Kapitel 3

Kapitel 3

 

Am nächsten Tage machte Hermann Dornach seinen ersten Besuch, wurde für morgen zu Tische geladen und brachte einige Abende im Familienkreise zu. Gräfin Dolph fand ihn charmant und unglaublich gescheit für einen Majoratsherrn. Sie rechnete es ihm hoch an, daß er mit ihr, der bösen Zunge, die den meisten Scheu einflößte, so rasch vertraut wurde. »Einfach die Folge seines guten Gewissens«, erklärte sie. »Eine Anklage gegen ihn wäre ein Schuß ins Blaue; der sieht ruhig zu, wie ich meine Pfeile spitze; er gehört nicht zu den Leuten, denen vor mir graut.«

Und wirklich schwand in ihrer Gegenwart die leise Befangenheit, die bei einem Manne, den zu verwöhnen alle Welt wetteiferte, für den Laien so befremdlich und dem Herzenskundigen eine Bürgschaft echten Seelenadels war.

Man sagte, diese Befangenheit sei die Folge der übertriebenen Strenge, mit welcher er unter der Leitung seiner Mutter erzogen worden war. Die Gräfin hatte ein Gegengift anwenden wollen gegen die Kriecherei der Parasiten, des Beamtenheeres, der Dienerschaft und gegen die grenzenlose Nachsicht eines schwachen und kränklichen Vaters für sein einziges Kind. Aber die Dosis war zu stark gewesen und hatte nicht nur keine Selbstüberhebung aufkommen lassen, sondern auch kein rechtes Selbstvertrauen. Die Gräfin sah den begangenen Fehler ein und suchte ihn noch beizeiten gutzumachen. Sie hatte nach dem Tode des Grafen die Vormundschaft über Hermann, die sie tatsächlich immer geführt, auch formell angetreten und schenkte nun dem achtzehnjährigen Jüngling uneingeschränkte Freiheit. Ein kleiner Mißbrauch derselben wäre leicht verziehen gewesen, kam aber nicht vor. Hermann besuchte landwirtschaftliche Schulen in Deutschland und England, jagte Löwen in Nubien und Elefanten in Indien, diente einige Jahre in einem eleganten Kavallerieregimente und widmete sich später der Verwaltung seiner Güter. Er war dreiunddreißig Jahre alt geworden, ohne in die Lage gekommen zu sein, andere Schulden als die seiner Freunde bezahlen zu müssen, ohne ein Mädchen verführt, ohne den Ruf einer Frau gefährdet zu haben. Und doch kochte das Blut in seinen Adern so heiß wie in denen irgendeines seiner Alters- und Standesgenossen, und doch hatte er in seinen wenigen Liebesverhältnissen mehr echte und wahrhafte Empfindungen ausgegeben als sie alle zusammengenommen in ihren zahllosen Zirkus- und Halbweltsabenteuern. Übrigens erschienen ihm von dem Augenblick an, in dem er Maria kennenlernte, seine ernsthaftesten Schwärmereien und Leidenschaften wie Kinderspiel.

Es geschah auf einem Balle, den er aus Gehorsam gegen seine Mutter besucht hatte. Er kam ja überhaupt nur aus Gehorsam zu ihr nach Wien, um dort in die große Welt zu gehen, wo er kein Vergnügen fand und wo die Bemühungen um seine Gunst ihn anekelten.

Tante Dolph war Zeuge seiner ersten Begegnung mit Maria und dann selbst der Gegenstand seiner eifrigsten und ehrfurchtsvollsten Aufmerksamkeiten gewesen. Sie erinnerte sich plötzlich ihrer Jugendfreundschaft mit Gräfin Agathe Dornach und machte ihr einen Besuch, der bald erwidert wurde. Die alten Damen sagten zueinander: »Liebes Kind«, und jede hatte das Gefühl ihrer Überlegenheit über die gute Bekannte von einst, mit der sie später auseinandergekommen war wegen völlig verschiedener Anschauungen und gleich schroffer Unduldsamkeit. Agathe berühmte sich, eine orthodoxe Katholikin zu sein; Dolph, ganz ungläubig, ließ nicht gelten, daß ein vernünftiger Mensch fromm sein könne, es wäre denn ein Dienstbote, ein Bauer oder ein Prinz. Agathe fürchtete für Dolphs ewiges Heil, diese fürchtete Agathens Bekehrungsversuche, die stets in der Behauptung gipfelten, die Skepsis entstehe aus der Halbbildung, und weiter als bis zu einer solchen brächten Frauen es nicht. Ob sich diese Gegensätze zwischen den beiden Damen im Laufe der Jahre gemildert oder verschärft hatten, danach wurde jetzt nicht gefragt und das Berühren heikler Punkte sorgfältig vermieden. Der Graf, ein Konversationskünstler ohnegleichen, half spielend über ein paar Abendstunden hinweg; das Gespräch, das er beherrschte, wurde lebhafter geführt als das zwischen den jungen Leuten am Teetisch nebenan. Maria war schweigsam, Hermann nicht beredt. Er sagte aber dennoch viel, denn jeder seiner Blicke enthielt eine glühende Erklärung der innigsten Liebe.

Eines Tages nun geschah es, daß Gräfin Dornach sich bei Maria anmelden ließ und mit einer Miene eintrat, als ob sie die Schlüssel des Himmels zu überreichen hätte. In würdevoll gelassener Weise brachte sie im Auftrage Hermanns die Anfrage vor, ob er um Marias Hand werben dürfe.

»Dein Jawort würde ihn beseligen«, schloß sie, »und du kannst es ihm getrost geben. Ich schmeichle niemandem, am wenigsten mir selbst in meinem Sohne. Mein Urteil über ihn ist das eines jeden Unparteiischen und lautet: Es gibt keinen vernünftigeren Menschen, keinen besseren, keinen edleren.« Sie hielt inne, sie wartete auf eine Erwiderung; da keine erfolgte, fuhr sie fort: »Wenn deine Mutter lebte, würde ich mich zuerst an sie gewendet haben, und sie wäre es, die jetzt zu dir spräche. Nimm an, daß es durch meinen Mund geschieht.«

Maria senkte die Augen, ihre Lippen zitterten, aber sie schwieg.

»Ein sicheres Glück bietet sich uns im Leben selten. Dem, der es einmal abgewiesen hat, wird es schwerlich wiederkehren«, fuhr die Gräfin nach einer Pause noch kälter und förmlicher als früher fort. »Indessen hast du recht zu erwägen. Dein Zögern gefällt mir; es beweist, daß du den Ernst des Schrittes kennst, den andere junge Mädchen oft so leichtsinnig unternehmen. Ich habe Vertrauen zu dir. Wenn ich deine Einwilligung, deine einfache Einwilligung mit nach Hause nehme, so enthält sie für mich alle heiligsten Schwüre, die ein ehrliches Mädchen ihrem zukünftigen Gatten nur irgend leisten kann.«

»Jawohl, das enthielte sie auch … Ich bitte Sie –«

»Wieder: Sie! Bleibe ich dir denn fremd?« – »Ich bitte dich, sage dem Grafen Hermann – –« eine unaussprechliche Bangigkeit bemächtigte sich ihrer; sie blickte in das marmorblasse Gesicht der Gräfin: – So lieblos wie die Tante, dachte sie.

»Nun, was sag ich ihm?«

»Daß ich heute abends – Ihr kommt ja doch? – selbst mit ihm sprechen werde.«

Sie küßte der Gräfin, die sich ziemlich enttäuscht erhob, die Hand und begleitete sie bis zur Treppe.

In ihr Zimmer zurückgekehrt, schritt sie lange in hoher Erregung auf und ab und quälte sich mit der Frage: Warum will ich’s tun? – Ist mein Grund nicht ein verwerflicher?… Und dann setzte sie sich ans Klavier und spielte und wurde allmählich ruhiger. Und dann kam Tante Dolph und las ein Telegramm von Wilhelm Dornach vor, einem Bekannten aus uralter Zeit, dessen Existenz sie längst vergessen hatte. Auf ein Gerücht hin, das in seine ländliche Einsamkeit gedrungen war, schickte der gute, dumme Mensch ihr seine Glückwünsche zur Verlobung ihrer Nichte mit seinem Vetter.

Die Gräfin lachte über die Eile des armen Teufels, seine geheuchelte Freude an den Tag zu legen. Als nächster Anwärter auf das Majorat konnte der ganz unbegüterte und mit einer zahlreichen Familie gestrafte Mann doch nichts anderes gewünscht haben, als daß sein Vetter ledig bleibe. Ein insdiskreter Wunsch, ja, aber der natürlichste von der Welt. Sie nahm Platz auf der Chaiselongue mit dem Rücken gegen das Bild ihrer verstorbenen Schwägerin, das anzusehen sie überhaupt vermied, klagte über Kopfschmerzen und rieb die eingefallenen Schläfen mit Kölner Wasser. Sie war leidend und in gereizter Stimmung. Sogar als sie ihr jetziges Lieblingsthema anschlug, das Lob Hermanns, geschah es mit einer Beimischung von Spott.

»Heil der Frau, die er heimführt!« rief sie aus, »ihre Ehe wird freilich sein wie jede, in der nur ein Wille herrscht.«

Sie beantwortete den erstaunten Blick Marias mit der Frage, ob denn Hermann nicht von seiner Kindheit an gelernt habe, sich einer Weiberregierung zu fügen?… Wie albern müßte doch die Frau sein, die es nicht verstände, einen so vortrefflichen Elementarunterricht als Grundlage zu weiterer Ausbildung zu benützen! Gute Lehren, wie das anzufangen sei, kamen nun in Fülle. Ernst gemeinte wie spaßhafte und alles mit Beispielen erläutert. Man sehe das Ehepaar Heinburg. Im Anfang war er ein Spieler und brachte die Nächte im Klub zu, während sie daheim saß und weinte. Das hat sich nach und nach geändert – durch ihr Verdienst! Jetzt spielt sie, und er weint. »Und deine Freundin Emmy, die sich zum Altar schleppen ließ wie ein Lamm zur Schlachtbank und in ihrer Ehe einen so guten sicheren Hafen gefunden hat, von dem aus sie allerlei abenteuerliche Fahrten unternehmen kann in die stürmische See!«

Ein Klopfen an der Tür ließ sich hören, und Fräulein Nullinger, die Gesellschafterin Gräfin Dolphs, schlüpfte herein. Sie wurde von der Gebieterin »Nulle« genannt, was sie empörte, und litt infolge ihres aufregenden Dienstes an Nervosität. Obwohl sie jetzt nur die harmlose Meldung zu machen hatte, daß die Schneiderin gekommen sei und gesagt habe, sie könne nicht lange warten, zuckte es dabei krampfhaft um ihren Mund.

»Schon gut, setzen Sie sich«, erwiderte Dolph und fuhr fort, Freund und Feind durch die Hechel zu ziehen. Sie nannte viele Namen ganz flüchtig und obenhin; an dem, der ihn trug jedoch, blieb ein Makel hangen, oder er wurde mit einer Lächerlichkeit behaftet.

Maria hörte ihr heute aufmerksamer zu als sonst und dachte: Sie hat wohl recht. Was soll auch an den übrigen Menschen sein, wenn Tessin nichts taugt? Und Gräfin Dolph, wie ein echter Schauspieler, den schon die Teilnahme eines einzigen Zuhörers begeistert, übertraf sich selbst in ihrer fragwürdigen Kunst und geriet in den kleinen Witz- und Bosheitsrausch, der ihr so gesund war. Ihr Gesicht, das, wie sie selbst sagte, eine Karikatur der schönen Züge ihres Bruders war, belebte sich, und ihre Kopfschmerzen verschwanden.

Fräulein Nullinger verlor endlich die Geduld und erhob sich, noch um eine Schattierung höher gefärbt als gewöhnlich. »Ich werde der Schneiderin sagen«, sprach sie, »daß Frau Gräfin jetzt lästern müssen und keine Zeit für sie haben.«

Dolph lachte. »Ach was, mein Lästern: ein gerader Kerl, der gleich Farbe bekennt. Aber das Ihre!… Wenn Sie anfangen: Ich hab den oder die recht gern, das ist, wie wenn ein Reiter sein Pferd zusammennimmt, bevor er ihm eins hinaufgibt.«

Sie ging in munterster Laune, war auch später bei Tische heiter und anscheinend ganz wohl. Am Abend jedoch stellten sich plötzlich ihre Kopfschmerzen wieder ein und zwangen die Leidende, ihr Zimmer aufzusuchen, kurz bevor Hermann und seine Mutter gemeldet wurden. Ausnahmsweise hatte Wolfsberg zu Hause gespeist und nachmittags im Salon den Damen Gesellschaft geleistet. Er empfing die Gräfin mit tausend Entschuldigungen seiner Schwester, die sehr zur Unzeit unwohl geworden; Agathe äußerte ihre Teilnahme mit ganz besonderer Wärme und ersuchte den Grafen, sie zu ihrer Freundin zu geleiten, was alsbald geschah. – Die jungen Leute blieben allein.

Beiden stieg die Röte in die Wangen. Ihm schien die Gelegenheit zu einer entscheidenden Unterredung plump und ungeschickt geboten; ihrer bemächtigte sich ein peinliches Gefühl, halb Empörung, halb Bangigkeit. Regungslos stand sie da, hatte die Brauen zusammengezogen und blickte ins Feuer des Kamins. Nach einer Pause, die, je länger sie dauerte, desto schwerer zu unterbrechen war, begann Hermann bewegt und zagend: »Meine Mutter hat mit Ihnen gesprochen, Gräfin … Sie kennen die kühne Frage, die ich so vermessen bin, an Sie zu stellen. Die leiseste Hoffnung auf eine bejahende Antwort würde mich beglücken … Darf ich sie fassen?«

Maria schwieg, aber sie wandte sich ein wenig und blickte ihn von der Seite so fremd an, als ob sie ihn heute zum ersten Male sähe. Sein Äußeres war ungemein gewinnend, sie mußte es gestehen. Verstand, Güte, Geradheit sprachen aus seinem hübschen Gesicht, leuchteten aus seinen treuherzigen Augen. Er trug einen kleinen Schnurr- und Backenbart, die reichen braunen Haare waren kurz geschnitten und ließen die edel geformte Stirn und die Schläfen frei. Seine Gestalt hatte etwas Festes, Kräftiges, und doch fehlte es ihr nicht an männlicher Anmut.

»Antworten Sie mir«, sagte er.

Und sie, »der Held« im Kreise ihrer jungen Freundinnen, die Unerschrockene, die ja mit sich selbst im reinen und fest entschlossen war, ihre Hand in die des ungeliebten Freiers zu legen, flüsterte nun bestürzt: »Ich weiß nicht … ich weiß nicht –«

Ihre Verzagtheit ergriff und rührte ihn; er machte sich Vorwürfe, er hatte zu früh gefragt, er hätte dem Drängen seiner Mutter nicht nachgeben, sich von dem Entgegenkommen des Grafen nicht verleiten lassen sollen. Nun bemühte er sich, seine Übereilung gutzumachen: »Sie sind noch unentschieden«, nahm er wieder das Wort, »ich sehe es und finde es begreiflich. – Überlegen Sie, prüfen Sie mich streng und lang. Ich mache es Ihnen nicht schwer – in meiner Seele gibt es keine Abgründe …«

»Mein Gott, nein«, sprach Maria, »das ist nicht … nein, nein –« und zwei Worte, Anfang und Ende ihrer jungen Weisheit, kamen fast unhörbar über ihre Lippen … Worte ihres Vaters, die er seiner gelehrigen Schülerin eingeprägt hatte: »Nur ruhig!« – Dereinst, als sie sich in Verzweiflung über die Leiche ihrer Mutter geworfen … und viel später, auf der Jagd, als ihr scheuendes Pferd dem Mühlstrom zugerast … und dann auf ihrem ersten Ball, als sie, von übermütiger Fröhlichkeit ergriffen, so laut gelacht, so toll getanzt, immer hatte sein eindringliches: »Nur ruhig!« sie zur Besinnung gebracht.

Auch in diesem Augenblick erinnerte sie sich der väterlichen Mahnung nicht umsonst und vermochte ihren abgebrochenen Reden mit einem Scheine von Gelassenheit hinzuzufügen: »Sie irren – ich bin entschlossen.«

»Wozu?… Nein?«

»Ja.«

»Heil mir!« rief er mit tiefinnerstem Jubel und ergriff ihre Hand, die sie, wieder erfaßt von ihrer früheren Bangigkeit, aus der seinen zu lösen suchte. Er aber hielt sie fest.

»Sie ist mein, mein kostbarstes Eigentum – und Ihr freies Geschenk, nicht wahr, Maria? – Niemand hat Sie beeinflußt, Sie hätten sich nicht beeinflussen lassen; Sie sind zu stolz, zu selbständig.«

»Doch«, versetzte sie und erhob nun endlich ihr gesenktes Haupt. Nie in ihrem Leben hatte sie einen Menschen so bewegt gesehen, und – merkwürdig – was ihr als der Ausbund des Lächerlichen galt: ein Verliebter, dessen Empfindung nicht völlig erwidert wird, kam ihr jetzt höchst ernsthaft vor und traurig sogar, traurig für sie. Er, mit seinem großen, wahrhaftigen Gefühl, er war der Reiche und sie arm neben ihm. »Doch«, wiederholte sie leise, »der Wunsch meines Vaters hat Einfluß auf mich gewonnen – im Anfang.«

»Und später, was bestimmte Sie später, was bestimmt Sie jetzt? Seien Sie aufrichtig gegen mich, Gräfin, wie ich es immer gegen Sie sein werde. Was bestimmt Sie … ich … ich weiß, daß es nicht Neigung ist.« Mühsam hatte er dieses Geständnis vorgebracht, denn er täuschte sich nicht über die Gefahr, die es in sich schloß.

Aber Maria lächelte, freudig fast: »Daß Sie es trotzdem mit mir wagen wollen, das eben bestimmt mich … Und das Vertrauen, das Sie mir beweisen – und das Vertrauen, das Sie mir einflößen.«

»Dank!« sprach er, und aus seinen ehrlichen blauen Augen leuchtete eine wonnige Zuversicht. »Das ist ein schöner Bund: Ihr Vertrauen und meine ehrfurchtsvolle Liebe! Eine solche Liebe reicht aus für zwei gute Herzen, sie hat eine mitteilende Kraft. Wissen Sie warum? Weil sie sich nie aufdrängt, sich niemals ein Recht anmaßt. Ihr gegenüber gibt es keine Pflicht, nur Gnade und Wohltat. Und welche edle Frauenseele würde nicht endlich gerührt von … Genug!…« unterbrach er sich, »sonst verrate ich noch, daß diese Uneigennützigkeit nichts ist als der größte Egoismus – der Egoismus, Sie glücklich zu sehen.«

Mit beiden Händen zog er ihre Hand an seine Lippen, an seine Brust. Maria fühlte das ungestüme Pochen seines Herzens, auf seinem Angesicht jedoch, das sich über das ihre neigte, lag Frieden, und es erschien ihr wie verklärt von tiefster Seligkeit.

Der schweigsame Mann wurde beredt; er fand für seine Empfindung den Ausdruck, der gewinnt, für seine Gedanken das überzeugende Wort. Maria hörte ihm zu und sagte sich: Er ist wahr und warm. – Und vielleicht war es das, wonach sie sich sehnte von Kindheit an: Wahrheit und Wärme. Wohl hatte man sie vergöttert und verwöhnt; aber wieviel Falschheit war bei dieser Vergötterung, die servile Leute ihr erwiesen, wieviel – wenigstens äußere – Kälte bei der Verwöhnung, die sie von ihrem Vater und nun erst von Tante Dolph erfuhr.

»Der Ernst auf Ihrer Stirn«, sprach Hermann, »der hat mich bezaubert; er ist, was ich zuerst an Ihnen geliebt habe, und jetzt wird es mein heißes Bestreben sein, ihn allmählich zu zerstreuen. Sie sollen gefeit durchs Leben wandeln, eingehüllt in meine Liebe … Ich bin zu glücklich«, brach er aus – »ich verdien es nicht – was müßte der sein, der Sie verdiente, Maria! Maria!«

Sie trat einen Schritt zurück, sie vermied den Blick voll leidenschaftlicher Andacht, der den ihren suchte, und sprach: »Nein, nicht so – Sie sind ja besser als ich … haben Sie Geduld mit mir.«

Nach Dem Tode – Teil 2

»Still, mein guter Fürst! Sie wissen, ich halte die Liebe für das grausamste von allen Mitteln, welche die zürnende Gottheit erfunden hat, um ihre armen Geschöpfe heimzusuchen. Wäre sie jedoch, wie Sie behaupten, das Schönste, das es auf Erden gibt, dann würde es Ihnen in meiner Gegenwart vollends verboten sein, ein Glück zu preisen, das ich niemals kennengelernt habe.«

Fürst Klemens stieß einen Seufzer aus, der ein minder kaltblütiges Wesen als Gräfin Neumark gewiß gerührt hätte; er blickte zum Plafond empor und gab, aus scheinbarem Gehorsam, dem Gespräch eine andere Wendung: »Was halten Sie von Sonnbergs Bemühungen um Thekla?« fragte er. »Ich bin von dem Ernste seiner Absichten überzeugt. Machen Sie sich darauf gefaßt: dieser Tage – morgen vielleicht – kommt er, wirbt um Ihre Tochter, und im Frühjahr fliegt das junge Paar über alle Berge.«

»Möglich, möglich.«

»Und – Sie?«

»Und ich fahre nach Wildungen.«

»Sie werden sich dort sehr verlassen fühlen!« rief der Fürst triumphierend aus. »Sie werden zum erstenmal die Langeweile, am Ende sogar die Sehnsucht kennenlernen. Sie werden sich sagen, daß Sie eines Wesens bedürfen, das Ihrer bedarf, und« – er richtete sich auf – »die Hand ergreifen, die ich Ihnen, wir wollen nicht fragen wie oft, angeboten habe. Seien Sie aufrichtig –« setzte er hinzu: »Könnten Sie wohl etwas Vernünftigeres tun?«

»Vernünftigeres«, wiederholte die Gräfin langsam »- schwerlich.«

»Nun denn!«

»Nun denn? Sie sprachen vorhin von Liebe, und jetzt sprechen Sie von Raison? Das sind Gegensätze, lieber Freund.«

»Keineswegs! Gegensätze lassen sich nicht verbinden, Liebe und Raison hingegen sehr gut; wir wollen es beweisen – Sie und ich!«

Marianne hob das Haupt und richtete ihre glanzvollen Augen auf ihn; unter diesem Blicke fühlte Klemens seine Zuversicht schwanken; einigermaßen verwirrt und ohne rechten Zusammenhang mit seiner früheren Rede schloß er: »Früh oder spät, auch Ihre Stunde kommt.«

»Beten Sie zu Gott, daß sie ausbleibe!« entgegnete die Gräfin munter. »Wenn eine alte Frau anfängt zu schwärmen, dann geschieht es gewiß zu ihrem Unglück und zu ihrer Schmach, für irgendeinen undankbaren Phaon, irgendeinen flüchtigen Aeneas. Stellen Sie sich vor, wie Ihnen zumute wäre, wenn Sie mich fänden in Verzweiflung wie Sappho oder – wie Dido, im Begriffe, den Scheiterhaufen zu besteigen. Stellen Sie sich das vor!«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sprach der Fürst.

»Es wäre Ihnen zu gräßlich. Aber Sie können ruhig sein. Keine falschere Behauptung als die, jeder Mensch müsse im Leben wenigstens einmal lieben. Im Gegenteil, die wahre, die furchtbare Liebe gehört zu den größten Seltenheiten, und ihre Helden sind an den Fingern herzuzählen wie überhaupt alle Helden. Mit jener Liebe hingegen, die wir kleinen Leute fähig sind zu fühlen, sind wir kleinen Leute, wenn wir nur wollen und beizeiten zum Rechten sehen, auch fähig fertigzuwerden.«

Der Fürst streckte mit würdevoll ablehnender Gebärde die Hand aus, als wolle er diese Sophismen von sich weisen, und antwortete: »Wir werden fertig mit ihr, oder sie wird fertig mit uns.«

Abermals glitt ihr Blick über sein rundes Gesicht, über seine breiten Schultern, die so rüstig die Last eines halben Säkulums trugen: »Das hat gute Wege, noch bin ich unbesorgt«, sagte sie.

Der Fürst beendete den Wortstreit mit der Erklärung: zu überreden verstehe er nicht. Und in der Tat, dazu fehlte ihm das Talent und – die Gewissenlosigkeit. Ach, es ließ sich nicht leugnen, daß er trotz seiner verzehrenden Leidenschaft, besonders seit einiger Zeit, erstaunlich gedieh; ja, er mußte sich’s gestehen, sogar in den Tagen, wo diese Leidenschaft am heftigsten gelodert, hatte sie nicht vermocht, ihm die Freude zu verderben an seinen Jagdpferden, an der zunehmenden Anzahl Hochwildes in seinen Tiergärten, an seinem ganzen fürstlichen Junggesellenhausstand auf dem Lande wie in der Stadt.

Klemens war nicht im Reichtum, sondern als ein aussichtsloser Sprosse der gänzlich unbegüterten jüngeren Linie Eberstein geboren worden. Von Kindheit an für die militärische Laufbahn bestimmt, brachte er’s bis zum Rittmeister, nach siebenundzwanzig meist in elenden Garnisonen verlebten Jahren. Im Verlaufe derselben lernte er alles Mißliche des durch »unfreie Assoziationen« gebildeten Standes aus dem Grunde kennen, setzte dem jedoch den ruhigen Gleichmut eines aufrechten Mannes entgegen und verstand es, die etwas schiefe Stellung des zugleich vornehmsten und ärmsten Offiziers im Regimente mit würdevollem Takte zu behaupten. Der brave Schwadronskommandant stand bereits in reifem Alter, als eine Reihe von unerwarteten Todesfällen, die Verzichtleistung eines näheren Agnaten, die Mißheirat eines anderen ihn zum Eigentümer des zweiten Majorats seines Hauses machten. Sofort verließ der Fürst den Militärdienst und widmete sich mit fast jugendlichem Eifer dem Dienste der großen Welt. Die Begeisterung, mit welcher er dort aufgenommen wurde, berauschte ihn anfangs, doch begann er nur allzubald an dem Werte seiner Erfolge zu zweifeln. Die Frage, die einen geborenen Majoratsherrn, der sich ohne sein Erbgut so wenig denken kann wie seine Seele ohne seinen Leib, nie beunruhigt, die Frage: Was gelte ich? bedrängte ihn und brachte ihn endlich um alle Zuversicht, um all sein unbefangenes Selbstvertrauen.

Da zum ersten Male trat ihm in schwüler Ballatmosphäre, umrauscht von den Klängen der Musik, umweht von Blumendüften, umstrahlt von Kerzenschimmer, die glänzende Gräfin Marianne von Neumark entgegen, und er schloß sich sofort der dichtgedrängten Reihe ihrer Bewerber an. Wohl hieß es, Marianne habe kein Herz, ihre Liebenswürdigkeit sei wertlos, denn sie bestehe nur in Worten und werde gleichmäßig an alle, die ihr nahten, verschwendet; aber dennoch vermochte keiner, der einmal von ihrem Zauber berührt worden, sich ganz aus demselben zu lösen. Der Fürst war kaum in den Bereich von Mariannes Anziehungskraft gelangt, als er sich mächtig ergriffen fühlte. Mit geradezu blendender Klarheit leuchtete es ihm ein, er habe das Weib gefunden, das für ihn geschaffen sei, und vierzehn Tage nach ihrer ersten Begegnung stellte er sehr beklommen, sehr bewegt – wenn auch nicht ohne Siegesgewißheit – seinen Heiratsantrag.

Er wurde ausgeschlagen, und Eberstein kränkte sich, zürnte, verlangte die Gründe der erlittenen Abweisung zu kennen. Mit sanfter Ruhe setzte Marianne ihm dieselben auseinander, und es waren lauter triftige Gründe: Sie hatte sich an Unabhängigkeit gewöhnt, sie taugte nicht mehr für die Ehe, längst stand bei ihr fest, daß ihr Töchterchen keinen Stiefvater erhalten durfte … Und so weiter!

Klemens reiste nach England, kehrte von dort erst zur Winterszeit zurück und stürzte sich nach seiner Heimkehr mit erneuerter Unerschrockenheit in die große Welt. Man sah es ihm an den Augen an, es verriet sich in jedem seiner Worte, daß er entschlossen war, aus diesem Fasching als Bräutigam hervorzugehen. Aber – wieder erwachten seine Zweifel, wieder stellte die Ernüchterung sich ein. Die Wahl war zu groß, um nicht zu schwer zu sein, ein erster Schritt zu bindend, um nicht reiflichste Überlegung zu fordern. Die Unternehmungslust des Fürsten sank von neuem, als er von neuem innewurde, daß es sich nicht darum handle, zu erobern, sondern erobert zu werden. Marianne traf er oft in Gesellschaft und ging dann mit stummem und feierlichem Gruße an ihr vorüber. Sie gefiel ihm womöglich noch mehr als im verflossenen Jahre. Was waren alle, deren Besitz ihm so leicht erreichbar gewesen wäre, im Vergleiche zu der einen Unerreichbaren? Konnte man einem hübschen Gesichte Aufmerksamkeit schenken, nachdem man diesen klassischen Kopf gesehen, in Haltung und Form, ja in jedem Zuge dem der Venus von Milo so ähnlich? Konnte man dem Geschwätz eines Backfisches das geringste Interesse abgewinnen, nachdem man die Gräfin einmal sprechen gehört?

Auf einem Balle, dem Klemens und Marianne als Zuschauer beiwohnten, fügte es der Zufall, daß sie im selben Augenblick aus dem Tanzsaale in den luftigeren Raum eines anstoßenden Salons traten. Klemens verneigte sich wie gewöhnlich schweigend, sie dankte freundlich lächelnd, und doch schien ihm, als sei über ihr Gesicht ein Ausdruck leiser Trauer gebreitet, der ihn ergriff und ihm, halb gegen seinen Willen, die Frage erpreßte: »Wie geht es Ihnen, Frau Gräfin?«

Sie antwortete unbefangen, und ein Weilchen später saßen sie nebeneinander auf dem Kanapee, in eifriges Gespräch versunken. Klemens wußte nicht mehr, daß sie ihm schweres Unrecht getan, und als er sich dessen entsann, da hatte sie sich soeben erhoben, reichte ihm die Hand und sagte: »Warum besuchen Sie mich nicht mehr? Ich bin zwischen zwei und drei Uhr nachmittags immer zu Hause.«

Von nun an wäre jeder fehlgegangen, der den Fürsten zu jener Stunde anderswo gesucht hätte als im kleinen braunen Salon Mariannens. Er erschien mit einem Lächeln und entfernte sich mit einem Seufzer auf den Lippen, täglich, den ganzen Winter hindurch. So ging es fort durch zwei, durch – zehn Jahre. Im Frühling reiste er nach seinen Gütern, sie nach den ihren; man sah einander erst im Herbste wieder, denn auf dem Lande liebte es Gräfin Neumark, einsam zu leben, und nahm keine anderen als die unentrinnbaren Besuche ihrer Nachbarn an. Von Zeit zu Zeit erneuerte Klemens seine Werbung und machte die Beobachtung, daß jeder ablehnende Bescheid, den er erhielt, ihn weniger schmerzte. Woran sich doch der Mensch gewöhnt! Es kam so weit, daß Marianne, ohne grausam zu sein, fragen durfte: »Wie ist mir denn? Nun sind anderthalb Jahre vergangen, in denen Sie nicht an meine Versorgung dachten. Ich scheine Ihnen reif geworden zur Selbständigkeit … Oh, wie muß ich aussehen!«

Sie hatte gut lachen über ihr Alter; fast spurlos war die Zeit an ihr vorübergegangen und hatte ihr kaum einen Vorzug der Jugend geraubt. Ihr ganzes Wesen atmete die Frische, die nur denjenigen Frauen bewahrt bleibt, die niemals große Leidenschaften empfunden, niemals schwere Seelenkämpfe durchgemacht haben und die, einem mehr oder minder unbewußten Selbsterhaltungstriebe folgend, immer da nachzudenken aufhören, wo das Nachdenken anfängt weh zu tun.

Sie ist gut, meinte der Fürst, und doch nicht zu gut, gescheit und doch nicht zu gescheit. – Mit ihr zu verkehren ist eine Wonne. Klemens fühlte das heute wie vor zehn Jahren. Und wenn er auch das Ziel seiner Wünsche nicht erreichte – die besten Stunden seines Lebens hat er hier in diesem kleinen traulichen Gemache, an diesem Kamine zugebracht, an dem er jetzt ihr gegenübersaß und einen Vortrag hielt über seinen Mangel an Beredsamkeit.

Marianne, die Hände übereinandergelegt, hörte ihm scheinbar zu. Sie mußte jedoch einen anderen Gedankengang verfolgt haben, denn plötzlich unterbrach sie seine Rede: »Und Sonnberg?« fragte sie. »Haben Sie ihn heute schon gesehen? Kommt er abends auf den Ball?«

»Wie sollte er nicht?« antwortete Klemens; »er ist ja sicher, Sie und Thekla dort zu finden.«

»Sie gefällt ihm also, meinen Sie?«

»Gefällt?… Er ist entzückt von ihr, hingerissen, über und über verliebt! Verlassen Sie sich auf mich, ich wiederhole es: bevor diese Woche zu Ende geht, ist Thekla seine Braut.«

Marianne war nachdenklich geworden; eine Wolke lag auf ihrer Stirn, als sie nach einer Pause erwiderte: »Ich könnte für sie nichts Besseres wünschen.«

»Ja, der ist’s«, meinte Klemens, »der ist’s! Ein Schwiegersohn recht nach Ihrem Herzen.«

»Und ein Mann nach Theklas Kopfe«, fügte die Gräfin hinzu.

 

Marianne war bei der Erziehung ihrer Tochter vornehmlich von der Sorge geleitet gewesen, in dem Kinde keine »Sentimentalitäten« und keine »Exaltationen« aufkommen zu lassen. Theklas Verstand sollte ausgebildet und ihre Phantasie gezügelt werden. Wohltätigkeit und Großmut hatte man ihr als Anforderungen ihres Standes hinzustellen. Sie sollte geben lernen, reichlich, mit vollen Händen, niemals jedoch ohne Überlegung, vor allem nie aus einer flüchtigen Wallung des Mitleids. »Wissen Sie warum, liebe Dumesnil?« sagte die Gräfin zu der Gouvernante ihrer Tochter, »weil jede Wohltat mit Undank belohnt wird und weil wir den leichter verschmerzen, wenn unser Gefühl mit der Handlung, die ihn hervorrief, nichts zu tun hatte.«

»Ah madame, à qui le dites-vous?« antwortete Madame Zephirine Dumesnil wie bei jeder Gelegenheit, in welcher ihr der Sinn von Mariannens Reden völlig dunkel blieb.

Madame Dumesnil war eine trockene, auf ihren Vorteil bedachte Französin, die sich gegen alles in der Welt, sogar gegen ihre Pflegebefohlenen, gleichgültig verhielt. Als aber Thekla heranwuchs, geläufig Englisch und Französisch sprach, ein brillantes Salonstück mit Sicherheit und Bravour auf dem Klavier vorzutragen verstand, wie ein Dämon zu Pferde saß, wie ein Engel tanzte und »un port de reine« bekam, da geriet ihre Erzieherin zuzeiten in Ausbrüche einer seltsam kalten, jedes Wort sorgsam abwägenden Bewunderung für die junge Dame.

Plötzlich jedoch wurde sie sparsamer mit ihrem Lobe und dafür verschwenderisch mit leisen Warnungen, die sich samt und sonders auf die Gefahren des Unbestandes bezogen. Die Komtesse, die bisher so manche Stunde des Tages am Klavier zugebracht, hatte nämlich begonnen, ihr musikalisches Talent zu vernachlässigen, und sich mit einer bei ihr ganz unerhörten Leidenschaftlichkeit auf die Malerkunst geworfen. Mit Mühe nur bewog man sie, ihre Staffelei zu verlassen. Freilich bot diese meinstens einen interessanten Anblick dar. Da begraste sich eine magere Kuh auf fetter oder eine fette Kuh auf magerer Weide; da schlich eine Ziege tiefsinnig durch die schauerliche Stille der Einöde, da ragte aus dem Abgrund eine schmale Klippe empor, und auf derselben stand eine Gemse, mit Füßen, zusammengeschoben wie die eines in Ruhe gesetzten Feldsessels.

Sooft Theklas Zeichenmeister erschien, hatte sie ihm ein eben fertiggewordenes Werk vorzuweisen. Herr Krämer warf sich in einen Fauteuil der Staffelei gegenüber, spreizte die Beine auseinander, stützte die Ellbogen auf seine Schenkel und verschränkte die Hände. »Damit ich sie nicht über dem Kopf zusammenschlagen kann«, sagte er, blickte zuerst zu Thekla und dann zu dem neuentstandenen Kunstwerk empor und fuhr fort, während es gar sonderbar in seinem Gesichte zuckte: »Schau, schau, unser Komtesserl!… Aber was macht denn die Bank mitten auf der ›Straßen‹? Ja so, ein Pferd ist’s … Aha! – Also nur fort so – das heißt: ganz anders … ich mein halt nur in der Ausdauer; Geduld überwindet Sauerkraut.«

Madame Dumesnil warf ihm einen indignierten Blick zu, Thekla jedoch nahm Palette und Malerstock zur Hand und machte sich mit glühendem Eifer an die Arbeit. Krämer spaßte die ganze Stunde hindurch, ergriff manchmal einen Pinsel, und über die Schulter seiner Jüngerin hinweg verwischte er die Hälfte des Bildes, an dem sie sich mit so großer Emsigkeit abmühte. Sie nahm es nicht übel, erhob keine Einsprache, und Madame Dumesnil, auf solche ihr von Thekla nie erwiesene Unterwürfigkeit eifersüchtig, nahm den Maler »en horreur«.

Da ereignete sich eines schönen Wintermorgens etwas Ungeheures, etwas Unerhörtes. Madame Zephirine stürzte in das Schlafzimmer der Gräfin und legte eine Herrn Krämer gehörende Zeichnungsvorlage auf Mariannens Bett. Sie rief: »Madame, madame – voilà!« und deutete mit »schauderndem Finger« auf eine Zeile, die, an den Rand des Blattes hingekritzelt, die Worte enthielt: »Haben Sie mich lieb?« Daneben war von anderer, ach, von schwungvoller, kühner, ach, von Theklas Hand ein deutliches: »Ja!« geschrieben.

Marianne starrte die unheilvollen Züge an, und ihr Gesicht wurde weiß wie das Kissen, auf dem sie ruhte.

»Dieses Blatt«, keuchte Zephirine, »dieses Blatt war bestimmt, heute dem Unverschämten übergeben zu werden …«

Marianne hemmte den Ausbruch von Madame Dumesnils Zorn, dankte ihr bestens für die bewiesene Wachsamkeit und äußerte den Wunsch, allein gelassen zu werden.

Als Krämer, wie gewöhnlich zu spät, zur Unterrichtsstunde kam, wurde er an der Haustür von dem Kammerdiener in Empfang genommen und anstatt nach Theklas Lehrzimmer nach dem Salon geleitet. Schon das machte ihn stutzen, als er aber die Gräfin erblickte, die ihm mit dem Corpus delicti in der Hand entgegentrat, ward ihm recht übel zumute.

»Herr Krämer«, begann Marianne mit gepreßter Stimme – »es ist unwürdig von Ihnen …« Ihre hohe Erregung hinderte sie fortzufahren, und der burschikose junge Mann und die ruhige, weltgewandte Frau standen einander fassungslos gegenüber.

Er war’s, der seine Geistesgegenwart zuerst wiedergewann.

»Frau Gräfin«, sagte er, auf das Blatt deutend, das sie früher vor ihm emporgehalten und das jetzt in ihrer herabgesunkenen Rechten zitterte. – »Nehmen Sie’s nicht übel, Frau Gräfin. Das Komtesserl ist immer so schön rot geworden, wenn ich gekommen bin, und so hab ich mir halt einen Spaß gemacht. Einen schlechten Gedanken hab ich dabei nicht gehabt. Nehmen Sie mir’s nicht übel«, wiederholte er treuherzig.

Marianne sah ihn an, und zum ersten Male fiel es ihr auf, daß Herr Krämer ein hübscher Mensch war, mit gewinnenden Augen und mit offenem Gesichte. Das ihre verfinsterte sich immer mehr, und nach einer neuen peinlichen Pause sprach sie: »Meine Tochter nimmt von heute an keinen Unterricht im Malen mehr …«

Er fiel ihr rasch ins Wort. »Das ist gescheit! Denn wissen Sie, Frau Gräfin, Talent hat sie gar keins. Es ist schad um die Zeit. Ich hätt Ihnen das eigentlich schon lang sagen sollen, aber ich hab mir halt gedacht, bei Ihresgleichen kommt es ja nicht darauf an.«

So großer Unbefangenheit gegenüber erlangte Marianne, wenigstens scheinbar, ihren Gleichmut wieder. Mit einigen kalt verabschiedenden Worten reichte sie Herrn Krämer seine Zeichnungsvorlage, von der Theklas Ja natürlich weggetilgt worden war, und ein wohlgefülltes Kuvert.

