Kapitel 1
Kapitel 1
Doktor Nathanael Rosenzweig hatte eine entbehrungsreiche Jugend durchlebt. Was genießen heißt, erfuhr er in der schönsten Zeit des Daseins nicht. Heute hungern und dabei gerade genug erwerben, um morgen weiterhungern zu können; nachts um zwei Uhr sich zusammenrollen wie ein Igel und in der Ecke der Kellerstube den harten, traumlosen Schlaf der Erschöpfung schlafen; erwachen bei dem Gewimmer der alten Großmutter, die sich entschuldigte, daß sie noch nicht gestorben sei, daß sie ihm noch zur Last fallen müsse; forteilen, um lehrend die Möglichkeit zu erringen, selbst zu lernen – so ging es jahrein, jahraus. Erwerben, der Inbegriff all seines Dichtens und Trachtens, Geld erwerben, Kenntnisse, Gunst, hauptsächlich die seiner Professoren – Nathanael studierte Medizin an der Universität in Krakau –, erwerben um jeden Preis, den der Ehrlichkeit einzig ausgenommen, erwerben und nur ja nichts umsonst hergeben, nicht den kleinsten Teil der eigenen Kraft; keine mitleidige Regung kennen, keine hemmende Rücksicht.
Seine Großmutter und er, er und seine Großmutter machten für ihn die Welt aus, und wie denn seine Welt klein war, so waren seine Ziele nahe. Das erste und am schwersten Errungene bestand in dem Ersparnisse so vieler Gulden, daß er und die alte Frau nicht sofort verhungern mußten, wenn ein unvorhergesehenes Unglück seine Tätigkeit für einige Zeit lähmen sollte. Als er es erreicht hatte, da fühlte er sich als Kapitalist und tröstete die Großmutter bei ihrer allmorgendlichen Klage mit den Worten: »Lebe du nur ruhig fort, jetzt kann uns nicht so leicht mehr etwas geschehen.«
Sein rastloser Fleiß verminderte sich nach dem ersten Erfolge nicht, er wuchs vielmehr mit der Kraft dessen, der ihn anwandte.
Nathanael wurde ein starker Mann; seine kreuzspinnenartigen Extremitäten kräftigten sich zu muskulösen Armen und Beinen, die Brust wurde breit, die Gestalt bekam etwas Reckenhaftes trotz ihrer Magerkeit. Sein Auftreten war so sicher, sein Blick so ruhig und klar, seine Rede so bestimmt, daß schon seine ersten Patienten – gar kleine Leute! – meinten: »Das ist ein gescheiter Herr Doktor!«
Seine große Jugend sah ihm niemand an; er hatte sich zu lange in Gesellschaft der Sorge befunden, und wenn er sie auch bändigte und unterwarf – daß sie heimlich an ihm zu nagen fortfuhr, konnte er nicht verhindern.
Allmählich kam er in Besitz eines Rufes, eines bescheidenen, aber eines guten, und dem verdankte er es auch, daß er zu dreißig Jahren schon von Amts wegen als Physikus nach einem der westlichen Kreise versetzt wurde. Ein sicheres Brot von nun an! ein reichliches sogar nach Nathanaels Begriffen. Er hätte bei der Einrichtung seiner Wohnung auf dem Ring der Kreishauptstadt nicht so ängstlich zu knickern gebraucht, aber er fürchtete übermütig zu werden wie die meisten Armen, wenn sie plötzlich zu Geld kommen, und gab den Handwerkern wenig zu verdienen. Immer des Wortes eingedenk: »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann«, schaffte er allerlei Werkzeug an und ließ sich’s nicht verdrießen, den Tischler und den Schlosser gleichfalls zu ersparen. Und wenn es auch wirklich ein Graus war, wie die Sachen aussahen, den Doktor beirrte das nicht; der Schönheitssinn war bei ihm entweder nicht vorhanden oder nicht ausgebildet.
