellbraunen Augen haben ihr Feuer längst verloren, aber es spiegelt sich in ihnen der Widerschein eines inneren Lichtes, einer Seele voll Güte, Geist und Adel. Die Lippen sind farblos und schmal geworden, doch umgibt sie im Schweigen wie im Sprechen ein Ausdruck, den man geradezu hold nennen muß.

Ihre Gestalt ist hager und etwas über mittelgroß. Wenn ich meiner alten Freundin auf der Straße begegne, bewundere ich jedesmal die Leichtigkeit ihres Ganges, ihre gerade Haltung, ihre eigentümliche Art, den Kopf zu tragen, so hoch und frei, so ungebeugt von des Lebens Mühen.

Ich liebe sie, das heißt, wir lieben uns, denn sie ist nachsichtig, und ich bin dankbar. Sie tadelt zwar meinen Hang zur Ein- oder höchstens Zweisiedelei, aber sie verzeiht, ja sie unterstützt ihn noch. »Ich lasse es Ihnen wieder sagen, wenn ich nicht zu Hause bin«, beschwichtigt sie regelmäßig meine Klagen über die allzu rasche Flucht eines mit ihr zugebrachten Abends.

Leider jedoch ist sie meistens zu Hause für einen großen Bekanntenkreis, der sich in zwei roten Salons auf gleißenden Atlasmöbeln und unter Kronleuchtern für je achtundvierzig Kerzen um die gastfreie Greisin versammelt. Schöne, mir aber unheimliche Ungeheuer, diese beiden Säle! Es heißt zwar, daß man sich in ihnen sehr gut unterhält, daß gefeierte Menschen darin umherwandeln, Tee trinken und sich dabei so natürlich benehmen, daß man sie von gewöhnlichen Sterblichen kaum unterscheiden kann. Trotzdem fühle ich keine Sehnsucht nach ihrem Anblick. Ein gutgearteter, alter Vogel begleitet gewiß alles, was noch fliegen kann, mit seinen innigsten Segenswünschen; wenn er aber dabei den Kopf unter dem erlahmenden Flügel versteckt, braucht ihm das niemand übelzunehmen.

Was mich betrifft, ich danke für die roten Salons und bin es zufrieden, im grauen Schlafgemach meiner Hofrätin empfangen zu werden.

Das ist mir ein liebes Zimmer! Geräumig, einfach und nett. An den vier Wänden stehen einander ehrlich und gerade gegenüber ein Pfeilerkasten und ein Etablissement, ein schmales Bett und ein breiter Schrank. In dem Pfeilerkasten residieren sicherlich Hüte und Hauben, und den mächtigen Schrank habe ich in Verdacht, trotz seiner eingelegten Flügeltüren und gewundenen Säulen doch nur ein Kleider- und Wäschebehältnis zu sein. Das Etablissement besteht aus einem Kanapee, einem Tisch, zwei Fauteuils und vier Stühlen, alles dünnbeinig, und die Sitzmöbel mit einem Wollenstoff überzogen, auf dem seit unvordenklichen Zeiten indische Schützen ihre Pfeile auf phantastische Vögel anlegen, die, inmitten zierlicher Arabesken thronend, das tödliche Geschoß getrosten Mutes erwarten. – Das Bett ist mit glattem, grünem, auf einen Rahmen gespanntem Zeuge überdeckt, und über dem Bett hängt das Porträt des Herrn Hofrates selig. Ein freundlicher alter Herr im schwarzen Frack mit hoher, weißer Krawatte, das Kommandeurkreuz des Leopold-Ordens an rotem Bande um den Hals. Er trägt einen etwas zu reichen Haarschmuck, der nicht auf seinem Kopfe gewachsen zu sein scheint. Die Augen sind klein, die Nase ist groß, gebogen und messerrückendünn, der Mund eingekniffen, das Kinn spitzig, und man kann nicht genug darüber staunen, daß so scharfe Züge soviel Milde auszudrücken vermögen. Unwillkürlich denkt man: Der hat seiner Umgebung das Leben leicht gemacht! Und diesen Gedanken äußern heißt, der Hofrätin eine Freude bereiten. Sie hat mit ihrem Mann eine sehr glückliche Ehe geführt, obwohl sie ihn dereinst lange schmachten ließ, bevor sie die Seine wurde.

Er hatte sie in Paris kennengelernt, wo sie ihre Jugend als Erzieherin der einzigen Tochter der Herzogin von P. zubrachte und er als Beamter an der österreichischen Botschaft angestellt war. Wie der Blitz schlug die Liebe in sein Herz ein. Von ihrer göttlichen Zuversicht und dem Glauben an Erwiderung erfüllt, warb er um die Hand Fräulein Helenens und erhielt ein wohlgeflochtenes Körblein. Sie sprach ihren Dank für den ehrenvollen Antrag aus und den Entschluß, ihren teuern Zögling nicht zu verlassen, bevor dessen Erziehung beendet sei.

Aus Verzweiflung über die erlittene Enttäuschung stürzte sich der abgewiesene Freier – in die Arme einer hübschen Französin, deren Neigung bis jetzt von ihm verschmäht worden war. Ein paar Jahre hindurch quälte ihn das verwöhnte und kränkliche Geschöpfchen mit eifersüchtigen und andern Launen, dann starb es und hinterließ ihm ein zartes Töchterlein, das sein Dasein erst nach Monden zählte. Bald nach dem Tode seiner Frau wurde der Beamte zu einem höheren Posten befördert und nach der Heimat zurückberufen. Dort setzte er seine Laufbahn fort und erlaubte sich, alljährlich an Fräulein Helene ein ehrfurchtsvolles, ein wenig steif gehaltenes Schreiben zu richten, in dem er nach ihrem werten Befinden fragte und kurzen Bericht über das seiner kleinen Dora erstattete. Darauf wurde ihm regelmäßig eine freundliche Antwort zuteil.

So ging es fort, bis ihm die Kunde zukam, daß die Tochter der Herzogin im Begriff stehe, sich zu verheiraten, und nun beeilte er sich, ihrer Erzieherin seinen vor Jahren gemachten Antrag zu erneuern. Er tat es in warmen Worten und nicht nur in Berücksichtigung des eigenen, sondern auch des Wohles seiner Tochter. Diese setzte zum Zeichen, daß sie den Schritt billige, ihren Namen neben den seinen unter das inhaltreiche Schriftstück. Sie tat es mit Buchstaben, die so groß waren wie Fingerhüte und eine verhängnisvolle Ähnlichkeit mit Runen hatten. Sie gaben Zeugnis von einem bedenklich niedrigen Bildungsgrade des achtjährigen Kindes. Vielleicht trug gerade dieser Umstand zu der Einwilligung bei, mit der die Erzieherin ihren standhaften Bewerber jetzt beglückte. Bald darauf verließ sie das Haus, das ihr in der Fremde ein heimisches geworden war, um daheim ein fremdes zu beziehen. Die alte Herzogin klagte, daß sie zwei Töchter zugleich verliere; man machte für die Zukunft allerlei Wiedervereinigungspläne, allein sie gingen nicht in Erfüllung. Man sah einander nie wieder, blieb aber immer in schriftlichem Verkehr.

Die Nachrichten, die Frau Helene von sich, von Mann und Kind zu geben hatte, waren durchweg gute. Später gesellten sich zu dem Stieftöchterchen eigene Kinder, die von ihrer Mutter sehr geliebt und gut erzogen wurden, nicht mehr und nicht besser jedoch als Dora, für die Helene eine wahrhaft mütterliche Empfindung hatte und bewahrte. Die kleine Familie wurde nach und nach eine große, und als der Tod des Hofrats eine schmerzliche Lücke in dieselbe riß, blieb seine Witwe der Mittelpunkt der Liebe und Verehrung ihrer Kinder und einer zahlreichen, zum Teil auch schon herangewachsenen Enkelschar. Niemals aber erstickte im Herzen dieser Frau das Interesse für ihre Angehörigen jenes für fremdes Wohl und Weh. Sie darf wohl fragen: »Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?« Sie macht das Wort lebendig: »Kommet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid«, und jeder, dem daran gelegen ist, sich bei ihr einzuschmeicheln, der ergreift das sicherste Mittel dazu und hilft ihr – helfen.

So tue auch ich nach meinen schwachen Kräften und werde reich belohnt für die lobsüchtige Emsigkeit, die ich dabei entfalte. Vor kurzem erst bot sich eine Gelegenheit, den besonderen Dank meiner Gönnerin zu verdienen. Sie hatte allen ihren Bekannten aufgetragen, für ein junges Mädchen, das ihrem Schutze empfohlen war, eine Stelle als Erzieherin in einem achtungswerten Hause ausfindig zu machen. Nun ließ mein guter Freund, der Zufall, mich das Gesuchte an einem Tage entdecken, an dem mich die Hofrätin, ein weiblicher Gleim, »auf einen Kuß und einen Kaffee« zu sich geladen hatte.

O große Wonne! Ich brauchte nicht meine herrliche Neuigkeit durch ein völlig gleichgültiges Blatt Papier übermitteln zu lassen, ich konnte sie selbst bringen und glückliche Zeugin der Freude sein, die hervorzurufen ich nicht verfehlen konnte.

Frohlockend trat ich vor die Hofrätin, schwang triumphierend meinen bereits bis zur Hälfte gediehenen Bettlerstrumpf und sprach: »Ich hab’s! ich hab’s!… Eine Stelle, besser als gut … ein Haus, mehr als achtungswert … alle Erwartungen übertroffen!«

Die alte Frau reichte mir beide Hände: »Ah – wirklich – nein – Sie sind … Nehmen Sie Platz!«

Sie setzte sich in die Ecke ihres Kanapees, ich mich ihr gegenüber, auf einen Fauteuil, den ich immer mit Vergnügen einnehme, obwohl er Schuld an manchem blauen Fleck an meinen Ellenbogen trägt.

»Das Haus also mehr als achtungswert? Jetzt bitte ich aber, es mir zu nennen.«

Ich tat es, und sie wurde plötzlich ernst: »Da ist ja kürzlich die Frau gestorben.«

»Ganz recht. Zwei kleine Mädchen sind zurückgeblieben. Allerliebste Kinder, an denen Mutterstelle zu vertreten …«

»Niemand vermag!« fiel sie mir ins Wort. »Niemand auf Erden. Mutterstelle vertritt niemand.«

»Sie sagen das?… Sie?… Ihre Stieftochter ist andrer Meinung.«

Sie beantwortete meinen Einwand nicht. Ich war im Zweifel, ob sie ihn gehört hatte, so vertieft schien sie in ihre eigenen Gedanken. Nach einer Pause des Nachsinnens sprach sie: »Der Vater dieser Kinder ist noch jung, soviel ich weiß … Er wird sich wohl wieder verheiraten?«

»Das glaube ich nicht. Er hat seine verstorbene Frau zu sehr geliebt.«

Ich begann ihn herauszustreichen, soviel ich konnte und mit dem besten Rechte auch durfte. Ich erzählte, welch ein treuer, redlicher Mensch und zärtlicher Vater er sei.

Sie hörte mir aufmerksam zu, allein je mehr ich ihn lobte, desto enttäuschter schien sie zu werden.

»Er trauert um seine Frau, er beschäftigt sich viel mit seinen Kindern. Das ist schlimm«, sagte sie endlich. »Nein, nein – ich danke Ihnen, aber die Stelle paßt nicht für meinen Schützling.«

Ich muß gestehen, daß diese Äußerung mich verdroß und daß ich augenblicklich so unangenehm wurde, wie gutmütige Leute zu werden pflegen, wenn man ihnen eine Gelegenheit verdirbt, sich nützlich zu erweisen.

Eine lange Kontroverse begann. Ich geriet in Eifer, mir scheint sogar, daß ich Bosheiten sagte.

Die Hofrätin bemühte sich, mich zu beschwichtigen. »Ärgern Sie sich nicht«, sprach sie. »Was kommt dabei heraus? – Daß Sie jedes Ihrer Worte bereuen werden und daß ich meine Weigerung doch nicht zurücknehme. Ich habe meine Gründe dafür. Wenn Sie wüßten! – Gute Gründe, aus einer eigenen Erfahrung geschöpft.«

Ich bat sie, mir dieselben mitzuteilen, und sie wollte im Anfang nichts davon wissen. Sie hatte »von dieser Geschichte« nur einmal in ihrem Leben gesprochen, und zwar mit ihrem seligen Mann, am Tage vor der Verlobung. Sie konnte sich nur schwer entschließen, die alten, schlummernden Erinnerungen wiederzuerwecken. Endlich jedoch gab sie meinem Flehen und Drängen nach und begann:

Die Poesie Des Unbewussten


1

Liebe Mama!

7. Juli

 

Das Schloß liegt auf einem Berge, der für unsere Gegend ein Montblanc wäre, hier aber, neben diesen Riesen, nur ein Kind von einem Berge ist. Gegen Osten hin öffnet sich ein grünes Tal; ein Bächlein durchrennt es, weiß wie gepeitschter Seifenschaum. Wenn ich auf den Balkon trete, rauscht ein Meer von grünen Wipfeln zu meinen Füßen. – »Hör ihnen zu, sie begrüßen dich«, sagte Albrecht. War das nicht nett? Mein Mann ist überhaupt so gut! Ich mache jetzt erst seine Bekanntschaft. Eigentlich hast Du mich mit einem fremden Herrn in die weite Welt reisen lassen.

Ich küsse Deine Hände, ich möchte Dir tausend zärtliche Dinge sagen, aber Du liebst das nicht, so sage ich denn nur: Lebe wohl!

Deine Tochter

 

2

 

10. Juli

 

Dank für Deinen teuren Brief; es ist doch grausam, daß ich, um ihn zu beantworten, nur eines der schönen Kärtchen benützen darf, die Du mir mitgegeben hast. Viel zu tun habe ich allerdings. Ich will auch eine Schloßfrau werden wie meine Mutter, eine Stütze und ein Hort für meine ganze Umgebung. Freilich, Du bist schon lange die Gebieterin Deines Hauses, und ich muß mich erst an die Herrschaft gewöhnen. Albrecht mahnt mich oft: »Laß doch das Bitten weg! Der Oberst sagt zu seinen Soldaten: Vorwärts! Wenn er sagen würde: Ich bitte vorwärts zu marschieren, bliebe wohl mancher zurück.« – Aber das ist doch nicht ganz dasselbe, nicht wahr, meine geliebte Mama? – Ich umarme Dich, ich lege mein ganzes Herz in – oder soll ich sagen: auf diese Karte?

 

3

 

13. Juli

 

Mein teures Kind, lasse es nur bei den Kärtchen bewenden, murre nicht gegen meine Anordnungen. Daß ich im ersten Jahre Deiner Ehe durchaus keine langen Briefe von Dir erhalten will, das hat seine guten Gründe, die Dein Mann, der »fremde Herr«, der mir ein so gut bekannter ist, sicherlich würdigen wird, Du brauchst ihn nur danach zu fragen. Mit treuer Liebe

Deine Mutter.

 

4

17. Juli

 

Ich habe Albrecht Deine Karte gezeigt und ihn gefragt: »Weißt du sie zu würdigen, diese Gründe?« – Nun, Mama, er hat mich so ernsthaft angesehen, daß ich ganz bestürzt wurde. – »Natürlich«, war seine Antwort. O Mutter, ich fürchte, mein Mann versteht Dich besser als ich! Ich wagte nicht, ihn um eine Erklärung zu bitten, ich bin ihm gegenüber noch sehr befangen. Er spricht so wenig, er ist ein verschlossener Mensch: das Kennenlernen geht nicht so rasch, als ich anfangs dachte. Es ist doch etwas außerordentlich Imposantes um solch einen großen, schweigsamen Mann. Haben wir es denn genug erwogen, ob ich nicht zu gering für ihn bin, ich armes Ding, das in der Welt und von der Welt nichts weiß?

 

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22. Juli

 

Ich soll trachten, ihn zu unterhalten! Ach, er hat sich mit mir noch nie so gelangweilt, als seitdem ich ihn zu unterhalten trachte. Tagsüber sehe ich ihn nicht, da ist er im Wald oder in der Fabrik. Er kommt erst zu Tische um sieben Uhr. Nach Tische raucht er und liest Zeitungen, und sodann beginnt das große Schweigen. Ein paarmal befolgte ich Deinen Rat und brachte allerlei vor – von Büchern und solchen Sachen. Er hört mir geduldig zu, aber auf mein Geschwätz zu antworten ist ihm nicht der Mühe wert. Kein Wunder auch. Ein Mann wie er! Ein Kind wie ich!

 

6

 

26. Juli

 

Vor drei Tagen dachte ich: Willst doch suchen, ihn ins Gespräch zu ziehen, und fragte ganz direkt: »Wallenstein oder Götz, welchen stellst du höher?« – »Schwer zu bestimmen«, sagte er, machte sein strenges Gesicht und sah aus wie einer, der sich mit Gewalt auf etwas besinnen will. Endlich sprach er: »Ein Buch, das ich sehr gern habe, ist der Siebenjährige Krieg von Schiller. Kennst du’s?« – »Ich nicht, und niemand kennt es.« – »Warum?« – »Weil es nicht existiert.« – »So?…« Seine braunen Wangen wurden noch dunkler; das ist seine Art zu erröten. Hat es ihn verdrossen, daß ich auf seinen Scherz nicht einging? Habe ich eine andere Albernheit begangen? Genug, er stand auf, machte eine Bemerkung über das Wetter und ging sogleich fort. Und seitdem geht er alle Abende fort, und ich sehe ihn fast gar nicht mehr. O hätte ich geschwiegen!

 

7

 

Liebe Schwester!

26. Juli

 

Es geht nicht, wie es gehen sollte. Meine Frau ist eine Vollkommenheit an Güte, an Verstand, an Gelehrsamkeit, in allem und jedem – viel zu hoch für mich, und ihre Meinung von mir auch viel zu hoch!…

Die Augen werden ihr aufgehen, und dann werde ich alles verloren haben; ihre Liebe nämlich ist mir alles, die sie mir auf Treu und Glauben geschenkt hat.

Es ist jeder zu bedauern, der es mit seiner Frau schlecht getroffen hat; ich habe es zu gut getroffen und bin am allermeisten zu bedauern.

Albrecht

 

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28. Juli

 

Gestern machten Albrecht und ich einen Ritt durch das Tal. Es zieht sich lange schmal hin, breitet sich dann plötzlich aus und umfängt sammetne Wiesen und einen kleinen See, den unser Waldbach tränkt, am Ufer des Sees liegt ein Garten und in diesem ein allerliebstes Schlößchen. – »Wem gehört das? Wer wohnt da?« fragte ich. – »Ein Graf Wiesenburg hat es bewohnt.«

– »Hat?« – »Ja. Er starb vor kurzem in Ems.« – »Unverheiratet?« – »Nein.« – »Und seine Witwe?« – »Nimmt ihren Aufenthalt im Auslande.« – »Und dieser reizende Besitz?« – »Steht leer; soll verkauft werden.« – »Steht nicht leer! Die Fahne weht vom Dache, die Gräfin wird angekommen sein …« Da sah ich es, wie sehr man sich in acht nehmen muß, ihm zu widersprechen, besonders – – Verzeih, ich lasse mir’s heute wohlsein und nehme eine zweite Karte.

 

9
(Fortsetzung)

Besonders wenn er unrecht behält wie gestern, denn gar bald bestätigte ein Bäuerlein, das des Weges kam, meine Vermutung: die Gräfin Blanka von Wiesenburg ist zurückgekehrt. – »Siehst du?« rief ich. Albrecht schwieg, biß seinen Schnurrbart und peinigte sein Pferd. Ich konnte es endlich nicht mehr mit ansehen und sagte: »Aber, Albrecht, der arme Fuchs!… Wäre diese Gräfin doch dort, wo das bekannteste aller Gewürze wächst.«

Er warf mir einen Blick zu – – Mama, hört eine Frau jemals ganz auf, sich vor ihrem Mann zu fürchten?

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Teure Mutter!

29. Juli

 

Ich habe erfahren, daß mein Vetter Hans wieder in M. ist und nach wie vor in den Fesseln der Frau von F. liegt. Willst Du ihn nicht zu Dir kommen lassen und ihm ins Gewissen reden? Du verstehst das. Du kannst ihm auch sagen, daß wir uns seiner schämen, Albrecht und ich. Albrecht begreift es nicht, wie ein Mann so ehrlos sein kann, der Frau eines andern den Hof zu machen. Du hättest die Entrüstung sehen sollen, mit welcher er auf meine Frage: »Begreifst du’s?« entgegnete: »Was würdest du zu einem Manne sagen, der das getan hätte?« Ich konnte mich nicht genug beeilen, ihn zu beruhigen: »Verachten würd ich ihn! Er ist ja ein Dieb und Betrüger und in allen Stunden ein Lügner!«

»So ist es! So ist es!« sprach Albrecht mit einem Ausdruck, den ich Dir nicht schildern kann. O Gott, wie edel muß man sein, um solchen Schmerz zu empfinden über die Schlechtigkeit der anderen. Ich stand auf, trat zu ihm und drückte einen Kuß auf seine ehrliche Stirn. Er kann aber Zärtlichkeitsausbrüche so wenig leiden wie Du, und auch das gefällt mir im Grunde. – »Laß, laß«, sagte er und wandte sich ab.

 

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Liebe Schwester!

29. Juli

 

Ich kann nicht fort, sonst hätte ich Dir schon meine Frau gebracht, es würde mich sehr freuen, wenn Du sie kennenlernen würdest, aber ich bin jetzt mein eigener Fabriksdirektor, und dabei wird es noch eine Weile bleiben müssen. Schrecklich ist gewirtschaftet worden in den letzten verwünschten Jahren, das wäre aber alles nichts, damit werde ich allein fertig, es ist etwas anderes.

Daß Blanka im Schlößchen eingetroffen ist!!!

So hält die ihr Wort, und so ist alles aus, wenn meine Frau das erfährt, alles aus, und damit werde ich allein nicht fertig.

Liebe Schwester, laß den Reisewagen einspannen, setz Dich hinein und komme.

Albrecht

 

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Liebe Mama!

1. August

 

Die Schwester Albrechts hat uns mit ihrem Besuche überrascht. Sie ist um zehn Jahre älter als er und ein Fräulein und wird wohl auch nichts anderes mehr werden. Sie ist groß und mager, sehr liebenswürdig, außerordentlich gescheit. Vor Zeiten muß sie wunderschön gewesen sein. Ihre Augen sind es noch, die sehen einen durch und durch. Sie macht gar nichts aus sich, ihre Haltung hat gewöhnlich etwas Nachlässiges; aber manchmal, plötzlich, scheint sie zum Bewußtsein ihres Selbst zu kommen, und da richtet sie sich auf … In solchen Augenblicken fühle ich mich neben ihr – eine Mücke. Meinem Albrecht ist wohl in ihrer Nähe. Nun ja, ein Mann wie er kann leicht aufrecht stehen neben jeder Superiorität.

 

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3. August

 

Mein Mann spricht jetzt mehr als früher, und Emilie weiß immer, was er gemeint hat, wenn er auch etwas ganz anderes sagt. (Denn er ist sehr zerstreut.) Er hat zum Beispiel in eigentümlichem Zusammenhang den Orinoco genannt oder Karl den Großen. Sie läßt sich dadurch nicht irremachen – wie ich mich neulich durch den Siebenjährigen Krieg –, sie nickt zustimmend: »Ganz recht, du meinst den Mississippi«, oder: »Ganz recht, du meinst Karl V.« Und er sagt: »Natürlich«, und freut sich, daß man ihn so gut verstanden hat.

Ja, so mit ihm umzugehen, das muß ich eben lernen!

 

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4. August

 

Meine Schwägerin ist noch am Tage ihrer Ankunft zur Gräfin Wiesenburg gefahren. Es war ihr darum zu tun, ein kleines Versäumnis Albrechts gutzumachen. Er vergaß nämlich, der Gräfin seine Heirat anzuzeigen, was sie übelgenommen hat, wie es scheint. Emilie blieb lange aus, und mein Mann erwartete sie mit außerordentlicher Bangigkeit. Ich möchte mich einmal in Gefahr befinden, damit er sich auch um mich ängstige.

Als Emilie endlich zurückkam, merkte ich ihm viel weniger Freude an, als ich ihm früher Unruhe angemerkt hatte. Er fragte nur: »Etwas ausgerichtet?« – »Eigentlich nein; du mußt hinüber.« Albrecht protestierte, und das freute mich; ein so außerordentliches Wesen seine Schwester auch ist, sie hat ihm doch nicht zu sagen: Du mußt!

 

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6. August

 

Gräfin Blanka hat uns besucht. Denke Dir ein Schneewittchen mit blauen, melancholischen Augen, mit gewellten, seidenen, aschblonden Haaren. Mein alter Musiklehrer (ich lasse ihn herzlichst grüßen) würde sagen: Eine harmonische Erscheinung. Ich war beim ersten Blick von ihr bezaubert, und sie – o Himmel, solang ich lebe, ist mir noch niemand mit solcher Wärme entgegengekommen! Sie ist eine ebenso ausgezeichnete Person wie Emilie, und auch ihr Dasein war reich an Prüfungen; sie war unglücklich verheiratet, sie sagt es selbst, sie ist zutraulich wie ein Kind, obwohl sie schon dreißig Jahre alt sein soll. Wie traurig, daß ich die kaum gewonnene Freundin so bald wieder verlieren werde! Das Schlößchen ist verkauft und Blanka nur hierhergekommen, um ihre Zelte abzubrechen.

 

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8. August

 

Es ist merkwürdig bei uns seit der Anwesenheit Blankas. Sie kommt oft zu mir, möchte mit mir allein sprechen. Ja! ob Albrecht und Emilie uns auch nur einen Augenblick verließen! Ich werde bewacht und behütet … man könnte es nicht anders treiben, wenn Blanka der böse Feind wäre, der auf mein Verderben sinnt. Ich bin nicht mißtrauisch, es geschieht aber alles, um mich dazu zu machen.

 

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10. August

 

Blanka muß einmal eine große Enttäuschung erlitten haben, sie spielt oft darauf an. – »Es gibt keine Treue in der Welt!« sagte sie heute, und Emilie erwiderte: »Das Gegenteil zu beweisen steht jedem frei. Er übe Treue, und sie wird in der Welt sein.« Dabei leuchteten ihre Augen. Aber Blanka hielt den Blick aus (der mich blinzeln macht wie ein Blitz) und lächelte nur und sprach: »Die Lehre mache ich mir zunutze. Ich führe meine Vorsätze treulich aus. Sie glauben doch nicht, daß ich hierhergekommen bin, um Gerümpel einpacken zu lassen? Ich bin gekommen, um Gericht zu halten, und das wird geschehen.« – Nun lächelte auch Emilie, aber etwas säuerlich. – »Gericht halten oder denunzieren?« – »Wie Sie wollen.« – »Bei derlei Affären erweist der Denunziant sich oft als Mitschuldiger.« – »Wer weiß, vielleicht ist ihm alles, sogar die Begeisterung der Unschuldigen und Reinen, feil um die Wollust der Rache …«

Das sind kindische Reden, aber die Damen führen sie mit einem Nachdruck, als ob hinter jedem Wort eine Armee von Gedanken versteckt wäre.

 

18

12. August

 

Habe ich Dir schon erzählt, daß Blanka ein Vergnügen darin findet, meinen Mann zu necken? Mich wundert nur, daß sie den Mut dazu hat. Ja, sie neckt ihn mit seiner … seiner zeitweiligen kleinen Gedächtnisschwäche. Sie behauptet auch, er hätte eine neue Orthographie erfunden. Beim Ordnen verschiedener Papiere (vermutlich ihres Mannes) ist sie auf merkwürdige Schriftstücke gekommen, die sie mir zeigen will – wegen der Orthographie. Sie sagte das so sonderbar, ihre Art und Weise war so herausfordernd – schien Albrecht so peinlich zu berühren, daß es mich verdroß und ich ausrief: »Nur her mit diesen Elaboraten! Ich will sie sehen! Ich habe ohnehin keine Ahnung von dem Stil meines Mannes, wir schrieben uns nicht während unseres kurzen Brautstandes. Nur her also! nur her!« – Da fuhr er aber auf mit einer unbegreiflichen Heftigkeit … Und diese Heftigkeit, und seine finstern, lauernden Mienen … Ich liebe ihn ja unaussprechlich, wenn das aber so fortgeht, werde ich ihn noch mehr fürchten als lieben, und das, Mama – das wird ein Unglück sein.

 

19

Verehrte Schwiegermutter!

15. August

 

Ich bestätige mit ehrerbietigem Dank den richtigen Empfang der Korrespondenzkarten meiner lieben Frau und habe Ihre gute Meinung daraus ersehen. Es ist sehr schlimm, denn ich weiß nicht, was ich tun soll, damit sie nicht so vor mir erschrickt, wenn ich vor ihr erschrecke. Das Gewitter steht über meinem Hause, der Blitz wird gleich einschlagen. Sie wissen alles, ich habe Ihnen pflichtgemäß alles eingestanden, bevor ich um Ihre Tochter, meine liebe Frau, bei Ihnen geworben habe … Meine Situation ist auf das höchste gespannt – soll ich nicht abspannen? – auch ihr alles eingestehen?!

Sie wird mich verachten; raten Sie mir! Es wird alles geschehen, nur mit Worten kann ich meine liebe Frau nicht täuschen, genug schon, zuviel, daß es mit Vertuschen geschieht.

Raten Sie mir!!

 

20

Lieber Schwiegersohn!

18. August

 

Die Frage, ob Sie alles gestehen sollen, haben Sie wohl nicht im Ernst gestellt, deshalb erspare ich mir die Beantwortung derselben; und was das Täuschen anbetrifft, so muß ich sagen, wenn Sie es nicht können, so trachten Sie es zu lernen, denn wie wollen Sie regieren, wenn Sie nicht täuschen können? Und eine Frau nehmen, hat doch regieren wollen geheißen, seit die Welt steht.

 

21

 

Verehrte Schwiegermutter!

20. August

 

Verzeihen Sie, Sie irren sich. Ich habe es ernst gemeint, das mit dem Gestehen. Es ist nicht so kurios, wie es aussieht, weil ich weiß, daß »man« nicht ruhen wird, bevor »man« mich verraten hat. Aber weil Sie es so nehmen, werde ich schweigen. Möge ich es nie bereuen, aber ich werde es bereuen.

Die Reue ist etwas Schreckliches.

Ich bin in ihren Krallen zum Feigling geworden. Könnte übrigens auch auf einmal andere Saiten aufziehen; meine Schwester hält mich ab, sonst hätte ich schon energische Maßregeln ergriffen.

 

22

Lieber Schwiegersohn!

22. August

 

Ihre Schwester hat recht, energische Maßregeln sollen Sie nicht ergreifen, sondern in Gottes Namen, wenn man Sie verrät – sonderbar! ich meine eher sich –, zugeben, daß Sie das Unglück gehabt haben, bei einer Kokette Glück zu haben, sogleich jedoch hinzusetzen, daß der Mann Rechenschaft zu verlangen hat von der Vergangenheit seiner Frau, diese aber nicht von der seinen, in bezug auf Herzensangelegenheiten. Auf Argumente lassen Sie sich, wenn ich Ihnen raten darf, nicht ein, das einzige: »Es war von jeher so«, ausgenommen, das allerdings schwach ist; aber in dieser Sache gibt es wenig starke, und solange die schwachen gelten … Wir wissen von den meisten Münzen, daß sie den Wert, den sie anzeigen, nicht besitzen – da sie jedoch allenthalben für denselben angenommen werden … Sie verstehen mich.

 

23

22. August

 

Alles gut, mehr als gut. Wir waren im Schlößchen, um Abschied zu nehmen, Emilie und ich. Albrecht hatte versprochen, uns nachzukommen, erschien aber nicht. Er hat wieder furchtbar viel zu tun, dachte ich, und entschuldigte ihn auch damit bei Blanka. Statt dessen – wir sind noch gar nicht lange auf der Rückfahrt begriffen, und wen erblicke ich?… Niemand anders als meinen Herrn Gemahl, der am Wege steht und nach uns (wäre ich ganz aufrichtig, ich sagte nach mir) auslugt, hoffend und harrend, wie eine männliche »Spinnerin am Kreuz«. Als wir in seine Nähe kamen, springt er in den Wagen, sieht erst Emilien an, die ihm wie beruhigend zunickt, und dann mich und sagt so freudig: »Also wieder da! Also glücklich wieder da!« als ob ich unversehrt aus der Schlacht oder von einem Ausflug zu den Menschenfressern heimgekehrt wäre. »Was hast du denn gefürchtet?« fragte ich, »der Weg ist ja gut, und die Pferde sind sicher.«

Da nahm er meine Hände in die seinen und sprach das geflügelte Wort: »O mein Herz – lieben heißt fürchten!«

 

24

23. August

 

Sie ist fort, leider fort, wie eine liebliche Erscheinung aufgetaucht und wieder verschwunden. In der zwölften Stunde erwachte Albrechts Gewissen, und er fuhr nach der Eisenbahnstation, um Blanka ins Kupee ein Lebewohl nachzurufen. Er hat einen weiten Weg und kann vor Abend nicht zurück sein. Emilie ist zu Hause geblieben.

Ach, liebe Mama, sie glauben, ich merke nichts, während ich mich im stillen königlich ergötze an allen ihren Schlichen! Albrecht ist nicht nach der Station gefahren, weil ihn danach verlangte, sich bei Blanka zu empfehlen, sondern weil er sich überzeugen will, ob sie auch wirklich fortreist. Emilie spaziert nicht zu ihrem Vergnügen längs der Terrasse auf und nieder, sondern um wie eine Schildwache zu patrouillieren – – – Und während alle diese weisen Vorsichtsmaßregeln getroffen werden, ist das, was sie verhüten sollen – geschehen. Die Briefe Albrechts an den Grafen sind in meinen Händen. Ich habe sie! Ich habe sie!

Emilie ruft, ich will zu ihr. Lebe wohl für jetzt. Mit der Nachmittagspost schicke ich noch eine Karte.

 

25

23. August, nachmittags

 

Wie ich zu den Briefen kam, mußt Du hören. Ein kleiner Junge brachte mir ein Körbchen, gefüllt mit herrlichen Rosen. – »Wer schickt das?« fragte Emilie. – »Der geistliche Herr.« – »Ja so!« Nichts einleuchtender. Wir waren neulich vor dem Garten des Pfarrers stehengeblieben und hatten seine Zentifolien bewundert, und lauter Zentifolien waren es, die, nachlässig hineingeworfen, das Körbchen füllten. Ich freue mich, trage die Blumen in mein Zimmer, um sie in Wasser zu setzen, und siehe da, unter ihnen verborgen liegt ein Zettel und ein versiegeltes Päckchen. Den Zettel schreibe ich Dir ab:

 

»Die Auslieferung dieser Briefe an Sie kostet mich viel – Ihre gute Meinung. Je nun – ich bezahle den Preis, heimsen Sie den Vorteil ein. Das Leben überhaupt, die Ehe insbesondere, ist ein Kampf. Hier sind Waffen.

Blanka«

 

Im Augenblick, in dem sie für immer von uns scheidet, findet sie noch die Stimmung zu einem etwas boshaften Scherz. Er beweist allerdings eine starke Seele, und was sie da schreibt, ist ja recht geistreich; aber ein einfaches warmes Abschiedswort wäre mir doch lieber gewesen.

