Kapitel 3

 

Rosenzweig ließ seinem Kutscher den Befehl erteilen, anzuspannen und ihm auf der Straße nachzufahren. Er selbst ging zu Fuße voraus und schlug bald einen schmalen Weg ein, der, die Felder quer durchschneidend, in der Nähe eines steinernen Kreuzes in die Landstraße ausmündete. Dort wollte er seinen Wagen erwarten.

Er sehnte sich danach, tüchtig auszuschreiten, frische, freie Luft zu atmen und den gesunden Erdgeruch einzuziehen, der aus den aufgerissenen Schollen emporstieg. Nur wundernahm es ihn, daß er die Wonne und Wohltat, der parfümierten Salonluft und Gesellschaft entronnen zu sein, nicht so recht zu empfinden vermochte.

Ein tiefinnerliches Unbehagen erfüllte ihn, ein unbestimmtes Etwas ging ihm nach, von dem er sich keine andere Rechenschaft zu geben wußte, als daß es sehr quälend sei.

Plötzlich rief er mehrmals nacheinander laut aus: »Narr! Narr!«

Die Apostrophe galt demjenigen, den der Kreishauptmann soeben einen Sendboten genannt hatte, und die Erinnerung an das unverdiente Lob, das dieser Mensch ihm gespendet, die war’s, die dem Doktor die Laune verdarb. Jedes Wort, das der »Narr« gesprochen, jeder Zug seines durchgeistigten Apostelgesichts, der Ausdruck der schwärmerischen Ehrfurcht, mit welchem seine tiefblauen Augen auf ihm geruht – alles hörte, alles sah er wieder, und eine zornige Beschämung erfüllte ihn.

Er, der trockene, auf seinen Vorteil bedachte Nathanael Rosenzweig – ein Menschenfreund und Samariter? – So einsam er da wandelte auf dem Felde, ihm schoß das Blut in die Wangen, daß sie glühten. Er gedachte all der Hände, die sich im Verlaufe seines langen Lebens flehend zu ihm ausgestreckt, und sagte sich: Nie hast du geholfen außer im Beruf. Und was wir dem zuliebe tun, tun wir uns selbst zuliebe. Seine Schuldigkeit hatte er erfüllt in ihrem ganzen Umfang; aber Schuldigkeit – es liegt schon im Worte – ist nur ein Tausch. Mehr als getauscht hatte er nie. Seine Kraft, sein Talent, die Früchte seines rastlos vermehrten Wissens gegen den Wohlstand, den er durch sie erwarb, und gegen die Achtung der Menschen. So hatte er es bisher gehalten, und – Nathanael warf den Kopf zurück in seinen breiten Nacken – so wollte er es auch ferner halten. Möge erst jeder seinem Beispiel folgen! Möge diese, im Grunde niedere Stufe der Moral erst von der Mehrzahl erreicht sein, dann werden sie zu Worte kommen, die Idealisten, die Träumer von einem Goldenen Zeitalter allgemeiner Nächstenliebe. Früher – nicht!

Jetzt hatte er sich wieder zurechtgefunden und schritt rüstig und sorglos weiter in gewohnter Seelenruhe.

Lange vor seinem Wagen, von dem trotz allen Ausblickens keine Spur zu entdecken war, erreichte er das steinerne Kreuz. Am Fuße desselben kauerte eine klägliche Gestalt. Ein alter Mann, die Knie heraufgezogen bis ans Kinn, eine hohe Schafpelzmütze auf dem Kopfe, um die Schultern die Reste eines blauen Fracks, den vermutlich dereinst in Tagen schlummernden Nationalgefühls der verewigte Gutsherr getragen. Die mageren Beine des Greises wurden von einer ausgefransten Leinwandhose umschlottert und befanden sich, wie sein ganzer kleiner Körper, in einer unaufhörlich zitternden Bewegung.

Als der Doktor sich ihm näherte und ihn ansprach, erhob er langsam, mühsam das juchtenfarbige, faltige Gesicht und blickte aus halb erloschenen, rot umränderten Augen mit dem demütigen Leidensausdruck eines alten Jagdhundes zu ihm empor.

»Was tust du hier?« fragte Rosenzweig.