Als die Großmutter, steinalt und unbeweglich, ihre Stube nicht mehr zu verlassen vermochte, sich aber doch noch herzlich sehnte nach dem Anblick einer grünen Staude, einer blühenden Blume, da wurde der Herr Doktor ein Gärtner, und bald sahen die Fenster seiner Wohnung aus wie die eines Treibhauses.
Die Greisin litt manchmal an Rückfällen in ihre ehemalige Schwachherzigkeit; doch äußerte sich diese jetzt verschieden.
»Wenn ich nur nicht zu früh sterbe«, sagte die Neunzigjährige. »Ein Begräbnis ist gar so kostspielig!«
Nathanael tröstete sie liebreich: »Stirb ja nicht, Großmutter, du würdest mich um den Lohn aller Mühen betrügen, die ich um deinetwillen gehabt habe.«
Der Besitz Nathanaels mehrte sich im Schranke, die Lust am Besitze stieg und stieg. Pläne, deren Verwirklichung dem klugen Manne in seiner Jugend als bare Unmöglichkeit erschienen wäre, erwog er nun mit der Zuversicht bevorstehender Erfüllung. Seine ärztliche Praxis war ausgedehnt und einträglich.
Nach allen Schlössern der Umgebung berief man ihn. Der trockene, wortkarge Doktor Rosenzweig, der keinen Widerspruch duldete, der nie eine Schmeichelei über die Lippen brachte, wurde der Vertrauensmann der Edelleute und, was viel merkwürdiger war, das Orakel ihrer liebenswürdigen und feinen Damen und der Freund ihrer Kinder.
»Der Kleine ist schwer krank, aber – Rosenzweig behandelt ihn.« – »Den ganzen Tag habe ich in Todesangst um mein Töchterlein zugebracht – aber jetzt ist Rosenzweig gekommen.«
Wenn nur Rosenzweig da war, so war Hilfe da, und blieb sie einmal aus, dann hatte Gott eben nicht gewollt, daß ein Mensch sie bringe.
Unter keinen Umständen erwies man sich karg gegen ihn, das hätte niemand gewagt. – Doktor Rosenzweig baut sich ein Haus, ein Haus aus gebrannten Ziegeln; dazu braucht er Geld. Er hat außerhalb der Stadt einen Baugrund gepachtet, und unter seiner eigenen Leitung ist auf demselben ein viereckiger, einstöckiger Wohnkasten errichtet worden. Stolz ruht er auf tüchtigen Kellergewölben, hat eine steinerne Treppe und ein wetterfestes Ziegeldach. Die Fensterrahmen sind schneeweiß angestrichen, die Mauern schneeweiß getüncht. Als einzige Zierde der Fassade prangt neben der Glocke an der Tür das Schildchen der Feuerversicherungsgesellschaft.
Aus den Fenstern der vorderen Front – sie liegt gegen Osten, und ihr erstes Geschoß wird von dem Doktor und seiner Großmutter bewohnt – hat man eine weite, weite Aussicht: Himmel und Felder. Frei schweift der Blick ins Grenzenlose. Kein Hügel hemmt ihn, kein Wald bringt einen dunklen Fleck hervor auf der glatten, im Sommer goldig, im Winter silbern schimmernden Flur. Jede Handbreit Erde kann von der lieben Sonne durch und durch getränkt werden mit lebenweckenden Strahlen. Gibt es Schatten, so ist es ein solcher, der nicht kühlt, nicht ruht, der nicht einem Hälmchen die Wärme entzieht, deren es zu seinem wunderbar geheimnisvollen Reifen bedarf – der Schatten der fliehenden Wolken. Wie oft verfolgt ihn Nathanael aufmerksamen Auges, sieht ihn hingleiten über den wachsenden, schwellenden Reichtum, den sie zum Herbste einheimsen und zu Schiff auf der Weichsel nach Deutschland und nach Rußland bringen und teuer verkaufen werden. Wer sich doch beteiligen könnte an diesem großartigen Erwerb! ein Hundertstel, ach ein Tausendstel nur von dem Gewinn, den er abwirft, in die eigene Tasche fließen sähe! Der Doktor fängt an, auf der unermeßlichen Ebene Luftschlösser zu erbauen, so bunt und märchenhaft schön, daß er nicht umhin kann, während er sie baut, lächelnd zu denken: Mahnst du auch mich einmal, nie angetretenes Vätererbe – morgenländische Phantasie?
