Kapitel 5
Rosenzweig kutschierte nach Hause, im kurzen Trab, im Schritt – wie es den Falben beliebte. Er hatte keine Eile. Wäre der Weg noch einmal so lang gewesen, er würde ihm nicht zu lang geworden sein. Demjenigen, der über ein an sich selbst erlebtes Wunder nachdenkt, vergeht die Zeit geschwind.
Gelogen, betrogen, einen Schurken bestochen – hatte er das wirklich getan, er, der redliche Rosenzweig? Um eines Menschen willen getan, den er noch vor kurzem für einen Feind der Gesellschaft, für seinen eigenen Feind gehalten? …
Die widersprechendsten Empfindungen lieferten sich eine Schlacht in Nathanaels sonst so gleichmütiger Seele. Nur die schlimmste von allen – die Reue war nicht unter ihnen.
Am Nachmittag kam Abraham, sein Geld zu holen. Ja, der Spitzbube nannte es sein, das schöne, zum Ankauf eines neuen Feldes bestimmte Geld. Finster gab der Doktor es hin.
Dann begab er sich auf das Kreisamt.
Er hatte die Absicht, seinem Chef die Ereignisse in der Schenke genau zu berichten, fand ihn jedoch so beschäftigt und in so ungewöhnlicher Aufregung, daß er vorzog zu schweigen. Auch in den folgenden Tagen ging es nicht besser.
Auf dem Amte herrschte in dieser Zeit eine beständige Unruhe, eine außerordentliche Tätigkeit. Der Kreishauptmann bewahrte mit Mühe den Schein seines heiteren Selbstvertrauens. Die Zuversicht war erzwungen, mit welcher er beteuerte, alle Fäden des Netzes in seiner Hand zu halten, an dem Tyssowski in Krakau, Skarzynski im Bochnier, Julian Goslar im Sandezer, Wolanski im Jasloer und Mazurkiewicz im Sanoker Kreise spannen. Die Untreue seines besten Freundes, der offen zur Revolutionspartei übergetreten war, machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Er und der Doktor tauschten allmählich die Rollen. Der Ängstliche wurde der Sorglose und der Sorglose der Ängstliche.
Eines Morgens überbrachte Joseph seinem Herrn einen Brief, der durch einen Boten im Hause abgegeben worden war. Er enthielt zwei Eintausendguldennoten in ein Blatt gefaltet, auf dem die Worte geschrieben standen: »Meine Schuld bleibt ewig ungetilgt.«
Nathanael barg das Blatt an seiner Brust und legte die Noten vor sich hin auf den Tisch.
»Joseph«, rief er.
»Was befiehlst du?«
»Sieh diese zwei Bilder gut an. Weißt du, was sie vorstellen?«
»Viel Geld, mein ich.«
»Geld! Geld! nun ja – aber noch etwas anderes.«
»Was denn, Herr?«
»Den Lohn deiner jahrelangen Arbeit… Nein, nicht ihren Lohn – ihren redlich verdienten Ertrag.«
Joseph sah den Gebieter fragend an.
»Dahin sieh, auf die Bilder, nicht auf mich«, rief dieser. »Sie stellen noch ein drittes vor.«
»Was denn, Herr?« wiederholte Joseph.
»Was denn? Soll ich Lubienka rufen? Die wüßte es gleich, daß es nichts anderes sein kann als – dein Heiratsgut.«
Da rief Joseph mit einem Schrei der Wonne: »Mein Wohltäter, mein Herr, du Gütigster!« und wollte sich vor ihm niederwerfen.
»Steh!« befahl Nathanael, legte beide Hände auf seine Schultern und blickte ernst in sein Angesicht, das sich zu ihm emporwandte wie zu einem Gotte.