Dem Maler schoß das Blut ins Gesicht; er senkte einige Sekunden lang den Blick auf das inhaltreiche Päckchen in seinen Händen und sagte dann: »Schauen Sie, Frau Gräfin, das kann ich nicht annehmen … Das hab ich nicht verdient.« Resolut legte er das Geld auf den Tisch, bat, »dem Komtesserl« einen Gruß von ihm auszurichten, und ging seiner Wege.

Hätte Herr Krämer nicht so große Eile gehabt, den Platz zu räumen, und sich in der Tür umgewandt, ihm würde ein Anblick zuteil geworden sein, dessen sich niemand aus der nächsten Umgebung der Gräfin rühmen konnte. Er hätte die Frau, die man empfindungslos nannte, dastehen gesehen, bebend, gebeugt, das Gesicht von Tränen überströmt. – –

Abends hatte Madame Dumesnil wie gewöhnlich die aus dem Theater kommenden Damen mit dem Tee erwartet. Marianne trat vor den Pfeilerspiegel, um ihre Coiffure abzunehmen. Sie stand abgewandt von ihrer Tochter, die sich in einem Fauteuil niedergelassen hatte und auf deren Gesicht das Licht der von einem Schirme halb bedeckten Lampe fiel. Jeden Zug, jede Bewegung desselben konnte Marianne deutlich im Spiegel sehen.

Nach einigen Bemerkungen über die heutige Vorstellung sprach die Gräfin in gleichgültigem Tone: »Unter anderem: der Zeichenlehrer hat abgedankt. Er gedenkt nicht länger seine Zeit mit unserer Thekla zu verlieren … Er meint, du hättest kein Talent, armes Kind.«

Theklas Augen sprühten helle Zornesfunken, die Röte des Unwillens flammte auf ihren Wangen; ihre zuckenden Lippen öffneten sich wie zu rascher Antwort, aber – sie schwieg. Sie warf den Kopf mit einer stolzen Bewegung in den Nacken und – schwieg.

Nach einer kleinen Weile war Marianne mit ihrer Coiffure zustande gekommen, setzte sich an den Tisch und ließ sich mit Madame Dumesnil in eine lebhafte Erörterung der neuen Kleidermoden ein, an welcher Thekla nicht teilnahm.

Das junge Mädchen befand sich zwei Tage lang in empörter Stimmung, dann verfiel sie in Melancholie, die nach abermals zwei Tagen einer unbestimmten Empfindung Platz machte, halb Groll, halb Reue, ganz und gar: Unbehagen. Noch waren nicht vier Wochen ins Land gegangen seit Herrn Krämers improvisierter Liebeswerbung, als die kleine Gräfin sich ihres so rasch erteilten Jawortes nur noch mit Entsetzen erinnerte, und ein halbes Jahr hindurch konnte sie von ihrem oder von einem Zeichenlehrer überhaupt nicht sprechen hören, ohne vor Scham an Selbstmord zu denken.

Einen tiefen, ja, wie Madame Dumesnil meinte, unbegreiflich tiefen Eindruck machte diese Episode im Jugendleben Theklas auf ihre Mutter.

Das kleine Ereignis, es ist nicht anders möglich, muß die Gräfin zu einem Rückblick in ihre eigene Vergangenheit veranlaßt, muß schmerzliche Erinnerungen in ihr geweckt haben, dachte die Französin. Sie besann sich jetzt des halb vergessenen Gerüchtes, Marianne habe dereinst einen Menschen geliebt, der ihrer in keiner Weise würdig war; einen Mann von vielem Geiste, scharfem Verstande, aber zweifelhaftem Rufe, der die Phantasie des jungen Mädchens zu fesseln, ihr Herz zu gewinnen wußte und sich plötzlich – sehr zur Beruhigung ihrer Eltern – von ihr abwandte, um ein mit Ostentation zur Schau getragenes Verhältnis mit einer stadtkundigen Schönheit einzugehen. Es gab Leute, die behaupteten – vielleicht ohne es selbst zu glauben –, die Gräfin habe ihre Neigung für Hans von Rothenburg niemals ganz überwunden. Diese schlecht belohnte Liebe habe Zeit und Entfernung, habe Mariannens Ehe mit einem ehrenwerten Manne überdauert und den einzigen Schatten geworfen, der jemals in ihr glückliches Dasein fiel. Was an alledem Wahres sei, erfuhr die neugierige Dumesnil nie und blieb in dieser Sache auf die Gedanken angewiesen, welche sie sich selbst darüber machte. Nahrung gab ihnen allerdings die Unruhe, in die Marianne durch Theklas kindische Herzensverwirrung versetzt wurde. So ängstlich behütet man ein geliebtes Haupt nur vor selbsterfahrenem Übel. Die Gräfin stand nachts auf und wachte stundenlang am Bette ihrer schlafenden Tochter. Sie führte eine strengere Kontrolle denn je über die Bücher, die Thekla las, über die Musikstücke, die sie spielte, einen lebhafteren Kampf denn je gegen Überspanntheit und Schwärmerei. Und sie mußte sich endlich sagen, daß dieser Kampf siegreich gewesen war.

Mit achtzehn Jahren trat Thekla in die Welt, gefiel außerordentlich und bewegte sich in der neuen Umgebung wie in ihrem ureigensten Elemente. Nichts blendete, nichts überraschte sie. Ruhig nahm sie die Huldigungen hin, die ihr dargebracht wurden, lächelte über den Neid minder Bevorzugter und hielt mit kühler Majestät jeden fern, der sich aus einer weniger glänzenden Sphäre hervor in die ihre wagte.

 

Einige »sehr annehmbare« Bewerber waren von Thekla bereits ausgeschlagen worden, als Paul Sonnberg zum ersten Male in der Gesellschaft erschien. Ihm ging der Ruf eines Mannes voran, der zu einer großen Laufbahn bestimmt sei. In seinem Leben war alles anders gewesen als in dem der meisten seiner Standesgenossen. Eine Jugend voll Arbeit und Mühen lag hinter ihm. Er hatte als Kind die öffentlichen Schulen besucht und dann eine deutsche Universität bezogen.

»Obwohl er Ihr einziger Sohn, der einzige Erbe eines großen Vermögens ist?« sprachen die Leute zu seinem Vater.

»Weil er das ist«, lautete die Antwort. »Vermögen ist Unvermögen in der Hand eines Menschen, der nichts vermag. In meiner Hand zum Beispiel, in der Euren!«

Schwer lastete auf dem alternden Manne das Bewußtsein, den Anforderungen der neuen Zeit, die für ihn unversehens hereingebrochen war, nicht genügen zu können. Das Gefühl der Ohnmacht, das ihn niederdrückte, sollte sein Sohn niemals kennenlernen; gerüstet sollte der in das streitbare Leben treten, arbeitsgewohnt in die tätigkeitsfrohe Welt. Der Vater meinte ihn nicht zeitig genug auf eigene Füße stellen, auf eigene Kraft anweisen zu können.

»Es mußte sein! es geschah für ihn!« Damit tröstete der Graf sich und seine Frau nach dem Abschied von dem geliebten Kinde, das ihnen – eine spät erfüllte Hoffnung – noch im Alter geschenkt worden war.

Paul verstand die Wünsche und Erwartungen der Seinen und übertraf sie alle. Jahr um Jahr kehrte er zurück, reicher an errungenen Ehren. Daheim empfing ihn vergötternde Liebe; die Mutter lebte auf, der Vater vermochte kaum sein Entzücken über den herrlichen Sohn hinter still billigendem Ernste zu verbergen; alle Gesichter verklärten sich, das ganze Haus schimmerte im Freudenglanze. Wie ein verwunschener Prinz in den Tagen der Entzauberung zu seinem Königreiche kommt, so kam auch Paul für kurze Zeit in den Besitz seiner angestammten Rechte. Nach absolvierter Universität ging er nach England, um dort Agronomie zu studieren, und traf endlich, heiß und ungeduldig ersehnt, zu bleibendem Aufenthalte im Elternhause ein. Nun hieß es zeigen, was er gelernt hatte! Es hieß Neuerungen einführen, die wirtschaftlichen Zustände seines Erbgutes verbessern, der ganzen Gegend ein Beispiel geben zu heilsamer Nachahmung. Der stumpfe Widerstand, der seinem Eifer, das Mißtrauen, das seinem guten Willen entgegengebracht wurde, entmutigten ihn nicht – lange nicht! Als er aber nach Jahren rastlosen Fleißes immer wieder an die eingebildete und doch unübersteigliche Scheidewand zwischen Theorie und Praxis anrannte, als jeder seiner Erfolge mit Spott, jeder seiner Mißerfolge mit Schadenfreude begrüßt wurde, da riß ihm die Geduld, und Überdruß stellte sich ein. Dieser wurde noch erhöht durch die Unsicherheit der allgemeinen Lage, durch die trostlosen Verhältnisse des ganzen Landes. Österreich stand damals am Abgrund, an den die Sistierungspolitik es geführt; im Innern war der Hader der Nationalitäten entbrannt, von außen drohten Kämpfe auf Leben und Tod.

In der Ehe, die Paul, den heißesten Wunsch seiner Eltern erfüllend, mit ihrer Ziehtochter, einer armen Verwandten, geschlossen hatte, fand er kein Glück. Seine junge Frau war von ihm niemals geliebt worden, und er fühlte sich durch ihre Liebe nur gequält. So war ihm der Aufenthalt in der Heimat in jeder Weise vergällt, und freudig beinahe, als die Kriegsanzeichen sich mehrten, eilte er nach Wien und ließ sich als gemeinen Soldaten in ein Regiment anwerben, das eben nach Italien abmarschierte. Auf dem Wege erreichte ihn die Nachricht, daß ein Töchterchen ihm geboren sei und daß er seine Frau verloren habe.

Nach beendetem Feldzuge quittierte Paul die Offizierscharge, zu welcher er auf dem Schlachtfelde von Custozza befördert worden, und nahm im Reichsrate seinen Platz unter den Männern der Opposition ein. Sein Wissen, die Energie, mit welcher er seine Meinungen vertrat, erregten Aufmerksamkeit. Daß er ideale Zwecke verfolgte, setzte man auf Rechnung seiner Jugend; daß er freisinnige Politik trieb, wurde als eine Art Sport angesehen und dem Edelmanne verziehen, der den Augenblick schon finden werde, in die rechte Bahn einzulenken. In der Gesellschaft sicherten ihm seine Geburt und sein Vermögen eine bevorzugte Stellung. Aber sein Fuß war zu schwer für den parkettierten Boden des Salons. Er hätte die große Welt bald geflohen, wäre nicht Thekla darin zu finden gewesen. Wenn je zwei Menschen, so waren die füreinander geboren, urteilte ihre Umgebung. Beide zu gleichen Ansprüchen berechtigt, beide jung, schön, hochbegabt, mit Glücksgütern reich gesegnet; Namen, Rang, Verhältnisse in vollkommenster Übereinstimmung. Mit der Unbefangenheit eines Mannes, der eine Zurückweisung nicht besorgt, legte Sonnberg seine Bewunderung an den Tag; mit sichtbarem Wohlgefallen wurde sie aufgenommen. Alle anderen Bewerber Theklas traten zurück, und jede leise Hoffnung auf die Gunst der Gefeierten erlosch, als man Paul dem Fürsten Eberstein auf die Frage: »Wie gefällt sie Ihnen?« antworten hörte: »Wie das Schönste, das ich jemals sah!«

 

Der Ball, auf dem Fürst Klemens eine entscheidende Wendung seines Schicksals zu erleben hoffte, ging zu Ende; er war der letzte und zugleich der glänzendste dieser Saison. Marianne erwartete nur den Schluß des Kotillons, um das Fest zu verlassen, und dieselbe Absicht hatte Sonnberg ausgesprochen, der, an ihrer Seite sitzend, dem Tanze zusah. Sie führten ein eifriges Gespräch, das die Gräfin von allgemeinen Gegenständen auf besondere und endlich auf persönliche zu lenken verstand. Paul bemerkte bald, daß er einem kleinen Verhör unterzogen wurde, doch geschah dies in so freundlich teilnehmender Weise, daß es unmöglich war, auf eine Frage die Antwort schuldig zu bleiben. Besonders warm und herzlich lauteten die Erkundigungen Mariannens nach den Eltern Sonnbergs und nach seinem Töchterchen; sie wollte wissen, ob die Kleine ihrer verstorbenen Mutter ähnlich sehe; sie wollte etwas hören von ihrer Gemütsart, ihren Eigentümlichkeiten.

Ein überlegenes Lächeln umspielte seinen Mund, und er entgegnete: »Sie lag in Windeln, als ich sie zum letzten Male sah; ich kann Ihnen demnach über das Äußere der jungen Person nichts verraten. Ihre Eigentümlichkeiten aber, ihre Gemütsart werden wohl die der Leute ihres Alters sein.«

»Und die ihrer eigenen kleinen Individualität.«

»Individualität? Ich denke, daß sie noch keine hat. Zu drei Jahren sind alle Kinder einander gleich.«

»Nicht zwei«, sprach die Gräfin bestimmt, »auf der ganzen Erde nicht zwei!«

»Wahrhaftig?« versetzte er zerstreut. Sein Auge verfolgte mit dem Ausdruck eifersüchtigen Entzückens die schöne Thekla, die jetzt in den Armen ihres Tänzers an ihm vorüberwirbelte.

Marianne verglich die heiße Leidenschaft, die aus seinen Blicken funkelte, mit der Kälte, die sie angefröstelt hatte, als er von seinen Eltern, seinem Kinde sprach, und dachte: – Was für eine Art Mensch bist du eigentlich? Es liegt etwas Unfertiges, Unaufgeschlossenes in dir. – Ah! tröstete sie sich, er hat zuviel in Büchern gesteckt; er kennt das Leben nicht. Die Schule und ein einsames Schloß auf dem Lande, das war bisher seine ganze Welt. Er steht zum ersten Male im Menschengewühl, und mit all seiner Weisheit ist er doch nur ein Neuling darin. Aber – wo hat er Wurzeln geschlagen? Was ist sein eigentliches Element? Die Familie nicht – er scheint sehr gleichgültig gegen alle, die ihm angehören. Wahrlich, ein Mann, der Mariannen auf dem Balle von den Süßigkeiten des Familienlebens vorgesäuselt hätte, wäre ihr lächerlich vorgekommen; aber so trocken, wie dieser Sonnberg es tat, sollte niemand diejenigen abfertigen, die ihn an die Seinen erinnern.

Die Gräfin sah ihn von der Seite an: – Verwöhnt wurdest du, das ist’s! Zuerst durch das Glück, das dich mit Talent reich ausgestattet hat und mit Mitteln, es geltend zu machen, dann durch übergroße Liebe. Als eine Last empfindest du sie und meinst genug zu tun, wenn du sie nur duldest, nur erträgst.

Wieder betrachtete sie ihn, forschend, aufmerksam. Sein Gesicht drückte die höchste, erwartungsvollste Spannung aus. »Wahltour!« hatte der Vortänzer gerufen – Thekla, eben erst an ihren Platz zurückgeführt, erhob sich. Mehrere junge Leute eilten herbei, umringten sie, und jeder flehte: »Wählen Sie mich! – Mich!« Sie schüttelte verneinend den Kopf; der Kreis, der um sie geschlossen worden war, teilte sich, und sie ging, an all den Enttäuschten vorbei, langsam, in gleichmäßigen Schritten die Breite des Saales durchschreitend, auf Sonnberg zu. Und nun, anmutig und stolz in ihrem duftigen Gewande, die Wangen rosig angehaucht, die herabhängenden Hände leicht ineinandergelegt, stand sie vor ihm und grüßte ihn mit einem kaum merkbaren Neigen des Hauptes. Er sprang auf – aus seinem Antlitz war alle Farbe gewichen – er zitterte, ja, er zitterte! wie nach Atem ringend hob sich seine Brust… Im nächsten Augenblicke jedoch hatte er sich gefaßt, umschlang die reizende Gestalt, und sie flogen im raschen Takte der Musik dahin, von allen, die sich in dem leuchtenden Saale lebensdurstig und lebensfreudig im Tanze bewegten, das schönste Paar.

An der Seite dieses Mannes nahm sich Mariannens blühende Tochter beinahe schmächtig aus, aber friedliche Ruhe lag auf ihrer Stirn, gleichmütig wie immer glänzten ihre klaren blauen Augen, während die seinen zu glühen schienen und sein ganzes Wesen eine gewaltige, tiefe, selige Verwirrung verriet.

Die Gräfin fühlte die bange Sorge schwinden, die ihr Herz beklemmt hatte. – Die wird ihn nicht verwöhnen, sagte sie zu sich selbst, der zweiten Frau wird er sich beugen! …

Ein hagerer, hochgewachsener Mann, der sich ihr näherte, unterbrach sie in ihren Betrachtungen.

»Er tanzt!« sprach er, auf Sonnberg deutend, »die Statue des Komturs steigt von ihrem Piedestal herab und tanzt!«

Marianne wandte sich langsam beim Klange der wohlbekannten Stimme und entgegnete: »Das ist weniger verwunderlich, Herr von Rothenburg, als daß Sie kommen, um ihr zuzusehen.«

»Deshalb komme ich auch nicht, sondern um, wie gewöhnlich, meine Betrachtungen zu machen beim Schluß unserer Karnevalsausstellung, unseres Kindermarktes von Bethnal Green.«

Die Gräfin zuckte schweigend mit den Achseln; er nahm ohne Umstände Platz neben ihr und fuhr fort: »Immer dasselbe, nicht wahr? Angebot und Nachfrage stimmen niemals überein.«

Wie Kurzsichtige pflegen, zog er seine kleinen, tiefliegenden Augen zusammen und fixierte Marianne mit eigentümlich scharfem Blicke.

»Was fehlt Ihnen, Frau Gräfin? Sie sind aufgeregt. Sollte das Ereignis, das bevorsteht in Ihrer Familie, sich Ihrer unbedingten Zustimmung nicht erfreuen?«

Sie versuchte nicht, Unbefangenheit zu heucheln und zu tun, als verstände sie ihn nicht. Sie antwortete einfach: »Es ist keineswegs ausgemacht, daß überhaupt ein Ereignis bevorsteht.«

»Um so besser dann«, sprach er.

»Warum?« fragte Marianne befremdet.

Er lachte: »Warum? Bin ich der Mann, von dem man Gründe fordert?… Und wenn ich von meinem ahnungsvollen Gemüte spräche, würden Sie mir glauben?«

Eine kleine Pause entstand, dann sagte Marianne wie mit plötzlichem Entschlusse: »Was haben Sie gegen den Grafen Sonnberg?«

Rothenburg antwortete spöttisch: »Alles. Daß er jung ist, daß er reich, schön, vornehm ist, daß er …«

»Den Ruf eines gescheiten Mannes besitzt«, ergänzte die Gräfin in demselben Tone.

»Den ihm alberne Leute gemacht haben – und der deshalb unerschütterlich ist. Übrigens«, fuhr er ernsthaft fort, »glauben Sie nicht, daß ich ihn unterschätze. Er besitzt ein kostbares und trotz der Behauptung unserer Psychologen äußerst seltenes Gut: eine Seele. Vorläufig ist ihm das noch ein Geheimnis – er weiß es nicht. Aber der Augenblick wird kommen, in welchem er’s erfährt, und dieser wird für ihn ein entscheidender sein.«

Mit gesenktem Haupte hatte Marianne seinen Worten gelauscht, die beinahe völlig ihre eigenen Gedanken aussprachen.

»Sie raten mir also –« fragte sie zögernd.

»Zu mißtrauen!« rief er, »dem Schicksal immer dann am ängstlichsten zu mißtrauen, wenn es ein ungetrübtes Glück zu verheißen scheint. Die boshaften Mächte, die über dem Menschendasein walten, geben entweder den Durst oder die Labe, das Schwert oder die Faust, die es führen könnte; sie geben jenem den Wunsch, diesem die Erfüllung, und wo ich äußere Übereinstimmung sehe, weiß ich auch: hier ist innerer Zwiespalt.«

»Etwas geb ich zu von alledem«, sprach Marianne, »ohne deshalb an Ihre ›boshaften Mächte‹ zu glauben. Und – vollkommenes Glück! Wer denkt daran?«

»Nicht wahr?« rief er, »besonders in unserem tugendreichen Zeitalter, das jedes andere Glück verbietet als das pflichtmäßige.«

»Das haben frühere Zeitalter wohl auch getan.«

»O nein! Als noch Leidenschaft, Kraft und Mut auf Erden herrschten, da war es anders. Naivetät entschuldigte die Schuld. Munter verübten die alten Götter ihre Frevel, und die Menschen ahmten ihnen unbefangen nach. Wenn Antonius und Kleopatra sündigten, applaudierten zwei Weltteile. Jetzt schleicht die Sünde lichtscheu umher, und feige Reue heftet sich an ihre Fersen. Wir, denkende Schwächlinge, entnervt durch die Reflexion, wir verstehen auch das schönste Verbrechen nicht mehr zu genießen.«

»Verbrechen genießen?… Das sind wieder ganz Sie selbst!« sagte Marianne.

Die Gereiztheit, die aus ihrer Stimme klang, schien Rothenburg ein lebhaftes Vergnügen zu machen. »Immer nur ich! Mehr denn je!« scherzte er, »seitdem die einzige Hand, die sich zu meiner Rettung ausstreckte, mich aufgegeben hat – völlig aufgegeben. Nicht wahr?«

Marianne begegnete seinem höhnisch herausfordernden Blick; ein Ausdruck unerbittlicher Strenge lag auf ihrem Gesichte; ihre Augen glänzten wie im Bewußtsein eines Sieges, und sie sprach gelassen: »Sie haben sich eben teilnehmend und besorgt um Theklas Wohl gezeigt, was treibt Sie, diesen guten Eindruck zu verwischen?«

»Mein böser Dämon vermutlich«, antwortete er in leichtfertigem Tone. »Aber lassen wir das. Frieden also und ewige Freundschaft!«

»Frieden«, wiederholte sie nachdrücklich, »so guten, als Sie fähig sind zu halten. – Da kommt Thekla!«

Marianne erhob sich und ging ihrer Tochter entgegen, die am Arme des Fürsten Klemens auf sie zugeschritten kam. Einen Augenblick starrte ihr Rothenburg finster nach: »Doch schade!« murmelte er zwischen den Zähnen, dann wandte er sich um mit einer Bewegung, als gälte es, eine unbequeme Last abzuschütteln, und verschwand in der Menge, die den Gemächern zuströmte, in denen das Souper aufgetragen worden.

Die kleine Gesellschaft, die sich noch im Ballsaale befand, schickte sich an, ihn zu verlassen. Sie bestand aus der Gräfin und ihrer Tochter und aus Eberstein und seinem Neffen. Dieser, ein junger Mann mit rundem Kindergesichte, treuherzigen braunen Augen, weit auseinanderstehenden Zähnen und einem dünnen lichtblonden Vollbärtchen, bot nun Thekla seinen Arm, während Marianne den des Fürsten annahm.

Das junge Paar ging dem älteren voran. Schüchtern und leise, dabei jedoch höchst eifrig sprach der kleine Graf zu seiner schweigenden Gefährtin.

»Er macht ihr Vorwürfe«, sagte der Fürst, als sie über die blumengeschmückte Treppe der Halle hinabgestiegen. »Er hat Ursache dazu; sein gutes Recht wäre gewesen, den Kotillon, den er mit ihr tanzte, auch mit ihr zu beschließen. Der arme Junge wartete so ungeduldig, daß sie ihm zurückkehre! Aber als es endlich geschah, da wurde seine Aufforderung zur letzten Walzertour – abgelehnt. Ja, ja – abgelehnt! Majestätisch wie sie sein kann, die junge Hexe, sprach sie: ›Ich danke Ihnen – ich tanze heute nicht mehr…‹«

»Das hat Thekla gesagt?« fragte die Gräfin erschrocken.

»Jawohl!« entgegnete Klemens fröhlich, »und mit einem Blick auf den glückstrahlenden Sonnberg, einem ernsten, huldvollen Blick; ich wollte, Sie hätten ihn gesehen! Verraten Sie mich aber nicht!« flüsterte er Mariannen zu.

Der Wagen war vorgefahren, die Damen stiegen ein. »Morgen also, um zwei Uhr, kommen wir«, rief ihnen der Fürst noch zu, und die Equipage rollte davon.

»Warum sagen Sie wir?« fragte Alfred, »wer begleitet Sie morgen zu der Gräfin?«

Klemens zog sein Cachenez bis zu den Ohren hinauf und erwiderte kurz: »Sonnberg begleitet mich.«

»Wie, lieber Onkel – Sie machen sich zu seinem Freiwerber?« sprach Alfred vorwurfsvoll – »Sie!… Und wissen doch …«

»Ich kann in dieser Angelegenheit keine Rücksicht auf dich nehmen. Ich kann in dieser Sache nichts für dich tun. Es war ein Unsinn, daß du dich in Gräfin Thekla verliebtest… Zum Teufel, ehe man sich verliebt, sieht man zu in wen!« Das Gespräch, das er heute morgen mit Mariannen gehabt, kam dem Fürsten sehr zu Hilfe, und er schloß: »Mit dieser Empfindung mußt du trachten fertigzuwerden. Das kann man. Man muß nur beizeiten zum Rechten sehen.«

Unterdessen hatte Paul, der seinen Wagen fortgeschickt, zu Fuß den Heimweg angetreten. Ihn lockte der Gang durch die schneebedeckten Straßen in der stillen Winternacht. Erquickt von der kalten Luft, die ihn anwehte, sog er sie tiefatmend ein und begann gewaltig auszuschreiten. Wie groß und weit war ihm das Herz! Als hätte ein Bann sich gelöst, der auf ihm ruhte, so fühlte er sich; als wären ungeahnte Fähigkeiten in ihm erwacht.

– Das ist das Glück! das ist die Liebe! jauchzte es in seiner Brust. Was hatte er bisher für den Inhalt des Lebens gehalten? Einen Ehrgeiz, den Tausende besaßen, das Jagen nach Zielen, die andere so gut wie er erreichen konnten. Von dem alles verklärenden Licht, von der Krone des männlichen Daseins, von der Liebe zu einem Weibe, davon hatte er nichts gewußt. Wohl war er angebetet worden von Kindheit an, hatte schwärmerische Neigungen eingeflößt, erwidert aber hatte er noch keine der liebevollen Empfindungen, die ihm entgegengetragen wurden. Und jetzt – wie aus dürrem Waldesboden die Lohe bricht, wie Feuerfluten emporsteigen aus dem felsenstarrenden Berge, so flammte jetzt in seiner Seele die Leidenschaft plötzlich auf. Sie war erwacht, ein göttliches Wunder; das schöne Geschöpf, das er eben in seinen Armen gehalten, hatte sie geweckt, zu niemals geahnter Wonne …

Eine Regung von Mitleid erwachte in ihm – wie ein Schatten zog die Erinnerung an seine verstorbene Frau durch sein Gemüt. Aber selbst dieser leichte Schatten, den eine trübe Vergangenheit über die leicht strömende Gegenwart gleiten ließ, verflog. Was ist eine wehmütige Erinnerung im Augenblick der seligsten Erfüllung?… Vorbei! vorbei! Friede mit den Toten und Glück und Macht mit den Lebendigen!

 

Am folgenden Tage um zwei Uhr ließen Eberstein und Sonnberg sich bei der Gräfin anmelden. Klemens trug eine Zeitlang die Kosten der Unterhaltung, gestand aber plötzlich, daß er heute nur gekommen sei, um zu gehen, da eine Verabredung mit seinem Geschäftsmanne ihn an das andere Ende der Stadt rufe, und verabschiedete sich mit einem freudestrahlenden Blick auf Marianne und einem Blick voll väterlichen Wohlwollens auf Paul.

Von ihrem Fenster aus, das in den hellen geräumigen Hof hinabging, hatte Thekla die beiden Herren kommen und den Fürsten sich nun entfernen gesehen. Sonnberg war allein bei ihrer Mutter. Jetzt, ganz gewiß jetzt stellt er seinen Antrag. Er sagt, daß er von Thekla dazu berechtigt sei. Eine Pause! Eine halbe Minute Pause: der Anstand will’s, und so gehört es sich. – Das Mädchen sah nach der Uhr auf dem kleinen Schreibtisch. Die halbe Minute war vorbei, und Mama spricht vielleicht in diesem Augenblicke: »Ich vertraue Ihnen die Zukunft meiner einzigen Tochter an …« Die gute Mama! Theklas rosige Lippen, die sich soeben mit einem prächtigen Ausdruck mutwilliger Überlegenheit aufgeworfen hatten, verzogen sich ein klein wenig wie die eines verwöhnten Kindes, dem man ins Gewissen redet und das mit seiner Rührung kämpft. Ihre Pulse begannen rascher zu schlagen, eine nie gefühlte Bangigkeit beengte ihre Brust. Sie erhob sich, trat an das Fenster und blickte hinab in den Hof.

Da steht Sonnbergs Equipage. Ein kleines dunkles Kupee, leicht und solid gebaut, vor Neuheit funkelnd. Der Kutscher sitzt steif auf dem Bocke, hält mit der rechten Hand den Stiel der Peitsche auf den Schenkel gestützt und in der linken die Zügel. Man sieht’s ihm an, daß er lieber sterben als die Augen von seinen Pferden wenden würde. Ei, sie sind dieser Aufmerksamkeit wohl wert, die zierlichen Rappen mit ihren feinen Köpfen, ihren schlanken Hälsen, mit den geschmeidigen stählernen Fesseln. Ihr seidenes Haar ist schwarz wie die Nacht, und wie Mondlicht schimmert sein Glanz. Sie stampfen mit spielender Grazie den Boden und blasen übermütig die Nüstern auf, als fühlten sie, daß ein Kennerauge auf ihnen ruhte… Thekla hatte ihre Mutter oft ungeduldig gemacht durch die Behauptung: Um zu wissen, was an einem Menschen sei, brauche sie nur – seine Equipage zu sehen. An das erschrockene: »Ich bitte dich!« das Marianne bei dieser Gelegenheit auszustoßen pflegte, dachte Thekla jetzt und hielt in Gedanken eine kleine Rede an ihre Mutter: Sieh dorthin und wage es, mir unrecht zu geben. Sieh diesen Wagen, dieses Gespann, diese Riemen, diese Schnallen! Ist das nicht alles korrekt und tadellos, pünktlich, charaktervoll? Auch Klemens hat englische Kupees und Pferde aus edelstem Blut, aber wie ist das alles zusammengestellt? Ohne rechten Geschmack, ohne die Strenge, die unerbittlich auf Sorgfalt bis ins kleinste dringt. Der Weichling verrät sich überall!

Sie wandte sich vom Fenster weg und begann im Zimmer auf und ab zu schreiten. Ihre Phantasie zauberte ihr einen noch viel schöneren Anblick vor als den, welchen sie eben genossen: die Equipage der Gräfin Sonnberg und bald auch das Palais, durch dessen Einfahrt diese Equipage rollte, während die Glocke dreimal anschlug und der dicke Portier sich ehrerbietig verneigte in seinem roten Pelze mit goldgesticktem Bandelier… Rot und Gelb sind die Sonnbergischen Farben, das Wappen ist eine goldene Sonne, aufsteigend am purpurnen Horizont. Dieses Sinnbild prangt über dem Tore des majestätischen Bauwerks, eines Juwels altertümlicher Architektur, des Palais, dessen Gebieterin sie werden sollte, Gebieterin des Gebieters und aller, die dem Gebieter dienten …

Thekla war an Reichtum und Behagen gewöhnt, aber im Witwenhause ihrer Mutter hatte sich allmählich ein Domestikenregiment und mit ihm so mancher Mißbrauch eingeschlichen. Es fehlte der kräftige Mann, der die Herrschaft in starken Händen hält. Graf Sonnberg wird das verstehen, er wird für die Ordnung und nach außen für den Glanz seines Hauses sorgen. Den Mittelpunkt dieses Glanzes gedenkt Thekla zu bilden und von ihm umgeben sich der Welt zu zeigen, in der Stadt zur Winterszeit, im Sommer auf ihren Schlössern … Dort will sie leben, wie der Adel im vorigen Jahrhundert auf seinen Schlössern zu leben pflegte, einen zahlreichen Freundeskreis gastfrei um sich versammeln, täglich neue Feste ersinnen, den Hasen jagen auf der Heide, den Hirsch im Walde und sich lächelnd der Zeiten erinnern, in denen sie in Wildungen zwischen ihrer Mutter und Madame Dumesnil saß und Weihnachtsjacken und Neujahrshauben für die armen Dorfkinder häkelte und strickte.

Die Uhr auf dem Schreibtische hob aus zum Stundenschlag… drei Uhr … die Unterredung zwischen dem Grafen und ihrer Mutter dauerte lang – was hatten sie einander zu sagen?… Ihr wurde angst – sollten alle ihre schönen Träume in Luft zerrinnen?… Aber da pochte es an der Tür, der Kammerdiener erschien und sprach: »Die Frau Gräfin lassen bitten …«

Thekla fand ihre Mutter im kleinen Salon, an ihrem gewöhnlichen Platze, in ihrer gewöhnlichen Haltung, aber mit geröteten Wangen, ja sogar mit leicht geröteten Augen. In hoher Erregung schritt Sonnberg auf das junge Mädchen zu, er war sehr bleich, und seine Lippen bebten.

»Ihre Mutter teilt Ihr Vertrauen zu mir nicht, Gräfin Thekla«, sprach er. »Sie verurteilt mich zu einer Probezeit … Ich soll dienen um mein Glück. Sie will es.«

Thekla runzelte die Stirn, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, und sie entgegnete leise, aber festen Tones: »Und was wollen Sie?«

Paul ergriff ungestüm ihre Hand. »Ich will mich bemühen«, rief er, »die Probezeit möglichst abzukürzen…«

»Sie fügen sich also«, sagte Thekla und schüttelte mißbilligend das Haupt.

»Ich füge mich, da ich die Zustimmung Ihrer Mutter nicht erzwingen und noch viel weniger – Ihnen entsagen kann … Helfen Sie mir«, flehte er leidenschaftlich, »helfen Sie mir, den hohen Preis, den ich im Sturme erringen wollte, nun wenigstens nicht zu verscherzen!… Ich will alles lernen, sogar geduldig sein, wenn Sie mir liebevoll zur Seite stehen, ich will alles tun, um mich allmählich Ihrer wert zu zeigen, nicht nur zu zeigen, es zu werden, sosehr mir dies überhaupt möglich ist; denn ganz und völlig Ihrer wert ist kein Mann auf Erden – das weiß ich wohl.«

Er sprach abgebrochen, hastig, und Thekla trat einen Schritt zurück, erstaunt, erschrocken über den Sturm heißer Empfindungen, der in ihm zu kämpfen schien. Seine Blicke ruhten auf ihr, beschwörend: Sprich! Antworte mir!… Aber Thekla verstand ihre glühende Sprache nicht, denn sie schwieg. Sie stand da, um einen Ton blässer als gewöhnlich, sie dachte: Das ist peinlich; und als sie die gesenkten Augen erhob, war es nicht zu ihm, der darauf harrte wie auf die Erlösung, sondern zu ihrer Mutter – war es ratlos und hilfesuchend …

Marianne erhob sich, ging auf Sonnberg zu und legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm.

»Sie sind ein Kind, mein lieber Graf«, sagte sie, »trotz Ihrer dreißig Jahre, trotz ihres großen Verstandes.«

»Ich liebe zum ersten Male, das macht jung in meinem Alter; es macht aber auch weich, nachgiebig und gehorsam … Ich kenne mich selbst nicht mehr – Sie haben ein Wunder getan, Thekla!« rief er und breitete die Arme aus. Einen Augenblick ruhte ihr Haupt an seiner Brust, im nächsten schon hatte sie sich losgemacht und war zu ihrer Mutter getreten, verwirrt, in großer Bestürzung.

»Thekla!« wiederholte Sonnberg.

Marianne beeilte sich, dem Vorwurf zu begegnen, der auf seinen Lippen schwebte: »Vergessen Sie nicht«, sprach sie, »daß Menschen nur unbewußt Wunder tun. Es beängstigt sie, wenn man ihnen dafür dankt«, setzte sie lächelnd hinzu.

 

In der Stadt ließ sich’s niemand nehmen, daß Paul und Thekla verlobt seien, daß ihr Brautstand nur noch aus irgendeinem unbekannten Grunde nicht deklariert werde. In der Tat brachte Sonnberg täglich einige Stunden im Hause der Gräfin Neumark zu. Er fühlte bald, daß er Fortschritte machte in der Gunst Mariannens, und das beglückte ihn.

Thekla blieb sich immer gleich.

Vom Augenblick an, in welchem er in das Zimmer trat, war sie einzig und allein mit ihm beschäftigt, war freundlich und aufmerksam und widersprach ihm nie; sie gewöhnte sich sogar, Urteile zu wiederholen, die er gefällt hatte. Eine Zeitlang begnügte er sich mit diesem für ihn so schmeichelhaften Begegnen, nach und nach aber begann er hinter all dieser Rücksicht und Fügsamkeit große Kälte zu ahnen. Gräßlich durchblitzte ihn, glückvernichtend, ein Zweifel an Theklas Liebe. Sein ganzes Wesen empörte sich dagegen, und wie einen Gedanken an erlittene Schmach wies Paul ihn von sich.

Aber einige Bitterkeit blieb doch zurück, ein unwiderstehlicher Wunsch, die Geliebte zu reizen, zur Ungeduld zu bringen, den heiteren Gleichmut zu stören, der ihn anfangs entzückt hatte und der ihm jetzt ein Frevel schien an seinen eignen Gefühlen, an der Sehnsucht, die er um sie litt, an der schwer erkämpften Geduld, zu welcher er sich zwang, er, so gewöhnt an freudiges Entgegenkommen, der Mann des raschen Erfolges, der nie gelernt hatte, zu warten und zu werben, dem man niemals nein gesagt, er, Paul Sonnberg!

Als Thekla das nächstemal einer von ihm aufgestellten, sehr unhaltbaren Behauptung nicht widersprach, rief er herausfordernd und herb: »Das ist meine Meinung, sagen Sie jetzt die Ihre!« Sie erhob die großen Augen zu ihm voll bestürzter Verwunderung, senkte dann hocherrötend den Blick und schwieg. Jede Frage, die er noch an sie stellte, beantwortete sie kleinlaut mit ja oder nein, wohl auch – mit ja und nein. Paul blieb während der Dauer seines Besuches unruhig, bitter und ging endlich, von tausend widerstrebenden Empfindungen erfüllt und gequält.

Am folgenden Tage kam er früher als gewöhnlich und fand Thekla allein. Sie saß auf dem Platze ihrer Mutter in dem kleinen braunen Salon, ihre Arbeit im Schoße. Sie hatte sich aber weder mit dieser beschäftigt noch mit dem Buche, das aufgeschlagen neben ihr auf dem Tischchen lag. Sie saß unbeweglich da wie eine Statue, Ebenmaß in jeder Form, Schönheit in jeder Linie. Als Paul eintrat, erhob sie sich und ging ihm entgegen, lächelnd und freundlich wie immer, in ihrer anbetungswürdigen Herrlichkeit. Er hatte die Nacht in schwerem Kampfe durchwacht, seine Heftigkeit verwünscht und schmerzlich bereut. Er erwartete, Thekla verstimmt zu finden, gekränkt über sein gestriges kindisches Gebaren; er meinte sie versöhnen zu müssen, und er wollte es!… Statt dessen begrüßte sie ihn holdselig und unbefangen, als wäre ihr Einvernehmen nicht durch den leisesten Schatten getrübt worden. Sogleich stieg, mit unsäglicher Bitterkeit, die Frage in ihm auf: Hab ich nicht einmal die Macht, ihr weh zu tun? – doch bezwang er sich und sprach ruhig: »Thekla, ich war gestern widerwärtig, unerträglich – können Sie mir verzeihen?«

Sie wurde ein wenig rot, ein wenig verlegen und antwortete hastig wie jemand, der einer unangenehmen Erörterung auszuweichen sucht: »Ich bin ja gar nicht böse gewesen.«

»Verdanke ich diese Nachsicht Ihrer Barmherzigkeit oder Ihrer Gleichgültigkeit? Antworten Sie mir«, setzte er halb flehend, halb herausfordernd hinzu.

»Wie können Sie von Gleichgültigkeit reden«, erwiderte Thekla, »da Sie doch wissen …« sie hielt inne.