Er wendet sich ab von dem Anblick fremden Reichtums und will einen Strich gezogen haben zwischen dem und seinem bescheidenen Eigentum. Das Doktorhaus wird in fünf Klafter breiter Entfernung von jedem Punkte seiner Mauern mit einem Zaun aus ordentlich zugehobelten Latten umgeben; nach je ihrer zwanzig kommt ein starker, spitz zulaufender Pfahl. Aus dem Raume zwischen Haus und Zaun wird nach und nach ein kleiner Garten werden; die Einteilung in Blumen- und Gemüsebeete ist bald getroffen. Kein Schachbrett kann genauer quadriert sein.
»Im nächsten Jahre, liebe Großmutter, wirst du Rosen und Reseden unter deinen Fenstern blühen sehen«, versprach Nathanael der Greisin, und sie erwiderte: »Wenn ich es nur noch erlebe, mein Kind. Aufs Jahr werde ich fünfundneunzig.«
»Weit über hundert mußt du werden!« rief er eifrig. »Das bist du mir schuldig, denke doch! Wie würde es das Vertrauen der Leute zu mir erhöhen, wenn es hieße: Seine Großmutter hat er auf mehr als auf hundert Jahre gebracht. Denn die Leute sind dumm, liebes Godele, sie schreiben meiner Kunst zu, was deine gute Natur getan hat. Bleibe du nur frohen Mutes, nimm dir nur recht fest vor, noch nicht zu sterben. Solange du es dir fest vornehmen kannst, wirst du munter weiterleben.«
Die Greisin nahm es sich vor, aber von einer rechten Munterkeit war nicht mehr die Rede.
»Mir ist jetzt so oft«, sagte sie, »als ob dein Großvater vor mich träte und zu mir spräche wie in seiner Todesstunde: ›Komm bald! Wir wohnen so friedlich beisammen im Garten Eden, wie wir gehaust haben auf Erden. Komm bald nach, Rebekka! …‹ Damals konnte ich nicht folgen dem Rufe meines Geliebten, weil du mich hast zurückgehalten, du armes Würmchen, du ganz verlassenes. Von Vater und Mutter zuerst, und vom Großvater bald darauf. Ja, es war eine schreckliche Seuche, die Gott geschickt hat über sein Volk im Kazimirz, und nicht gewußt hätte ich, wem sagen: Sei barmherzig meinem Enkelkind, wenn ich mich nun auch hinlege zum Sterben. So habe ich damals nicht erfüllen dürfen den Wunsch meines Geliebten. Jetzt aber, Nathanael, mein Kind, jetzt aber ist mir, als sollte ich ihn nicht länger warten lassen.«
Solche Reden schnitten dem Doktor ins Herz. Nie hatte die zurückhaltende, schweigsame Großmutter ähnliche geführt. Ein bedenkliches Zeichen, wenn alte Leute etwas tun, das außerhalb ihrer Gewohnheiten liegt! Der kleinen Veränderung folgt oft nur gar zu bald die unwiderrufliche – die letzte nach. Und noch ein Symptom, das den Doktor beunruhigte: die Greisin, die sonst nie genug Einsamkeit haben konnte, war jetzt nicht mehr gern allein. Sooft Nathanael sich bei ihr verabschiedete, sprach sie: »Geh denn in Gottes Namen, aber schicke mir den Goi, daß er mir Gesellschaft leiste und ich doch blicken könne in ein menschliches Angesicht und nicht immer und immer nur auf die Felder und den Himmel.«
Der »Goi« war ein Jüngling von nun achtzehn Jahren, des Doktors Famulus, sein Diener, sein Hund. Des Tages wußte er sich nicht zu erinnern, an dem der »Wohltäter« ihm ein gutes Wort gegönnt oder ein gutes Kleidungsstück geschenkt hätte. Wenn die Röcke und Stiefel Rosenzweigs unbrauchbar wurden, erhielt der große Junge sie zur Benützung und die Vermahnung dazu, ihnen diejenige Rücksicht zu erweisen, die man fremdem Eigentum schuldig ist. Der Doktor ging immer mehr in die Breite, und fast schien es, als ob er kleiner würde. Sein Famulus »verdünnte« sich, wie Rosenzweig sagte, von Tag zu Tag und schoß spargelmäßig in die Höhe. Wie ihm die Gewänder des Wohltäters saßen, das kam diesem selbst entweder erbärmlich oder lächerlich vor – beides mit einem Zusatze von Verachtung.