»Du hast eine harte Jugend gehabt, mein Joseph.«
»Ich? – Was sagst du, Herr? – Warest du nicht immer wie ein Vater gegen mich?«
»Nein, nein, mein Junge, wirklich nicht. Aber du bist gegen mich immer wie ein Sohn gewesen«, antwortete der Doktor und setzte die für Joseph unverständlichen Worte hinzu: »Gäb es viele deinesgleichen, dann wäre der himmlische Sendbote kein Tor.« –
Von nun an hatte Joseph glückliche Tage, und noch viel glücklicher wären sie gewesen, wenn die große Veränderung, die mit seinem Herrn vorgegangen war, ihn nicht bekümmert hätte. Sie fiel jedem auf und erregte das Befremden aller Freunde des Doktors. Er, der emsige Sparer, wurde von großmütigen Regungen ergriffen. Er, für den der Bettler und der Dieb bisher in eine Kategorie gehört hatten, begann zwischen ihnen einen gewaltigen Unterschied zu entdecken. Er, auf den bisher die Reichen und der Reichtum eine starke Anziehungskraft ausgeübt, betrat nur noch gerufen die Schlösser, ungerufen aber die Hütten der Armen. Die Unruhe, die ihn umhergejagt hatte, war verschwunden. Mit stillem, hartnäckigem Eifer ging er seinem Berufe nach. Als die Revolution ausbrach und ihre ersten blutigen Opfer forderte, verstand er es, immer da zu sein, wo man seiner am meisten bedurfte. Nie, auch nicht in den schlimmsten Tagen, verließ ihn die kaltblütige Zuversicht: von der Revolution ist nichts zu fürchten.
Anderer Ansicht war der Kreishauptmann.
Alle Mutigen wandten sich bereits der Überzeugung zu, der Aufstand müsse in kurzem beendet sein, als er noch davon sprach, die Provinz sei verloren, wenn nicht in höchster Eile eine Armee einrücke, die tausendköpfige Hyder der »verwüstenden Insurrektion« zu bekämpfen. Er meinte, Rosenzweig habe den Verstand verloren, als ihm dieser eines Tages erwiderte: »Die Insurrektion ist keine tausendköpfige Hyder, sondern ein hilfloses Kind. Mit Blumen in den Händen kommt es heran, mit einem Herzen voll Liebe und mit Worten der Erlösung auf den Lippen… So kommt es zu uns. Aber wir sind Wölfe, Bären, Tiger, aber wir sind reißende Bestien. Wir verstehen die Sprache dieses Kindes nicht. Es predigt Erbarmen, Gerechtigkeit und Güte, und wir wollen von alledem nichts wissen, wir wollen mit niemandem Erbarmen haben als mit uns selbst, wir wollen bleiben, was wir sind, behalten, was wir haben, womöglich noch andern etwas wegnehmen, um uns zu bereichern. Und so wird es immer sein, und ein Narr, der daran zweifelt! Und wir, reißende Tiere, wir werden das Kind zerfleischen und fressen und uns zufrieden schlafenlegen nach dieser Heldentat.«
»Phantasterei! Das ist ja pure Phantasterei!« rief der Beamte voll Bestürzung aus… »Was ist mit Ihnen vorgegangen? Welcher Teufel hat Ihre gesunden Sinne verwirrt?
Wissen Sie«, nahm er nach kurzem Schweigen wieder das Wort, »daß mir berichtet wurde, Sie hätten einer Zusammenkunft beigewohnt, in welcher der gefährlichste Kommunistenführer eine seiner berüchtigten Ansprachen hielt? Wissen Sie, daß schlechte Spötter behaupten, seine Beredsamkeit habe Sie zum Schwärmer gemacht?«
Nathanael ließ sich durch diese Anklage nicht außer Fassung bringen.
»Ein Schwärmer wäre ich«, entgegnete er, »wenn ich an die Verwirklichung der Utopien glaubte, für welche dieser ›Kommunistenführer‹, wie Sie ihn nennen, lebt und für die er sterben wird. Nun, nicht einmal unter dem Einfluß seiner Nähe, beim Wohllaut seines Wortes, unter den Blitzen seines Auges ist es mir auch nur durch den Sinn geflogen: Wer weiß? vielleicht doch! … Vielleicht vermag ein Beispiel wie das deine uns Selbstlosigkeit zu lehren und allgemeine Erfüllung der einfachsten Pflichten. O nein, nein! dazu kenne ich uns Menschen zu gut. Aber gedacht habe ich mir: Du wirst zu Boden geworfen, zertreten, ein Narr geheißen und – vergessen werden. Kaum gibt es in zehn Jahren noch einen unter allen, die du liebtest, der deinen Namen nennt. Trotzdem ist der mächtige Fürst, den die Neugier oder der Wunsch, sich populär zu machen, in deine Versammlung trieb, ein Bettler gegen dich. Reich bleibt ewig nur der Schenkende, und die Größe des Mannes mißt sich nach der seiner Idee und der Opfer, die er ihr bringt. Die deine hat das Maß überschritten, das sich in unserer kleinen Welt verwirklichen läßt. Ihre Größe macht sie zum Irrtum und dich zum Irrenden. So dachte ich – und ich, der Arzt, der eingefleischte Hasser und Verfolger alles Krankhaften, Überspannten, Wahnbefangenen, ich tat ein Gebet für ihn zu meinem Gott: Laß ihn sterben, umringt von allen Gebilden seiner Torheit, laß ihn ungeheilt sterben, o Herr!«
Dieses Gebet schien bald im vollkommensten Maße erhört. Die Erhebung war am Widerstand der Landbevölkerung gescheitert, das Korps, das die Insurgenten aufgebracht hatten, durch dreihundert Mann kaiserlicher Truppen und eine zehnfache Anzahl Bauern, die sich ihnen anschlossen, unter Benedeks energischer Führung bei Gdow geschlagen worden.