»Ich weiß«, rief er, »daß Sie mir Ihr Jawort gaben, als ich Sie fragte, ob Sie meine Frau werden wollen. Jetzt frage ich Sie, Thekla: Lieben Sie mich?… Sie haben mir Ihre Hand zugesagt, ist Ihr Herz mein? Fühlen Sie, daß kein Mann auf Erden Sie besitzen kann wie ich, das heißt, Sie besitzen mit allen Ihren Gedanken, Regungen und Empfindungen, mit Ihrem ganzen schrankenlosen Vertrauen?… Ist mein Glück das Ziel Ihrer Wünsche, wie wahrlich das Ihre Ziel und Inbegriff der meinen ist … lieben Sie mich?«

Er hatte die letzten Worte mühsam hervorgestoßen, sie kamen wie ein dumpfer Schrei aus seiner gepreßten Brust. Thekla hielt den Blick nicht aus, der schmerzlich und zornig auf ihr ruhte, bang wandte der ihre sich nach der Tür, durch welche sie hoffte ihre Mutter endlich eintreten zu sehen – niemals hatte sie ihre Mutter so sehnlich herbeigewünscht!…

»Sie kommt«, sagte Paul, ihre stumme Bewegung beantwortend, »beruhigen Sie sich, sie wird gleich hier sein; ihre Anwesenheit wird mich aber nicht hindern, so zu Ihnen zu sprechen, wie ich es tue… Weil ich muß, weil ich soll!« Er ergriff ihre Hand und drückte sie heftig, ohne zu denken, daß er ihr weh tat. Etwas Drohendes klang aus seiner Stimme, wogegen ihr Stolz sich empörte.

Sie zog mit Gewalt und Entrüstung ihre Hand aus der seinen und sagte: »Ich weiß nicht, was Sie wollen.«

»Ich werde es Ihnen sagen!« rief er ausbrechend. »Die Ehrenhaftigkeit des Weibes besteht darin, dem Manne, der um sie freit aus unaussprechlicher Liebe – nein zu antworten, wenn sie diese Liebe nicht erwidern kann… Verstehen Sie mich jetzt?… Wir würden unglücklich sein – beide –, wenn Sie mich nicht liebten. – Weisen Sie mich ab, Thekla, wenn Sie mich nicht lieben!… Weisen Sie mich ab!«

Sie stand vor ihm mit trotzig aufgeworfenen Lippen, bleich und ruhig – noch immer ruhig… Plötzlich aber zuckte es schmerzlich über ihr Gesicht, ihre Augen wurden feucht, und rasch bedeckte sie dieselben mit ihrer Hand. Ach, auf dieser edlen Hand brannten rote Flecken, die Spuren der schonungslosen Finger, die sie eben umklammert hatten; sie erhob sich wund und weh, um Tränen zu verbergen, die er fließen gemacht, der gequälte Quäler, dessen Herz sich bei diesem Anblick wandte und den tiefe Reue ergriff, nagende Scham … Er fühlte seinen Zorn erlöschen, den letzten Groll verschwinden und seine Liebe steigen, steigen wie eine reine Flamme, sein ganzes Wesen erfüllen und läutern, er fühlte in ihren göttlichen Gluten alles schmelzen, was in ihm an Selbstsucht, Selbstbetrug und Eitelkeit gelebt hatte … Er trat auf die Geliebte zu, legte den Arm um sie und küßte mit innigster Zärtlichkeit die Hand, die er ihr von den Augen zog.

»Sagen Sie noch ja?« fragte er leise.

Sie nickte schweigend und sah ihn an.

»Sie wissen, daß ich aus Liebe um Sie werbe, und sagen dennoch: ja?«

»Ich sage dennoch ja«, erwiderte sie mit ihrem bezauberndsten Lächeln.

»So gehörst du mir«, flüsterte er ihr zu, »so bin ich dein – und ich bin es ganz… Gebiete! Herrsche!«

Er beugte sich über sie, sein Mund näherte sich dem ihren … Sie schloß die Augen, sie hätte fliehen mögen – aber sie wagte es nicht … Er könnte wieder zürnen, wieder sagen: Weisen Sie mich ab, wenn Sie mich nicht lieben! Ihre Lippen erbleichten, zitterten angstvoll unter der Berührung der seinen … Da öffnete sich die Tür, und Marianne trat ein.

 

Von dem Tage an erschien Paul verändert; sehr zu seinem Vorteile, meinten die Gräfin und ihre Tochter. War es die Frucht männlich bestandener Kämpfe mit sich selbst, war der Frieden wirklich in seine Seele gekommen? Die Ungleichheit seiner Laune störte Theklas heitere Sorglosigkeit niemals wieder. Er vermied alles, was sie unangenehm berühren konnte, er forderte in ernsthaften Dingen kein Urteil mehr von ihr, fragte nicht mehr in hofmeisterndem Tone, ob sie dieses oder jenes Buch gelesen habe. Die Helden der Geschichte, die großen Dichter und Künstler, deren Geister er sonst mit einem Enthusiasmus zu zitieren pflegte, der zur Teilnahme aufforderte, ließ er jetzt ruhen. Er vermied alles Kritteln und Mäkeln, er gab sich ganz dem Zauber hin, den Theklas von Hoheit umstrahltes Wesen, den der Wohllaut ihrer Stimme auf ihn ausübten. Er begann Geschmack zu finden an dem heiteren, unbekümmerten Leben im Hause seiner zukünftigen Schwiegermutter und schwelgte in dem anmutigen Behagen, das vollendete Wohlerzogenheit um sich her zu verbreiten weiß.

Für die Entschiedenheit, womit Thekla traurige und unangenehme Eindrücke von sich wies, für ihre Scheu vor geistiger Anstrengung fand er tausend Entschuldigungen: Sie ist jung und nimmt das Leben leicht, sie ist glücklich und will es bleiben, sie fühlt unbewußt wie ein Kind, das sich gegen das Aufnehmen schwieriger Erkenntnisse sträubt, den tiefen Sinn der großen Wahrheit: nachdenken bricht das Herz!

Eines Tages fand er Thekla, ihn im großen Salon erwartend: »Ich bin Ihnen entgegengekommen«, sagte sie leise und lachend, »um Sie abzuhalten, bei Mama einzutreten. Mama hat Besuch, die alte Baronin Limberg, Sie wissen, die Wohltäterin. Ihr eigenes Hab und Gut hat sie bereits verschenkt und geht jetzt auf Plünderung ihrer Bekannten aus. Heute sammelt sie für die Armen im Erzgebirge, macht Ihnen Beschreibungen von dem Elende dort – man kann’s nicht anhören. Gewiß, sie übertreibt.«

»Schwer möglich in dem Falle«, sagte Paul; er wollte noch etwas hinzusetzen, aber sie fiel ihm ins Wort: »Reden wir nicht davon, ich bitte Sie! Was nützt es denn? Man kann nicht alle armen Leute reich machen. Wir geben, soviel in unseren Kräften steht, und beruhigen uns damit. Sich grämen über das Elend heißt ja nur, es vermehren.«

Seltsam berührt wandte er sich ab … Es war wohl eigen! Dasselbe hat er einst gesagt – ihm schien, mit denselben Worten – zu seiner jungen Frau, die ihn an seinem Arbeitstische gestört mit einer Schilderung hungernder und frierender Not, der sie durchaus abhelfen wollte. Die junge Frau hatte ihm schweigend zugehört, ihm sanft die Hand auf die Schulter gelegt, ihm flehend, begütigend in die Augen gesehen und war endlich, rauh abgewiesen, hinweggegangen, betrübt und still… Arme Marie!…

Thekla ahnte nicht, daß in diesem Augenblicke, während er beistimmend sagte: »Ja, jawohl«, eine zarte Gestalt zwischen ihm und ihr dahinglitt, leise wie ein Traum, und ihr schönes Bild verdunkelte. Aber es war ja nur die Gestalt einer Toten, die er niemals geliebt, und in der nächsten Sekunde schon verweht, zerflossen vor der Lebendigen, die er liebte!

Diese begann sich ihrer Macht über ihn wohl bewußt zu werden und übte sie aus mit einer Koketterie, die immer in den Grenzen des strengsten Schönheits-und Schicklichkeitsgefühles blieb und deshalb um so berückender war. Jetzt wagte Thekla manchmal schon einen Widerspruch, erhob aber dabei stets einen Blick voll so liebenswürdiger Demut zu ihrem Bewerber, daß dieser wünschte, sie möge ihm öfter widersprechen, damit ihm ein solcher Blick öfter zuteil würde.

Die Zeit verging, wie sie dem Liebenden zu vergehen pflegt, entsetzlich langsam, furchtbar schnell … Es kamen Tage, deren Ende Paul nicht erleben zu können meinte, andere, die wie Minuten verflogen – und als die Luft eines Morgens lau und lind durch das geöffnete Fenster drang und er, einen Blick auf die Kastanienbäume vor dem Hause werfend, ihre Knospen geschwellt, ihre Zweige mit jungem Grün bedeckt sah, da überraschte es ihn, daß der Winter vorüber und der Frühling gekommen war. Der Frühling seines wichtigsten Lebensjahres, welches auch das schönste werden sollte, das erste eines reichen Glückes, in dessen Sonnenschein sich alle spiegeln und erwärmen werden, die ihn lieben. Er gedachte seiner Eltern und des Kindes, das zwischen dem greisen Ehepaare aufwuchs, liebevoller, als er je getan. Innig wie nie fühlte er die Sorge für ihr Wohl in seinem Herzen Raum fassen. Sie sollen alle neu aufatmen, Frohsinn und Heiterkeit sollen einziehen in ihr stilles Haus, wenn er ihnen Thekla bringt, die Frau seiner Wahl, die ihn lieben lehrte, nicht sie allein lieben, auch die Seinen, auch die ganze Welt – und jenen so eigentlich erst den Sohn, seinem Kind den Vater, der Erde einen Menschen geschenkt.

Er wird an Theklas Seite ein anderer sein, als er in seiner ersten Ehe gewesen ist. Damals hatte er eine Pein kennengelernt, ärger fast als unglückliche Liebe: die Pein, eine Neigung einzuflößen, die man nicht erwidert und doch erwidern sollte. Es war seine Pflicht, er hatte es gelobt… Schlimm genug, daß er sich dazu verleiten ließ! – Als Verwandte war Marie ihm wert gewesen, aber als seine Frau, da fand er gar vieles an ihr auszusetzen. Zuerst, daß er es fühlte: Sie leidet durch mich! Immer hatte man ihm gesagt, geborgen seien alle, die ihm angehörten, sein Dasein schon sei Glück und seine Nähe Segen. – Warum empfand sie es nicht? Was wollte sie denn? Kurz angebunden war seine Art; schonungslos gegen sich selbst, verstand er sich nicht auf zarte Rücksichten gegen eine empfindsame Frau. Verweichlicht schalt er sie, anspruchsvoll und wollte die leise Stimme in seinem Innern nicht hören, die ihm zuflüsterte, daß er ihr Unrecht tue … Und wenn es wäre! er kann nicht anders: sie ist ihm ein Rätsel – und er, der alles begreift, was die Weisesten denken und die Edelsten empfinden … sie begreift er nicht, er steht ratlos vor diesem Kinde. –

Bitterkeit bemächtigte sich seiner, er wurde hart und wandte sich grollend ab. – –

Wohl ihm, daß sie vorüber, diese schwüle Zeit! Wohl ihm, daß es ihr Widerspiel ist, dem er hoffnungstrunken entgegenlebt! In Theklas Armen werden ihn die Erinnerungen nicht aufsuchen, die jetzt oft schmerzlich und störend herübergleiten aus der Vergangenheit. In der hellen Atmosphäre ihrer Lebensfreudigkeit wird er vergessen, daß er einst ein Herz neben sich darben ließ … Dieses Mal ist er der Dürstende und Verlangende! Thekla liebt ihn nicht, wie er sie liebt, wenn auch so sehr, als sie zu lieben fähig ist. Hatte sie ihn nicht gewählt aus freiem Entschlusse? Hatte nicht ihr erster Blick ihm gesagt: Du bist’s – ihr Jawort es nicht bestätigt? Was wollte er mehr als den Besitz ihres ganzen schönen Selbst? Sie leidenschaftlicher wünschen hieße, sie anders wünschen, und so, ganz so wie sie war, bezauberte und entzückte sie ihn.

»Bleib wie du bist!« rief er laut mit überwallender Empfindung… »Zärtlichkeit und Schwärmerei von dir verlangen hieße, Duft und Blüte des Rosenstrauches von der hochragenden Palme fordern und wärmendes Licht von den leuchtenden Sternen …«

 

Das Geräusch der sich öffnenden Tür weckte ihn aus seinen Träumereien. Ein Diener meldete: »Herr Baron Kamnitzky«, und schnaubend vor Ungeduld trat ein kleines, schwächlich gebautes Männchen in das Zimmer und sprach: »Lauter neue Gesichter, lauter Leute, die mich nicht kennen… daß sie nicht nach meinem Passe fragen, das ist alles. Ein nächstes Mal will ich mich damit versehen. Hätte nicht geglaubt, daß es so schwer sei, vorzukommen bei einem liberalen Abgeordneten.« Das Wort »liberal« betonte er ausnehmend giftig und wegwerfend.

»Nun, du bist da«, sagte Paul beschwichtigend, »und sehr willkommen.«

Er rückte einen Fauteuil zurecht, in dem der Freiherr brummend Platz nahm, nachdem sein im Zimmer umhersuchender Blick ihm die Überzeugung verschafft, daß auch nicht ein ordentlicher Sessel vorhanden sei, auf dem sich »ein altmodischer Landjunker, der gewohnt ist, zu sitzen und nicht zu lümmeln«, mit Annehmlichkeit niederlassen könnte.

»Wo ist dein Michel?« fragte er nach einer kleinen Pause in inquisitorischem Tone, fuhr aber sogleich fort, ohne die Antwort abzuwarten: »Nicht residenzfähig natürlich… Hier braucht man ganz andere Leute, Gamaschen tragende geschniegelte Theaterbediente …«

»Michel ist auf dem Lande, bei seiner Familie«, unterbrach ihn Paul. »Und nun erzähle! Wie sieht es aus bei uns daheim?«

Er hatte dem Gaste eine Zigarre angeboten, welche dieser mit einer Art Entrüstung ablehnte.

»Du rauchst nicht?« fragte Paul.

»Nur meine Zigarren, wie du wissen könntest«, antwortete Kamnitzky unwirsch, zog ein Etui hervor und aus diesem eine schwarze Zigarre von nichts weniger als einladendem Aussehen, die er mit heftiger Anstrengung seiner Atmungswerkzeuge in Brand setzte. Ihr zweifelhafter Duft schien anregend auf ihn zu wirken, er wurde redselig, sprach von den Geschäften, die ihn nach der Stadt geführt, vom Wetter, von den Ernteaussichten, er sprach von allerlei und doch – es war unschwer zu erraten – von dem nicht, was ihm am Herzen lag, was ihm auf den Lippen brannte, die sich nach jedem wie mit Gewalt ausgestoßenen Satze fest zusammenpreßten, um sich bald wieder zu öffnen und – etwas Gleichgültiges zu sagen. Dabei errötete er alle Augenblicke wie ein ängstliches Mädchen und empfand darüber den innigsten Verdruß.

Ach, daß er immer noch erröten konnte, das war für den alten Mann eine fortwährende Kränkung! Dieses unwillkürliche Zeichen kindischer Erregbarkeit stand mit seinen Jahren, mit seinem männlichen Wesen in einem lächerlichen Widerspruch. Und Widerspruch, Disharmonie war alles an dem seltsamen Menschen! Die Fülle der gelockten Haare, die der alte Herr lang trug, ließ den Kopf zu groß erscheinen für die schmalschulterige Gestalt, deren Dürftigkeit durch die eng anliegenden Kleider noch hervorgehoben wurde. Der frische und glatte Teint, der siegreich durch ein langes Leben allen Einflüssen der Hitze und der Kälte getrotzt, stand in auffallendem Gegensatz zu den schneeweißen Haaren des jugendlichen Greises. Die kräftige Adlernase, der martialische Schnurr- und Knebelbart, die braunen Augen, die unter ihren etwas geschwollenen Lidern feurig hervorblitzten, dies alles paßte nicht zu dem weichen Munde mit seinem schmerzlich resignierten Ausdruck. Hände und Füße des Mannes waren klein und schmal, seine Bewegungen unruhig, hart, und deutlich sah man ihm das Bemühen an, seine Befangenheit hinter einem mühsam angenommenen ungebundenen Wesen zu verbergen.

Paul wiederholte seine unbeantwortet gebliebene Frage, und Kamnitzky sprach, an der Zigarre beißend, die längst nicht mehr brannte: »Wie’s deinen Eltern geht, meinst du?… Nun, nun, wie es eben kann… Briefe von dir – mehrere nämlich – müssen verlorengegangen sein.«

Er sagte das mit solcher Bitterkeit, daß Paul, dadurch ungeduldig gemacht, trocken antwortete: »Ich habe lange nicht geschrieben.«

Kamnitzky stieß einen Laut des Unwillens aus, seine dichten Augenbrauen zogen sich zusammen: »So«, sagte er; »freilich, freilich – die vielen Geschäfte, die vielen Reden über Menschenrechte, Freiheit, Bildung, Intelligenz! Wie fände man da Zeit, ein paar alte Leute zu beschwichtigen, die so töricht sind, in Sorge um einen zu vergehen … Ad vocem Intelligenz! – die macht Fortschritte! Wir haben jetzt drei Schullehrer in der Gegend zum Ersatz für den einen, der im vorigen Jahre dort verhungerte! Nun denn! – also lange nicht geschrieben!« Er senkte den Kopf und murmelte unverständliche Worte in den Bart.

»Meine Eltern vergehen vor Sorge?« fragte Paul, »davon merkt man ihren Briefen nichts an. Mir schreiben sie, es ginge ihnen gut und auch dem Kinde …«

»Dem Kinde?… das war krank. – Man hat dir’s verborgen. Aus Schonung … Wie überflüssig – gelt? Die alten Leute verstehen eben die jungen nicht mehr. Sie wissen nicht, wie die gepanzert sind, inwendig, auswendig, durch und durch, mit einem trefflichen Harnisch: Gleichgültigkeit! …«

Jeder Nerv in seinem Gesichte zuckte, er sprang auf, rannte ein paar Male im Zimmer auf und nieder und blieb plötzlich dicht vor Paul stehen. Beide Hände in den Taschen, den Oberkörper vor- und rückwärts wiegend, fuhr er in höchster Erregung fort: »Gleichgültig, eine schöne Sache – freilich, man könnt auch sagen: eine erbärmliche! Die Gleichgültigkeit setzt einen überall vor die Tür, sogar vor die des eigenen Hauses… Besitz ich etwas, das mir gleichgültig ist? Haben kann ich’s, besitzen nicht!… Die Gleichgültigkeit ist blöd, grausam, frech! geht an der Schönheit vorbei ohne Begeisterung, am Elend ohne Mitleid, am Großen ohne Ehrfurcht, am Wunder ohne Andacht …«

Paul legte seine Hand auf den Arm Kamnitzkys und sprach: »Gilt deine Strafpredigt mir? Ich bin nicht gleichgültig. Und war ich’s je«, setzte er nach einer Pause hinzu – »so sagen wir denn: ich bin’s nicht mehr.«

Eine wunderbar rasche Wandlung ging bei diesen Worten in dem alten Manne vor, wie durch einen Zauber schien der Sturm in seiner Seele beschworen. Weich, mit wehmütigem Vorwurf hob er an: »Wie lange warst du nicht mehr bei uns! – Seit deiner Rückkehr aus dem Feldzuge …« Er schlug dreimal mit seiner kleinen Faust auf den Tisch: »Seit drei Jahren! drei Jahre sind’s …«

Der letzte Aufenthalt in Sonnberg stand Paul in bitterer Erinnerung. Die Trauer seiner Eltern, die ihm maßlos geschienen, weil er sie nicht teilte, die Zerfahrenheit im Hause, das schwächliche Kind, wie abstoßend hatte das alles auf ihn gewirkt! Nur hineingeblickt hatte er in dieses freudlose Heimwesen und war hinweggeeilt. – Er konnte ja wiederkommen, später, in besserer Zeit. Aber das Leben zog ihn in seine Wirbel, die Lust an öffentlicher Tätigkeit, der Ehrgeiz, in großem Wirkungskreise Großes zu leisten, erfaßte ihn. Manchmal mahnte es ihn wohl: Du solltest doch nachsehen, wie es steht mit den alten Leuten… Aber sie rufen ihn nicht, und brauchen sie ihn denn? wozu auch? Er ist kein Weib, das sich über Unabänderliches grämt, er kann ihnen nicht weinen helfen. Und endlich – er wird sie schon besuchen, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. So war eine lange Zeit vergangen seit seiner flüchtigen, peinlichen letzten Einkehr im Vaterhause. Ihrer besann er sich jetzt nur zu deutlich, indem er Kamnitzkys Worte wiederholte: »Drei Jahre, ja – jawohl. Damals war es bei uns fürchterlich!«

»Damals war’s gut, noch gut«, rief der Freiherr. »Es war kurz nach dem Unglück … ich spreche von dem Tode deiner Frau. Unmittelbar nachdem man den Streich empfing, den das Schicksal führte, weiß man nicht, wie tief er getroffen, wie viele Lebenswurzeln er uns durchschnitten hat… das zeigt sich erst später.«

»Du meinst«, entgegnete Paul, »daß der Schmerz um einen erlittenen Verlust zunimmt, je mehr Zeit darüber hingeflossen ist? Ich, lieber Alter, halte dafür, daß die Zeit alle Wunden heilt.«

»Im allgemeinen – könntest du wenigstens hinzusetzen«, fiel ihm Kamnitzky ein. »Für einen Mann wie du gibt es freilich nur das Allgemeine… ein Mann wie du kümmert sich nicht um das einzelne Wesen, den besonderen Fall. Wenn man der Menschheit angehört, dem Universum …« Er klimperte hastig mit einem Schlüsselbunde in seiner Tasche, seine Stimme, die sich während der letzten Sätze gesenkt hatte, erhob sich wieder: »Wann ist es kälter, he? eine Stunde oder mehrere Stunden nach Sonnenuntergang?… Nun, Lieber, für deine alten Leute ist die Sonne untergegangen hinter dem Hügel in der Friedhofecke, wo die Zitterpappeln … Ja so – du weißt nicht – warst nicht einmal dort… Nicht einmal dort!« Er richtete sich kerzengerade auf, warf die Schultern zurück wie ein Soldat in strammer Haltung und fuhr fort, mit affektierter Nachlässigkeit den Blick, über Pauls Kopf hinweg, nach dem Fenster gerichtet: »Und es ist doch freundlich dort, durchaus freundlich: ein Gitter umschließt die Stelle, an den zierlichen Stäben ranken sich Zwergrosen empor, ein Band aus Efeu bildet, flach und breit, einen – weißt du, einen …« Seine Hand zeichnete schwungvolle Linien in die Luft: »Einen Kranz, so – verschlungen… und die Platte aus geschliffenem Granit spiegelt wie blankes Eis im Sonnenschein. Eingemeißelt in den Stein steht ihr Name in großen Buchstaben, sonst nichts als nur das Datum, Geburts- und Todestag natürlich… darunter zwei Verse von ihrer Lieblingsdichterin, sonst gar nichts.«

Peinlich! peinlich! dachte Paul, werd ich den Schwätzer nicht los? – »Was für Verse?« fragte er obenhin, nur um etwas zu sagen.

»Ja, was für Verse? Als ob ich mir dergleichen merkte! Aber aufgeschrieben hab ich sie, wenn mir recht ist…«

Er suchte lange in seiner mit Rechnungen, Adressen und Zeitungsabschnitten bis zum Bersten gefüllten Brieftasche und zog endlich einen Papierstreifen hervor, den er Paul reichte.

Dieser las halblaut und langsam:

 

»Sehr jung war ich und sehr an Liebe reich,

Begeisterung der Hauch, von dem ich lebte.«

 

Kamnitzky bewegte die Lippen, als spräche er im stillen jede Silbe nach. »Ja, ja«, sagte er, »ganz richtig, das ist sie … Ach Gott, ist sie – gewesen! Na… Gott hab sie selig! Deine Eltern … sie haben freilich das Kind, ein Trost, eine Sorge …«

Paul schwieg. Er hatte den Ellbogen auf das Knie gestützt und die Stirn in seine Hand; die gesenkten Augen ruhten unverwandt auf den geschriebenen Zeilen, die er festhielt in der herabgesunkenen Rechten. Er regte sich nicht – was ging in ihm vor? Der Alte konnte sein Gesicht nicht sehen, doch verriet seine Haltung, sein beklommener Atem eine tiefe Erschütterung. Ratlos stand Kamnitzky vor ihm. Er hätte so gern etwas gesagt! etwas Gutes, Gescheites! aber die Zunge war ihm wie gelähmt. Was würde er gegeben haben für das rechte, das erlösende Wort!

Kamnitzky fand es nicht, und mit einer Gebärde der Verzweiflung griff er endlich nach seinem Hute: »Leb wohl also«, sagte er.

Wie aus dem Schlafe aufgeschreckt, fuhr Paul empor.

»Wann reisest du?«

»Morgen früh.« Der bewegte Klang von Pauls Stimme wirkte wohltuend auf seinen kriegerischen Freund. Er war noch zu rühren, der verlorene Sohn, der Abtrünnige! Man konnte ihn schon noch packen, nur bedurfte es dazu einer geschickten und kräftigen Hand. »Morgen früh. Wenn du einen Auftrag hast für deine alten Leute, ich besorge ihn… Was soll ich ihnen ausrichten? Im Laufe der nächsten Woche komme ich wohl einmal hinüber …«

Paul sah ihn spöttisch lächelnd an und sagte: »Im Laufe der nächsten Woche erst? – Geh mir! So lange wirst du nicht zögern, den Zweck deiner Reise zu erfüllen.«

»- Zweck? was meinst du? Ich verstehe dich nicht.«

»Du verstehst mich recht gut.«

Verwirrt und fassungslos wie ein ertappter Verbrecher wandte sich Kamnitzky ab. Er war durchschaut. Sein prächtig angelegter Plan gescheitert!… Wie hatte er sich alles so schön eingerichtet! Den alten Nachbarn, deren Kümmernissen er ein Ende machen wollte, von den Geschäften erzählt, die ihn nach der Stadt riefen, versprochen, »bei dieser Gelegenheit – vorausgesetzt, daß ihm Zeit dazu übrigbliebe«, den Paul zu besuchen. »Aber ja nicht sagen, daß sein Schweigen uns Sorge macht!« – »Sorge macht es Ihnen? Ist das möglich? Nein! nein! kein Wort, das versteht sich …« In der Stadt war er mehrere Tage herumgezogen, die Pflastersteine zählen seine beste Unterhaltung, um nur mit gutem Gewissen sagen zu können: Ich bin schon lange da! um nur nicht merken zu lassen, daß er Eile habe, ihn zu sehen, den Renegaten. Und nun… Was sind Entwürfe? Was ist ein menschlicher Vorsatz? Das ganze Gewebe seiner Intrige lag kläglich nackt am Tage! So schlau angelegt, so diplomatisch ausgeführt – das heißt, wie man’s nimmt: bei der Ausführung, da hat es gehapert … da hat ihm sein »verfluchtes Temperament« einen Streich gespielt…

Stumm grollend empfahl sich Kamnitzky. Von dem überraschten Hausherrn gefolgt, eilte er durch den Salon, das Vorzimmer in das Treppenhaus. Er nahm die Hand nicht, die Paul ihm beim Abschiede bot, drückte seinen Hut fest in die Stirn und eilte stolzen Schrittes die Treppe hinab.

An die Rampe gelehnt, blickte Paul ihm nach. Ein Diener, der den Besucher an das Haustor begleitet hatte, kam zurück. »Packe eine leichte Reisetasche«, befahl sein Herr, »ich fahre heute abend für einige Tage auf das Land.«

 

Im Laufe des Nachmittags begab Sonnberg sich zu Gräfin Marianne. »Sind Gäste da?« fragte er an der Tür des ersten Salons den voranschreitenden Kammerdiener. Dieser zog die Hand zurück, die er bereits auf die Klinke gelegt hatte, und in bedauerndem Tone, aus dem es trotz aller schuldigen Ehrfurcht deutlich klang: Dir ist’s nicht recht, wir verstehen uns! sprach er: »Frau Gräfin Erlach, Durchlaucht Eberstein und der Herr Graf Neffe. Haben hier gespeist, werden wohl bald aufbrechen; der Wagen der Frau Gräfin Erlach ist schon vor einer halben Stunde gemeldet worden.«

Paul nickte dem Alten, für die Auskunft freundlich dankend, zu und trat ein. Die Portieren zwischen dem Saale, in dessen Mitte das Klavier stand, und dem kleinen Salon waren zurückgeschlagen. Marianne saß der Gräfin Erlach gegenüber am Kamine, Thekla etwas abseits frei und aufrecht, die Arme leicht gekreuzt. Der junge Graf Eberstein stand neben ihr, zupfte an seinem kleinen Schnurrbart, spielte mit der Uhrkette, warf von Zeit zu Zeit einen Blick in den Spiegel und senkte dann mit bescheidener Zufriedenheit die Augen. Der Fürst hatte seinen Sessel in die Nähe des Fauteuils gerückt, in dem Gräfin Erlach ruhte, und stützte den Arm auf die Lehne desselben. Die lächelnden Gesichter aller Anwesenden verrieten, daß die ausgezeichnete Unterhaltungsgabe, die man der jungen Dame nachrühmte, sich eben wieder bewährte.

Paul nahm an ihrer Seite Platz, nachdem er die Damen des Hauses begrüßt hatte, und sagte in jenem leichten Tone, den sich Männer so gern gegen Frauen erlauben, deren Ehrgeiz darin besteht, »amüsant« gefunden zu werden: »Bravo, Gräfin, bravo – ein vortrefflicher Einfall!«

»- Was denn?«

»Was Sie eben sagten.«

»Sie haben ja nichts davon gehört.«

»Was tut’s? Ich kann dennoch bei dem – wenigen, was Ihnen heilig ist, schwören: es war vortrefflich!«

Klemens lachte schallend und sah dabei Thekla mit Blicken an, die deutlich sagten: Lachen Sie doch auch! Ach, dem Fürsten war Thekla zu kühl, Paul zu geduldig, er fand es längst an der Zeit, der Brautwerbung ein Ende zu machen, er konnte nicht oft genug wiederholen: die jungen Leute hätten sattsam Gelegenheit gehabt, einander kennenzulernen. Worauf wartete man noch, um Gottes willen? Wodurch sollte Sonnberg noch beweisen, daß er Theklas würdig sei? Ein Mann, wie man ihn weit suchen könne, charaktervoll, edel, verläßlich… Klemens wurde so maßlos in dem Lobe seines Schützlings, daß Marianne ihm einmal sagte: »Wenn es ein Mittel gibt, einem Sonnberg zu verleiden, dann sind Sie im Besitze desselben, mein armer Freund …«

Die Gräfin Erlach beantwortete Pauls Kompliment mit einem spöttischen Lächeln. Sie schien immer spöttisch zu lächeln, sogar wenn sich ihr Gesicht in vollkommener Ruhe befand. Dann ging sie zu einem andern Thema über und sagte zu Marianne: »Tonchette kommt morgen aus Paris zurück.«

»Haben Sie große Bestellungen bei ihr gemacht?«

»Große nein – nur ein paar Toiletten, das Notwendigste.«

»Was man ins Haus braucht, um seinen Mann zu bezaubern«, bemerkte Klemens, und Paul fiel ein: »Das heißt, um ihn in der Bezauberung zu erhalten, denn bezaubert ist er ja längst.«

»Schreibt der Graf noch immer?« fragte Alfred schüchtern und zugleich dreist wie ein kaum flügge gewordenes Spätzchen, das, kämpfend zwischen anerzogener Bescheidenheit und angeborener Keckheit, nicht ohne Zögern sein Stimmlein im Kreise älterer Gefährten erhebt, »schreibt er noch immer so viele Gedichte an Sie, Gräfin?«

»An mich? was fällt Ihnen ein? – Ich weiß nichts davon.«

»Wer das glaubte!« sprach Marianne mit einem Anflug von Sarkasmus. »Ihr Mann macht Ihnen gewiß kein Geheimnis aus den poetischen Huldigungen, die er Ihnen darbringt.«

»Doch!« entgegnete die Gräfin, »wenn auch sehr unwillkürlich. Er besteht nämlich darauf, mir das alles vorzulesen; und ich, sehen Sie, ich kann nicht zuhören, wenn mir jemand vorliest, ich kann nicht. Meine Gedanken fliegen davon, sobald die Lektüre beginnt, und stellen sich um keinen Preis wieder ein, bevor sie beendet ist. Dann natürlich sage ich auf gut Glück: ›Charmant, charmant, sehr schön geschrieben – besonders das letzte!‹«

Man lachte, auch Paul nahm teil an der allgemeinen Heiterkeit, etwas gezwungen allerdings; und er wandte sich plötzlich mit den Worten an Gräfin Erlach: »Eigentlich muß ich Ihnen aber sagen, daß die schriftstellerischen Versuche Ihres Mannes aller Aufmerksamkeit wert sind und die Ihre erwecken sollten.«

Die Gräfin sah ihn an mit jenem unbeschreiblichen Erstaunen, das Leute ergreift, die ihr ganzes Leben hindurch nur gespielt haben und entschlossen sind, bis an ihr Ende weiterzuspielen, wenn ihnen plötzlich zugemutet wird, irgendeiner ernsthaften Sache Interesse zu schenken. Jetzt lächelte nicht mehr ihr Mund allein, ihr ganzes nicht regelmäßig schönes, aber äußerst anziehendes Gesicht und ihre großen schalkhaften Augen lächelten mitleidig, spöttisch, übermütig, lächelten auf jede Art. Sie warf den Rest ihrer Zigarette in den Kamin, begann sorgfältig und mit Bedacht ihre Handschuhe anzuziehen und sprach in ihrer langsamen und nachlässigen Weise: »Fremde haben leicht reden.« Sie glättete die Falten ihrer Handschuhe und setzte nach einer Pause hinzu: »Mein Mann ist sehr leicht auswendig zu wissen, und ich weiß ihn auswendig – seit vier Jahren! Trotzdem sagt er sich mir täglich auf, in Versen und in Prosa. Das befriedigt zuletzt auch die brennendste Neugier.«

Die Gräfin erhob sich, und die Damen riefen bedauernd wie aus einem Munde: »Sie wollen schon fort?«

»Es ist höchste Zeit, ich muß meine Schwiegermutter abholen in die Oper …« Sie versenkte sich in die Betrachtung ihres Fächers, warf einen langen Blick in den Spiegel: »Meine Schwiegermutter behauptet, eine Oper ohne Ouvertüre sei wie ein Mittagsessen ohne Suppe … und meine Schwiegermutter hält etwas auf Suppe wie alle alten Leute.«

Der Fürst blinzelte nach der Uhr, die eben acht schlug, gab seinem Neffen einen Wink und sprach: »Alfred wird die Ehre haben, Sie an Ihren Wagen zu bringen.«

Alfred verneigte sich. Sie wollen mich weg haben, dachte er und murmelte etwas von »besonderem Vergnügen«.

Als die beiden sich entfernt hatten, sagte Thekla zu Sonnberg mit einer ihr ungewohnten Lebhaftigkeit: »Wie schade, daß Sie nicht früher kamen! Sie hätten sich unterhalten. Julie war heute so gut aufgelegt, so witzig!«

»Witzig nennen Sie das?« entgegnete Paul. »Es ist schale Spaßmacherei; und auf wessen Kosten spaßt die Gräfin? – sie macht ihren Mann lächerlich.«

»Oh, das besorgt er wohl selbst.«

»Wodurch?«

»– Und wenn sie es tut, geschieht es aus Notwehr …«

»Wodurch?« wiederholte er – »wodurch?« Sein Gesicht färbte sich dunkler, die Adern an seinen Schläfen schwollen an: »Lieben – geliebt werden – macht das lächerlich?«

Thekla sah mit Erstaunen, daß er zürnte. Was hat er denn? Was liegt ihm an dem armen kleinen Erlach?… er versetzt sich doch nicht an seine Stelle, vergleicht sich doch nicht mit dem?… Eine solche Möglichkeit darf von Thekla nicht angenommen werden – oh – nicht einmal geahnt! Mit etwas unsicherer Stimme und mit der unschuldig altklugen Miene eines Kindes, das fremde Weisheit von seinen Lippen strömen läßt, sprach die junge Gräfin: »Ach nein, Liebe zu empfinden ist nicht lächerlich, aber es zur Schau tragen, das ist’s!«

»Wer sagt Ihnen, daß Erlach seine Liebe absichtlich zur Schau trägt? Vielleicht fehlt ihm nur die Kraft, sie zu verbergen, wie er’s sollte, dieser Frau gegenüber. Verspotten Sie ihn nicht – bedauern Sie ihn.«

»Ach!« rief Thekla, »ich bedauere niemand, der Gedichte macht.«

»So?« Paul schwieg eine Weile, dann fragte er plötzlich: »Was ist’s mit den Gedichten, die ich Ihnen neulich brachte? Haben Sie darin gelesen?«

»Ja«, antwortete sie zögernd.

»Und was sagen Sie dazu? Ich habe das Buch jahrelang besessen und es nicht zu würdigen verstanden. Vor wenig Tagen kam es mir zufällig in die Hand, und mir war, als hätte ich einen Schatz entdeckt. Es ist herrlich… finden Sie nicht?«

»Herrlich – ja, zu herrlich für mich.«

»Was heißt das?«

»Es heißt…«

»Nun? Vollenden Sie doch!«

Thekla warf den Kopf zurück: »Ich bin überhaupt keine Freundin von Gedichten«, sagte sie.

Er zuckte die Achseln. »Sache des Geschmacks!«

»Jawohl!«

»Und es gibt guten und schlechten.« Paul war wieder in den herben Ton verfallen, den er ihr gegenüber nie mehr anschlagen wollte.

Dieser kleine Wortwechsel berührte den Fürsten Klemens sehr unangenehm. Er rückte auf seinem Stuhle hin und her, räusperte sich mißbilligend und warf der Gräfin einen bedauernden Blick nach dem andern zu. Plötzlich rief er aus, in der Weise eines nachsichtigen Vaters, der streitende Kinder zu beschwichtigen sucht: »Jedes von euch hat recht – gewissermaßen jedes!

Oh«, wandte er sich ernsthaft zu Marianne, »das kann leicht sein; es trifft sich wohl – – ja, wenn man die bezüglichen Standpunkte ins Auge faßt, trifft sich’s eigentlich immer. Was meinen Sie?« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern erhob sich: »Aber wir müssen ja fort… Auch Sie haben bereits die Ouvertüre versäumt, was freilich nicht für ein Unglück gilt im Burgtheater … Es ist doch heut Ihr Logentag?«

»Nicht der unsere, der unserer Kammerjungfern, denn man gibt ein Trauerspiel. Wir bleiben zu Hause und wollten Sie beide«, Marianne nickte Paul freundlich zu, »bitten, uns Gesellschaft zu leisten.«

»Wir sind bereit! Oh, mit Vergnügen!« rief der Fürst und ließ sich sofort in einen bequemen Fauteuil nieder, der zwischen dem Kamin und dem Arbeitstischchen der Gräfin stand. Sie nahm ihre Tapisserie zur Hand, über welche Klemens viel Schmeichelhaftes zu sagen wußte. Er fand die Zeichnung »wirklich, man muß gestehen! geschmackvoll, und erst die Farben!« – er hatte niemals zwei Farben gesehen, die so gut harmonierten – nicht einmal auf einem englischen Plaid – wie dieses Blau und dieses Grün … Mit hausfreundlichem Behagen und mit dem Interesse für den Inhalt von Nähtischen und Arbeitskörben, das beinahe alle Männer auszeichnet, die Talent zur Weichlichkeit besitzen, begann er das zierliche Necessaire aus Elfenbein zu öffnen und zu schließen, die goldenen Scherchen und Büchschen ein- und auszuräumen; er zog die bunten Seidensträhnchen, die sich die Gräfin zurechtgelegt hatte, durch seine Finger und spielte so lange mit den kleinen Knäueln und Spulen, bis Marianne endlich ungeduldig ausrief: »Ich beschwöre Sie, Klemens, lassen Sie mein Handwerkszeug in Ruhe.«

Er gehorchte resigniert, als ein ritterlicher Mann, der gewöhnt ist, in strenger Zucht gehalten zu werden und gleich wieder den kurzen Zügel zu fühlen, sobald er sich ein wenig gehen lassen möchte. Seine Aufmerksamkeit wandte sich dem »anonymen Brautpaare« zu, wie er Paul und Thekla nannte. Die jungen Leute hatten sich in den Saal begeben.