Den Jungen konnte er einmal nicht leiden, sein Widerwillen gegen ihn war unüberwindlich und entsprang aus dem Gedanken, daß der Findling seines Herrn Brot umsonst oder doch fast umsonst esse.
Vor vier Jahren hatte ihn Rosenzweig von der Straße aufgelesen, in einer eiskalten herrlichen Winternacht. Mit dem Stolze eines Triumphators war er im Schlitten des Grafen W. pfeilgeschwind dahingesaust. Der Graf selbst hatte ihn bei der Abfahrt sorgsam in die Pelzdecke gehüllt, in der er sich so behaglich fühlte, und ihm immer wieder gedankt und immer von neuem Worte gesucht für das Unsagbare – die Glückseligkeit des Liebenden, dem sein Teuerstes, das er schon verloren gab, wiedergeschenkt ist. Gerettet die junge Gräfin, gerettet vom beinahe sicheren Tode durch das Genie, durch die erfinderische Sorgfalt des unvergleichlichen Arztes, der an ihrem Krankenlager gestanden hatte wie ein Held auf dem Schlachtfelde, fast besiegt noch den Sieg im Auge, kampfbereit noch im Erliegen, der nicht gewichen war, bevor er sagen konnte: »Wir haben gewonnen, sie wird leben!«
Er hatte so viele Nächte durchwacht und sich auf den guten Schlaf gefreut während der Heimfahrt im bequemen Schlitten. Aber seine Müdigkeit mußte zu groß sein, sie verscheuchte die ersehnte Erquickung, statt sie herbeizurufen. Sooft Nathanael die Augen schloß, unwillkürlich öffneten sie sich wieder und schwelgten im Anblick des sternenbesäten, mondhellen Himmels und der schneebedeckten Ebene, die in wunderbarer Blankheit erglänzte gleich einer ungeheuren, neugeprägten Silbermünze… Wieviel Gold ließe sich erwerben um solche Münze? Die Keller des viereckigen Doktorhauses hätten nicht Raum, sie zu fassen, die köstlichen Barren, die verehrungswürdigen! Berger und Träger allbezwingender Kräfte, gebundene Zauber, aufgespeicherte Macht. Was läßt sich nicht tauschen um Gold? Unschätzbares erkauft man damit, das weiß der Mann, der denen, die ihn bezahlen, die Gesundheit wiedergibt.
Der Doktor wurde in seinem Gedankengange plötzlich unterbrochen. Das Gefährt stand dicht am Straßengraben still, und der Kutscher rief: »Herr Doktor! Herr Doktor! …«
»Was gibt es, mein Sohn?«
»Herr Doktor, da liegen zwei Betrunkene.«
»Steig ab und prügle sie ein wenig durch, damit sie nicht erfrieren.«
Indes der Kutscher vom Bocke stieg und die Zügel an demselben verknotete, hatte Nathanael sich aufgerichtet und vorgebeugt und sah einer der auf dem Boden liegenden Gestalten mit gespannter Aufmerksamkeit in das vom Mondlicht hell erleuchtete Gesicht. Kein Säufergesicht, wahrlich! sondern eines, das Zeugnis gab von ehrlichem Darben und Dulden bis an die Grenze der menschlichen Kraft.