»Ich warte, mein gnädiger Herr, ich bete und warte«, antwortete der Angeredete und streckte seine knöcherne Rechte aus, an deren Fingern ein vielgebrauchter Rosenkranz hing, »ich warte immer auf einen Brief von unserem lieben Herrgott.«

»Was soll denn unser lieber Herrgott dir schreiben?«

»Daß ich zu ihm kommen darf, es ist ja hohe, hohe Zeit.«

»Wie alt bist du?«

»Siebenzig, nicht mehr. Aber wie ich aussehe, und wenn Euer Gnaden wüßten, wie mir ist. Da« – er klopfte auf seine eingefallene, pfeifende Brust –, »kein Atem. Jeden Tag meine ich, ich sterbe auf dem Wege, ich erreiche das Kreuz nicht mehr.«

»Warum bleibst du nicht zu Hause?«

Der Alte öffnete die Arme mit einer unbeschreiblich hilflosen Gebärde: »Sie jagen mich ja hinaus, die Tochter, der Schwiegersohn, die Kinder. Nun ja – sie haben selbst keinen Platz in der kleinen Schaluppe.«

»Wem gehört die Schaluppe?«

»Der Tochter. Ja, der Tochter. Ich habe sie ihr zur Aussteuer geschenkt.«

»Ein Schürzenvermögen also!« spöttelte der Doktor. »Und jetzt jagt sie dich aus dem Haus, das du ihr geschenkt hast?«

»Mein Gott, was soll sie tun? Der Schwiegersohn prügelt sie ohnehin, weil ich so lang lebe. Der Schwiegersohn sagt zu den Kindern: ›Kinder, betet, daß der Großvater bald stirbt.‹ – Ja!«

»Du hast da einen saubern Schwiegersohn.«

»Mein Gott, Herr, die Leute sind schon so. Solche Herren wie du wissen nicht, wie die Leute sind. Es gibt noch viel, viel Ärgere im Dorf. Besonders jetzt in dieser Zeit.« Er senkte die keuchende Stimme. »Weh allen Panowies und Panies, die das nächste Jahr erleben!«

»Warum denn? Was meinst du damit?«

»Oh, die armen Herrschaften! Die armen, armen!« wimmerte der Greis und begann bitterlich zu weinen. »Alles wird man ihnen wegnehmen, und erschlagen wird man sie auch.«

Der Doktor fuhr auf: »Du bist nicht bei Trost!«

Nun begann der andere die Hände zu ringen: »Auch du antwortest mir so? Das ist ein Unglück! Ach, das ist ein Unglück! … So hat der Herr Pfarrer mir geantwortet, wie ich in der Beichte ausgesagt habe, was ich weiß, so hat der Herr Mandatar mir geantwortet, und der Herr Verwalter hat gar gedroht, mich auf die Bank legen zu lassen, wenn ich solche Sachen rede…« Er richtete seinen unsicher suchenden Blick auf den Doktor: »Bist auch du mit ihnen einverstanden?«

»Einverstanden – ich? Mit wem? … Sag alles!« befahl Rosenzweig. »Was wird ums neue Jahr geschehen?«

»Männer von jenseits des Meeres werden kommen und werden alle adeligen Besitzungen unter die Bauern verteilen.«

Auch die des Pan Teophil Kamatzki? – Wartet, Kanaillen! dachte der Doktor und sprach: »Was wird denn die Regierung dazu sagen?«

»Die Regierung? Ach Jesus! Von der Regierung aus ist im vorigen Frühjahr schon alles Land vermessen worden, damit die fremden Männer wissen, wie geteilt werden soll.«

Rosenzweig brach in ein schallendes Gelächter aus: »O dieses Volk! … Seit fünfzig Jahren verkehre ich mit diesem Volk, aber die Wege seiner Dummheit habe ich noch nicht erforscht… Alter! die Vermessungen hat der Kaiser vornehmen lassen, weil er wissen will, wie groß sein Galizien ist und wieviel Steuern es ihm zahlen kann.«

Ungläubig wackelte der Greis mit dem Kopfe: »Das wissen wir besser, verzeih. Der Kaiser nimmt den Herren, die gegen ihn sind, das Land und schenkt es den Bauern, die für ihn sind. Dann wird es gut sein, glauben die meisten… Ich glaube, daß es schlecht sein wird. Jeder Tag wird Sonntag sein, und was tun die Bauern am Sonntag als raufen und sich betrinken? … Oh, mein gnädiger Herr, könnt man’s doch verhüten!«

»Sei du ganz ruhig, das wird gewiß verhütet werden«, entgegnete Rosenzweig und lachte wieder.