Thekla nahm Platz am Klavier: die ersten Takte einer Bertinischen Etüde erklangen unter ihren Fingern. Sie spielte rein, nett, mit bewunderungswürdiger Geläufigkeit. Goldene Lichter schimmerten auf den reichen Flechten ihrer blonden, natürlich gewellten Haare; ihr Gesicht nahm einen gehaltenen, aufmerksamen Ausdruck an, jenen Ausdruck, den Paul nicht sehen konnte in ihren Zügen, ohne mit innigstem Entzücken zu denken: Du bist mehr, als du selber weißt, mehr als du scheinst; mehr als die Flachheit des Lebens, das du führest, ahnen läßt.

Er stand ihr gegenüber, legte die verschränkten Arme auf das Klavier, beugte sich vor und versank in die Wonne ihres Anblicks.

O Schönheit! Herzbezwingerin! Herrin, Königin! – Du bist der Frieden, wer kann dir grollen? Du bist der Sieg – wer kann dir widerstehen? Nur kurzsichtige Torheit frägt, ob in der schönen Hülle eine schöne Seele wohne. Die Hülle ist nur darum schön, weil die Seele sie schön belebt. Eins sind Form und Wesen; sie sind es im Kunstwerk, das hervorging aus Menschenhand, und wären es nicht im höchsten Kunstwerke der Schöpfung?…

Unverwandt ruhten seine Augen auf ihrem edlen Angesichte; sie erhob die ihren zu ihm und sah ihn forschend und etwas besorgt an.

»Sie hören nicht zu – mißfällt Ihnen, was ich spiele… oder hätte ich überhaupt nicht spielen sollen? Ich weiß, Sie lieben Musik nicht immer.«

Sie schloß ihr Notenheft und schob es unter das Pult, das sie langsam niedergleiten ließ. Die kleine Scheidewand, die sie getrennt hatte, senkte sich.

»Thekla«, sprach Sonnberg, »mir gefällt alles, ich liebe alles, was Sie tun. Wissen Sie das noch nicht?«

Heller Freudenglanz breitete sich bei diesen Worten über ihr Gesicht, und sie entgegnete schalkhaft, übermütig: »Gefällt Ihnen auch alles, was ich sage?«

Paul gab keine Antwort; er blickte schweigend vor sich hin und sagte endlich: »Ich nehme heute für einige Tage Abschied von Ihnen, Gräfin Thekla.«

»Sie wollen fort?« fragte sie äußerst erstaunt – »und wohin?«

»Auf das Land, zu meinen Eltern.«

»Werden Sie erwartet? Haben Sie zu kommen versprochen?«

»Nein. Ich will sie überraschen.«

»Ah – Sie stehen mit Ihren Eltern auf dem Fuße der Überraschungen … So ist das!«

Sie schlug einige Töne auf dem Klavier an, leise, ohne Zusammenhang. »So ist das –« wiederholte sie gedehnt. »Ihre Eltern können wohl nicht leben ohne Sie?«

»Daß sie es können, beweisen sie, denn – sie leben.«

»Dann also!« – Sie sah ihn plötzlich an; eine Wolke voll drohenden Ernstes war auf seiner Stirn aufgestiegen; ein Zug bitteren Schmerzes spielte um seine fest zusammengepreßten Lippen, ein Schmerz, dem Zorne gar nah verwandt und gewiß bereit, sich als solcher zu äußern … Thekla ahnte, wußte es, und dennoch! Zum ersten Male war es nicht Furcht, was sich in ihr regte, als sie in sein verfinstertes Gesicht blickte, sondern die halb unbewußt erwachende echt weibliche Lust an einem Kampfe, in dem alle Mittel gelten, an dem Kampfe mit dem Stärkeren – dem Manne.

Ei, dachte sie – du willst mich strafen, willst mir zeigen, daß du unabhängig bist und mich verlassen kannst, wann es dir gefällt?…

Sie verschränkte ihre Arme über dem Pulte, beugte sich vor und drückte ihre Wange auf ihre Hand, während ihr Auge sich zu ihm erhob, der sie liebte.

»Bleiben Sie bei uns«, sprach sie, hielt inne, schien zu überlegen und fügte endlich leise wie ein Hauch, aber mit holder Entschlossenheit hinzu: »Bei mir!«

Sein Blick glitt über ihr demütig gesenktes Haupt, über den jungen schlanken Nacken, die königlichen Schultern, über die ganze vor ihn hingegossene Gestalt, und alle süßen Schauer bewunderungstrunkener Liebe durchzitterten ihn. Sein Herz pochte wie ein Hammer in seiner Brust, er richtete sich auf… Ein ungeübter Trinker, dem der Wein zu Kopfe steigt, der mit Entsetzen seine Herrschaft über sich selbst schwinden fühlt, ruft sich nicht eindringlicher zu: Nimm dich zusammen, wägt seine Worte nicht sorgfältiger, als Paul es tat und als er sprach: »Ich bin heute hart gemahnt worden an eine versäumte Pflicht.«

Hart gemahnt? dachte Thekla – das wagt jemand, das lässest du dir gefallen, und ich lebe in Angst vor dir? – »Sind denn Ihre Eltern so anspruchsvoll?« fragte sie rasch. Auch sie hatte sich aufgerichtet und sah ihm gerade ins Gesicht.

»Das sind sie wirklich nicht!« rief er, »sie sind nur sehr bedauernswerte, alte, einsame Leute. – Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß Sie die Tochter dieser alten Leute werden sollen, liebe – liebe Thekla?« fragte er und reichte ihr über das Pult hinweg die Hand, in welche sie ohne Besinnen die ihre legte.

»Gewiß«, sprach sie, »ganz gewiß.«

Paul begann das Leben zu schildern, das seine Eltern auf dem Lande führten; er schilderte sie selbst mit Wärme und Lebhaftigkeit; er sprach alles aus, was er den Tag hindurch gedacht, und solange er lebte, hatte er wohl nie so innige, herzliche und milde Gedanken gehabt.

»Ich will meinen Eltern von Ihnen sprechen«, schloß er bewegt. »Sie ist es, die mich zu euch schickt, will ich sagen, die mich drängte, euch endlich in eurer Verlassenheit aufzusuchen. Sie werden dafür geliebt und gesegnet werden, Thekla, und wie wird mich das beglücken!«

Während er sprach, hatte ihre Hand wie tot in der seinen gelegen. Als er nun schwieg, entzog sie ihm dieselbe, spielte mit ihrem Taschentuche, legte es ganz klein zusammen, glättete es auf ihrem Knie, und dieweil er dachte: Oh, nur jetzt den Anklang einer weichen Empfindung, nur einen einzigen leisen Herzenslaut! sagte sie: »Ihre Eltern haben sich so lange ohne Sie beholfen, sie werden es noch länger tun … Schreiben Sie ihnen, entschuldigen Sie sich – versprechen Sie ihnen zu kommen.«

Paul atmete tief auf: »Sie haben mich mißverstanden. Ich brauche mich nicht zu entschuldigen, brauche nichts zu versprechen; meine Eltern denken nicht daran, meine Rückkehr zu fordern. Ich selbst wünsche sie wiederzusehen – ich selbst sehne mich …« Er brach ab und fragte plötzlich: »Begreifen Sie das nicht?«

»Nein! Ich begreife nichts, als daß Sie jetzt nicht abreisen dürfen… Abreisen – welch ein Einfall! Was treibt Sie denn fort?«

»Ich meinte es Ihnen auseinandergesetzt zu haben … Mein Gott, wozu rede ich!«

»Und – ich?« fragte sie mit einem langen vorwurfsvollen Blick …

Thekla legte die Verwirrung, die sich in Sonnbergs Zügen malte, zu ihren Gunsten aus. Gibt er schon nach, oder ist es ihm gar nicht ernst gewesen mit seinem Reiseplan? Er will vielleicht nur gebeten werden, ihn aufzugeben, und wäre sehr enttäuscht, wenn Thekla keinen Widerstand leistete. Und zum Widerstand ist sie ja entschlossen!… Es ist freilich ein wenig mühsam, das alles, und der gute Graf etwas schwerlebig. Aber seine Seltsamkeiten werden sich geben, »wenn ihr nur erst verheiratet seid«, meint Mama. Nun denn! Gräfin Sonnberg wird man eben nicht so leicht, wie man etwa – Gräfin Eberstein würde.

Thekla begann eine lebhafte Beredsamkeit zu entfalten. Sie führte ihr ganzes weibliches Rüstzeug von liebenswürdigem Trotz, von anmutiger Würde und wehmütigem Scherze in das Treffen; sie war geistreich und reizend und drohte schließlich auf das unwiderstehlichste mit ihrem Zorne. Paul hörte sie an, aufmerksam, gespannt; er sah ihr in die Augen, auf die lieblich gekräuselten Lippen; er schien auf etwas zu warten, auf etwas, das nicht kam, und seine Miene wurde immer kälter, immer strenger. Warum? warum dieses steinerne Lächeln, dieser mißbilligende Blick? Worin verfehlte es die kluge Rednerin? Was wollte er eigentlich hören, was verlangte er von ihr? Sie erriet es nicht, noch immer nicht! – Und jetzt war sie zu Ende, jetzt wußte sie nichts mehr.

Er aber schien sich grausam an ihrer Ratlosigkeit zu weiden und sagte, sie scharf fixierend: »Nehmen Sie sich in acht! Sie machen mich übermütig. Ich muß glauben, daß Sie den Gedanken nicht mehr ertragen können, acht Tage lang von mir getrennt zu sein. Welche Schwäche, Gräfin, welche Sentimentalität!«

Beim Himmel! Wenn er jemals gewünscht hatte, sie zu erzürnen, jetzt ward ihm der Wunsch erfüllt! Ihre Wangen flammten, sie erhob sich, eine beleidigte Göttin, und sprach in feuersprühender Entrüstung: »Reisen Sie!«

Klemens hatte nicht aufgehört, die jungen Leute zu beobachten und von Minute zu Minute der Gräfin zu berichten: »Er hört ihr mit Entzücken zu – wie sie aber auch spielt! Glockenrein, und immer im Takt, das muß man sagen, diese Thekla… Jetzt hält sie inne – spricht … und er, er brennt! er brennt! Er gäbe Funken, glaube ich, wenn man ihn anrühren würde, wie eine Elektrisiermaschine …«

Der Fürst faltete seine großen weichen Hände, sah die Gräfin an wie ein Andächtiger ein Madonnenbild und fragte: »Wenn diese beiden armen Kinder jetzt vor Sie hinträten und sprächen: Gib uns deinen Segen! – was würden Sie tun?«

»Ich würde ihn unbedenklich geben«, entgegnete Marianne.

»O Himmel!… O herrliche Frau!« rief der Fürst und hätte sich bei einem Haar auf seine Knie niedergelassen. Da schlug Theklas laut gesprochenes: »Reisen Sie!« an sein Ohr, und mit Schrecken sah Klemens das Paar, mit dem er es so gut meinte, nun erscheinen – ach, in nichts weniger als glückseliger Eintracht! Da kamen sie, die Gottbegnadeten, die Schicksalsgeliebten, die füreinander Geschaffenen, beide in großer Erregung, die Köpfe hoch, mit finsteren Stirnen, eines den Blick des anderen vermeidend, und: »Was gibt es denn?« fragte Klemens in scherzendem Tone, eigentlich aber sehr beunruhigt.

»Der Graf verläßt uns; wünschen Sie ihm eine glückliche Reise!« erwiderte Thekla halb abgewandt und machte sich an dem Tische zu tun, auf welchem der Kammerdiener soeben das Teezeug ordnete.

»Verläßt uns?« Klemens konnte das nicht glauben, auch dann noch nicht, als Paul es bestätigte. »Papa und Mama besuchen? Lächerlich!« Der Fürst war im Begriffe, so boshaft zu werden, als er nur konnte; aber Marianne fiel ihm ins Wort.

Sie sah ihren zukünftigen Schwiegersohn freundlich an und sagte: »Sie haben recht! Gehen Sie. Wir werden Sie zwar schwer vermissen, aber wir sagen doch: Sie haben recht, Ihre guten Eltern nicht zu vergessen. Ich kann mir denken, wie die alten Leute von der Hoffnung auf ein solches Wiedersehen leben und von der Erinnerung daran zehren monatelang. Sehen Sie sich während Ihres Aufenthaltes im Vaterhause auch das Persönchen gut an, von dem wir schon einmal sprachen und das ich liebe, ohne es zu kennen. Wenn Sie, wie ich hoffe, bald zu uns zurückkehren, dann werden Sie mir erzählen, ob das kleine Ding eine Individualität besitzt oder nicht!« Sie drohte lächelnd mit dem Finger: »Sie werden es mir ehrlich erzählen. – Ich wiederhole: es tut uns sehr leid, daß Sie uns verlassen, aber wir billigen es von ganzem Herzen. Nicht wahr, Thekla?«

Paul ergriff die Hand Mariannens und drückte einen ehrfurchtsvollen Kuß darauf, der so auffallend lang dauerte, daß Klemens nicht umhin konnte, ein halb verlegenes, halb aggressives Räuspern vernehmen zu lassen und zu denken: Nun – was heißt denn das?

Der Rest des Abends verfloß scheinbar auf das angenehmste. Paul wurde heiter und gesprächig. Thekla, anfangs zurückhaltend, stimmte in den fröhlichen Ton ein, den er angeschlagen hatte; sie lachte so gern! und war trotz ihres majestätischen Wesens, dem man viel mehr Neigung zum Ernste als zur Lustigkeit zugetraut hätte, immer aufgelegt, einen guten Einfall zu würdigen, auf einen Scherz einzugehen. Die beiden Herren empfahlen sich zugleich; der Fürst wollte Paul noch bis zu dessen Wohnung begleiten. Er hatte gar viel gegen ihn auf dem Herzen.

»Hör einmal!« rief er in heller Mißbilligung, als sie auf der Straße angelangt waren. »Ich begreife dich nicht! Ein solcher Zauderer!… Wenn schon abgereist werden muß, warum nicht die Gelegenheit benützen und sagen: Sie kennen mich jetzt – mein Herz – meinen Charakter – und so weiter! Darf ich meinen Eltern die Nachricht bringen … et cetera? Die Gräfin hätte ihre Zustimmung gegeben; alle Not eines provisorischen Brautstandes wäre zu Ende, und ihr wäret im reinen.«

»Wir sind im reinen; es ist alles ausgemacht: wir heiraten uns«, sagte Paul. Die Gasflamme, an der sie vorüberkamen, beleuchtete sein Gesicht, das dem Fürsten ungewöhnlich bleich und von einem wilden Ausdruck beseelt erschien. »Wir heiraten uns«, wiederholte er, »weil sie Gräfin Sonnberg werden will und weil ich verliebt in sie bin … ja, verliebt. – Obwohl sie eine Statue ist, diese schöne Thekla.«

Er hörte nicht einmal die Einwendungen, die Klemens machte, und begann plötzlich mitten in dessen Rede: »Die Torheit hat einmal behauptet, daß Liebe blind sei, und die Gedankenlosigkeit hat es nachgeplappert. Es ist nicht wahr. Liebe hat ein scharfes Auge für den kleinsten Fehler des Geliebten, aber auch das größte Verbrechen würde sie nicht beirren. Sie nimmt es auf mit jedem Feinde, ja es lockt sie, sich zu bewähren, der Hölle zum Trotz! ›Ich sehe dich, wie du bist‹, spricht sie zu ihrem Gegenstande. ›Ich weiß, ich habe zu bestehen keinen Grund, kein Recht; es ist eine Tollheit, daß ich bestehe – aber ich bestehe doch! Ich leide, ich blute, ich verzweifle, aber ich bestehe doch!‹«

»Nun, nun«, sagte Klemens, »es wird so arg nicht sein … Was Statue! – die Mutter ist auch ein wenig Statue, nicht so sehr allerdings, aber ein bißchen doch auch. Mein lieber Sohn, das sind die besten Weiber! Und dann: die Ehe ist für den Mann das Grab, für die Frau die Wiege der Leidenschaft. Übers Jahr vielleicht klagen unsere Frauen über unsere Kälte, oder es hat sich bis dahin das schönste Gleichgewicht hergestellt.«

Der Fürst gab seinen Betrachtungen diesen notdürftigen Schluß, da sie am Haustore Pauls angelangt waren und es zu scheiden galt. Sonnberg eilte, sich reisefertig zu machen, und Klemens schlug wie allabendlich den Weg nach dem Klub ein.

 

In den Abendstunden des zweitfolgenden Tages bewegte sich auf schlechten Wegen ein elender Postkarren, mit mageren, hochbeinigen Mähren bespannt, langsam weiter durch die unwirtbarste Gegend des nordwestlichen Böhmens. Ein öder Winkel in dem schönen Lande! – Rauh wehte der niemals rastende Sturm über den schweren Lehmboden, in dem weder Bäume noch Feldfrüchte recht gedeihen, ein Boden, der emsige Pflege brauchen würde und dem seine spärliche Bevölkerung nur die notdürftigste zuteil werden läßt. Ganze Strecken wie übersät mit Kieseln, Quarzen, Eisensteinen, zwischen denen strauchhohe Disteln ihr ephemeres, aber üppiges Dasein führen. Der Grund durchfurcht von breiten Wasserrissen, von Jahr zu Jahr tiefer ausgeschwemmt durch getaute Schneemassen, die im Frühling als Wildströme von den Höhen herabstürzten. Kümmerliche Kiefernbestände, auf der Ebene und auf den Abhängen zerstreut, Bäume, dreißig Jahre alt und nicht dicker als der Arm eines Mannes, verkrümmt, fahl, vom Markkäfer zernagt – keine Wiese, soweit das Auge reicht, kein freundliches Bächlein, das seine Umgebung erfrischte. Die Ortschaften, durch welche die Straße führt, gleichen eine der andern aufs Haar. Ihre kleinen, aus Tonschiefer erbauten und mit Stroh gedeckten Häuser drängen sich aneinander, als bedürften sie, um nicht umzukippen, der gegenseitigen Stütze. In der Mitte dieser Ansiedlungen liegt der Teich, von knorrigen Weiden mit gekappten Zweigen umgeben, die sich, so gut es geht, in seinem nur selten klaren Gewässer spiegeln. Ob trüb oder hell jedoch, er ist das Juwel des Dorfes, der Vergnügungsplatz der bäuerlichen Jugend und des schwimmkundigen Federviehs.

Der Reisende in der Postkarrete blies ruhig die Wolken seiner Zigarre von sich und tauschte von Zeit zu Zeit ein Wort mit dem Kutscher, der über die grundlosen Wege fluchte und auf seine müden Gäule einhieb. Das Gefährt war jetzt an der letzten Anhöhe angelangt, die es noch zu überwinden galt. Beide Männer sprangen vom Wagen, und während der Postillon neben seinen Pferden herschritt, hatte der Fahrgast mit einigen gewaltigen Sätzen den Rand des Hohlweges erreicht und im Sturmschritte bald darauf auch den Hügelkamm. Oben blieb er stehen, den Blick in die Ferne gerichtet. Ein großartiges und zugleich freundlicheres Landschaftsbild bot sich ihm dar.

Hier wogten die Saaten dichter auf besser bestellten Feldern, Raine und Wege waren mit Obstbäumen bepflanzt, wilde Rosen, blühende Schlehdornhecken schmückten den Saum des Tals, das eine dreifache Reihe bewaldeter Berge von der Hochebene trennte. Diese stieg gegen Westen noch einmal empor, um dann sachte abwärts zu gleiten, ohne andere Grenze als den Horizont. Dort aber, wo Erde und Himmel einander zu berühren schienen, stand eine schwarzblaue Wolke, von dem Glanz der untergehenden Sonne wie mit einem glühenden Ringe feurig und prächtig eingefaßt. Von ihrem dunklen Hintergrunde hob sich ein stattliches Gebäude in verschwimmenden Konturen ab und schimmerte weißlich herüber im Dufte der zitternden Luft. Das ist Sonnberg mit seinen Giebeln und Türmen, es ist das Vaterhaus, das sein Kind, seinen Herrn aus der Ferne grüßt. Paul steht auf seiner eigenen Scholle; der verwitterte Markstein, an den sein Fuß stößt, trägt ein wohlbekanntes Zeichen.

Wie hatte ihm das Herz gepocht als Knabe und als Jüngling, wenn er, an dieser Stelle angelangt, sein altes Heim alljährlich wiedersah und nun nach Monaten voll Arbeit und Mühe fröhliche Ruhetage vor ihm lagen, ein jubelnder Empfang ihn erwartete, offene Arme sich ihm entgegenstreckten, offene Herzen ihm entgegenschlugen. Auch jetzt überkam es ihn mit der Empfindung seiner Jugend. Von einer plötzlichen heißen Ungeduld erfaßt, hieß er den Kutscher langsam auf der Straße weiterfahren, während er selbst querfeldein über die Schlucht und den Steinbruch in gerader Linie auf das Ziel seiner Wanderung zueilte. Es hieß oft mühsam auf- und abwärts klimmen, und trotz der Raschheit, mit welcher er allen Hindernissen zum Trotz vorwärts schritt, war eine Stunde verflossen, bevor er die Mauer des Parkes erreichte.

Außerhalb derselben stand einst ein prächtiger alter Nußbaum; Paul pflegte ihn zu ersteigen und sich an seinen die Mauer überhangenden Zweigen in den Park herabzuschwingen. Den Baum suchte er nun vergebens, er war gefällt worden, ein kurzer Stumpf nur blieb von ihm übrig; einige Schritte jedoch von diesem entfernt befand sich eine regelrechte Bresche, durch welche auch fleißig ein und aus gegangen wurde von zwei- und vierbeinigen Geschöpfen, wie die Spuren im zertretenen Grase und im Schutte deutlich verrieten.

Auf diesem unerlaubten Wege drang Paul in das Schloßgebiet. Die vor ihm Angekommenen waren zwei Kühe und ihre Hüterin, ein kaum siebenjähriges Mädchen. Das Kind trat unbefangen auf den Fremdling zu, reichte ihm die kleine schmutzige Hand und sagte in singendem Tone: »Gelobt sei Jesus Christus!« »Und die Gemeindepolizei!« antwortete Paul. Sofort wandte die Hirtin sich ab, und ihre entrüstete Miene sagte: Den frevelhaften Spaß versteh ich nicht.

Paul betrat das Fichtenwäldchen, durch welches man zum oberen Teil des Parks gelangte. Es war sehr gelichtet. Die schönsten Bäume, ihrer Zweige beraubt, schwankten traurig im Winde; andere hatten sich über kleinere Nachbarn gebogen und erdrückten sie mit ihrer Wucht; noch andere lagen schon umgestürzt auf dem Boden; überall zeigten sich Spuren der Verwahrlosung und der kecken Eingriffe, zu welchen sie herausfordert.

Am Ausgange des Wäldchens, auf einem Wiesenplan, erhob sich, von Jasmin und Fliederbüschen im Halbkreise umgeben, ein schlanker, großblätteriger Ahorn. Er breitete die zierlichen Äste über eine zersprungene und halb in den Boden eingesunkene Bank zu seinen Füßen. Paul hielt plötzlich an; die Bank, den Baum kannte er gar gut. Das war die Stelle, an welcher er vor vier Jahren um sein junges Weib geworben. Hier hatte er sie gefunden, als er – einmal schwach in seinem Leben! – den Bitten seiner Eltern nachgegeben, einen raschen Entschluß gefaßt und gekommen war, die holde Hausgenossin zu fragen: »Willst du’s mit mir wagen, Marie?«

Sie hatte zu dem kühlen Bewerber einen Blick voll Tränen, Angst und Bitten erhoben und geantwortet: »Nein! nein!«

Das klang anders als der Ausbruch des Jubels, der von ihm erwartet worden war, zornige Enttäuschung trieb ihm das Blut ins Gesicht, und heftig rief er: »Warum? sage – warum?«

Das Haupt gebeugt, die schmalen Hände im Schoße gefaltet, lehnte sie sich an den Stamm des Baumes. Sie vermied seinen Blick, ihre Lippen zitterten, doch sprach sie in festem Tone: »Weil du mich nicht liebst und – weil ich dich liebe. Es wäre ein Unglück.«

Was half ihr Sträuben? Er wollte es. Jetzt, nachdem er den ungeahntesten Widerstand gefunden, jetzt wollte er’s!

Sie behielt recht … es war ein Unglück gewesen. –

Paul fuhr mit der Hand über sein Angesicht und flüsterte im Weiterschreiten: »Arme Marie!«

Allmählich hatte der Wind sich gelegt; wie aufatmend nach schwerem Kampfe hoben die Bäume ihre Wipfel und streckten ihr Gezweige im Abendtau. Schläfrig zwitscherten Grasmücken im Gesträuch, ein paar Schwalben schossen pfeilschnell dem nahen Schlosse zu. Der Duft von Millionen Blüten schwamm in der kräftigen Luft; immer lautloser wurde die schummertrunkene Natur; ringsumher überzog sich alles wie mit durchsichtigen grauen Schleiern. Paul war aus dem letzten Laubgange getreten, der ihn noch trennte von dem Blumenparterre vor dem Schlosse. Eine breite Steintreppe mit schwerem Geländer führte von dem Saale im ersten Geschoß in den Garten hinab. Die Tür des Saales stand geöffnet; oben auf der Schwelle schimmerte etwas Weißes, ein winziges Wesen, das zu hüpfen, zu winken schien, und langsam ihm entgegen bewegten sich auf den Stufen zwei dunkle Gestalten …

»Vater! Mutter!« rief Paul und war im nächsten Augenblicke bei ihnen. – Sie wandten sich um, der Greis stammelte den Namen seines Sohnes, über das Gesicht der Mutter flog ein Ausdruck der Verzückung, sprachlos streckte sie die Arme aus, ihre Knie wankten. Paul erfaßte die alte Frau und drückte sie an sich. Der Vater stand neben den beiden, klopfte Pauls Schulter mit schüchterner Zärtlichkeit und ermahnte die Mutter: »So, so – laß ihn – er liebt das nicht – es ist genug –« Er selbst erwiderte kurz die Umarmung seines Sohnes: »Da ist noch jemand«, sagte er und deutete auf ein blasses Kindchen, das der eben stattgefundenen Begrüßung mit bangem Erstaunen zugesehen hatte und das sich nun vor dem fremden Manne hinter dem Türflügel verkroch und die Augen scheu mit seinen blutlosen Händchen bedeckte.

 

In Jahren waren den Dienern des Hauses nicht so viele Befehle und Aufträge erteilt worden als in der ersten Stunde nach Pauls Ankunft. Die Gräfin hatte ihr Leben damit zugebracht, in seinen Zimmern, von den Kissen des Lagers bis zu den Federn auf dem Schreibtische, alles zu seinem Empfange, zu augenblicklicher Benutzung bereit zu halten; aber jetzt, wo er da war, in Wirklichkeit, er selbst und nicht nur ein Traum von ihm, jetzt schien es ihr, als sei nichts geschehen, als fehle es überall. Sie ging aus und ein, kaum zurückgekehrt besann sie sich, daß sie noch mit dem Haushofmeister, mit dem Koch zu sprechen habe, und abermals verließ sie das Gemach.

Ihr Mann folgte ihr besorgt mit den Augen; eine sichtliche Unruhe ergriff ihn, sooft sie von seiner Seite wich: »Sie wird sich ermüden, sich krank machen, aber ja, das sind die Mütter – du mußt Geduld haben.«

Seine Hände zitterten, etwas greisenhaft Ängstliches sprach sich in seinem Wesen aus; er hielt inne inmitten eines Satzes, der Faden des Gesprächs entglitt ihm – wie alt war er geworden!

Als man sich endlich, um eine Stunde später als gewöhnlich, im großen Speisesaale zu Tische setzte, mußte noch eine Zeitlang auf das Abendessen gewartet werden. Der gebrechliche Büchsenspanner, der magere Kammerdiener und der asthmatische Bediente schlichen mit den gekränkten Mienen umher, die alte Domestiken annehmen, wenn man sie in ihrer gewohnten Ordnung stört. Der Graf war seit seinem Eintritt in den Saal noch stiller geworden, hielt die Augen gesenkt und erhob sie nur flüchtig, um seiner Frau einen raschen fragenden Blick zuzuwerfen, den sie mit verständnisvollem Nicken beantwortete. Bei einer besonders auffallenden Ungeschicklichkeit des Hofstaats sagte die Gräfin entschuldigend zu Paul: »Hab Nachsicht, die Leute sind nicht gewöhnt – – für den Vater und mich ist Platz genug im kleinen Lesezimmer; wir haben hier nicht mehr gespeist seit dem – seit dem Tode …«

Die Stimme versagte ihr.

»Ja, ja«, murmelte der Greis, und die Tränen, die an seinen Wimpern gezittert hatten, fielen auf seinen Teller herab. Er machte eine unwillige Bewegung mit dem Kopfe, und ein freudeloses, beschämtes Lächeln glitt wie ein verirrter Funke über seine Züge.

Ist es denn möglich? So neu noch dieser Schmerz, so unvergessen noch dieser Verlust?

Wieder trat eine lange Pause ein, auch Paul war still geworden. Die Lampen, die lange außer Gebrauch gestanden, verbreiteten ein schwaches Licht in dem großen Raume; ihr trüber Schimmer beleuchtete die Gesichter der beiden Alten mit fahlem Scheine. Müdigkeit sprach aus ihren verwitterten Zügen – Lebensmüdigkeit, eine tiefe Sehnsucht nach der Ruhe, die auf Erden nicht zu finden ist. Die langersehnte Freude des Wiedersehens mit dem einziggeliebten Sohne, nun war sie erlebt und hatte die glückentwöhnten Menschen tödlich erschöpft. Da haben sie ihn nun, der ihr Abgott, ihr ein und alles ist; nichts fehlt zu ihrer Seligkeit als – die Kraft, sie zu genießen.

Eine traurige Veränderung ist mit ihnen vorgegangen. Sie so gebrochen zu finden, hatte er nicht erwartet.

Pauls Gedanken wanderten nach dem traulichen, duftenden, hellerleuchteten Salon der Gräfin Marianne. Der Tee dampfte in chinesischen Tassen, das englische Silbergeschirr blinkte, französische Konfitüren standen in zierlichen Schalen auf dem geschmackvoll gedeckten Tische. Lautlos schritten die Lakaien ab und zu, der Kammerdiener glitt servierend umher, unhörbar und emsig, lächelnde Dienstfertigkeit in jeder Miene. Die Damen plauderten, Fürst Klemens hörte ihnen zu, stimmte bei, bewunderte, betete an, Gräfin Erlach kicherte und scherzte … Ja, dort konnte Paul sich Thekla denken, hier – nimmermehr! Sie mit ihrer Prachtliebe, ihrer Lebenslust, was soll sie in diesem altmodischen Wesen, in dieser Greisenatmosphäre? Ein unbesiegbares Mißbehagen wird sie ergreifen bei dem ersten Schritt über diese Schwelle, niemals wird sie sich hier heimisch fühlen … Paul möchte das kühle Mitleid nicht sehen, mit dem ihr Blick über die Häupter seiner Eltern hingleiten würde. Die bloße Vorstellung davon… Das Blut schoß ihm heiß in die Stirn, und er biß die Zähne zusammen.

Sein Vater und seine Mutter tauschten leise einige gleichgültige Worte, sahen dabei ängstlich in sein verfinstertes Angesicht und sagten zu sich selber: Es wird ihm nicht wohl bei uns, es kann ihm bei uns nicht wohl werden!

Die Turmuhr schlug zehn. Immer lauter wurde am Kredenztische das Aufziehen und Zuklappen der Laden und Türen, ein unmotiviertes Hin- und Hergehen, immer verständlicher die Mahnung der Dienerschaft: Was zögert ihr solange? Geht schlafen, es ist Zeit!

– Geht schlafen!… Diese Mahnung mag wohl oft wortlos zu den Alten dringen. Niemand verhindert es, niemand steht neben ihnen, der ein Recht hätte zu befehlen: Achtung vor denen, die mir heilig sind!

Die eine, die es getan, ist dahin; die eine, die sie nicht verschmerzen können, die ihre Stütze und ihre Freude war.

Paul erhob den Blick zu dem leeren Platz ihm gegenüber. Zum erstenmal vermißte er die freundlichen Augen, denen er dort immer zu begegnen gewohnt war, die stets so innig gefragt hatten: Bist du zufrieden? Worin haben wir’s verfehlt? Was willst du? Was geht in dir vor?… Augen, die aufleuchteten, wenn er heiter, sich trübten, wenn er mißmutig war. Die liebevolle Ausdauer, mit der sie auf ihm ruhten, hatte ihn oft ungeduldig gemacht, und jetzt – wie wohl hätte es ihm getan, nur einmal hineinschauen zu können in diese klaren, tiefen, treuen Augen!

 

Als der Sohn des Hauses am nächsten Morgen erwachte, war sein Zimmer wie in Licht gebadet. Durch die hohen Fenster fluteten die Strahlen der herrlich aufgehenden Sonne. Es hatte in der Nacht geregnet, große Wassertropfen glitzerten im Grase, auf den Blättern der Bäume, im Kelche der duftenden Blüten. Frisch wehte die Morgenluft, nicht ein Wölkchen stand am Himmel. Paul kleidete sich rasch an und verließ das noch im Schlaf liegende Haus.

Im Hofe kamen ihm seine Jagdhunde entgegen und taten sehr verwundert, als sie ihren Herrn erkannten.

»Da seid ihr ja!« rief er und streichelte ihnen die Köpfe. »Gestern haben sich die Herrschaften nicht blicken lassen. Vorwärts jetzt: allons! allons!«

Sie beantworteten diese Aufforderung mit einem entschuldigenden Wedeln ihrer fleischigen Schwänze und mit einem Gähnen, das gar kein Ende nehmen wollte. Ihre matten Augen sprachen: Bist du gescheit? Wir sind zu dick geworden zu derlei Späßen. Und als Paul seine Einladung wiederholte, krochen die Tiere so rasch, als ihr Körperumfang es gestattete, in ihre Hütte zurück. Erst als er hinweggegangen war, schlüpften sie wieder heraus, setzten sich jedes an einen Pfeiler des Tores und sahen ihm mit liebevollen Blicken nach.

Im Dorfe hatten die Leute bereits ihr Tagewerk begonnen. Der Gemeindehirt trieb die Herde der Weide zu, Weiber füllten ihre Wassereimer am Brunnen, Arbeiter waren auf dem Wege nach dem Felde; alle, denen Paul begegnete, grüßten ihn, hießen ihn willkommen. Die Weiber sahen ihn mit neugieriger Teilnahme an, eine von ihnen rief ihm von weitem zu: »Jetzt sind Sie halt allein!«

In nächster Nähe der Pfarrei und viel ansehnlicher als diese erhob sich ein großes blankes Bauernhaus. Ein gewölbter Bogen trennte es von den Scheunen und Ställen, und durch denselben blickte man in einen weitläufigen Obstgarten mit reihenweis gepflanzten rot und weiß blühenden Bäumen. Vor dem Hause ein schmaler Streifen kurzen, grünen Grases, mit Malven und Levkojen bepflanzt und mit einem netten Holzstakete umgeben. Die Fenster blank gescheuert, der Sockel grau getüncht und über dem ganzen Gehöfte ein Anstrich von ruhigem Behagen und solider Wohlhabenheit, wie sie immer seltener werden »bei uns zulande auf dem Lande«. Aus dem Hause trat ein alter, untersetzter Mann in blauem, bis an die Fersen reichendem Rocke, der, bei jedem Schritte auseinanderflatternd, die schwarze Kniehose und die hohen, glänzend gewichsten Stiefel sehen ließ. Auf dem Kopfe trug der Alte einen niedrigen Hut mit aufgerollter Krempe, an der Weste Silberknöpfe, kurz: es kleidete sich keiner im ganzen Dorfe am Kirchweihfeste so stattlich wie er am Werkeltag. Dafür war er aber auch Balthasar der Große, Balthasar Schießl, der Reiche, Gescheite: ein Mann, der’s mit jedem »Herrn« aufnimmt, eine Handschrift schreibt, die manche Leute sogar lesen können, bei Gott! nebstbei zwölf Melkerinnen im Stalle hat und jahraus, jahrein seine vier Paar Ochsen, einspannen lassen kann. Ein Mann, der einmal, als er nach der Stadt fuhr, um dort Steuern zu zahlen, im Gasthofe zum Adler auf einen Sitz zweihundert Gulden verloren, bar auf den Tisch ausbezahlt, von dem Tage an aber nie mehr eine Karte angerührt hat.

Balthasar eilte in raschen Schritten auf Paul zu und reichte ihm die Hand: »Das ist ja schön, daß Sie einmal wieder zu uns kommen«, rief er. Sofort entspann sich ein Gespräch, und sie wanderten zusammen weiter. Paul fragte nach dem und jenem und erhielt auf die Frage: »Wie geht es ihm?« regelmäßig die Antwort: »Gut.« Nachträglich kam dann: »Dem ersten haben die Schuldner das Haus über dem Kopf verkauft, der zweite, ja, der hat sich versoffen, zieht als Vagabund herum, Weib und Kinder gehen in den Tagelohn. Der dritte … das is halt eine Gschicht – dem sein Sohn, der sitzt.«

»Warum nicht gar! Was hat er denn angestellt?«

Nach Dem Tode – Teil 1

»Es heißt, wissen S’, daß er den Heger erschossen hat.«

»Es heißt! Es wird wohl nicht nur heißen.«

Der Alte schwieg eine Weile, dann sah er Paul von der Seite an, zeigte lachend zwei Reihen Zähne, gelblich wie Elfenbein und fest wie eine Mauer: »Ja sehen S’, ich sag …« Er spreizte die Finger auseinander und setzte seine Hand in eine langsam wiegende Bewegung: »Es kann sein – und es kann auch nit sein.«

»Ich kenn euch!« sprach Paul.

»So?« fragte der Bauer, und in dem einen Worte und dem Blicke, womit er es begleitete, lag eine ganze Reihe spöttischer Zweifel.

Paul fuhr eifrig fort: »Ihr seid immer dieselben! Von der Wilddieberei könnt ihr nicht lassen. Heute wie vor zwanzig Jahren wird nur so hineingehauen in unsere Wälder, werden unsere Wiesen abgegrast …«

»Die meinen auch«, sprach Balthasar.

»Und wo bleibt der Respekt vor fremdem Eigentum? Wann werden die Leute endlich lernen, daß ein Unterschied ist zwischen Mein und Dein?«

Der Alte zog seine Pfeife aus der Tasche und begann ruhig sie zu stopfen. Sie waren jetzt in die Nähe der Schule gekommen. Vor der Tür stand ein junger Mensdi, schäbig, aber stutzerhaft gekleidet, und schäkerte mit einer frech aussehenden Dirne.

»Das ist der neue Schullehrer«, sagte Balthasar in nachlässigem Tone.

– »Der? Der junge Bursch? Der kann ja selbst die Schule nicht absolviert haben.«

»Hat’s auch nit.«

»Wieso? Ist er relegiert worden?«

»Es heißt, daß er, wissen S’, drinnen in der Stadt aus dem Schulzimmer oder von wo Maschinen mitgenommen hat, um dran zu studieren. Aber – vergessen muß er haben, daß sie ihm nit gehören, denn sonst –« sprach Balthasar mit einer pfiffigen Harmlosigkeit, die des größten Schauspielers würdig gewesen wäre –, »denn sonst hätt er sie ja nit verkaufen können.«

»Das wißt ihr?« rief Paul, »und den macht ihr zum Schullehrer? Den duldet ihr?«

»Wir haben ihn nit grad ausgesucht, aber er hat halt ›Prodektion‹, und wenn er einmal dasitzt, bringt ihn selbst unser lieber Herrgott nit weg, das müssen Sie auch wissen, Herr Graf«, setzte Balthasar hinzu, zufrieden mit dem Eindruck, den das Streiflicht hervorbrachte, welches er auf die Ortszustände geworfen.

»Eure Schuld, wenn er dasitzt… Jetzt habt ihr ihn, könnt eure Kinder zu ihm in die Schule schicken!«

»Ich schick die meinen nit.«

»Ihr schickt sie nicht? Existiert vielleicht kein Schulzwang in Sonnberg?«

»Ich zahl halt Straf«, antwortete der Bauer mit ruhigem Lächeln. »Ich kann’s ja tun.«

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander, beide in Gedanken nicht angenehmer Art versunken.

»Wenn die Frau Gräfin«, sagte der Alte auf einmal und fuhr unwillkürlich mit der Hand nach dem Hute, »wenn die Frau Gräfin noch am Leben wäre, so was wär nie geschehen … Und hier –« setzte er in plötzlich verändertem Tone hinzu – »tät es auch anders aussehen!«

Er deutete auf den großen, mit verschwenderischem Luxus erbauten Meierhof, dem sie sich allmählich genähert hatten.