Der arme Teufel hatte, in dem Augenblick wenigstens, kein Bewußtsein seines Elends, er schien fest zu schlafen. Als aber der Kutscher ihn packte und emporzerrte, fiel er sofort, steif wie ein Eisblock, in den Schnee zurück. Jener sprach: »Der eine ist schon erfroren, Herr Doktor!«
Rosenzweig sprang mit beiden Füßen aus dem Wagen und überzeugte sich bald, daß die Behauptung seines Dieners richtig sei. Grimm erfüllte ihn. Da war ihm einmal wieder der Tod zuvorgekommen, den er am meisten haßte, der nicht durchaus durch Krankheit bedingte, durch das Alter herbeigeführte – der Tod, dem der Zufall in die Hand gearbeitet hat, der Tod, der seine Beute umsonst gewinnt, dem sie dumm und töricht zuteil wird, ohne triftigen Grund.
»Sehen wir nach dem andern«, sagte der Doktor zwischen den Zähnen.
Der andere schlief auch, aber weniger tief.
Es war ein Knabe von etwa vierzehn Jahren, dem Toten offenbar nahe verwandt, sein viel jüngerer Bruder oder sein Sohn.
Mit dem Feuereifer des Berufs begann der Doktor Wiederbelebungsversuche anzustellen, und nach langen Mühen krönte sie ein schwacher Erfolg. Ein kaum spürbares Rieseln war durch des Knaben starre Pulse geglitten, und wenn es auch sofort wieder staute, dennoch erklärte der Doktor voll Siegesgewißheit: »Jetzt hab ich ihn!«
Und er hüllte ihn in seinen Pelz, hob ihn in den Schlitten, brachte ihn heim und legte ihn in sein eigenes Bett, an dem er das Kind des Elends mit derselben Hingebung bewachte, die er der Herrin im Grafenschloß gewidmet hatte. Am Morgen war der Patient außer Lebensgefahr, und Rosenzweig konnte nicht umhin, zu sich selbst zu sagen: Auch der gerettet, zwischen zweimaligem Sonnenaufgang zwei!
Schmunzelnd streichelte er seinen langen Mosesbart und freute sich seines mächtigen Vermögens.
Sein Patient aber erhielt noch am selben Tage die Weisung: »Steh auf und geh.«
»Wohin? Gnädiger Herr Doktor, wohin? Wer nimmt mich ohne meinen Bruder?« antwortete der Knabe verzweifelnd, und nun trat die Frage heran: Was mit ihm beginnen?
Die Papiere, die der Verstorbene bei sich gehabt hatte, wiesen ihn aus als den Maschinenschlosser Julian Mierski, der viele Jahre hindurch als Werkführer in einer Fabrik in Lemberg gedient hatte. In seinem Zeugnis hieß es, der vorzügliche Arbeiter habe, zum Bedauern seines Dienstherrn, infolge schwerer Erkrankung entlassen werden müssen. Seitdem konnte er nichts mehr verdienen, sein Bruder aber, den er nach dem Tode der Eltern – arme Häusler in einem Dorfe bei Lemberg – zu sich genommen, nur gar wenig. So gingen, erzählte der Knabe, in Monaten die Ersparnisse von Jahren hin und wurden aufgezehrt bis auf einige Gulden, deren Anzahl er genau angab und die sich auch richtig im Ranzen des Verunglückten vorgefunden hatten.
Die Großmutter hörte dem unter Tränen erstatteten Berichte aufmerksam zu.
»Horch, Nathanael, mein Kind«, sagte sie. »Es ist nicht recht gewesen von dem Bürger Goi in Lemberg, zu verlassen den Mann in seiner Krankheit, der ihm in Gesundheit gedient hat viele Jahre.«
»Eine Fabrik ist keine Versorgungsanstalt«, erwiderte Rosenzweig und befahl seinem Geretteten: »Sprich weiter.«
Dieser fuhr fort: »Vor acht Tagen ist ein Bekannter von meinem Bruder gekommen und hat erzählt, daß es in Krakau eine Fabrik gibt wie die unsere und daß sie uns dort gewiß nehmen werden. Mein Bruder war sehr froh: ›Komm, Joseph, wir wandern‹, hat er gesagt und hat auf der Reise immer gemeint, der lange Müßiggang ist es gewesen, der ihn nicht hat gesund werden lassen, beim Marschieren wird ihm besser. Auf einmal hat er aber nicht weitergekonnt und hat sich in den Schnee gelegt, um ein wenig zu schlafen.«
»Und du hast das zugegeben?« schrie der Doktor ihn an. »Weißt du nicht, was einem geschieht, wenn man sich bei solchem Frost in den Schnee legt?«
Der Knabe senkte seine großen Augen, aus denen unaufhörlich Tränen flossen, und schwieg.