Da wurde der Alte plötzlich aufgebracht: »Wenn du gestern abend im Wirtshaus gewesen wärest und den Kommissär hättest predigen gehört, du würdest nicht lachen.«

»Den Kommissär? Den Emissär, willst du wohl sagen! Ein Emissär, wie sie jetzt zu Dutzenden herumziehen.«

»Nein, nein, kein solcher. Einer, der einmal ein Herr war und jetzt sagt, daß es keine Herren mehr geben soll. Er weiß so gut, was für Zeiten kommen werden, daß er lieber gleich von selbst ein Bauer geworden ist, und hat alles verschenkt.«

Diese Worte erweckten Nathanaels ganze Aufmerksamkeit und erhoben es ihm zur Überzeugung, daß der Alte von demselben Manne sprach, den der Kreishauptmann den Sendboten genannt und vor dem er selbst eben erst Aug in Auge gestanden hatte.

Derselbe! Er war es – er gewiß, der Rätselhafte, dessen Lebensgeschichte die Vernünftigen einander mit Hohn und Spott erzählten, die Furchtsamen mit Haß, die Phantasten mit Begeisterung, es war – Eduard Dembowski.

Oft hatte er sagen gehört, daß von diesem Menschen ein Zauber ausgeht, dem sich niemand zu entziehen vermöge, und dieser geheimnisvollen Einwirkung den größten Unglauben entgegengebracht; nun gestand er sich, daß er doch etwas ihr Ähnliches erfahre.

Ja! der bleiche Schwärmer schritt wie ein Gespenst neben ihm her. Ja! sein Bild verfolgte ihn mit unleidlicher Hartnäckigkeit. Vergeblich suchte er seine Gedanken von ihm abzulenken, immer wieder tauchte es auf und trotzte dem Willen, es zu verscheuchen.

Das Gefährt des Doktors stand schon seit geraumer Weile auf der Straße. Eine bequeme Britschka, bespannt mit einem Paar kugelrunder Falbenstuten in zierlichen Krakauergeschirren mit glockenbehangenen Kummeten. Der Kutscher war ein schlanker Bursche im saubern, einfach verschnürten Leibrock, und das Ganze bildete eine hübsche Equipage, um die so mancher Edelmann den Doktor beneidete.

Dieser klopfte den Falben die starken Hälse und legte ihnen die Zöpflein der schwarzen, eingeflochtenen Mähnen zurecht. Schon war er im Begriffe, in den Wagen zu steigen, da wandte er sich zu dem Alten am Fuße des Kreuzes zurück: »Du! Wie heißest du?«

»Semen Plachta, Herr.«

»Hör an, Semen! Krieche heim und sage deinem Schwiegersohn, daß Doktor Rosenzweig morgen kommen wird, dich zu besuchen. Er soll dich zu Hause lassen. Verstehst du mich? Wenn ich komme und dich nicht zu Hause finde, werde ich dafür sorgen, daß dein Schwiegersohn noch vor der allgemeinen Verteilung als erste Abschlagzahlung auf das Künftige eine Tracht Prügel erhält.« Rosenzweig hatte seine Brieftasche gezogen und ihr eine Fünfguldenbanknote entnommen. Sein Gesicht wurde sehr ernst, während er sie betrachtete. Ein kurzes Zögern noch – dann reichte er sie dem Greise hin.

»Das aber gehört dir. Ich will morgen hören, ob das Geld für dich verwendet worden ist.«

Semen streckte die Hand nach dem fabelhaften Reichtum aus; zu sprechen, zu danken vermochte er nicht. Auch der Kutscher auf dem Bocke blieb starr, riß die Augen auf, ließ vor Erstaunen beinahe die Zügel fallen. Was sollte das heißen, um Gottes willen? Sein Herr verschenkte fünf Gulden an einen Straßenbettler?!

»Herr«, sagte er, als der Doktor in den Wagen stieg, »du hast ihm fünf Gulden gegeben. Hast du dich nicht geirrt?«

»Schweig und fahr zu!« befahl Rosenzweig, und die Peitsche knallte, und die Falben griffen aus.

Bald kam auf der weiten Ebene das Doktorhaus in Sicht. Es stand jetzt nicht mehr so allein da wie ein Grenzstein; sehr nette Stallungen und Schuppen erhoben sich hufeisenförmig im Hintergrunde, und eine wohlgepflegte Baumschule füllte den Raum zwischen den Wohn- und Wirtschaftsgebäuden.