Paul meinte, das könne man doch nicht wissen, aber daß es hier nicht aussehe, wie sich’s gehöre, sei allerdings ausgemacht. In der Tat, darüber konnte kein Zweifel herrschen. Das Vieh in schlechtem Stande, die Gebäude vernachlässigt, die kostbaren Maschinen, die Paul aus England geschickt hatte, zwar noch nicht benützt, aber schon beschädigt, im Freien, jedem Unwetter ausgesetzt, während der Schuppen daneben mit elendem Gerümpel angefüllt war. Alles schmutzig, unordentlich durcheinandergeworfen, alles verwahrlost und weder Knecht noch Magd sichtbar, kein Mensch in der Nähe, den man hätte fragen können: Wie geht das zu?

Balthasar steckte die Pfeife, ohne sie jedoch anzuzünden, zwischen die Zähne, stemmte beide Arme in die Seiten und sagte: »Die Frau Gräfin ist tot, die alten Herrschaften sehen nix mehr – und Sie …« Sein Mund verzog sich ironisch: »Sie haben halt gar zuviel zu tun!«

 

Im Amtshause, das von dem Meierhofe nur durch die Straße getrennt war und das mit seinen zwei Geschossen, seiner verzierten Fassade und seinem französischen Dache einem Schlößchen glich, wurde es plötzlich lebendig. Ein Fenster im ersten Stocke war eröffnet und so rasch wieder zugeschlagen worden, daß die Trümmer zerbrochener Scheiben klirrend zu Boden fielen. Darauf entstand in dem Hause eine Bewegung wie in einer überrumpelten Festung, und endlich erschien auf der Schwelle ein großer, breitschultriger, sehr dicker Mann. Sein Gesicht hatte die Form und den Umfang eines Tellers und die Farbe einer Feuernelke. Als Balthasar den Herrn Verwalter kommen sah, machte er sich eilig von dannen. Die langen Schöße seines Rockes flogen hinter ihm her und waren anzusehen wie die Flügel eines Nachtfalters. Er rückte vor dem Verwalter kaum den Hut, und dieser erwiderte den kurzen Gruß mit auffallender Freundlichkeit. Hingegen vergab er seiner Würde dem Herrn Grafen junior gegenüber nicht ein Jota.

»Der Herr Graf sind da«, sprach er bitter und vorwurfsvoll, »begeben sich stante pede in die Ökonomie, ohne mich haben avisieren zu lassen. Ich darf die Gnade nicht haben, teilzunehmen an der Inspektion.«

»Nur eine Morgenpromenade, lieber Vogel. Allerdings bin ich nicht erbaut von dem, was ich bisher sah und hörte«, erwiderte Paul, teils ergötzt, teils geärgert durch die gewundenen Reden des feierlichen Herrn, den dessen feinfühlende Gemahlin »mein opulenter Mann« zu nennen pflegte.

»Ah – – Insinuationen!…«

»Davon ist nicht die Rede, aber werfen Sie doch nur einen Blick um sich!«

»Das tue ich täglich«, entgegnete der Herr Verwalter mit einem Selbstbewußtsein, als ob es auf Erden nichts Ruhmvolleres geben könne, als Blicke um sich zu werfen. »Jeden vom Dache gefallenen Ziegel, jede gestohlene Latte, Herr Graf, Sie finden sie wieder – im Wirtschaftsjournal. Aber jedoch adaptiert, restauriert darf nichts werden. Wir haben strikten Enthaltungsbefehl. ›Tun Sie nichts ohne meinen Sohn!‹ ist des Herrn Grafen stets von neuem wiederholt erteilte Weisung, der sich fügsam zu erweisen nicht immer ganz leicht fällt.«

»Weniger wörtlich befolgt wäre der Befehl besser befolgt«, versetzte Paul. Er hatte den Rückweg angetreten und eilte rasch vorwärts, belästigt durch die Begleitung des Herrn Verwalters, dem es, wie sein schnaubender Atem verriet, schwer wurde, mit ihm Schritt zu halten.

Am Ausgange des Dorfes befanden sich einige elende Baracken: die sogenannten »herrschaftlichen« Arbeiterwohnungen. Der Wind blies durch ihre zerklüfteten Mauern, die Scheiben ihrer kleinen Fensterchen waren zerbrochen oder erblindet, die Löcher in ihren halb abgedeckten Dächern gemahnten an aufgerissene hungrige Mäuler. Den Vordergrund des Jammerbildes bildete eine Pfütze, in der eine zahlreiche Kinderschar mit einem Vergnügen herumpatschte, das gewisser Geschöpfe würdig gewesen wäre, die mit mehr Beinen und mit weniger Gottähnlichkeit ausgestattet wurden als das menschliche Geschlecht.

»Unsere Arbeiterwohnungen!« rief Paul entrüstet – »durfte auch hier nichts hergestellt werden?… Es war schon der Wunsch meiner verstorbenen Frau, daß sie niedergerissen und an ihrer Stelle neue, geräumigere errichtet würden.«

Der Verwalter lächelte: »Hauptsächlich aus Moralitätsgründen. Die Frau Gräfin nahmen Anstoß daran, mehrere Personen unterschiedlichen Geschlechtes in nicht unterschiedlichen Lokalitäten unterbringen zu lassen. Die hochgeborene Frau vergaßen, daß derlei hier überall vorkommt. Wir haben Wohnungsnot in Sonnberg. Die Leute sind es gewöhnt, und warum sollte es der Arbeiter besser haben als der Bauer? Es würde schlechtes Blut machen, zu befürchten geben … Auch kann niemand der Gutsverwaltung zumuten, sich zur Tugendwächterin der Bevölkerung aufzuwerfen, und haben die Leute ihren eigenen Standpunkt – wie der Herr Graf dereinst selbst der hochseligen Frau Gräfin zu bedenken zu geben geruhten.«

So war’s. Mehr aus Widerspruchsgeist als aus Überzeugung hatte Paul damals die Forderung abgewiesen, die seine Frau an ihn gestellt, eindringlich im Namen der Menschlichkeit. Einen Augenblick war er nahe daran gewesen, einzuwilligen, denn im stillen gab er ihr recht. Aber war er der Mann, der gemahnt zu werden brauchte an die Erfüllung einer Pflicht? – Würde er sie als solche anerkennen, ihr wäre längst Genüge geschehen. Demnach hatte Paul ein rasches Ende gemacht, erklärt, er wolle von der Sache nichts mehr hören, und über die Subjektivität der Weiber gespottet, die immer sich, immer nur sich in die Lage der andern versetzen können und unfähig sind, irgendein Verhältnis anders als persönlich zu beurteilen.

»Mitleid ist Schwäche!« hatte er ausgerufen, plötzlich aber innegehalten, weil ihm ein Zweifel an der Unbestreitbarkeit dieses Satzes aufgestiegen war, weil ihn beim Anblick des Schmerzes, den sein Starrsinn verursachte, eine Regung überkommen hatte, derjenigen beinahe ähnlich, die er soeben verdammt …

Die junge Frau jedoch, wie hatte sie in seiner Seele zu lesen gewußt! Das leise, kaum eingestandene Gefühl, das zu ihren Gunsten sprach, wie war es sogleich von ihr erraten, wie dankbar sein Erwachen begrüßt worden! Wie hatte sie, mit neubelebter Hoffnung auf den Sieg ihrer guten Sache, die Arme um den Hals ihres Mannes geschlungen, den Kopf an seine Brust gedrückt, voll zärtlicher Begeisterung zu ihm emporgesehen und ihm zugeflüstert: »O du Schwächling!«

Ja, ja, sie war anmutig gewesen und hold. – –

Paul fuhr auf aus seinem Sinnen. »Nehmen Sie an«, sprach er zu seinem Begleiter, »daß ich heute anders denke als zu jener Zeit, daß ich einsehe – kurz, suchen Sie die Pläne zu den Arbeitshäusern hervor, die meine Frau damals zeichnen ließ. Der Bau soll sogleich in Angriff genommen werden.«

Der Beamte steckte mit Würde die Hand in seine Weste. »Herr Graf scheinen einen Systemwechsel vorzunehmen zu beabsichtigen. Vielleicht intensive Wirtschaft, was hier nicht geht!… Wovon Herr Graf sich selbst genugsam überzeugten und was ich mehrmals die Gnade hatte zu bemerken, dereinst bei unvergeßlichen Gelegenheiten, in denen mir das Unglück widerfuhr, mir das Mißfallen der hochseligen Frau Gräfin zuziehen zu müssen.«

Ein hämischer Zug verunstaltete seine feisten Lippen, sooft er von der Verstorbenen sprach.

Dieser hoffärtige Mensch hat sie gehaßt und grollt ihr noch nach dem Tode. Er verzeiht es ihr nie, daß sie so manchen Kampf gegen ihn siegreich geführt. Siegreich, denn sie war stark, mutig und verständig, dachte Paul, und entließ den Herrn Verwalter mit einigen trockenen Worten.

 

Der Graf und die Gräfin erwarteten ihren Sohn zum Frühstück im Saale, beide nach altem Brauche sorgfältig gekleidet vom frühen Morgen an. Sie im grünen, glatten Seidenkleide, das nur wenig über die Knöchel reichte und die ausgeschnittenen, kreuzweise gebundenen Schuhe sehen ließ. Die lichten Locken, zu beiden Seiten der Stirn aufgesteckt, das feine Gesicht mit den milden Augen, von einer weißen Haube umgeben, die ganze Gestalt wie aus einem Rahmen eines edlen, aber verblaßten Bildes getreten, das vor dreißig Jahren gemalt worden war. Ihr Mann, der sie einst um Kopfeslänge überragte, sah jetzt nicht größer aus als sie. Seine breite Brust war eingesunken, seine Schultern hatten sich gewölbt. Aber schön geblieben waren die herrlichen Züge seines Gesichtes. Den kahlen Scheitel des wie aus Erz geformten Hauptes umgab ein Kranz von schneeigen Haaren, und wie weiße Seide schimmerte der Bart, der auf die Brust des Greises niederwallte.

Der Graf stand am Fenster, auf seinen Stock gelehnt, und sprach: »Er ist schon draußen, schon seit sechs Uhr, sieht sich um, wird Befehle geben, Einrichtungen treffen, alles nach der neuen Art, alles anders als zu unserer Zeit und tausendmal besser. Ja, der versteht’s! Der Vogel wird sich freuen, daß er einmal wieder etwas lernen kann.«

Die Gräfin meinte, dies sei ohne Zweifel der Fall und könne nicht schaden; es gäbe so manches zu tun in Sonnberg, und gewiß, ein gewöhnlicher Mensch fände hier ein überreiches Feld für seine Tätigkeit, aber für Paul ist das alles zu kleinlich, zu gering, der bescheidene Beruf eines Landwirts, der füllt einen solchen Mann nicht aus. »Wie lange er wohl bei uns bleibt?« schloß sie ihre Betrachtungen.

»Danach darf man ihn nicht fragen!« rief der Greis. »Du weißt, das kann er nicht leiden. Nur keinen Zwang, nur keine Liebestyrannei!«

Paul war während dieser letzten Worte eingetreten, und man setzte sich an den Frühstückstisch. Er freute sich im stillen über das frischere Aussehen der beiden alten Leute. Die Nachtruhe, die ihnen der Gedanke gar süß gemacht, daß ihr Sohn einmal wieder unter demselben Dache mit ihnen schlafe, hatte sie unsäglich erquickt.

»Bist du zufrieden mit unserer Wirtschaft?« fragte der Graf. »Vogel hält strenge Ordnung, ein braver Mann, das muß man ihm lassen … auch fehlt uns nichts als bares Geld. Das Erträgnis, sagt Vogel, das Erträgnis! – ja, leider. Es wird ihm oft schwer, die großen Regiekosten zu bestreiten.«

– Die Regiekosten? dachte Paul, o lieber Vogel! o lieber – Schurke! Du hast dich sonderbar ausgewachsen. Meine Abwesenheit bekommt dir schlecht. – Er antwortete ausweichend, vorläufig könne er noch keine Meinung abgeben, in einigen Tagen aber, nächste Woche vielleicht …

»Nächste – Woche?!« wiederholten seine beiden Eltern zugleich. So lange bleibt er? O Glück! Sie dachten nicht mehr, ein solches zu erleben. Die Mutter vergaß in ihrer Freude einen Augenblick die stets geübte Zurückhaltung, die sich jede Äußerung der Zärtlichkeit versagte. Sie glitt schmeichelnd mit den Fingern über den auf dem Tische ruhenden Arm ihres Sohnes. Es lag in dieser schüchternen Berührung so viel unterdrückte Liebe, ein so unaussprechlicher Dank, daß Paul innig sprach: »Gute Mutter!« ihre Hand ergriff und an seine Lippen drückte. Die Gräfin warf einen Blick voll seliger Überraschung auf ihren Gatten, dessen Angesicht dieselbe Empfindung aussprach. Sie schienen sich zu fragen: Was ist das? – was ist geschehen? Ist er’s denn noch?

»Je länger du bleibst, um so besser für uns«, sagte der Graf. »Du bist immer willkommen, lieber Sohn.«

Den alten Leuten war seltsam zumute – ungefähr wie frommen verzückten Betern, zu denen der steinerne Heilige, vor dem sie knien, sich plötzlich niederbeugen und Worte des Segens über ihre Häupter sprechen würde.

Die Unterhaltung geriet ins Stocken, das Frühstück war beendet; Paul ging auf sein Zimmer mit der Absicht – an Thekla zu schreiben.

Nur eine Spanne Zeit trennte ihn von dem Augenblick, in dem er Abschied von ihr genommen, es hatte sich darin so gut wie nichts begeben, nicht ein Ereignis, das der Mühe lohnte erzählt zu werden, und doch: ihm schien sie lang und inhaltsreich, diese kurze, stille Zeit; er meinte fast in ihr mehr erlebt zu haben als in seinem ganzen übrigen Dasein. Womit soll er seinen Brief beginnen, den ersten, den er an Thekla schreibt? Meine Gedanken haben Sie nicht verlassen … Eine Lüge! – Ich habe meine Eltern wohlauf gefunden… Was kümmern sie seine Eltern? Diese schlichten Leute werden ihr immer fremd bleiben und sie auch ihnen.

Aber das Kind, dessen Mutter sie werden und das sie lieben lernen soll, von dem will er ihr sprechen. Nur muß man kennen, was man beschreiben will, und er hat die Kleine noch kaum gesehen; wie absichtlich schafft man sie ihm aus dem Wege, erwähnt ihrer nicht, gedenkt es ihm wohl noch, daß er dereinst zu behaupten pflegte, kleine Kinder seien ihm ein Greuel. Das war damals nur halb und ist jetzt gar nicht mehr wahr, Eltern jedoch glauben nichts schwerer, als daß mit ihren Kindern eine Veränderung vorgehen könne. Paul erhob sich, um zu schellen, und in diesem Augenblicke wurde nach leisem Pochen die Tür geöffnet, und sein Töchterchen trat ein. Es klammerte sich dabei mit einer Hand an den Rock seiner Wärterin, in der anderen trug es einen Veilchenstrauß. Einen solchen, ganz so gebunden, legte Marie dereinst täglich auf seinen Schreibtisch: dort hatte er ihn soeben halb unbewußt vermißt.

»Das bringen wir dem Papa«, sprach die Wärterin. Sie beugte sich zu der Kleinen nieder und suchte sich von ihr loszumachen. »Es ist ein guter Papa, geh zu ihm, mein Engel, geh!«

Es entstand ein langer, in flüsterndem Tone geführter Wortwechsel zwischen Mariechen und ihrer Pflegerin, dem Paul damit ein Ende machte, daß er der letzteren befahl, sich zu entfernen.

»Und das Kind?«

»Das bleibt bei mir.«

»Ganz allein? Es ist so scheu – Sie sind ihm so fremd –«

Unwillig wiederholte Paul seinen Befehl, die Frau erlaubte sich keine Einwendung mehr, sie ging bestürzt von dannen, und ihr Zögling, noch viel erschrockener als sie, hatte nicht einmal den Mut, sich nach ihr umzuwenden.

Wie eine kleine Bildsäule blieb Mariechen regungslos an ihrem Platze und senkte das traurige Gesicht tief auf ihre Brust.

Arme, verkümmerte Pflanze! dachte Paul. Wachsest auf zwischen einem geschlossenen und einem schon geöffneten Grabe … Du brauchtest frischere Lebensluft!

Eine Regung mitleidiger Liebe schlich sich in seine Seele; er sah die Furcht, mit der sie unter den gesenkten Lidern hervor jede seiner Bewegungen beobachtete, und wagte nicht, sich ihr zu nähern. Sie voll Angst vor ihm, er voll Bangen vor ihrer Angst – so standen Vater und Tochter einander gegenüber.

Endlich kniete er nieder und sprach mit gedämpfter Stimme: »Mariechen, komm zu mir!«

Das Kind rührte sich nicht, aber die Nerven um seinen Mund begannen zu zittern, ein schwerer Seufzer hob seine Brust, und es brach in unaufhaltsames Weinen aus. Paul ging an seinen Schreibtisch zurück. Sie mag sich ausweinen! Hat ohne Ursache angefangen, wird ohne Ursache aufhören!

Aber die Ausdauer eines schluchzenden Kindes ist ein länger Ding als eines Mannes Geduld. Er wollte die seine nicht verlieren, er hielt sich die Ohren zu, versuchte seine Aufmerksamkeit auf zwei Goldamseln zu lenken, die im Grün der Linde vor seinen Fenstern wie Lichtstrahlen von Ast zu Ast huschten, bemeisterte sich lange, zuletzt aber wandte er sich doch um, sprang auf und herrschte dem Kinde zu: »Schweige!«

Es gehorchte augenblicklich, hielt inne mitten im Schluchzen und sah aus großen, in Tränen schwimmenden Augen erschrocken und flehend zu seinem Vater empor. Und dieser Blick traf ihn wie ein Stoß in das Herz. So hatte die Mutter des Kindes ihn angesehen, damals, als sie zum ersten und letzten Male nein zu ihm gesagt, an jenem Tage, der unwiderruflich über ihr Leben entschied… Da war die Erinnerung wieder, deren er sich mit dem Aufgebote seiner ganzen Willenskraft nicht zu erwehren vermochte, die ihn wie mit einem Zauberbanne umwob, seitdem er den heimischen Boden betreten hatte.

Kann das Weib, das im Leben hilflos zu seinen Füßen lag, ihn nach dem Tode besiegen? Fleht sie aus dem Jenseits zu ihm? sieht ihn mit unvergeßlichem Blicke aus dem Auge ihres Kindes an – ihres kleinen Abbildes… nein, kein Abbild, sie selbst, in jedem Zuge des Gesichtes – in jeder Bewegung sie, so ganz und gar sie selbst, als gäbe es eine rückwärts schreitende Zeit, ein umgekehrtes Leben, das wieder zur Kindheit führt …

Im Innersten erschüttert, hob Paul das Kind in seinen Armen empor und drückte es an sich. Allein der Ausbruch seiner Zärtlichkeit erweckte Entsetzen und dieses seinen Grimm. »Fürchte dich nicht!« rief er in törichtem Zorne, »fürchte dich nicht!« während er sie tödlich erschreckte. Alle Glieder des zarten Körperchens begannen zu zittern, die Augen wurden starr, und in großer Bestürzung setzte Paul das Kind auf den Boden hin. Da blieb es still, mit herabhängenden Armen, das Köpfchen tief gebeugt – auf das Allerschlimmste gefaßt, recht wie ein junges Vöglein im verlassenen Neste, über dem ein Gewitter schwebt … Schon hat der Blitz gezuckt – wann trifft sein Strahl?

O du allmächtige Hilflosigkeit! du wehrlose, vor der alle Kraft des Starken sich auflöst in einen Strom des Erbarmens!

»Sprich«, flüsterte Paul, »sprich nur ein Wort – oder weine, Kindchen! weine – ich bitte dich …«

Sie bleibt still, stumm, leblos … Atmet sie denn? In namenloser Spannung hält er seinen Atem an, um dem ihren besser zu lauschen – – da läßt sich im Nebenzimmer das Trippeln kleiner emsiger Schritte vernehmen, das Gebimmel einer winzigen Schelle… Mariechen horcht plötzlich auf, an der Tür wird ein Kratzen laut, gebieterisch einlaßheischend – und das Kind erhebt den Kopf, ein schwaches Rot tritt auf seine Wangen, es schlägt freudig die Händchen zusammen und – »Kitty!« ruft es aufjauchzend.

Paul öffnete die Tür, und an ihm vorbei schoß ein zottiges Hündchen und sprang mit lautem Gebelle auf das kleine Mädchen zu. Es umhüpfte sie, leckte ihr die Hände und das Gesicht, sprang wieder davon, streckte die Vorderbeine von sich, soweit es konnte, bog das Kreuz ein, bellte, sah sie an und keuchte mit herabhängender Zunge.

Und sie – wie sie es lockte! wie sie es rief mit liebkosenden Namen, wie sie es mit ihren beiden Ärmchen umschlang, seinen Kopf an ihre Brust drückte und wiegte mit ernsthafter Zärtlichkeit.

Ja, dem kann sie schöntun! der steht in ihrer Gunst … Man könnte ihn beneiden … Paul lächelte über seine kindischen Gedanken – es ist weit mit ihm gekommen: er ist eifersüchtig auf einen Hund.

Unmutig schellte er der Wärterin und befahl ihr, die Kleine hinwegzuführen. Er wandte sich ab, als es geschah; was brauchte er zu sehen, wie gern sie von ihm ging?

 

Einmal wohl fällt uns die Liebe vom Himmel, einmal – und nicht wieder. Hast du die Gottesgabe nicht zu schätzen gewußt – jetzt heißt es um sie werben, um sie dienen … Der Veilchenstrauß war auf den Boden gefallen, Paul hob ihn auf und legte ihn neben sich auf den Schreibtisch. Er begann einen neuen Brief an Thekla, aber es stand in den Sternen geschrieben, daß auch dieser nicht beendet werden sollte. Von der Straße herüber drang ein sonderbares Geräusch. Als ob zehntausend Wespen schnarrten, als ob zehntausend Hornissen brummten und dazwischen ein Dudelsack pfiffe, war es anzuhören. Ein Geräusch, in seiner Art nicht minder berühmt als die Luftmusik auf Ceylon, nur besser erklärt von Gelehrten und selbst von Ungelehrten, denn sobald es sich vernehmen ließ, wußte jedermann auf eine Viertelmeile in der Runde: der Freiherr von Kamnitzky fährt über Land! Und was da rasselt, quiekt und stöhnt, es ist seine historische Kalesche. Ein edles Vehikel, ein ehrwürdiges Denkmal aus der Vergangenheit. Wann es erbaut wurde – »die jetzigen Kinder denken’s nicht!«

In Form und Farbe glich es der Hälfte eines Tiroler Apfels und war mit dunkelbraunem Tuche – das aber aus neuerer Zeit stammte, denn es zählte keine fünfundzwanzig Jahre -gefüttert. Es schwebte in wolkennaher Höhe auf Schneckenfedern, ein mächtiger Radschutz hing an schwerer Kette unter dem Kasten. Vorgespannt waren ein paar dicke, kurzhalsige Schimmel mit Beinen wie Säulen; ansehnliche Gäule, die, nach dem Zeugnis ihres Herrn, »einmal ins Kugeln gekommen, einige Meilen auf oder ab nicht weiter regardierten«.

Der Freiherr von Kamnitzky hatte immer einen Spaß auf den Lippen und ein paar Silbergulden in der Tasche, war deshalb sehr beliebt bei der Dienerschaft in Schloß Sonnberg, die sich um die Ehre riß, den Schlag seiner Kalesche zu öffnen und das aus mehreren Stufen bestehende Trittbrett herunterzuschlagen. Kamnitzky war eben im Begriffe, diese fliegende Treppe zu betreten, als Paul aus dem Schlosse geeilt kam, um ihn zu begrüßen.

»Was der Teufel!« rief der Freiherr und blieb wie versteinert stehen.

Paul half ihm herab: »Ich werde dich doch nicht umsonst nach Wien reisen lassen«, sagte er.

»Umsonst nach Wien? mich? – sei so gut und sag das deinen Eltern – umsonst … O das ist wieder – o freilich … verzeih, aber so albern reden doch nur gescheite Leute«, rief Kamnitzky voll Entrüstung und versäumte auch diese Gelegenheit nicht, den »gescheiten Leuten« eins anzuhängen.

Er fragte einen Diener – nicht Paul, mit dem sprach er vorläufig kein Wort mehr –, wo der Herr Graf sich befinde, und wünschte angemeldet zu werden. Eine Höflichkeit, die er nie außer acht setzte, ebensowenig als der Graf jemals versäumte, ihm darüber Vorwürfe zu machen. Aber es geht eben nichts über eine gute, altgewohnte Art, das Gespräch anzuknüpfen, und so wurde denn auch heute wie immer der Gastfreund mit den Worten empfangen: »Sich anmelden lassen? Alter Mensch, was fällt dir ein?«

Bei Tische war Kamnitzky lustig bis zur Ausgelassenheit, aß und trank ansehnlich, machte die schlechtesten Witze, ohne ein einziges Mal darüber zu erröten. Seine gute Laune und sein guter Appetit erweckten das innigste Wohlgefallen der alten Leute. In Bestürzung jedoch gerieten sie, als er nach dem Speisen begann, über die Regierung zu schimpfen; sie besorgten sehr, Paul könne das übelnehmen.

»Er meint nicht dich«, sagte der Greis beruhigend zu seinem Sohne.

»Bitte um Verzeihung! Wohl mein ich ihn und sein ganzes, ihm nachbetendes Gelichter«, rief der erregte Freiherr.

Er stellte sich mit dem Rücken an den kalten Kamin, versenkte beide Hände in die Hosentaschen und setzte seinen Oberkörper in regelmäßige Schwingungen. Die Schöße seines Rockes, die er unter den Armen hielt, bewegten sich dabei wie zwei schwarze Ruder in der Luft. Er hatte den Kopf zurückgeworfen und eine lange Virginia zwischen die Zähne geklemmt, die wie gewöhnlich nicht ins Glühen kommen wollte. Sein kühnes Gesicht drückte die höchste Kampflust aus.

»Euch alle mein ich, politische Doktoren, Verjüngerer, Verbesserer des Staates, Baumeister … ja, saubere Baumeister!… Flicken einen Riß in der Mauer, reparieren am Dache und merken nicht oder tun, als ob sie nicht merkten, daß die Fundamente wanken… Wißt ihr, wie das Fundament heißt, auf dem ganz allein ein festes Staatsgebäude sich errichten läßt? Rechtsgefühl. An dem fehlt’s bei uns … Gesetze macht ihr? Zeitvergeuder! Gesetze haben wir genug, aber die Leute, die sie befolgen, die sollen noch geboren werden. – Was Gesetze! sagen wir. Gesetze kommen vom Staat, der unser Feind ist, der den einzelnen auffrißt, wie Ugolino seine Kinder auffraß – um ihnen den Vater zu erhalten. Vorteil, dauernden für den Wohlhabenden, augenblicklichen für den armen Teufel, auf den gehen wir aus. Wie’s dem Allgemeinen, dem großen Ganzen tut, das – hol’s der Kuckuck! Was kümmert’s uns?«

Er hielt inne, dunkelrot und keuchend, und fuhr sogleich wieder heftig fort: »Bevor dieses Kampf-ums-Dasein-Evangelium ausgerottet ist, heißt all eure Tätigkeit salva venia nichts!… Aber freilich – wer steigt gern vom First in den Keller… und daß der First von selbst zum Keller kommt, dazu hat’s ja für euch noch keine Gefahr… Wäre auch eine verfluchte Arbeit da unten. Getan müßte sie werden, und verschüttet, und wieder getan, und wieder verschüttet; und hundertmal das scheinbar Vergebliche zu tun, müssen ein paar hundert Männer den Heldenmut haben, die Heldenkraft!… Ein stilles Wirken – unscheinbar, unbewundert. Ein Leben voll Müh und Selbstverleugnung ginge drauf, und wenn’s zu Ende wäre, spräche keiner: Seht hin, was der geleistet hat! – Viel später erst, ein Enkel deiner Enkel freute sich vielleicht: – Sieh da, die Luft wird rein – das Volk wird brav; es gibt Handwerker, die Wort halten, ehrliche Krämer, einsichtige Bauern. Wer hat die Saat zu diesen bescheidenen Tugenden ausgesät unter uns?… Das haben – von langer Hand her – schlichte Männer getan, die sich geplagt haben, redlich, im Dunkel der Niedrigkeit, wohin kein Strahl des Ruhmes dringt; ihre Namen weiß man nicht …

Wen reizt ein solcher Lohn?! Es ist zum Lachen – der lockt keinen Hund vom Ofen, geschweige denn einen glänzenden Redner von der beifallumrauschten Bühne herunter!«

Die alten Leute horchten verblüfft und hielten die Augen auf ihren Sohn gerichtet.

– Er läßt den kindischen Menschen faseln, dachten sie, plötzlich wird er sprechen und ihn schlagen, mit einem Wort. Aber Paul schwieg und sagte endlich nur: »Man könnte dir zwar manches einwenden, allein im ganzen hast du so unrecht nicht.«

Seine Eltern sahen einander lächelnd an: – O dieser Paul! – Welche Güte, welche Nachsicht mit dem armen streitsüchtigen Toren, der aus seinem Mausloch die Welt reformieren will. Kamnitzky jedoch wurde nun völlig wild.

»So unrecht nicht?« rief er. – »Wahrhaftig?… Da meint man immer: Wenn man nur einmal einen von ihnen erwischen könnte und zur Rechenschaft ziehen, gleich hieße es: Das alles wissen wir besser als du! Wollen helfen, werden’s schon… Wir kennen unser Ziel – den Weg dahin, den zu wählen überlasse uns – davon verstehst du nichts. Das wär ein Wort, das sich hören ließe! Aber: Du hast recht… Schämt euch … das ist ein schöner Trost!«

»Geh – geh«, sagte Paul, zog ein Feuerzeug aus der Tasche und hielt Kamnitzky ein brennendes Zündhölzchen hin, an dem dieser mit unsäglicher Mühe seine Zigarre wieder für einige Augenblicke zum Glimmen brachte.

»Na«, sprach er nach einer Weile, »nichts für ungut.« Er wurde plötzlich sehr rot und sehr gerührt, reichte Paul die Hand und beteuerte, daß sie »deswegen doch« die Alten bleiben würden. Bald darauf nahm er Abschied, und Paul mußte ihn ein Stück Weges in seinem Wagen begleiten. Hier fühlte der Freiherr sich als Wirt und entfaltete eine hinreißende Liebenswürdigkeit. Nachdem sie sich getrennt hatten, erhob sich Kamnitzky in seiner historischen Kalesche und winkte seinem Freunde, solange er ihn noch sehen konnte, mit seinem bunten großen Taschentuche die freundlichsten Grüße zu.

 

Zurückkehrend durch die hallenden Gänge, kam Paul an den Gemächern vorüber, die seine Frau bewohnt hatte. Er blieb stehen, legte die Hand auf die Türklinke, sie gab seinem Drucke nach – ein kurzes Zögern, ein kurzer Kampf mit sich selbst, und er setzte seinen Fuß auf die Schwelle, die er nicht mehr betreten hatte, seitdem der Tod sie überschritten. – So vergessen sind diese Räume, daß man nicht einmal daran denkt, sie abzuschließen; der Zerstörung anheimgefallen, dem unablässigen ruhelosen Kampf der Natur gegen jedes Werk der Menschenhand. Paul war auf einen traurigen Anblick gefaßt, aber er hatte geirrt. In den stillen Gemächern zeigte sich nicht eine Spur des Unbewohntseins. Sie lagen freundlich da, von den Strahlen der untergehenden Sonne erleuchtet. Der Abendhauch schwebte durch die geöffneten Fenster über die reichgefüllten Blumenkörbe, durchwürzte die Luft mit zarten Düften, bewegte die weißen Vorhänge. Spiegelblank glänzten die Dielen, Teppiche waren allenthalben ausgebreitet, jede Kleinigkeit befand sich an ihrem gewohnten Platze; alles war so sorgsam geordnet, so liebevoll gepflegt, als wenn auch hier täglich, stündlich eine Wiederkehr erwartet würde.

Langsamen und leisen Schrittes ging Paul durch das Vorzimmer, den Salon und betrat das Schlafgemach.

Bei seinem Erscheinen erhoben zwei Personen sich rasch von dem Kanapee in der Tiefe des Zimmers, und Entschuldigungen flüsternd glitten sie hinaus wie Schatten.

Seine Eltern!…

Sie feiern hier ihre Feste der Erinnerung, finden einen Widerschein entschwundenen Glückes in der Betrachtung von Gegenständen, die der Verstorbenen gedient, ihren teuersten Besitz ausgemacht haben. Sie lebt ihnen in dieser Umgebung, lebt in ihrem liebsten Gedanken, in dem Gedanken an ihn, von dem hier alles Zeugnis gibt. Er war der Gott dieses stillen Heiligtums, aus dem die Priesterin geschieden ist. Wohin er blickt, tritt ihm sein Bild entgegen – als rosiges Kind, als Knabe mit Peitsche und Ball, als Jüngling im Studentenrocke mit leuchtenden Augen und kühn zurückgeworfenem Haar, als Mann in der Ruhe der Kraft, im Vollbewußtsein ungemessenen Selbstvertrauens … Das war er als Bräutigam, und ein verwelkter Myrtenkranz hängt an dem Rahmen des Bildes.

Das altertümliche Glaskästchen in der Ecke enthält Erinnerungen an ihn, Geschenke von ihm. Sie hat alles mit gleicher Sorgfalt bewahrt. Die Wiesenblume, auf einem Spaziergange gepflückt, und das Diamantenkreuz, das er ihr am Hochzeitstage gab, hatten für sie denselben Wert.

Ja, über dieses Herz hat er geherrscht … da war er Gebieter – Schicksal… Ein ungütiger Gebieter, ein hartes Schicksal!

Der hohe Schrank am Pfeiler war geöffnet; ihre Bücher standen darin. Eine kleine, aber auserlesene Schar. Mit stolzen Geistern hatte sie verkehrt, die bescheidene Frau. Paul schlug einen oder den andern Band auf; ein Wort an den Rand geschrieben, eine flüchtige Bemerkung, an und für sich nichts, aber bedeutungsvoll durch die Stelle, an welcher sie stand, bewies, daß ein sehendes Auge auf diesen Blättern geruht. Dieses junge Weib, fast noch ein Kind, ganz allein auf sich selbst angewiesen, hatte sich mit mutigem, wahrheitsuchendem Verstand an ernste Lebensfragen herangewagt, hatte den erratenden Blick besessen, der sich ohne Zögern mit rascher Sicherheit auf das Wesen der Dinge richtet. Ihr Geist, den Paul so hoffärtig übersah, war ein dem seinen ebenbürtiger gewesen. Wie herrlich hätte diese reiche Seele sich entfaltet im Sonnenschein der Güte, im milden Hauche des Verständnisses …

Zu spät – zu spät erkannt!

Ich war allein in deinen Armen, ich starb vor Sehnsucht an deiner Brust, tönten die Stimmen der Stille; das Leblose beseelte sich, um es ihm zuzurufen in den verlassenen Räumen, in denen der Atem ihrer Liebe ihn umwehte.

Oh, daß sie lebte! eine Stunde nur, nur einen Augenblick! so lange nur, daß er ihr sagen könnte: Ich weiß jetzt, was du littest – ich erfuhr es auch!

Aber es ist vorbei, sie ruht in einem Frieden, den nichts mehr stört, nicht einmal ein Gedanke der Liebe, der sie einst beseligt hätte, nicht einmal ein Schrei flammender Reue – nicht einmal das Schmerzenswort, das Erlösungswort: Verzeih!

Paul warf sich in den Lehnsessel vor dem Schreibtische und stützte den Kopf in seine Hand. Da blitzte ein leuchtender Punkt ihm entgegen, ein letzter Sonnenstrahl fiel herein und streifte den vergoldeten Schlüssel, der an der Schreibtischlade stak. Langsam zog er ihn heraus. Der feine Staub, der gleichmäßig verteilt auf allen Gegenständen lag, die sie enthielt, bewies, daß sie nicht geöffnet worden war – lange nicht. Vielleicht nicht mehr, seitdem die Verstorbene den Brief hineingelegt, der ihm zuerst in die Augen fiel: sein letzter, eiliger Abschiedsgruß. – »Ich kann nicht mehr kommen, wir marschieren morgen«, hieß es darin. Das Papier war zerknittert, einzelne Buchstaben waren verwischt… Wie viele Küsse mußten darauf gebrannt haben, wie viele Tränen daraufgefallen sein! – Die Hand zitterte, mit der Paul den Brief beiseite legte und, mechanisch eine Mappe öffnend, in derselben zu blättern begann. Zwischen anderen Papieren fand er ein zur Hälfte beschriebenes Blatt – Mariens wohlbekannte Schriftzüge, das Datum: drei Tage vor ihrem Tode, die Aufschrift: »Lieber Paul!«

 

»Du hast fort müssen ohne Abschied. Ich dachte wohl, daß es so kommen würde, und das hat mich neulich feige gemacht. Jetzt bin ich stark und mutig, wie du es warst und leicht sein konntest, weil du dachtest, ich seh sie alle in wenigen Tagen wieder.«

 

Nein – er hatte es nicht gedacht, er hatte sie betrogen. Er war mit dem Entschlusse gegangen, vor der langen Trennung nicht wiederzukehren, er wollte sich nur den Ärger und die Pein eines tränenreichen Abschieds ersparen.

Sie kämpfte heldenmütig mit sich selbst, aber daß sie kämpfen mußte, schon das verdroß ihn. Unwillig wandte er sich ab, mit harter Stimme wiederholend: »Weine nicht!«

Ach, sie gehorchte ja. Sie blickte ihm mit starren, trockenen Augen nach, kein Laut des Schmerzes drang aus ihren festgeschlossenen Lippen. Nur die Arme streckte sie unwillkürlich nach ihm aus, beugte sich vor – inbrünstig flehte ihre stumme Gebärde: O komm zurück!

Er hatte sich an der Tür flüchtig umgesehen, und flüchtig hatte ihr Anblick ihn gerührt… fast wäre er umgekehrt, hätte ihr einen Abschiedskuß gegönnt, fast wäre er schwach geworden. Aber er unterdrückte die unmännliche Regung, er blieb stark, er ging – der Unglückselige!…

Er las weiter.

»Eine große Ruhe ist über mich gekommen, eine göttliche Zuversicht. O wüßtest du, wie gut ich weiß: Du wirst mich lieben! Um des Kindes willen, mein Paul, das ich dir bei deiner Rückkehr in die Arme legen werde. Dieser seligmachende Glaube hilft mir über die Trennung hinweg, erfüllt mich mit freudiger Stärke. Du mein alles, mein Herr, mein Freund, ich erlebe die Stunde, in welcher dein erwachtes Herz mir entgegenschlägt, deine ganze Seele mir zuruft: Komm!«

 

»So komme denn!« rief Paul mit einem wilden Schrei. Er sprang auf, er streckte in wahnsinniger Sehnsucht die Arme aus. Beschwörend, Unmögliches erflehend erhob er sie zum Himmel und ließ sie dann plötzlich sinken mit einer Gebärde der Verzweiflung. Da ergriff es ihn, schrecklich, hoffnungslos -eine Erkenntnis, nie wieder auszurotten, eine Reue, nie zu stillen, ein unentrinnbarer Schmerz: Du hast Unschätzbares besessen und nicht zu würdigen gewußt. Er erbebte am ganzen Leibe, er preßte die Hände an seine schweratmende Brust …

Draußen in den Bäumen begann es leise zu rauschen und sich zu bewegen, eine frische Luftwelle strich durch das Gemach. Vom Garten herauf ertönte das fröhliche Lachen des Kindes. Paul raffte sich zusammen, ging festen Schrittes auf das Lager zu und schlug die Vorhänge auseinander. – –

… Seine Eltern erwarteten ihn in banger Sorge. Eine Stunde war, zwei Stunden waren vergangen. »Neun Uhr«, sagte der Vater. Die Gräfin legte ihre Arbeit weg, ergriff sie wieder, rang angstvoll die Hände in ihrem Schoße.

»Wo bleibt er?« nahm der Greis wieder das Wort – »noch immer bei ihr?«

Die Gräfin erhob sich und verließ schweigend das Zimmer.

Sie kam nach einigen Augenblicken mit verstörter Miene zurück.

»Was ist geschehen?« fragte ihr Mann, der ihr ganz außer Fassung entgegenkam.

»O Karl! er liegt auf den Knien vor ihrem Bette und weint.«

 

Am folgenden Tage schrieb Paul an Gräfin Marianne einen warmen Brief; er erging sich darin nicht in Selbstanklagen, er sprach nicht von einem heißersehnten Glück, das er der Pflicht zum Opfer bringen müsse. Einfach und lebendig schilderte er den Eindruck, den die Heimkehr ins Vaterhaus auf ihn hervorgebracht, und gestand, daß er Thekla nicht zumuten könne, das Leben zu teilen, welches er von nun an zu führen entschlossen sei.