 

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Meine geliebte Mutter!

24. August

 

Heute muß es ein Brief sein, und heute mußt Du es mir verzeihen.

Ich erzähle von Anfang an, obwohl nur das Ende interessant ist.

Albrecht kam gestern erst nach neun Uhr zurück. Er hatte den Wagen vor dem Hoftor halten lassen und war schon ins Haus geeilt, während ich am Fenster stand und mich fürchtete, weil ein schweres Gewitter aufstieg. Da öffnet sich die Tür, und Albrecht stürzt herein. Ich erschrecke, stoße einen Schrei aus, und – er schreit auch: »Was ist? Was gibt’s? Was hast du?…« Sieht sich im Zimmer um, sieht alles mit einem Blick, auch die Rosen, die neben der Lampe auf dem Tische stehen, und ich, weil sein verstörtes Wesen mich ängstlich macht, plumpse sogleich heraus: »Blanka hat sie geschickt, deine Briefe lagen dabei.«

Er zuckte zusammen wie ein verwundeter Hirsch, sprach kein Wort und fuhr mit beiden geballten Fäusten nach dem Kopf.

»Albrecht! Albrecht!« rief ich, »wie unrecht von dir, wie schrecklich unrecht!« – »Nicht wahr?…« Er stöhnte nur so, und ich weiß selbst nicht, wie es kam, daß ich nicht in Tränen ausbrach über seinen Schmerz, sondern – freilich mit sehr beklommener Stimme – sagen konnte: »Wie unrecht, daß du Geheimnisse vor mir haben, dich mir nicht zeigen willst, wie du bist, mit deinem guten und braven Charakter und mit deiner mangelhaften Orthographie!«

»Du spottest«, preßte er mühsam hervor, und ich entgegnete: »Dich verspotten, weil du nicht Zeit hattest, hinter den Büchern zu hocken? Ein Mann wie du, der Besseres zu tun hat! O Lieber! warum mich täuschen wollen? Was liegt denn mir daran, ob du glaubst, daß die Inster im Nassauischen entspringt und daß Katharina von Medici die Frau Peters des Großen war? Wenn du nur das sicher und gewiß weißt und festhältst und nie vergissest, daß ich deine einzige Freundin und Vertraute bin und sein muß …« – »Auch sein willst?« unterbrach er mich und schnappte nach Luft. – »Willst?… Hab ich da noch zu wollen? Bin ich nicht deine Frau?« Und er: »Das jetzt? Jetzt – nachdem du gelesen hast – –« Er deutete nach dem Päckchen und zitterte, wahrlich, der ganze Mann zitterte, und es war sein Glück, sonst wäre ich ernstlich und unbarmherzig böse geworden. Aber weil er gar so beschämt und reuig aussah, sagte ich nur ein wenig vorwurfvoll: »Gelesen?… Albrecht! wie kannst du es glauben?«

»So hast du nicht?… hast nicht?…«

»Überzeuge dich, ob das Siegel unversehrt ist«, gab ich, und diesmal recht trocken, zur Antwort und steckte ihm die Briefe in seine Brusttasche. – »Und in Zukunft halte es nie mehr für möglich, daß ich wissentlich etwas tue, das dir unlieb ist …«

Nun kommt das Interessante! und daran werde ich denken, solange ich lebe. Statt aufzufahren über meine harten Worte, wie ich erwarten mußte, statt dessen – – – Liebe Mutter, nie hat er vor mir gekniet, nicht als Bräutigam, nicht in der ersten Flitterwoche … In dem Augenblick aber – bevor ich mich besann, bevor ich’s hindern konnte – da lag er zu meinen Füßen, mein bester Mann, mein teurer Herr, und faltete seine Hände wie ein Betender. In seinen Augen glänzten große Tränen, und er rief, und er flüsterte mit lautem Jubel, mit stillem Entzücken: »O mein Weib! mein Kind!«

Kapitel 3

Kapitel 3

 

Es ist eine ausgemachte Sache, daß Kämpfe, die man mit einem solchen Aufwande an Geist, Ausdauer und Temperament führt, wie die Freiherren von Gemperlein taten, nach und nach zum Selbstzwecke werden, während die Veranlassung derselben in den Augen ihrer wackeren Streiter immer mehr an Bedeutung verliert. Wenn Friedrich aufrichtig sein wollte, so mußte er bekennen, daß er hundert Josephen für einen zu standesgemäßen Überzeugungen bekehrten Ludwig gegeben hätte. Ludwig hingegen gestand sich, daß es ihm süßer wäre, von seinem Bruder ein einziges Mal zu hören: Du hast recht, als von seiner Lina: Ich liebe dich!

Nur in ganz bösen Stunden, in denen sie definitiv aneinander verzweifelten, rafften sie sich zu entscheidenden Entschlüssen auf. So geschah es, daß Friedrich eines Tages seine Koffer packen ließ und seine Abreise nach Schlesien für den kommenden Morgen festsetzte, während Ludwig mit sich selbst zu Rate ging, in welcher Weise er Frau Kurzmichel am besten von seinen Gefühlen für ihre Nichte in Kenntnis setzen könnte. Aber – mitten in diese Vorbereitungen hinein fiel ein Wink vom Himmel in Gestalt einer Büchersendung aus Wien. Die Sendung enthielt unter anderem den neuesten Gothaischen Almanach und dieser die Nachricht, daß Frau Gräfin Mutter Einzelnau am 3. August des laufenden Jahres auf Schloß Kwalnow verschieden sei.

Friedrich war von dem schmerzlichen Verluste, den Josephe erlitten, tief erschüttert, und auch Ludwig, der doch keine Ursache hatte, seine Schwägerin zu lieben, versagte ihr in diesem ernsten Augenblicke seine Teilnahme nicht.

»Ah ça! ah ça! meine arme Josephe!« wiederholte Friedrich sechsmal nacheinander und schnalzte dabei energisch mit den Fingern. »Ich bedauere nur meine arme Josephe. Sie ist es, die durch diesen Trauerfall am schwersten betroffen wird. Auf wem ruht jetzt die ganze Last der Haushaltung? Wer ist jetzt die Stütze des Vaters? Wer vertritt jetzt Mutterstelle an den jungen Brüdern? Niemand anders als sie – meine arme Josephe!«

Er gab sich eine Weile schweigend seinen Betrachtungen hin und sprach dann mit würdiger Resignation: »Sie stören in der Ausübung so heiliger Pflichten, in diesem Augenblicke mit selbstsüchtigen Absichten vor sie treten wäre nicht mehr und nicht weniger als eine Roheit! … Anton, auspacken!« befahl er seinem Diener, der im Nebenzimmer eben damit beschäftigt war, die Koffer zu schließen.

Ludwig hatte sich in das Studium des Taschenbuches vertieft und rief plötzlich aus: »Sage mir doch nur, wo ist denn deine Josephe hingekommen? Ich finde sie nicht mehr. Ich finde nur noch einen Joseph, Oberleutnant im 12. Dragonerregimente.«

»Ja, du und der Gothaische Almanach!« sprach Friedrich und nahm mit selbstbewußter Kennermiene seinem Bruder das Buch aus der Hand.

Er überflog die betreffende Stelle, er las, er betrachtete, er magnetisierte sie förmlich mit seinen Blicken, aber – auch er fand seine Josephe nicht. Sie war und blieb verschwunden.

»Was soll denn – was soll denn das heißen?« fragte er in großer Bestürzung und antwortete sich selbst endlich: »Es kann nur ein Druckfehler sein!«

Von neuem begann er seine Prüfung: »Hier fehlt das e – es soll stehen Josephe, nicht Joseph. Der Titel Oberleutnant et cetera gehört meinem Schwager Johann, gehört in die nachfolgende Zeile, ist beim Setzen vermutlich nur zufällig hinaufgerutscht…«

»Dieser Schwager«, meinte Ludwig, »ist erst sechzehn Jahre alt und sollte schon Oberleutnant sein? Das wäre doch kurios… Bei aller Protektion, die der Bursche genießen mag, doch kurios! … Es hat freilich – lies die Geschichte! – im sechzehnten Jahrhunderte einen neunjährigen Bischof von Valencia gegeben…«

»Glaube doch nicht alle diese Klatschereien!« murmelte Friedrich ärgerlich.

»Dennoch«, fuhr Ludwig fort, »halte ich einen sechzehnjährigen Oberleutnant, in unserem Zeitalter, für ein Ding der Unmöglichkeit.«

Sie begannen zu streiten.

Friedrich aber war nicht bei der Sache; er ließ so manche von Ludwigs verwegensten Behauptungen unangefochten und entgegnete auf einen von dessen tollkühnsten Schlüssen: »Ein Druckfehler ist’s. Man täte gut, die Redaktion davon in Kenntnis zu setzen.«

Noch am selben Abende schrieb er vor dem Schlafengehen folgenden Brief:

 

»Verehrliche Redaktion des Genealogischen Taschenbuches der gräflichen Häuser!

Der Unterzeichnete, ein langjähriger Verehrer und Leser Ihres Almanachs, nimmt sich die Freiheit, Ihnen einen peinlich sinnstörenden Druckfehler zu notifizieren, der sich auf Seite 237 des diesjährigen Jahrganges eingeschlichen hat, indem auf der früher von Gräfin Josephe eingenommenen Zeile ein Oberleutnant im 12. Dragonerregimente steht, der offenbar dahin nicht gehört, wovon Sie sich durch Nachschlagung der drei früheren Jahrgänge zu überzeugen die Freundlichkeit haben und mir eine dringend erbetene Aufklärung mit umgehender Post zukommen lassen wollen. Empfangen Sie« und so weiter.

 

Nach wenigen Tagen erschien die »erbetene Aufklärung«. Sie lautete:

 

»Verehrter Freiherr!

Kein Druckfehler, sondern – eine Berichtigung. Herr Graf von Einzelnau – der unserer Publikation nur sporadisch Beachtung zu schenken scheint – wies erst bei Gelegenheit des uns mitgeteilten Ablebens seiner Frau Gemahlin auf den bedauerlichen Irrtum hin, der sich leider durch drei Jahrgänge unseres Taschenbuches geschlichen hat. Unserseits ersuchen wir Sie, die früheren Jahrgänge des Almanachs nachzuschlagen, in denen Herr Graf Joseph als Kadett, Leutnant und so fort eingetragen steht.

Für Ihre Teilnahme dankend, ergreifen wir diese Gelegenheit, um Sie zu bitten, uns jede in Ihrem werten Hause eintretende Veränderung rechtzeitig bekanntzugeben, und zeichnen« et cetera.

 

Die Brüder saßen am Frühstückstische, als die verhängnisvollen Zeilen eintrafen. Lange, nachdem er sie gelesen, hielt Friedrich dieselben vor sich hin und blickte sie an wie ein Landmann seine verhagelte Saat, wie ein Künstler sein zerstörtes Werk. Ludwig, der ihn mit ungeduldiger Bestürzung beobachtete, zog ihm endlich das Blatt aus den zitternden, widerstandslosen Händen, überflog es und brach in ein schallendes Gelächter aus. Plötzlich jedoch hielt er inne, hustete und begann sich mit der »Allgemeinen Zeitung« zu beschäftigen.

Friedrich hatte die Pfeife weggelegt, die Arme über die Brust gekreuzt, die Augen niedergeschlagen. Helle Schweißtropfen standen auf seiner Stirne, die so weiß abstach von seinem übrigen sonnverbrannten Gesichte. Ludwig warf besorgte Blicke nach ihm, räusperte sich immer aggressiver, schleuderte die Zeitung zu Boden und schrie wie besessen: »Das bist halt du! So etwas kann nur dir geschehen! Unter den Millionen, welche die Erde bevölkern, nur dir! … Wenn ich schon ein Narr sein und mir meine Braut im Gothaischen Almanach suchen will, so tue ich’s wenigstens gründlich, gehe ihr nach bis auf ihre Quelle, bis auf ihren allerersten Ursprung; kenne ihre Vorvorgroßeltern ungeboren! Aber du! – Was du tust, kannst du nur kavaliermäßig tun, das heißt – lies die Geschichte! – oberflächlich, leichtsinnig, dumm mit einem Worte! … Gedankenlosigkeit und Gedankenfaulheit – das ist es ja! Daran geht ihr zugrunde, du und dein ganzer vernunftverlassener Stand!«

Jetzt erhob sich Friedrich brüllend wie ein angeschossener Löwe. Der Bann seines Schweigens war gelöst, und im Kampfe, der sich nun entspann, fand er seine Stärke wieder.

Der Einsturz von Friedrichs Luftschlössern hemmte natürlich den Aufbau von Ludwigs sicherem Hause. Wie konnte einer der Brüder daran denken, sich einen behaglichen Herd zu errichten im Augenblicke, in dem der andere vor den Trümmern seines Familienglückes stand? Ludwig verschob die Unterredung mit Frau Kurzmichel auf einen günstigeren Zeitpunkt. In drei, in sechs Monaten, wenn Friedrichs Herzenswunde vernarbt sein würde, dann erst wollte er die eigene Liebesgeschichte mit Eifer betreiben.

Aber – nur zu oft meint der Mensch über sein Schicksal noch entscheiden zu können, während dieses längst über ihn entschieden hat. Diese Erfahrung sollte Ludwig schon am folgenden Sonntage machen.

Da erschien Frau Kurzmichel in großem Staate beim Diner. Sie hatte sich mit ihren berühmtesten Garderobestücken geschmückt: mit ihrem braunen Seidenkleide, dem Hochzeitsgeschenke, das ihr Gatte ihr dargebracht, und mit dem gelben Schal, der noch aus dem Nachlasse der hochseligen Frau Baronin, der Mutter der Freiherren, stammte. Das braune Kleid pflegte die Frau Verwalterin bei jeder feierlichen Gelegenheit anzulegen, den gelben Schal aber nur dann, wenn sie sich in besonders gehobener Stimmung befand. Dies war heute der Fall. Man sah es ihrer verheißungsvollen Miene an, daß sie trotz all der Frische und Originalität, die wie gewöhnlich ihr Gespräch beseelten, das Beste doch, wie der Feuerwerker das Bukett, für den Schluß der Vorstellung versparte.

Beim schwarzen Kaffee erhob sie denn auch unter allgemeinem Schweigen die Stimme und sagte: »Darf ich mir erlauben, Freiherrlichen Gnaden eine Mitteilung zu machen, die zwar nur eine tief- und fernstehende, aber Freiherrlichen Gnaden doch bekannte Persönlichkeit betrifft, indem dieselbe vor einiger Zeit die Gastfreundschaft des herrlichen Wlastowitz genossen hat?«

»Wen meinen Sie?« fragte Friedrich.

»Sie meinen Ihre Nichte Lina Äpelblüh«, sprach Ludwig mit dem divinatorischen Instinkte der Liebe. Frau Kurzmichel verneigte sich beistimmend: »Meine Nichte allerdings – allein nicht mehr Äpelblüh, sondern Klempe, da sie sich vor drei Tagen mit Herrn Notar Klempe in K. verehelicht hat.«

Ludwig fuhr zusammen, und Friedrich rief: »Was der Teufel! Mit dem? Mit dem alten Griesgram?«

»Griesgram«, berichtigte die Verwalterin, »Griesgram ist ein etwas starker Ausdruck, Herr Baron, ich würde kaum wagen, ihn zu gebrauchen. Der Herr Notar hat allerdings viele – Extremitäten, ist aber ein sehr braver Mann, Herr Baron, und wohlhabend…«

»Darum also«, fiel Friedrich geringschätzig ein.

»Nicht darum, Herr Baron – aus Liebe…«

»Aus Liebe?« schrie Ludwig.

»Aus Liebe«, wiederholte Frau Kurzmichel, »zu ihren unbemittelten Eltern und ihren neun unversorgten Geschwistern. Drei davon durfte sie gleich mit ins Haus bringen. Das war ihre Bedingung, sonst hätte sie sich wohl geweigert; denn, du lieber Gott, wenn sie ihrem Herzen hätte folgen dürfen – dieses würde wohl anders – einen anderen – ganz anderen Gegenstand…« Frau Kurzmichel war bewegt, ihre gewohnte Zurückhaltung verließ sie, und sie schloß, hingerissen von Teilnahme und Rührung: »Ich sollte eigentlich – es ist nicht recht, aber jetzt, wo das Opfer vollbracht ist, alles vorbei, die Pforten der Ehe hinter ihr zugefallen sind… ihr Herz, Herr Baron – ist hier zurückgeblieben.«

»Wie? Wo? In Wlastowitz?« sprach Friedrich betroffen, und Ludwig stand auf und verließ das Zimmer.

»Aber Frau«, sagte der Herr Verwalter, »derlei interne Angelegenheiten haben doch kein Interesse für…«

»Frau Kurzmichel«, unterbrach ihn Friedrich, der sehr ernst geworden war, »ich wünsche Sie einen Augenblick allein zu sprechen.«

Frau Kurzmichel errötete, und ihr Gatte, diskret und taktvoll wie immer, entfernte sich sogleich.

Durch einige Zeit herrschte im Saale eine tiefe Stille. Friedrich rieb sich die Stirne und die Augen, riß unbarmherzig an seinem Schnurrbarte und begann endlich: »Können Sie mir sagen… Nun?«

»Befehlen Herr Baron«, sprach Frau Kurzmichel.

»Nun ja«, er vermied ihre Augen, »sagen Sie mir – genieren Sie sich nicht: Wer ist denn der Gegenstand, Sie wissen, den Ihre Nichte –«

»Herr Baron, diese Frage –« stotterte Frau Kurzmichel, ganz erschrocken über die ihr rätselhafte Wichtigkeit, die Lina Äpelblühs Herzensangelegenheiten für den Freiherrn zu haben schienen.

Nach abermaliger Pause sagte Friedrich mit ganz ungewöhnlich sanfter Stimme: »Ich bitte Sie, genieren Sie sich nicht, vertrauen Sie es mir an, Frau Kurzmichel… Wer ist der Gegenstand – Sie wissen –«

»Herr Baron, Sie haben von Vertrauen gesprochen«, entgegnete Frau Kurzmichel, beugte die Schultern etwas vor und legte so recht hilflos und jeden Widerstand aufgebend die Hände in den Schoß… »Wenn Sie von Vertrauen sprechen, Herr Baron, da ist es aus, da kann ich nur antworten ganz schlicht und bündig: Es ist der Amtsschreiber…«

»Nicht mein – –« Beinahe hätte der Freiherr sich verschnappt in seiner ersten Überraschung, »sieh da, der Amtsschreiber, also der Amtsschreiber?!«

Es war ihm sonderbar zumute. Eigentlich freudig, aber eine getrübtere Freudigkeit kann sich niemand vorstellen. Er atmete tief auf, wie befreit von einer schweren Last, und warf dabei einen Blick voll schmerzlicher Zärtlichkeit nach der Türe, aus der Ludwig soeben getreten war.

»Frau Kurzmichel«, sprach er, »wollen Sie mir einen Gefallen erweisen?«

»Oh, Herr Baron, was irgend in der Macht eines redlichen Weibes…«

»An ein unredliches würde ich mich nicht wenden«, fiel Friedrich ein, rückte seinen Stuhl näher zu dem ihren und blickte sie unbeschreiblich gütig und treuherzig an. »Der Gefallen, um den ich Sie bitte, ist: Wenn mein Bruder Sie fragen sollte: An wen hat denn Fräulein Lina ihr Herz verloren? so antworten Sie: Das ist ein Geheimnis – und, Frau Kurzmichel, Sie sterben lieber, als daß Sie es ihm verraten. Schwören Sie mir das, Frau Kurzmichel?«

»Ich verspreche es«, sagte die große Frau und erhob dabei das Haupt wie ein todesmutiger Soldat im Kugelregen: »Versprechen ist Schwur, Herr Baron.«

»Warum ich das von Ihnen verlange«, versetzte er, »das muß ich Ihnen – nehmen Sie es nicht übel – jetzt und immer verschweigen.«

Die Verwalterin erwiderte einfach und edel: »Herr Baron, ich brauche es nicht zu wissen.«

Mit ungeheuchelter Bewunderung reichte ihr Friedrich die Hand: »Ich glaube Ihnen, Sie sind brav!« rief er, sich erlebend, »ich sage es immer, Sie haben so etwas – etwas Antikes, Frau Kurzmichel, etwas Römisches.«

Frau Kurzmichel verbeugte sich und verließ den Saal; in ihrer Brust wogten unendliche Gefühle.

Friedrich begab sich in die Allee hinter dem Schlosse, wo sein Bruder ohne Hut, heftig gestikulierend, auf und ab stürmte und ihn mit den Worten empfing: »Alles hin! – Und wer ist schuld? Du! … Um deinetwillen hab ich mein Glück versäumt, das meine und das Glück des Mädchens, das mich so ungeheuer geliebt hat…«

»Das dich geliebt hat – ja, ja«, wiederholte Friedrich und dachte: Armer Kerl!

Kapitel 4

Kapitel 4

 

Die Nachbarin, mit welcher die Freiherren am eifrigsten verkehrten, war Ihre Exzellenz die Frau Kanzlerin von Siebert, Herrin von Perkowitz.

Diese Dame führte seit fast einem halben Jahrhundert auf ihrem Gute, dem Vermächtnisse ihres verstorbenen Gatten, ein weises Regiment. Sehr jung Witwe geworden, bewahrte sie sich selbst die Unabhängigkeit und dem Andenken ihres »Herrchens« die Treue. Sie verließ den Wohnsitz nicht mehr, an dem sie einige Jahre mit ihm verlebt hatte, und vermählte sich auch nicht wieder, obwohl es ihr an Gelegenheiten dazu nicht gefehlt hatte.

Perkowitz bildete die östliche Grenze des freiherrlich Gemperleinschen Gutes und trieb eine Remise und drei Felder als ebenso viele Keile ins Mark von Wlastowitz hinein. Eine unangenehme Grenze. Eine Grenze, die zeitweilige Reibungen zwischen Nachbarn unvermeidlich macht. Ein verschobener Pfahl, eine schiefgezogene Furche geben auch den Friedfertigsten Anlaß zu Zwistigkeiten und Rivalität. Allein gerade das trug nicht wenig zur Annehmlichkeit des Verkehrs bei, indem es ihm ein prickelndes Interesse verlieh. Die Exzellenz war eine muntere alte Dame von siebenzig Jahren, gesellig wie Madame de Tencin, mit welcher Ludwig sie zu vergleichen liebte. Sie fürchtete nichts so sehr wie die Langeweile, bestimmte den Wert der Menschen nach dem Grade der Huldigungen, die sie ihr darbrachten, und forderte von jedermann die eifrigste Anerkennung ihres nicht gewöhnlichen Verstandes. Hingegen begnügte sie sich, ungleich ihrem berühmten Vorbilde, auch mit anspruchslosem Umgang, wußte einen mittelmäßigen Spaß zu würdigen und kümmerte sich nicht im geringsten um den Verdruß derjenigen, auf deren Kosten er gemacht wurde. Sie befaßte sich überhaupt nicht viel mit Rücksicht auf andere und teilte noch die altmodische Anschauung, »ein guter Mensch« sei nur die höfliche Bezeichnung für »Schwachkopf«.

In den Augen Frau von Sieberts, die sich gewöhnt hatte, auch in wirtschaftlichen Fragen als das Orakel der Gegend zu gelten, waren die »jungen Gemperlein« talentvolle Dilettanten. Sie lachte über die Schwärmerei der Freiherren für ihr Wlastowitz, war aber im Grunde den »feindlichen Brüdern« sehr gewogen. Es ereignete sich nicht selten, daß Friedrich und Ludwig heftig miteinander streitend in Perkowitz erschienen, der Exzellenz die Hand küßten, Fräulein Ruthenstrauch, die Gesellschafterin, und Herrn Scheber, den Sekretär, grüßten, eine Stunde lang weiterstritten, wütend aufsprangen, sich empfahlen und streitend abfuhren.

Die Exzellenz, die während der ganzen Zeit Öl ins Feuer gegossen hatte, indem sie jetzt Friedrich und jetzt Ludwig zurief: »Da haben Sie recht!« – »Da haben wieder Sie recht!« hielt sich die Seiten vor Lachen.

Herr Scheber wirbelte die Daumen, rückte die Perücke, die immer schief auf seinem gurkenförmigen Kopfe saß, in der Absicht, sie geradezurichten, noch schiefer, schwitzte sehr, nahm eine Prise Tabak und seufzte: »Das ist aber doch –!«

Die wasserblauen Augen Fräulein Ruthenstrauchs drückten hilflosen Unwillen aus, ihre bleichen Lippen sprachen zitternd: »Ich dachte schon, sie würden einander in die Haare fahren, ich habe alle Farben gespielt…«

»Bilden Sie sich nichts ein!« rief die Exzellenz. »Die interessante Blässe Ihrer Wangen hat die ganze Zeit über nicht die geringste Veränderung erlitten.«

Mit innigem Ergötzen an den verstörten Mienen ihrer Untergebenen fuhr sie fort: »Was habt ihr für Nerven, ihr zwei! – Mir hat der Lärm wohlgetan. Man hört doch einmal wieder, was die menschliche Stimme vermag. Solch ein Gespräch reinigt die Luft, ich fühle mich erquickt wie nach einem Gewitter!«

An dem Tag, an welchem die Brüder die Entdeckung gemacht hatten, daß sie bereits seit zehn Jahren in Wlastowitz weilten, statteten sie der Exzellenz einen Besuch ab. Die Gesellschaft hatte sich wie gewöhnlich in der Salle à terrain versammelt. In der rechten Ecke des Kanapees, das vor dem runden Tische stand, saß die Herrin von Perkowitz; Friedrich und Ludwig hatten auf zwei Armstühlen Platz genommen. Fräulein Ruthenstrauch wickelte in der Fenstervertiefung Seide ab, Sekretär Scheber hatte sich auf den Rand eines dünnbeinigen Sessels niedergelassen, in respektvoller Entfernung von den hochgebornen Herrschaften und in einer Positur, welche die Mitte hielt zwischen Schweben und Sitzen. Er blickte die Freiherren von Zeit zu Zeit verstohlen an und dachte: Was wird es heute geben?

Aber es gab nichts. Die Brüder waren in weicher, melancholischer Stimmung. Die Betrachtung über die rasche Flucht der Zeit, die Friedrich kürzlich angestellt, hatte einen starken Eindruck in seinem und in Ludwigs Gemüt hinterlassen.

Beide waren sich der entschwundenen Jugend, des versäumten Glückes plötzlich bewußt geworden und fühlten sich eigentümlich bewegt.

Die alte Exzellenz schwang vergebens ihre kleine Erisfackel; die Funken, die sonst wie in ein Pulverfaß gefallen wären, fielen jetzt wie in nasses Gras.

»Wissen Eure Exzellenz«, sagte Friedrich, »wie lange wir nun schon in Wlastowitz leben? – Zehn Jahre sind’s! Ja, seit zehn Jahren genießen wir die Ehre, Ihre Nachbarn zu sein!«

»Erst seit zehn Jahren?« erwiderte sie. »Ich hätte geglaubt, unser Krieg wär schon ein dreißigjähriger.«

»So?« – Friedrich ging mit sich zu Rate, ob dies eine Schmeichelei oder das Gegenteil sei. »Sehen Euer Exzellenz! … Und ich machte erst kürzlich meinem Bruder die Bemerkung, daß die Zeit doch eigentlich sehr schnell… daß ich fände, daß eigentlich – die Zeit – ach, die Zeit…«

Er wußte nicht mehr, was er sagte, sagte es auch nur noch mechanisch hin und verstummte ganz, bevor er ein Ende seines Satzes gefunden.

Aber wenn die Stimme ihm ausblieb, so führten seine Augen eine um so beredtere Sprache. In Worte übersetzt würde sie gelautet haben: O wie schön! … O du grundgütiger Himmel, wie teufelsmäßig schön! … Etwas Schöneres kann man sich nicht denken und gibt’s nicht!

Die Augen aller Anwesenden folgten der Richtung seines verzückten Blickes. In der Türe, die zu den Gastzimmern führte, stand eine hohe weibliche Gestalt. Nicht mehr in der ersten, aber, so wahr einem das Herz aufging bei ihrem Anblicke, in der schönsten Blüte. Sie trug ein einfaches, weißes Kleid, die prachtvollen kastanienbraunen Haare waren, in schwere Zöpfe geflochten, um den edel geformten Kopf gelegt. In der Hand hielt sie einen Strohhut, Handschuhe und Sonnenschirm, und so eigentümlich geschmackvolle, ja wirklich allerliebste Dinge wie diesen kleinen schwarzen Strohhut, diese schwedischen Handschuhe und diesen Sonnenschirm aus ungebleichter Seide meinte Friedrich in seinem ganzen Leben nicht gesehen zu haben.

So hatte ich mir meine Josephe vorgestellt! dachte er. Ludwig dachte: Mit der kann sich nicht einmal meine Lina vergleichen, und beide dachten: Kein Traum kann holder sein! Aber sie hat vor diesem voraus, daß sie nicht zerstiebt beim Erwachen, daß man sie auch mit offenen Augen sehen, ja sogar mit ihr sprechen kann.

Als die Exzellenz ihr die Freiherren nannte und dann zu diesen sagte: »Meine Nichte Siebert«, verneigte sie sich, lächelte und versicherte auf das liebenswürdigste, daß sie »sehr erfreut« sei.

Sie setzte sich zu ihrer Tante auf das Kanapee, in die linke Ecke, neben der Friedrichs Armstuhl stand.

Der ältere Freiherr begann sogleich mit dem schönen Gaste des Schlosses ein lebhaftes Gespräch, während der jüngere tiefsinnig schwieg und die Dame mit ausbündiger Bewunderung betrachtete.

Der Eindruck, den die Erscheinung dieses entzückenden Wesens auf ihn machte, war um so überwältigender, da er ihn in einem Augenblicke innerer Wehrlosigkeit empfing; in einem Augenblicke der Wehmut, der Reue- der Schwäche mit einem Worte!

Es gibt aber auch Zufälligkeiten im Leben, derart merkwürdig, daß man sie für Winke des Schicksals halten muß, und wäre man weise wie Kant und aufgeklärt wie Voltaire. Ich möchte den sehen, der in der Stunde, in welcher er den Verlust einer guten Gelegenheit betrauert, eine hundertmal bessere fände und nicht ausriefe: Fatum! Fatum!

Was Ludwig betrifft, er meinte die Stimme zu hören, die ihm zurief: Da hast du’s wieder, das Glück – das verloren gewähnte! Und dieses Mal greifbar genug. Es wohnt in Perkowitz – es ist die Nichte deiner nächsten Nachbarin!

Er beneidete seinen Bruder recht herzlich um die Beredsamkeit, die dieser entwickelte. Freilich, man muß borniert sein, um vor einem so wunderbaren Wesen mit so hausbackenem Zeug auszurücken. Es geschah indessen mit hinreißendem Ausdrucke. Friedrich sagte: »Solches Wetter im September – das ist ein Segen – da reifen die Trauben – da polarisieren die Rüben!« und sah sie dabei mit Blicken an, die sie förmlich einhüllten in Wohlwollen, und neigte sich über ihre Hände, die auf dem Tische lagen und mit den schwedischen Handschuhen spielten, so tief, so tief, daß man meinte, er werde sie gleich küssen.

Die Dame schien sich des Zaubers, den sie ausübte, wohl bewußt. Sie hätte eine deutsche Lustspiel-Naive sein müssen, um nichts davon zu merken; doch wurde sie dadurch nicht übermütig, sie schien eher ein wenig verlegen, ein bißchen unangenehm berührt.

Wer jedoch die Freiherren mit heller Schadenfreude beobachtete, in wessen Mienen sich der Ausdruck des boshaftesten Triumphes spiegelte, das war niemand anders als Ihre Exzellenz.

Vorderhand war ihr jedoch daran gelegen, ihre wahren Gefühle zu verbergen, und plötzlich hub sie mit ihrer lauten, gedehnten Nasenstimme an: »Ja, was heißt denn das? mein lieber Ludwig? Ich frage Sie schon dreimal, ob Sie Ihre Wolle endlich verkauft haben, und kriege keine Antwort. Was ist denn überhaupt mit euch beiden? Ich weiß nicht, wie ihr mir vorkommt, meiner Treu! … Der eine sitzt da wie Amadis auf dem Armutsfelsen, und der andere… Nehmen Sie sich in acht, Fritz, Sie sehen heute wieder aus, so rot, als sollte Sie gleich der Schlag treffen.«

Den Freiherren war zumute, als ob sie mittelst eines Fußtrittes aus dem siebenten Himmel auf die Erde geschleudert worden wären, und zwar dahin, wo sie am miserabelsten ist. Sie hätten in dem Momente die alte Dame ganz gerne totgeschlagen.

Diese fuhr fort: »Übrigens haben wir miteinander noch ein Hühnchen zu pflücken. Ich wollte Sie bitten, Ihrem Förster die Erlaubnis zu geben, wenigstens manchmal irgendwo anders als an der Grenze zu jagen.«

»Die Erlaubnis?« murmelten die Brüder. »Exzellenz… in der Tat…«

»Als an der Grenze!« wiederholte die Exzellenz scharf und nachdrücklich. »Er patrouilliert Tag und Nacht vor meiner Remise auf und ab und pafft nieder, was sich zeigt – Bock oder Geiß!«

Die Freiherren schrien auf. Die Augen Friedrichs funkelten, und die Ludwigs schossen Blitze. »Ich gebe mein Wort«, sprach der letztere, »daß der Förster entlassen ist, wenn mir die Geiß bewiesen wird.«

»Er vaziert!« rief die Exzellenz und streckte ihre dürre Hand befehlend aus. »Die Geiß ist vorgestern geschossen worden!«

»Exzellenz!« entgegnete Friedrich, kaum mehr Herr seiner selbst, »ich habe das Stück gesehen, es war ein Bock!«

»Es war eine Geiß!« fiel Ihre Exzellenz mit kalter Bosheit ein, und Friedrich schrie wütend… das heißt, er schickte sich an wütend zu schreien, doch blieb es bei der Absicht. Ein Blick seiner schönen Nachbarin verwandelte seine Aufregung in Ohnmacht und seinen Groll in Wonne. Sie sah ihn erschrocken an, flüsterte ihm leise flehend zu: »Ich bitte Sie! Haben Sie Nachsicht mit dem Eigensinn des Alters.«

– Ich bitte Sie! …

Es klang wie himmlische Musik, hinreißend und unwiderstehlich. Nicht nur beschwichtigt, nein, selig neigte er das Haupt vor Ihrer Exzellenz und sprach mannhaft und begeistert wie ein ritterlicher Märtyrer: »Wenn Euer Exzellenz befehlen, so war es denn eine Geiß.«

»Da haben wir’s!« sagte die Tante; die Nichte jedoch legte die Hände wie applaudierend zusammen: »Bravo! Bravo! Sie sind ja außerordentlich liebenswürdig, Baron Gemperlein!«

»In solcher Nähe bemüht man sich wenigstens…« sagte er mit gutmütiger Naivität, und überwältigt von seiner großen, rasch entflammten Sympathie, fügte er hinzu: »Bleiben Sie doch recht lange bei uns, Fräulein!«

Sie hob bei diesem Worte errötend und mit schalkhaft protestierender Miene den Kopf. Schebers Augenbrauen fuhren ihm plötzlich vor Entzücken mitten auf die Stirn; Fräulein Ruthenstrauch stieß in ihrer Fensterecke ein Gekicher aus… Aber die Herrin blickte die beiden Satelliten strafend an. – Schebers Gesicht legte sich sogleich wieder in die gewohnten Angst- und Kummerfalten. Fräulein Ruthenstrauch unterdrückte ihr Gekicher und widerrief es gleichsam durch ein lebhaftes Räuspern.