»Was soll man anfangen mit einem solchen Chamer?« fragte Rosenzweig die Großmutter.
Die Greisin entgegnete: »Laß ihn heute noch ruhen unter deinem Dache. Sei ihm barmherzig. Er ist eine Waise wie du.«
Am nächsten Tage lautete ihr Rat: »Behalte ihn. Unsere Magd wird ohnehin alt und wackelig und kann eine Hilfe brauchen. Behalte ihn und richte ihn ab zu deinem Dienst. Wer wird es verargen einem großen Mann wie du, wenn er tut sich halten einen Famulus?«
So wurde der Findling ein Genosse des Doktorhauses, und zwar ein ungemein nützlicher, obwohl Rosenzweig das letztere nicht gelten ließ. In seinen Augen blieb Joseph ein »Chamer«, der aus Büchern nichts lernte, nicht zu lernen vermochte. Mit achtzehn Jahren noch las er nicht ohne Schwierigkeit die einfachsten Kindergeschichten. Ihn zur Schule zu zwingen, hatte der Doktor schon nach den ersten Monaten aufgegeben, weil er nur mit Schlägen dahin zu bringen war und sein Wohltäter nicht immer Muße hatte, ihm dieselben zu spenden. Seine mechanischen Fertigkeiten hingegen waren groß, und groß der Fleiß, mit dem er sie ausübte. Auch er pfuschte in jedes Handwerk, aber mit besserem Erfolg als dereinst der Doktor.
In allem, was er unternahm, offenbarte sich ein Schick, eine Leichtigkeit, ja sogar ein Geschmack, der den Pillenschächtelchen des Doktors ebensosehr zugute kam wie den Blumenbeeten im Gärtlein vor dem Hause. Immer nur mit Verdruß hörte der Doktor ihn loben, »den Tagdieb, der nichts kann und nie etwas anderes können wird als spielen«.
Er hatte einmal wieder diesen Vorwurf ausgesprochen, da entgegnete Joseph: »Wenn du dich entschließen könntest, deine Felder in deine eigene Verwaltung zu nehmen, würde ich dir beweisen, daß ich kein Tagdieb bin.«
Der Doktor fuhr auf: »Was sprichst du von meinen Feldern? Weißt du nicht, daß ich ein Jude bin und als solcher Grundeigentum nicht besitzen darf? Weißt du nicht, daß sogar mein Haus auf fremdem Boden steht?«
Joseph wurde rot vor Verlegenheit, sah jedoch dem Doktor vertrauensvoll und offen ins Gesicht und erwiderte: »Du hast die Felder auf den Namen des Theophil von Kamatzki gekauft, aber sie sind doch dein.«
»Sag einmal, mein Junge, woher hast du diese Nachricht?« fragte Rosenzweig, und höchst verdächtig war die Gebärde, mit welcher er dabei sein spanisches Rohr zu schwenken begann.