Die Antwort blieb aus. Acht Tage später jedoch stellte Fürst Klemens sich in Sonnberg ein. »Sie versteht dich, sie, die alles versteht, nur nicht – mich zu lieben«, sprach er zu Paul. »Und Thekla, nun wir wissen ja – Statue! Gleichgültig übrigens ist es ihr nicht. Ich aber, so leid mir’s tut, ich meine: besser spät als zu spät.«

Sein Aufenthalt war von kurzer Dauer. Gräfin Neumark hatte sich bereits nach Wildungen begeben, und er brannte vor Ungeduld, ihr dahin zu folgen, wozu ihm zum erstenmal die Erlaubnis erteilt worden.

»Ich nehme Alfred mit«, sagte er … »Weißt du, daß meine Absicht ist, dem Burschen jetzt schon das Majorat abzutreten? – Warum soll ich ihn warten lassen auf meinen Tod? Und dann – eine Gräfin Neumark möchte ich Fürstin Eberstein werden sehen. Die Mutter will nichts davon wissen, vielleicht daß die Tochter… Darüber indessen ist jetzt nicht an der Zeit … Und du wirst ja hören –«

Der Fürst empfahl sich bei den alten Leuten, die ganz entzückt waren von seiner Liebenswürdigkeit, und küßte die kleine Marie, die sich’s gefallen ließ, denn das scheue Vögelchen war in den letzten Tagen fast zutraulich geworden.

Am Ausgange des Parks, wohin der Wagen bestellt worden war, nahmen die Freunde Abschied. Als die Equipage in die Biegung der Straße einlenkte, wandte Klemens den Kopf zurück, um Paul noch einmal zu grüßen; aber dieser war bereits umgekehrt und ging seinem Töchterchen entgegen, das mit offenen Armen auf ihn zugelaufen kam.

Meine Erinnerungen an Grillparzer

Daß andere Dinge tun, die uns ganz unbegreiflich erscheinen, darüber wundert und – tröstet man sich. Aber selbst einmal etwas getan haben, das wir heute unbegreiflich, verwegen und lächerlich finden, das ist eine Quelle beständiger Pein.

Ich weiß das aus Erfahrung. Wie war’s möglich? Wie hast du es nur tun können? frage ich mich, und so uralt ich bin, steigt mir die Schamröte ins Gesicht.

Ist es eine bei einer Frau im reifen Alter, die ich zu Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts doch schon war, unerhörte Naivität gewesen oder die ungeheuere Überschätzung eines eben geborenen papierenen Kindes, genug, es ist geschehen: ich habe Grillparzer, den ich erst vor kurzem persönlich kennengelernt hatte, gefragt: »Herr Hofrat, darf ich Ihnen ein Theaterstück, das ich geschrieben habe, vorlesen?«

Ob er ein Zeichen des Unwillens gegeben, ob er mich nur erstaunt angesehen hat, weiß ich nicht mehr. Aber die Erlaubnis, vorzulesen, erhielt ich und erschien denn auch schon am folgenden Tage mit meinem Manuskript.

Und nun, nicht um einen Hauch weniger deutlich als damals, sehe ich ihn vor mir am Schreibtisch sitzen, klein und schmal in seinem alten Lehnsessel, mit dem Rücken gegen das Fenster. In seinem ehrwürdigen Gesicht alle Zeichen überstandener Leiden, einer schmerzvollen Ergebung. Mit ein paar gütigen Worten hatte er mich ermutigt anzufangen, und ich las und las und wagte kein einziges Mal, ihn fragend anzusehen. Er hatte ein blaues Taschentuch in seinen feinen, schlanken Händen, mit dem er sich fortwährend beschäftigte, das er auf den Schoß legte, entfaltete, zusammenknüllte, wieder entfaltete. Und gerade nur bis zu diesem Taschentuch erhoben sich manchmal meine Augen. Aber mein Herz schwoll vor Entzücken, wenn er von Zeit zu Zeit »gut« oder sogar »sehr gut« sagte. Mehr als einmal fragte ich, ob ich ihn nicht ermüde und aufhören solle. Nein, er wollte das Ganze hören. Am Schluß schlug er einige geringe Veränderungen vor, fällte aber ein Urteil über die Arbeit nicht.

Mit sehr gemischten Gefühlen trat ich den Heimweg an. Sehr bald aber gab es keine Mischung mehr. Die Reue über das Wagnis, das ich unternommen hatte, stellte sich nicht langsam ein, sie kam plötzlich, stürzte über mich her wie ein wildes Tier über einen träumend Dahinwandelnden. Grillparzer hatte mein Stück gewiß miserabel gefunden, und es ist ja miserabel. Wie konnte ich darüber in Zweifel sein? … Ich weiß, daß ich jeden Bettler, dem ich begegnete, um sein gutes Bewußtsein beneidete. Ihm wäre es doch nicht eingefallen, dem größten jetzt lebenden Dichter ein selbstverfaßtes Drama vorzulesen.

 

Große Menschen, die größten, Goethe an der Spitze, haben gegen die Reue geeifert. Dennoch wage ich meine kleine Stimme zu erheben und zu sagen: Heil dem Herzen, das sie empfinden kann! Ist eine Wendung vom Unrechten zum Rechten denkbar ohne vorhergegangene Reue? Was mich betrifft, unter den vielen Anfällen dieses unschätzbaren Übels, die ich je erlitten, hat der über mein Vorleseattentat auf Grillparzer besonders gute Früchte getragen. Nie mehr ist es mir eingefallen, seine Teilnahme für eine meiner Arbeiten anzurufen, und er wußte, daß es aus Ehrfurcht und Schonung geschah.

Die Zahl der Strebenden, die sich an ihn herandrängten und von denen jeder zu seinem berufensten Nachfolger erklärt werden wollte, war groß, und seine Nachsicht, seine Scheu wehzutun war unermeßlich. Wenn man ihm dann die üblen Folgen dieser Nachsicht vorhielt, wurde er ärgerlich: »No ja, wenn ich einem nicht grad gesagt habe: Sie sind ein Esel! rennt er herum und erzählt, ich hätt ihn gelobt.«

In seiner Güte fühlte er sich von Zeit zu Zeit bewogen, mich zu fragen, was ich denn jetzt arbeite, gab sich aber stets mit einer ausweichenden Antwort zufrieden.

Ich erinnere mich, ihm einmal erwidert zu haben: »Weiß nicht, weiß selbst nicht, vielleicht eine Novelle. Einige meiner Freunde behaupten, ich hätte mehr Talent zur Novelle als zum Drama.«

Er lächelte. Wie gern sah ich dieses ganz einzige, halb mitleidige, halb sarkastische Lächeln auf seinem teuren, tiefernsten Angesicht!

»Ja, ja. Aus Ihrer alten Haut möchten Sie heraus und wissen noch nicht, in welche Sie hineinkriechen sollen.«

Besuche anzumelden war nicht Brauch im Hause Fröhlich. Die vortreffliche Jungfrau Susanne Kirsch, »der Edelstein« genannt, Köchin und Pförtnerin, öffnete die Tür und hat mich nie anders begrüßt als mit einem Lächeln, das von einem Ohr zum andern schwebte. Sie deutete freundlich nach rechts, wenn ich fragte: »Ist der Herr Hofrat –?« und nach links, wenn ich fragte: »Sind die Damen zu Hause?«

Wie bei ihm, hatte meine Freundin Baronin Knorr mich auch bei ihnen eingeführt, und sie besuchen zu dürfen war mir ein Glück.

Ein kleines Vorzimmer bildete den Eingang zu ihrem Bereich, in dem eine fast klösterliche Einfachheit herrschte, in dem man sich aber von einem Reichtum umgeben fühlte, den höchste irdische Pracht und Herrlichkeit nicht verleihen können. Man war versetzt in eine Atmosphäre des Wohlwollens, der Güte, des regsten geistigen Lebens und hatte beim Anblick des schlichten Raumes und seiner lieben alten Bewohnerinnen den Eindruck eines nachgedunkelten Gemäldes, in dem das Auge des Verständnisses und der Liebe noch deutlich erkennen konnte, wie hell seine Farbentöne einst gewesen und wie anmutig und hold seine Gestalten. Die drei Schwestern in ihrer übereinfachen Kleidung erschienen mir wie Priesterinnen, denen ich voll Ehrfurcht nahte. Sie sahen ja meinen abgöttisch verehrten Dichter täglich, verkehrten mit ihm, sie sagten: »Der Grillparzer«, wenn sie von ihm sprachen. Es geschah offen und herzlich, sie wußten ja, daß mein Interesse für jedes Wort und jede Kunde von ihm der tiefsten Bewunderung und Begeisterung entsprang.

Am liebsten fast hörte ich Anna, die älteste der Schwestern, erzählen. Sie redete gescheit, gut und gern, ohne eine Spur von Geschwätzigkeit, so recht aus der Fülle lebendiger Erinnerungen wie ein Reicher, der viel gibt und noch mehr zu geben hätte. Irgend etwas zu beschönigen fiel ihr nicht ein, ebensowenig aber zu tadeln; sie sprach von den vielen Wunderlichkeiten des Dichters beinah so liebevoll wie von seinen großen Eigenschaften. Das schwere Blut hatte er von seiner Mutter geerbt, das war sein Unglück, unter dem er litt und leiden machte. Ein Meister der Selbstquälerei, zerpflückte er eine der kleinen Freudenblüten, die ihm noch geblieben waren, nach der andern.

Was die Musik ihm bedeutete, weiß jeder, der den »rhythmischen Zauber« seiner Verse empfunden hat. »Die Musik der älteren Zeit, das ist für mich nicht Musik, in ihr liegt mein Leben, in ihr rauscht meine Jugend«, sind seine eignen Worte. Die Musik hatte ihn mit den Schwestern Fröhlich zusammengeführt. Durch Anna und Josephine, beide hochgeschätzte Gesangs- und Klavierlehrerinnen, hatte er Schuberts Lieder kennengelernt. Er war ein guter Klavierspieler, phantasierte mit sehr viel Talent. Vor einigen Jahren noch hatte es ihm Vergnügen gemacht, täglich eine Stunde mit Anna zu musizieren. Sie kam zu ihm herüber, und sie spielten vierhändig Symphonien von Haydn, Beethoven, Mozart. Einmal nun hatte sie wie gewöhnlich Platz genommen am Klavier, Noten aufgelegt und wartete. Grillparzer blieb an seinem Schreibtisch sitzen, rührte sich nicht, und als sie endlich fragte: »Nun, ist’s heute nichts, wird nicht gespielt?« schüttelte er den Kopf: »Heute nicht und überhaupt nicht mehr.« – »Ja, um Gottes willen, warum denn nicht?« – »Meine Finger sind steif geworden, es geht nicht mehr.« – »Und gestern ist’s doch noch gegangen. Was Ihnen nur einfallt, Grillparzer!«

Sie lachte ihn aus, wurde im Scherz böse und auch im Ernst, bat innigst, inständigst, doch nicht einer Laune nachzugeben. Schad um jedes Wort. Er hat seine Hände nie wieder aufs Klavier gelegt.

Es war aus von einem Tag zum andern und für immer.

So vergrub er vorzeitig ein Talent, dem er noch manche schöne Stunde hätte verdanken können. Aber das ist der ganze Grillparzer: der Reichtum im Ausüben einer Kunst hat abgenommen, und auf die Überbleibsel legt er keinen Wert. Nicht anders hält er’s mit der Poesie, und ohne die Dazwischenkunft der drei Getreuen wären uns viele seiner geflügelten Worte vorenthalten worden.

Es ist seine Gewohnheit, beim Frühstück allerlei Verse auf Papierschnitzel zu kritzeln, die er jämmerlich zerknüllt und auf das Kaffeebrett wirft. Die Verse haben einer momentanen Stimmung Ausdruck gegeben, ihre Aufgabe ist erfüllt, nun fort mit ihnen. Aber Susanne legt die dem Untergang Geweihten in die Hände ihrer Gebieterinnen; sie werden entfaltet, gelesen, geordnet. Wenn eine hübsche Anzahl beisammen ist, lernt Anna sie auswendig, geht zu Grillparzer hinüber, stellt sich in Positur und spricht: »Der kleine Deklamator ist da.«

Vielen Dank erntet sie für ihren Vortrag nicht, meistens heißt es: »Schon gut, schon gut. Sein S’ noch nit fertig?«

Aber ein Befehl, die kleinen Dichtungen geheimzuhalten, wurde nicht gegeben, sie dürfen Freunden mitgeteilt werden, und viele von ihnen haben schon bald nach ihrem Entstehen eine Wanderung durch ganz Wien angetreten.

Durch ein schmales Gelaß, in dem zwei Reihen dicht angefüllter Bücherschränke standen, gelangte man in Grillparzers Wohnzimmer. Es war geräumig, bildete ein regelmäßiges Viereck und hatte zwei Fenster, die in die Spiegelgasse sahen. An der linken Wand stand das mit einem dunkelgeblümten Rahmenüberzug bedeckte Bett und an derselben Seite, in der Nähe des Fensters, schräg ins Zimmer hineingerückt, der große Schreibtisch, vor dem ich Grillparzer nie schreibend getroffen habe, immer nur neben ihm, lesend, zurückgelehnt in seinen bequemen Lehnsessel. Der Aufsatz des Schreibtisches trug eine Reihe meist alter Bücher und eine Damenuhr in einem kleinen Gestell, ein Wiener Spindelührchen aus den Jahren zwischen 1830 und 1840. Wie kommst du hierher, du einziger Luxusgegenstand, in diese Klause eines Bedürfnislosen? Aus Frauenhand vielleicht? Sollst du im leisen Vorwärtseilen an eine Stunde erinnern, schöner als alle, die du noch anzeigen kannst? So habe ich sie oft dringend gefragt. Aber auf Gedankenfragen geben Uhren selbst ihrer treuesten Liebhaberin keine Antwort.

An der Wand rechts, unter einem Stiche des schönen Bildes Jenny Linds von Magnus, trauerte seit Jahren schon der verstummte Flügel. Derselbe, auf dem der Dichter vor längst entschwundener Zeit mit seiner musikalisch hochbegabten Mutter Tondichtungen großer Meister gespielt, selbst schaffend, während er ihre Schöpfungen genoß. Da war es auch, daß seine größte Dichtung, die dem Werden entgegenstrebte, Das goldene Vlies, Gestalt gewann; »die Gedanken-Embryonen verschwammen mit den Tönen in ein nicht beschreibbares Ganzes«, heißt es in seiner Selbstbiographie.

An der Wand den Fenstern gegenüber lehnte in dunkler Bescheidenheit ein kleines Sofa, im Halbkreis umgeben von seinen Angehörigen, einigen Stühlen und einem schmalen Tische, dem Frühstückstische. Da trank Grillparzer den Kaffee, den er sich selbst bereitete, da schärfte er seine Epigrammpfeile. Die Morgenstunde war ihm stets die fruchtreichste gewesen und trug ihm jetzt noch manchen Gedanken ein, der ihn und seine Zeit und wohl manche folgende überleben wird.

 

Fräulein Kathi hatte mir zwar versichert, daß Grillparzer meine unberufene Vorleserei nicht übelgenommen habe, aber dennoch ließ ich längere Zeit vergehen, bevor ich es wagte, abermals an seine Tür zu klopfen.

»Herr Hofrat, darf ich kommen?« Keine Antwort. Er war so versunken in das Lesen eines Buches, daß er meine Frage überhörte. Ich wiederholte sie, an der Tür stehenbleibend. Da fuhr er auf, förmlich erschrocken, und ich dachte bestürzt:

Bravo, ein neues Unglück, ich habe ihn gestört!

»Verzeihen Sie mir nur, Herr Hofrat …«

»Nichts zu verzeihen«, sagte er freundlich. »Setzen Sie sich.« Er deutete auf einen Stuhl, der ihm gegenüber an der Seite des Schreibtisches stand. »Ich werde Ihnen etwas vorlesen, aus diesem Buche, aus Lope de Vega.«

»Ach, Herr Hofrat, ich Unglückliche verstehe kein Wort Spanisch.« – »Das macht nichts. Hören Sie zu wie einer Musik, hören Sie nur die Melodie dieser Verse.« Er begann zu lesen und las lange, und es war eine Wonne. Weich und bestrickend, leidenschaftlich, ergreifend drang die Melodie der Dichterworte an mein Ohr, ein gesprochener Gesang. Und während der greise Poet vorlas, breitete sich über sein Gesicht, in das vom Leben so tiefe Furchen eingeprägt worden, ein lichter Schein des innigsten Entzückens, ein Ausdruck seligen Genießens des fremden Kunstwerks, wie es nur den ergreifen und erfüllen kann, der selbst ein Schöpfer ist und auch im Nachempfinden schöpferisch.

In meinem hohen Alter halte ich gern Umschau nach den glücklichen Stunden, die das Schicksal mir gegönnt hat, und zähle dann die Stunden, in der mir Grillparzer in einer mir fremden Sprache eine Szene aus einem mir fremden Drama vorlas, zu meinen weihevollsten und schönsten.

Am Ende legte er das Buch auf den Schreibtisch, preßte die Hand darauf und sagte ganz durchdrungen: »Alles, was ich geschrieben habe, gäbe ich um diese einzige Szene.«

Ich war so frei zu bezweifeln, daß dieser Handel sehr vorteilhaft für ihn wäre, und meinte sogar: »Wer weiß, ob Lope de Vega nicht sagen würde, wenn er noch etwas sagen könnte: Alle meine siebenhundert Komödien gäbe ich um den ersten Aufzug des Ottokar.«

Grillparzer machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, in der das blaue Taschentuch wieder fähnchenartig flatterte:

»Ach was – der Ottokar. Ich hör, daß der Wagner ihn gut geben soll und daß viel applaudiert wird. Der Anschütz hat ihn auch gut gegeben, und die Leute haben gelärmt und gejubelt. Aber mir war schon alle Lust an Arbeiten dieser Art genommen worden. Von dem halben Dutzend Stücke aus unsrer Geschichte, die mir im Kopf herumgegangen sind, habe ich kein einziges mehr aufgeschrieben. Wissen Sie denn, wie das gewesen ist mit diesem Premysliden, zu dem mir der Stoff gleichsam mit beiden offenen Händen entgegengekommen war?«

Er begann zu erzählen.

Was wir heute wissen von dem Schicksal, das König Ottokars Glück und Ende vor und nach seiner Aufführung auf dem Burgtheater erfahren, war damals teils nur wenigen bekannt, teils vergessen. Die Selbstbiographie Grillparzers lag noch eingeschlossen in seinem Schreibtisch, die Literaturgeschichte hatte noch nicht hineingeleuchtet in das Dunkel von Torheit und Böswilligkeit, das dem Dichter die Freude an seinem Werke verdarb und ihn einen Sieg als Niederlage empfinden ließ.

Ich hörte das alles zum ersten Male, hörte es aus seinem Munde, war ergriffen, erschüttert, empört. In ihm wirkten die zahllosen Bitternisse, die er erlitten hatte, lebendig nach, aber in seine Anklagen mischten sich allmählich Selbstanklagen. Einen Teil der Ursachen seines Mißgeschicks lud er seinen eigenen Schultern auf, schob sie auch auf Fehler, die seinem Werk anhafteten, stellte sie ins schärfste Licht und verurteilte sie schonungslos. Den Schlußakkord seiner Schmerzenslieder bildete dann das halb trostlose, halb versöhnliche: »Sei’s!« das mich immer mit tiefer Rührung erfüllt hat.

Nach und nach wurde er beinah heiter und erzählte sogar eine Anekdote: Am Tage der ersten Aufführung des Ottokar war das Stück auch im Druck erschienen. Man wußte, daß die Zensur es erst nach zwei Jahren, auf speziellen Wunsch der Kaiserin Karolina Augusta, freigegeben hatte, die Neugier war aufs höchste gespannt, und es wurden zwischen Morgen und Abend neunhundert Exemplare abgesetzt. Auf dieser Höhe konnte das Interesse sich natürlich nicht lang erhalten, aber auch später gab es noch Leute, die das Stück gern lesen wollten, wenn sie nur gewußt hätten, wie man sich’s verschaffen kann.

Grillparzer war vor mehreren Jahren in einer Gesellschaft einem alten aristokratischen Würdenträger, einem herzensguten Mann, vorgestellt worden, der für einen besonderen Freund der Literatur galt. Er freute sich sehr, den Dichter kennenzulernen, reichte ihm die Hand und sagte: »Unser berühmter Poet! … Ist mir ein Vergnügen, ja, ja … Habe alle Ihre Stücke gesehen und gelesen, ja, ja! – auch gelesen –, nur den Ottokar, den konnt ich nie zu leihen bekommen.«

 

Einmal fand ich den Dichter in übelster Laune an seinem Schreibtisch stehend. Er hatte sich beim Rasieren in den Zeigefinger der linken Hand geschnitten, und Kathi Fröhlich war damit beschäftigt, die kleine Wunde zu verbinden. Grillparzer erschwerte ihr diese Aufgabe außerordentlich, mahnte zur Eile, fuchtelte mit dem blessierten Finger hin und her. Kathi sagte nur: »Aber, Grillparzer, sein S’ doch ruhig!« und wickelte an dem kleinen Verband und knüpfte an ihrem Zwirnfaden. Sie war sehr ärgerlich, doch mir fiel auf, daß sie während der ganzen Prozedur, die eine Weile dauerte und auch für mich etwas peinlich war, kein einziges Mal nach mir hinsah, mich nicht mit einem einzigen Blicke zum Zeugen der Unausstehlichkeit anrief, die unser vielgeliebter Dichter bei einer geringfügigen Gelegenheit zu entfalten imstande war.

Sehr wenig Frauen hätten sich diese Genugtuung versagt. An sie kam offenbar nicht einmal die Versuchung dazu heran, und das war schön und nobel und flößte mir Bewunderung ein.

Überhaupt warf das unbedeutende Erlebnis ein Streiflicht auf die Beziehungen dieser beiden. Er verletzt infolge eigener Ungeschicklichkeit; sie hilfreich und fürsorglich und zum Dank unwillig angebrummt. Ein kleiner böser Zufall vermochte ihn zu verstimmen und widerwärtig zu machen gegen seine Umgebung. Seine Empfindlichkeit war eben beispiellos, ihm tat, was weh tut, ganz besonders weh, und schlimmer noch als mit physischen ging es mit moralischen Leiden. Ihnen standen alle Pforten seiner Seele offen, ungehindert stürmten sie hinein, brannten, wühlten, und ihre Spuren verwischten sich nie. Die Freude und das Glück hingegen konnten ihm nur langsam nahen, denn er verstand es meisterlich, ihnen auf jede Weise den Weg zu kreuzen, zu verlegen. Wenn sie aber trotz allem doch anlangten, da waren und nicht wegzuleugnen, dann wußte er wenigstens irgendein Übles an ihnen zu entdecken, einen Mangel an Lieb und Güte, einen Stachel im Lorbeerkranz, einen Tropfen Gift im Labetrunk des Ruhmes.

Von der Nachhaltigkeit, mit der ein peinlicher Eindruck auf ihn wirkte, hat Betty Paoli mir erzählt.

Zur Zeit, als Grillparzer noch Gesellschaften besuchte – es war lange her –, fand er sich auch manchmal im Hause Frau von Fleischls ein, wo Betty Paoli, wie ein Familienmitglied aufgenommen, lebte. Im Auftrag ihrer Freundin hatte sie ihn zu einem Abend gebeten, an dem Friedrich Halm einem kleinen Kreise Auserlesener seine letzte Arbeit, ein episches Gedicht, vorlesen wollte. Dabei legte er natürlich den größten Wert auf Grillparzers Anwesenheit, und Betty Paoli war hoch erfreut, mitteilen zu können, daß er die Einladung annehme und kommen werde.

Halms Gedicht hieß Die Brautnacht, und den Stoff dazu hatte ihm eine Begebenheit geboten, die sich einst in Genua zugetragen.

Halms Dichtung wurde eingeleitet durch eine meisterliche Schilderung in hellklingenden Versen.

Die Vermählung der schönen jungen Orsini mit einem Sohne des Hauses Doria ist glanz- und prunkvoll begangen worden. Die Neuvermählten treten aus der Kirche, vom Jubel Tausender begrüßt. Rauschende Festlichkeiten füllen den Tag aus, am Abend endlich bleibt das junge Paar allein. Zwei selige Menschen halten einander umschlungen und preisen ihr Geschick. Nicht ein Glück von kurzen Tagen ist ihnen geschenkt – vor ihnen liegt ein ganz reiches Leben, eine ganze sonnige Zukunft. Unter Küssen und Kosen kommt der jungen Frau ein kindischer Einfall. Sie will noch spielen, erhascht, gefangen werden. »Gute Nacht!« ruft sie lachend und enteilt. Und er geht ein auf ihre mutwillige Laune, gewährt ihr einen Vorsprung und folgt ihr dann nach. Spähend durchschreitet er die lange Zimmerreihe, betritt das Brautgemach – es ist leer. Nun ergreift es ihn: Sie betet in der Kapelle! Er eilt dahin und findet auch hier alles öde und totenstill. Sein Unmut wallt auf, bald auch ein qualvolles Bangen … Er scheucht die Diener aus dem Schlafe; man sucht, man ruft – allumsonst. Der Tag bricht an, vergeht, ein zweiter … Sie ist verschwunden, verflogen wie eine Lichterscheinung. In Nähe und Ferne werden Boten ausgesandt, Kundschafter nach allen Weltgegenden, keine Spur von ihr wird entdeckt. Der letzte Hoffnungsschimmer ist erloschen, verzweifelt verläßt Doria seine Heimat, nimmt Kriegsdienste und findet, den er sucht, in der Schlacht – den Tod.

Jahre und Jahre vergehen. Neue Generationen blühen auf; nur noch Sage sind ihnen Glück und Leid der alten. Und wieder soll im Palast Orsini eine Vermählung gefeiert werden. Ein junges Brautpaar durchwandert die Räume, in denen es hausen wird, wählt, bestimmt, ordnet an. Da ist, anstoßend an das Schlafgemach, ein Erker, ein hübscher Raum, der verdient geschmückt zu werden; nur beengt ihn eine große alte Truhe, und die muß fort. Sie wird gerückt, der Deckel verschoben, Schloß und Klammern lösen sich aus dem morschen Holz, er birst, und den Augen der Umstehenden zeigt sich ein Gerippe, und:

 

Auf dem Scheitel ruht im blonden Haar

Ein Myrtenkranz, zerstäubend im Berühren,

Geschmeide, die Orsinis Wappen führen,

Nehmt funkelnd um den Knochenarm ihr wahr.

Was glänzt am Finger: Ist’s des Traurings Schimmern?

 

Er ist es, und es ist die einst rätselhaft verschwundene Braut …

 

… Und dies ist ihr Sarg.

Sie dachte nicht so lang darin zu liegen,

Als schelmisch lächelnd sie hineingestiegen

Und neckend drin sich vor dem Gatten barg.

 

Der schwere Deckel war, ihrer Hand entschlüpft, ins Schloß gefallen, und sie lag begraben in dem dunklen Schrein.

Halm hatte, noch warm von »des Schaffens Lust und Qual«, sein Gedicht mit verhaltener Empfindung, ergreifend vorgelesen. Das Publikum, in äußerste Spannung versetzt und tief erschüttert, brachte ihm begeisterte Huldigungen dar. Nur der eine, an dessen geringstem Wort der Zustimmung mehr gelegen hätte als an dem Enthusiasmus der ganzen Gesellschaft – schwieg. Grillparzer saß finster und schweigend da, nahm nicht mehr teil am Gespräch und war einer der ersten, die sich empfahlen.

Als Fräulein Paoli ihn bald darauf besuchte, klagte er bitter über Halm. Eine Vorstellung, die man um jeden Preis von sich abwehren möchte, die Vorstellung einer lieben, jungen, in einer Kiste begrabenen Frau, hat er festgehalten, mit schönen Versen unsrer Erinnerung eingepreßt. Das war in Grillparzers Augen unverzeihlich, eine Sünde gegen den Heiligen Geist der Kunst.

Er hat Ida von Fleischl hochgeschätzt, ihren hellen, klaren Verstand bewundert, sich immer gefreut, wenn sie ihn besuchte, aber die Erinnerung an den peinlichen Eindruck, den er in ihrem Hause empfangen, hielt ihn davon ab, es je wieder zu betreten.

Von allen Bildern Grillparzers, die ich kenne, ruft mir nur eins den vollen Eindruck seiner Persönlichkeit hervor; es ist das Aquarellporträt, das Daffinger von ihm gemalt und das ihn in jungen Mannesjahren darstellt. Der Künstler hat seinem Werke das Unvergängliche, die Seele, eingehaucht, sie lebt in diesem Ebenbilde aus längst vergangener Zeit.

Die Statue, die den Mittelpunkt des schönen Hemizyklus im Volksgarten bildet, gleicht mehr als dem Dichter selbst seinem Vetter, dem Präsidenten Freiherrn von Rizy. Es bestand viel Ähnlichkeit zwischen beiden, doch war das Gesicht des Freiherrn schmaler, mehr in die Länge gezogen. Als ich den Dichter persönlich kennenlernte, war er ein Greis. Die Gestalt, klein, schmächtig, etwas zur Seite geneigt, schien schwer zu tragen an dem mächtigen Haupte, auf dem die reichen weißen Haare sich noch leicht und fein wellten. Die Stirn prachtvoll, breit und klar und wie umwoben von den Geistern großer Gedanken, größerer vielleicht noch als die, die der Unstern, der über ihm gewaltet hatte, sich ausgestalten ließ, Gedanken auch einer wahrhaft genialen Selbstquälerei und vielleicht nie ausgesprochener Reue über versäumtes Glück. Ich sehe jedem Schmerz bis auf den Grund, sagte der Blick der blaugrauen, von starken Brauen überschatteten Augen; es lag in ihnen etwas schwermütig Mildes, der Ausdruck einer Weisheit, die alles begreift und alles verzeiht. Doch konnten aus ihnen auch Funken einer schalkhaften Heiterkeit sprühen, die hinreißend wirkte. Die Nase war kräftig und wohlgeformt, und längs ihrer Flügel zog sich zu der Unterlippe hin, wie erbarmungslos von grausamer Hand eingeschnitten, die sogenannte Kummerfalte. Was dieser Mann gelitten hatte, verriet am ergreifendsten der auch im Schweigen beredte Mund mit seinen so deutlichen Spuren verbissener Schmerzen und niedergezwungenen Ingrimms.

Wie viele bittere und ätzende Worte waren über diese Lippen gekommen, bevor sie ihr typisch gewordenes »Sei’s!« oder »In Gottes Namen!« aussprechen lernten!

 

Laube meint, Grillparzer hätte von Hause aus den Tod im Herzen gehabt, sei verschlossen gewesen auf der Sonnenseite. Nun, wenn die Sonne nur recht hell und warm geschienen hätte, sie würde die Scheidewand durchleuchtet haben, die gegen ein reines Glücksgefühl in ihm errichtet war. Aber jede rauhe Berührung so peinlich empfinden wie er, vom ersten Schritt auf seinem Wege, trotz allem Erfolg und allen Triumphen, in falsches Licht gestellt sein wie er, immer mißverstanden, immer gebeugt werden unter ein unerträgliches Joch, das hieß für ihn ringen, dulden und endlich – verzichten.

Die Geschichte seines Martyriums stand auf seinem Antlitz geschrieben, und ich las sie herab, liebevoll, ehrfurchtsvoll und mit dem schmerzlichen Gefühl, daß da nichts mehr gutzumachen sei.

Die Generation, die vor ihm hätte hinknien und sagen müssen: Verzeih! war tot. Nur noch in unangenehmer Erinnerung lebten einige einst wichtige Leute, die von ihm hätten lernen sollen, was Patriotismus ist, und die den seinen angezweifelt und seine unerschütterliche Loyalität verdächtigt hatten. Sie waren gehört worden, die Saat ihres Mißtrauens war herrlich aufgegangen, für sie gab’s keine österreichische Zensur. Dieser, wie Rudolf Valdeck sagt, »feuerspeiende Drache mit Eselsohren« war anderweitig beschäftigt. Es galt, Flecke zu entdecken in einer Sonne, Gefahren auszuschnüffeln in den reinen, hohen Werken, die unser Ruhm sind, unser berechtigter Stolz, die uns einen Ehrenplatz sichern in der Weltliteratur.

Man hat gesagt: Wenn alle Zivilisation, die es auf Erden gibt, vernichtet würde und nichts von ihr übrigbliebe, durchaus nichts als Mozarts Zauberflöte, könnte man aus diesem Werke alles erkennen und im Geiste wieder aufbauen, was es einst an Kultur in der Welt gegeben hat.

Nun, wenn im Laufe der Zeit, die nie rastet und ewig umgestaltet, die versinken läßt, was durch Jahrtausende bestand, unser Kaisertum aufgehört hätte zu sein und sein Andenken nur noch fortlebte in König Ottokars Glück und Ende und Ein treuer Diener seines Herrn, so würden diese beiden Kunstwerke der Nachwelt von allem noch erzählen, was einst an Österreich groß und gut und herrlich war.

 

Zu einer Akademie, die zum Besten des Schillerdenkmal-Fonds veranstaltet wurde, hatte man mich aufgefordert ein kleines Gelegenheitsstück zu schreiben. Ich war mit großer Freude und Wonne an die Aufgabe gegangen, der Einakter, sehr bald entstanden, war vom Komitee angenommen worden. Er wurde unter dem Titel Doktor Ritter ganz ausgezeichnet gespielt und kam bald darauf auch im Burgtheater zur Aufführung. Das Publikum erwies sich gnädig und spendete freundlichen Beifall; die Kritik spöttelte, nörgelte. Ich hatte alles verkehrt gemacht. Ganz anders – das wäre das Richtige gewesen. Beinahe sah ich’s ein und war beschämt und betrübt in meiner Seele. So gedemütigt, wagte ich nicht, Grillparzer vor Augen zu treten, bis mir ein erlösender Gedanke kam.

Zwei Dinge hatte ich bei ihm nie gesehen. Nie die Spur eines Stäubchens und nie eine Zeitung; vielleicht liest er gar keine und weiß nichts von den Strafpredigten, die mir gehalten worden sind. So faßte ich Mut und stieg eines Vormittags die vier Treppen des lieben Hauses Nummer 1097 in der Spiegelgasse, wie immer mit einigem Herzklopfen, empor.

Bald darauf gehörte ich zu den Glücklichen der Erde, denn Grillparzer begrüßte mich mit den Worten: »Sie sind’s. Nun endlich. Ich hätt Ihnen gern schon lange gesagt, daß sich niemand in ganz Wien über den Erfolg von Ihrem Doktor Ritter so gefreut hat wie ich.«

Ich hätte ihm am liebsten die Hand geküßt, wagte es nicht, kam in Verlegenheit und brachte nur kleinlaut: »Ach, Herr Hofrat, aber die Kritik!« hervor. Das war albern und heuchlerisch, denn in diesem Augenblick lag mir wirklich nichts an der Kritik.

»So? hab nichts gelesen.« Ein Achselzucken, eine wegwerfende Handbewegung. Machen Sie sich nichts daraus, sagte er nicht, er wußte zu gut, daß man sich was draus macht. Wir führten nur ein akademisches Gespräch über die Kritik und schwenkten auch hinüber in das Gebiet der Literaturgeschichte, in dem wir eine Weile spazierten, bis er zu dem Schluß kam: »No ja, Literaturgeschichte – ein gemaltes Mittagessen!«

 

»Ich habe schon deshalb nicht heiraten können«, sagte mir Grillparzer einmal, »weil ich den Gedanken nicht ertragen hätte, daß es einen Menschen gibt, der das Recht hat, wann immer es ihm beliebt, in mein Zimmer zu kommen.« Ein seltsamer Grund, den er sich offenbar als Ehehindernis zwischen sich und seiner »ewigen Braut« ausgeklügelt hatte. Aber in diesem Falle war jeder gut. Die beiden, die einander den Himmel hätten schenken mögen, würden, unauflöslich verbunden, sich die Hölle bereitet haben. Kathi, nicht viel weniger empfindlich als Grillparzer selbst, litt Qualen unter seiner Rücksichtslosigkeit, man darf wohl sagen: seiner Grausamkeit. Ein Nachtragen jedoch, ein Schmollen kannte sie nicht; es schien vielmehr, als ob jedes Leid, das er ihr angetan, im Feuer ihrer Liebe schmelzend, es nur angefacht hätte. Und wenn einmal sie es war, die sich im Unrecht befand, die gekränkt hatte, dann kam, im heißen Bestreben wiedergutzumachen, eine Unermeßlichkeit an Hingebung, Selbstüberwindung, Opferfreudigkeit zutage. Wie tief er das empfunden, wie klar es eingesehen, spricht er mit den Worten aus:

 

Der Zweifel, der mir schwarz oft nachgestrebet:

Ob Güte sei? – durch sie ward er erhellt.

Der Mensch ist gut, ich weiß es, denn sie lebet,

Ihr Herz ist Bürge mir für eine Welt.

 

Sie hatten sich verlobt und nach schweren Kämpfen – entlobt, und er hatte sie meiden, sich von ihr, die ihm zur Frau nicht demütig genug und zur Geliebten zu heilig war, völlig losreißen wollen. Aber das ging über seine Kraft. Er brauchte den Verkehr mit ihr und ihrer Umgebung, den künstlerischen Geist, der in ihrem Hause wehte, ihr Verständnis, ihre Begeisterung, ihr grenzenloses Mitgefühl, er brauchte die Atmosphäre ihrer unendlichen Liebe. Sie hat sich von ihm nicht beugen und nicht brechen lassen, aber als Entsagende an seiner Seite ausgeharrt, immer treu, wenn auch nicht Treue fordernd.

Sicherlich: Grillparzer durfte nicht fragen: Wer hat geliebt wie ich? aber er durfte fragen: Wer ist geliebt worden wie ich?

Die Schwestern Fröhlich brachten den Sommer regelmäßig auf dem Lande in der Nähe Wiens zu. Anna fuhr täglich nach der Stadt und begab sich in ihre Wohnung, wohin die Schülerinnen zum Gesangunterricht kamen.

Eines Tages, am 8. Juni 1848, mußten die jungen Damen vergeblich warten; zu allgemeiner Bestürzung fand die sonst so gewissenhaft pünktliche Lehrerin sich nicht zur Stunde ein.

Wieso das gekommen war, habe ich durch sie selbst erfahren.

Auf dem Wege vom Standplatz ihrer Equipage – dem Stellwagen – zur Spiegelgasse war sie über den Hohen Markt gegangen und hatte in der Nähe der Buchhandlung Wallishausser eine etwas unheimliche Menschenansammlung getroffen. Die Leute umdrängten, sehr aufgeregt, einige perorierende Studenten. Ein Zeitungsblatt ging von Hand zu Hand; Anna hörte den Namen Grillparzer unter Verwünschungen nennen. Sie näherte sich, fragte einen der Umstehenden, was es gäbe. »Nun, ein Gedicht hat der Grillparzer drucken lassen, ein niederträchtiges Gedicht auf den Radetzky. Da schimpft er über unsere Studenten und über die Revolution und katzenbuckelt vor der Armee …«

Anna erschrak. Sie wußte, was es in diesen Tagen »des tollen Radikalismus« hieß, Sympathien für unsre in Italien kämpfende Armee offen auszusprechen. Die Studenten berieten in steigender Erregung.

»Er muß auf die Aula«, beschlossen sie.

Zum Glück war aus den Reden der jungen Leute zu entnehmen, daß keiner wußte, wo er wohnte. Aber sie weiß es, und fort in höchster Eile über das Lugeck und durch die Durchhäuser zur Grünangergasse zu seinem Hause. Sie stürmt die drei Treppen empor, reißt die Tür seines Zimmers auf: »Grillparzer, Sie gehen mit mir, Sie müssen fort, gleich fort. Sie kommen zu uns aufs Land.« Hastig, mit wenig Worten, berichtet sie, was sie eben erlebt hat.

Er sträubte sich, er wollte nichts hören von einer Flucht. Anna gab nicht nach: »Wenn Sie auf einen Heldentod hoffen, irren Sie sich. Ermordet werden Sie nicht, aber von exaltierten Studenten auf die Aula geführt und dort zur Rede gestellt – das ja. Ist Ihnen darum zu tun, dann bleiben Sie hier.« Es kam noch zu einem kurzen, heißen Wortgefecht. Aber die Kämpferin siegte über den Kämpfer, und brummend und murrend ließ er sich entführen.

Er blieb einige Zeit auf dem Lande. Nach Wien zurückgekehrt, erlebte er dort die Greuel der Oktobertage und folgte nun gern den Bitten und Beschwörungen der Schwestern, zu ihnen nach Baden zu ziehen.