Die letzteren waren wirklich nach einem Plane des Chamers, dem der Architekt seine Sanktion gegeben hatte, ausgeführt worden und gut ausgefallen, das mußte man gelten lassen.

Ob Rosenzweig zu seinem Daheim zurückkehrte aus dem Gehöft eines Schlachtschitz, aus dem Hause eines Grundherrn oder aus dem Schlosse eines Magnaten – sein geliebtes Besitztum begrüßte er stets mit der gleichen Freude. Den anderen das Ihre, das Meine mir! – Aufrichtig gesagt, getauscht hätte er, wenn auch noch so gewinnreich, mit keinem. Er hatte ja nie ein lebendes Wesen – seine Großmutter ausgenommen – so geliebt, wie er sein kleines Gut liebte. Und wie es da so schmuck vor ihm lag, das langsam und mühsam Erworbene, die Verkörperung seiner Kraft und Tüchtigkeit, ein so wahrhaft zu Recht bestehendes Eigentum, wie es wenige gab, da ballten sich seine Fäuste, und er vollzog einen imaginären Totschlag an dem imaginären ersten, der es wagen würde, ihm seinen Besitz anzutasten.

Am Abend noch besuchte er den Kreishauptmann und berichtete ihm Wort für Wort sein Gespräch mit Semen Plachta.

Der Beamte ließ sich in eine ausführliche Erörterung der kommunistischen Umtriebe im Lande ein, die eigentlichen Absichten ihres Urhebers jedoch, das Wesen des seltsamen Mannes überhaupt wußte er nicht zu erklären, so genaue Kenntnis er auch von dessen ganzem Lebenslaufe besaß.

Der Sendbote, der das Land rastlos durchpilgerte und in den Palästen und den Hütten das Evangelium der Gleichberechtigung aller Menschen und der Gleichteilung allen Grund und Bodens verkündete, gehörte, als Sohn des Senatorkastellans von Polen und Herrn der Herrschaft Rudy im Warschauer Gouvernement, dem hohen Adel an. Auch er war wie seine Standesgenossen aufgewachsen und erzogen worden im Bewußtsein überkommener Rechte, ererbter Macht und der Pflicht, sie zu wahren und sie auszuüben.

Kaum jedoch in ihren Besitz gelangt, hatte er sich ihrer freiwillig entäußert. Die Erträgnisse seiner Güter flossen in die Bettelsäcke der Güterlosen oder wurden zu Revolutionszwecken verwendet. Er aber zog umher und warb Jünger für seine Lehre und fand ihrer in den Reihen seiner eigenen Standesgenossen. An die eindrucksfähigen Herzen der Jugend wandte er sich, und Je reiner und unschuldiger diese Herzen waren, desto feuriger erglühten sie in Verehrung für ihn und in Sehnsucht, seinem opfermutigen Beispiele zu folgen. Boten des Sendboten tauchten auf im Königreiche Polen, im westlichen Rußland, in Posen, in Galizien. Die Worte ihres Abgotts auf den Lippen, riefen sie dem Adel zu: Wirf deine Reichtümer und deine zu lang genossenen Vorrechte von dir! Vorrecht ist Unrecht. Und dem Volke: Kommt, ihr Armen! Nehmt euren Anteil an dem Boden, den seit Jahrhunderten euer Schweiß und, wie oft! auch euer Blut gedüngt hat. – Zu allen aber sprachen sie: Erhebt euch, schüttelt das Joch der Fremden ab! Wir wollen ein Reich gründen, darin es weder Überfluß noch Armut, nicht Herrschaft noch Knechtschaft gibt, das Reich – das Christus gepredigt hat.

Der geistige Leiter dieser Missionen hatte sich inzwischen an dem gegen Rußland geplanten und fast im Augenblick des Losbruchs gescheiterten Aufstande des Jahres 1843 beteiligt. Als Flüchtling entkam er nach Posen, wurde dort binnen kurzem wegen Verbreitung kommunistischer Grundsätze zur Rechenschaft gezogen, in Haft genommen, endlich verbannt. Er begab sich nach Brüssel, wo Lelewel die Verirrungen seiner allzu heißen Freiheits- und Vaterlandsliebe in den Qualen bittersten Heimwehs verbüßte. Der Umgang mit diesem »Großmeister der Revolutionäre« steigerte die Begeisterung Dembowskis zum Fanatismus. Was seine Seele fortan erfüllte, war nicht mehr Mitleid allein mit den Elenden und Armen, es war auch Haß gegen die Starken und Reichen, hießen sie nun die Beherrscher der Teilungsmächte oder die Inhaber der polnischen Zentralgewalt in Paris und Usurpatoren des Königreichs, das sie wiederherstellen wollten.