Gelassen antwortete Joseph: »Das ist kein Geheimnis. Alle Leute wissen es und gönnen dir die Felder.«
Während dieses Gespräches standen die beiden mitten auf dem Wege, der schnurgerade von der Haustür zum Gartenpförtlein führte, zwischen zwei säuberlich mit Reseden eingefaßten Rosenbeeten. An den Stachelbeerhecken, die Joseph längs des Lattenzaunes gezogen hatte, reiften die ersten Früchte. Was man überblicken konnte an zart entfalteten Salatstauden, an Rüben mit kühnen Federbüschen, an gelblich zwischen gekräuselten Blättern hervorleuchtendem Blumenkohl, an schier kriegerisch behelmtem Zwiebelnachwuchs, an zierlichem Majoran und – dulce cum utile –, als Begrenzung jeglichen Gemüsekarrees, an duftendem Lavendel, dessen kleine Knospen zu schwellen anfingen, das war alles so kraftstrotzend und kerngesund, daß bei dem Anblick jedem Menschen, besonders aber einem Arzte, das Herz im Leibe lachen mußte. Mit geheimem Wohlgefallen betrachtete Rosenzweig die freundlichen Himmelsgaben und sagte: »Weil du ein leidlicher Gärtner bist, bildest du dir ein, auch ein Landwirt sein zu können.« Damit wollte er abbrechen, besann sich aber und fügte hinzu, indem er die Spitze seines Stockes mit großer Hartnäckigkeit in die Erde bohrte und diese Operation scheinbar höchst aufmerksam verfolgte: »Ich hätte die Felder nicht – eigentlich mit einem gewissen Unrecht – in meinen Besitz gebracht, wenn ich nicht hoffen dürfte, sie bald zu Recht besitzen zu dürfen. Du wirst wohl wissen, daß eine Veränderung der Landesgesetze bevorsteht und daß an den größeren Freiheiten, die sie dem Volke Galiziens gewähren werden, auch die Juden teilnehmen sollen.«
Joseph wußte das und hoffte, der Doktor werde die Felder, wenn sie einmal vor Gott und der Welt sein Eigentum sein würden, nicht mehr in Pacht geben, sondern selbst bewirtschaften.
»Dann wirst du Ställe und Scheuern bauen müssen«, schloß der Jüngling. »Ich habe dem Architekten in der Stadt etwas abgesehen und die Pläne schon fertig.«
»Bist ein Narr«, sprach der Doktor, verlangte aber nach einigen Tagen doch, die Pläne zu sehen.
Nun, brauchbar waren sie gewiß nicht, doch als merkwürdig mußte man es gelten lassen, daß der Findling, dessen Schrift die eines siebenjährigen Kindes war, doch so nett und ordentlich und vielleicht auch in den Maßen richtig einen Plan zu zeichnen vermochte. Das ist eben einer von denen, die tanzen können, bevor sie das Gehen erlernt haben. Es gibt solche Käuze. Sie setzen einen allerdings manchmal in Erstaunen. Gewöhnlich wird aber nichts aus ihnen.
Nathanael, der einen Gedanken, der sein eigenes Wohl und Weh betraf, nie lange verfolgte, ohne die Großmutter zu dessen Vertrauten zu machen, fragte bald darauf bei ihr an, was sie zu einer Selbstverwaltung seiner Gründe sagen würde. Da zeigte es sich, daß dieser Gegenstand zwischen der Greisin und dem Findling schon gründlich erörtert worden war.
»Du wirst reich werden wie Laban«, prophezeite die alte Frau. »Über dir ist des Herrn sichtbarlicher Segen.«
In diesem Frühjahr hatte es sich ihr erwiesen; in diesem für Tausende unseligen Frühjahre 1845, als die Weichsel aus ihren Ufern trat und in einen schlammigen See verwandelte, was üppig und verheißungsvoll grünende Saat gewesen war. Unaufhaltsam wie ein Gottesgericht waren die Fluten hereingebrochen und hatten die ernährende Scholle hinweggespült und mit ihr Hab und Gut und Hoffnung derer, die sie bebauten.
Bis dicht an die Grenze der Felder Nathanaels erstreckte sich die Verheerung – vor ihnen zerrannen die Wellen. Vor ihnen waren die Wasser hinweggefahren und hatten sich auseinandergeteilt wie einstens die Wasser des Roten Meeres, als Moses gegen sie den Stab erhob und die Hand reckte auf Gottes Gebot.