Die Exzellenz brachte rasch einen neuen Gesprächsgegenstand auf das Tapet und sagte dann, sich an ihren Gast wendend: »Wollen wir den Kaffee im Pavillon trinken, Klara?«

So erfuhren die Brüder, daß die Nichte Frau von Sieberts Klara hieß. Friedrich hatte eine große Freude darüber, begnügte sich aber mit dieser Kenntnis nicht, sondern brachte es, abgefeimt, wie er einmal war, im Laufe des Abends durch geschickt eingeholte Erkundigungen und fein gestellte Fragen so weit, daß er erfuhr, Klara sei die Tochter des Schwagers der Kanzlerin, Herrn von Sieberts, Obersten in sächsischen Diensten. Er jubelte über den Erfolg seiner Forschungen. Dieses Mal wird ihm Ludwig nicht vorwerfen können, daß er sich in ein Phantom verliebt hat, dieses Mal geht er gründlich, praktisch, besonnen an die Vorbereitungen zu einer künftigen möglichen Werbung.

Der Pavillon, in welchem das Abendbrot eingenommen wurde, befand sich auf einer Höhe derjenigen gegenüber, von der aus Schloß Wlastowitz die Gegend beherrschte. Klara erklärte, es sei wunderhübsch gelegen, nehme sich mit seinen weißen Schornsteinen und seinem hohen, französischen Dache sehr freundlich, ja, man könne sogar sagen, imposant aus.

Friedrich meinte ganz beseligt, es käme ihm selbst manchmal so vor. Wlastowitz sei überhaupt ein Aufenthalt, der eigentlich nichts zu wünschen übriglasse… »Eines freilich ausgenommen – eines ja – längst gesucht – nicht gefunden – es fehlt eine…«

»Halt!« unterbrach ihn Klara, »lassen Sie mich raten!«

»Gut, gut, raten Sie… Raten Sie« – wiederholte er leise und blinzelte sie erwartungsvoll an.

»Das wäre eine Kunst, das zu erraten!« sprach die Kanzlerin trocken. »Eine Hausfrau fehlt Ihnen, das weiß ja die ganze Welt.«

Klara versicherte, daß sie auf den Gedanken nicht gekommen wäre, sie lachte, sie scherzte, und, harmlos mitlachend, bemerkte Friedrich die Blicke des Einverständnisses nicht, die Tante und Nichte, Sekretär und Gesellschafterin miteinander wechselten.

Ludwigs Angesicht hatte sich verfinstert. Er schämte sich seines Bruders, er mußte sich zusammennehmen, um ihm nicht laut zuzurufen: Man hat dich zum besten! Das aber ging jetzt durchaus nicht an, und so sagte er nur in tadelndem Tone zu Klara: »Sie besitzen ein sehr heiteres Naturell.«

Sie senkte die Augen und sah plötzlich ganz betroffen aus; erst nach einer kleinen Pause antwortete sie: »Ja«.

Nur: Ja – aber in dem einen Wörtchen lag das freimütigste Eingeständnis, die liebenswürdigste Reue. Ludwig fühlte sich entwaffnet und sagte, schon freundlicher: »Dazu kann man nur gratulieren!«

»Nicht wahr?« sprach sie. »Es ist gut, zu den Leuten zu gehören, die Gott danken, daß er neben den tiefsten Schatten das hellste Licht gestellt hat.«

Ein Zitat, nicht gerade neu, allein ganz charmant gebracht; er mußte ihr seine Anerkennung aussprechen, sie fand eine geistvolle Antwort, und die hohe Meinung, die er sich beim ersten Anblicke von ihr gemacht, war wiederhergestellt. Wie so ganz anders als mit seinem Bruder sprach dieses himmlische Wesen mit ihm! Wie gut wußte sie, mit wem sie es jetzt zu tun hatte, wie gründlich ging sie auf seine gediegenen Erörterungen ein! Er bewies ihr das Vertrauen, das ihr Verstand ihm einflößte, indem er die tiefsten Fragen berührte, mit denen sein Geist sich beschäftigte. Er stellte die drei Kardinalpunkte seiner Überzeugungen auf:

1. Die einzig sittliche Staatsform ist die Republik.

2. Es gibt keine persönliche Fortdauer nach dem Tode.

3. Die Mutter alles Unheils, das je in die Welt gekommen, ist die Phantasie.

Friedrich rutschte in peinlicher Verlegenheit auf seinem Sessel hin und her. – Ein so gescheiter Mensch, dieser Ludwig! aber wie man mit Frauen umgeht, davon hat er keine Idee! … Es tut einem leid, Jesus, wirklich leid um ihn…

Die Kanzlerin fragte laut, wieviel Uhr es sei; Fräulein Ruthenstrauch und der Sekretär gähnten durch die Nase. Es begann kühl und dunkel zu werden; die Gesellschaft begab sich nach dem Schlosse zurück. Im Speisezimmer brannten schon die Lichter, und der Bediente trat an Ihre Exzellenz mit der Frage heran, für wie viele Personen gedeckt werden solle… »Gedeckt? … Wozu? …« fiel ihm die Frau vom Hause ins Wort und wandte sich dann mit unverhohlener Ungeduld zu den Freiherren: »Bleiben Sie auch beim Souper?«

Sie wurde nicht verstanden, denn wie aus einem Munde versicherten die Brüder, daß sie nicht vermöchten, einer so gütigen Aufforderung zu widerstehen.

»Jetzt dauert mir der Spaß lange genug!« sagte Ihre Exzellenz so laut zur Ruthenstrauch, daß diese erschrak und einen langen Blick auf die Freiherren warf. Unnötige Sorge! Sie sahen und hörten nur die schöne Klara. Das Souper wurde auf- und wieder abgetragen: die hartnäckigen Gäste rührten sich nicht.

Die Kanzlerin gab endlich den Befehl, den Wagen der Freiherren, der längst angespannt war, anzumelden. Da erwachten sie wie aus einem Traume und empfahlen sich – beide so verliebt, wie sie bisher nicht geahnt hatten, daß man es sein könne.

Kapitel 5

Kapitel 5

 

Zum ersten Male seit zehn Jahren brachten die Brüder eine schlaflose Nacht zu. Zum ersten Male unterblieb am folgenden Tage der Morgenritt, zum ersten Male frühstückte jeder von ihnen auf seinem Zimmer und streifte dann allein durch Wälder und Fluren. Sie kamen nicht nach Hause zum Mittagessen, worüber Anton Schmidt beinahe in Verzweiflung und die Köchin in solche Aufregung geriet, daß sie eine spanische Windtorte mit Bratensoße statt mit Schokolade übergoß und dem Küchenmädchen, das ihr Versehen zu belächeln wagte, mit sofortiger Entlassung drohte.

Frau Kurzmichel, von den Vorgängen im Schlosse unterrichtet, brachte den Tag in Angst und Sorge zu und wußte keine Antwort auf die unablässig wiederholte Frage ihres Gatten: »Was tun? Was beginnen?«

Angesichts des Unerhörten steht auch der größte Verstand still.

Abends gegen acht Uhr begab sich der Herr Verwalter gewohntermaßen zum Vortrage in das Schloß. Es war darin so still, als würde es nur von Mäusen bewohnt. Anton hatte sich in höchster Angst aufgemacht, um seinen Gebieter zu suchen. Die übrige Dienerschaft saß wispernd und flüsternd in der hellerleuchteten Küche um den warmen Herd.

Kurzmichel durchwanderte vorsichtshalber zuerst die ganze Enfilade. Alles leer, verödet und unheimlich dunkel. Der alte Mann nahm endlich Platz auf dem schwarzen Ledersofa im Vorgemache und wartete, seine Wirtschaftsbücher unter dem Arme. Durch das breite Fenster ihm gegenüber blinkte der Abendstern freundlich herein, während hellgraue Nebel langsam emporstiegen aus den Wiesen im Tale und sich allmählich mit dem schweren Wolkenkranze verbanden, der unbeweglich über den Bergen lag. Kurzmichel begann über alles nachzusinnen, was den Herren begegnet sein konnte, und schreckliche Möglichkeiten stellten sich ihm dar. Vielleicht waren beide verunglückt – vielleicht nur einer – vielleicht einer durch den anderen… Kurzmichel hat so etwas tausendmal befürchtet bei ihrem Temperament, bei ihrer nie gestillten Kampflust! … Vielleicht war es zum Äußersten gekommen, vielleicht ist jetzt einer der Brüder… Nein, der Gedanke ist nicht auszudenken… Kurzmichel bemüht sich, die entsetzlichen Vorstellungen, die ihn bedrängen, durch eine friedliche Geistestätigkeit zu beschwören, und beginnt halblaut das große Einmaleins herzusagen. Dabei jedoch lauscht er fieberhaft gespannt gegen die Treppe hin, und endlich ist ihm, als ließen sich Schritte auf derselben vernehmen. Sie steigen langsam herauf, die Türe des Vorsaales öffnet sich, um eine imposante Gestalt einzulassen, und die Stimme des Freiherrn Friedrich spricht: »Wer ist da? Warum zündest du die Lampe nicht an, du Esel?«

Der Verwalter fühlt sich durch den »Esel« nicht getroffen, denn sein Herr hält ihn offenbar für den Hausknecht; doch kann er nicht umhin zu denken, daß die Freiherren diese für jeden Menschen demütigende Bezeichnung doch etwas seltener gebrauchen sollten.

»Ich bin’s, Euer Hochwohlgeboren«, spricht er, »ich komme, ich erscheine zum Vortrag.«

Ein unartikulierter Laut – das Wort »Vortrag« nachgemurmelt mit einem Akzente, als bezeichne es etwas Ungeheuerliches, nie Gehörtes. Friedrich fährt Herrn Kurzmichel an: »Sprechen Sie mit meinem Bruder!« und gebt an ihm vorüber in den Saal, dessen Tür er kräftig hinter sich zuschlägt.

Mit meinem Bruder! … Kurzmichel atmet und lebt wieder auf, und als der Hausknecht mit dem brennenden Wachsstocke hereinstürzt, die Hängelampe anzündet und forteilt, um weiterhin Licht zu verbreiten, schlägt der Verwalter sich vor die Stirn, als wollte er sie strafen für die tollen Vorstellungen, die sie eben gehegt.

Wieder rasselte die schwere Tür in ihren Angeln, und herein trat Freiherr Ludwig. Er trug den Kopf wie immer hoch und stolz, hatte beide Hände in die Taschen seines langen Überrockes versenkt und schritt geradeso zerstreut wie Friedrich an Herrn Kurzmichel vorüber. »Ich komme zum Vortrage«, sprach dieser. »Sprechen Sie mit meinem Bruder!« rief Ludwig, ohne sich aufzuhalten, ohne ihn nur anzusehen, und warf die Salontür noch kräftiger hinter sich zu, als Friedrich getan.

Herr Kurzmichel kannte die barsche Art seiner Herren, wurde aber immer empfindlich durch sie verletzt. Beim Nachhausekommen erklärte er seiner Gattin, man brauche etwas Unangenehmes deshalb noch nicht angenehm zu finden, weil es einem täglich widerfährt. Die treffliche Frau ließ die Richtigkeit dieser Bemerkung gelten und gewährte ihrem Manne den besten Trost, den es gibt: sie bedauerte ihn.

Die Freiherren nahmen das Abendessen schweigend und hastig ein. Nach demselben zündeten sie ihre Zigarren an, rückten beide ihre Stühle vom Tische weg, wandten einander nicht gerade den Rücken, aber doch die Seite zu und starrten hartnäckig in die Luft. Friedrich war der erste, der einen Laut von sich gab, indem er zu murmeln begann: »Sie-bert – Siebert! … Klara Siebert!«

»Was?« fragte Ludwig.

»Gute Familie«, fuhr Friedrich fort. »Gehört dem ältesten Adel Sachsens an.«

Ludwig entgegnete mit unglaublich sanfter Stimme: »Woher hast du das?«

Sein Bruder sah ihn flüchtig an: »Es ist meine Überzeugung«, antwortete er.

»Ich glaube, daß du irrst«, sagte Ludwig so sanft wie früher. »Die Siebert sind bürgerlich – Papieradel zählt ja in deinen Augen nicht – ganz bürgerlich.«

Friedrich richtete sich auf, schlug heftig mit der Faust auf den Tisch und rief: »Meinetwegen!«

Es trat eine lange Pause ein. Endlich sprach Ludwig, schwer atmend, allein immer noch mit anbetungswürdiger Ruhe: »Du bist verliebt. Ich bin es auch.«

Schmerzlich bejahend, nickte Friedrich mit dem Kopfe. Das Wort überraschte ihn nicht, es war nur die Bestätigung eines ihm bereits bekannten Unglückes.

»Was ist«, fuhr Ludwig fort, »müssen Männer den Mut haben, gelten zu lassen. Nicht wahr?«

»Wahr«, lautete die Antwort.

»Heiraten aber – kann sie nur einer.«

»Auch wahr –«

»Denn – Bruder – –« Ludwig stand auf, drückte die Knöchel der geballten Hände auf den Tisch und schien sich anzuschicken, eine längere Rede zu halten. Aber Friedrich hinderte ihn an der Ausführung dieses Vorhabens, indem er sagte: »Lieber Bruder, was sich von selbst versteht, brauchst du mir doch nicht zu erklären.«

»Das ist also ausgemacht. Höre ferner – höre mich ferner geduldig an. Kannst du mich ferner geduldig anhören?«

»Ich werde sehen. Rede!«

»Heiraten kann sie nur einer. Jetzt aber kommt die Frage: Welcher?«

»Das ist es ja!« Auch Friedrich stand auf, fuhr sich mit beiden Händen in die Haare und setzte sich wieder nieder.

»Ich habe gefragt: Welcher?« sprach Ludwig – »die Antwort auf diese Frage ist die selbstverständlichste der Welt und lautet: Derjenige, für den sie sich entscheidet… Überlassen wir ihr die Wahl –«

»… Ihr – die Wahl? … ihr die Wahl? … Glaubst du nicht, lieber Bruder, daß sie denjenigen wählen wird, der am eifrigsten um sie wirkt? Denjenigen, der ihr zuerst seine Hand anbietet?«

»Ich glaube, lieber Bruder, daß sie denjenigen wählen wird, der ihr besser gefällt. Was werben! … Wirkt der, der ihr nicht gefällt, so schlägt sie ihn aus… So schlägt sie ihn aus –« wiederholte er nachdenklich.

Als die Brüder gestern von Perkowitz fortgefahren waren, hatte Ludwig die Überzeugung mitgenommen, auf Klara einen sehr günstigen Eindruck hervorgebracht zu haben. In der schlaflos durchwachten Nacht jedoch, während des einsam verträumten Tages waren allerlei Zweifel in ihm aufgestiegen. Daß sie seine geistige Überlegenheit über seinen Bruder erkannt habe, blieb ihm ausgemacht. Aber konnte nicht gerade diese Überlegenheit erkaltend auf sie wirken? Konnte nicht vielleicht Friedrichs naives und harmloses Wesen ihr sympathischer sein als sein strenges, unbeugsames? Hatte sie sich nicht gesagt: Dir könnte ich Gattin, ihm Herrin werden, und wer weiß es, vielleicht gehört sie zu den Frauen – es soll auch solche geben! –, die lieber herrschen als beherrscht werden…

Der Vorschlag also, den er seinem Bruder machte, Fräulein Klara zwischen ihnen entscheiden zu lassen, kam aus vollkommen ehrlichem Herzen und aus dem redlichen Wunsche, der qualvollen Ungewißheit, in welcher sie sich befanden, so oder so! ein Ende zu machen.

Friedrich jedoch zögerte! dazu ja zu sagen. Er wußte die Antwort im voraus, die Klara geben würde, wenn man ihr die Wahl freistellte; es schien ihm falsch, treulos, hinterlistig, den armen Teufel, den Ludwig, einer sicheren Enttäuschung und Demütigung auszusetzen. Anderseits – wenn man ihm noch so oft wiederholt: Dich nimmt sie nicht! – wird er es glauben? … Ein schwerer Kampf entspann sich in ihm. Er hätte um alles in der Welt ein anderes Auskunftsmittel finden mögen – aber er fand keines, wie sehr er sich auch quälte. So schwieg er, schwieg um so hartnäckiger, je eifriger und beredsamer Ludwig in ihn drang, entweder seinen Vorschlag anzunehmen oder einen besseren zu machen!

Während er so finster, stumm und gepeinigt dasaß, kam sein Jagdhund, legte ihm den Kopf auf das Knie und begann zu winseln. »Marsch!« rief Friedrich, und als das Tier nicht sogleich gehorchte, gab er ihm einen derben Fußtritt. Der Hund stieß einen kurzen heulenden Laut aus und setzte sich in die Fensterecke; frierend, von Zeit zu Zeit leise winselnd, verfolgte er Friedrich fortwährend mit liebevoll flehenden Augen und trommelte vergnügt mit seinem harten Schwanze auf dem Boden, sobald es ihm gelang, einen Blick seines Herrn zu erhaschen. Dieser brummte: »Verwöhntes Vieh!« erhob sich, holte ein Polster vom Kanapee und schleuderte es dem Hunde zu, der es sogleich mit der Schnauze in die Ecke schob und sich darauf niederlegte.

Ludwig aber brauste plötzlich auf: »Herrgott im Himmel! … Da red ich seit einer halben Stunde in diesen Menschen hinein… Es handelt sich um sein Lebensglück und um meines, und dieser Mensch – spielt mit seinem Hund! …«

Jetzt flammte auch Friedrich auf: »Hab, was du willst! … Gut denn, sie mag wählen! Mir ist’s recht. Aber wenn die Wahl getroffen sein wird, dann – ein Feigling, wer dann rekriminiert…«

»Ein erbärmlicher Feigling!« überbot ihn Ludwig. »Der eine heiratet, der andere sieht zu, wie er mit sich fertig wird.«

»Seine Sache. Mich kümmert’s nicht!«

»Mich noch weniger!«

»Merke dir das!«

Die Freiherren blickten einander erbittert an und stürzten in entgegengesetzten Richtungen aus dem Gemache. So zornig sie auch noch immer waren, empfanden sie es doch als eine Erlösung, endlich wieder ihre Herzen entlastet zu haben von der bedrückenden Qual der Ratlosigkeit.

Kapitel 6

Kapitel 6

 

Am nächsten Tage, die Brüder waren eben von ihrem Morgenritte heimgekehrt, ließ der Herr Verwalter sich bei ihnen melden. Er berichtete, daß der Bote des Amtes Perkowitz soeben im Amte Wlastowitz einen Brief unter der freiherrlich Friedrichschen Adresse hinterlegt habe und…

»Brief« – unterbrach ihn Friedrich – »aus Perkowitz – wo? …«

Kurzmichel übergab einen nett und zierlich gefalteten Zettel und bat, diese Gelegenheit ergreifen zu dürfen, um den gestern versäumten Vortrag…

Aber der Freiherr hörte ihn nicht an. Er hatte das kleine Schreiben hastig aufgebrochen, in höchster Aufregung in allen seinen Taschen nach seinen Augengläsern gesucht – ach! seit einem Jahre konnte er, fatale Geschichte! nicht mehr ohne Augengläser lesen – und war, da er sie nicht fand, mit Riesenschritten in sein Zimmer gestürzt.

»Von wem – der Brief? …« fragte Ludwig dumpf.

»Von Ihrer Exzellenz –«

»Von Ihrer Exzellenz? – –« und Ludwig eilte seinem Bruder nach.

»Einladung!« rief ihm dieser zu. »Ihrer Nichte und uns zu Ehren veranstaltetes Gouter im Waldschlößchen Rendezvous! … Ihrer Nichte und uns… verstehst du? und uns!«

»Aha!« sagte Ludwig und nahm das Briefchen aus Friedrichs Händen Die Schlußzeilen desselben waren viel merkwürdiger als der Anfang. Friedrich hatte sie in seinem Freudentaumel nur nicht recht angesehen: »Wir haben Ihnen ein Bekenntnis abzulegen, dann trinken wir Kaffee auf fernere gute Freundschaft.«

»Wirklich? Steht das?« jubelte Friedrich und hüpfte im Zimmer herum wie ein glückliches Kind.

An diesem Tage klagten die Freiherren nicht über die rasche Flucht der Zeit. Eine Stunde lang warteten beide vor dem Schlosse auf den für drei Uhr nachmittags bestellten Wagen. Pünktlich fuhr um diese Zeit die Equipage in den Hof: ein leichter Phaeton, mit Braunen bespannt, die der Kutscher vom Rücksitze aus lenkte. Sobald Friedrich die Pferde erblickte, runzelte er die Stirn. »Die Hannaken?« fragte er, »wer hat befohlen, die Hannaken einzuspannen?«

»Ich!« antwortete Ludwig, schwang sich auf den erhöhten Kutschersitz und ergriff die Zügel. »Steig ein! Nun – so steig doch ein!«

Aber Friedrich blieb neben den Pferden stehen und musterte sie mit gehässigen Blicken. »Mit denen wirst du Parade machen«, sprach er.

Die Braunen waren seit Monaten die Veranlassung lebhafter Streitigkeiten zwischen den Freiherren. Ludwig, der, wie Friedrich sagte, von Pferden soviel verstand wie ein Faßbinder vom Spitzenklöppeln, hatte sie von einem Bauern ohne Vorwissen seines Bruders gekauft. Als er sie diesem, voll Stolz auf die getroffene Wahl, vorführen ließ, rief Friedrich schon von weitem: »Nichts dran! Gemein!«

»Was gemein? – Nichts ist gemein als der Hochmut. Sie haben Figur!« entgegnete Ludwig.

»Figur – aber kein Blut – und nicht einmal Figur – Beine wie Spinnen – abgeschlagenes Kreuz – Rehhälse – es sind Krampen!«

Ludwig hatte an die Pferde die unsäglichste Sorge und Mühe gewendet, sie in Stroh stellen lassen bis an die Bäuche, mit Hafer vollgestopft – sie longiert, dressiert, eingeführt – alles umsonst! – Sie waren und blieben schlechte Zieher; faul, wenn’s vom Stalle, hitzig, wenn’s nach Hause ging; schreckhaft, nervös, bodenscheu – nichtsnutz mit einem Worte.

Allein Ludwigs Herz hing an ihnen, ihm gefielen sie, und weil er hoffte, daß sie auch Fräulein Klara gefallen würden, hatte er sie heute einspannen lassen.

»Steig nur ein!« wiederholte er, und trotz des innigsten Widerstrebens entschloß sich Friedrich dazu. Schwer genug kam es ihn an! Bei einer Gelegenheit, in welcher man sich gern im besten Lichte zeigen möchte, bei welcher alles an und um einen den Stempel der Solidität und Gediegenheit tragen soll, mit solchem Gespann vorzufahren – dazu gehört etwas! …

Allein er tat’s; er gab nach. Der arme Mensch, der Ludwig, dem vermutlich schon in der nächsten Stunde die bitterste Enttäuschung bevorstand, flößte ihm Mitleid ein, und er ließ ihm denn seinen kindischen Willen.

Sie lenkten durch das Dorf. Trotz Friedrichs dringender Warnung verließ Ludwig am Ausgange desselben die Straße und schlug den Feldweg ein. Der war so schlecht als möglich und wurde im Walde, der den nächsten Bergrücken deckte und hier die Perkowitzer Grenze bildete, sogar gefährlich; da folgte er einem Gerinne und stieg bis zur Erreichung der Wasserscheide steil hinan, rechts vom Hochwalde begrenzt, links jäh anfallend gegen den feuchten Wiesengrund. An seiner schmalsten Stelle war freilich ein Geländer angebracht, doch bestand es nur aus halbvermorschten Birkenstämmen und bedeutete viel eher: Nehmt euch in acht! als: Verlaßt euch auf mich!

Gegen alle Erwartungen Friedrichs hielten sich die Braunen heute merkwürdig gut. Sie liefen leicht und munter in gleichmäßigem Trabe vorwärts, als wüßten sie, daß ihnen die ehrenvolle Aufgabe geworden, ihren Herrn in die Arme des Glückes zu führen. Ludwig betrachtete sie liebevoll und ließ es an schmeichelhaften Zurufen nicht fehlen. Sein Gesicht strahlte vor Freude. Jetzt begann es aufwärts zu gehen, die Last des Wagens wurde den Pferden empfindlich fühlbar: plötzlich drückten beide gegen die Stange, und eines stieß das andere mit dem Kopfe an den Hals, als ob sie sagten: Ziehe du!

Friedrich, der bisher schweigend, mit gekreuzten Armen neben seinem Bruder gesessen hatte, sprach nun, ganz ruhig zwar, aber außerordentlich wegwerfend: »Kommen nicht hinauf.«

»Kommen hinauf!« rief Ludwig.

»Im Schritte schon gar nicht.«

»Nun denn, in einem anderen Tempo!« sprach Ludwig und schnalzte mit der Peitsche. Die Pferde sprangen in Galopp ein, und glücklich gelangte man ein Stückchen weiter. Aber nur zu bald erlahmte der Eifer der Hannaken, ein paar Sätze noch, und sie blieben stehen – der Wagen rollte zurück. Friedrich zwinkerte mit den Augen und stieß ein spöttisches: »Bravo!« aus. Ludwig strich Rüchen und Flanken der Pferde mit wuchtigen Hieben, sie zitterten, schlugen aus und – rührten sich nicht vom Flecke. Der Kutscher stieg ab und schob einen Stein hinter eines der Räder; dabei glitt er aus, fiel, geriet, als er aufspringen wollte, zu nahe an den Wegrand und kugelte den Abhang hinab.

Friedrich lachte, Ludwig fluchte; er warf seinem Bruder die Zügel zu, sprang vom Wagen, schlug wie rasend auf die Braunen los und schrie vor Wut schäumend: »Bestien! … Umbringen… umbringen könnt man sie!«

Die Tiere, stöhnend unter den Schlägen, die auf sie niederhagelten, bäumten sich, ein Ruck – das gegen den Stein gestemmte Rad krachte, der Wagen stand quer über dem Wege. –

Jetzt begann Friedrich die Sache nicht mehr ganz geheuer zu finden. »Du Narr, so wart doch!« rief er und wollte sich von seinem Sitze schwingen, aber Ludwig ließ ihm dazu nicht Zeit Sinnlos vor Zorn, drang er nur wilder auf die Pferde ein. Die warfen sich zurück, prallten an das Geländer, es brach, und die ganze Equipage schlug den Weg ein, den vor ihr schon der Kutscher genommen.

»Prosit!« knirschte Ludwig – aber im selben Augenblicke blitzte das Bewußtsein dessen, was er getan, mit tödlichem Schrecken in ihm auf – und ein fürchterlicher Schrei entrang sich seinen Lippen.

Bleich wie eine Leiche, mit aufgerissenen Augen taumelte er zum Rande des Abhanges hin. Unten lagen die Pferde, in Zügel und Stränge verwickelt, lag der Wagen mit den Rädern in der Luft – von Friedrich war nichts zu sehen.

In verzweifelten Sätzen sprang Ludwig hinunter; der Kutscher kam herbeigehinkt: »Jesus, Maria! Jesus, Maria und Joseph!« winselte er und starrte schreckgelähmt seinen Herrn an, der, aussehend wie ein Toter, die Arbeit von zehn Lebendigen verrichtete.

Er durchschnitt und zerriß die Zügel; als ein Strang sich nicht gleich lösen lassen wollte, schlug er die Wage mit einem Stein in Stücke, er führte einen Faustschlag gegen den Kopf eines der Pferde, welches im Emporringen an den Wagenkasten stieß, daß es zurücktaumelte, als wäre ein Blitzstrahl vor ihm niedergefahren… Nun war der Wagen frei – man sah Friedrich unter demselben liegen, das Gesicht ins Gras gedrückt, das gerötet war von Blut. Ludwig sprang hinzu. Mit Riesenkraft stemmte er sich gegen den Wagen und hob ihn vorsichtig, langsam, half nach mit dem Kopfe, mit den Schultern und schleuderte ihn neben den Mann hin, der bis jetzt seine ganze Last getragen.

Dieser Mann aber atmete tief auf – er lebte! … Ludwig wollte sich zu ihm niederbeugen, die Arme ausstrecken – sie sanken ihm, seine Knie wankten; statt des Namens, den er auszusprechen suchte, drang nur ein gepreßtes Stöhnen aus seinem Munde… Plötzlich hob sich Friedrich auf ein Knie empor, er wischte rasch mit der Hand das Blut ab, das ihm von der Stirne über die Augen floß, sah Ludwig vor sich stehen und – »Da hast du’s! Es geschieht dir recht!« rief er mit einer Stimme, die keinen Zweifel darüber aufkommen ließ, daß der kräftige Gemperleinsche Brustkasten dem erlittenen Schock siegreich widerstanden hatte.

Er richtete sich auf, schüttelte sich, pustete, deutete auf die jämmerlich zerschundenen, mit Blut und Schmutz bedeckten Pferde und sprach: »Die sehen schön aus!«

Ludwig blieb noch immer unbeweglich. Die Augen glühten ihm unter den geschwollenen Deckeln und waren auf seinen Bruder geheftet mit einem Ausdrucke von Wonne und von unaussprechlicher Liebe. »Ist dir nichts?« fragte er heiser und tonlos.

Jetzt sah sich Friedrich den Menschen erst recht an, ein erstauntes und mitleidiges Lächeln glitt über sein Gesicht, er zog das Taschentuch hervor, drückte es an die Stirnwunde und murmelte etwas, das man nicht deutlich verstehen konnte, doch soll das Wort »Esel« darin vorgekommen sein. Dann erfaßte er einen der Hannaken beim Zügelreste, der am Kopfgestell hängengeblieben war, und kletterte mit dem erschöpften, bei jedem Schritte stolpernden Tiere die steile Anhöhe hinauf – – etwas langsamer, als es an einem anderen Tage geschehen wäre. Der Kutscher folgte mit dem zweiten Pferde; zuletzt kam Ludwig, gesenkten Hauptes, mit einer zerbrochenen Wagenlaterne in der Hand, die er mechanisch aufgehoben hatte und festhielt.

Schweigend zog die kleine Karawane eine halbe Stunde später in Wlastowitz ein. Die Pferde wurden in den Stall geführt und dort Anstalten getroffen, den im Tobel zurückgebliebenen Wagen abzuholen.

Friedrich meinte, Ludwig solle sich nur rasch umkleiden und gleich hinüberreiten nach Rendezvous; er selbst werde in einer halben Stunde nachkommen. »Es wäre gescheiter, du gingest heim und machtest dir Eisumschläge«, sagte Ludwig.

Friedrich entgegnete sehr barsch, er sei keine Wöchnerin. Sie zankten ein weniges und gingen dann ins Schloß und jeder auf sein Zimmer.

Zehn Minuten später trabte Ludwigs Reitknecht nach Rendezvous, einen Brief seines Herrn an Fräulein Klara von Siebert in der Tasche. Ludwig blieb zu Hause. Er schritt rastlos in seinen Gemächern auf und ab, in seinem Kopfe ging es zu wie in einem Pochwerke. Jede Ader schlug fieberhaft, jeder Gedanke, den das siedende Gehirn gebar, war Wirrsal, Qual und Pein! Ein Gedanke – der schlimmste – erdrückte alle anderen: Du hast das Leben deines Bruders gefährdet! … Wieviel hat gefehlt, und du wärst jetzt sein Mörder…

Die Glocke rief zum Souper. Er ging in den Speisesaal, wo ihn Friedrich bereits erwartete. Dieser aß mit gutem Appetit; man sprach, rauchte, disputierte sogar – aber das alles ohne echte Freude… Das Herz war nicht dabei.

Viel früher als gewöhnlich stand Ludwig auf und sagte: »Gute Nacht –« Er hätte so gern hinzugefügt: Schlaf gut! oder noch einmal gefragt: Ist dir nichts? Aber Friedrich würde sich geärgert oder ihn ausgelacht haben; so ließ er’s bleiben und ging schweigend aus dem Saale.

Friedrich sah ihm lange wehmütig nach. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Armer Kerl!« murmelte er leise. Er stützte gedankenvoll den Kopf in die Hände und verharrte so eine geraume Zeit. Als er sich endlich erhob und mit entschlossenen Schritten seine Zimmer betrat, leuchtete auf seinem Antlitze der Strahl einer hoben und stolzen Freude über einen großen Sieg – einen Sieg der edelsten Selbstverleugnung und des reinsten Opfermutes. So spät es auch war, sandte Friedrich noch an diesem Abende durch einen reitenden Boten ein Schreiben an Ihre Exzellenz, Frau von Siebert, nach Perkowitz.

Indessen saß Ludwig an seinem Schreibtische und schrieb in schwungvollen Zügen, langsam und feierlich, sein Testament. Er ernannte darin seinen Bruder, den Freiherrn Friedrich von Gemperlein, zum Erben seines gesamten Hab und Gutes, falls er (Ludwig) unvermählt und kinderlos bleiben sollte, was, fügte er hinzu, vermutlich geschehen dürfte. Den Schluß des Aktenstückes bildeten die Worte: »Ich wünsche, wo immer ich sterbe, in Wlastowitz begraben zu werden.«

Nach getanem Werke fühlte Ludwig sich etwas ruhiger. Dennoch duldete es ihn nicht länger in der stillen Stube, es trieb ihn hinaus in die atmende Natur, in die freie, kalte Luft. Die Nacht war dunkel, nur einzelne Sterne glitzerten am Himmel, der Wind rauschte in den Bäumen und trieb die dürren Blätter über den weißlich schimmernden Sand der Wege und knisterte in den tiefschwarzen Massen der Gebüsche.

Ludwig ging mit festen Schritten vorwärts. Noch einmal wollte er jeden Weg im Garten betreten und jeden Lieblingsbaum gegrüßt haben, bevor er, schweren Herzens, Abschied nahm.

Dich zuerst, alte Edeltanne auf der Wiese, die letzte von zehn aus dem Walde verpflanzten Schwestern. Hattest lange gekränkelt und ragst jetzt so stolz in Fülle der Gesundheit. Dich, du edler Walnußbaum, an dem Friedrich nie vorübergeht, ohne zu sagen: »Das ist ein Baum! …« Dann die Araucaria in der Nähe des Lärchenwäldchens – Respekt vor der! Ein Nadelbaum mit Palmennatur – nordische Kraft, vereint mit südlicher Schöne – es ist ein Wunder! … Und du, Zeder vom Libanon, junges, schönstes Fräulein, hast einen grünsamtnen Reifrock an, und die neuen zarten Triebe schmücken deinen Wipfel wie Federn das anmutigste Haupt. Endlich der Zürgelbaum. Ein Nichtkenner geht wohl an ihm vorbei und meint, der gehöre zu der Gattung, die Äpfel trägt – aber der Kenner, ja, der reißt die Augen auf. Der bewundert den moosbedeckten, eisengrauen Stamm, die schlanken Zweige mit den Ästchen, so fein wie Draht, die kleinen seidenweichen Blätter. »Im botanischen Garten in Schönbrunn gibt’s schönere Zürgelbäume, sonst nirgends!« sagt Friedrich.