Der Apostel der Nächstenliebe kehrte als ein politischer Agitator nach der Heimat zurück. Er, den bisher nur seine eigenen Eingebungen geleitet hatten, übernahm die Ausführung fremder Pläne und die Aufgabe, Galizien zur Empörung reif zu machen. In dieser Aufgabe wirkte er nun. Wußten diejenigen, die ihn mit ihr betrauten, was sie taten? Sahen sie ihn und seine Lehre nur als das Ferment an, das die stumpfsinnige Menge in Gärung bringen, in eine Bewegung setzen sollte, der die Richtung vorzuschreiben sie sich anmaßten? –

Die Sympathie und Bewunderung, die jeder echte Pole für denjenigen empfindet, der im Kampfe gegen die Fremdherrschaft gelitten hat, bewährte sich von neuem. Der Adel nahm den Geächteten in Schutz, obwohl er einen Gegner seiner Interessen in ihm erkannte. Mochte er welcher Partei immer angehören, die Befreiung Polens war auch sein Ziel, auf dem Wege traf man zusammen und drückte einander die Hand.

»Und sehen Sie«, schloß der Kreishauptmann, »so sehr ist der Mensch in mir im Beamten doch nicht aufgegangen, daß ich diese Polen um solcher Züge ihres oft unbesonnenen, blinden, stets aber hochherzigen Patriotismus willen nicht lieben und zugleich – beneiden müßte.«

»Euer Gnaden!« rief Nathanael mißbilligend aus, und beide Männer schwiegen. Nach geraumer Zeit erst nahm der Doktor wieder das Wort: »Ich glaube, Euer Gnaden, es wäre Sache der Regierung, vor allem sich und den Adel vor dem verderblichen Einfluß des kommunistischen großen Herrn zu schützen.« Hier flocht er das ruthenische Sprichwort ein: Ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. – »Ich begreife nicht, warum man so lange untätig zusieht. Warum man ihn nicht hindert, gleichsam unter den Augen der gesetzlichen Macht sein tödliches Gift auszustreuen.«

Unangenehm berührt durch die Entschiedenheit, mit welcher Rosenzweig sprach, entgegnete der Kreishauptmann mit kühler Überlegenheit: »Es geschieht schwerlich ohne Grund. Übrigens unter uns! –, wir haben Weisung, auf ihn zu fahnden – in unauffälliger Weise.«

»Oh – dann!« rief Nathanael übereifrig, »dann beschwöre ich Euer Gnaden, meine Dienste in Anspruch zu nehmen. Unauffälliger wäre nichts, als einen Kranken dem Arzte anzuvertrauen. Und daß Ihr ›Sendbote‹ krank ist – hier«, er deutete auf die Stirn, »und in das Beobachtungszimmer des Kreisphysikus gehört, darauf schwöre ich!«

Der Ausdruck im Gesichte des Beamten wurde immer kälter, er richtete plötzlich eine gleichgültige Frage an den Doktor und entließ ihn, indem er beim Abschied warnend Talleyrands berühmtes Surtout pas trop de zèle! zitierte.

Die Warnung blieb fruchtlos. Des Doktors einmal entfesselter Eifer für die Sache der Ordnung und des Gesetzes war nicht mehr zu bändigen. Er hätte die Friedlosigkeit, die ihn umherjagte, auch den anderen mitteilen mögen, legte einen Abscheu ohnegleichen gegen die zuwartende Geduld an den Tag, deren man sich in maßgebenden Kreisen befliß, und nannte sie verbrecherischen Leichtsinn und unverzeihliche Lauheit.