Und nun fühlte er wieder, was ihr Verkehr für ihn bedeutete, wurde sich bewußter denn je, daß ihr Haus doch immer sein wahres Heim in der Heimat war. So kam denn Annas Vorschlag, ihr Hausgenosse zu werden, seinem eignen Wunsche entgegen.

Ein Jahr später, am 27. April 1849, zog als Mieter Fräulein Anna Fröhlichs der k.k. Archivdirektor Franz Grillparzer in den vierten Stock (zweite Stiege) des Hauses Spiegelgasse Nr. 1097 ein.

 

Am 18. März 1868 empfing mich Grillparzer mit den Worten: »Vergelt’s Ihnen Gott, daß Sie den Kranken besuchen, den Toten.«

Ich glaube, daß ich ihm erwidert habe, es gäbe wenig Lebendige, die so lebendig wären und lebendig bleiben würden wie er. Ich glaube auch, daß ich ihm gesagt habe, daß ich eine Beneidenswerteste unter den Beneidenswerten sei, weil ich zu ihm kommen dürfe.

Einige Tage vorher hatte ich die Ahnfrau, wieder gesehen und tiefer denn je gefühlt, was es doch hieß, mit ihm zu verkehren, der das geschrieben hatte im Sturm und überquellenden Schaffensdrang seiner Jünglingsjahre. Dann mußte ich an alles denken, was ihm angetan worden nach diesem ersten Schritt auf seiner Bahn – und was für ein Schritt war es gewesen und welchen Widerhall hatte er erweckt! Die Eindrucksfähigen, die Unbefangenen fühlten sich ergriffen und hingerissen, lauschten entzückt und erschüttert der gewaltigen Sprache, in der ein junger Dichter zu ihnen redete, staunten in ehrfürchtigem Grauen die Gestalten an, die er vor ihnen wandeln, tun, kämpfen ließ, sahen mitleidend ihr Geschick sich erfüllen und jubelten ihrem Schöpfer zu.

Aber die Machthaber der schwarz auf weiß gedruckten öffentlichen Meinung stimmten mit diesen spontanen Kundgebungen nicht überein. Die gelehrten Wachsfiguren klebten dem Werke die Etikette »Schicksalstragödie« auf, und ihre Neophyten, die albernen, die frechen, die vom Gift des Neides geschwollenen, wußten nun, in welchem Register der Name Grillparzer zu suchen sei.

Alle äußeren Erfolge machten den Dichter nicht unempfindlich für die Geißelhiebe der Kritik. Er war gar zu leicht bereit, in den Tadel seiner Arbeiten einzustimmen, er konnte irregemacht werden an sich selbst. Nicht andauernd freilich, aber verzweiflungsvoll, und die Narben solcher Wunden brennen. Nachdem ich ihm von der letzten, sehr guten Aufführung seines Schmerzens-, vielleicht seines Lieblingskindes gesprochen hatte, kamen wir Schritt für Schritt zurück und gelangten endlich zur ersten Aufführung der Tragödie im Theater an der Wien. Eine, wie er sagte, unbeschreiblich widrige Empfindung hielt ihn davon ab, sie noch einmal spielen zu sehen.

Erst nach langer Zeit kam der Tag, an dem er sich dazu entschloß. Er war bei einem Ausflug in die Umgebung Wiens durch eine Ortschaft gekommen, wo reisende Komödianten die Ahnfrau aufführten. Eine Scheune der Theatersaal, die ländliche Bevölkerung das Publikum. Der Jaromir brüllte wie ein Löwe, die Ahnfrau mußte auf allen vieren aus der Kulisse hervorgekrochen sein, um überraschend und schauerlich hinter dem Sessel des alten Barotin auftauchen zu können. Das störte die Zuschauer nicht und vielleicht nicht allzusehr den Autor. Wer weiß, ob er das Theater in der Scheune nicht mit der Überzeugung verließ, die er später oft ausgesprochen hat: »Das Stück ist gut.«

Wir waren schon lang miteinander bekannt, als mir Grillparzer zum ersten Male von seinem Lustspiel sprach, von Weh dem, der lügt!

»Die Leute haben sich darüber aufgehalten, daß der Bischof predigt. Nun, weil er ein Bischof ist, predigt er. Die Rolle der Edrita war falsch besetzt, ich habe sie der Fräuln Gley nur gegeben, weil sie mich so sehr darum gebeten hat. Aus dem Galomir hat der Schauspieler einen Trottel gemacht, er ist aber kein Trottel. Er ist tierisch, ein Tier, könnt ein schönes Tier sein, aber nur kein Trottel.«

Man hat behauptet, Grillparzer hätte sich dadurch, daß er keins seiner späteren Stücke mehr aufführen ließ, am Publikum für den Mißerfolg von Weh dem, der lügt! rächen wollen. Das ist ganz falsch. Von Rache war keine Rede, sondern von Ekel. Und mußte er ihn nicht ergreifen, und gab es je eine Empfindung, die berechtigter gewesen wäre?

Allerdings, das Publikum hatte eine Enttäuschung erlebt. Ein Lustspiel ist angekündigt, und ein Koch kommt drin vor, das dürfte etwas werden in der Art von Wirrwarr oder Pagenstreiche. Man erwartete einen Spaß, und es kam eine schöne Dichtung; man war erschienen, um zu lachen, und sollte bewundern? – Warum nicht gar! Sie dankten für die schönen Sentenzen, sie waren um ihre Unterhaltung geprellt worden, und die Empörung darüber machte sich in der plumpsten und rohesten Weise Luft.

Was lag daran, daß der Mann, den sie in seinem Werke beschimpften, Grillparzer hieß, daß sie ihm in diesem Hause so oft voll Entzücken zugejauchzt hatten, daß sie durch ihn begeistert und erhoben worden, hoch hinaus über ihr eigenes kleines Selbst? Jetzt war das alles vergessen, sie besaßen keinen Funken Dankbarkeit und von Ehrfurcht nicht einen Hauch. Sie lachten schallend, lärmten und pfiffen. Die einzelnen anständigen Elemente, die sich bemühten, dem Unfug Einhalt zu tun, blieben machtlos. So wurde das Burgtheater um eins der feinsten und edelsten Kunstwerke gebracht und im Dichter der Wunsch ertötet, jemals wieder mit einer neuen Schöpfung vor dieses Publikum zu treten, das er immer als das empfänglichste und dankbarste gepriesen und das ihm eine so grausame Enttäuschung bereitet hatte.

Mein Vater wohnte dem Durchfall von Weh dem, der lügt! bei. Er war kein Literaturkundiger und gestand, daß er von dem »Lustspiel« etwas seltsam angemutet worden. »Aber meiner Wiener«, pflegte er zu sagen, wenn er von jenem Abend sprach, »habe ich mich damals geschämt.«

 

Als ich Grillparzer im Frühjahr 1870 besuchte, fand ich ihn übel aussehend und außerordentlich verstimmt.

»Sehen Sie, was ich da hergenommen habe zu meiner Aufheiterung, ein Lustspiel von Shakespeare. Hilft aber alles nichts. Was soll mich noch aufheitern? Wenn Sie einmal kommen und hören, daß es vorbei ist mit mir, dann freuen Sie sich.« Er klagte über seine geistige Abnahme: »Mein Kopf ist wüst, ich vergesse sogar, was ich in der Schule gelernt habe. Neulich will ich im Plautus lesen und merke auf einmal, daß ich nicht mehr Lateinisch kann. Es kommt auch niemand mehr zu mir, Männer schon gar nicht, nur noch Frauen – aus Barmherzigkeit. Ich habe die Verse gemacht:

 

Die Ähnlichkeit, die ich mit Christus habe:

Die Weiber kommen zu meinem Grabe.«

 

»Und noch dazu lauter alte Schachteln, nicht wahr, Herr Hofrat?«

Er lächelte und begann die Pilgerinnen zum Grabe zu loben. Ganz besonders und mit dem besten Rechte: Frau Auguste von Littrow-Bischoff, die Gattin des allverehrten Direktors der Wiener Sternwarte Karl von Littrow. Anders als »die Astrologin« nannte er sie aber nicht, und wir wußten sehr gut, daß jede von uns gelegentlich mit einem seiner boshaften Scherzworte bedacht wurde. Das änderte aber nicht das geringste an unsrer Liebe für ihn.

Grillparzer hat, ich zweifle nicht daran, sehr gut gewußt, daß Frau von Littrow sein weiblicher Eckermann war und den Inhalt eines jeden Gesprächs, das sie mit ihm geführt, treulich niedergeschrieben hat. Diese Aufzeichnungen einer vorzüglichen, äußerst verständigen und hochgebildeten Frau sind eine Fundgrube für die Literarhistoriker geworden und ein unschätzbares Gut für die Freunde und Verehrer des Dichters. Auguste von Littrow hat uns von dem pietätvoll gesammelten Reichtum alles geschenkt bis auf eins, das weder sie noch irgend jemand zu geben vermocht hätte: einen Begriff des Reizes, der in Grillparzers Art und Weise, ein Gespräch zu führen, lag. Er beherrschte weite Gebiete des Wissens und der Kunst, er hatte reges Interesse für alle Tagesfragen, für Politik, für Literatur. Seine Urteile waren durchtränkt von Weisheit, immer originell, genial und selten milde. Aber er verstand das Schlagendste und Schärfste mit einer schalkhaften Anmut vorzubringen, die bezaubernd war. Ich habe oft bei seinen Reden an eine schimmernd blanke Toledoklinge denken müssen, so grazienhaft geschmeidig, daß man meint, sie um den Finger wickeln zu können, aber tödlich treffend, wenn zum Stoße gezückt. Am herrlichsten war’s, ihn von dem Wesen und den Zielen seiner Kunst sprechen zu hören. Und nie fühlte man sich als ein bloßer Zuhörer, immer zu einer Erwiderung angeregt, zu einem Einwand beinahe herausgefordert. Das ermutigte, weckte Selbstvertrauen, man wagte auch ein Tröpfchen Eigenbau träufeln zu lassen in den Quell der Weisheit, der da so reichlich sprudelte, kam sich gewachsen vor, war glücklich und dankbar.

Ich glaube, daß Grillparzer selbst Freude fand an der Ausübung seines großen Konversationstalents, doch bedurfte es eines Anstoßes dazu, und selbst der Besucher, der schon wiederholt eine solche Anregung geboten, wurde nur ganz ausnahmsweise willkommen geheißen. Man störte ihn ja immer, fand ihn immer versunken in seine eignen Gedanken oder in die eines seiner Lieblingsautoren, ohne Frage eine bessere Gesellschaft als die, die man ihm zu leisten vermochte. Die Temperatur der Begrüßung war gewöhnlich unter Null, aber allmählich erwärmte er sich, wurde freundlich und mitteilsam, und wie die Gestalten seiner Dramen ihm während des Schreibens wuchsen, sich gestalteten, ihn hinrissen, so wurde, während er sprach, seine Rede immer tiefer und inhaltreicher, und plötzlich, mitten aus dem schweren Ernst, sprühten wie Feuerfunken unvergeßliche Witzworte auf.

Man ging von ihm immer gescheiter fort, als man gekommen war, und wenn gescheiter, dann wohl im höchsten Sinne besser. So ist denn Kathi Fröhlich, die unaussprechlich durch ihn gelitten hat, sehr gut zu verstehen, wenn sie sagt: »Das Beste, das an mir ist, verdanke ich doch dem Umgang mit ihm.«

 

Der achtzigste Geburtstag Grillparzers nahte heran, und Wien rüstete sich, ihn zu feiern.

Eine Anzahl österreichischer Frauen hatte zwanzigtausend Gulden zusammengebracht, die zur Begründung einer Grillparzer-Stiftung verwendet werden sollten. Doch bedurfte es dazu seiner Erlaubnis, und Bauernfeld wurde mit dem Auftrage betraut, sie einzuholen. Er brachte die Sache aufs beste vor und bat im Namen der Frauen, ihre gute Absicht ausführen zu dürfen. Die Grillparzer-Stiftung solle ganz und gar nach seinem Wunsche und seinen Bestimmungen ins Leben gerufen werden. Es sei gemeint, daß alles ihm zur Ehre und Freude geschehen solle.

Grillparzer hörte zu. Gar gut kann man sich vorstellen, wie diese Huldigung auf ihn gewirkt, wie er sich bei ihrer Inempfangnahme benommen hat, wie er bedrückt und gequält den Kopf zur Seite geneigt, leise vor sich hingeflüstert und endlich gesagt hat: »Ehre, no ja, schon gut, wir haben in Östreich ohnehin zuwenig Ehre, und was die Freude betrifft, wenn mir die Damen eine Freude machen wollen, dann sollen sie mir drei neue Rasiermesser schenken, weil die meinen schon schlecht sind.«

Ich erfuhr die Geschichte, teilte sie meinem Manne und meinem Vater mit, und beide bemühten sich sofort, mir die vorzüglichsten Rasiermesser zu verschaffen, die in ganz Wien aufzutreiben waren. Unser geliebter Poet und Jubilar konnte nicht anders als zufrieden sein mit der Art der Erfüllung seines bescheidenen, prosaischen Wunsches. Voll freudiger Zuversicht trat ich meine Wanderung an und fand im Fröhlichheim die drei Schwestern und die treue Susanne in erhöhter Stimmung. Sie waren glücklich über die vielen Zeichen der Liebe und Verehrung, die dem Dichter von weit und breit zugeflogen kamen. Nur er konnte oder wollte einem wohltuenden Gefühl keinen Einlaß in sein Herz gewähren. Er saß still und traurig in seinem niedrigen Lehnsessel und sah, als ich vor ihn hintrat, höchst ungnädig zu mir empor. Ich sagte: »Seien Sie ganz ruhig, Herr Hofrat, ich gehe gleich wieder, ich setze mich gar nicht, ich habe Ihnen nur etwas bringen wollen.«

»Bringen? … Auch Sie?« sprach er vorwurfsvoll.

Ich ließ mich nicht einschüchtern, öffnete das Etui und brachte es ihm respektvoll dar.

Er hatte es nur widerstrebend in die Hand genommen, war aber nach dem ersten Blick auf die blinkenden Messer versöhnt. Der Ausdruck einer wahrhaft kindlichen Freude erhellte sein Gesicht: »Schaun Sie, das freut mich wirklich. Die sind schön und wohl auch gut.«

Er betrachtete sie wohlgefällig, stand auf, legte den Arm um meine Schulter und gab mir einen langen, ernsthaften Kuß.

Mir war zumute, als hätte ich eine Weihe empfangen, ganz glückselig und ganz feierlich. Ich kann wirklich nicht sagen, ob ich die Stiege hinab gegangen, gelaufen oder geschwebt bin.

Am nächsten Vormittag klopfte ich bei den Schwestern an. Es war nur Anna zu Hause.

»Fräulein, ich komme mich erkundigen, was ist’s mit den Rasiermessern? War der Herr Hofrat zufrieden?«

Sie sah mich an, etwas verlegen, aber ihre dunklen, schönen Augen lachten. »Die Rasiermesser? … Die hat Kathi – sind Sie ihr denn nicht auf der Stiege begegnet? – gerade fortgetragen. Die sind ihm wieder nicht recht, müssen umgetauscht werden.«

»Umgetauscht?! Er kann sie nicht brauchen – und ich habe dafür einen Kuß bekommen. Fräulein Anna, Fräulein Anna, jetzt komme ich mir ja vor wie eine Diebin.«

 

Der 15. Jänner 1871 war für ganz Wien ein großer Tag. In jedem halbwegs lebendigen Herzen regte sich das Bewußtsein, daß nicht nur zu danken, zu huldigen, daß gutzumachen sei, soviel, so reich und rasch als nur möglich. Dann feierten wir aber auch ein schönes Fest. Keine Störung, nicht ein Mißklang, allenthalben der Triumph einer großen Liebe, die sich äußern wollte. Über jede Auszeichnung, die dem Poeten zukam, wurde gejubelt. Unser Kaiser ehrte ihn, wie noch nie ein Dichter in Österreich geehrt worden war. Kronprinz Rudolf, Ludwig von Bayern sandten wärmste Glückwünsche, die edle Kaiserin Augusta fand in diesen Tagen der großen Versailler Ereignisse Zeit und Stimmung, sich als »Tochter Weimars« unseres österreichischen Dichters huldigend zu erinnern.

Wien war stolz und beglückt. Jedes Zeichen der Anerkennung, jedes Wort des Lobes, das dem Jubilar zuteil wurde, erweckte begeisterte Teilnahme. Man drängte sich in die Theater und Konzertsäle, in denen Grillparzer-Feiern stattfanden, und der Beifall, der gespendet wurde, kam aus warmen, tief ergriffenen Herzen.

Ob es wohl damals in unsrer Stadt einen jungen Künstler gegeben hat, der nicht dachte: Das erreicht, einen solchen Widerhall erweckt haben in den Seelen Tausender, müßte höchste Erfüllung, Inbegriff der irdischen Seligkeit sein.

Weltenfern davon lag freilich alles, was Grillparzer in diesen Tagen empfand.

Ich ging am späten Vormittag zu ihm. Die Treppe herab, die mit Teppichen belegt und mit Blumen geschmückt war, kamen Männer und Frauen; sie hatten freudig-feierliche Mienen, und wir grüßten uns, ohne uns zu kennen. Ihr Gruß sagte: Wir kommen von ihm, der meine: Ich gehe zu ihm.

Auch die Wohnungstür war mit Lorbeergewinden und Blumen umkränzt, und als sie geöffnet wurde, leuchteten mir die Augen der treuen Susanne durch einen Freudentränenschleier entgegen. Was hatte sie nicht alles erlebt! Vorgestern schon, gestern und erst heute! Deputationen waren gekommen, eine nach der andern, und Geschenke, Kränze, Telegramme. Der Fürst Auersperg und Exzellenz Unger sind dagewesen, sie haben das Großkreuz des Franz-Josef-Ordens gebracht.

Ich fand ihn auf seinem alten Platz, in seinem mit Ehrengeschenken überfüllten Zimmer, sehr müde, erschöpft. Was er heute schon vielen gesagt, wiederholte er auch mir: »Früher zu wenig, jetzt zuviel. Es sind Gnadenstöße, die mir versetzt werden.« Nur einen Augenblick blieb ich bei ihm und auch bei den Damen Fröhlich nicht lange. Pepi und Anna erzählten, plauderten, ihnen lachte das Herz. Auf dem noch immer lieblichen Gesicht Kathis lag ein stiller, seliger Triumph.

Grillparzer ist viel besungen worden in diesen Tagen flammender Begeisterung, und manches schöne Gedicht ist damals entstanden. Aber das einzige, in dem er ein grenzenlos mitfühlendes Verständnis, Stimmung von seiner Stimmung wiedergefunden hätte, konnte nicht in seine Hände gelegt werden. Es war von Josephine Freiin von Knorr und lautete:

 

Wir feiern dich, und während wir dich krönen,

Umweht ein Hauch dich der Unsterblichkeit,

Es wird dein Name durch die Nachwelt tönen,

Befreit vom Fluche der Vergessenheit.

 

Mitfühlen sollst du – darfst ihn miterleben –

Der eignen Größe schwer erworbnen Ruhm;

Wie einen Heros, um den Wolken schweben,

Grüßt dich das Land in deinem Heiligtum. –

 

Und doch, mich dünkt, daß du mußt bitter lächeln

Zu jenem Weihrauch, den die Menge bringt;

Daß dich berühren muß ein eisig Fächeln,

Daß dir ein Mißton durch die Lüfte klingt,

 

Daß man dich quält mit der Apotheose;

Denn dieser Festtag, dies olympsche Spiel –

Kann es erwecken auch nur eine Rose

An deines Lebens abgeblühtem Stiel?

 

Dieweil sie laut zujauchzen deinen Liedern

Und in den Städten künden deinen Preis,

Weilst du daheim mit altersschwachen Gliedern,

Ein müder Mann, ein achtzigjährger Greis.

 

Ein selger Geist auf glorreich lichten Sonnen,

Erlöst von Weh und Tod, der mag verklärt,

Verdoppelt fühlen seine Himmelswonnen,

Wenn man auf Erden sein Gedächtnis ehrt.

 

Wer aber dasteht an der dunklen Grenze,

An seiner Menschenjahre letztem Ziel,

Den mahnen Lorbeer- nur an Grabeskränze,

Den dünkt der Nachruhm fast ein eitles Spiel.

 

Dem ist das alles nur ein Untergehen,

Ein überglühend letztes Abendrot –

Für seine Jugend gibt’s kein Auferstehen,

Und alle Hoffnung ist für ihn im Tod.

 

Als ich bald nach dem Feste wiederkam, um mich nach seinem Befinden zu erkundigen, war in seinem Zimmer keine Spur mehr vorhanden von den Kostbarkeiten, die sich vor wenig Tagen darin ausgebreitet hatten. So schnell als möglich hatte alles fortgeschafft werden müssen, was ihn an die empfangenen »Gnadenstöße« erinnerte. Nicht eine Blume im Glase durfte übrigbleiben.

Er sah angegriffen aus und klagte über seine täglich zunehmende Taubheit. Viele, die über ihn geschrieben haben, erwähnten ihrer als eines ernsten Gebrechens. Mir ist sie niemals aufgefallen. Wenn man, ohne die Stimme im geringsten zu erheben, nur deutlich akzentuierte, verstand er jedes Wort. Auch seine Augen, über die er sich oft beschwerte, haben ihm bis zuletzt treue Dienste geleistet. Er selbst gestand, daß er eigentlich den ganzen Tag lese. Eine Brille hat er nur in jüngeren Jahren durch kurze Zeit getragen.

Im Laufe des Winters erholte er sich und war wieder der Alte, er, der sich einen Toten nannte, ein lebendigst Mitlebender, ein gütiger Weisheitspender und – wie oft! – ein Prophet.

Im Frühjahr vor meiner Abreise auf das Land durfte ich beim Abschied mit froher Zuversicht sagen: »Auf Wiedersehn!«

Nach meiner Rückkehr im Dezember konnte ich ihm von meinem Entzücken über eine schöne Aufführung der Medea, mit Frau Wolter in der Titelrolle, erzählen. Er schien mir unverändert und so geistesfrisch wie je. Bald darauf aber, es war einige Tage nach Neujahr, brachte uns Freund Weilen die Nachricht, daß es nicht gut stände mit Grillparzer, er sei sehr matt und leide an Schlaflosigkeit. Die Ärzte, sein treuer Doktor Preyß und Doktor Breuning, erklärten, es handle sich nicht um eine Krankheit, sondern um ein Aufhören, ein langsames Erlöschen. Er führte sein gewohntes Leben, stand zur gewohnten Stunde auf, ging zum Mittagessen zu Fröhlichs hinüber, ließ sich nach Tisch von Kathi fünf Patiencen legen und kehrte, von ihr und den Schwestern gestützt, in sein Zimmer zurück. Am Tage seines Todes war er, obwohl die Nacht schlecht gewesen, nicht zu bewegen, im Bett zu bleiben. Nur um eine Stunde später als sonst stand er auf, ließ sich zu seinem Fauteuil am Schreibtisch geleiten und schlummerte ein. Anna und Kathi hatten das Zimmer verlassen, an ein jähes Ende dachte man nicht. Pepi und Doktor Preyß blieben dem Schlafenden gegenüber auf dem Kanapee sitzen. Plötzlich hatte er eine Bewegung gemacht, und sie eilten zu ihm. Er schlug die Augen auf, nahm Preyß bei der Hand und sagte: »Mein lieber Preyß!« Sein Kopf sank zurück, er war ohne Todesangst, ohne Kampf entschlafen, hinübergegangen in den ewigen Frieden.

»Man braucht auch zum Sterben Glück«, hat er einmal gesagt. Dieses letzte Glück war ihm zuteil geworden.

Als ich nach seinem Tode Kathi wiedersah, kam sie mir vor wie schon mitgenommen in die Unsterblichkeit. Sie war schwer leidend, kämpfte heldenmütig gegen Krankheit und Schwäche, wollte aufrecht bleiben, leben, ihre Aufgabe lösen und den Nachlaß des Dichters, dessen Erbin sie war, zu seinem Ruhme verwalten.

Nach wie vor wurde ich von ihr und von den Schwestern mit immer gleicher Herzlichkeit empfangen. Sie wußten mir stets etwas Liebes von dem Wohlwollen Grillparzers für mich zu erzählen, dem Interesse, das er an mir genommen hatte. Als er, kurz vor seinem Tode, durch Anna hörte, daß ich einen Verleger für eine kleine Arbeit suche, hatte er sogleich erklärt, daß er sich der Sache annehmen und an Heckenast schreiben werde.

»Wenn Sie einmal längere Zeit ausgeblieben sind«, sagte mir Kathi, »da hat es immer geheißen: Die Ebner laßt sich auch nicht mehr sehn …«

Und wie oft war ich auf dem Wege zu ihm gewesen und hatte, bei seinem Hause angekommen, gezögert hineinzutreten! Er wollte und verlangte von den Menschen nichts mehr, als in Ruhe gelassen zu werden; durfte ich einbrechen in seine tiefe, stille, ihm so liebe Einsamkeit? Vielleicht wäre ihm mein Besuch heute besonders ungelegen. Ich dachte nach und zählte: Wann war ich zum letzten Male bei ihm? Vor zwei – vor drei Wochen. Darf ich so bald wiederkommen? – Vielleicht doch nicht … Und war vorbeigegangen und hatte mich unwiederbringlich um ein unschätzbares Lebensgut, eine Stunde in der Nähe eines großen Menschen, gebracht.

Ich habe meine törichte Zaghaftigkeit bitter bereut, als mir Grillparzers Worte: »Die Ebner laßt sich auch nicht mehr sehn«, wiederholt wurden.

 

Weilen, Laube, Freiherr von Rizy, Doktor Preyß hatten ihre Aufgabe erfüllt, das Material zu der zehnbändigen Ausgabe von Grillparzers Werken befand sich im Besitz von Cottas Nachfolgern.

Alle Originalmanuskripte waren dem Freiherrn von Rizy zur Verwahrung übergeben worden und befanden sich vorläufig in seiner schönen, stillen Wohnung im Schottenhof. Einige Monate nach Grillparzers Tode besuchte mich der Baron und lud mich ein, zu ihm zu kommen, um den handschriftlichen Nachlaß unseres Dichters zu sehen.

Ein Tisch, der beinah die ganze Länge und Breite eines großen Zimmers einnahm, war mit Manuskripten bedeckt. Sein Vermächtnis, die Summe seiner Lebensarbeit, die Vertrauten seiner Seele, Zeugen und Früchte der Entzückungen und Qualen seiner Schöpferstunden. Jedes Blatt, jedes Blättchen mit seinen teuren Schriftzügen bedeckt, die fein waren, kräftig und klar und dem Auge ein Labsal, weil sie, wenn auch im Fluge hingeworfen, jedem Buchstaben sein Recht widerfahren ließen und unbewußt, ungewollt Freude am Bilden einer schönen Form darstellten.

Diese stillen Zeichen, wie sprachen sie so laut! Diese einförmigen schwarzen Linien, was zauberten sie mir vor! Ich sah die Hand, die sie gestaltet hatte, sah das über sie geneigte Haupt. Er war da, ich hatte, in den Anblick seiner Schöpfungen versunken, die volle Empfindung seiner Nähe.

Ein Teil der Schriften war von den übrigen abgesondert. Dieser darf, so hat Kathi Fröhlich es bestimmt, nicht vor dem Jahre 1922, fünfzig Jahre nach dem Tode des Dichters, veröffentlicht werden.

Der Freiherr hielt ein eng beschriebenes Blatt in der Hand, ein Gedicht, sagte er, das aus einer Zeit stammte, in der es zwischen dem Dichter und Kathi zum völligen Bruch gekommen war. Sie verfiel infolge der ausgestandenen Aufregungen in ein schweres Nervenfieber. Grillparzer wußte davon, quälte sich, und als er eines Abends erfuhr, der Arzt habe erklärt, daß sie die Nacht nicht überleben werde, rannte er wie ein Verzweifelter ziel- und planlos in den Straßen umher, kam in den Volksgarten und legte sich dort händeringend, schluchzend auf die Stufen des Theseustempels nieder.

»Von der entsetzlichen Nacht, die er damals durchlitten hat, lebt ein Zeugnis in diesem Gedicht«, schloß der Freiherr. »Ich will es Ihnen vorlesen, wenn ich kann.«

Er konnte kaum. Manchmal unterbrach ihn ein schweres Schluchzen, Tränen rannen über sein Gesicht.

Ein lang begrabener Schmerz war aus dem Todesschlaf erweckt worden, bäumte sich auf und weckte in unsern Seelen einen erschütternden Nachhall.

Es war das grausamste Gericht, in das ein Mensch über sich zu gehen vermag: eine Verdammnis des Verbrechers und Toren, der dem Schicksal flucht, wenn es versagt, und sich abwendet, wenn es gibt; des Quälers, der der Geliebten seine Friedlosigkeit einimpfen will, des Mörders, der sie in den Tod gejagt, weil sie sich nicht umschaffen konnte, wie er wollte, sondern bleiben mußte, die sie war.

Dem Dichter hat die Empfindung als Urquell gegolten, dem aller Reichtum der Poesie entspringt. Aus diesen Versen brach sie mit Naturgewalt hervor, zerstörte, riß nieder, wühlte sich in einen Abgrund von Trostlosigkeit hinein. Furchtbar und herrlich, denn die Stimme, die da klagte und anklagte, war eines großen Dichters Stimme; dieselbe, die wie tönendes Erz aus den Schmerzenslauten Medeens erdröhnt und in Wehmut geschmolzen aus Bancbans Abschiedsworten an unsre Herzen pocht und sie unaussprechlich liebevoll bezwingt.

Es war zu Ende, der Vorleser schwieg. Wir reichten einander die Hand, und ich nahm Abschied und wanderte durch den ruhigen Schottenhof in die lärmende Straße hinaus, an vielen, vielen Menschen vorbei. Und alle, ob im Kleide der Armut auf der Suche nach dem täglichen Brot, ob reich geputzt mit andern Reichgeputzten Grüße, Scherze, Liebesblicke tauschend, ob ernst und würdig auf dem Wege vom Amte oder zum Amte, ob traurig oder vergnügt, frisch und jung oder welk und alt, alle kamen sie mir vor wie Schatten, die fühllos, wesenlos über die Abgründe des Lebens hingleiten.

Erst sechs Jahre nach Grillparzers Tode habe ich, von Anna und Kathi begleitet, sein Zimmer wieder betreten. Josephine, die jüngste der Schwestern, lag dort aufgebahrt im Sarge. Anna und Kathi beugten sich über sie, streichelten ihre Hände und sprachen leise und liebevoll mit ihr. Wie gut sie war, wie hilfreich und unermüdlich und wie hochbegabt und als Sängerin gefeiert zu ihrer Zeit! Aber sie konnte sich ins Theaterleben nicht finden und nicht sein ohne die Schwestern. Sie ist zu ihnen zurückgekommen und Gesangslehrerin geworden wie Anna. Manche ihrer Schülerinnen hat einen großen Namen errungen, und sie war stolz darauf; für sich selbst hatte sie keinen Ehrgeiz.

Weich, leise, liebevoll fielen die Worte der Schwestern auf die Entschlafene nieder. Sie schien zu lächeln, war wie verjüngt und war schön in ihrer erhabenen Todesruhe.

»Der Grillparzer hat sie auch liebgehabt«, sagte Anna, und wir hatten das Gefühl, als stände er an diesem offenen Sarge mitten unter uns, in seinem Ernst, seinem Trübsinn, in der großen unwiderstehlichen Macht, die jeder empfunden hat, der ihm nahetreten und in die Tiefe seines Wesens blicken durfte.

Noch vor Ablauf eines Jahres trug Anna auch ihre Kathi zu Grabe, die ihr mehr als Schwester, die ihr Kind gewesen war, ihr leidengekröntes Kind. Sie wird nicht vergessen werden. Der Name Kathi Fröhlich ist unauflöslich mit dem Namen Franz Grillparzer verbunden. In einem Punkte hat sie sein Geschick geteilt, die Mit- und Nachwelt hat an ihr nicht viel weniger gesündigt als an ihm. Mißverstand, Vorurteil, Engherzigkeit, Klatschsucht besorgten und besorgen das in einer ihrer würdigen Weise. Wenn ich in einem der zahlreichen Bücher lese, die uns die Grillparzer-Literatur beschert hat, kann ich nicht genug staunen über den niederen Rang, der darin Kathi und ihren Schwestern im Leben des Dichters angewiesen wird. Es ist nicht selten der von drei Haushälterinnen, die seine Zimmer in Ordnung hielten und seine Wäsche besorgten. Erwähnt findet sich auch wohl, daß sie verstanden, ihm Unangenehmes und Peinliches aus dem Wege zu räumen, zudringliche Besuche fernzuhalten, lästige Korrespondenzen für ihn zu führen, ihm viele Sorgen für unerfreuliche Verwandte abzunehmen. Daß übrigens Anna und Josephine höchst musikalisch waren, trug recht viel dazu bei, ihren Umgang mit Grillparzer, der ja die Musik fast höher stellte als die Poesie, wertvoll zu machen. Das wird gnädig zugegeben.

Bauernfeld hat sich viel eingebildet auf seinen Einfall, die Schwestern Fröhlich die Parzen zu nennen, obwohl es doch kein gar zu origineller Einfall gewesen ist. Sie waren drei, sie waren alt, sie waren unzertrennlich; mir scheint, daß man, um den Spitznamen zu erfinden, nur gehörig oberflächlich und boshaft zu sein brauchte.

Was sie für Grillparzer bedeuteten, was er ihnen verdankte, hat Bauernfeld ebensowenig gewußt, wie die Verwandten des Dichters es gewußt haben; alle stellten sein Verhältnis zu diesen seinen Schutzgeistern auf den Kopf. Seine Familie, stolz auf ihren Beamtenadel, sah auf die bürgerlichen Musiklehrerinnen hochmütig herab, ihre Gesellschaft war keine standesgemäße für den Vetter Franz, den Sohn einer geborenen von Sonnleitner. Der aber war nicht der Mann, der irgendein Wesen oder irgendein Etwas, das zu ihm gehörte, auch nur in ein halbwegs günstiges Licht zu stellen vermochte. Ebensowenig als sich selbst, als seine eigenen Werke. Ich war oft peinlich überrascht durch seine geringschätzige Art, sie zu beurteilen.

Frau von Littrow bemerkt sehr richtig, daß er nie anders als mit einem verkleinernden Adjektiv von den Dingen sprach, die ihn umgaben, die ihm dienten. – Da war zum Beispiel sein braver, sehr anständiger Hausrock, der sich alle möglichen Beschimpfungen gefallen lassen mußte. Und gewiß war er ihm nicht weniger lieb als dem guten Béranger sein »vieil habit«, dem dieser heitre Poet ein Lied gesungen hat, das ewig jung bleiben wird. Ebensowenig wie das behagliche Kleidungsstück, ebensowenig wie den Darbringer einer Aufmerksamkeit, den Spender einer Auszeichnung, ebensowenig vermochte er seine guten Hausgenossinnen zu preisen. Eine einzelne nannte er nie. Sie wurden immer nur in corpore erwähnt.

»Die Damen, bei denen ich wohne.« Wenn das Barometer der Stimmung besonders hoch stand, gab es kleine Nachsätze: »Sie sind meine gewöhnlichen Vorleserinnen, sie spielen mir auch vor.« – »Sie sind sehr poetische Naturen und verstehen, sich das Leben schön zu gestalten.« Daß sie auch in das seine Behagen, Heiterkeit, Licht und Wärme brachten und überhaupt das Beste, das ihm je zuteil geworden: kritiklose Liebe und Verehrung, mußte er gefühlt haben, doch blieb es unerwähnt. Dieser große Reichtum war sein unverlierbares Eigentum; sich durch ihn beglückt zu fühlen lag nicht in seiner Natur. Gewiß kamen Stunden, in denen er sich dessen entsann, was Kathi für ihn getan hatte, für ihn – wenn Liebe für den andern etwas tut, wenn nicht, einem unwiderstehlichen Müssen gehorchend, im letzten Grunde alles für sich.

Einmal hatte Sofie Schröder Kathi spielen gesehen bei einer Vorstellung auf einem Liebhabertheater, hatte die junge Dilettantin umarmt und feierlich erklärt: »Fräulein, wenn Sie nicht Schauspielerin werden, begehen Sie einen Selbstmord.«

Aber Grillparzer sagte: »Eine Schauspielerin mag ich nicht«, und der Selbstmord wurde begangen. Hat er gefragt, was es sie gekostet hat? Oder lieber nicht gefragt – es war überflüssig, er wußte es zu gut.

Aus einigen seiner kargen, grausam zurückhaltenden Briefe an sie klingt es deutlich heraus, daß er, der sich für unfähig hielt zu lieben, doch sehr fähig war, eifersüchtig zu sein. Kathi Fröhlich war schön und unbeschreiblich anmutig, sie hatte tiefschwarze, wie Karajan sagt, »unendliche, eigentlich unergründliche Augen, in die man immer hätte hineinsehen mögen«. Sie wurde bewundert, geliebt und umworben. Gelegenheit, eifersüchtig zu sein, hatte Grillparzer in Hülle und Fülle, Grund dazu niemals. Die Huldigungen, die man ihr darbrachte, ließen sie nicht nur kühl, sie empörten sie. »Was wollen diese Leute? Wissen sie denn nicht, daß es für mich nur einen Mann gibt?« schreibt sie an ihre Schwestern.

Und dieser einzige, der geglaubt hatte, in ihr seine Seligkeit zu finden, war schon bald von allen bösen Geistern des Zweifels ergriffen worden. Gab’s ein Glück für ihn, gab’s überhaupt etwas außer seiner Kunst? Gab’s noch ein anderes als dieses unbegrenzte Streben nach ihr und nach allem, was zu ihr gehört? Er könnte wohl – seine Worte! – auch anderes ergreifen, aber festhalten nicht. Mit einem Worte: »Ich bin der Liebe nicht fähig«, gestand er dem Freunde. »Sosehr mich ein wertes Wesen anziehen mag, so steht doch immer noch etwas höher, und die Bewegungen dieses Etwas verschlingen alle andern so ganz, daß nach einem Heute voll der glühendsten Zärtlichkeit leicht – ohne Zwischenraum, ohne besondere Ursache – ein Morgen denkbar ist der fremdesten Kälte, des Vergessens, der Feindseligkeit möchte ich sagen.«

Und dennoch vermochte er nicht, sich völlig loszureißen, kehrte zurück, erfuhr Widerstand, ja Härte; denn eine demütige Dulderin war Kathi nicht, verlor aber in diesem schweren Kampfe nie das Bewußtsein ihrer unendlichen Liebe. Sie, ob auch noch so bitter gekränkt, fühlte doch immer tiefer als das eigne Leid die Qual, die ihn zu quälen trieb. Er litt, der Mensch, den sie am höchsten stellte, der ihr das Teuerste war, der Dichter, der sie begeisterte, dem sie die erhebendsten Stunden ihres Lebens verdankte; er war in all seinem geistigen Reichtum, all seiner Schöpferkraft ein armer Ruheloser. Sie wußte auch, daß, soweit der Himmel blaut, kein Wesen lebte, das ihm sein konnte, was sie ihm war in den kurzen Augenblicken der Rast, die sein Unfrieden ihm gönnte. Der Geliebte, der leidet, das ist der Allmächtige. Sie unterwarf sich, sie nahm das Kreuz einer unbeglückten Liebe, die täglich erneute Pein einer falschen Stellung – die ärgste für ein stolzes Herz – auf sich und trug sie kraftvoll und heldenmütig.

So war’s ein langes Leben hindurch gewesen, und so sollte es bleiben. Als er ihr in späten Jahren, ein alter Mann der Gealterten, seine Hand und seinen Namen anbot, lehnte sie ab. Seine »ewige Braut« – in Gottes Namen. Seine Frau? Nein. Was sie von ihm ertrug, weil sie wollte, hätte sie nicht ertragen, weil sie mußte.

Was Grillparzer von Kathi Fröhlich gehalten, bezeugte er dadurch, daß er sie zur Herrin seines Hab und Guts wie über seinen poetischen Nachlaß einsetzte. Ihr vertraute er die Verfügung über die Werke, die er seit dem Tage seiner bittersten Enttäuschung vor aller Augen – die ihren gewiß ausgenommen – verborgen gehalten hatte. Den höchsten Beweis von Liebe und Vertrauen, den er geben konnte, hat sie aus der Hand des Toten empfangen.