Hast recht! – Schöneres mag es geben draußen in der Welt, aber nichts Lieberes, als was hier gedeiht, lebt, blüht und welkt. Schade, schade, daß man es verlassen muß. Aber unter den Umständen, die jetzt – wie bald! – eintreten werden, kann Ludwig in Wlastowitz nicht mehr leben.

Er ersteigt noch die Anhöhe am Ende des Gartens, von der aus man hinüberblicken kann auf die Gruftkapelle, die sein Vater errichten ließ. Durch das Gitter des Fensters glänzt ein kleiner, feuriger Punkt, das Licht der Lampe, die über dem Sarge des Vaters brennt – des ersten, der hier ruht.

Ein trauriges Lächeln tritt auf die Lippen Ludwigs; er freut sich, daß er in seinem Testamente den Wunsch ausgesprochen hat, in Wlastowitz begraben zu werden. Friedrich wird schon verstehen, was das heißt… Ich kehre zurück, heißt es, zu dir, dem ich so oft weh getan, dessen Leben ich sogar einmal in Gefahr gebracht – den ich aber doch innigst geliebt habe.

Ganz ruhig, beinahe heiter kam Ludwig nach Hause. Die Fenster von Friedrichs Schlafzimmer waren noch erleuchtet, und an den Gardinen glitt in unregelmäßigen Zwischenräumen ein hoher dunkler Schatten vorüber. Auch du wachst – von Sorgen und bangen Zweifeln gequält. Warte! warte! – Nur noch ein paar Stunden, und du wirst glücklich sein!

Um elf Uhr morgens stieg am folgenden Tage Ludwig vor dem Tore des Schlosses Perkowitz vom Pferde. Ein Diener, der ihn erwartet zu haben schien, führte ihn sogleich durch die Salle à terrain zu der Tür des Gastzimmers, aus dem vorgestern Fräulein Klara wie eine himmlische Erscheinung getreten war. Der Diener pochte, eine teuere Stimme fragte: »Wer ist’s?« und rief, als der Name des Besuchers genannt worden: »Ist willkommen!«

Ludwig stand vor der schönen Klara so beklommen und bewegt, daß es ihm unmöglich war, ein Wort hervorzubringen. Auch sie blieb nicht unbefangen. Der muntere Ton, in dem sie Ludwig gebeten hatte Platz zu nehmen, verwandelte sich nach dem ersten Blicke in das Angesicht des Freiherrn in einen sehr gedrückten.

Sie senkte die Augen, eine leichte Blässe flog über ihre Wangen, und sie sprach stockend: »Herr Baron – es ist – ich bitte…«

Ihre Verlegenheit rührte und ergriff ihn auf das tiefste. Ach, die grausame Sitte! Daß sie unerlaubten Empfindungen verbietet sich zu äußern, das wäre schon recht; daß aber die reinsten, die ein Mensch haben kann, unausgesprochen bleiben müssen, das ist jammervoll! Hätte Ludwig in diesem Augenblicke seinem Gefühle folgen dürfen, er würde die Arme ausgebreitet und gesprochen haben: Komm an mein Herz – liebe Schwester!

Aber das schickte sich nun einmal nicht, und so reichte er ihr nur die Hand und sagte: »Ich habe mir die Freiheit genommen, Sie um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten…«

»Ja, ja«, unterbrach sie ihn hastig, »in einem Briefe, den ich eröffnete, obwohl er eigentlich nicht an mich gerichtet war.«

»Wie?«

»Ich heiße nämlich nicht Fräulein – –«

»Oh«, rief er, »es handelt sich nicht darum, wie Sie heißen. Heißen Sie, wie Sie wollen. Sie sind die Nichte unserer verehrten Freundin und das liebenswürdigste Wesen, das uns je vorgekommen ist. Sie sind gewiß auch edel und gut und werden das Vertrauen nicht mißbrauchen, das mich zu Ihnen führt und mit dem ich Ihnen sage: Sie haben auf den besten Menschen, den es gibt, einen großen Eindruck gemacht – auf meinen Bruder, Fräulein. – Ich komme hierher ohne sein Vorwissen, in der Absicht, Sie günstig für ihn zu stimmen. Ich meine es mit Ihnen nicht minder ehrlich als mit ihm und beschwöre Sie in Ihrem eigenen Interesse: Lassen Sie sich seine Werbung gefallen…«

Er sprach mit solchem Eifer, daß es ihr, wie oft sie es auch versuchte, nicht gelang, ihn zu unterbrechen. Als er nun schloß: »Versäumen Sie die Gelegenheit nicht, die glücklichste Frau der Welt zu werden!« gab ihre Ungeduld ihr den Mut, mit Entschlossenheit zu sagen: »Diese Gelegenheit ist aber schon versäumt, Herr Baron, ich bin verheiratet.«

Er fuhr von seinem Sessel auf, mit einem Entsetzen, das sich nicht schildern läßt. »Sie scherzen«, stammelte er; »das kann nicht sein – das ist ja unmöglich!«

»Warum?« fragte sie. »So gut wie Ihr Herr Bruder kann auch ein anderer mich annehmbar gefunden haben, zum Beispiele mein Vetter Karl Siebert, der mich vor etlichen Jahren heimgeführt. Warum glaubten Sie, daß ich bis jetzt sitzengeblieben sei? Denn, erlauben Sie mir, für ein Fräulein wäre ich doch etwas bejahrt.«

Ludwig blickte sie wehmütig an und sprach: »So schön, so liebenswürdig, so geistvoll und – schon verheiratet!«

»Und wenn Sie wüßten wie lange!« versetzte sie, und all ihre Munterkeit und ihr guter Humor hatten sich wieder eingefunden.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau«, sagte Ludwig, »es wäre besser gewesen, wenn Sie die Gewogenheit gehabt hätten, uns das früher mitzuteilen.«

»Haben Sie danach gefragt? Mit welchem Rechte durfte ich Sie mit meinen Familienangelegenheiten behelligen?« war ihre schlagfertige Entgegnung.

Er sagte nur noch: »O gnädige Frau!« und empfahl sich ehrerbietig; ihr aber – seltsam! –, ihr verging dabei ganz und gar die Lust, über den sonderbaren Herrn zu lachen.

Sie eilte ihm nach, erreichte ihn, als er eben die Schwelle betrat, sie sagte herzlich und warm: »Leben Sie wohl, Herr von Gemperlein!« und bot ihm zum Abschied die Hand. Ludwig wandte den Kopf und tat, als ob er es nicht sähe, er grüßte nur noch einmal tief, und die Türe schloß sich hinter ihm.

Im Vestibül kam, aus ihrem zu ebener Erde gelegenen Schreibzimmer tretend, Frau von Siebert dem Freiherrn entgegen.

»Ja, was machen denn Sie hier?« fragte die Exzellenz. »Warum kommen Sie denn selbst? Ihr Abgesandter hat schon Bescheid erhalten.«

»Wen meinen Euer Exzellenz?«

»Den Fritz mein ich. Er war da vor einer halben Stunde als Freiwerber für Sie.«

»Für mich?«

»Und was für einer! Wenn Sie einmal wieder heiraten wollen – sprechen Sie ja nicht selbst – lassen Sie den Fritz für Sie sprechen. Ich war ganz erschüttert – bedauerte nicht wenig, sagen zu müssen: Es ist zu spät!«

Ludwig faßte sich mit beiden Händen an den Kopf: »Dieser Friedrich! Das ist ein Mensch!« rief er.

Aus seiner Stimme klang eine so mächtige Rührung, daß die Exzellenz förmlich davon ergriffen wurde; sie suchte sich der ihr unangenehmen Empfindung rasch zu entziehen, trat dicht vor Ludwig hin, zupfte ihn am Ohr und sagte: »Nichts für ungut! Fast tut’s mir leid, daß wir euch den Streich gespielt. Die Klara wollte ohnehin nicht dran; aber ich habe sie gezwungen, ich mußte Rache haben für meine Geiß.«

»Euer Exzellenz!« entgegnete Ludwig, »ich kann Ihnen die Versicherung geben: es war ein Bock.«

»Mag es gewesen sein, was immer – das Jagdvergnügen an meiner Grenze will ich eurem Förster versalzen.«

Damit schieden sie. – –

Ein paar Monate nach diesem Ereignisse begannen die Brüder abermals allerlei Heiratsprojekte zu schmieden.

»Du solltest doch endlich heiraten!« sagte von Zeit zu Zeit einer zu dem anderen. Sie stellten manchmal Betrachtungen über ihr Schicksal an.

»Es ist wirklich sonderbar«, meinte Ludwig. »Als ich mit der Äpelblüh Ernst machen wollte, trat sie gerade an den Traualtar, und als wir daran dachten, jene Nichte zu unserer Hausfrau zu machen, war sie bereits seit zehn oder wieviel Jahren verheiratet, und ich müßte mich sehr irren«, fügte er geheimnisvoll hinzu, »wenn sie nicht auch schon Nachkommenschaft besaß.«

Friedrich bemerkte, daß sich im Leben, mit mehr oder weniger Unterschied, doch alles wiederhole. Sie seien einmal bestimmt, die erstaunlichsten Liebesabenteuer zu haben; unter den vielen, die ihnen noch bevorständen, werde sich schon dasjenige finden, das in den Hafen der Ehe führt.

Trotz dieser Voraussicht und trotz des guten Vorsatzes, ihren Stamm in Ehren zu erhalten, hat keiner der Brüder sich vermählt. Sie sind hinübergegangen, ohne einen Erben ihres Namens zu hinterlassen, und so ist denn, wie so vieles Schöne auf dieser Erde, auch das alte Geschlecht derer von Gemperlein – erloschen.

Kapitel 1

Kapitel 1

Das Geschlecht der Gemperlein ist ein edles und uraltes; seine Geschicke sind auf das innigste mit denen seines Vaterlandes verflochten. Es hat mehrmals glorreich geblüht, es ist mehrmals in Unglück und Armut verfallen. Die größte Schuld an den raschen Wandlungen, denen sein Stern unterworfen war, trugen die Mitglieder des Hauses selbst. Niemals schuf die Natur einen geduldigen Gemperlein, niemals einen, der sich nicht mit gutem Fug und Rechte das Prädikat »Der Streitbare« hätte beilegen dürfen. Dieser kräftige Familienzug war allen gemeinsam. Hingegen gibt es keine schrofferen Gegensätze als die, in welchen sich die verschiedenen Gemperlein-Generationen in bezug auf ihre politischen Überzeugungen zueinander verhielten.

Während die einen ihr Leben damit zubrachten, ihre Anhänglichkeit an den angestammten Herrscher mit dem Schwerte in der Faust zu betätigen und so lange mit ihrem Blute zu besiegeln, bis der letzte Tropfen desselben verspritzt war, machten sich die anderen zu Vorkämpfern der Revolte und starben als Helden für ihre Sache, als Feinde der Machthaber und als wilde Verächter jeglicher Unterwerfung.

Die loyalen Gemperlein wurden zum Lohne für ihre energischen Dienste zu Ehren und Würden erhoben und mit ansehnlichen Ländereien belehnt, die aufrührerischen zur Strafe für ihre nicht minder energische Widersetzlichkeit in Acht und Bann getan und ihrer Güter verlustig erklärt. So kam es, daß sich dieses alte Geschlecht nicht, wie so manches andere, eines seit undenklichen Zeiten von Kind auf Kindeskind vererbten Stammsitzes zu erfreuen hatte.

Am Schlusse des achtzehnten Jahrhunderts gab es einen Freiherrn Peter von Gemperlein, der, der erste seines kriegerischen Hauses, dem Staate als Beamter diente und noch am Abende seines Lebens ein hübsches Gut in einer der fruchtbarsten Gegenden Österreichs erwarb. Dort schloß er hochbetagt, in Frieden mit Gott und mit der Welt, sein Dasein. Er hinterließ zwei Söhne, die Freiherren Friedrich und Ludwig.

In diesen beiden letzten Sprossen schien die im Vater verleugnete Gemperleinsche Natur sich wieder auf sich selbst besonnen zu haben. Sie brachte noch einmal, und zwar, was sie früher nie getan, in demselben Menschenalter, die beiden Typen des Geschlechtes, den feudalen und den radikalen Gemperlein, hervor. Friedrich, der ältere, war, seiner Neigung folgend, in der Militärakademie zu Wiener-Neustadt zum Waffenhandwerke ausgebildet worden. Ludwig bezog im achtzehnten Jahre die Universität in Göttingen und kehrte im zweiundzwanzigsten, mit einer prächtigen Schmarre im Gesichte und mit dem Ideale einer Weltrepublik im Herzen, nach Hause zurück.

Genau fünfzehn Jahre eines hartnäckigen, mit Kraft und Kühnheit geführten Kampfes brauchten die Brüder, um einzusehen, daß für sie in der Welt nichts zu suchen, daß Friedrichs Zeit vorüber und Ludwigs Zeit noch nicht gekommen war.

Der erste legte sein Schwert nieder, müde, einem Monarchen zu dienen, der in Eintracht leben wollte mit seinem Volke, der zweite wandte sich grollend von seinem Volke ab, das seinen Nacken willig und vergnügt dem Joche der Herrschaft beugte.

Zu gleicher Zeit bezogen Friedrich und Ludwig ihre Besitzung Wlastowitz und widmeten sich mit Liebe und Begeisterung der Bewirtschaftung derselben.

Wenn auch so verschieden voneinander wie Ja und Nein, begegneten sich die Freiherren doch in einem Kapitalpunkte: in der unaussprechlichen Anhänglichkeit, die sie nach und nach für ihren ländlichen Aufenthaltsort faßten.

Kein überzärtlicher Vater hat jemals den Namen seiner einzigen Tochter in schmelzenderem Tone ausgesprochen, als sie den Namen Wlastowitz auszusprechen pflegten. Wlastowitz war ihnen der Inbegriff alles Guten und Schönen. Für Wlastowitz war ihnen kein Opfer zu groß, kein Lob erschöpfend. »Mein Wlastowitz«, sagte jeder von ihnen, und jeder hätte es dem anderen übelgenommen, wenn er nicht so gesagt haben würde.

Bald nach ihrer Ankunft hatten die Brüder beschlossen, das väterliche Erbe in zwei gleiche Hälften zu teilen. Das Schloß mit seinen Dependenzen sollte im Besitze Friedrichs verbleiben, der dafür die Verpflichtung übernahm, für Ludwig inmitten von dessen Grundstücken das Blockhaus errichten zu lassen, in welchem dieser an der Spitze der Familie, die er gründen wollte, zu leben und zu sterben gedachte.

Die Teilung wurde vielfach und hitzig erörtert, sie jedoch wirklich zu vollziehen, hoho! das überlegt man sich. Einen solchen Entschluß faßt man wohl; ihn auszuführen, verschiebt man gern von Jahr zu Jahr. Auf welches Stück, welchen Fußbreit, welche Scholle der geliebten Erde sollte einer der Brüder freiwillig verzichten? Jedem wäre der Grenzstrich, der Mein und Dein voneinander geschieden und das Gut, das als Ganzes einzig und vollkommen war, in zwei unvollkommene Hälften gespalten hätte, mitten durch das Herz gegangen.

Nichtsdestoweniger war seit langer Zeit die Grenze zwischen Ober- und Unter-Wlastowitz in der Katastralmappe verzeichnet, lag der Plan zu Ludwigs Blockhause wohlverwahrt im Archiv, und einmal geschah es… aber wir wollen der ohnehin unausbleiblichen Katastrophe dieser wahrhaftigen Familiengeschichte nicht vorgreifen.

Das Leben, welches die Freiherren auf dem Lande führten, war ein äußerst regelmäßiges. Schon am frühen Morgen verließen beide das Schloß und richten zusammen im Sommer auf das Feld, im Winter in den Wald. Doch ereignete es sich gar selten, daß sie auch zusammen heimkehrten. Meistens kam Friedrich zuerst, mit hochgeröteten Wangen und blitzenden Augen, durch die gegen Norden gelegene Kastanienallee im Schritte nach Hause geritten. Sein ehemaliger Privatdiener und jetziger Bedienter Anton Schmidt erhielt den Befehl: »Frühstück auftragen!« mit dem zornig klingenden Zusatze: »Für mich allein!«

Anton begab sich an die Küchentür, wartete ein Weilchen und rief dann plötzlich dem Weibervolke am Herde zu: »Das Frühstück für die Herren!«

Das war der Moment, in welchem Ludwig auf schaum- und schweißbedecktem Pferde durch das gegen Süden gelegene Tor in den Schloßhof sprengte. Sein schmales, feines Gesicht war so gelb wie eine Weizenähre um Peter und Paul, die hohe Denkerstirne schwer umwölkt. In gebieterischer Haltung betrat er den Speisesaal. Dort saß Friedrich, viel zu sehr in die »K.K. ausschl. priv. Wiener Zeitung« vertieft, um das Erscheinen seines Bruders wahrnehmen zu können. Dieser entfaltete sofort die »Augsburger Allgemeine« und hielt sie mit der linken Hand vor sich hin, während er mit der rechten den Tee in seine Tasse goß. Eifrig wurde gelesen, hastig gefrühstückt und sodann aus türkischen Pfeifen kräftigst geraucht. Die beiden Freiherren saßen einander gegenüber auf ihren steiflehnigen Sesseln, die Zeitungen vor den Gesichtern, vom Wirbel bis zur Sohle eingehüllt in schwere Rauchwolken, aus denen von Zeit zu Zeit ein Fluch, ein zürnender Ausruf als Vorzeichen nahenden Gewitters sich vernehmen ließ.

Auf einmal rief’s da oder dort: »Oh, diese Esel!« und eine Zeitung flog unter den Tisch. Die politische Debatte war eingeleitet. Gewöhnlich gestaltete sie sich stürmisch und schloß nach beiläufig viertelstündiger Dauer mit einem beiderseitigen: »Hol dich der Teufel!«

Es gab aber auch Tage, an denen Ludwigs besonders gereizte Laune Abwechslung in die Sache brachte. Da führte er Reden, so persönlich giftig und beleidigend, daß Friedrich sie zu beantworten verschmähte. Sein offenes, sonst so freundliches Gesicht nahm einen starren Ausdruck an, ein Zug von unversöhnlichem Grimme legte sich um seinen Mund; jedes Haar seines Schnurrbartes schien sich trotzig emporzusträuben; er stand auf, ergriff seinen Hut, rief seinen braunen, kurzhaarigen Jagdhund und verließ schweigend das Zimmer. Sein breiter Rücken, seine mächtigen Schultern waren etwas gebeugt, als trügen sie eine schwere Last.

Ludwig bemerkte es, obwohl er ihm nur flüchtig nachsah, murmelte einige unverständliche Worte und las seine Zeitung mit all der Aufmerksamkeit zu Ende, die ein Mensch, dem die Herrschaft über seine Gedanken so ziemlich abhanden gekommen ist, aufwenden kann. Bald jedoch erhob er sich und begann mit dröhnenden Schritten im Gemache auf und ab zu schreiten. Seine Miene wurde immer finsterer; er warf den Kopf zurück; er nagte an der Unterlippe; er richtete seine schlanke Gestalt immer kühner und herausfordernder auf.

Wonach verlangte ihn denn noch als nach Ruhe und Frieden! Hier hatte er gehofft, ihrer teilhaftig zu werden. Ja, eine saubere Ruhe, ein sauberer Frieden! Um die zu finden, braucht man sich nicht zurückzuziehen in die Einöde, sich nicht zu vergraben in geisttötende Abgeschiedenheit. Wenn es aber schon nicht anders ist, wenn du recht hast, o Seneka! wenn leben kriegführen heißt und durchaus gestritten sein muß, dann sei es auf würdigem Kampfplatze; dann sei es in der Welt, wohin ein Mann gehört, den das Schicksal mit ungewöhnlicher Ausdauer und mit ungewöhnlichen Geistesgaben gesegnet oder – heimgesucht hat.

Ludwig ging langsam die Treppe hinab. Sein struppiger, immer verdrießlicher Pinscher folgte ihm bellend nach.

Unter dem Tore blieb der Freiherr stehen und sah sich einmal wieder die Gegend an. Die grünen Höhen, die in sanften Wellenlinien den Horizont ziemlich eng umgrenzten, mahnten sie nicht: Stecke dir nicht allzu weite Ziele! Was wir umschließen, ist auch eine Welt, aber eine stille, aber die deine – laß es dir gefallen in unserer Hut!

Auf einem der Ausläufer des Gesenkes lag der freundliche Hof, der den Stolz des Gutes Wlastowitz, die Elite der Negretti-Herde, beherbergte. Wie ein Schlößchen, stilvoll und blank, nahm er sich aus inmitten stattlicher Pappelbäume. Die sanft abgleitende Hügellehne nebenan, noch vor dreißig Jahren ödes Land, war jetzt in einen Obstgarten verwandelt. Dank dem treuen Vater, der ihn gepflanzt! Nicht für sich wahrlich, er sollte in seinem Schatten nicht mehr ruhen, sich an seinen Früchten nicht mehr erfreuen, für die Söhne, deren er stets gedachte und die er so selten sah, für die Söhne, die ferne von ihm ihre ehrgeizigen Ziele verfolgten und – wie vergeblich! – dauerndes Gut, dauerndes Glück im wechselvollen Leben suchten.

Nun standen die Birnbäume in der Fülle ihrer Kraft, die Apfel- und die Pflaumenbäume streckten ihre schwerbeladenen Äste breit um sich, und die zierlich schlanken Kirschbäume, was für Früchte hatten die in den letzten Jahren getragen! Groß wie Nüsse und saftig wie Weintrauben. Ja, die Kirschen in Wlastowitz, die schmecken nicht nur den Kindern.

Und die Felder ringsum – im Frühling ein grünes, im Sommer ein goldenes Meer, im Herbste aber erst recht eine Wonne für das Auge des Ökonomen! Neue Verheißung nach der reichsten Erfüllung… Ja, der Boden in Wlastowitz! Gestürzt, geeggt, gewalzt, so fein wie der des sorglichst gepflegten Beetes in einem Blumengarten, so aromatisch wie Spaniol … schnupfen könnt man diese Erde!

Ludwigs Blicke schwelgten in all den Herrlichkeiten, und die Falten auf seiner Stirn, die hochgehenden Wogen in seinem Innern glätteten sich. Ein kurzer Kampf noch, noch ein Versuch, den Zorn, die Entrüstung festzuhalten, die ihm abhanden zu kommen drohten, dann war’s vorbei: – »Wo ist mein Bruder?« fragte er den ersten, der ihm begegnete, und machte sich die erhaltene Auskunft schleunigst zunutze.

Um zwei Uhr kamen die Herren, natürlich streitend, aber doch zusammen, vom Felde zurück und setzten sich zu Tische. Nachmittags widmeten sie sich der Erziehung ihrer Hunde und Pferde, nahmen eine Rekognoszierung des Gutes oder eines Teiles desselben vor und besprachen mit Herrn Verwalter Kurzmichel das morgige Tagewerk. Den Schluß des heutigen bildete ein allerschwerster, mit der allergrößten Erbitterung geführter Streit über religiöse, politische oder soziale Fragen. Sehr aufgeregt und einander ewigen Widerstand schwörend, gingen die Brüder zu Bette.

Das war im großen ganzen, abgesehen von den Veränderungen, welche die jeweilige Jahreszeit, die Jagden, die Besuche in der Nachbarschaft mit sich brachten, die Lebensweise der Freiherren von Gemperlein.

Einem oberflächlichen Beobachter mochte sie nicht besonders reizend erscheinen, der tiefer eindringende jedoch mußte zugeben, daß sie auch angenehme Seiten habe. Die angenehmste war die hohe Achtung, in welcher die Brüder bei ihrer Umgebung standen. Mochte sich auch ein guter Teil Furcht in diese Achtung mischen, das nahm ihr nichts von ihrem Werte. Welcher von den beiden Herren strenger gegen seine Diener sei, hielt schwer zu entscheiden. Sie forderten viel, aber niemals ein Unrecht; sie waren oft unerbittlich hart, aber sie ehrten in dem Geringsten, ja noch in dem Unverbesserlichen – den Menschen.

»Weil ich höher stehe als der arme Teufel, mein Nächster, und in ihm einen Schutzbefohlenen respektieren muß«, sagte Friedrich.

»Weil ich seinesgleichen bin«, sagte Ludwig, »und sogar in dem verzerrten Ebenbilde meine Züge wiederfinde.«

»Du Spitzbube!« rief Friedrich dem verstockten Sünder zu, »weißt du nicht, was das Gesetz befiehlt; hörst du nicht, was der Pfarrer predigt? Warte nur, dich kriegt hier die Gendarmerie und drüben ganz gewiß – die Hölle!«

Ludwigs Ermahnungen hingegen lauteten: »Wann werdet ihr endlich lernen, euch selbst in Zucht zu halten? Wann werdet ihr endlich, ihr Dummköpfe, müde werden, Leute zu bezahlen, die euch überwachen, euch einsperren und manchmal sogar aufhenken? Regiert euch selbst, ihr Esel, dann erspart ihr alles Geld, das euch jetzt die Regierung kostet.«

So eindringliche Vorstellungen blieben nicht ganz ohne Wirkung, und eine viel größere, als sie hatten, schrieben ihnen die Freiherren zu, die überhaupt trotz mancher erlittenen Enttäuschung alles, was sie am innigsten wünschten, auch für das Wahrscheinlichste hielten. Auf diese Weise genossen sie so manches Glück, das sie niemals gehabt; kosteten es in Gedanken durch und empfanden dabei ein vielleicht lebhafteres Vergnügen, als wenn es ihnen in Wahrheit zuteil geworden wäre. Die reiche Phantasie, welche die Natur ihnen geschenkt, entwickelte sich in dem stillen Wlastowitz viel üppiger, als dies im Wirbel des Weltgetriebes hätte geschehen können, und bereitete ihnen eine Fülle reiner Freuden, die nur derjenige belächelt und verschmäht, der nicht fähig ist, sich ähnliche zu schaffen.

Bekanntermaßen fließt das Dasein je einförmiger, je rascher dahin, und ehe die Brüder sich’s versahen, kam der Tag heran, an dem Friedrich sagen konnte: »Ich möchte wissen, ob es je einen denkenden Menschen gegeben hat, der nicht schon die Bemerkung gemacht, daß die Zeit doch eigentlich sehr schnell vergeht.«

»Im Gegenteile«, sprach Ludwig, »diese Wahrheit ist schon so oft ausgesprochen worden, daß gar nichts daran liegt, sie noch einmal auszusprechen.«

»Würden wir’s glauben, wenn wir’s nicht wüßten«, fuhr Friedrich fort, »es sind jetzt gerade zehn Jahre, daß wir in Wlastowitz eingezogen sind.«

Ludwig fegte mit der Reitgerte die Spitzen seiner staubigen Stiefel, kreuzte dann die Arme und starrte melancholisch ins Grüne, das heißt ins Gelbe, denn es war Herbst, und sie saßen vor einer Goldesche.

»Zehn Jahre«, murmelte er, »ja, ja, ja – zehn Jahre. Hätte ich damals geheiratet, damals, als ich so gute Gelegenheit… als ich sehr geliebt wurde – –«

»Als du geliebt wurdest«, wiederholte Friedrich und zwang sich, ein ernsthaftes Gesicht zu machen.

»– so könnte ich jetzt bereits Vater von neun Kindern sein.«

»Von achtzehn, wenn deine Frau dir jedesmal Zwillinge beschert hätte, von noch viel mehr, weil ja die Äpelblüh büschelweise auf die Welt zu kommen pflegen!« sprach Friedrich und lachte.

Ludwig sah ihn von der Seite an. »Es gibt«, sagte er wegwerfend, »nichts Dümmeres als ein dummes Lachen.«

»Es gibt nichts Lächerlicheres als einen Mann, der am hellichten Tage träumt und ohne Fieber phantasiert«, rief Friedrich. »Zum Kuckuck mit all deinen Wenn und Vielleicht, mit deinen Schimären und Hirngespinsten! Du leidest an fixen Ideen. Halte dich doch endlich einmal an das Reale, an die Wirklichkeit!«

Jetzt schlug Ludwig ein grelles Gelächter auf. Er erhob die Augen und die gerungenen Hände anklagend zum Himmel. »Das Reale! Die Wirklichkeit!« schrie er, »o Gott, der spricht von ihnen… Der! … und war drei Jahre lang in einen Druckfehler verliebt!«

Friedrich senkte zornig-beschämt den Kopf und biß seinen Schnurrbart. Plötzlich fuhr er auf: »Und du – weißt du denn – –?«

Ein verhängnisvolles Wort schwebte auf seinen Lippen, doch sprach er es nicht aus, sondern brummte nur leise vor sich hin: »Hol’s der Geier!«

Kapitel 2

Kapitel 2

 

Schon im ersten Jahre ihrer Niederlassung in Wlastowitz hatten die Brüder beschlossen, sich zu verheiraten, und auch bereits die Wahl ihrer zukünftigen Gattinnen getroffen. Friedrich entschied sich für eine Gräfin Josephe, Tochter des Hochgebornen Herrn Karl, Reichsgrafen von Einzelnau-Kwalnow, und der Hochgebornen Frau Elisabeth, Reichsgräfin von Einzelnau-Kwalnow, gebornen Freiin von Czernahlava, Sternkreuzordensdame. Ludwig, der längst mit sich darüber im reinen war, daß er lieber zeitlebens in dem ihm eigentlich verhaßten Junggesellenstande verharren als eine Aristokratin heiraten wolle, faßte den Entschluß, Lina Äpelblüh, ein Kaufmannstöchterlein aus dem nächsten Städtchen, zu seiner Frau und zur Mutter einer großen Anzahl freisinniger Gemperlein zu machen.

Daß die Bekanntschaft, welche die Brüder mit ihren Auserwählten geschlossen hatten, von sehr intimer Art gewesen sei, ließ sich nicht behaupten. Friedrich war seiner Braut im Genealogischen Taschenbuche der gräflichen Häuser begegnet und wußte nur weniges von ihr, dieses wenige aber mit Bestimmtheit. Sie wohnte in Schlesien, auf dem 1100 Joche umfassenden Gute ihres Vaters, stand im Alter von dreiundzwanzig Jahren, hatte fünf Brüder, von denen der älteste dreizehn Jahre zählte, und bekannte sich zur katholischen Konfession.

Ihre Familienverbindungen waren sowohl väterlicher- als mütterlicherseits äußerst achtbare. Sie gehörten zwar nicht dem höchsten, aber einem guten, erbgesessenen Adel an, dessen Anciennität der des Gemperleinschen nichts nachgab. Einen nicht geringen Einfluß auf Friedrichs Wahl übte der Umstand, daß Josephe nur Brüder und keine Schwestern hatte; so geriet der Mann, der sie heimführte, nicht in Gefahr, seinen häuslichen Frieden durch einige allenfalls zum Zölibat verurteilte Schwägerinnen bedroht zu sehen. Kurz, unter sämtlichen Töchtern des Landes, die das gräfliche Taschenbuch aufzuführen wußte, paßte für Friedrich keine wie Josephe Einzelnau.

Er verfolgte den Lebenslauf seiner Erkorenen mit liebevoller Aufmerksamkeit durch drei Jahrgänge des Almanachs und befestigte sich immer mehr in dem Vorsatze, seinerzeit nach Schlesien zu reisen und sich dem Grafen von Einzelnau als ein von den redlichsten Absichten beseelter Bewerber um die Hand Gräfin Josephens vorzustellen.

Ludwig indessen kannte Fräulein Lina nicht nur von Angesicht zu Angesicht, er hatte sie sogar einmal gesprochen, als sie nach Wlastowitz gekommen war, um ihre Tante, die Frau Verwalterin Kurzmichel, zu besuchen.

»Wie geht’s?« fragte er das hübsche Kind, das er im Garten mit einer Stickerei beschäftigt traf. Lina Äpelblüh erhob sich von der Bank, auf der sie gesessen, machte einen kurzen, resoluten Knicks, den echten Bürgermädchenknicks, der mit reizendster Unbeholfenheit das gediegenste Selbstbewußtsein ausdrückt, und antwortete: »Ich danke, gut.«

Wie sehr ihn das freue, verriet ihr ein feuriger Blick seiner blauen Augen, und ihre braunen senkten sich.

Eine Pause. – Was soll ich ihr jetzt sagen? … Donner und Wetter! was soll ich ihr jetzt sagen? dachte der Freiherr und rief endlich: »Das macht die Landluft!«

»Oh, mir geht’s auch in der Stadt gut!« versetzte die Kleine mit einem munteren Lächeln.

Die Erinnerung an dieses Gespräch beschäftigte den Freiherrn sehr oft und sehr angenehm; er gab sich ihr ohne Rückhalt hin, und seine Phantasie schmückte das bescheidene Erlebnis mit den anmutigsten Zutaten aus. Der Gruß der lieblichen Jungfrau, ihr Lächeln, ihr Erröten gewannen eine täglich wachsende, für ihn immer schmeichelhaftere Bedeutung.

Eines Tages – an einem Sonntage war’s, an dem das Ehepaar Kurzmichel auf dem Schlosse gespeist hatte – wandte sich Ludwig plötzlich mit den Worten zur Frau Verwalterin: »Ein ganz charmantes Mädchen, Ihre Nichte! Ein schönes, liebenswürdiges Mädchen.«

Frau Kurzmichel hatte eben den Beratungen Friedrichs und ihres Mannes über die bevorstehende Schafschur mit jenem verständnisinnigen Interesse für ernste Dinge gelauscht, dem sie vor allem anderen den Ruf einer ausgezeichnet gescheiten Frau verdankte. Sie bedurfte einiger Augenblicke, um ihrem Gedankenfluge die neue Richtung zu geben, die ihm durch Ludwigs wie vom Himmel gefallene Bemerkung vorgeschrieben wurde. Sobald ihr dies jedoch gelungen, verbreitete sich ein Ausdruck zarten Wohlwollens über ihr großes, würdevolles Gesicht. Sie schüttelte beistimmend die Locken, die, unzertrennlich von der Sonntagshaube, mit dieser zugleich angelegt wurden, und sprach: »Ein braves Kind! Ein wohlerzogenes, häusliches… Ich darf es gestehen.«

Das Lob der sittenstrengen Dame war ein Moralitätszeugnis von unschätzbarem Werte.

Ludwig sagte nur: »So, so«, aber er rieb sich die Hände mit einer Art von Phrenesie, was bei ihm das Zeichen allerhöchsten Behagens, eines wahren Glückseligkeitsrausches war.

Schon einige Monate später kündigte er seinem Bruder eines Abends an, daß es sein ganz bestimmter, unerschütterlicher, durch keine Rücksicht, keinen Widerstand, kein Hindernis, mit einem Worte durch nichts auf Erden zu besiegender Wille sei, sich mit Lina Äpelblüh zu verheiraten.