Sein politisches Glaubensbekenntnis hatte sich bisher in dem Satze zusammenfassen lassen: »Unsere Regierung wird die denkbar beste sein, sobald sie sich nur noch herbeiläßt, den Juden das Recht zu geben, Grund und Boden zu besitzen.« Jetzt aber war ihm der Glaube an die Weisheit dieser Regierung erschüttert, und er begann sich als ihr Belehrer und Ratgeber zu gebärden. Auf dem Kreisamt hatte man wenig Ruhe vor ihm, er brachte täglich neue, immer bedenklicher lautende Nachrichten von dem Umsichgreifen der kommunistischen Propaganda und riet immer dringender, man möge sich doch entschließen, energische Sicherheitsmaßregeln zu ergreifen.

Die genaue Bekanntschaft des Schwiegersohnes Semen Plachtas, die er gemacht hatte, gab ihm viel zu denken. Er hatte sich bisher niemals mit dem Studium einer Bauernseele beschäftigt. Ein Bauer war in seinen Augen der uninteressanteste von allen mit einer Menschenhaut überzogenen Bipedes. Jetzt nahm er einen von der Sorte aufs Korn, beobachtete ihn genau, ging sogar mit ihm ins Wirtshaus, ließ sich mit ihm in Gespräche ein und wußte am dritten Tage, was er schon im ersten Augenblick gewußt hatte, daß der Mann faul, trunksüchtig und einfältig sei. Wie einfältig, das kam erst zum Vorschein, wenn ihm der Branntwein die schwere Zunge löste und es nur weniger geschickt gestellter Fragen brauchte, um sich zu überzeugen, daß ihm sogar die Kardinalerkenntnis der Unterscheidung zwischen Mein und Dein fehlte.

Der Doktor fuhr zur Gräfin Aniela und hielt ihr einen Vortrag über den Zustand der Landbevölkerung. »Ja«, schloß er denselben, »der Bauer ist dumm, aber wodurch soll er denn gescheit werden, wenn er es nicht zufällig von Natur ist? Ja, der Bauer ist faul, aber was würde die Arbeitsamkeit ihm nützen, sie brächte ihn doch nimmer auf einen grünen Zweig. Seine Arbeitsamkeit käme mehr dem Herrn zugute als ihm. Ja, der Bauer trägt den heute verdienten Groschen heute noch in die Schenke, aber diese Verschwendung kommt von seinem Elend. Das Elend ist nicht sparsam, das Elend vermag einen so gesunden und fruchtbringenden Gedanken wie den der Sparsamkeit gar nicht zu fassen.«

Gräfin Aniela streckte das zierliche Hälschen in die Höhe, ihre lieblichen Lippen verzogen sich spöttisch.

»Verehrter Lebensretter, Sie sprechen ja ganz wie der ›Sendbote‹«, sagte sie; »man glaube, ihn zu hören.«

Der Doktor schwieg; der scherzhaft gemeinte Vorwurf traf ihn tief.

Eine Stunde später stand er in seiner Baumschule vor einem Stämmchen, nicht viel dicker als ein Finger, und doch trug es schon unter seiner kleinen Blätterkrone drei herrliche Äpfel, völlig reif beinah, mit gelblich glänzender Schale. Zu jeder anderen Zeit hätte der Doktor an dem Anblick seine Freude gehabt, heute vermehrte sich durch ihn nur sein Mißmut. Joseph kam aus dem Hause, sein Arbeitsgerät auf der Schulter, und wollte den Wohltäter noch zu anderen Bäumchen führen, die ein ebenso kräftiges Streben, brave Bäume zu werden, an den Tag legten wie dasjenige, das er staunend betrachtete.

Er erhielt keine Antwort. Mit finsterer Strenge funkelten die schwarzen Augen Rosenzweigs unter ihren buschigen Brauen den Jüngling an, und plötzlich sprach er: »Sag einmal, hast du nie etwas von einem Freiheitshelden, so einer Art Narren gehört, der sich hier in der Gegend aufhält und den Bauern in den Wirtshäusern Revolution predigen soll?«

Joseph sah offenbar betroffen aus und schwieg.

»Gesteh! Gesteh!« befahl Rosenzweig, und sein drohendes, zornrotes Gesicht näherte sich dem des Jünglings.

»Ich weiß nicht, Herr«, stammelte dieser, »Ob du denjenigen meinst, den sie den Sendboten nennen.«

»Den eben meine ich!«

»Der predigt aber nicht Revolution, der predigt Fleiß und Nüchternheit.«

»Fleiß im Stehlen, Nüchternheit beim Totschlagen – was?« höhnte der Doktor.