Und als der Herbst kam, herrschte ringsum Hungersnot. Hunderte verließen mit ihren Weibern und Kindern die Heimat und wanderten als Bettler, als Taglöhner, Brot und Arbeit suchend, aus.
Die Großmutter aber fragte täglich: »Wann beginnt die Ernte? In diesem Jahre hat der Weizen hundertfachen Wert. Wann kommen die Schnitter?«
Nathanael erwiderte lächelnd: »Bald, sehr bald. Sie wetzen schon die Sensen!«
Indessen erlebte die Greisin die Zeit der Ernte nicht mehr. Sie fiel selbst als überreifes Körnlein in den Mutterschoß der Erde zurück, bevor ihr Enkel zu ihr hatte sprechen können: »Die Schnitter kommen!«
Unerhört spät und doch zu früh war plötzlich ihr Leben erloschen.
Da lag sie nun in ihrem schmalen Sarge, die alte Rebekka, ein wundersam ergreifender Anblick. Der Tod hatte ihre gekrümmte Gestalt gestreckt, und weinend und staunend fragte Joseph: »So groß war sie?«
Er fragte aber auch: »So schön war sie?«
Erlöst von allen Gebrechen, befreit von der Hilflosigkeit des Alters, wie majestätisch erschien sie nun, in ihrer unendlichen Ruhe, in ihrem untrübbaren Frieden! Das Lächeln auf dem Angesicht so vieler, die überwunden haben, umschwebte diese Lippen nicht. Steinerne Kälte sprach aus den Zügen, die ein Schimmer der begeisterten Liebe und Bewunderung, welche die Gegenwart des Enkels stets auf ihnen hervorgezaubert, noch in der Sterbestunde erhellt hatte.
Du bist es nicht mehr! dachte Nathanael, und mit grausamer Gewalt ergriff ihn das Bewußtsein des erlittenen Verlustes.
Er winkte Joseph hinweg, er wollte ungestört bei seiner Toten bleiben. Am Fußende des Sarges stehend, suchte er in dem fremden, veränderten Anlitz der Großmutter das lang bekannte, teure und – fand es nicht. Das einzige ideale Gut, das er besessen hatte, die Zuneigung dieser alten Frau, war für immer dahin und er, als ein bejahrter Mann – allein. Mit jähem Schreck fiel es ihn an: Zwischen dieser Greisin und dir liegt eine Generation. Du solltest jetzt hingehen können und an der Brust deines Weibes um sie weinen und dir Trost schöpfen aus dem Anblick deiner Kinder.
Der rastlos Strebende, der nie zurück, der nur vorwärts geschaut, nach Zielen, die mit seinen Erfolgen wuchsen, hielt einmal still in seinem Laufe, wandte sich und durchmaß im Geiste seinen ganzen Lebensweg. Viel erreicht! durfte er sich gestehen, doch niemals das geringste ohne einen Gedanken an dich – Großmutter. Wie ihr Dasein ihn erfüllt und beglückt hatte, jetzt klaffte um so schmerzlicher der Riß, den ihr Scheiden verursachte.
Sie hätte ihn nicht verlassen sollen, sie, deren Nähe ihn über das Schwinden der Zeit – eines Begriffes, der dem hohen Alter verlorengeht – getäuscht hatte.
»Weiche ab von dem Brauche unseres Volkes«, hatte die Greisin so oft gesprochen. »Heirate nicht zu früh, setze nicht Bettler in die Welt. Du kannst warten, mein Kind, du bist jung.«
Immer hatte er zu dieser Ermahnung geschwiegen; heute antwortete er ihr, die ihn nicht mehr hören konnte: »Ich war dir so lange zu jung zum Freien, bis ich mir zu alt geworden bin.«
Alsbald jedoch empfand er den Widerspruch, den er ihr ins Grab nachgerufen, als einen Frevel; und er trat zu ihr, beugte sich über sie, und was nie geschehen war, solange sie gelebt hatte, er küßte ihre Hand, küßte ihre Stirn und den für ewig verstummten Mund, den einzigen auf Erden, von dem er sich »mein Kind« hatte nennen hören.