Als er diesen Namen nannte, schoß Friedrich einen Blick nach ihm, geladen mit Entrüstung und wildem Hohne, doch senkte er ihn sogleich wieder auf das Buch, das er vor sich liegen hatte. Es war »Judas, der Erzschelm«, sein Lieblingsbuch. Die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, die zu Fäusten geballten Hände an die Schläfen gepreßt, setzte er mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit seine Lektüre fort. Auch Ludwig hatte seine Arme, jedoch verschränkt, auf den Tisch gelegt, machte, wie man zu sagen pflegt, einen Katzenbuckel und blickte seinen Bruder scharf und unverwandt an. Dieser wurde immer röter im Gesichte, immer drohender zogen die Falten auf seiner Stirn sich zusammen, allein er las – und schwieg.

Nun stieß Ludwig ein gellendes »Haha!« hervor, lehnte sich zurück und begann zu pfeifen.

»Pfeif nicht!« schrie Friedrich heftig, ohne jedoch die Augen zu erheben.

»Schrei nicht!« entgegnete Ludwig überlaut und setzte rasch und polternd hinzu: »Was hast du gegen meine Heirat? Es ist mir zwar ganz gleichgültig, aber ich will es wissen!«

Friedrich schob das Buch von sich. »Ich hab gegen deine Heirat – nichts!« sagte er, »heirate, wen du magst, meinetwegen eine Taglöhnerin! … Nur«, sein Gesicht nahm einen Ausdruck von kalter Grausamkeit an, er durchschnitt mit einer feierlichen Bewegung der erhobenen Hand die Luft zwischen sich und seinem Bruder, »nur: Jedem das Seine! – Es gibt Stufen im Leben. – Dich zieht’s nach den unteren, mich – nach den oberen…«

»Was?« unterbrach ihn Ludwig mit herausforderndem Spotte. »Was gibt’s im Leben? – Stufen?«

Friedrich ließ sich nicht irremachen; er fuhr in dem magistralen Tone fort, den er in entscheidenden Augenblicken anzunehmen wußte: »Meine Frau hüben – die deine drüben. Umgang duld ich nicht. Die Schwelle der gebornen Äpelblüh wird meine Josephe niemals überschreiten.«

»Das hoff ich!« rief Ludwig. »Umgang mit einer hochmütigen Aristokratin – dafür dank ich. Meine Frau soll gar nicht ahnen, daß Närrinnen existieren, die sich für etwas Besonderes halten, weil man ihre Ahnen zählen kann!«

»Warum kann man das?« fiel Friedrich ein. »Weil diese Ahnen sich hervorgetan haben, nicht untergegangen sind in der Menge – darum kann man sie zählen.«

»Zufall!« entgegnete der jüngere Freiherr von Gemperlein, »daß sie sich hervortun konnten; Gunst der Verhältnisse, daß die Erinnerung an ihr ehrenwertes oder nichtsnutziges Wirken sich im Volke wach erhielt… Es gibt Taten genug – lies die Geschichte! –, es gibt weltumgestaltende Ereignisse genug, deren Urheber niemand zu nennen weiß… Was ist’s mit den Nachkommen dieser Männer? Kannst du darauf schwören, daß dein Anton Schmidt nicht von dem Sänger des schönsten deutschen Götterliedes, nicht von einem der Wahlkönige der Goten abstamme? Kannst du darauf schwören?« fragte er und sah seinen Bruder durchbohrend an. Dieser, ein wenig außer Fassung gebracht, zuckte die Achseln und sprach: »Lächerlich!«

»Lächerlich? Ich will dir sagen, was lächerlich ist. Es ist lächerlich, Auszeichnungen zu genießen, die andere verdienten. Es ist mehr als lächerlich, es ist niedrig, den Lohn fremder Mühe einzusäckeln!«

»Fremder? Sind meine Ahnen mir fremd?!«

»Laß deine Ahnen in Ruh! Wirst du denn ewig deinen Anspruch auf das Köstlichste, das es gibt, auf die Achtung der Menschen, aus dem Ekelhaftesten, das es gibt, aus dem Moder wühlen? … Pfui! Mich widert’s an!« Ludwig schüttelte sich vor Abscheu und fügte dann ruhiger, in beinahe flehendem Tone hinzu: »Wirst du denn niemals einsehen, daß sich zugunsten der Adelsinstitution nichts vorbringen läßt, als was Staatsanwalt Séguier – lies die Geschichte! – zugunsten anderer Mißbräuche sagte: Ihre lange Ausübung macht sie ehrwürdig… Oder was die Bollandisten zugunsten des Diebstahls sagten – lies die Acta Sanctorum nur bis zum vierundvierzigsten Bande…«

»Bis zum wievielten?« schrie Friedrich, empört über diese hirnverbrannte Zumutung.

Sein Bruder lächelte geringschätzig und sprach: »Kennst du den Preis, mit welchem du deinen Ahnenstolz bezahlst? Er heißt Selbstachtung! … Was ich bin, was ich bleibe, wenn man mir meinen Namen, meinen Rang, mein Vermögen nimmt, darin besteht mein Wert, auf den allein bau ich mein Recht, das übrige veracht ich als Geschenk des blinden, sinnlosen Zufalls!«

Beide waren aufgesprungen; der Ältere stürzte auf den Jüngeren los und packte ihn an den Schultern: »Wessen Geschenk sind denn diese Schultern, wem verdankst du diese Brust, den Wuchs, der das Mittelmaß der Menschen um Kopfeshöhe überragt? Und daß in deiner Brust ein redliches Herz schlägt und daß in deinem Kopfe Ideen wohnen – tolle freilich – aber doch Ideen –, wem verdankst du das alles? Hast du’s vom Zufalle? Hast du’s von deinen Ahnen?«

»Ich hab’s von der Natur!«

»Jawohl, von der Gemperleinschen Natur!« versetzte Friedrich triumphierend.

»Dein Gedankenkreis«, sagte Ludwig nach einer kleinen Pause, »hat nicht mehr Umfang als der eines Perlhuhns. Ein fester Punkt ist da, um den drehst du dich herum wie jenes Tier auf dürrer Heide –«

»Perlhuhn? Tier?« brummte Friedrich, »einmal könntest du aufhören mit deinen Vergleichen aus der Zoologie.«

»Der feste Punkt, von dem aus jeder Esel«, Ludwig ließ die Stimme auf diesem Worte ruhen, um zu zeigen, wie wenig er die erhaltene Ermahnung berücksichtige, »von dem aus jeder Esel die vernünftige Welt aus ihren Angeln heben kann, heißt das Vorurteil.«

»Ludwig! Ludwig!« unterbrach ihn hier sein Bruder, »mit erhobenen Händen beschwör ich dich: Taste das Vorurteil nicht an… Vorurteil!« wiederholte er und legte auf dieses Wort einen unbeschreiblichen, man könnte sagen: zärtlichen Nachdruck, »so nennt der Grobian die Höflichkeit, der Egoist die Selbstentäußerung, der Schurke die Tugend, der Atheist den Glauben an Gott, das ungeratene Kind die Ehrfurcht vor den Eltern! Nimm das Vorurteil, du nimmst die Pflicht aus der Welt!«

»Holla! Es ist genug!« sprach Ludwig gebieterisch. »Dir beweisen Gründe nichts, man muß mit Taten kommen.« Er warf den Kopf zurück, sein Blick war prophetisch in die Ferne gerichtet, eine erhabene Zuversicht klang aus seiner Stimme. »Meine Kinder werden dich lehren, was das heißt, erzogen sein in Ehrfurcht vor dem Ehrwürdigen, aber – ohne Vorurteil…«

»Deine Kinder! Bleib mir mit deinen Kindern vom Leibe!« schrie Friedrich auf und focht mit verzweiflungsvoller Hast in der Luft umher, als gälte es, von allen Seiten in hellen Schwärmen heranfliegende kleine, vorurteilslose Gemperlein von sich abzuwehren, »sie dürfen mir nicht über die Schwelle, deine Kinder! Ich verbiete ihnen mein Haus!«

Tief verletzt in seinem etwas verfrühten Vaterstolze wandte Ludwig sich ab.

»Kinder ohne Vorurteile!« fuhr Friedrich empört fort, »Gott bewahre einen vor solchen Ungeheuern!«

»Brauchst Gott nicht anzurufen, bist schon bewahrt«, versetzte sein Bruder mit eisiger Kälte. »Das übrigens versteht sich von selbst – an die Türe, die meiner Frau, meinen Kindern gewiesen wurde, werde ich nie pochen. Unsere Wege trennen sich. Wo sind die Schlüssel des Archivs?«

Er holte die Karte von Wlastowitz herbei, breitete sie auf dem Tische aus und begann die Grenzlinie, welche das schöne Blatt ohnehin schon traurig verunstaltete, zu beiden Seiten so derb zu schattieren, daß sie jetzt wie ein hoher, unübersteiglicher Gebirgszug erschien, der sich schroff durch die spiegelglatte Ebene, durch die blühendsten Felder und Wiesen hinschlängelte. Friedrich sah ihm traurig und grimmig zu.

»So!« brummte Ludwig jedesmal, wenn er von neuem die Feder eintauchte, »das zwischen uns. Hier bist du – hier bin ich. Gemeinschaft ist gut im Himmel, aber leider! leider! nicht auf der Erde… Die jetzigen Menschen sind noch nicht danach! …«

Nicht so schnell als mit der längst auf dem Papier durchgeführten Teilung der Gründe konnte Ludwig mit der Wahl des Platzes fertigwerden, an dem das Blockhaus zu errichten sei; gegen jeden, für den er sich entschied, machte Friedrich einen triftigen und berücksichtigenswerten Einwand. Ludwig verlor endlich das bißchen Geduld, das er noch zu verlieren hatte.

»Jetzt hab ich’s satt. Da wird’s stehen!« rief er und bezeichnete mit der in zorniger Hast geschwungenen Feder die Stelle, auf der sein zukünftiges Heim sich erheben solle. Ach! Wie eine schwarze Träne fiel ein großer Klecks auf die Karte von Wlastowitz. Auf die schöne Karte, das treffliche, noch auf Anordnung des seligen Vaters mit wahrem Mönchsfleiße ausgeführte Werk eines ausgezeichneten Ingenieurs… Friedrich zuckte zusammen, und Ludwig murmelte: »Hunderttausend Millionen Donnerwetter! Die verdammte Feder!« –

Herr Verwalter Kurzmichel war an jenem Abende eben im Begriffe, das eheliche Lager zu besteigen, in dem seine Gemahlin bereits Platz genommen, als er durch ein heftiges Pochen am Haustore in seinem Vorsatze gestört wurde. Eilige Schritte auf der hölzernen Treppe, rasch gewechselte Worte – – Frau Kurzmichel saß schon aufrecht in ihrem Bette – die beiden Gatten sahen einander an; er ein Bild der Bestürzung, sie ein Bild der Wachsamkeit. Nun klopft es an die Stubentür: »Herr Verwalter«, ruft die Magd, »Sie sollen kommen – ins Schloß – gleich!«

»Um Gottes willen – brennt’s?« stöhnte Herr Kurzmichel und stürzte auf die Türe zu. Aber seine Frau kam ihm noch glücklich zuvor: »Kurzmichel – du wirst doch nicht – du bist – – in diesem Nichtanzuge…«

»Wahr, wahr« entgegnete Herr Kurzmichel mit klappernden Zähnen, eilte an den Nachttisch zurück, setzte für alle Fälle seine Brille auf und machte krampfhafte Versuche, seine Tabaksdose in eine nicht vorhandene Tasche zu versenken.

»Ruhe, Kurzmichel! – in jeder Lage des Lebens Ruhe!« mahnte die Frau Verwalterin und rief nun ihrerseits durch die geschlossene Tür: »Brennt es?« – »Nein – brennen tut’s nicht!« antwortete von draußen Antons derbe Stimme, »aber der Herr Verwalter soll gleich ins Schloß kommen!«

Frau Kurzmichel half dem Gatten in die Kleider: »Was mag’s geben? Was mag’s nur geben?« fragte ihr Mann einmal ums andere, und innerlich bewegt, äußerlich aber ruhig wie das gute Gewissen, antwortete die große Frau: »Was soll’s denn geben? Die Flanelljacke, Kurzmichel! … Wer hätte uns etwas vorzuwerfen? Was kann uns geschehen? Ich denke, wir stehen da! Nein! nein – ohne Flanelljacke darfst du mir nicht hinaus in die Nacht!«

Eine Viertelstunde verging. Die Frau Verwalterin hatte inzwischen Tee gekocht und die Wärmflasche mit heißem Wasser gefüllt. Der Herr Verwalter mußte, als er zurückkam, vor allem anderen zu Bette. Der Tee, den seine Gattin ihm aufnötigte, verbrannte ihm den Gaumen und die Wärmflasche die Fußsohlen. Er klagte ein weniges darüber. Aber seine heilkundige Hälfte belehrte ihn: »Das ist nur die Erkältung, die herausgeht, das tut nichts… Und jetzt sprich: Was hat’s gegeben im Schlosse?«

»Befehle, liebe Frau; dringende, striktens zu befolgende Befehle wegen des morgen mit dem frühesten beginnenden Baues von Freiherrn Ludwigs…«

»Blockhaus!« fiel die Frau Verwalterin mit ironischer Schärfe ein.

Ihr Gatte blickte sie voll Erstaunen an: »Woher vermutest du? …« sagte er.

Die Antwort, die er erhielt, war eine sehr sonderbare. Sie lautete: »Man könnte wahrlich, wenn der Respekt dies nicht verböte, in Versuchung geraten, die Herren Barone trotz all ihrer ausgezeichneten Eigenschaften, die ich verehre, ein bißchen – wie sag ich nur – zu nennen.« Die Frau Verwalterin machte eine Pause, bevor sie wieder die schmalen Lippen zu den aufzeichnenswerten Worten öffnete: »Denke an mich, Kurzmichel, denke in zehn Jahren an mich, wenn du noch lebst, was Gott gebe: Das Blockhaus wird nie gebaut! – Gute Nacht, Mann, lege dich aufs Ohr und schlafe, morgen wecke ich dich nicht!«

Man muß gestehen, die seltene Frau gab in jener Stunde einen durch das Dunkel der Zeiten glänzend leuchtenden Beweis ihres Scharfsinnes, ihrer merkwürdigen Voraussicht und ihrer ausgezeichneten Kenntnis des menschlichen Herzens.

Der Vorzugsschüler

Mutter und Sohn saßen einander gegenüber am Tische, der als Arbeits- und Speisetisch diente und dessen eine Hälfte schon für die Abendmahlzeit gedeckt war. Eine Petroleumlampe mit grünem Schirm beleuchtete hell die Schulbücher, die der Knabe vor sich aufgeschichtet hatte und die ungemein geschont aussahen nach einer mehr als halbjährigen Benutzung. Es war Ende März, und in wenigen Monaten mußte Georg Pfanner aus der dritten Klasse, wie aus jeder früheren Vorbereitungs- und Gymnasialklasse, als Vorzugsschüler hervorgegangen sein. Mußte! Wohl und Weh des Hauses hing davon ab, der – wenigstens relative – Frieden seiner Mutter, der Schlaf ihrer Nächte… Wenn dem Vater schien, daß »sein Bub« im Fleiß nachlasse, wurde sie zur Verantwortung gezogen. Das wirkte viel stärker auf den Jungen, als die strengste Ermahnung und Strafe getan hätte. Für seine Mutter empfand er eine anbetende Liebe und war das ein und alles der freudlosen, vor der Zeit gealterten Frau. Die beiden gehörten zueinander, verstanden einander wortlos, sie hatten, ohne es sich selbst zu gestehen, ein Schutz- und Trutzbündnis gegen einen Dritten geschlossen, dem sie im stillen immer unrecht gaben, auch wenn er recht hatte, weil sie sich im Grund ihrer Seele in steter Empörung gegen ihn befanden. Frau Agnes würde erstaunt und wahrscheinlich entrüstet gewesen sein, wenn man ihr gesagt hätte, daß ihre Empfindung für ihren Mann längst nichts mehr war als eine Mischung von Furcht und von Mitleid. Georg würde eher die ganze Schule zum Kampf herausgefordert als geduldet haben, daß ein unehrerbietiges Wort über seinen Vater gesprochen werde. Aber weder der Mutter noch dem Sohne wurde es wohl in seiner Nähe. Seine Anwesenheit bedrückte, löschte jede heitere Regung im ersten Aufflackern aus. Und doch war der einzige Lebenszweck dieses Mannes die Sorge um das Wohl seines Kindes in Gegenwart und Zukunft.

Frau Agnes ließ ihre Arbeit in den Schoß sinken und blickte nach der Schwarzwälder Uhr, die an der Wand neben dem Kleiderschrank ihr blechernes Pendel schwang. So spät schon, und der Mann kam noch immer nicht aus dem Büro. Sie lasteten ihm dort so unbarmherzig viel Arbeit auf, und er besorgte sie widerspruchslos und nahm noch Arbeit mit nach Hause, um die Vorgesetzten nur gewiß zufriedenzustellen und beim nächsten Avancement berücksichtigt zu werden.

Ja, der Mann plagte sich, und es war sehr begreiflich, daß er übermüdet und mürrisch heimkehrte. Und der Junge, der liebe, geliebte Junge, plagte sich auch. Heute ganz besonders. Dunkelrot brannten seine Wangen, und sogar die Kopfhaut war gerötet, und die Stirn zog sich kraus. In Hemdärmeln saß er da, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, preßte das Kinn auf seine geballten Hände und starrte ratlos zu seinem Hefte nieder. Dreimal schon hatte er die Rechenaufgabe gemacht und jedesmal ein anderes Resultat erhalten, und keines, das sah er wohl, konnte das richtige sein.

Die Mutter wagte nicht, ihn anzusprechen, um ihn nicht zu stören, warf nur verstohlen von Zeit zu Zeit einen bekümmerten Blick auf ihn und vertiefte sich wieder in ihre Arbeit und flickte emsig am schadhaften Futter der Jacke, die er ausgezogen hatte.

Nun wurde nebenan ein Geräusch vernehmbar. Im Schloß der Küchentür drehte sich der Schlüssel.

»Der Vater kommt«, sprach Frau Agnes. »Bist fertig, Schorschi?«

»Mit der Rechnung noch lang nicht.« Sein Mund verzog sich, und unter seinen blonden Wimpern quollen plötzlich Tränen hervor.

»Um Gottes willen, Schorschi, nicht weinen, du weißt ja – der Vater…«

Da trat er ein, und sie stand auf und ging ihm entgegen, und er erwiderte ihr schüchternes Willkomm mit einem ungewohnt freundlichen: »Na, grüß euch Gott.«

Offizial Pfanner war um ein weniges kleiner als seine Frau und ungemein dürr. Die Kleider schlotterten ihm am Leibe. Seine dichten, eisengrauen Haare standen auf dem Scheitel bürstenartig in die Höhe, seine noch schwarz gebliebenen Brauen bildeten zwei breite, fast gerade Striche über den dunkeln, sehr klugen Augen. Den Mund beschattete ein mächtiger, ebenfalls noch schwarzer Schnurrbart, den Pfanner sorgfältig pflegte und der dem Beamten der k.u.k österreichischen Staatsbahn etwas Militärisches gab.

Pfanner hatte einen großen Pack Schriften mitgebracht und war doch nicht unwirsch. Er ließ sich von seiner Frau den Überrock ausziehen und sagte sanft und ruhig: »Bring das Essen und lösch die Lampe in der Küche aus. Die brennt, ich weiß nicht zu was. – Lern weiter!« befahl er dem Sohn, der sich nach ihm gewendet hatte und ihn scheu und ängstlich ansah.

»Es ist so schwer«, murmelte Georg.

Der Vater stand jetzt hinter seinem Stuhle: »Schwer, fauler Bub? Deine Faulheit überwinden, das wird dir schwer, sonst nichts. Einem Kind, das Talent hat, wird nichts schwer. Faul bist.«

»Ich hab alles fertig«, sprach Georg mit einem trockenen Schluchzen und drängte die Tränen zurück, die ihm wieder in die Augen treten wollten, »nur die Rechnung nicht…« da kippte seine Stimme um, der Satz endete in einem schrillen Jammerton, und zugleich beugte der Kopf des Jungen sich tiefer. Seinem Bekenntnis mußte die Strafe folgen, er erwartete die unausbleibliche mit dumpfer Resignation, den wohlbekannten Schlag der kleinen harten Hand, die wie ein Hammer niederfiel und das Ohr und die Wange Georgs auf Tage hinaus grün und blau marmorierte.

Aber heute zürnte der Vater nicht. Nach einer kleinen Weile streckte sich sein Arm über die Schulter des Knaben, der Zeigefinger bezeichnete eine Stelle in der Rechnung, deren sorgfältig geschriebene Zahlen eine Seite des Heftes bedeckten.

»Da sitzt der Fehler. Siehst du?«

War’s möglich, daß Georg ihn noch immer nicht sah? Daß er sich keinen Rat wußte, auch dann nicht, als der Vater zu erklären begann? Er tat das auf eine so völlig andere Art als der Lehrer. Dem Kinde wollte und wollte das richtige Verständnis nicht aufgeben, trotz aller Anstrengung und Mühe. Dazu die Furcht: Jetzt reißt dem Vater die Geduld, jetzt kommt der Schlag. Zuletzt dachte er nur noch an den und wünschte, die Züchtigung wäre vollzogen, damit er sich nicht mehr vor ihr ängstigen brauche.

»Gib acht, du gibst nicht acht!« rief Pfanner und begab sich auf seinen Platz am oberen Ende des Tisches, wo für ihn gedeckt war. Die Mutter hatte das Abendessen aufgetragen. Kartoffeln in der Schale, ein schönes Stück Butter, ein Laib Brot, eine Schüssel mit kaltem Fleische. Die stellte sie zagend vor ihren Mann hin, und seine Mißbilligung blieb nicht aus.

»Fleisch am Abend – was heißt das? Keine neue Einführung, bitt ich mir aus.«

Sie entschuldigte sich. Sie log. Die Nachbarin hätte so schönes Fleisch vom Land bekommen und ihr dieses schon eingekaufte um ein billiges abgetreten. »Es ist auch noch für morgen da«, setzte sie hinzu, um einer wiederholten Rüge vorzubeugen, die viel schärfer ausgefallen wäre. Sie hätte aber auch die schärfste über sich ergehen lassen. Es galt einen Kampf, in dem sie, die sonst willensschwache Frau, um keinen Preis nachgehen durfte.

Das Abendessen war längst vorbei, die Mutter längst zur Ruhe gegangen, Vater und Sohn saßen noch bei ihrer Arbeit. Pfanner befaßte sich mit dem Aufstellen einer statistischen Tabelle, Georg kam mit seiner Rechnung nicht zu Ende. Die Aufmerksamkeit weder des einen noch des andern war völlig bei seiner Beschäftigung. Jeder von ihnen hatte heute ein Glück erfahren, und die Erinnerung daran stellte sich immer und immer wieder zerstreuend und ablenkend ein.

Pfanner war dem Herrn Subdirektor begegnet, und der hatte ihn angesprochen und ihn der Wohlmeinung des Herrn Direktors und seiner eigenen versichert. Der Herr Direktor warte nur auf die erste Gelegenheit, dem unermüdlichen Fleiß und Diensteifer des Offizianten die gebührende Anerkennung zuteil werden zu lassen.

»Für außergewöhnliche Leistungen außergewöhnliche Auszeichnungen. Verlassen Sie sich darauf.« Mit diesen Worten hatte der hohe Vorgesetzte ihn verlassen, und Pfanner war weitergewandert, von einem berauschenden Glücksgefühl ergriffen. Worauf durfte er sich Hoffnung machen? Auf Beförderung außer der Tour? Auf eine große Remuneration? Die wäre ihm vielleicht das Liebste. Georgs Sparkassenbuch würde dadurch eine unverhoffte Bereicherung erfahren. An jedem letzten Tag des Monats nahm er es aus der Lade und ließ die wenigen, mühselig vom Gehalt ersparten Gulden eintragen, um nur ja nicht unnötigerweise einen Heller Zinsen einzubüßen.

Der Sparkassenbeamte lachte schon: »Was bringen’s denn heut, Herr Offizial, einen halben Gulden, einen ganzen?«

Pfanners Hochmut litt unter diesen Spötteleien. Und jetzt stellte er sich vor, wie ihm sein würde, wenn er einen Hunderter oder gar zwei hinlegen könnte und nachlässig sagen: Bitte, tragen Sie heute das ein, ins Buch von meinem Buben.

Sein Georg an der Spitze eines, wenn auch kleinen Vermögens – er liebte ihn mehr, wenn er daran dachte.

Der zukünftige Kapitalist hielt die Feder in der Hand und sann. Nicht über seine Rechnungsaufgabe. Seine Gedanken trugen ihn weit weg aus der kahlen, dürftig eingerichteten Stube ins Freie, wo jetzt schon neues Leben sich zu regen begann und ein Frühling sich ankündigte, von dem er wieder nichts haben sollte. Dem Frühling würde der Sommer folgen, die Schule geschlossen werden, und die Kameraden würden auf Ferien gehen, einige in die Nähe von Wien, andere glückliche ganz aufs Land, auf das wirkliche Land, oder gar ins Gebirge, in die Wälder, an die schimmernden Seen und Flüsse, an brausende Wasserfälle… Nur er kam nie hinaus aus den trostlosen Straßen der Vorstadt, nie fort vom müdmachenden, langweiligen, verhaßten Straßenpflaster, auf dem man sich die Schuhe zerriß und die Füße wund ging. Dazu des Vaters ewig wiederholtes: »Lern! Hast gelernt? Kinder sind da, um zu lernen.«

In seinem Jungen aber schrie es: Nicht nur um zu lernen! Manchmal schon hatte er sich ein Herz gefaßt und gesagt: »Die andern sind jetzt auf Ferien und lernen nicht.«

Da war der Vater bös geworden. »Sind das Vorzugsschüler? Wenn ja ein paar darunter sind, dann sind sie nicht leichtsinnig und zerstreut wie du, fauler Bub. Haben vielleicht nicht einmal Talent wie du, dafür aber Fleiß, eisernen Fleiß. Ferien… was Ferien! Ein tüchtiger Mensch braucht keine, will keine. Hab ich Ferien?« Es war der Stolz Pfanners, daß er noch nie Urlaub genommen.

Indessen, trotz all der väterlichen Strenge, ein wahres Löschhorn für jede heitere, lustige Regung, hatte es einige Jahre gegeben, in denen Georg eine Frühlingsfreude genossen. Und heute war der gesegnete Tag, an dem ihm endlich ein langgehegter, heißer Wunsch erfüllt wurde. Er trug das Mittel, Frühlingsfreude wiederzuerwecken, in seiner Tasche.

 

Um ein Stockwerk tiefer als die Familie Pfanner, im dritten des gegenüberliegenden Hauses, wohnte ein Schuster, der eine Nachtigall besaß. Wenn der Frühling anbrach, hing er ihren Käfig unter den Fenstersims an die Mauer. Der Käfig war eng und schmal, hatte dicke Sprossen und bot seiner Bewohnerin wenig Raum und wenig Licht. Sie sang wundersam in ihrer traurigen Gefangenschaft. Ihre süßen Lieder klangen nicht nur klagend und sehnsuchtsvoll, auch hell und jubelnd und wie voll des seligen Entzückens über die eigene Herrlichkeit, berauscht vom Triumph über die eigene hinreißende Macht. Die Töne, die der kleinen Brust entquollen, erfüllten die Gasse mit Wohllaut.

Georg brachte jeden freien Augenblick am Fenster zu, beugte sich hinaus und sandte der Nachtigall seine Liebesgrüße. Der Schuster, das konnte man leicht bemerken, kümmerte sich nicht viel um die holde Sängerin. Wäre sie Georgs Eigentum gewesen, wie hätte er sie gehegt und gepflegt! Sie war sein Glück, seine Wohltäterin, sie zauberte ihm den Frühling in die traurige Stube und Schönheit und Poesie in sein ödes Leben. Er lauschte ihr, und märchenhaft liebliche Bilder tauchten vor ihm auf, Landschaften im purpurnen Grün des neuen jungen Lebens, blütendurchhaucht, lichtgetränkt. Alles, wovon er gelesen und gehört hatte, das zu erblicken er sich gesehnt, das für ihn das ewig Unerreichbare bleiben sollte.

Bis Johannis ging es so fort, dann hörte die Nachtigall auf zu schlagen, und der Schuster nahm das Bauer wieder ins Zimmer herein. Im letzten Frühjahr hatte Georg vergeblich auf das Erscheinen des Bauers gewartet. Der Schuster hatte die Nachtigall vielleicht verschenkt, oder vielleicht war sie gestorben, und mit ihr all die schönen Träume, die ihr Gesang geweckt, und die stille, geheimnisvolle Wonne, sich ihnen zu überlassen und ihnen nachzuhängen.

Nun aber, vor einigen Wochen, an einem grauen, frostigen Februarmorgen, tönten Georg, als er in die Nähe der Schule kam, die schmerzlich vermißten Nachtigallenklänge entgegen. Er stieß einen Freudenschrei aus, sah um sich, sah zu den Häusern empor, und da war nirgends ein Vogelbauer zu entdecken, und nirgends stand ein Fenster offen, aus dem der Gesang hätte dringen können. Die Töne schlugen einmal stärker, einmal schwächer an sein Ohr. Sie wanderten, näherten, entfernten sich, und plötzlich lachte Georg laut auf. Die Nachtigall, die so prachtvoll sang, spazierte vor ihm her, blieb stehen, schmetterte ihre Lockrufe in die Luft hinaus, ging ein Stück weiter, kehrte um und kam jetzt auf ihn zu. Sie hieß Salomon Levi, war fünfzehn Jahre alt und trug schiefgetretene Stiefel, einen schwarzen Kaftan, einen steifen, breitkrempigen Hut. Ihre eingefallenen Wangen entlang baumelten ein paar glänzende, rabenschwarze Schläfenlocken.

»Herrje Salomon!« hatte Georg ausgerufen, »was ist mit dir? Bist eine Nachtigall worden?«

Der Angeredete trug an einem fettigen Riemen ein Tabulett, noch einmal so breit als er selbst, und hinkte von früh bis abends unermüdlich auf dem Kai vor der Schulgasse auf und ab. Sein Warenlager erfreute sich unter den Studenten des Rufes großer Solidität und bestand aus Brief- und Geldtaschen, Spiegeln, Messern, Uhrketten und dergleichen. Der junge Hausierer führte auch allerlei Spielzeug, das auf Georg eine starke Anziehung übte. Er hatte nie, nicht einmal als kleines Kind, Spielzeug besessen.

»Spielereien kaufen – Geld hinauswerfen, Unsinn!« sagte Pfanner. »Ein Kind, das Phantasie hat, ein Kind wie das meine braucht keine. Ein Scheit Holz oder ein hölzernes Pferd sind dasselbe für ihn, sind ihm beide ein lebendiges Pferd. Eine Puppe in Seidenkleidern oder der in Zeitungspapier gewickelte Stiefelknecht sind ihm, eines wie das andere, ein lebendiges Kind.«

Für Georg haftete der Reiz des Versagten an jedem Gegenstand in Salomons Auslagekasten. Er kam nie ohne Herzweh an ihm vorüber und knüpfte, sooft es anging, ein Gespräch mit Levi an, um alle die Kostbarkeiten, die er ausbot, mit Muße betrachten und sogar berühren zu dürfen.

»Ach Salomon«, sagte er ihm einmal, »wie glücklich bist du! Kannst immer auf und ab gehen und mußt nicht mehr in die Schule, hast so viele schöne Sachen und kannst sie den ganzen Tag ansehen. Wie froh mußt du sein!«

Salomon sah ihn wehmütig an. In welchem Irrtum war Georg befangen! Wenn Salomon alle die »schönen Sachen« anbrächte und noch viele andere und Geld für sie bekäme und studieren könnte, dann wäre er froh.

Sie hielten nun täglich eine Unterredung, eine kurze bloß, denn Georg wußte, daß der Vater ihn daheim fast regelmäßig mit der Uhr in der Hand erwartete, und wenn er sich um ein paar Minuten verspätete, dann gab es böse Minuten für seine arme Mutter.

So flüchtig aber auch die Begegnungen der beiden Knaben waren, sie bildeten allmählich ein starkes Band. Jeder von ihnen kannte das Leiden; einer bedauerte den andern und beneidete ihn auch. Fürs Leben gern hätten sie getauscht, verhandelten oft darüber und waren schon gute Bekannte gewesen vor jenem Februarmorgen, an dem der Vorzugsschüler dem Hausierer zugerufen hatte: »Bist eine Nachtigall worden?«

Helles Entzücken durchströmte ihn, als Salomon ihm ein Instrumentchen zeigte, nicht größer wie eine Nuß, in dem alle Flötentöne der Nachtigall schliefen. Man brauchte es nur zwischen die Lippen zu nehmen und geschickt mit der Zunge zu behandeln, um den lieblichen Gesang zu wecken. Er hätte sich auf die Knie werfen und Salomon beschwören mögen: »Sei gut, sei großmütig, schenk mir die Nachtigall!« Aber das Bild seines Vaters schwebte ihm vor, er vernahm die Worte: »Du bist ein Beamtensohn, du unterstehst dich nicht, etwas anzunehmen, nicht ein Endchen Bleistift, nicht eine Feder. Von keinem Mitschüler, von keinem Menschen.«

So stotterte er denn mit fliegendem Atem: »Was kostet die Nachtigall?«

Sie kostete zwanzig Heller, und Salomon hatte heute schon ein paar Dutzend verkauft und hoffte, noch ein paar Dutzend zu verkaufen und bald auch seinen ganzen Vorrat, denn sie gingen reißend ab.

Georg überlegte: »Wirst du in fünf Tagen keine mehr haben…? Hebe mir eine auf, ich bitte dich. Wenn ich mein Jausengeld erspare, habe ich in fünf Tagen zwanzig Heller beisammen und kann dir die Nachtigall bezahlen.«

Salomon war sehr ungläubig. Mehrmals schon hatte Georg versucht, sein Jausengeld zu sparen, um bei ihm einen Einkauf machen zu können, es aber nie weitergebracht als bis zu acht, höchstens zu zehn Hellern. Dann war er plötzlich an einem Nachmittag zu hungrig geworden und hatte sein ganzes Geld auf einmal ausgegeben, für eine besonders lockende Brezel. Beim Bäcker an der Ecke bekam man so köstliche! Er hatte auch schon seinen kleinen Besitz an Kupfermünzen Ärmeren, als er selbst war, geschenkt. Salomon zweifelte mit gutem Grund an der Fähigkeit des »jungen Herrn«, etwas zurückzulegen. Dennoch erfüllte er ihm seinen Wunsch. Eine Nachtigall blieb unverkauft, die beste. Wer die zu behandeln verstand, konnte ihr ganz besonders klangreiche Töne entlocken.

Und heute hatte Georg sie erworben, war glorreich vor Salomon hingetreten, hatte ihm zehn Zweihellerstücke in die Hand gezählt und die Nachtigall in Empfang genommen.

Der Unterricht in der Gebrauchsanweisung war »dreingegangen«. Das kleine Instrument wanderte von einem Mund zum andern, und sogleich, mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit, lernte Georg dem Tabulettkrämer seine Kunst ab.

»Was ein Talent zur Musik! Ich hab müssen lernen drei Tag, bis ich hab spielen gekonnt. Sie können gleich spielen, besser als ich.«

Georg erwiderte glückselig, es sei ja so leicht. Ach, wenn alles so leicht wäre, wenn es mit der Mathematik und der Geschichte und mit dem Griechischen auch so ginge!