Von der erlittenen Niederlage erhielt die Revolutionsregierung in Krakau entstellte Kunde.
Die Freiheitshelden waren, so lautete sie, nicht durch reguläre Truppen, sondern durch fanatisierte Bauernhorden überwältigt worden, die, bis Wieliczka vorgedrungen, sich jetzt im Anmarsche auf die Stadt befanden.
Ein Schrei der Rache erhob sich und – verstummte vor der Beredsamkeit eines Mannes, der Schonung des verblendeten und irregeführten Volkes forderte und verlangte, ihm als Bekehrer entgegengesendet zu werden. Dieser Mann war Eduard Dembowski, und sein Wille geschah.
Vertrauend auf die Gewalt des Glaubens und seiner Beredsamkeit, verließ er Krakau, von Priestern im reichen Ornate, von Fahnen und Kreuze tragenden Mönchen begleitet. Eine große Menschenmasse folgte, dreißig Scharfschützen deckten den Zug. Er überschritt die Weichselbrücke und bewegte sich durch die Vorstadt Podgorze auf die Straße nach Wieliczka.
Sie lag still und öde – soweit das Auge reichte, keine Spur von herannahenden Bauernrotten. Von Podgorze aus jedoch eine Schreckenskunde, der Nachhut durch eilende Boten zugetragen. Sie durchlief den Zug wie ein Blitz: Österreichische Truppen marschieren gegen Podgorze.
Ein rascher Befehl seines Führers, und der Zug trat den Rückweg an, in der Hoffnung, die Stadt vor den Kaiserlichen zu erreichen und die Brücke noch gewinnen zu können.
Auf den Anhöhen rechts von Podgorze angelangt, konnte der Sendbote schon den Sturm auf die Stadt und das siegreiche Vordringen der Truppen überblicken.
Die Kaserne war genommen, die Kirche besetzt, die polnischen Schützen, aus den Häusern vertrieben, jagten in ungeordneter Flucht der Brücke zu.
Grimm und Schmerz erfüllten bei diesem Anblick die Seele des Emissärs.
»Vorwärts! Mit Gott vorwärts, wir schlagen uns durch, wir erreichen noch die Brücke. Mut!« rief er den zögernden Priestern zu. »Ihr habt nichts zu fürchten. Die man zum Sturme zwingt, folgen widerwillig. Es sind Galizier, sie schießen nicht auf ihre Landsleute, schießen nicht auf geweihte Priester!«
Er befahl, ein geistliches Lied anzustimmen, und in majestätischer Ordnung, langsam und feierlich, kam die Prozession die Anhöhe herab. Der Emissär schritt voran im Bauernkleide, sein heller Kaftan schimmerte in der anbrechenden Dämmerung, in der Hand hielt er ein kleines schwarzes Kreuz.
Ungehindert gelangte der Zug durch den noch unbesetzten Stadtteil bis zur Kirche. Hierher aber war schon eine Kompanie vorgedrungen, die den Weg zur Brücke versperrte.
Der Emissär machte halt.
»Seht eure Brüder!« sprach er die Soldaten an und deutete auf die Scharen, die ihm folgten. »Auch ihr seid Polen. Keinen Kampf, Brüder – gebt Raum!«
Schweigen antwortete ihm. Noch einmal begann er die Soldaten zu beschwören – da ertönte das Kommando: »Fällt das Bajonett.«
Mit einem Blick der Verzweiflung sah Dembowski sich um.