Ungewohnterweise ließ sich Joseph nicht außer Fassung bringen. Noch mehr! Er erlaubte sich einen Widerspruch: »Du bist im Irrtum. Ich kenne ihn.«

Rosenzweig prallte mit einem unartikulierten Ausruf zurück, und Joseph fuhr fort: »Ich habe lange mit ihm gesprochen.«

»Wo? und wann? und was?«

»Auf dem Felde, in der vorigen Woche; und von dir ist die Rede gewesen.«

»Von mir?«

Aus dem Munde des Chamers hat er seine Nachrichten über mich? dachte der Doktor. – Nun, sie sind danach!

»Ich habe ihn nie predigen gehört«, nahm Joseph wieder das Wort.

»Möchtest aber wohl?«

»O ja! – Ich möchte wohl. Kein Pfarrer kann es ihm gleichtun, heißt es. Es heißt auch, daß er heute nacht zum letzten Male in unserer Gegend sprechen wird, in der Schenke des Abraham Dornenkron, eine Meile von hier, auf der Straße nach Dolego.«

Eine lange Pause entstand, welcher der Doktor ein Ende machte, indem er Joseph befahl, an die Arbeit zu gehen; er selbst begab sich zum Kreishauptmann, meldete, was er soeben in bezug auf den Emissär in Erfahrung gebracht hatte, und fragte an, ob es nicht geraten wäre, ein Pikett Husaren nach der Schenke zu schicken und den Aufwiegler gefangennehmen zu lassen.

»Was nötig ist, wird geschehen, mein lieber Rosenzweig!« antwortete der Beamte. »Wir sind von allem, was vorgeht, auf das genaueste unterrichtet und finden darin keinen Grund zur Sorge. Wovor fürchten denn Sie sich? Sie gehören zu uns. Ich wollte, ich könnte etwas von Ihrer Vorsicht denen einflößen, die ihrer bedürftiger wären als Sie und wir.«

Rosenzweig machte noch einige Krankenbesuche und kam erst spät am Abend heim. Vor dem Gartentor fand er Joseph, der ihn erwartete.

»Was hast du dazustehen? Geh schlafen!« herrschte er ihm zu.

Auch er hätte gern Ruhe gefunden, aber sie floh ihn in dieser Nacht wie in den vorhergehenden Nächten.

Auf einmal fiel es ihm ein, ob es nicht möglich wäre, daß Joseph sich jetzt aus dem Hause schliche, um nach der Schenke zu rennen und die Abschiedsrede des Agitators zu hören. Der Weg ist freilich weit und die Nacht schon vorgeschritten, aber der Bursch hat junge Beine… Übrigens – wer weiß? Wenn er fürchtet, zu spät zu kommen, nimmt er am Ende gar ein Pferd aus dem Stall…

Nun, der Zweifel wenigstens sollte ihn nicht lange quälen. Rasch nahm er den Leuchter vom Tische und eilte über die Treppe, den Gang nach der von Joseph bewohnten Stube.

In Jahren hatte er sie nicht betreten; sie war die einzig schlechte im Hause und ärgerte ihn, sooft er sie sah. Ein länglicher, schmaler Raum, einfenstrig, mit Ziegeln gepflastert. Wäre Rosenzweig nicht der Wohltäter, sondern der Arzt Josephs gewesen, er hätte ihm verboten, da zu schlafen auf dem Strohsack, im Winkel zwischen der Drehbank und der Mauer, die förmlich troff von Feuchtigkeit.

Er sagte sich das, als er eintretend denjenigen, den er auf dem Wege nach Dolego vermutete, der Länge nach ausgestreckt fand auf seiner mehr als bescheidenen Lagerstätte, tief und selig schlafend.

Als Rosenzweig sich über ihn beugte und ihm ins Gesicht leuchtete, zuckten seine Augenlider, sein roter, frischer Mund zog sich trotzig zusammen, aber nur um gleich wieder mit leicht aufeinanderruhenden Lippen ungestört weiterzuatmen. Hätte er tausend Zungen gehabt, sie würden nicht vermocht haben, kräftigere Fürsprache für die Lauterkeit seines Herzens einzulegen, als es der Ausdruck des bewußtlosen, schweigenden Friedens auf seinem Antlitz tat.