In Salomons melancholischen Augen leuchtete es auf: »Mir möchte leicht sein das Studieren«, sprach er und sah sehr hochmütig und sehr traurig aus.

 

Jetzt war es nahe an elf Uhr. Frau Agnes hatte sich auf Befehl Pfanners zu Bette begeben, sie schlief aber nicht; sie beobachtete vom dunkeln Alkoven aus ihren Mann, der mit unvermindertem Eifer linierte, rubrizierte, und ihren Jungen, der müd und blaß sich über sein Heft beugte oder mit verträumten Augen emporblickte zu dem grauen Fleck, den der Rauch der Lampe allmählich an die Decke gemalt hatte. Er durfte noch immer auf des Vaters grimmig wiederholtes »Bist fertig?« nicht mit ja antworten; er war eben nicht bei der Sache. Er hatte eine Hand in die Tasche gesteckt und die Finger um die Nachtigall gelegt und preßte sie manchmal, als ob sie etwas Lebendiges wäre und es fühlen könnte, mit großer, sanfter Liebe.

Der Heimweg, der ihm sonst immer endlos vorkam, war ihm heute zu kurz gewesen. Fast die ganze Zeit hindurch hatte er die Nachtigall schlagen lassen, und Kinder und selbst Erwachsene waren stehengeblieben und hatten ihm zugehört und sich über die herzige Musik gefreut. Es wäre ihm ein Glück gewesen, vor der Mutter eine Probe seiner neu erlernten Kunst abzulegen. Aber das ging nicht an, die Mutter würde sogleich gesagt haben: Du mußt dem Vater das Ding zeigen, du weißt ja, er mag Spielereien nicht. Und wenn Georg auch geantwortet hätte: Es ist keine Spielerei, es ist ein Instrument, würde sie doch dabeigeblieben sein: Hinter dem Rücken des Vaters darf man nichts tun und nichts haben. So hatte sie es immer gehalten… bis heute.

Georg aber konnte nicht vergessen, daß ihm vor Jahren der jüngste Sohn der Nachbarin, Karl Walcher, seine Flöte geliehen; er hätte sie ihm auch gern geschenkt, ohne Pfanners spartanisches Verbot. Was Georg einmal hörte, von den Kinderliedern, die seine Mutter ihm vorsummte, bis zum feierlichen Kirchengesang, alles merkte er sich und brachte die Melodie ganz richtig heraus auf dem höchst primitiven Instrumentchen. Frau Walcher und ihre Söhne hatten ihn bewundert und sogar sein Vater ihm manchmal ein zustimmendes: »Nicht übel!« gespendet. Aber bald war ihm seine Freude verdorben worden.

»Laß die Dummheiten – lern!« hatte es bald geheißen. An dem geringsten Versäumnis, an jeder Zerstreutheit des Knaben hatte die Flöte Schuld getragen. Bald, schrecklich bald hatte der Vater sie ihrem Eigentümer zurückgestellt. So würde er gewiß auch die Nachtigall nicht dulden, und deshalb mußte sie vor ihm verborgen bleiben, die liebe, herrliche.

Als Georg endlich zur Ruhe gehen durfte, erhielt sie ihren Platz unter seinem Kopfkissen. Nach Mitternacht erwachte er, zog sie an seine Lippen. Um sie zu küssen, natürlich nur, sie schlagen zu lassen konnte ihm doch nicht einfallen… Zwar – die Eltern schliefen. Zwischen ihnen und ihm, am Mauervorsprung des Alkoven, tickte kräftig, jedes schwache Geräusch übertönend, der flinke Gang der Schwarzwälderin. Dennoch wäre es nicht geraten… und während er dachte: nicht geraten, berührte seine Zungenspitze schon das kühle Metallplättchen. Ohne seinen Willen, fast ohne sein Zutun begann die Nachtigall ihren Gesang zu erbeben. Sie klagte, sie lochte, sie verkündete eine unerfüllbare Sehnsucht. Ihre Töne stiegen, schwollen, brachen plötzlich ab. Herrgott im Himmel… Zu laut, zu laut! Der Vater hat einen gar leisen Schlaf… Entsetzlich erschrocken, von Schauern der Angst durchrieselt, steckte Georg seinen Kopf unter die Decke. Am nächsten Morgen beim Frühstück erzählte der Vater von einem merkwürdigen Traum, den er in der Nacht gehabt. Der Schuster hatte wieder eine Nachtigall angeschafft, und Pfanner war gewesen, als ob er sie so laut schlagen hörte, daß er darüber erwachte, und dann, das war das Merkwürdige, hatte er sich eingebildet, wach zu sein und sie noch zu hören. Seine Frau konnte nicht genug staunen, auch ihr hatte etwas ganz Ähnliches geträumt, und das mußte wohl etwas zu bedeuten haben.

Georg stand auf und trat ans Fenster, damit die Eltern sein Erröten nicht sähen.

 

Auch Frau Agnes hatte ihr Geheimnis, und sie mußte, um es zu bewahren, allerlei Ausflüchte gebrauchen, die gar oft weitab von der Wahrheit lagen. Seit einiger Zeit war bei allen Mahlzeiten der Tisch reichlicher besetzt, und Pfanner hatte doch nicht mehr Wirtschaftsgeld bewilligt als früher. Seine Frau konnte nicht immer bei der Wahrheit bleiben, wenn er sie darüber zur Rede stellte. Ungern genug hörte er schon und fühlte sich gedemütigt, wenn sie gestand, einige Konfektionsarbeiten gemacht und durch Vermittlung Frau Walchers unter der Hand verkauft zu haben. Nie hätte er erfahren dürfen, daß sie ein eben entbehrliches Kleidungsstück oder Hausgerät ins Versatzamt getragen, einen noch aus dem väterlichen Hause mitgebrachten kleinen Schmuckgegenstand veräußert hatte. Er hielt viel auf diese Reste einer ehemaligen Wohlhabenheit; es schmeichelte ihm, sich seine einst sehr schöne Frau – nur leider die Hellblonden verblühen sehr schnell! – aus einem guten und damals fast reichen Hause geholt zu haben. Der geringste Zufall konnte alles an den Tag bringen, und dann – Agnes schloß die Augen und erzitterte bei dem Gedanken, was dann geschehen würde. Aber gleichviel, das Kind mußte um jeden Preis besser genährt werden als bisher.

Frau Adjunkt Walcher hatte sich schon vor einem Jahre in ihrer kurzangebundenen, offenherzigen Weise darüber ausgesprochen: »Mir scheint immer, Sie halten Ihren Schorsch zu kurz in der Kost, Frau Offizial. So ein Bub will tüchtig essen. ›Das Lernen zehrt, und in einen kleinen Ofen muß man öfter nachlegen als in einen großen‹, sagt mein Mann. Er und ich sind oft hungrig schlafen gegangen – Herrgott, ein Adjunkt mit tausend Gulden Gehalt! –, unsere zwei Buben waren immer satt geworden. Sehen auch aus wie die Knöpf. Ihr Schorsch schießt in die Höh, wird ja bald den Herrn Offizial eingeholt haben, setzt aber kein Lot Fleisch an.«

»Finden Sie, daß er schlecht aussieht?« hatte Frau Agnes in Bestürzung ausgerufen.

Nun nein, das fand die Frau Adjunkt gerade nicht, aber so gewiß »kleber« und eine bessere »Farb« sollt er haben: »Die Nahrung muß ausreichend sein«, sie betonte das Wort mit Wohlgefälligkeit, es kam ihr so gebildet vor. »›Ausreichend‹, sagt mein Mann. ›Das viele Lernen schlagt sich sonst den Kindern auf die Nerven.‹«

Dies Gespräch hatte entschieden; die Liebe der Mutter hatte über den Widerwillen der ehrlichen Frau gegen Falschheit und Lüge gesiegt. Ihrem Manne Vorstellungen zu machen, einen Versuch zu machen, ihn zur geringsten Mehrausgabe zu bewegen wäre ihr so wenig eingefallen, als einem Stein zuzureden, sich in Brot zu verwandeln. Eine Erörterung zwischen ihm und ihr kam überhaupt nicht vor. Vom Anfang ihrer Ehe an hatte sein herrisches und ablehnendes Wesen jede Möglichkeit, ihm vertrauensvoll zu nahen, ausgeschlossen. Was konnte eine Frau ihm zu sagen haben? Er war er, und außer ihm war die Pflicht, und diesen beiden höchsten Mächten unterstand die Welt, die er begriff. Erst als ein Sohn ihm geboren wurde, gab es ein zweites Wesen, ihm ebenso wichtig wie er sich selbst. Eine Fortsetzung seines Ich, eine vervollkommnete Fortsetzung. Alles, was seinem Ehrgeiz versagt geblieben, was er nicht errungen, sollte sein Sohn erringen.

Er war aus Armut und Niedrigkeit hervorgegangen, hatte einen nur mangelhaften Schulunterricht genossen und niemals die Aussicht gehabt, es zu einer höheren Stellung zu bringen. Als kleiner Beamter lebte er und würde er sterben. Aber der Sohn: das Gymnasium als Primus absolvieren, den Doktorhut summa cum laude erwerben, schon in den ersten Anfängen der Laufbahn von der Glorie reichster Verheißungen umstrahlt, steigen von Erfolg zu Erfolg, von Ehren zu Ehren – das sollte der Sohn. Den nüchternen Offizial Pfanner, den unfehlbaren Rechner, den trockenen Vernunftmenschen nahm, wenn er sich diesen Vorstellungen hingab, die Phantasie auf ihre Flügel und trug ihn über alle Gipfel des Wahrscheinlichen sausend hinweg. Und wenn er dann wieder zur Erde niederstieg und seinen Georg zufällig einmal müßig einhergehen sah, wetterte er ihn an: »Lern!«

Er selbst, immer in der Zukunft lebend, die Gegenwart und was sie darbot, geringschätzend, entfremdete sich mehr und mehr seinen Standesgenossen. Er erwies sich ihnen gefällig, machte Arbeiten, die ihnen zugekommen wären, hatte aber dabei nur seinen eigenen Vorteil, die Verbesserung seiner Stellung, im Auge. Dem Verkehr mit ihnen, den Zusammenkünften im Kaffeehaus und im Stammgasthaus, ging er soviel als möglich aus dem Wege. Nur selten fand er sich mit den Kollegen zusammen. Beim »Goldenen Wiesel«, wo die Versammlungen der Herren Beamten stattfanden, an denen auch einige Vorgesetzte und Bekannte der Vorgesetzten teilnahmen, da begegnete Pfanner richtig jedesmal dem Manne, den er haßte, dem Kunstschlosser Herrn Obernberger. Vor Jahren hatte es dem als großer Vorzug gegolten, mit den Herren von der Eisenhahn im Gasthaus zusammenkommen zu dürfen. Jetzt hatte der Standpunkt sich verrückt. Seitdem die Arbeiten aus der Kunstschlosserei Obernbergers erste Preise auf den Ausstellungen erhalten hatten, seitdem er viele hundert Arbeiter in seinen Werkstätten beschäftigte, im eigenen Hause wohnte, im eigenen Wagen vorfuhr und das Band des Franz-Josefs-Ordens im Knopfloch trug, eilten die meisten der Herren ihm bis zur Tür entgegen, und bei Tische erhielt er den Platz zur Rechten des Inspektors.

Das alles hätte Pfanner hingehen lassen und sich nicht weiter darum gekümmert. Aber dieser Schlosser hatte einen Sohn, und dieser Sohn trat seinem Georg im Gymnasium auf die Fersen, konnte ihn einholen, konnte ihn überflügeln, denn der verdammte Bub hatte Talent, sein ärgster Feind mußte das zugeben. »Talent um eine Million«, wie Herr Obernberger sagte, »aber nicht um einen Heller Fleiß.«

 

Es war nach der Schule. Pepi Obernberger und Georg Pfanner gingen ein Stück des Weges miteinander. Sie waren beide aufgerufen worden vom Professor des Griechischen, und Pepi hatte besser bestanden. Georg schritt sehr kleinlaut und mit einem ganz roten Kopf neben ihm her. Der Vater versäumte nie zu fragen: »Hat der Herr Professor dich aufgerufen, und wen noch, und wie ist’s gegangen?«

»Du weißt immer«, sagte Georg zu seinem Kameraden. »Hast heute wieder sehr gut gewußt. Ich wäre froh, wenn ich immer so gut wüßte wie du.«

Pepi fing sogleich zu prahlen an: Hol’s dieser und jener! Ihm lag nichts an dem dummen Plunder. Kasusartige Endungen, Komparation der Adjektiva, dummes Zeug! Er plagte sich auch gar nicht damit. Wenn der Trottel von einem Professor eine neue Walze einlegte in seinen Werkelkasten und anfing sie herunterzuleiern, da höchstens hörte er ein bißchen zu. Zu Hause sah er kein Buch an, das war ihm viel zu fad.

»Geh, geh!« fiel Georg ungläubig ein, und er verbesserte sich: »Fast keins, auf Ehre! Daß sie mir immer so gute Zeugnisse geben, das danke den alten Perücken der Teufel. Ich gift mich drüber, weil’s meinen Alten auf die dumme Idee bringt, einen Professor aus mir zu machen. Aber nein! Lieber als so ein lächerlicher Zopf zu werden und auf alles zu verzichten, was schön ist: radfahren, reiten, jagen, tanzen, kutschieren, Billard spielen im Kaffeehaus, Gletscher besteigen – lieber erschieß ich mich!«

Georg sah ihn aufmerksam an. Er war so ganz und gar das Ebenbild seines Vaters, des braven, fröhlichen Herrn Obernberger mit dem runden Kopf und dem runden Gesicht und dem freundlich lächelnden Munde. Und der Mensch sprach von Selbstmord?

»Red nicht so!« rief Georg. »Du wirst keine Todsünde begehen; Selbstmord ist eine Todsünde und eine Feigheit.«

»Unsinn!« stieß Pepi höhnisch aus. »Wie kann man so ein Esel sein und alles nachplappern, was sie einem in der Schul sagen. Aber du hast nie einen eigenen Einfall. Hast den Kopf schon ganz ausgestopft mit Pappendeckel. Adje!« – Du Schulesel! setzte er in Gedanken hinzu und bog ab, um die nächste Tramwaystation zu erreichen.

Georg ging langsam vorwärts und sagte sich doch mit Unbehagen, daß jeder Schritt ihn dem Hause näher brachte, wo der Vater ihn gewiß schon erwartete mit der ständigen Frage, die er heute mit so großem Zagen beantworten würde.

O das traurige Haus, das kahle, große, mit den langen Gängen und den schmalen Stiegen, und das Zimmer, in dem man immer saß zu dreien und wo keines sich vor dem andern retten konnte. Dahin mußte er zurückkehren, heute und morgen und alle Tage und noch fünf Jahre lang. Wie soll man das erleben, und hat man’s erlebt, fangen neue Studien an, die schwersten. Wie ein grauer Berg, den er nie werde übersteigen können, bäumte die Zukunft sich vor ihm auf, ein ödes, trostloses, der Verzweiflung verwandtes Gefühl ergriff sein Herz und durchtränkte es mit unsagbarer Bitternis. Plötzlich kam ein nie gekannter Trotz über ihn. Obwohl die Uhr am nächsten Turme halb sieben schlug, obwohl er genau wußte, daß er werde sagen müssen: Ja, ich habe mich aufgehalten unterwegs, setzte er sich auf eine Bank im kleinen Square vor Beginn der Gasse, in der die elterliche Wohnung lag, zog die Nachtigall aus der Tasche und ließ sie schlagen. Sie tröstete, sie milderte jedes herbe Gefühl. Sie ließ ihn einen Übergang finden aus tiefer Niedergeschlagenheit zu lauterem Frohmut.

Er hatte ja nicht nur Betrübnis und Gram in seiner Seele, tief in ihrem Innersten unter lastenden Schatten lohte rot und warm die Flamme junger Lebensfreudigkeit und ein unausgesprochenes, immer zum Schweigen verdammtes Glücksgefühl wollte sich einmal hinaussingen. Es jubelte in die laue Luft, zum lichten Frühlingshimmel empor, mit der Stimme der Nachtigall.

 

Georg fand den Vater nicht daheim. Er war dagewesen, hatte sich umgekleidet und zu einer Beamtenversammlung ins Stammgasthaus begeben. Mutter und Sohn sprachen es nicht aus, welch ein Fest das Alleinbleiben für sie war. Um jede Minute, die er auf dem Heimweg vertrödelt hatte, tat es Georg jetzt leid. Die Stube kam ihm auf einmal traut und freundlich vor, die Luft reiner, und die Lampe schien heller zu leuchten als sonst. Unter ihr in einem Glase stand ein kleiner Veilchenstrauß; Frau Walcher hatte ihn gebracht.

Georg beugte sich über ihn und sog seinen zarten Duft ein: »Die gute Frau Walcher«; er lächelte seine Mutter pfiffig an. »Hat sie den auch vom Land gekriegt, wie neulich wieder das gute ›Junge‹ vom Hasen?«

Frau Agnes errötete. So war ihr der Schorschi hinter ihre Schliche gekommen? Sie wich seinem auf sie gerichteten Blick aus, sie antwortete nicht, sie sprach nur: »Der Vater hat dir sagen lassen, du sollst lernen.«

»Schon recht«, erwiderte er übermütig und warf die Schultasche in weitem Bogen auf das Sofa, daß sie dort, emporgeschnellt, einen fröhlichen Hupf machte.

»Aber Georg, du bist ja heue wie ausgewechselt.«

»Ja, ja, Mutter!« Er stürzte auf sie zu und schloß sie in seine Arme.

Sie wehrte: »Sei gescheit.«

»Nein, gescheit bin ich heute einmal nicht. Ich muß dich liebhaben und küssen, dein liebes Gesicht, deine lieben Hände. Jeder Finger bekommt einen Kuß.«

Nun denn! Ach, die Zärtlichkeit des Kindes tat sehr wohl. »Jetzt aber setz dich und iß, es wird ja alles kalt.«

Und sie setzten sich und aßen und ließen sich’s schmecken und plauderten und dachten nicht an morgen und waren so glücklich, wie die armen Leute sind, die ganz in der Gegenwart leben, den Augenblick genießen, den Blick von der Zukunft abgewendet, die ihnen nichts Gutes bringen kann.

Nach dem Abendbrot begab die Mutter sich an die Nähmaschine und wollte noch ein Stündchen fleißig sein. Die alte Nähmaschine, die sich die letzte Zeit hindurch nur schwer in Bewegung setzen ließ und den Dienst auch schon mehrmals versagt hatte, glitt heute dahin wie ein Schlitten auf fest gefrorener Bahn. Was war denn da geschehen? Gestern noch hatte die Mutter gedacht, die alte Getreue werde überhaupt nicht mehr brauchbar sein und nicht einmal in der Fabrik hergestellt werden können. Was geschehen war? Der Vater hatte sie auseinandergenommen und sie ausgezeichnet repariert.

»Der Vater?« das gab dem Georg zu denken. »Hat denn der Vater gelernt, Nähmaschinen reparieren?«

»Gewiß nicht. Aber weißt du, der Vater kann vieles, das er nicht gelernt hat, er hat zu allem Talent.«

Hat es nicht gelernt und kann es, weil er Talent hat. Etwas können, das man nicht gelernt hat, heißt also Talent haben. Er versank in Grübeleien.

»Aber Mutter, ich hab doch auch Talent.«

Sie mußte lachen. Es war wirklich, wie wenn ein Zweifel aus seinen Worten spräche: »Nun, ich meine, du hörst es oft genug, um es zu wissen«, und sie griff zärtlich mit der Hand in seinen zerzausten blonden Schopf.

»Wenn’s nur wahr ist, Mutter, wenn’s nur recht wahr ist«; er schluckte mühsam und benetzte die trocken gewordenen Lippen mit der Zunge. Die Traurigkeit, die ihn nach dem Gespräch mit Pepi angewandelt hatte, wollte sich wieder in ihm regen; aber die Anwesenheit der Mutter bannte sie rasch. Sein Herz ging weit auf, nicht das kleinste Geheimnis blieb darin. Von allem, was bisher stumm und schweigend in ihm gelegen, redete er, und während er es tat, wurde ihm manches klar und ausgemacht, was er sich selbst nie eingestanden hatte. Die Mühe, die das Lernen ihm verursachte, und daß es ihm so schwer wurde, sich etwas »auswendig zu merken«. Andere lernten viel leichter auswendig und merkten sich’s viel länger.

»Du hast kein sehr gutes Gedächtnis«, meinte die Mutter und dachte, das kommt oft vor bei sehr Talentvollen. Sie gab dem Sohn auch etwas Ähnliches zu verstehen; er zuckte die Achseln.

»Wer Talent hat, das findest du selbst, kann auch, was er nicht gelernt hat. Ich hab vielleicht gar kein so großes Talent zum Lernen in der Schule. Aber vielleicht zu etwas anderem… Das Singen in der Volksschule hat mich so gefreut. Da hab ich immer einen Einser gehabt… und – weißt du noch, die Flöte! Ach, wenn ich hätte lernen dürfen Flöte spielen, oder gar Violine… Jetzt hab ich halt nichts mehr als nur – soll ich’s dir sagen? Soll ich? Ja? – Bleib sitzen – ganz ruhig.«

Er stand auf und ging in den dunkelsten Winkel des Alkovens, und leise schwirrten von dort her die Töne der Nachtigall zu der Mutter herüber. Sie staunte, legte die Hände in den Schoß und hörte zu und überhörte, daß die Küchentür geöffnet wurde, und nun auch die Zimmertür.

»Halb elf«, sprach Pfanner eintretend, »und du bist noch auf, und wo ist der Bub?«

 

Er war in schlechter Laune.

In der Versammlung war ein Antrag, den Pfanner und einige ältere Beamte eingebracht hatten, abgelehnt worden. Beim gemeinsamen Abendessen hatte sich dann Obernberger eingefunden, einen Flaschenkorb in der mächtigen Rechten, und hatte Bordeaux und Champagner mit so guter, bescheidener Manier serviert, daß selbst der Herr Direktorstellvertreter sich herbeiließ, ein Gläschen anzunehmen. Nur Pfanner lehnte schroff ab. In Gift hätte sich ihm ein vom »Schlosser« kredenzter Trunk verwandelt. Bis zum Überdruß renommierte der wieder mit seinem Pepi und gab die tollen Streiche des Burschen so stolz und behaglich zum besten, daß Pfanner zuletzt nicht mehr an sich halten konnte: »Wenn’s der meine so treiben tät, der sollt mich kennenlernen.«

Da waren dann gleich Entschuldigungen Pepis nachgekommen und ein zärtliches Lob des guten Kerls, der er sei, bei all seinem Übermut, und was für ein goldenes Herz er habe und – ein Talent! Die Herren Professoren zweifelten gar nicht daran, daß er in diesem Jahre Primus werden würde.

Primus – der Sohn des Schlossers! Pfanner hatte plötzlich einen gallbittern Geschmack im Munde, und das Essen widerstand ihm. Sein Georg war nur in der ersten Klasse Primus gewesen, in der zweiten zweiter Vorzugsschüler, und nun in der dritten konnte er’s allem Anschein nach gar nur zum vierten, dem letzten Vorzugsschüler bringen. Er hatte ein ›Genügend‹ gehabt in Griechisch und ein ›Befriedigend‹ in Geometrie. Wohin kam er, wenn er es von nun an nicht zu lauter Vorzugsklassen brächte? Wohin überhaupt, wenn er in seinen Leistungen von Jahr zu Jahr zurückblieb? Pfanner sah alles schon verloren, alle Mühe umsonst angewendet, alle Opfer umsonst gebracht. Der Sohn würde am Ende auch nichts anderes werden als der Vater, ein armseliger, kleiner Beamter. Dieser Sohn, dem alle Hilfsmittel geboten waren, der nur die Hand nach ihnen auszustrecken brauchte. Aber es ging ihm zu gut, der Hafer stach ihn, und er überließ sich seinem Leichtsinn und seiner Faulheit. Von Erbitterung erfüllt, mit dem Vorsatz, die Zügel schärfer anzuziehen, war Pfanner nach Hause gekommen. Da fand er seine Frau müßig im Zimmer sitzend und dem Vogelsang lauschend, den sein großer Bub, im Alkoven versteckt, nachahmte.

»Schämst dich nicht?« fuhr er ihn an, als Georg auf seinen Befehl hervortrat. »Hast Ehr im Leib oder keine? Was tragst da in der Hand? Aufmachen die Hand!«

Der Knabe gehorchte. Der Gedanke, eine Entschuldigung vorzubringen, kam ihm gar nicht. Pfanner erfuhr alles, und sein Unwillen, seine Entrüstung kannten keine Grenzen. Dieser Bub! Wirklich ein ungeratener Sohn. Spielt da, der bald Vierzehnjährige, mit einer Lockpfeife, oder was das ist. Spielt bei Tag und Nacht, ja, ja – er besann sich jetzt – hat noch die Eltern zum Narren gehalten. Wenn er abends lernen soll, fallen ihm die Augen zu, spielen kann er bis in die Nacht. »Aber wart nur… Her mit dem Quark!«

Ein fruchtloser Widerstand des Schwächeren, ein rascher Sieg des Stärkeren, ein Armschwung… Das Fenster stand offen – die Nachtigall flog hinaus.

Frau Agnes zuckte zusammen. Georg stand mit weit aufgerissenen Augen: »Vater, meine einzige Freud!« schrie er auf, und galt es nun, was es mochte, die härtesten Worte, die grausamsten Schläge, er mußte weinen um seine »einzige Freud«, weinen, schluchzen, sich auf den Boden werfen und sich winden in Trostlosigkeit und Verzweiflung. Daß der Vater tobte und schrie, hörte er nicht, daß der Vater einen Knoten ins Taschentuch flocht, sah er nicht, daß Hieb auf Hieb auf ihn niedersauste, fühlte er nicht. Er wußte und fühlte nur, daß er ein armes Kind war, dem immer das weggenommen wurde, woran sein Herz ihm hing.

»Aufstehen! Still! Augenblicklich still!« wetterte Pfanner und hatte nicht das geringste Mitleid mit dem Kinde, das sich endlich vom Boden erhob und heftige Anstrengungen machte, sein Schluchzen zu unterdrücken. Vielmehr forderte sein Zorn noch ein Haupt, sich darüber zu ergießen. Wer trug Schuld an dem frevelhaften Leichtsinn des Buben, wer unterstützte ihn noch darin? Die Mutter, die verbrecherisch schwache, törichte Mutter! Wenn aus dem Buben nichts wird, wenn er heranwächst zu einer Last und sogar Schande der Eltern – Müßiggang ist aller Laster Anfang –, wenn er elend untergeht, fällt die Verantwortung dafür auf ihr Gewissen, und sie wird einst zur Rechenschaft gezogen werden.

Pfanner verstand es, seine Umgebung stumm zu machen. Es kam kein Laut über die Lippen seiner Frau. Bis zu einem gewissen Grade hatte sie sich im Laufe ihrer Ehe an sein maßloses Übertreiben gewöhnt, und jetzt freute sie sich gar, daß seine Vorwürfe sie trafen. So diente sie ihrem Jungen eine Zeitlang wenigstens als Schild.

Der Mann schrie und tobte, und dabei zog er den Rock und die Weste aus und legte sie sorgfältig auf einen Sessel. Sogar in der Wut gegen seine nächsten Menschen verfuhr er schonend mit seinen Sachen. Nun entstand eine Pause, aber nur als Vorbereitung zu einem neuen Schrecknis, zu der Frage: »Sind die Aufgaben gemacht?«

»Ich werd sie morgen machen«, erwiderte Georg bang und zögernd. »Morgen ist Sonntag…«

»Ja so. Bring die Aufgaben!« Pfanner sah sie durch. »Eine Fabel aus Deutsch in Latein übersetzen. Griechische Grammatik zu lernen: Unregelmäßigkeit der Deklination. Geometrie: Drei Aufgaben. Geschichte: Wiederholung, von den Kreuzzügen bis zu Rudolf von Habsburg. Und von alledem nichts gemacht? Nichts? Das alles soll morgen bewältigt werden?« Er dekretierte: »Geschichte heute noch wiederholen, aufmerksam durchlesen. Wenn man am Abend etwas aufmerksam durchliest, weiß man es am nächsten Morgen wörtlich.«

»Es sind sechsundzwanzig Seiten«, wagte Georg einzuwenden.

»Zweiundzwanzig, vier Seiten nehmen die Illustrationen ein.« Er legte das Buch vor ihn hin: »Setz dich, lern!«

Der Knabe tat, wie ihm geheißen worden. Gut also, gut, so setzt er sich denn hin und lernt. Daß er müd und schläfrig ist, was liegt daran, ihm ist alles recht, er lernt. Wenn er sich nur zu Tod lernen könnte, das wäre ihm das allerliebste. Wenn er tot wäre, hätte er Ruhe, und seine Mutter hätte Ruhe, brauchte sich seinetwegen nicht beschimpfen lassen. So begann er denn zu lesen: »Schon in den ersten Jahrhunderten trieben Andacht und Glaubensinnigkeit die Christen zu den heiligen Stätten…«

 

An schönen Sonntagnachmittagen unternahm Pfanner regelmäßig einen Spaziergang, und Georg durfte ihn begleiten. Ein Vergnügen, auf das die Mutter längst freiwillig verzichtet hatte und von dem das Kind trauriger heimkehrte, als es ausgewandert war. Mit dem Vater spazierengehen bedeutete, an jeder Unterhaltung, jedem Genuß vorübergehen. Dort drüben, im lustigen Prater, wurde nach der Scheibe geschossen, im Luftschiff, im mechanischen Ringelspiel gefahren, da gab’s Theateraufführungen, Wachsfigurenkabinette, eine Damenkapelle, Zigeunermusik. Und ein Aquarium und ein Panorama und so vieles Schöne noch, von dem Georgs Mitschüler zu erzählen wußten. Wenn er eine Anspielung wagte, eine Frage stellte: »Warst du schon einmal im Wurstelprater? Hast du schon einmal die Zigeuner spielen gehört?« antwortete der Vater voll Verachtung: Was man im Wurstelprater zu sehen und zu hören bekäme, sei lauter elendes Zeug, an dem nur ungebildete und rohe Menschen sich zu ergötzen vermöchten. Im Bogen wich er allem aus, was seine eigene Neugier hätte reizen können oder gar ihn selbst in Versuchung bringen, sich einen guten Tag zu machen: einmal in einem Jahre, nein – einmal in vielen Jahren. Er wollte nicht! wollte nicht ein paar Gulden unnötig ausgeben, die ins Sparkassenbuch des Kindes gelegt werden könnten.

Als sie nach Hause kamen, erwartete sie ein gutes, kräftiges Abendessen.

»Weil heute Sonntag ist«, entschuldigte sich Agnes, da Pfanner ihr neuerdings Verschwendung vorwarf.

Es war ein Verdacht in ihm rege geworden, den er nicht aussprach, der ihn aber quälte und der entweder getilgt oder gerechtfertigt werden mußte. Kürzlich hatte er sich um Lebensmittelpreise erkundigt, hatte gerechnet und herausgebracht, daß die Ausgaben, die sich seine Frau fortgesetzt erlaubte, unmöglich mit dem ihr zur Verfügung gestellten Küchengelde bestritten werden konnten. Erarbeitet wollte sie den Überschuß haben? Lächerlich! Er, der Sohn einer armen Näherin, wußte, was seine Mutter verdient hatte mit täglich zwölfstündiger emsiger Arbeit. Ihm ins Gesicht sollte seine Frau, die ihren Haushalt ohne jegliche Unterstützung bestellte, nicht behaupten, daß sie imstande sei, sich eine regelmäßige Einnahme zu verschaffen. Womit also bestritt sie die Mehrauslagen? Pfanner begnügte sich nicht lange mit den ausweichenden Antworten, die sie ihm gab. Eines Tages stellte er ein scharfes Verhör an, und sie, in die Enge getrieben, angeekelt von der erniedrigenden Pein, immer neue Ausflüchte ersinnen zu sollen – gestand.

Ja denn, ja, sie verkaufte, sie versetzte, sie gab ihr Letztes her, damit das Kind, das in fortwährender geistiger Anspannung lebte, ordentlich ernährt werde in den Jahren der Entwicklung und des stärksten Wachsens.

Pfanner zürnte, höhnte: Was hatte denn er gehabt in diesen sieben Jahren? Wer hatte denn gefragt, wie er sich nährte? Georg wuchs auf wie ein Hofratssohn im Vergleich zu ihm. Er, zu vierzehn Jahren, hatte sich sein Brot selbst verdienen müssen, sein Brot im Sinne des Wortes! und nicht etwa ein frisch gebackenes. Die Entbehrungen hatten ihm sehr gut anschlagen, er war immer gesund geblieben. Warum sollte sein ab anders geartet sein als er und wie ein Weichling behandelt erden, den man aufpäppeln muß?

Agnes beharrte zum ersten Male während ihrer langen Ehe im Widerstand gegen den Mann. Der Augenblick, den sie so sehr gefürchtet hatte, war gekommen und fand sie stärker, als sie geglaubt hatte sein zu können. Ruhig ließ sie die Anklagen Pfanners über sich ergehen, und indes er ihr vorwarf, ihn hintergangen zu haben, grübelte sie nach über eine Möglichkeit, ihn noch weiter zu hintergehen. Es mußte sein, um des Kindes willen.

So widerstandsfähig, wie sein Vater gewesen, war eben der lasse, hochaufgeschossene Junge nicht, der jetzt mit einem: »Guten Abend, Vater und Mutter!« eintrat und schweratmend an der Tür stehenblieb, als ob die gewitterschwüle Atmosphäre, die im Zimmer herrschte, ihm auf die Brust gefallen wäre.

 

Einige Tage später feierte Georg seinen vierzehnten Geburtstag. Er hatte zwei Vorzugsnoten aus der Schule mitgebracht. Mit feierlichem Ernst und mit der Mahnung, das kostbare Geschenk zu schonen, übergab ihm sein Vater einen neuen Sommeranzug, eine hübsche Mütze und ein Paar solide Halbschuhe. Am Nachmittag blieb Pfanner länger als gewöhnlich am Tische sitzen und sprach, nachdem Frau Agnes das Zimmer erlassen hatte, eingehender und zutraulicher mit Georg, als sonst seine Art war.

Er wußte wohl, die Mutter nannte ihn grausam und fand, daß er zuviel verlange von seinem Sohne. Wenn es nach ihr ginge, würde der jetzt freilich gute Tage haben, die Schule Schule sein lassen und nur tun, was ihm gefiele. Aber dann? Wie würde die Zukunft aussehen nach einer vertrödelten Jugend? Und ist die Zukunft nicht die Hauptsache? Ausgerüstet mit der Macht des Wissens soll Georg der seinen entgegengehen. Ohne Mühe freilich ist Wissen nicht zu erringen. Will er der Feigling sein, der vor der Mühe flieht, oder der Held, der sie aufsucht, mit ihr ringt, sie überwindet? Es gibt keinen Sieg außer diesem ersten. Ohne ihn ist kein hohes Ziel zu erreichen.