Die Geistlichen und Mönche waren zurückgewichen. Seine Getreuen jedoch und die Schützen drängten sich um ihn.
»Kein Ausweg… Schießt – und vorwärts!« rief er plötzlich mit wilder Entschlossenheit und drang auf die Soldaten ein.
Zwei Dechargen erwiderten den unerwarteten Angriff.
Nach der ersten sah man Dembowski noch aufrecht stehen, das Kreuz hoch über seinem Haupte schwingend. Nach der zweiten sank er, in den Kopf getroffen.
Rosenzweig erfuhr den Tod des Sendboten durch den Kreishauptmann, der seinen Bericht mit den Worten schloß: »So mußte ein Wahnsinniger enden.«
Die Prophezeiung Nathanaels traf ein, der idealste Vertreter der Revolution erfuhr den einstimmigen Tadel und Hohn aller Parteien, sein Andenken verlöschte auch bald im Volke.
Seine Leiche war unter denen der in Podgorze Gefallenen nicht aufgefunden worden, und eine Zeitlang erhielt sich das Gerücht, er sei nicht tot, er lebe versteckt als Bauer und werde beim Ausbruch neuer Freiheitskämpfe auf deren Schauplatz erscheinen.
Als jedoch die Stürme des Jahres 1848 aufstiegen und verbrausten, ohne ihn aus seiner vermeintlichen Verborgenheit gelockt zu haben, erlosch auch in denen, die sie am längsten genährt hatten, die Hoffnung auf seine Wiederkehr.
Es war zu Ende der fünfziger Jahre, an einem milden Septemberabend, in einem Dorfe unweit der schlesischen Grenze. Vor der Schenke hielt eine gedeckte Britschka, der ein Paar tüchtige Braune vorgespannt waren. Behaglich, ohne Eile, wie es guten Fressern geziemt, ließen sie sich den Inhalt einer vor ihnen aufgestellten Futterkrippe schmecken. Der Kutscher, ein ältlicher Mann, so wohlgenährt wie seine Pferde, hatte sich auf die Bank vor dem Hause gesetzt, dampfte aus einer kurzen Pfeife und machte sich ein Vergnügen daraus, die Fragen der hübschen Wirtsmagd mit einer schelmischen Zurückhaltung zu beantworten, die darauf abzielte, ihre durch die Ankunft völlig fremder Gäste ohnehin erregte Neugier noch zu spannen.
»Ihr fahrt wohl recht weit über Land?« fragte sie.
»Weiter, als du denken kannst«, erwiderte er.
»Vielleicht gar ins Ungarn hinein?«
»Pah! Das wäre ja nur ein Katzensprung!«
Das Mädchen stemmte den Arm in die Seite und lachte: »Die möcht ich sehen, die Katz, die so springen könnt!«
»Bei uns zu Haus gibt’s ihrer genug. Komm du nur hin, dann wirst sie sehen.«
»Ei, so was! … Aber wo ist denn Euer Zuhaus?«
»Wo?« Er deutete mit der Hand nach drei verschiedenen Richtungen: »Da – und da, und dort.«
»Geh weg, du spaßest.«
»Frag meinen Herrn, wenn du mir nicht glaubst.«
»Ja, just«, spottete sie, »fragen – so einen Herrn!«
»Fürcht’st dich?« Er zwinkerte sie verschmitzt an. – »Hast es schon weg, daß er ein Hexenmeister ist?«
Sie schlug rasch und verstohlen ein Kreuz: »So? Das hätt ich ihm nicht angesehen.«
»Ja, ein gar großer Hexenmeister. Macht die Kranken gesund, macht die Toten lebendig.«
»Die Toten? …« Das Mädchen schauerte.
»Die Halbtoten also. Zu so einem sind wir grad auf dem Weg.«
»Da kommt ihr ja zu spät, wenn ihr noch lange zu fahren habt.«
»Wir kommen nie zu spät. Der Herr sagt nur: Wart! – und der Tod wartet.«
»So? – Hat dein Herr auch eine Frau?«
»Eine Frau hat er nicht, aber mehr als hundert Kinder.«
»Was du sagst!« und wieder lachte sie hellaut auf.