Der Doktor stellte den Leuchter auf die Drehbank und begann sich in der Kammer umzusehen. Was es da gab an begonnenen, an halb und an fast beendeten Arbeiten, das alles war die Frucht des Fleißes emsig schaffender und geschickter Hände. Und es mußte doch kein so übler Verstand sein, der ihr Tun leitete, denn nirgends fand sich die Spur verwüsteten Materials oder kindischer Spielerei. Und worauf sich das ganze Sinnen und Denken dieses Verstandes richtete, das war das Wohl und Gedeihen des Doktorhauses, ihm kam all sein Streben zugute, das förderte er nach bester Kraft und Einsicht. Ein Beispiel für hundert fiel dem Doktor auf, und – fast rührte es ihn.

Er hatte unlängst das hölzerne Gartenpförtlein durch ein eisernes ersetzen lassen und war zufrieden gewesen mit der vom Stadtschlosser gelieferten Arbeit, aber Joseph meinte: »Sie ist nicht schön genug, ich will eine Verzierung anbringen.« Rosenzweig verhöhnte ihn damals, und nun war das Werk schon unternommen, war schon mit unsäglicher Mühe aus starkem Eisenblech herausgesägt und gefeilt, und inmitten schmucker Arabesken zeichnete sich bereits, gar künstlich verschlungen, der Namenszug Rosenzweigs.

Dieser lächelte, kreuzte die Hände und versank in eine zum ersten Male wohlwollende und mitleidige Betrachtung des bescheidenen Tausendkünstlers. Zu Häupten seines Lagers bemerkte er ein Bild des heiligen Joseph, mit vier Nägeln an der Wand befestigt, und darunter stand in ungefügiger Schrift: »Von meiner Lubienka.«

Die deine, du armer Junge, der auf der weiten Erde nichts besitzt? Hab erst festen Boden unter deinen eigenen Füßen, eh du es wagst, einem schwächeren Menschenkinde zuzurufen: Tritt zu mir! Du hast dir noch nichts erworben, noch nichts verdient trotz deiner Arbeitsfreudigkeit und Treue, nichts – keinen Lohn, keinen Dank, kein Recht. Was du mir leistest und nützest, gilt nur als Zahlung einer dereinst – unfreiwillig eingegangenen Schuld.

Wann wird diese Schuld endlich getilgt sein, armer Geselle? … Ist sie es denn im Grunde nicht längst? Besäßest du Klugheit genug, um abzurechnen und abzuwägen, vor Jahren schon hättest du gesagt: Wir sind quitt! Von nun an bezahle mich, Herr! Ich will auch für mich erwerben. – Ich sei ein harter Mann, heißt es, aber ungerecht darf mich niemand schelten. Wenn du gefordert hättest, ich hätte dir gegeben, ich hätte dich gelten lassen, wenn du dich geltend gemacht hättest… Du hast es aber nicht getan; du bist schweigend unter deinem Joche weitergeschritten und wirst so weiterschreiten, bis du zusammenbrichst und am Ausgang deines Lebens so hilflos dastehst, wie du an seinem Eingang gestanden hast… Wessen Schuld? – Warum denkst du nicht? … Warum sprichst du nicht? … Warum verschwendest du die kostbaren Kräfte deiner Jugend? … Aber es geschieht, und ich verbrauche sie – und so wie ich tun Tausende und so wie du Hunderttausende…

Noch einen Blick auf den sanft Schlafenden, und Nathanael schloß die Augen und preßte die Hände an seine Stirn. Grell und blendend drang es auf ihn ein, wie ein im Dunkel aufflammendes Licht. Mit Granen und Entsetzen erfüllte ihn das Bewußtsein: Da schläft er noch still und harmlos, und die Hunderttausende seinesgleichen schlafen wie er… Doch werden sie erwachen – schon weckt man sie. Zu welchen Taten? Wie werden sie hausen, die plötzlich entfesselten Knechte?

Ein Schwindel ergriff ihn, ihm war, als wanke sein Haus.

»Noch nicht!« rief er und stieß den Fuß heftig gegen den Boden.

Joseph erwachte, sprang auf: »Was befiehlst du, Herr?« Das Bewußtsein kehrte ihm nicht schneller zurück, als diese Frage auf seine Lippen trat.

»Wissen will ich, was vorgeht, hören, was euch gepredigt wird. Ich will den Sendboten hören. Spann die Falben vor den Wagen, du wirst mich nach der Schenke des Dornenkron fahren. Spann ein!«