»Das deine soll ein hohes sein!« rief Pfanner aus. »Du bist nun kein Kind mehr, und ich kann dir sagen, das Ziel, das du dir stecken sollst, ist, ein Staatsmann zu werden. Einer, der mit überlegenem Geiste und mit starker Hand die Teufel der Zwietracht, die unsere Heimat zerreißen, bezwingt, das große Wort: ›Gleiches Recht für alle‹ von den Lippen in die Herzen verpflanzt und es zur Tat und uns einig, groß und glücklich macht. Denk dir, ein Mann sein, der das vermöchte! Er würde der Retter, der Erlöser, der Abgott seines Volkes.«

Georg hörte ihm voll Bewunderung zu. Daß sein Vater mit ihm redete wie mit einem Ebenbürtigen, machte ihn unendlich stolz. Der Glaube an sich selbst, der ins Schwanken gekommen war, erwachte wieder. »Ein ordentlicher Mensch sein ist viel, und der mittelmäßig Begabte mag sich damit begnügen«, hatte der Vater unter anderem gesagt, »ein außerordentlich Begabter ist sich selbst und den andern schuldig, ein großer Mensch zu werden. Bei ihm kommt es nur auf den Willen an, auf den unerschütterlichen Entschluß…«

Er konnte nicht einschlafen an diesem Abend. Die Zukunftsbilder, die sein Vater entworfen hatte, standen zu lebhaft vor ihm. Von der Tätigkeit eines Staatsmannes machte er sich allerdings keinen rechten Begriff, sah sich vorerst auf der Rednerbühne, einer Versammlung gegenüber, die ihn mit höhnenden Zurufen empfing, Feindseligkeit blickte aus aller Augen, in jedem Gesicht stand ein: Nein! geschrieben. Und er begann zu sprechen, und allmählich verstummten die Zurufe, und von den Gesichtern verschwand der mißgünstige Ausdruck, Teilnahme und Zustimmung wurden rege und begannen sich zu äußern, vereinzelt erst, dann immer häufiger, endlich völlig einstimmig. Er hatte seine Zuhörer hingerissen durch die Gewalt seines Wortes. Und alle, vom ersten bis zum letzten, sahen den Führer in ihm und folgten ihm willig und entzückt; denn sie wußten, was er wollte, war das Gute, das Weise, und der Weg, den er sie führte, war der Weg zu ihrem Heile.

Auf seinen nächsten Gängen zur Schule blieb er nicht mehr bei Salomon stehen. Er dankte für die freundlichen Winke und Verbeugungen des Hausierers nur mit einem kurzen Grußwort. Einmal hielt er sich aber doch bei ihm auf. Salomon hatte ihn gar zu inständig flehend angesehen und fragte gar zu trübselig: »Habe ich Ihnen was getan, junger Herr, sind Sie böse auf mich?«

»Was dir einfällt«, erwiderte Georg, »was werd ich denn bös auf dich sein.«

Es kam Salomon halt so vor. Vielleicht hatte die Nachtigall sich doch nicht bewährt, hineinschauen kann man ja nicht, und vielleicht wünschte der junge Herr eine andere. Salomon war bereit, ihm eine andere zu geben, um den halben Preis.

»Eine andere um den halben Preis«, erwiderte Georg. Gewaltig trat die Versuchung ihn an, den lockenden Antrag anzunehmen. Aber er bestand, er siegte in seinem kurzen Seelenkampf.

»Nein, nein, ich brauch keine Nachtigall mehr, ich will keine!« rief er. »Ich bin jetzt vierzehn Jahre alt, und es gehört sich für mich nicht mehr zu spielen. Ich muß lernen, ich muß trachten, Vorzugsschüler zu bleiben, ich darf keinen andern Gedanken haben als lernen.«

Diesen Vorsatz führte er aus.

 

Es kamen Tage, an denen sein Fleiß an Raserei grenzte. Sie verflossen und ließen eine schauderhafte Erschöpfung zurück. Niemandem, nicht einmal seiner Mutter, vertraute er, was um diese Zeit in ihm vorging. Ich werd noch närrisch, dachte er. In meinem Kopf ist kein Blut und kein Hirn; in meinem Kopf ist es weiß und leer. Das Lernen hat alles aufgefressen und muß jetzt auch aufhören, weil es nichts mehr zu fressen findet. Das ist ganz natürlich und ganz albern und ein peinigender Zustand, aus dem sich aufzuraffen unmöglich ist…

Wie im Halbschlaf saß er bei seinen Büchern, und eben in dieser Zeit ließ Pepi sich herab, einer Anwandlung des Fleißes nachzugeben, und kam ihm nach, kam ihm vor in großen Sprüngen. Aus jedem Gegenstand, in dem er aufgerufen wurde, erhielt er eine Vorzugsklasse.

Und wieder fragte ihn Georg: »Wie machst du’s, daß du immer weißt? Sag mir’s, wie du’s machst?«

Pepi steckte die Hände in die Taschen und warf die Beine, als ob er sie von sich schleudern wollte: »Zu langweilig! … Dumme Fragerei! …« In abgebrochenen Sätzen nur geruhte er zu antworten. Sein Alter gab klein bei, weil er ihm gedroht hatte, sich zu erschießen. So tat er ihm denn auch etwas zulieb und legte seinem Genie keinen Kappzaum mehr an: »Und jetzt mach ich ihm halt die Freud und werd Primus.«

»Ja, ja, wenn’s geht!«

»Wenn’s geht?«

»Gar gewiß ist’s doch nicht. Es ist noch der Rott da und der Bingler.«

»Ich werd Primus«, wiederholte Pepi voll Aufgeblasenheit. »Alles geht und wird, wie ich’s haben will – grad so!«

»Wie du’s haben willst?«

»Grad so. Das kannst du nicht begreifen. Du freilich nicht, du armer Büffler. Weil du nur ein Büffler bist, kannst du’s nicht begreifen. Du möchtest nur; ich kann, was ich mag.«

Georg warf sich in die Brust: Und ich auch, wollte er antworten; doch brach ihm die Stimme…

Ihm war, als ob der Boden sich aufrisse und zwischen ihm und dem gottbegnadeten Kameraden ein unüberbrückbarer Abgrund gähne. Drüben, mitten in fruchtbaren Gefilden, in denen alles grünte und blühte, stand Pepi, und wohin sein Fuß trat, entsprang ein Quell, und was seine Hand berührte, wurde zur herrlichen Frucht. Und er hüben, auf kargem, steinigem Boden, der widerstrebend nur und ungern sich den schattigen Zweig, den nährenden Halm entringen ließ.

Warum die schreiende Ungerechtigkeit, warum dem andern alles und ihm so bettelhaft wenig?

Pepi beobachtete seinen stillen Kampf und verzog höhnisch den Mund. »Büffler!« sprach er. »Büffeln kommt von Büffel, und Büffel gehören zu der Gruppe der Rinder.« Da ergriff wilder Zorn den sanftmütigen Georg. Er sprang ruf Pepi zu und packte ihn an der Gurgel.

Der unerwartet Angefallene brüllte und wehrte sich mit Händen und Füßen, und bald waren die beiden umringt von einer johlenden Schar, die sich an dem Zweikampf beteiligte, fast durchweg zugunsten Georgs. Den vielbeneideten, vielgehaßten Pepi einmal gänzlich überwunden abziehen zu sehen gewährte jedem einzelnen einen köstlichen Genuß. Jämmerlich zugerichtet, in zerfetzten Kleidern verließ er den Plan. Das begab sich unweit der Schule, und an der Straßenecke war Salomon gestanden und hatte der Schlacht mit gespannter Teilnahme zugesehen. Er begleitete Georg mit Glückwünschen und Heilrufen; der aber winkte traurig ab. Er hatte etwas getan, was seinem ganzen Wesen widersprach, schämte sich seines Erfolges und betrachtete mit Entsetzen seinen neuen Rock, an dem die Spuren der Schlägerei zu sehen waren. Nun begann er zu rennen, um früher als der Vater heimzukommen. In Schweiß gebadet betrat er die Küche, legte das Ohr an das Schloß der Zimmertür und horchte. Alles still, nur die Nähmaschine schnurrte, die Mutter war allein. O Gott sei Lob und Dank! Hastig trat er ein und sprudelte die Geschichte seines jüngsten Erlebnisses heraus: »Und jetzt flick mir den Rock, Mutter, flick mir den Rock!«

 

Das Abendessen wurde schweigend eingenommen. Eine dumpfe Verstimmung herrschte im Hause. Pfanner schmollte noch immer mit seiner Frau. Er hatte die Scheine über alle von ihr versetzten Gegenstände an sich genommen, um sie nach und nach einzulösen. Gott weiß, unter welchen Bitternissen. Jeder Gulden, den er ins Versatzamt trug, war ein Raub am Sparkassenbuch seines Sohnes; an diesem künftigen Vermögen, aus dem die Kosten der Rigorosen und des Freiwilligenjahres bestritten werden sollten. Es gab Augenblicke, in denen er sie haßte, die Schuld an dem Raube trug. Ihn gutzumachen lag nicht in ihrer Macht, in der seinen aber lag, sie büßen und leiden zu machen. Tag für Tag wiederholte sich dieselbe Tortur. Tag für Tag verlangte er die Hausrechnung zu sehen, ging jeden einzelnen Posten durch, bemängelte jeden. Mit raffinierter Kunst erniedrigte er die Mutter in Gegenwart des Kindes durch sein zur Schau getragenes Mißtrauen.

»Wer einmal betrogen hat, gleichviel in welcher Absicht, betrügt wieder! Man muß sich vor ihm in acht nehmen.«

Gepeinigt sah Georg zu ihr hinüber und warf ihr hinter dem Rücken des Vaters Küsse zu. Um seinetwillen wurde sie beschämt, er war der unschuldige Urheber ihrer Qual. Und sie, alles erratend, was in ihm vorging, bezwang sich, bemühte sich, gelassen und standhaft zu bleiben bei den Kränkungen, die sie erfuhr. Der Mann hielt für Unempfindlichkeit, was höchster Heldenmut war, und verschärfte die Lauge in den Ausdrücken seiner Geringschätzung. Wie immer war es auch heute gegangen und Agnes kaum noch imstande, ihre Selbstbeherrschung zu bewahren, als ein heftiger Riß an der Glocke sie erschreckte. Sie schrie auf; auch Georg erschrak. Es war etwas völlig Ungewohntes, daß um diese Zeit jemand Einlaß bei ihnen begehrte.

»Nervös, wie die elektrisierten Frösch«, brummte Pfanner. »Habt ihr in eurem Leben noch nicht läuten gehört? Sieh nach, wer’s ist«, befahl er der Frau.

Sie zündete rasch eine Kerze an und eilte in die Küche. Schon wurde ein zweites Mal geschellt, noch ungeduldiger, noch heftiger als früher. Als Agnes öffnete, stand ein großer, breitschultriger, fein gekleideter Mann da und fragte: »Ist Herr Offizial Pfanner zu Hause?«

Wer konnte das sein? Vielleicht ein Vorgesetzter, der Herr Inspektor oder gar der Herr Oberinspektor?

»Ja, er ist zu Hause«, sagte sie, »belieben einzutreten.«

Ohne Gruß ging er an ihr vorbei; er hielt sie offenbar für die Magd, und ihr war der Irrtum recht. Sie hätte in ihrem grauen, ausgewaschenen Perkalkleide, in ihren geflickten Schuhen einem Vorgesetzten gegenüber nicht für die Frau eines k.u.k. Beamten gelten mögen. Höflich stieß sie die Zimmertür vor dem Fremden auf, trat in die Küche zurück und hörte nur noch ihren Mann in durchaus nicht respektvollem Tone sagen: »Herr Obernberger? Was verschafft mir das Vergnügen?«

Obernberger schloß die Tür hinter sich, die Magd sollte das Gespräch zwischen ihm und Pfanner nicht mit anhören.

»Vergnügen werden Sie von meinem Besuch nicht haben«, erwiderte er in erregtem Tone, »ich komme, um mich zu beklagen.«

Hoho! Das konnte unangenehm werden. Pfanner hatte ein böses Gewissen. War eine der wegwerfenden Reden, die er über Obernberger zu führen pflegte, dem »Schlosser« hinterbracht worden? Vielleicht auch einem der Vorgesetzten, bei denen der Meister in hohem Ansehen stand? Verfluchte Geschichte! Pfanner verbarg seine Bestürzung hinter einem besonders borstigen Wesen: »Nur heraus mit der Sprache, genieren Sie sich nicht. Ich kann was vertragen«, sagte er.

Georg war aufgesprungen und hatte einen Sessel herbeigeholt. Obernberger nahm Platz. Er betrachtete den Knaben, der mit gesenkten Augen und krampfhaft verschlungenen Fingern vor ihm stehenblieb, streng und prüfend.

»Herr Obernberger! Herr Obernberger!« sprach Georg leise und flehentlich.

Oh, wenn er früher an Herrn Obernberger gedacht hätte, er würde seinen Sohn nicht geprügelt haben. Herr Obernberger war immer so gütig mit ihm, wenn er ihn traf, und neulich, als er im Wagen gekommen war, den Pepi aus der Schule abzuholen, hatte er Georg eingeladen mitzufahren. Eine Seligkeit wäre es gewesen, der Einladung zu folgen, aber er wagte es nicht. Der Vater hätte gewiß gesagt: »Hast vergessen, daß du keine Gnaden annehmen sollst?«

Je länger Obernberger seine Augen auf Georg ruhen ließ, je milder wurde ihr Ausdruck, und jetzt redete er ihn an: »Wissen Sie, daß ich schon auf dem Wege zum Herrn Direktor war, um mich über Sie zu beklagen? Ich mag Ihnen aber doch Ihre gute Note in Sitten nicht verderben und will mich mit einer häuslichen Züchtigung begnügen, die Ihnen Ihr Vater sicher erteilen wird, wenn er hört, was vorgefallen ist. Herr Offizial«, wendete er sich an Pfanner, »Georg hat heute nach der Schule meinen Sohn angefallen und ihn gewürgt, und andere haben sich hineingemischt, und mein Pepi ist mir nach Hause gekommen, ganz zerrissen, und das rechte Auge so blau und geschwollen, daß er ein paar Tage hindurch weder lesen noch schreiben kann. Und das ist geschehen ohne den geringsten Grund.« »Ohne den geringsten Grund?« wiederholte Pfanner, hob sich halb von seinem Sitz, und es war, als ob er auf den Sohn losspringen wollte.

»Nicht ohne Grund«, hauchte Georg mehr, als er sprach. »Er hat mir gesagt, daß ich ein Büffler bin. Büffeln kommt von Büffel, und Büffel gehören zu der Gruppe der Rinder, hat er gesagt.«

Pfanner schwieg und saß wieder gerade auf seinem Sessel. Obernberger war betroffen.

»Ist das wahr?« fragte er, und Georg beteuerte: »Es ist wahr.«

»Hinaus!« rief Pfanner ihm plötzlich zu und wies mit ausgestrecktem Arm nach der Küchentür.

Draußen stand die Mutter neben dem Herde und zitterte an allen Gliedern und fragte sich, was für ein neues Unheil über ihren Georg hereingebrochen sein möchte. Er lief auf sie zu, war bleich wie Wachs, und grünliche Schatten zogen sich längs der Nase zu den Mundwinkeln herab: »Mutter, Mutter!« preßte er hervor, »was wird jetzt mit mir geschehen?«

 

In der Stube jedoch begab sich das Unerhörte. Pfanner entschuldigte seinen Sohn. Der Junge war schüchtern von Natur und nur zu sanft für einen Buben. Wenn er einmal losgeschlagen hatte, mußte er arg provoziert worden sein. Er sei auch absolut wahrhaft, versicherte der Vater, der ihn noch nie auf einer Lüge ertappt hatte.

»Können Sie das von Ihrem Pepi auch sagen?« fragte Pfanner und setzte die gewisse, militärische Miene auf, die er sich angeeignet hatte, als er einst, nach wenigen Monaten seiner Dienstzeit, zum Korporal befördert worden war.

Der gutmütige Obernberger stand immer noch unter dem Eindruck, den die Todesangst auf dem Gesichte Georgs auf ihn gemacht hatte. Der große, breite Mensch schmolz in der Nähe des kleinen, hitzigen Pfanner ordentlich zusammen. Ein gewaltiger Schneemann in der Nähe eines Häufleins glühender Kohlen. Er hatte keine Ursache, sich auf die Wahrheitsliebe seines Pepi zu verlassen, und weil er das nicht eingestehen wollte, schwieg er.

»Fragen Sie Ihren Pepi aufs Gewissen, ob mein Sohn ihn wirklich ohne Grund geschlagen hat«, sprach Pfanner. »Aug in Aug mit dem Buben, in unserer Gegenwart soll er es ihm wiederholen. Tut er das, dann lade ich Sie zu einer Exekution in, wie sie bei uns noch nicht stattgefunden hat, obwohl ich bei meinem Buben die Prügel nicht spare.«

Bei dieser Abmachung blieb es. Herr Obernberger, der als Richter gekommen war, verließ die Wohnung des Offizials mit dem Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben. Er achtete nicht auf die zwei, die sich tief verneigten, als er die Küche durchschritt.

Georg lief ihm voran, öffnete mit demütiger Beflissenheit die Tür und murmelte: »Verzeihen Sie mir, Herr Obernberger, verzeihen Sie mir!« so leise, mit so von Scheu und Tränen erstickter Stimme, daß der in unangenehme Gedanken versunkene Fabriksherr nichts davon hörte.

Als Agnes und Georg das Zimmer wieder betraten, hatte Pfanner einen großen, mit Zahlen bedeckten Bogen vor sich liegen, den er mit äußerster Aufmerksamkeit durchsah. Georg holte seine Hefte herbei und machte sich an seine Arbeit. Eine halbe Stunde verging, ehe der Vater seinen Sohn ansprach, und dann – o wunder! geschah es nicht einmal in unfreundlicher Weise. Er überzeugte sich, daß Georg beinahe fertig war mit seinen Aufgaben.

»Bist du aus Geschichte schon aufgerufen worden?« fragte er. »Noch nicht.«

»Merkwürdig. So spät?«

»Vielleicht morgen. Wir haben morgen Geschichte.«

»Nun, da kriegst du doch eine Vorzugsklasse?«

»Ich weiß nicht, vielleicht.«

»Du!« schrie der Vater ihn an. »Weißt du, was das heißt, wenn du keine Vorzugsklasse kriegst? Weißt du, was ein ›Genügend‹ dich kostet?«

»Ich weiß es«, erwiderte Georg tonlos.

»Den Vorzugsschüler kostet’s dich, fauler Bub!«

»Ich bin nicht faul, Vater.«

Der Vater hob namenlos erstaunt den Kopf. Sein friedfertiger Junge war heute der Held einer Prügelei gewesen, und jetzt vermaß er sich, ihm zu widersprechen. Was war vorgegangen? War in dem Jungen der Mann erwacht? Sollte er am Ende noch so schneidig werden, wie er sich ihn immer gewünscht?

Frau Agnes hatte ihre Hand auf den Arm des Sohnes gelegt, als er dem Vater widersprochen: »Um Gottes willen, Schorsch!«

»Still«, herrschte Pfanner sie an, »laß ihn reden. Ich bin nicht faul, behauptet er. Also red, ‘s ist erlaubt, ‘s ist befohlen!« drang er in ihn.

»Ich lern den ganzen Tag«, sagte Georg. »Ich kann nicht mehr lernen, als ich lern, ich weiß nicht, was ich anfangen soll, damit du zufrieden bist.« Die Tollkühnheit der Verzweiflung kam über ihn, und er wagte hinzuzusetzen: »Andere Eltern sind schon zufrieden, wenn ihre Kinder ›Genügend‹ bekommen, und ich soll lauter ›Vorzüglich‹ und ›Lobenswert‹ haben… Und ich soll mich schinden… Und ich…« Er konnte nicht weiterreden, rang die Hände, schlug mit der Stirn auf den Tisch und wand sich in einem Schmerze, über den der Vater selbst erschrak. Zum erstenmal im Leben fühlte er sich ratlos dem Kind gegenüber.

»Ich hab schon ein ›Genügend‹ in Griechisch!« schrie Georg in pfeifenden, gequetschten Tönen. »Wenn ich noch ein ›Genügend‹ bekomme, bin ich kein Vorzugsschüler mehr. Und ich bekomm gewiß noch ein ›Genügend‹…«

Das war zuviel. Die Worte machten der Langmut Pfanners ein Ende. Alles in ihm, das ein bißchen weich zu werden begonnen hatte, erstarrte wieder: Kein Vorzugsschüler mehr! Dieser Bub, der die Fähigkeit besaß, einen Platz unter den Ausgezeichneten zu behaupten, wollte durch die Schule kriechen mit dem großen Heer der Mittelmäßigen? Pfui über den Buben!

»Du bleibst Vorzugsschüler, oder ich geb dich zu einem Schuster in die Lehr.«

»Tu’s, Vater, tu’s! Aber warum grad zu einem Schuster!« erwiderte Georg außer sich. »Du kannst mich auch zu Herrn Obernberger gehen, und ich werd ein Kunstschlosser… Oder auch mit Musik kann ich mein Brot verdienen…«

»Georg, Georg, um Gottes willen!« wiederholte die Mutter. Sie sah ihren Mann fahl werden vor Wut, sah seine Fäuste sich ballen: »Musik? Gut, gut! Ich kauf dir einen Leierkasten, kannst in den Häusern orgeln und auf die Kreuzer warten, die sie dir aus den Fenstern werfen.« Georg preßte das Kinn auf die Brust und starrte zu Boden. Pfanner sprang auf und führte einen schweren Schlag auf den Nacken des Kindes: »Kein Wort mehr! Und – das merke, komm mir nicht noch einmal mit einer schlechten Note nach Hause. Untersteh dich nicht!«

»Nein, nein«, murmelte Georg. Er war jetzt ganz furchtlos. Um so besser, wenn er nicht mehr nach Hause zu kommen braucht. Der Vater wird sich nicht mehr über ihn ärgern und die Mutter nicht mehr quälen um seinetwillen. Wäre er doch nicht auf die Welt gekommen… oder wäre er schon draußen – wäre er tot!

Am nächsten Morgen war der Vater von einer furchtbar dräuenden Schweigsamkeit. Die dunkeln Ringe unter seinen geröteten Augen, bei ihm das sicherste Zeichen einer schlaflos durchwachten Nacht, gaben ihm das Aussehen eines Kranken. Er frühstückte hastig, nahm seine Schriften unter den Arm, setzte den Hut auf und verließ das Zimmer, ohne den Gruß seiner Frau und seines Sohnes zu erwidern. Man hörte ihn die Küchentür zuschlagen, daß sie dröhnte.

Georg ordnete die Hefte und Bücher in seiner Schultasche, war fertig, nahm Stück auf Stück wieder heraus, ordnete alles von neuem, langsam und bedächtig. Die Mutter mahnte zur Eile. Er ließ plötzlich alles liegen und stehen und warf sich ihr in die Arme, und sie drückte ihn an ihr Herz. Sie sprachen nicht, es kam keine Anklage über ihre Lippen, aber glühend brannte sie in ihren Herzen. Wie glücklich könnten sie sein, sie zwei, wie glückselig, wenn der Ehrgeiz des Vaters nicht wäre, der blinde, törichte, der vom Apfelbäumchen, das ihm Gott in seinen Garten gepflanzt, die Triebkraft der Eiche verlangte.

Dreimal schon hatte Georg Lebewohl gesagt und brachte sich noch immer nicht fort.

»Du kommst zu spät, Schorschi«, sagte Frau Agnes. »Lauf jetzt, lauf! Und sei nicht so traurig«, fügte sie hinzu und strich ihm über die Wangen.

»Du bist selbst traurig«, antwortete er.

»Ach – das vergeht, bei der Arbeit vergeht’s.«

»Also adieu«, sagte er und schritt resolut der Tür zu und über die Treppe hinab bis zum ersten Stockwerk. Dort blieb er stehen, besann sich, kehrte plötzlich um und stürmte in raschen Sätzen wieder zurück, und wie er oben ankam, sah er die Mutter vor der Wohnungstür stehen, auf derselben Stelle, bis zu der sie ihn begleitet hatte.

»Was gibt’s?« fragte sie, wie aus dem Schlaf auffahrend, warf den Kopf zurück und bemühte sich, eine strenge Miene anzunehmen. »Hast was vergessen?«

»Ich hab dir ja nicht ordentlich Adieu gesagt«, und er fiel ihr um den Hals und küßte sie mit stürmischer Zärtlichkeit.

 

In die Schule kam er zu spät. Der erste Vortrag hatte schon vor einer Viertelstunde begonnen, als er eintrat und sich auf seinen Platz setzte.

»Wo steckst denn?« raunte der Nachbar ihm zu. »Du bist aufgerufen worden und warst nicht da.«

»Unglück, Unglück«, murmelte Georg und gab sich alle erdenkliche Mühe, aufmerksam zuzuhören. In seinem Kopfe ging es sonderbar zu. Es summte und hämmerte darin, und der Stimme, die vom Katheder zu ihm herübertönte – sonst eine laute, kraftvolle Stimme –, fehlte der Klang. Die Worte, die sie sprach, waren nicht artikuliert, flossen ineinander wie Wellen… Noch etwas Sonderbares! Der breite Saal schien sich zu verlängern ins Unglaubliche. Es war kein Saal mehr, es war ein langer Gang, von merkwürdig kaltem, weißem Licht erfüllt, und ganz weit am Ende stand ein schwarzer Strich auf einem Piedestal. Georg mußte mit Gewalt alle seine Denkkraft zusammennehmen, um sich klarzumachen:: das ist der Herr Professor, der einen Vortrag hält.

Er schloß die Augen, lehnte sich zurück und dachte: Ich werde heute nicht lernen können. Nach einer Weile aber wurde es besser, er vermochte sich aus dem unheimlich traumhaften Zustand, in den er geraten war, herauszureißen. Der zweite Vortrag hatte begonnen. Der jetzt sprach, war ein sehr beliebter, von der ganzen Schule verehrter Lehrer, der Professor der Geschichte. Er hatte einen sonst kaum mittelmäßigen Schüler aufgerufen, und der bestand mit Ehren. Georg folgte. Ach! wenn er auch soviel Glück hätte wie sein Vorgänger. Es schien beinahe. Der Professor prüfte aus dem unlängst von Georg Wiederholten und sagte: »Gut, bis auf zwei Jahreszahlen. Sie bekommen ›Lobenswert‹. Ich möchte Ihnen aber gern ›Vorzüglich‹ geben können und stelle deshalb noch einige Fragen. Nennen Sie mir alle deutschen Kaiser bis zu Rudolf dem Ersten.«

Das war keine sehr schwere Frage. Voll Zuversicht begann er sie zu beantworten und gelangte glorreich bis zu Otto III. Da verriet ihn sein Gedächtnis – er ließ den gelehrten und frommen Kaiser ein hohes Alter erreichen und Heinrich II. den ersten Salier sein.

Der Professor zuckte bedauernd die Achseln und unterbrach ihn: »Das geht nicht gut. – Etwas anderes! Erzählen Sie mir die Geschichte von Konradin.«

Oh – die wußte er! Die hatte er seiner Mutter erzählt; so rührend, daß sie dabei weinen mußte. Konradin war ja – nun ja –, war ja König Enzio… Oder nein, richtig – Enzio war Konradin…

Ein kaum unterdrücktes boshaftes Kichern erhob sich, der Pepi lachte ihn aus. Die Augen des Professors hefteten sich fest auf ihn. Er verstand, daß diese guten, wohlwollenden Augen ganz besorgt fragten: Sind Sie bei Trost?

Er hätte schreien mögen: Nein! Ganz verwirrt und konfus bin ich!

»Sie tun mir leid«, sprach der Professor, »aber – sagen Sie selbst – welche Klasse haben Sie verdient?«

Georg flüsterte etwas völlig Unverständliches. Dem Lehrer schien, es sei ein Dank gewesen. Der Junge wußte heute nichts, erriet aber viel, erriet das innige Mitleid, das er seinem Lehrer einflößte.

Ehe der dritte Vortrag begann, verließ er die Schule und ging langsam die Straße hinab. Es war ein Frühlingstag mit sommerlichem Sonnenschein, der Himmel wolkenlos, die Luft noch frei von Staub und Dunst. Georg schritt mit weit aufgerissenen, verglasten Augen zwischen den Menschen dahin, die sich in der Hauptverkehrsstraße der Vorstadt drängten. Einem oder dem andern fiel auf, wie sonderbar »verloren« er aussah.

Keiner hatte Lust und Zeit, ihn zu fragen, was ihm sei. Ein Tischlerjunge nur, der einen Handwagen schleppte und an den er angestoßen war, rief ihm zu: »Hüo! wo hast dein Schädel? Anhaut mitsamt der Mitzen?«

Unwillkürlich griff Georg nach seinem Kopfe. Er war barhaupt, hatte seine Mütze in der Schule gelassen und auch seine Lernsachen. Daran lag aber nichts. Ihn würde niemand nach ihnen fragen. Er konnte ja nicht mehr heim. »Komm mir nicht nach Hause mit einer schlechten Note!« Diese Worte dröhnten unablässig an sein Ohr. Jetzt mußte er sie bekommen, die schlechte Note, die erste wirklich schlechte. Was würde der Vater jetzt mit ihm tun? Und wie würde die Mutter sich kränken… Nein, nein, Vater und Mutter, er wagt es nicht, er kommt nicht mehr zurück, er geht, wohin schon mancher unglückliche Schüler gegangen ist: in die Donau. Und dieser eine Gedanke, je länger er ihn vor sich sah als das Unabwendbare, einzige, je mehr befreundete er sich mit ihm. Dieser Gedanke mit dem dunklen Kerne hatte eine blendende Atmosphäre und fing an eine große Helligkeit zu verbreiten. Er gestaltete sich jetzt so: Ich muß in die Donau, ich will aber auch, und gern. Wie gut ist es, tot zu sein, nicht mehr hören müssen: Lern! Wie gut auch, wenn es keinen Zwiespalt mehr zwischen den Eltern gibt. Aber du begehst einen Selbstmord, fuhr es ihm durch den Sinn, und ein Selbstmord ist eine Todsünde. Ihn schauderte. »Lieber Gott! Allgütiger!« stöhnte er und blickte flehend zum Himmel empor. »Rechne mir meinen Tod nicht als Sünde an! Ich will keine Sünde begehen, ich will sterben für den Frieden meiner Eltern. Mein Tod ist ein Opfertod.«

Ein Opfertod!

An dieses Wort klammerte er sich; es brachte ihm Trost. Es verwandelte die Tat der Verzweiflung in eine Heldentat und schwerste Schuld in ein Märtyrertum. Es ging auf vor dem armen, irrenden, suchenden Kinde wie ein Stern in der Nacht. Keine Erwägung, keine Überlegung, kein Zweifel mehr, nicht die geringste Fähigkeit, sich etwas anderes vorzustellen, nur die rasende, unbezwingliche Sehnsucht, Erlösung zu erfahren und Erlösung zu bringen.

 

Er war am Ende der Straße angelangt, bog in die Seitengasse ein, die auf den Kai mündete. Bleierne Müdigkeit lag ihm in den Gliedern, sein Kopf brannte und schmerzte bis zur Bewußtlosigkeit. Die Donau, die ist ein kühles, weiches Bete, da findet man Ruhe und Labung. Nur sie erreichen, nur bis zu ihr hinkommen! Eine dumpfe Angst: Sie mißgönnen mir die Erlösung, sind hinter mir, verfolgen mich, jagte ihn vorwärts. Er begann zu laufen, und dabei schien ihm, daß er immer auf demselben Fleck bliebe. Das war fürchterlich, noch einmal einen so argen Kampf mit dem Unüberwindlichen kämpfen zu müssen.

»Wohin? Was sind Sie so eilig?« sprach eine wohlbekannte Stimme ihn an. Der Hausierer stand vor ihm.

»Du?« sagte er, »du, Salomon?«

Ein wenig Zeit nahm er sich zum Abschied von dem Armen. Auch der war elend, dem es Seligkeit gewesen wäre, in der Schule zu sitzen, aus der Georg entflohen war, und der auf und ab wandeln mußte vom frühen Morgen bis in die späte Nacht in Staub und Sonnenbrand, und sah so krank aus, und seine schmächtige Gestalt war schon ganz schief vom Tragen des schweren Warenkastens. Ja, ja, wem zu Schweres auferlegt wird, der verkrüppelt. Armer Salomon, den der Wachmann aufscheucht und einzuführen droht, wenn er ganz erschöpft einige Augenblicke auf einer Bank ausruhen möchte. Fort, fort auf müden Füßen in den ausgetretenen, geplatzten Stiefeln… Georgs Blick glitt über sie hinweg und plötzlich beugte er sich, zog rasch seine neuen Halbschuhe aus und legte sie auf den Warenkasten.

»Nimm sie, ich brauche sie nicht mehr«, sprach er und – lachte. Ja, wahrhaftig, Salomon schwor später drauf, daß er gelacht habe, und wie unaussprechlich schmerzvoll dieses Lachen geklungen, kam ihm erst später zum Bewußtsein, nachdem alles vorüber war. Zuerst in seiner freudigen Verblüffung hatte er nur Augen für die schönen, guten Schuhe, die ihm wie aus dem Füllhorn des Glückes zugefallen waren. Als er sich besann, daß Georg seine Schuhe gar nicht verschenken dürfe und wohl nur einen Spaß mit ihm gemacht habe und er sich umsah und rief: »Junger Herr! junger Herr!« – drang schon lautes, vielstimmiges Geschrei an sein Ohr: »Im Wasser!« – »Hineingesprungen!« – »Hilfe! Hilfe!« Von allen Seiten stürzten sie herbei, rannten, krochen die steile Böschung hinab, standen mit vorgestreckten Hälsen, Entsetzen oder stumpfsinnige oder abscheuliche Neugier in den Gesichtern, und deuteten: »Da! dort! Siehst ihn?«

Anstalten zur Rettung wurden getroffen – vergebliche. Eine Stromschnelle hatte den schwimmenden Körper erfaßt und häuptlings an einen Brückenpfeiler geschleudert.

Mit gellenden Weherufen drängte sich Salomon durch die Menge zum Ufer hin. Die Schuhe hatte er von sich geworfen, streute seine Waren im Laufe achtlos aus… Gott! Gott! Ins Wasser gesprungen – in den Tod gegangen, der, den er bewundert hatte und beneidet und der immer so gut gegen ihn gewesen war.

 

Pfanner hatte einen schweren Entschluß gefaßt und ausgeführt. Er war zum Direktor des Gymnasiums gegangen, um Georg seiner Nachsicht zu empfehlen. Vor wenigen Tagen noch würde er einen solchen Schritt für unmöglich gehalten und geglaubt haben, sich und Georg durch ihn zu erniedrigen.

Mit soviel Wärme und Verbindlichkeit, als ihm irgend zu Gebote standen, sprach er die Bitte aus, seinen Sohn nachsichtig zu klassifizieren, wenn der Bursche auch in letzter Zeit etwas nachgelassen habe im Fleiße. Sein Vater bürgte dafür, daß es von nun an besser werden sollte.

»Nachgelassen im Fleiße?« Das war dem Direktor neu. Soviel er wußte, hatte noch keiner der Professoren sich über Georgs Mangel an Fleiß beklagt. »Ich wäre froh«, sagte er, »wenn ich allen Eltern so Gutes über ihre Söhne sagen könnte wie Ihnen über Georg. Er ist bei sämtlichen Lehrern vortrefflich angeschrieben, sehr brav und auch durchaus nicht unbegabt…«

»Oh, das glaub ich!« warf Pfanner hochfahrend ein.