Derjenige, der den Gegenstand dieses Gespräches bildete, war ein Greis von kräftiger Gestalt. Er trug eine Reisekappe und einen langen, auf der Brust leicht verschnürten Rock. Den unteren Teil des markigen, dunkelfarbigen Gesichtes bedeckte der Bart, weiß und dicht wie die Haare, und wallte, in zwei mächtige Strähne geteilt, fast bis zum Gürtel herab. Der Alte, die Hände auf dem Rücken, stand am jenseitigen Ufer des Teiches, der sich auf eines Steinwurfs Entfernung vom Wirtshaus befand und ein langgestrecktes Oval bildete, an dessen einem schmalen Ende knorrige, ganz schiefgewachsene Weiden ihre Zweige zu seinem trüben Spiegel niedersenkten, während das andere sich sanft gegen die ansteigende Dorfstraße verflachte.
Der Teich war alles in allem: Badeort für die Jugend, Waschanstalt für die Hausfrauen, See für das schwimmtüchtige Geflügel, Schwemme für die Pferde. Am Werktagabend ging es in seiner Umgebung lebendig zu. Große und kleine Knaben, barfüßig, die Hosen übers Knie gezogen, ritten ihre Pferde ins Wasser, bewundert und beneidet von den Kindern, die am Ufer standen oder saßen, die meisten als ziemlich lässige Hüter jüngerer Geschwister. Männer und Weiber kehrten vom Felde heim, und von weitem schon angekündigt durch die Töne eines schallenden Gesanges, kam eine Mädchenschar, Rechen und Sicheln tragend, ins Dorf gezogen.
Unter den am Teiche spielenden Kindern war eines, das die besondere Aufmerksamkeit des Fremden erregte. Ein Bürschlein von etwa sechs Jahren, mit sehr lieblichem, aber blassem Gesichtchen. Seine schlichten blonden Haare, im Nacken lang, über der Stirn gerade geschnitten, quollen reich unter dem Mützchen hervor. Er hatte tiefliegende, blaue Augen, eine schmale, leicht gebogene Nase und einen feinen, ausdrucksvollen Mund. Nach der Beschaffenheit seines Kaftans und seiner Stiefel zu schließen, gehörte er wohlhabenden Eltern an.
In der offenen Tür eines der nächstgelegenen Häuser war ein junges hübsches Weib mit einem Kind auf dem Arm erschienen und rief dem Knaben zu: »Jasiu, der Vater kommt.«
Da machte das Bübchen einen Luftsprung, ließ seine Spielgefährten und rannte dem Angekündigten entgegen. Der blieb stehen, beugte sich und lachte, als sein Junge in vollem Laufe an ihn anprallte. Er rückte ihm die verschobene Mütze zurecht, nahm seine Hand und schritt mit ihm weiter.
Es war ergötzlich, sie daherkommen zu sehen, den Bauern und das Bäuerlein, das zweite in Haltung, Gang, Gestalt und Kleidung das verkleinerte Ebenbild des ersten.
Sie näherten sich, und der Fremde bemerkte auf dem Gesicht des Bauers die entstellenden Spuren einer schweren Verwundung. Die rechte Wange war eingefallen und von Narben zerrissen, das rechte Auge geschlossen.
Auch ein Veteran der letzten Kämpfe, dachte der Greis und heftete den Blick immer aufmerksamer auf den Herankommenden. Ein märchenhaft wunderlicher Einfall durchzuckte ihn. Plötzlich machte er ein paar rasche Schritte, stand dicht vor dem Bauer, starrte ihn an und rief: »Ist es möglich?!«
Überrascht wich jener zurück, aber nur, um schon im nächsten Augenblick auf ihn zuzustürzen.
»Sie! O Gott, Sie – Doktor Rosenzweig!« sagte er mit einer Stimme, deren Wohllaut unvergessen in der Erinnerung des Alten gelebt hatte. Früher als dieser gewann er seine Fassung wieder: »So habe ich Sie nicht umsonst erwartet, nicht vergeblich gehofft, daß Sie auf einem Ihrer Samariterzüge den Weg durch unser Dorf nehmen würden, um –« fügte er mit Rücksicht auf das Publikum, das sie umgab, hinzu – »Ihren Diener Hawryl zu besuchen.«
»Hawryl –« stammelte Rosenzweig, »Hawryl also… Wie geht’s, Hawryl?«
»Überzeugen Sie sich selbst. Erweisen Sie mir die Ehre, in mein Haus einzutreten, ruhen Sie ein wenig aus unter meinem Dache.«
Schweigend, noch ganz betäubt, folgte der Doktor dieser Einladung und ließ sich zu dem Hause geleiten, auf dessen Schwelle die junge Frau stehengeblieben war und sich bemühte, das kräftige Kind in ihren Armen, das dem Vater jauchzend und mit ausgestreckten Händchen entgegenstrebte, festzuhalten.
»Mein liebes Weib, Herr Doktor«, sprach Hawryl, und zu ihr gewandt: »Heiße ihn willkommen, Magdusia, einen werteren Gast kann uns der Himmel nicht schicken.«
Ihr Gesicht spiegelte die Freude, die sich auf dem ihres Mannes malte, rein und innig wider: »Seien Sie schön gegrüßt, Herr«, sagte sie und lachte ihn mit ihren großen Augen treuherzig an.
Nathanael war wie im Traum. Erst in der Stube, allein mit Hawryl, begann er sich von seinem Staunen zu erholen: »Sie leben! – Mensch, Sie leben! Ist das auch wahr, daß Sie leben? Aber wenn es wahr ist, so stehen Sie doch nicht so gleichgültig da –«
»Gleichgültig?« rief Hawryl.
»So reichen Sie mir doch die Hand!«
Zum zweitenmal hielt er sie in der seinen – eine andere als damals, eine derb gewordene Hand, deren Besitzer den Bauer nicht nur spielte.
Sie nahmen Platz am Tische, der mitten in der freundlichen Stube stand, und lange dauerte es, bevor Hawryl, immer von neuem durch die verwunderten Ausrufungen des Doktors unterbrochen, die seltsame und doch so einfache Geschichte seiner Rettung erzählen konnte.
Zunächst schrieb er diese der Kleidung zu, die er trug, als er bei der Kirche in Podgorze verwundet wurde und für tot liegenblieb. Er war, da sich noch Leben in ihm fand, mit andern Landleuten und Soldaten ins Spital nach Krakau gebracht worden. Dort hatte er das Bewußtsein wiedererlangt, bald aber auch die Überzeugung, daß der Arzt, der ihn behandelte, ihn keineswegs für einen Bauer hielt. Später verrieten ihm einige wie absichtslos hingeworfene Worte desselben, daß er von ihm als der erkannt worden, der er war.
Am Tage, an dem man ihn für geheilt erklärte, kam der Direktor, ein Pole – man hatte die Spitalsleitung noch nicht gewechselt –, in die Rekonvaleszentenstube.
Der Agitator sah diesen Mann damals zum ersten und letzten Mal in seinem Leben.
»Du heißest Hawryl Koska«, sagte er zu ihm, »bist ein aus dem Königreiche zugereister Untertan des Grafen Branski, der dich nach seiner galizischen Herrschaft, auf ein Bauerngut, übersiedelt. So lese ich in deinem Passe. Ist das richtig?«
Und ohne seine Antwort abzuwarten, reichte er ihm einen auf den Namen Hawryl Koska lautenden, mit einer auf ihn passenden Personalbeschreibung versehenen Paß, wandte sich an seinen Nachbar und ließ den Umgetauften stehen. – –
»In der verworrensten Gemütsstimmung, Freund«, rief Hawryl, »in der ein Mensch sich befinden kann. Ich hatte zuversichtlich erwartet, nach meiner Genesung vor Gericht gebracht und als einer der Unruhstifter erschossen zu werden, und mich auf den Tod vorbereitet wie ein gläubiger Christ. Und nun sollte ich leben. – Mein erstes Gefühl war das der Enttäuschung, mein erster Gedanke schon ein Gedanke des Hochmuts: Gott spart dich auf. Er will nicht deinen Tod, er will deinen Dienst. Das Werk, das zu beginnen du ausersehen warst, du sollst es auch vollenden…
Von dem stolzen Glauben erfüllt, trat ich ins Volk und wurde sein Genosse; scheinbar ein Gleicher unter Gleichen, in meinen eigenen, eitlen Augen – ein verkleideter Prophet… O Freund! ein einziges Jahr dieses Lebens, und der vermeinte Prophet war ein demütiger Mann geworden. Das für erreichbar gehaltene Ziel rückte in unabsehbare Fernen. Zu der Kirche, die ich mit einer herrlichen Kuppel krönen wollte, war der Grundstein noch nicht gelegt, ja, der Boden für ihn noch nicht ausgehoben! Nicht die Arbeit des Künstlers war zu tun, sondern die des bescheidenen Taglöhners.