»Durchaus nicht unbegabt«, wiederholte der Direktor kühl, »aber auch nicht ungewöhnlich begabt. Ich fürchte, daß Sie zuviel von ihm verlangen, ihm eine größere Leistungsfähigkeit zutrauen, als er besitzt. Wenn Sie ihn zwingen, seine Kräfte zu überspannen, ruinieren Sie ihn.«

Der Offizial kam tief niedergeschlagen ins Büro. So verlangte er also zuviel von seinem Buben, so ruinierte er ihn, so sollte Georg nur mittelmäßig begabt sein? Er glaubte es nicht. Diese Schulleute irren so oft. Wie viele, von denen ihre Lehrer nichts gehalten, sind große Männer geworden. Er ging an seine Arbeit, vergrub sich in sie, suchte Rettung in ihr vor dem schweren Drucke, der ihm auf dem Herzen lastete.

Gegen Mittag meldete ihm der Bürodiener, es sei jemand da, der ihn sprechen wolle. Auf dem Gange erwartete ihn Frau Walcher in einem Zustand furchtbarer Verstörtheit. Etwas Entsetzliches sei geschehen, stotterte sie, das Ärgste, das man sich denken könne. Er solle nur gleich mit ihr kommen.

»Was ist das Ärgste?« fuhr er sie an. »Was ist’s mit meinem Buben?«

Ihre Antwort war eine Gebärde der Verzweiflung.

 

Dem Liebling des Gymnasiums wurde ein feierliches Leichenbegängnis bereitet. Alle Professoren, alle Schulkameraden beteiligten sich daran. Meister Obernberger folgte dem Zuge, weinend wie ein Kind, und sein Pepi hatte heute allen Hochmut abgetan.

Der Vater schritt in guter Haltung hinter dem Sarge. Jedes Wort, das am Grabe zum Preise seines Sohnes gesprochen wurde, schien ihm wohlzutun, während die Mutter immer tiefer in sich zusammensank.

»Am besten für sie wär’s«, sagte schwerbekümmert Frau Walcher zu ihrem Manne, »wenn man sie gleich mitbegraben könnt.«

Die zwei Ehepaare traten die Rückfahrt im selben Wagen an. Pfanner und seine Frau wechselten nicht eine Silbe. Einer wich scheu dem Blick des andern aus. Daheim angelangt, gab Agnes den dringenden Bitten der Freundin, zuerst bei ihr einzutreten, nach.

Da hat sie doch ein paar Stunden Frieden, dachte die Getreue.

Als der Abend kam und die gewohnte Pflicht sie rief, ging Agnes mechanisch daran, das Abendbrot zu bereiten. Sie betrat das Zimmer, um die Lampe anzuzünden. Aber Pfanner hatte das schon selbst getan. Die Lampe brannte auf dem Tische, und dort lagen die Bücher und die Mütze, die der Schuldiener zurückgebracht hatte. Vor sich aufgeschlagen hatte Pfanner ein dünnes Büchlein – das Vermögen des Kindes, das guldenweise zusammengesparte. Und in der gebrochenen Gestalt, die da saß und die Gegenstände alle betrachtete, drückte eine herzzerreißende Trostlosigkeit sich aus. Was ging jetzt vor in dieser Seele!

Agnes kam leise heran.

Die Frau, die er zermalmt und zertreten und zu einer dienenden Maschine herabgewürdigt hatte, fühlte sich in diesem Augenblick als die Größere und Stärkere und, im Vergleiche zu ihm – die Glückliche. Sie durfte ihres Kindes ohne Selbstvorwurf gedenken, von ihr hatte es mit zärtlicher Liebe Abschied genommen.

»Pfanner«, sprach sie.

Er fuhr auf und starrte sie an mir Entsetzen. Wollte sie Rechenschaft von ihm fordern? Seine Lippen zuckten und zitterten, er brachte keinen Laut hervor. Etwas Greisenhaftes lag in seinen entstellten Zügen.

Da wich der Haß, da schwieg jeder Vorwurf. Sie näherte sich langsam und sagte: »Du hast ja nur sein Bestes gewollt.«

Überrascht, in demütiger Dankbarkeit nahm er ihre beiden Hände, legte sein Gesicht hinein und schluchzte.

Kapitel 1


Kapitel 1

Doktor Nathanael Rosenzweig hatte eine entbehrungsreiche Jugend durchlebt. Was genießen heißt, erfuhr er in der schönsten Zeit des Daseins nicht. Heute hungern und dabei gerade genug erwerben, um morgen weiterhungern zu können; nachts um zwei Uhr sich zusammenrollen wie ein Igel und in der Ecke der Kellerstube den harten, traumlosen Schlaf der Erschöpfung schlafen; erwachen bei dem Gewimmer der alten Großmutter, die sich entschuldigte, daß sie noch nicht gestorben sei, daß sie ihm noch zur Last fallen müsse; forteilen, um lehrend die Möglichkeit zu erringen, selbst zu lernen – so ging es jahrein, jahraus. Erwerben, der Inbegriff all seines Dichtens und Trachtens, Geld erwerben, Kenntnisse, Gunst, hauptsächlich die seiner Professoren – Nathanael studierte Medizin an der Universität in Krakau –, erwerben um jeden Preis, den der Ehrlichkeit einzig ausgenommen, erwerben und nur ja nichts umsonst hergeben, nicht den kleinsten Teil der eigenen Kraft; keine mitleidige Regung kennen, keine hemmende Rücksicht.

Seine Großmutter und er, er und seine Großmutter machten für ihn die Welt aus, und wie denn seine Welt klein war, so waren seine Ziele nahe. Das erste und am schwersten Errungene bestand in dem Ersparnisse so vieler Gulden, daß er und die alte Frau nicht sofort verhungern mußten, wenn ein unvorhergesehenes Unglück seine Tätigkeit für einige Zeit lähmen sollte. Als er es erreicht hatte, da fühlte er sich als Kapitalist und tröstete die Großmutter bei ihrer allmorgendlichen Klage mit den Worten: »Lebe du nur ruhig fort, jetzt kann uns nicht so leicht mehr etwas geschehen.«

Sein rastloser Fleiß verminderte sich nach dem ersten Erfolge nicht, er wuchs vielmehr mit der Kraft dessen, der ihn anwandte.

Nathanael wurde ein starker Mann; seine kreuzspinnenartigen Extremitäten kräftigten sich zu muskulösen Armen und Beinen, die Brust wurde breit, die Gestalt bekam etwas Reckenhaftes trotz ihrer Magerkeit. Sein Auftreten war so sicher, sein Blick so ruhig und klar, seine Rede so bestimmt, daß schon seine ersten Patienten – gar kleine Leute! – meinten: »Das ist ein gescheiter Herr Doktor!«

Seine große Jugend sah ihm niemand an; er hatte sich zu lange in Gesellschaft der Sorge befunden, und wenn er sie auch bändigte und unterwarf – daß sie heimlich an ihm zu nagen fortfuhr, konnte er nicht verhindern.

Allmählich kam er in Besitz eines Rufes, eines bescheidenen, aber eines guten, und dem verdankte er es auch, daß er zu dreißig Jahren schon von Amts wegen als Physikus nach einem der westlichen Kreise versetzt wurde. Ein sicheres Brot von nun an! ein reichliches sogar nach Nathanaels Begriffen. Er hätte bei der Einrichtung seiner Wohnung auf dem Ring der Kreishauptstadt nicht so ängstlich zu knickern gebraucht, aber er fürchtete übermütig zu werden wie die meisten Armen, wenn sie plötzlich zu Geld kommen, und gab den Handwerkern wenig zu verdienen. Immer des Wortes eingedenk: »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann«, schaffte er allerlei Werkzeug an und ließ sich’s nicht verdrießen, den Tischler und den Schlosser gleichfalls zu ersparen. Und wenn es auch wirklich ein Graus war, wie die Sachen aussahen, den Doktor beirrte das nicht; der Schönheitssinn war bei ihm entweder nicht vorhanden oder nicht ausgebildet.

Als die Großmutter, steinalt und unbeweglich, ihre Stube nicht mehr zu verlassen vermochte, sich aber doch noch herzlich sehnte nach dem Anblick einer grünen Staude, einer blühenden Blume, da wurde der Herr Doktor ein Gärtner, und bald sahen die Fenster seiner Wohnung aus wie die eines Treibhauses.

Die Greisin litt manchmal an Rückfällen in ihre ehemalige Schwachherzigkeit; doch äußerte sich diese jetzt verschieden.

»Wenn ich nur nicht zu früh sterbe«, sagte die Neunzigjährige. »Ein Begräbnis ist gar so kostspielig!«

Nathanael tröstete sie liebreich: »Stirb ja nicht, Großmutter, du würdest mich um den Lohn aller Mühen betrügen, die ich um deinetwillen gehabt habe.«

Der Besitz Nathanaels mehrte sich im Schranke, die Lust am Besitze stieg und stieg. Pläne, deren Verwirklichung dem klugen Manne in seiner Jugend als bare Unmöglichkeit erschienen wäre, erwog er nun mit der Zuversicht bevorstehender Erfüllung. Seine ärztliche Praxis war ausgedehnt und einträglich.

Nach allen Schlössern der Umgebung berief man ihn. Der trockene, wortkarge Doktor Rosenzweig, der keinen Widerspruch duldete, der nie eine Schmeichelei über die Lippen brachte, wurde der Vertrauensmann der Edelleute und, was viel merkwürdiger war, das Orakel ihrer liebenswürdigen und feinen Damen und der Freund ihrer Kinder.

»Der Kleine ist schwer krank, aber – Rosenzweig behandelt ihn.« – »Den ganzen Tag habe ich in Todesangst um mein Töchterlein zugebracht – aber jetzt ist Rosenzweig gekommen.«

Wenn nur Rosenzweig da war, so war Hilfe da, und blieb sie einmal aus, dann hatte Gott eben nicht gewollt, daß ein Mensch sie bringe.

Unter keinen Umständen erwies man sich karg gegen ihn, das hätte niemand gewagt. – Doktor Rosenzweig baut sich ein Haus, ein Haus aus gebrannten Ziegeln; dazu braucht er Geld. Er hat außerhalb der Stadt einen Baugrund gepachtet, und unter seiner eigenen Leitung ist auf demselben ein viereckiger, einstöckiger Wohnkasten errichtet worden. Stolz ruht er auf tüchtigen Kellergewölben, hat eine steinerne Treppe und ein wetterfestes Ziegeldach. Die Fensterrahmen sind schneeweiß angestrichen, die Mauern schneeweiß getüncht. Als einzige Zierde der Fassade prangt neben der Glocke an der Tür das Schildchen der Feuerversicherungsgesellschaft.

Aus den Fenstern der vorderen Front – sie liegt gegen Osten, und ihr erstes Geschoß wird von dem Doktor und seiner Großmutter bewohnt – hat man eine weite, weite Aussicht: Himmel und Felder. Frei schweift der Blick ins Grenzenlose. Kein Hügel hemmt ihn, kein Wald bringt einen dunklen Fleck hervor auf der glatten, im Sommer goldig, im Winter silbern schimmernden Flur. Jede Handbreit Erde kann von der lieben Sonne durch und durch getränkt werden mit lebenweckenden Strahlen. Gibt es Schatten, so ist es ein solcher, der nicht kühlt, nicht ruht, der nicht einem Hälmchen die Wärme entzieht, deren es zu seinem wunderbar geheimnisvollen Reifen bedarf – der Schatten der fliehenden Wolken. Wie oft verfolgt ihn Nathanael aufmerksamen Auges, sieht ihn hingleiten über den wachsenden, schwellenden Reichtum, den sie zum Herbste einheimsen und zu Schiff auf der Weichsel nach Deutschland und nach Rußland bringen und teuer verkaufen werden. Wer sich doch beteiligen könnte an diesem großartigen Erwerb! ein Hundertstel, ach ein Tausendstel nur von dem Gewinn, den er abwirft, in die eigene Tasche fließen sähe! Der Doktor fängt an, auf der unermeßlichen Ebene Luftschlösser zu erbauen, so bunt und märchenhaft schön, daß er nicht umhin kann, während er sie baut, lächelnd zu denken: Mahnst du auch mich einmal, nie angetretenes Vätererbe – morgenländische Phantasie?

Er wendet sich ab von dem Anblick fremden Reichtums und will einen Strich gezogen haben zwischen dem und seinem bescheidenen Eigentum. Das Doktorhaus wird in fünf Klafter breiter Entfernung von jedem Punkte seiner Mauern mit einem Zaun aus ordentlich zugehobelten Latten umgeben; nach je ihrer zwanzig kommt ein starker, spitz zulaufender Pfahl. Aus dem Raume zwischen Haus und Zaun wird nach und nach ein kleiner Garten werden; die Einteilung in Blumen- und Gemüsebeete ist bald getroffen. Kein Schachbrett kann genauer quadriert sein.

»Im nächsten Jahre, liebe Großmutter, wirst du Rosen und Reseden unter deinen Fenstern blühen sehen«, versprach Nathanael der Greisin, und sie erwiderte: »Wenn ich es nur noch erlebe, mein Kind. Aufs Jahr werde ich fünfundneunzig.«

»Weit über hundert mußt du werden!« rief er eifrig. »Das bist du mir schuldig, denke doch! Wie würde es das Vertrauen der Leute zu mir erhöhen, wenn es hieße: Seine Großmutter hat er auf mehr als auf hundert Jahre gebracht. Denn die Leute sind dumm, liebes Godele, sie schreiben meiner Kunst zu, was deine gute Natur getan hat. Bleibe du nur frohen Mutes, nimm dir nur recht fest vor, noch nicht zu sterben. Solange du es dir fest vornehmen kannst, wirst du munter weiterleben.«

Die Greisin nahm es sich vor, aber von einer rechten Munterkeit war nicht mehr die Rede.

»Mir ist jetzt so oft«, sagte sie, »als ob dein Großvater vor mich träte und zu mir spräche wie in seiner Todesstunde: ›Komm bald! Wir wohnen so friedlich beisammen im Garten Eden, wie wir gehaust haben auf Erden. Komm bald nach, Rebekka! …‹ Damals konnte ich nicht folgen dem Rufe meines Geliebten, weil du mich hast zurückgehalten, du armes Würmchen, du ganz verlassenes. Von Vater und Mutter zuerst, und vom Großvater bald darauf. Ja, es war eine schreckliche Seuche, die Gott geschickt hat über sein Volk im Kazimirz, und nicht gewußt hätte ich, wem sagen: Sei barmherzig meinem Enkelkind, wenn ich mich nun auch hinlege zum Sterben. So habe ich damals nicht erfüllen dürfen den Wunsch meines Geliebten. Jetzt aber, Nathanael, mein Kind, jetzt aber ist mir, als sollte ich ihn nicht länger warten lassen.«

Solche Reden schnitten dem Doktor ins Herz. Nie hatte die zurückhaltende, schweigsame Großmutter ähnliche geführt. Ein bedenkliches Zeichen, wenn alte Leute etwas tun, das außerhalb ihrer Gewohnheiten liegt! Der kleinen Veränderung folgt oft nur gar zu bald die unwiderrufliche – die letzte nach. Und noch ein Symptom, das den Doktor beunruhigte: die Greisin, die sonst nie genug Einsamkeit haben konnte, war jetzt nicht mehr gern allein. Sooft Nathanael sich bei ihr verabschiedete, sprach sie: »Geh denn in Gottes Namen, aber schicke mir den Goi, daß er mir Gesellschaft leiste und ich doch blicken könne in ein menschliches Angesicht und nicht immer und immer nur auf die Felder und den Himmel.«

Der »Goi« war ein Jüngling von nun achtzehn Jahren, des Doktors Famulus, sein Diener, sein Hund. Des Tages wußte er sich nicht zu erinnern, an dem der »Wohltäter« ihm ein gutes Wort gegönnt oder ein gutes Kleidungsstück geschenkt hätte. Wenn die Röcke und Stiefel Rosenzweigs unbrauchbar wurden, erhielt der große Junge sie zur Benützung und die Vermahnung dazu, ihnen diejenige Rücksicht zu erweisen, die man fremdem Eigentum schuldig ist. Der Doktor ging immer mehr in die Breite, und fast schien es, als ob er kleiner würde. Sein Famulus »verdünnte« sich, wie Rosenzweig sagte, von Tag zu Tag und schoß spargelmäßig in die Höhe. Wie ihm die Gewänder des Wohltäters saßen, das kam diesem selbst entweder erbärmlich oder lächerlich vor – beides mit einem Zusatze von Verachtung.

Den Jungen konnte er einmal nicht leiden, sein Widerwillen gegen ihn war unüberwindlich und entsprang aus dem Gedanken, daß der Findling seines Herrn Brot umsonst oder doch fast umsonst esse.

Vor vier Jahren hatte ihn Rosenzweig von der Straße aufgelesen, in einer eiskalten herrlichen Winternacht. Mit dem Stolze eines Triumphators war er im Schlitten des Grafen W. pfeilgeschwind dahingesaust. Der Graf selbst hatte ihn bei der Abfahrt sorgsam in die Pelzdecke gehüllt, in der er sich so behaglich fühlte, und ihm immer wieder gedankt und immer von neuem Worte gesucht für das Unsagbare – die Glückseligkeit des Liebenden, dem sein Teuerstes, das er schon verloren gab, wiedergeschenkt ist. Gerettet die junge Gräfin, gerettet vom beinahe sicheren Tode durch das Genie, durch die erfinderische Sorgfalt des unvergleichlichen Arztes, der an ihrem Krankenlager gestanden hatte wie ein Held auf dem Schlachtfelde, fast besiegt noch den Sieg im Auge, kampfbereit noch im Erliegen, der nicht gewichen war, bevor er sagen konnte: »Wir haben gewonnen, sie wird leben!«

Er hatte so viele Nächte durchwacht und sich auf den guten Schlaf gefreut während der Heimfahrt im bequemen Schlitten. Aber seine Müdigkeit mußte zu groß sein, sie verscheuchte die ersehnte Erquickung, statt sie herbeizurufen. Sooft Nathanael die Augen schloß, unwillkürlich öffneten sie sich wieder und schwelgten im Anblick des sternenbesäten, mondhellen Himmels und der schneebedeckten Ebene, die in wunderbarer Blankheit erglänzte gleich einer ungeheuren, neugeprägten Silbermünze… Wieviel Gold ließe sich erwerben um solche Münze? Die Keller des viereckigen Doktorhauses hätten nicht Raum, sie zu fassen, die köstlichen Barren, die verehrungswürdigen! Berger und Träger allbezwingender Kräfte, gebundene Zauber, aufgespeicherte Macht. Was läßt sich nicht tauschen um Gold? Unschätzbares erkauft man damit, das weiß der Mann, der denen, die ihn bezahlen, die Gesundheit wiedergibt.

Der Doktor wurde in seinem Gedankengange plötzlich unterbrochen. Das Gefährt stand dicht am Straßengraben still, und der Kutscher rief: »Herr Doktor! Herr Doktor! …«

»Was gibt es, mein Sohn?«

»Herr Doktor, da liegen zwei Betrunkene.«

»Steig ab und prügle sie ein wenig durch, damit sie nicht erfrieren.«

Indes der Kutscher vom Bocke stieg und die Zügel an demselben verknotete, hatte Nathanael sich aufgerichtet und vorgebeugt und sah einer der auf dem Boden liegenden Gestalten mit gespannter Aufmerksamkeit in das vom Mondlicht hell erleuchtete Gesicht. Kein Säufergesicht, wahrlich! sondern eines, das Zeugnis gab von ehrlichem Darben und Dulden bis an die Grenze der menschlichen Kraft.

Der arme Teufel hatte, in dem Augenblick wenigstens, kein Bewußtsein seines Elends, er schien fest zu schlafen. Als aber der Kutscher ihn packte und emporzerrte, fiel er sofort, steif wie ein Eisblock, in den Schnee zurück. Jener sprach: »Der eine ist schon erfroren, Herr Doktor!«

Rosenzweig sprang mit beiden Füßen aus dem Wagen und überzeugte sich bald, daß die Behauptung seines Dieners richtig sei. Grimm erfüllte ihn. Da war ihm einmal wieder der Tod zuvorgekommen, den er am meisten haßte, der nicht durchaus durch Krankheit bedingte, durch das Alter herbeigeführte – der Tod, dem der Zufall in die Hand gearbeitet hat, der Tod, der seine Beute umsonst gewinnt, dem sie dumm und töricht zuteil wird, ohne triftigen Grund.

»Sehen wir nach dem andern«, sagte der Doktor zwischen den Zähnen.

Der andere schlief auch, aber weniger tief.

Es war ein Knabe von etwa vierzehn Jahren, dem Toten offenbar nahe verwandt, sein viel jüngerer Bruder oder sein Sohn.

Mit dem Feuereifer des Berufs begann der Doktor Wiederbelebungsversuche anzustellen, und nach langen Mühen krönte sie ein schwacher Erfolg. Ein kaum spürbares Rieseln war durch des Knaben starre Pulse geglitten, und wenn es auch sofort wieder staute, dennoch erklärte der Doktor voll Siegesgewißheit: »Jetzt hab ich ihn!«

Und er hüllte ihn in seinen Pelz, hob ihn in den Schlitten, brachte ihn heim und legte ihn in sein eigenes Bett, an dem er das Kind des Elends mit derselben Hingebung bewachte, die er der Herrin im Grafenschloß gewidmet hatte. Am Morgen war der Patient außer Lebensgefahr, und Rosenzweig konnte nicht umhin, zu sich selbst zu sagen: Auch der gerettet, zwischen zweimaligem Sonnenaufgang zwei!

Schmunzelnd streichelte er seinen langen Mosesbart und freute sich seines mächtigen Vermögens.

Sein Patient aber erhielt noch am selben Tage die Weisung: »Steh auf und geh.«

»Wohin? Gnädiger Herr Doktor, wohin? Wer nimmt mich ohne meinen Bruder?« antwortete der Knabe verzweifelnd, und nun trat die Frage heran: Was mit ihm beginnen?

Die Papiere, die der Verstorbene bei sich gehabt hatte, wiesen ihn aus als den Maschinenschlosser Julian Mierski, der viele Jahre hindurch als Werkführer in einer Fabrik in Lemberg gedient hatte. In seinem Zeugnis hieß es, der vorzügliche Arbeiter habe, zum Bedauern seines Dienstherrn, infolge schwerer Erkrankung entlassen werden müssen. Seitdem konnte er nichts mehr verdienen, sein Bruder aber, den er nach dem Tode der Eltern – arme Häusler in einem Dorfe bei Lemberg – zu sich genommen, nur gar wenig. So gingen, erzählte der Knabe, in Monaten die Ersparnisse von Jahren hin und wurden aufgezehrt bis auf einige Gulden, deren Anzahl er genau angab und die sich auch richtig im Ranzen des Verunglückten vorgefunden hatten.

Die Großmutter hörte dem unter Tränen erstatteten Berichte aufmerksam zu.

»Horch, Nathanael, mein Kind«, sagte sie. »Es ist nicht recht gewesen von dem Bürger Goi in Lemberg, zu verlassen den Mann in seiner Krankheit, der ihm in Gesundheit gedient hat viele Jahre.«

»Eine Fabrik ist keine Versorgungsanstalt«, erwiderte Rosenzweig und befahl seinem Geretteten: »Sprich weiter.«

Dieser fuhr fort: »Vor acht Tagen ist ein Bekannter von meinem Bruder gekommen und hat erzählt, daß es in Krakau eine Fabrik gibt wie die unsere und daß sie uns dort gewiß nehmen werden. Mein Bruder war sehr froh: ›Komm, Joseph, wir wandern‹, hat er gesagt und hat auf der Reise immer gemeint, der lange Müßiggang ist es gewesen, der ihn nicht hat gesund werden lassen, beim Marschieren wird ihm besser. Auf einmal hat er aber nicht weitergekonnt und hat sich in den Schnee gelegt, um ein wenig zu schlafen.«

»Und du hast das zugegeben?« schrie der Doktor ihn an. »Weißt du nicht, was einem geschieht, wenn man sich bei solchem Frost in den Schnee legt?«

Der Knabe senkte seine großen Augen, aus denen unaufhörlich Tränen flossen, und schwieg.

»Was soll man anfangen mit einem solchen Chamer?« fragte Rosenzweig die Großmutter.

Die Greisin entgegnete: »Laß ihn heute noch ruhen unter deinem Dache. Sei ihm barmherzig. Er ist eine Waise wie du.«

Am nächsten Tage lautete ihr Rat: »Behalte ihn. Unsere Magd wird ohnehin alt und wackelig und kann eine Hilfe brauchen. Behalte ihn und richte ihn ab zu deinem Dienst. Wer wird es verargen einem großen Mann wie du, wenn er tut sich halten einen Famulus?«

So wurde der Findling ein Genosse des Doktorhauses, und zwar ein ungemein nützlicher, obwohl Rosenzweig das letztere nicht gelten ließ. In seinen Augen blieb Joseph ein »Chamer«, der aus Büchern nichts lernte, nicht zu lernen vermochte. Mit achtzehn Jahren noch las er nicht ohne Schwierigkeit die einfachsten Kindergeschichten. Ihn zur Schule zu zwingen, hatte der Doktor schon nach den ersten Monaten aufgegeben, weil er nur mit Schlägen dahin zu bringen war und sein Wohltäter nicht immer Muße hatte, ihm dieselben zu spenden. Seine mechanischen Fertigkeiten hingegen waren groß, und groß der Fleiß, mit dem er sie ausübte. Auch er pfuschte in jedes Handwerk, aber mit besserem Erfolg als dereinst der Doktor.

In allem, was er unternahm, offenbarte sich ein Schick, eine Leichtigkeit, ja sogar ein Geschmack, der den Pillenschächtelchen des Doktors ebensosehr zugute kam wie den Blumenbeeten im Gärtlein vor dem Hause. Immer nur mit Verdruß hörte der Doktor ihn loben, »den Tagdieb, der nichts kann und nie etwas anderes können wird als spielen«.

Er hatte einmal wieder diesen Vorwurf ausgesprochen, da entgegnete Joseph: »Wenn du dich entschließen könntest, deine Felder in deine eigene Verwaltung zu nehmen, würde ich dir beweisen, daß ich kein Tagdieb bin.«

Der Doktor fuhr auf: »Was sprichst du von meinen Feldern? Weißt du nicht, daß ich ein Jude bin und als solcher Grundeigentum nicht besitzen darf? Weißt du nicht, daß sogar mein Haus auf fremdem Boden steht?«

Joseph wurde rot vor Verlegenheit, sah jedoch dem Doktor vertrauensvoll und offen ins Gesicht und erwiderte: »Du hast die Felder auf den Namen des Theophil von Kamatzki gekauft, aber sie sind doch dein.«

»Sag einmal, mein Junge, woher hast du diese Nachricht?« fragte Rosenzweig, und höchst verdächtig war die Gebärde, mit welcher er dabei sein spanisches Rohr zu schwenken begann.

Gelassen antwortete Joseph: »Das ist kein Geheimnis. Alle Leute wissen es und gönnen dir die Felder.«

Während dieses Gespräches standen die beiden mitten auf dem Wege, der schnurgerade von der Haustür zum Gartenpförtlein führte, zwischen zwei säuberlich mit Reseden eingefaßten Rosenbeeten. An den Stachelbeerhecken, die Joseph längs des Lattenzaunes gezogen hatte, reiften die ersten Früchte. Was man überblicken konnte an zart entfalteten Salatstauden, an Rüben mit kühnen Federbüschen, an gelblich zwischen gekräuselten Blättern hervorleuchtendem Blumenkohl, an schier kriegerisch behelmtem Zwiebelnachwuchs, an zierlichem Majoran und – dulce cum utile –, als Begrenzung jeglichen Gemüsekarrees, an duftendem Lavendel, dessen kleine Knospen zu schwellen anfingen, das war alles so kraftstrotzend und kerngesund, daß bei dem Anblick jedem Menschen, besonders aber einem Arzte, das Herz im Leibe lachen mußte. Mit geheimem Wohlgefallen betrachtete Rosenzweig die freundlichen Himmelsgaben und sagte: »Weil du ein leidlicher Gärtner bist, bildest du dir ein, auch ein Landwirt sein zu können.« Damit wollte er abbrechen, besann sich aber und fügte hinzu, indem er die Spitze seines Stockes mit großer Hartnäckigkeit in die Erde bohrte und diese Operation scheinbar höchst aufmerksam verfolgte: »Ich hätte die Felder nicht – eigentlich mit einem gewissen Unrecht – in meinen Besitz gebracht, wenn ich nicht hoffen dürfte, sie bald zu Recht besitzen zu dürfen. Du wirst wohl wissen, daß eine Veränderung der Landesgesetze bevorsteht und daß an den größeren Freiheiten, die sie dem Volke Galiziens gewähren werden, auch die Juden teilnehmen sollen.«

Joseph wußte das und hoffte, der Doktor werde die Felder, wenn sie einmal vor Gott und der Welt sein Eigentum sein würden, nicht mehr in Pacht geben, sondern selbst bewirtschaften.

»Dann wirst du Ställe und Scheuern bauen müssen«, schloß der Jüngling. »Ich habe dem Architekten in der Stadt etwas abgesehen und die Pläne schon fertig.«

»Bist ein Narr«, sprach der Doktor, verlangte aber nach einigen Tagen doch, die Pläne zu sehen.

Nun, brauchbar waren sie gewiß nicht, doch als merkwürdig mußte man es gelten lassen, daß der Findling, dessen Schrift die eines siebenjährigen Kindes war, doch so nett und ordentlich und vielleicht auch in den Maßen richtig einen Plan zu zeichnen vermochte. Das ist eben einer von denen, die tanzen können, bevor sie das Gehen erlernt haben. Es gibt solche Käuze. Sie setzen einen allerdings manchmal in Erstaunen. Gewöhnlich wird aber nichts aus ihnen.

Nathanael, der einen Gedanken, der sein eigenes Wohl und Weh betraf, nie lange verfolgte, ohne die Großmutter zu dessen Vertrauten zu machen, fragte bald darauf bei ihr an, was sie zu einer Selbstverwaltung seiner Gründe sagen würde. Da zeigte es sich, daß dieser Gegenstand zwischen der Greisin und dem Findling schon gründlich erörtert worden war.

»Du wirst reich werden wie Laban«, prophezeite die alte Frau. »Über dir ist des Herrn sichtbarlicher Segen.«

In diesem Frühjahr hatte es sich ihr erwiesen; in diesem für Tausende unseligen Frühjahre 1845, als die Weichsel aus ihren Ufern trat und in einen schlammigen See verwandelte, was üppig und verheißungsvoll grünende Saat gewesen war. Unaufhaltsam wie ein Gottesgericht waren die Fluten hereingebrochen und hatten die ernährende Scholle hinweggespült und mit ihr Hab und Gut und Hoffnung derer, die sie bebauten.

Bis dicht an die Grenze der Felder Nathanaels erstreckte sich die Verheerung – vor ihnen zerrannen die Wellen. Vor ihnen waren die Wasser hinweggefahren und hatten sich auseinandergeteilt wie einstens die Wasser des Roten Meeres, als Moses gegen sie den Stab erhob und die Hand reckte auf Gottes Gebot.

Und als der Herbst kam, herrschte ringsum Hungersnot. Hunderte verließen mit ihren Weibern und Kindern die Heimat und wanderten als Bettler, als Taglöhner, Brot und Arbeit suchend, aus.

Die Großmutter aber fragte täglich: »Wann beginnt die Ernte? In diesem Jahre hat der Weizen hundertfachen Wert. Wann kommen die Schnitter?«

Nathanael erwiderte lächelnd: »Bald, sehr bald. Sie wetzen schon die Sensen!«

Indessen erlebte die Greisin die Zeit der Ernte nicht mehr. Sie fiel selbst als überreifes Körnlein in den Mutterschoß der Erde zurück, bevor ihr Enkel zu ihr hatte sprechen können: »Die Schnitter kommen!«

Unerhört spät und doch zu früh war plötzlich ihr Leben erloschen.

Da lag sie nun in ihrem schmalen Sarge, die alte Rebekka, ein wundersam ergreifender Anblick. Der Tod hatte ihre gekrümmte Gestalt gestreckt, und weinend und staunend fragte Joseph: »So groß war sie?«

Er fragte aber auch: »So schön war sie?«

Erlöst von allen Gebrechen, befreit von der Hilflosigkeit des Alters, wie majestätisch erschien sie nun, in ihrer unendlichen Ruhe, in ihrem untrübbaren Frieden! Das Lächeln auf dem Angesicht so vieler, die überwunden haben, umschwebte diese Lippen nicht. Steinerne Kälte sprach aus den Zügen, die ein Schimmer der begeisterten Liebe und Bewunderung, welche die Gegenwart des Enkels stets auf ihnen hervorgezaubert, noch in der Sterbestunde erhellt hatte.

Du bist es nicht mehr! dachte Nathanael, und mit grausamer Gewalt ergriff ihn das Bewußtsein des erlittenen Verlustes.

Er winkte Joseph hinweg, er wollte ungestört bei seiner Toten bleiben. Am Fußende des Sarges stehend, suchte er in dem fremden, veränderten Anlitz der Großmutter das lang bekannte, teure und – fand es nicht. Das einzige ideale Gut, das er besessen hatte, die Zuneigung dieser alten Frau, war für immer dahin und er, als ein bejahrter Mann – allein. Mit jähem Schreck fiel es ihn an: Zwischen dieser Greisin und dir liegt eine Generation. Du solltest jetzt hingehen können und an der Brust deines Weibes um sie weinen und dir Trost schöpfen aus dem Anblick deiner Kinder.

Der rastlos Strebende, der nie zurück, der nur vorwärts geschaut, nach Zielen, die mit seinen Erfolgen wuchsen, hielt einmal still in seinem Laufe, wandte sich und durchmaß im Geiste seinen ganzen Lebensweg. Viel erreicht! durfte er sich gestehen, doch niemals das geringste ohne einen Gedanken an dich – Großmutter. Wie ihr Dasein ihn erfüllt und beglückt hatte, jetzt klaffte um so schmerzlicher der Riß, den ihr Scheiden verursachte.

Sie hätte ihn nicht verlassen sollen, sie, deren Nähe ihn über das Schwinden der Zeit – eines Begriffes, der dem hohen Alter verlorengeht – getäuscht hatte.

»Weiche ab von dem Brauche unseres Volkes«, hatte die Greisin so oft gesprochen. »Heirate nicht zu früh, setze nicht Bettler in die Welt. Du kannst warten, mein Kind, du bist jung.«

Immer hatte er zu dieser Ermahnung geschwiegen; heute antwortete er ihr, die ihn nicht mehr hören konnte: »Ich war dir so lange zu jung zum Freien, bis ich mir zu alt geworden bin.«

Alsbald jedoch empfand er den Widerspruch, den er ihr ins Grab nachgerufen, als einen Frevel; und er trat zu ihr, beugte sich über sie, und was nie geschehen war, solange sie gelebt hatte, er küßte ihre Hand, küßte ihre Stirn und den für ewig verstummten Mund, den einzigen auf Erden, von dem er sich »mein Kind« hatte nennen hören.