Das erkannte ich.
Und nun – wäre ich nicht ein elender Wortheld gewesen, wenn ich es verschmäht hätte, mich an dieser Arbeit, dieser allerwichtigsten, zu beteiligen? … So griff ich denn zu Schaufel und Spaten – nicht bloß im bildlichen Sinn. Das Kruzifix, in dessen Zeichen ich dereinst zum Kampfe schritt – da hängt es über dem Bette meiner Kinder. O sehen Sie die ausgebreiteten Arme der Liebe, die verwundete Brust, das geneigte, edelste Haupt… Wer darf sich vermessen, in dieses Versöhners Namen aufzurufen zu Kampf und Streit?«
Er seufzte, aber sein Angesicht bewahrte den Ausdruck tiefsten, klarsten Friedens, und mit einem heitern Lächeln fuhr er fort: »So finden Sie den gefährlichen Agitator wieder. Ach, wenn ich an meinen Ausgang denke, an alles, was ich gehofft, was ich mir zugetraut habe – und jetzt! Vergnügt lege ich mich zur Ruhe und preise den Tag, an dem es mir gelungen ist, den an abzuhalten, sein Weib zu prügeln, oder den Martin, in die Schenke zu gehen, oder den Basil dahinzubringen, seinen alten Pflug in den Winkel zu werfen und mit dem neuen auf den Acker zu fahren.«
»Ihr Geheimnis aber«, fragte Nathanael, den Gang des Gespräches unterbrechend, »war das nie in Gefahr, verraten zu werden?«
»Der vorige Gutsherr hat es mit ins Grab genommen. Für einen Nachfolger bin ich ein Bauer wie ein anderer.«
»– Ein Bauer! Ein Bauer! … Und so wollen Sie es forttreiben bis an Ihr Ende?«
»Bis an mein Ende und nicht glauben, damit etwas Großes getan, vielleicht kaum denen, mit welchen ich verkehre, mehr gegeben zu haben, als ich von ihnen empfing. Ich bin keineswegs immer ihr Lehrer, sie sind auch die meinen. In ihre Freuden mich zu teilen, vermag ich nicht, aber in Leid und Schmerz habe ich sie oft gefunden. Ich habe Bauern vor ihrem verhagelten Feld, ich habe Mütter an der Leiche ihrer Kinder stehen gesehen und Ehrfurcht gefühlt. Selten ist mir einer von ihnen verachtungswürdig erschienen, aber Hunderte unzählige Male beklagenswert.«
In seinem Auge leuchtete die alte schwärmerische Glut, seine gebräunten Wangen erbleichten vor innerer Bewegung: »Es ist ein Schatz an Geduld, Ausdauer, heldenmütiger Ergebung in einen höheren Willen in diesem Volke, den alle Mißhandlung, die es erfahren hat, nicht zu erschöpfen vermochte. Aber seines Reichtums unbewußt, streut es ihn aus und erwirbt nichts dazu. Die Einsicht fehlt und mit ihr das Wirken der tätigen, sittlichen Kräfte. Genug! Genug! das alles wissen Sie so gut wie ich, und somit auch, daß es vieles nicht Geringe zu tun gibt auf meinem geringen Posten. Ihn auszufüllen, reicht mein Können gerade hin. Hawryl Koska wird nicht umsonst gelebt haben. – Der Sendbote ist gestorben, ohne einen Jünger zu hinterlassen.«
»Einen doch!« rief Nathanael. »Einen, den Sie aus den Reihen Ihrer eifrigsten Gegner geholt. Einen Mann, dessen Zwecke irdischer Natur gewesen, dessen Herz an verlierbaren Gütern gehangen und den Sie den Wert der unverlierbaren kennen gelehrt haben. Sendbote! da steht er vor Ihnen, Ihr Jünger in weißen Haaren.«
Beide waren zugleich aufgesprungen, stürzten einander an die Brust und hielten sich fest umschlungen.