 

Die Sorge für sein Andenken war bis zu ihrer letzten Stunde der Inbegriff ihres Dichtens und Trachtens und der ihrer beiden Schwestern, die sich, wie sie es von jeher getan, mit ihr identifizierten. Das Vermögen des Verstorbenen wurde seinen Verwandten überlassen, die Stiftung des Grillparzerpreises der Wiener Akademie der Wissenschaften wurde durchgeführt, die Schwestern-Fröhlich-Stiftung begründet, der Wiener Zweigverein der Schillerstiftung zum Erben der aus den Aufführungen der Dramen fließenden Tantiemen eingesetzt.

Es haben sich Leute gefunden, die der Lesewelt zur Kenntnis brachten, die Schwestern Fröhlich hätten nach dem Tode Grillparzers in seinen Reichtümern geschwelgt. Nun, in einem etwas andern Sinne, als jene Verständnisvollen es meinten, kann man das gelten lassen. Sie haben geschwelgt in einem unsäglich wehmütigen Triumph, als der Bruderzwist in Habsburg bei seinen Aufführungen im Stadttheater Stürme der Begeisterung entfesselte. Sie durften reich und beglückt gepriesen werden, als die Gesammelten Werke ihres Dichters erschienen und in Deutschland, das sich immer so spröde gegen ihn verhalten hatte, endlich das Eis schmolz, Verständnis, Wärme, Bewunderung ihn begrüßten und der Rang, der ihm gebührt, ihm eingeräumt wurde, der neben Kleist – vielleicht wohl vor ihm –, Goethe und Schiller am nächsten.

Gegen Kränklichkeit und Schwäche ankämpfend, hat Kathi sich aufrecht erhalten, bis ihre Mission erfüllt war, dann schloß sie die Augen zur ewigen Ruhe. Ihre treue Anna folgte ihr bald; sie, die Älteste, ging zuletzt, nachdem sie ihre Pflegebefohlenen heimgeleitet hatte. Kurz vor ihrem Tode hatte Anna Fröhlich – gewiß nach reiflicher Überlegung – einen schweren Entschluß gefaßt: sie hatte ihre durch viele Jahre sorgsam geführten Tagebücher verbrannt.

Viele tadeln es, weil sie dadurch »der Welt« die Wahrheit über das Verhältnis Grillparzers zu Kathi Fröhlich vorenthielt. Die Wahrheit! Und wenn man sie euch sagte, würdet ihr sie gelten lassen und nicht sogleich wieder zu den euch lieb gewordenen Irrtümern und Vorurteilen zurückkehren?

Was mich betrifft, ich meine: Anna Fröhlich hat ihre Tagebücher verbrannt. Sie hat es getan, folglich war es recht getan.

Einige Tage nach ihrem Tode stieg ich zum letzten Male die vier Treppen zur wohlbekannten Wohnung in der Spiegelgasse empor.

»Susanne, ich komme, Ihnen Lebewohl zu sagen und Sie zu bitten: erlauben Sie mir, die Zimmer des Herrn Hofrats und Ihrer Damen noch einmal zu besuchen.«

Sie geleitete mich und ließ mich dann allein, und ich habe einen langen Abschied genommen und mir die Erinnerung an diese lieben, geliebten Räume und an jeden einzelnen Gegenstand darin tief eingeprägt. Nicht das geringste war verrückt, die gewohnte Nettigkeit und Ordnung herrschte.

»Mir ist ja, als ob sie jeden Augenblick zurückkommen müßten«, sagte Susanne, die mich am Eingang erwartet hatte.

Meine Kinderjahre – Teil 3

Der alte liebe Freund, der mir sein Büchlein so arglos in die Hand gelegt, hatte nicht geahnt, welchen Sturm es erregen würde. Auch war es nicht das erstemal, daß ein Begriff der Unermeßlichkeit des Weltalls mir hätte aufsteigen können. Wenn Onkel Moritz uns in Zdißlawitz besuchte, stellte er an hellen Abenden ein Fernrohr auf, das sonst wohlverwahrt in Papas Zimmer ein nutzloses Dasein führte, und ließ uns den Mond betrachten, den Saturn mit seinem Ringe, den Jupiter mit seinen Satelliten. Er hatte uns auch gesagt, daß unsere Erde an der Sonne und am Monde Bilder ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft vor sich habe. War ich damals noch zu kindisch, um mir über diesen Ausspruch Gedanken zu machen? Habe ich nicht gefragt, hat mein Vetter mir nicht Rede gestanden? Ich wußte es nicht mehr, klar wurde mir nur: Wenn ich mich seiner Worte auch entsann, ihre Bedeutung begriff ich erst jetzt. Die Erde wird sterben, wie der Mond gestorben ist. War sie denn nicht dein Lieblingskind, mein Gott, weil du deinen eingeborenen Sohn geschickt hast, um die Menschen zu erlösen … Die Menschen? was sind die? Dasselbe jeder, was ich bin: ein Hauch, über ein Stäubchen geweht, ein Nichts in der Unendlichkeit. Wie hatte ich mich gefühlt, als ich noch zum gestirnten Himmel emporsah und dachte: Auch mir zur Erquickung und Freude hat euch Gott der Herr ans Firmament gesetzt, ihr blinkenden Lichter, Edelsteine aus seiner Krone, himmlische Smaragde, Rubine und Diamanten! Und jetzt kreisten sie dort oben, in Zahlen nicht auszudenken, in unermeßlichen Fernen und furchtbarer Größe – kalt, hoffärtig und fremd. Ihn aber, der dies Unermeßliche geschaffen hatte, wie durfte ich wagen, ihn Vater zu nennen? Er war mir entrückt, und mitten im Gebet bedrängte mich die Frage: Gelangt meine Stimme bis zu ihm? Weiß er von mir? Habe ich einen allmächtigen, gütigen Vater, der die Haare auf meinem Haupte gezählt hat, der meine Leiden kennt, dem ich danken darf für jede Freude? … Danken, das ist das Schönste … Wie oft, wie oft hatte ich innegehalten, mitten im Spiele, mitten im Jagen und Tollen, um, erfüllt von einem unaussprechlichen Glücksgefühl, wortlos Gott zu danken für dieses Glücksgefühl, für die Bäume, die Blumen, den Sonnenschein, für alle Schönheit, alles Licht, das er über seine Welt, meine Welt ergossen hatte … Und nun sollte es aus sein? – Kein Dank mehr! Mein Dank drang ja nicht zu ihm – er wußte nicht von mir … Bei Tage wurde ich Herr über meine schweren Gedanken, zu schwer für einen Kinderkopf. Wenn ich aber des Nachts erwachte und sie kamen, da war ich ihre Beute. Oft konnte ich mir nicht helfen und schrie laut im Schmerze meiner Zweifel. Meine Schwester, aus dem Schlafe gerissen, fuhr erschrocken auf und wollte wissen, was mir sei. Und ich beruhigte sie: »Nichts, gar nichts – ich habe nur von etwas Schrecklichem geträumt.« Da wußte ich im voraus: gleich wird meine geliebte Furchtsame den Kopf unter die Decke stecken und rufen: Erzähl mir’s nicht! Erzähl mir’s nicht!

Am Morgen sah ich dann blaß und elend aus, und Fritzi sagte: »Sie hat wieder einen so bösen Traum gehabt.«

Nicht bei ihr und bei keinem konnte ich Hilfe holen in meiner Seelenqual. Ich glaubte jedes Wort zu hören, das sie, das jeder der Meinen mir entgegnen würde, wenn ich versuchen wollte auszusprechen, was mich beängstigte und verwirrte. Und den Brief, den ich von meiner Marie bekäme, nachdem ich sie eingeweiht hätte in meine Bekümmernisse, den meinte ich auch ungeschrieben lesen zu können.

So blieb denn nur mein geistlicher Führer – Pater Borek.

Zu ihm kam das Kind, das ihm schon von der ersten Beichte an Sorge bereitet hatte. Nicht losgestürmt kam es. Leise und zagend kam es heran. Hohe Röte stieg ihm in die Wangen, und die Zunge klebte ihm am Gaumen, als es fragte, ob Hochwürden auch wisse, daß Gott die Erde nicht in sechs Tagen geschaffen, sondern dazu ungeheuer lange Perioden gebraucht habe.

Nein, wirklich, davon wußte Hochwürden nichts; aber woher mir diese Kenntnis kam, hätte er gern erfahren.

Ich holte den Quell herbei, aus dem ich meine Gelehrsamkeit geschöpft hatte, Fladungs Leitfaden der Astronomie. Pater Borek las nur den Titel und sagte lächelnd, dieses Buch hätte ein Mensch geschrieben; es sei besser, sich statt an menschliche an die göttliche Weisheit zu halten. Was wir zu wissen und zu glauben haben, hat uns Gott durch seine Propheten in den heiligen Schriften geoffenbart. Daß er sich einem Gelehrten geoffenbart hätte, war dem geistlichen Herrn nicht bekannt, und ihm auf diesem Wege beizukommen unmöglich. Er glaubte an die Heilige Schrift, nicht an die Astronomie, und er tat sie ab mit dem einen Worte: »Menschenwerk.« Nun hatten sich zu meinen Zweifeln an der biblischen Schöpfungsgeschichte noch andere gesellt. Ach sie kamen in Scharen! Außer den Nouvelles heures à l’usage des enfants besaß ich jetzt auch einen kleinen, bilinguenen Paroissien Romain, der mich instand setzte, unserem Pater Borek, wenn er uns die Bedeutung der einzelnen Vorgänge bei der heiligen Messe rekapitulieren ließ, die betreffenden Stellen in der majestätischen und melodischen Sprache der Kirche herzusagen.

Da waren viele, die mir zu denken gaben, vor allem die Worte bei der Konsekration: »Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti …« Ich konnte es nicht verstehen. Wenn die ersten Menschen wirklich vorzüglich gewesen wären, wie hätten sie sündigen können, wie hätten sie den unbegreiflichen, unentschuldbaren Ungehorsam gegen Gott begehen können? Er hatte ihnen das Paradies geschenkt, war zu ihnen gekommen, die Glückseligen hatten sein Angesicht gesehen und seine Stimme gehört … Und mehr als dem, was diese göttliche und liebevolle Stimme ihnen sagte, hatten sie dem Gezisch einer elenden Schlange geglaubt und über ihrem scheußlichen Anblick den des Allgütigen vergessen? Die das vermochten, die waren nicht in einem Zustande der Vollkommenheit geschaffen worden; das war ein Widerspruch, über den ich nicht hinwegkam, so dringend Pater Borek mich auch beschwor, das unselige Grübeln aufzugeben. Ich aber hatte gar nicht das Bewußtsein, daß ich grübelte. Ich dachte ja nur nach, und dann kamen die Zweifel von selbst; sie fielen mich an, ich empfand einen physischen Schmerz dabei, wie neulich während der Wandlung … Da war es entsetzlich gewesen, da hatte es mich ergriffen: Bist du bei uns, mein Heiland? Es sind auf der Erde Millionen Kirchen, und in hunderttausend wird vielleicht in diesem Augenblick zur Wandlung geläutet, und überall sollst du in Brotgestalt erscheinen. Bist du auch bei uns? bist du da, mein Heiland? Und warum fühl ich’s nicht? warum fühle ich nicht deine Nähe?

Pater Borek hörte diese Bekenntnisse in stiller Ergebung an; er zürnte mir nicht, aber traurig hatte ich ihn wieder gemacht. Meistens nahm er dann seine Zuflucht zu dem Wunder und wiederholte eindringlich: »Mein Kind, wir sollen das Wunder verehren, an das Wunder glauben, aber nicht fragen: Wie kann das sein? Wäre es denn ein Wunder, wenn es sich erklären ließe?«

Nie ein hartes Wort, kaum je ein tadelndes. Nie eine Andeutung, daß es außer der guten Macht auch eine böse gebe, einen unheimlichen Versucher, der frevelhafte Gedanken in uns erwecke, unsere Andacht störe und irrezumachen suche in unserem Glauben – nie eine Warnung vor dem Teufel.

»Mein Kind, ich werde morgen in der heiligen Messe recht andächtig für Sie beten.«

So sah seine Strenge aus.

Wenn ich dann am Sonntag in die Kirche kam und ihn, der für mich beten wollte, an den Altar treten sah, war’s vorbei mit Grübeln und Zweifeln. Da war ich nichts anderes als ein demütiges kleines Geschöpf, das auf den Knien lag in Anbetung des Herrn der Welten. Ich freute mich der Kämpfe und Leiden, die der schönen Stunde vorangegangen waren, mit denen ich sie vielleicht hatte erkaufen müssen: Schick mir nur Leiden, ich will ja leiden, klang mein Gebet immer aus.

Daß meine angeborene und unverwüstliche Fröhlichkeit sich auch während jener Werdetage bei mir eingefunden hat, muß ich der getreuen nachsagen. Sie kam höchst überraschend, manchmal in ganz unpassenden Augenblicken, und sie ließ sich nicht verleugnen wie die Verzweiflungsanfälle. Und wenn meine Schwester mich erstaunt fragte, warum ich heute gar so lustig sei, konnte ich ihr keine Ursache dafür angeben. Ich hatte ein herrliches Gefühl von Glück – ich hatte es – »halt so«; es war das beste, das es gibt, das grundlose.

 

Ein Glück, das Grund hat,

Geht mit ihm zugrunde stündlich,

Und nur ein grundlos Glück

Ist tief und unergründlich.

 

sagt Hieronymus Lorm so weise wie schön.

Die Zeit der Schulferien war da und brachte uns unsere Brüder heim. Der ältere entwickelte sich zu dem, was man bei uns einen »Prachtbuben« nennt; der jüngere, immer gleich schmächtig und gleich kampffreudig, hatte an dem Erstgebornen einen Schutzengel, der ihn nie aus den Augen ließ, für ihn einstand, den kleinen hitzigen Angreifer auch im ungerechtesten Streite verteidigte. In diesem Jahre wurden die Knaben von einem alten Herrn begleitet, einem emeritierten Erzieher und großen Kinderfreund. Er war von hoher, hagerer Gestalt und zu gebrechlich, um an unseren Spielen teilzunehmen, bildete aber einen wohlwollenden Zuschauer und Kampfrichter. Sehr gern wohnte er auch dem Reitunterrichte bei, den Papa, der selbst ein vorzüglicher Reiter war, uns erteilte.

»Sie machen das gut, Sie machen das gut«, bekamen wir dann oft von ihm zu hören, und dabei bewegte er die langen Zeige- und Mittelfinger der längsten Hand, die ich je gesehen habe, vor unseren Gesichtern auf und ab. »Ja, wenn Sie alle Lektionen mit solchem Eifer nehmen würden, da hätten Ihre Lehrer bessere Zeiten.«

Unseres Fräuleins Karoline nahm er sich väterlich an, verwies mir meinen Übermut und ihr ihre Gereiztheit; während seiner Anwesenheit herrschte immer Frieden zwischen uns.

Traurig, daß die Tage, die unsere Brüder in Zdißlawitz zubrachten, nur – das war genau ausgerechnet! – nur zwölf Stunden hatten. Sie verflogen doppelt so schnell wie alle anderen Tage. Gar so bald war der Morgen wieder da, an dem die angehenden Gymnasiasten ins Institut zurückkehren mußten. Sie haben dort keine besonders guten Zeiten verlebt, aber nicht geklagt, denn sie waren tapfere kleine Buben. Trotzdem wußten Fritzi und ich genau, wie ihnen ums Herz war, wenn sie in den Wagen stiegen, der sie zur Bahnstation bringen sollte. Noch ein Händedruck, noch eine Umarmung, noch ein tröstendes Wort Papas: »Wir sehen uns bald wieder!« und fort waren sie … Wir standen noch eine Weile im Hofe und winkten mit den Taschentüchern, wenn der Wagen aus dem Tore fuhr, im Bogen am Gartengitter vorbei, und nun rasch auf der abwärts führenden Straße hinunterrollte. Dann liefen wir, und die kleine Sophie mit uns, in das Zimmer Großmamas, an das Fenster, an dem ihr Arbeitstischchen vor dem Bild der hingegangenen Levrette stand, und begleiteten die Reisenden in Gedanken. Jetzt sind sie am Ende des Schloßberges angelangt, jetzt geht es links eine Strecke auf ebenem Wege zwischen Feldern und Obstbäumen am Wassergraben vorbei, an dem die jungen Pappeln stehen, an der Wiese, auf der die vielen Gänse weiden. Und jetzt kann man den Wagen noch im Flug erblicken, und die Brüder sehen vielleicht gar uns am offenen Fenster. Die kleine Sophie meint, wenn sie uns sehen, können sie uns auch hören, und ruft: »Adieu, meine Brüder!« und schwenkt wieder ihr Tüchlein. Noch ein zweitesmal wird der Wagen sichtbar, ganz klein, ganz fern, wenn er den Berg hinauffährt, den letzten, auf dem wir eine Fahrstraße noch auszunehmen vermögen. Und die uns dort entschwinden in der Ferne, die beiden, die wenden sich jetzt gewiß noch einmal zurück und sagen zueinander: Da sieht man’s noch, das Schloß … Grüße fliegen hin und her durch die Luft, Grüße einer Liebe, die felsenfest gestanden hat in der verrinnenden Zeit, unwandelbar im wechselvollen Leben.

Es war eine epochemachende Neuerung, daß jeder, der in Zdißlawitz einen Brief erwartete, ihn täglich erhalten konnte. Erst seit wenigen Jahren befand sich ein Postamt in unserer Nähe. Früher mußte der Bote vier Stunden weit nach dem Städtchen Wischau pilgern, um die für das Dorf und das Schloß bestimmten Postsendungen abzuholen. Er setzte sich nur zweimal wöchentlich in Bewegung, und was er dann regelmäßig außer einem Räuschchen mitbrachte, das waren einige Nummern der Wiener und der Brünner Zeitung. Wenn auch Briefe eintrafen, galt das schon als ein kleines Ereignis. Papa öffnete sie nie vor Tische. Er muß das Lesen von Briefen als etwas Appetitverderbendes angesehen haben. Beim schwarzen Kaffee erst nahm er die Schriftstücke zur Kenntnis, nachdem er ihr Äußeres sorgfältig geprüft hatte. Einmal kam ein schmaler schwarzgesiegelter Brief auf dünnem Papier aus Paris. Die Adresse war mit einer feinen Perlschrift geschrieben, die dem Papa nicht ganz fremd schien; es konnte wohl die Madame Dufoulons sein. »Lies«, sagte er, reichte Mama den Brief, und sie las eine Weile schweigend. – »Nun, was schreibt sie?« – »Es wird euch traurig machen«, war die Antwort, »und tut auch mir sehr leid. Der arme Just, das arme Kind – und seine noch viel ärmere Mutter!«

Madame Dufoulon teilte die Nachricht vom Tode ihres lieben Sohnes mit. Ein Nervenfieber hatte ihn dahingerafft, wenige Monate, nachdem er so glücklich gewesen war, eine Stellung zu finden, die ihn instand gesetzt hätte, seiner Mutter und seiner Schwester eine kräftige Stütze zu sein … Das war eine grausame Verschärfung der Bitternis dieses Verlustes. – Ich kam von der Frage nicht fort: Was wird geschehen, was wird man tun?

Es wird geschehen, man wird tun, was in solchen Fällen das Gewöhnliche ist. Man wird, von Mitleid erfüllt, einen ungemein warmen und herzlichen Brief schreiben, man wird noch einige Male sagen: Der arme Just, seine arme Mutter, was wird sie jetzt wohl anfangen? und dann – vergessen. Man wird … ich werde! Mit peinlichem Selbstvorwurf ergriff mich der Gedanke an Frau Krähmer. Wie lange hatte ich mich ihrer nicht mehr erinnert, die dasselbe Schicksal gehabt wie Madame Dufoulon. Auch sie hatte alle ihre Hoffnung auf den Sohn gesetzt, der ihr weggestorben war, bevor sein verheißungsreiches Leben sich zur Blüte entfalten konnte.

Es war Spätherbst geworden, und vor unserer Abreise wollten wir noch etwas ausführen, was meiner Schwester als eine Pflicht gegen unseren Freund und Spielgefährten erschien.

Eine Viertelstunde weit vom Schlosse, aber schon zum angrenzenden Dorf gehörend, befand sich eine Schlucht. Sie war von einem dünnen Wasserfaden durchzogen und mit Buschwerk dicht überwachsen, aus dem einzelne schlanke Bäume hoch emporschossen. In ihrer Eile, der niedrigen Umgebung zu entragen, hatten sie sich nicht Zeit genommen, unterwegs Zweige auszusetzen; all ihren Blätterschmuck entfalteten sie erst in der Krone, und die wurde ihnen manchmal zu schwer. Wenn ich sie ansah, mußte ich an meinen Schiller denken mit seinem Kranz. Ganz gerade stand keiner von ihnen; nach verschiedenen Richtungen hin hatte der Wind sie gebogen. Mitten in der Schlucht ist ein kleiner freier Platz, und da befindet sich ein kapellenartig übermauertes Brünnlein. Zwei steinere Stufen führen durch den schmalen Eingang zu seinem Wasserspiegel. Im Dunkel sieht das Wasser so schwarz wie Tinte aus; ins Glas geschöpft, ist es kristallklar, und ihm wird die Kraft zugeschrieben, Augenleiden zu heilen.

Einige Schritte von dem Fußsteig entfernt, auf dem man vom Felde aus steilab zum Brünnlein gelangt, steht eine Buche …

Du alte Königin, weißt du von dem munteren Zeug, das grünt und lebt und sich vermehrt und nichts verlangt, als seines Daseins froh zu werden zu deinen Füßen und unter deinem Schutze? Weißt du von den Emporstrebenden, die der Ehrgeiz treibt, dir in deinen erhabenen Wipfel zu schauen und seine Geheimnisse auszuspähen? – Du alte Königin, du Herrscherin, wie du dastehst vor meinem geistigen Auge in deiner Schönheit, deinem Stolze, deiner Kraft, so könnte dich mir zu Dank kein Maler malen, kein Dichter beschreiben. Vor dir, zwischen zweien deiner mächtigen Wurzeln, haben kleine Menschen ein kleines hölzernes Standbild aufgerichtet: die heilige Anna, die ihr Töchterchen lesen lehrt. Kein Kunstwerk und – mehr als ein Kunstwerk für die Armen, die Betrübten, die hierher beten, die Glücklichen, die Genesenden, die danken kommen.

Die Schlucht, in der der wundertätige Quell sich befindet und die herrliche alte Buche sich einst befand, hatte ihren Namen von dem kleinen Standbilde erhalten. Zur »Svatá Anna« wanderten wir als Kinder oft, brachten dort manchen Sommernachmittag zu, und einmal schnitt Monsieur Just seinen Namen in den Stamm der Buche ein. Mit großen Buchstaben, tief durch die dicke Rinde bis aufs Lebendige. Von weitem konnte man lesen, gelbweis herausleuchtend aus dunkler Umrahmung: Just.

Das dürfe man nicht so lassen, meinte Fritzi; jetzt, weil er tot sei, müsse ein Kreuz über den lieben Namen gesetzt werden. Wir bewaffneten uns mit unseren schärfsten Taschenmessern und begaben uns eines trüben Novembermorgens zu der Buche bei der »Svatá Anna«. Eifrig mühten und streckten wir uns, soviel wir konnten, um zu der Höhe hinaufzureichen, in der unser Kreuz angebracht werden sollte. Es war vergeblich, wir mußten uns bequemen, das Zeichen des ewigen Friedens unter den Namen unseres entschlafenen Freundes einzuschneiden.

Heute steht die kleine »Svatá Anna« nicht mehr unter dem Schutze der Buche. Sie haben die Herrliche gefällt und auch die schlanken Bäume in ihrer Nähe und alles Gebüsch fortgeputzt, um mehr Platz zu schaffen für Rüben und Getreide. Gewiß wird bei dem Standbild der Heiligen noch immer fromm gebetet, gewiß noch an die Heilkraft des Wassers im Brünnlein geglaubt. Ich aber meide diese Stelle und habe sie nicht mehr betreten, seitdem die alte Riesin ihren noch grünen Wipfel, der wonneschauernd das erste Morgengrauen begrüßte, der feierlich den letzten Sonnenkuß empfing, zu Boden senken mußte.

Nachdem Fräulein Karoline uns verlassen hatte, fand man Fritzi und mich alt genug, um fortan in Freiheit dressiert zu werden; nur für die kleine Sophie wurde eine Gouvernante aufgenommen: Madame Vaxelaire, die weibliche Hälfte eines Ehepaares, das sich dem Erzieherfache gewidmet hatte. Zu der Zeit, als die Gattin unserem Schwesterchen ihre Sorgfalt widmete, was sie treu und redlich tat, war der Gatte Hofmeister eines Knaben, von dem er stets erzählte, dessen ungewöhnliche Begabung und edle Eigenschaften er rühmte und dem er eine glänzende Zukunft vorhersagte. Er hat recht behalten, denn dieser Knabe hieß: Graf Hans Wilczeck.

An Madame Vaxelaire hatten wir eine äußerst angenehme Hausgenossin. Sie war eine kräftige, wohlwollende Frau, im Besitze des unschätzbaren Vorzuges einer immer gleichmäßig guten Laune. Sehr gesund, nicht mehr jung, machte sie mit ihren roten Wangen und dem gelbbraunen Teint den erfrischenden Eindruck eines schönen Oktobertages. Sie hatte unsere kleine Sophie sehr lieb und nahm sich auch unser freundlich an, obwohl sie gegen Fritzi und mich keine andere Verpflichtung hatte als die, uns täglich auf dem Spaziergang zu begleiten.

Das Stadtleben ging den gewohnten Gang, unsere Lehrer und Lehrerinnen fanden sich wieder ein; nur trat ein neuer Zeichenmeister an den Platz des früheren. Dieser hatte sich leider zu einer kleinen Taktlosigkeit hinreißen lassen. Er wartete eines Vormittags wie gewöhnlich auf uns im Speisezimmer, das während der Zeichenstunde unser Atelier vorstellte. Wir erschienen – ebenfalls wie gewöhnlich – in Begleitung von Mamas Musterkammerjungfer, Fräulein Josefine. Sie hatte die Aufgabe, den Herrn Lehrer zu beaufsichtigen, und nahm die Sache sehr ernst. Als wir an jenem verhängnisvollen Vormittage eintraten und ihn grüßten, kam er uns entgegen, blieb vor meiner Schwester stehen, stemmte den Arm in die Seite und sprach: »Sakerlot, Komteß Fritzi, was haben Sie für Augen! Nein wirklich, mirakulös schöne Augen!«

Wir hätten dem biederen Oberösterreicher diesen Ausdruck einer gerechten Bewunderung verziehen. Die Kammerjungfer hielt es für ihre Pflicht, ihn höheren Ortes anzuzeigen, und wir erhielten einen Zeichenlehrer, noch um ein Jahrzehnt älter als der frühere, der auch kein Jüngling war. Der Nachfolger hatte einen Beethovenkopf. Ich lernte in ihm eines der größten Originale kennen, die mir im Leben begegnet sind. Ein ganz ungelehrter Mensch, der sich in den Wunsch verrannt hatte, Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiete zu machen, und nicht die geringste Freude an der Ausübung des braven Malertalents fand, mit dem er begnadet war. Er überließ seine kleinen Ölgemälde – treffliche Genrebildchen – zu guten Preisen einem Kunsthändler, der sie zu noch viel besseren nach England verkaufte. Der Mann quälte ihn mit seinen Bestellungen, er aber ließ die Arbeit stehen und beschäftigte sich mit abenteuerlichen Entdeckungen. Von ernsten Studien war er ein Feind, er las wenig. »Die Bücher«, war eine seiner Lieblingsbehauptungen, »bringen uns um die Originalität. Auch verdirbt es mir ja die Freude an einem eigenen Einfall, wenn ich erfahre, daß ein anderer ihn vor mir gehabt. Oder vielleicht nicht? was?«

Es war komisch, unseren Zeichenlehrer, während er eine Aufgabe korrigierte, sagen zu hören, daß wir nichts anderes seien als lebendige Leydener Flaschen. Wir meinten, das müsse in irgendeiner Beziehung zur Zeichenkunst stehen; es stand aber in Beziehung zur Physik. »Ja, der Cunäus«, pflegte er seinen Vortrag zu eröffnen, »ein großer Mann – aber er ist bei der Flaschenelektrizität stehengeblieben, bis zur menschlichen nicht vorgedrungen. Und wir sind mit Elektrizität doch ebenso angefüllt wie seine stanniolbeklebten Glasgefäße, und was die Entladung betrifft, für die ist gesorgt. Wenn der Mensch zum Beispiel erschrickt oder wenn er sich zum Beispiel plötzlich verliebt.« Bei dem Worte spitzte Fräulein Josefine die Ohren und ließ ein deutliches Räuspern vernehmen. Er bemerkte es nicht und fuhr fort: »Das wären jähe Entladungen. Allmähliche finden ununterbrochen statt. Sie können sich davon selbst überzeugen. Gehen Sie spazieren durch mehrere Tage nacheinander immer auf demselben Weg. An jedem Tage wird er Ihnen kürzer vorkommen als am vorhergehenden. Warum? Sie haben am ersten am meisten Elektrizität abgegeben an die Erde, die ein mittelmäßiger Leiter ist; am zweiten finden Sie den größten Teil abgegebener Elektrizität auf dem Wege wieder, verbrauchen also weniger von der Ihren, werden also weniger müde, der Weg kommt Ihnen also kürzer vor. Ist das richtig? Oder vielleicht nicht – was?«

Er sah uns dabei so streng an, daß wir es immer richtig fanden.

Ein zweites Steckenpferd bestieg er auch fürs Leben gern. Er schrieb sich – gewiß ohne je eine Zeile von oder über E.T.A. Hoffmann gelesen zu haben – die Fähigkeit zu, Farben zu riechen und zu hören. Blau klingt wie ein Mollton, Rot ist Dur. Farbenempfindung, Tonempfindung werden durch den gleichen Reiz erregt, einfache Farben, einfache Töne. Mit halben Farben, mit allerlei Schattierungen lassen sich Terzen, Quarten, Quinten darstellen. Eines Tages brachte er uns ein gemaltes Farbenklavier mit mehreren Oktaven. Ich war geblendet und freute mich, demnächst vor meinem Vetter Moritz mit den physikalischen Kenntnissen zu prunken, die ich bei der Zeichenlektion erworben hatte. Sie machten aber keinen besonderen Eindruck, und ich erfuhr den Schmerz zu hören, daß die vermeinte Entdeckung des Künstlers, der sich führerlos auf wissenschaftlichen Pfaden umhertrieb, keine sei. »Ein Farbenklavier ist schon zusammengestellt worden«, sagte mein Vetter.

»Schon zusammengestellt – und durch wen?«

»Durch Castel.«

»Und wann?«

»Vor mehr als hundert Jahren.«

Vor so langer Zeit! eine so alte Geschichte hat das Farbenklavier? O Gott! der arme Herr Lehrer wird arg enttäuscht sein, wenn er hört, daß er nicht der alleinige Entdecker dieses mysteriösen Instrumentes ist … Ich versetzte mich in seine Lage und machte im voraus alle Qualen der Beschämung mit ihm durch – zum Glück unnötigerweise; denn er war viel zusehr beschäftigt mit seinen eigenen wissenschaftlichen Leistungen, um von denen anderer Notiz zu nehmen.

Einige Tage später fragte mich mein Vetter, ob es mich interessieren würde, etwas zu hören von den Versuchen, die gemacht worden sind, um die Harmonie zwischen Farben und Tönen nachzuweisen. In seiner klaren und anschaulichen Art beschrieb er den Apparat, den Ruete zusammengestellt hat, um den Eindruck von Farbenakkorden hervorzubringen. Er sprach von Kontrastharmonien, von den Farben, die nur stimmen, wenn sie durch Grau oder Weiß eine Unterbrechung erlitten haben. Solange er sprach, war ich überzeugt, alles gut zu verstehen, was er mir erklärte. Als ich aber darüber nachdachte und es mir zurechtlegen wollte in meinem Kopfe, da merkte ich, daß die neuen Erkenntnisse nicht hineingedrungen waren. Draußen schwebten sie umher als klang – und farbenreiche undeutliche Gebilde.

Mein Zeichenmeister hatte es besser; ihm tönte, wenn er den großen, mit bunten Streifen bedeckten Bogen betrachtete, den er sein Farbenklavier nannte, das Gott erhalte entgegen.

 

In den Briefen meiner treuen Mentorin finde ich einen recht trüben Reflex des Glanzes, in dem ich mich ihr als angehender Shakespeare des 19. Jahrhunderts vorstellte. Sie begann ernstlich besorgt um mich zu werden und schlug einen strengen Ton an. In Bücher gebunden liegen alle ihre Briefe vor mir; wohlverwahrt und ungelesen sind sie jahrelang im Schranke geblieben. Ich habe sie erst wieder hervorgesucht, um sie dem Freunde zur Verfügung zu stellen, der die Geschichte meines Werdegangs mit feiner und liebevoller Hand aufgezeichnet hat.

Jetzt blättere ich oft in den inhaltreichen Bänden, und was mich dabei mit schmerzvoller Wehmut erfüllt, ist das Schicksal ihrer Verfasserin, von dem sie Zeugnis geben.

Marie Kittl ist die erste der vielen gewesen, die mir, je weiter ich fortschritt auf meinem Lebenswege, desto öfter begegnen sollten – der Opfer eines eingebildeten Schriftstellerberufes. Es wurde allmählich meine ständige Qual, mit ansehen zu müssen, wie diese Bedauernswerten, von ihren Aspirationen getrieben und genarrt, taub werden für die dringendste Bitte, den ehrlichsten Rat und wie sie dem widerwilligen Verzichten, mit einem anderen Wort: – der Verzweiflung entgegengehen.

Ich kenne ihre Sehnsucht und weiß, daß sie ebenso unüberwindlich ist wie die der echten Begabung, mit der die ihre noch manche andere Ähnlichkeit und wahrscheinlich denselben Ursprung hat; aber sie leidet an Unzulänglichkeit. Denn nur von Unzulänglichkeit kann die Rede sein. Etwas Talent ist immer vorhanden, ohne Talent macht man gar nichts, nicht einmal etwas Miserables. Aber das vorhandene Fünkchen, ja sogar der Funke wird noch lange nicht genügen, ein Licht daran zu entzünden, das über den Tag hinausleuchten kann. Und nun steht vor mir der ganze Jammer, der sich da vorbereitet, der wachsen und wuchern und traurige Früchte reifen wird. Das peinvoll hastige Streben der Ohnmacht, die mit jeder neuen Arbeit neu aufflackernde Hoffnung, die blutige Enttäuschung nach langem Warten und Harren, endlich die Trostlosigkeit und Erbitterung. Die Menschenliebe erlischt; wie soll man die lieben, die uns nicht gelten lassen? Das Interesse und das Wohlwollen für Mitstrebende verwandeln sich in Gleichgültigkeit und, wenn ihnen ein Glückssternchen aufblinkt, in Mißgunst. Da ist der, und da ist jener, die haben Minderwertiges geleistet und Anerkennung gefunden. Man wägt und vergleicht und legt einen seltsamen Maßstab an; nicht am Großen mißt man sich, nein – am Kleinen. Hat man einmal einen anderen Kleinen oder – wenn ein besonders glücklicher Zufall es fügt – einen Großen scheitern gesehen, dann erwacht die Bettlerin unter den Freuden – die Schadenfreude. Kein wirklicher Balsam und Trost, denn sie entspringt dem Giftquell des Neides, dieses moralischen Gebrechens, dessen fressender Qual sogar der »fanfaron du vice« sich nicht rühmen mag. Lächelnd verbeißt ihn jeder, den er foltert, wie der Spartanerknabe seine Schmerzen verbiß, als ihm der gestohlene Fuchs, den er unter dem Mantel verbarg, die Brust zerfleischte.

Marie Kittl hat allerdings weder Erbitterung noch Neid gekannt, aber unglücklich machten sie ihre immer gescheiterten Versuche, sich schriftstellerisch zu betätigen. Sie stand in reifen Jahren, hatte die Erziehung der jungen, mütterlicherseits verwaisten Fürstin Arenberg vollendet und ihren geliebten Zögling noch zum Altar geleitet. Bald darauf war sie einer Einladung nach Brüssel gefolgt und hatte dort die Stellung einer Gouvernante bei der hochbegabten Tochter König Leopolds, der Prinzessin Charlotte, eingenommen und später die der Vorleserin der Herzogin von Brabant. Es waren sonnige und schöne Jahre, die sie am belgischen Hofe verlebte. Der Wirkungskreis, der sich ihr eröffnet hatte, sagte ihr in jeder Weise zu; er brachte äußere Ehren, für die sie nicht ganz unempfänglich war, und bot ihr Befriedigung ihres innigen Herzensbedürfnisses, die Anhänglichkeit und Liebe ihrer Umgebung zu gewinnen. Auch ihr lang genährter Wunsch, weite Reisen zu unternehmen, erfüllte sich unter den denkbar angenehmsten Verhältnissen. All das Gute erfuhr sie bei der Ausübung ihres wirklichen Berufes, und sie fand ihr Glück in ihm, bis der falsche sein Lügenhaupt erhob und sie umstrickte mit allen Zaubern und Lockungen, über die das Blendwerk verfügt.

Sie begann nach Freiheit zu lechzen, um schreiben zu können, soviel sie wollte. »Meine Flügel«, teilte sie mir mit, »haben sich geregt.« Und sie kamen nicht wieder zur Ruhe, die verhängnisvollen Flügel, deren kümmerlicher Schlag gerade genügte, um ihre Besitzerin hinzuschleifen über Dornen und Gestein. Ihre Geschwister und ich bewunderten, was sie schrieb, weil sie es geschrieben hatte – alle übrigen schwiegen. In ihrem Kreise entstand, wie wir hörten, Verlegenheit, wenn sie kam, der oder jener Hoheit ein neues Werk zu überreichen. Auf eigene Kosten war es gedruckt und prächtig eingebunden und wurde mit höflichem Lächeln hingenommen, denn man achtete Madame Kittl zu hoch, um ihr Lobsprüche über Arbeiten zu erteilen, die ihrer so wenig würdig waren. Sie hat es mir nie gesagt, doch vermute ich, daß der Mangel an Anerkennung für ihre Reisebeschreibungen und Novellen sie bestimmte, den Hof zu verlassen. Diesen Entschluß führte sie unerwartet rasch aus, um den Einwendungen zu entgehen, die sich gegen ihr Scheiden erhoben hätten. In London, wo sie ihren Wohnsitz nahm, erhielt sie den Beweis der treuen Gesinnung, die man ihr am belgischen Hofe bewahrte. König Leopold setzte der Erzieherin seiner Tochter aus eigener Initiative ein ansehnliches Jahresgehalt aus. Marie Kittl befand sich in behaglichen Verhältnissen und konnte leicht einen Teil ihrer Ersparnisse daran wenden, von Zeit zu Zeit einen neuen, hübsch ausgestatteten Band in kleiner Auflage erscheinen zu lassen und einige Exemplare an Freunde zu verschenken. Der Rest stapelte sich auf in den Magazinen ihres Verlegers, und oft klagte sie: »Er tut zu wenig für meine Bücher. Ich finde sie nirgends angezeigt.« So ging es fort, bis die Ersparnisse aufgezehrt waren. In schonendster Weise bemühten sich die ehrlichen unter den Freunden und Verehrern der unermüdlich Strebenden, sie zu bewegen, die Schriftstellerei nur noch als Hausindustrie zu betreiben. Davon jedoch wollte sie nichts hören. Manuskripte gehen mit der Zeit verloren, Bücher, die lange unbeachtet blieben, kommen manches Mal doch ans Licht, und dann wundern sich die Menschen, daß dieser Schatz erst so spät gehoben wurde.

So dachte sie vielleicht im stillen, ich aber hatte die Erkenntnis gewonnen: Für diese Werke gibt es so wenig ein Morgen wie ein Heute. Es ist mir ein Rätsel geblieben, wie meine Freundin, die soviel Lebensweisheit besaß, die ein so richtiges Urteil für fremde literarische Leistungen hatte, über ihre eigenen mit völliger Blindheit geschlagen sein konnte. Sie erzählte vortrefflich, sobald sie aber ans Niederschreiben des Erzählten ging, zerflossen die Begebenheiten, Gestalten, Landschaften wie feuchte Flecke auf Löschpapier. Von ihrer Sprache sagte sie selbst: »Ich weiß, sie ist international.« Daß sich eine kleine Kur vornehmen ließe, davon wollte sie nichts hören. Man hat seinen Stil, wie man seinen Buckel hat, schien sie anzunehmen und wollte Ruhe haben vor der Orthopädie. Das Ende war Entmutigung und doch auch – und darüber kann ich nicht hinwegkommen – ein Zweifel an meiner Hilfstätigkeit. Er hat ihre Freundschaft und Liebe zu mir nicht verringert; aber er war da, ich fühlte ihn. Sie brachte die letzten Jahre ihres Lebens in Wien zu und nahm oft meine Vermittlung bei Redakteuren und Verlegern in Anspruch. Alle Briefe, mit denen ich ihre Manuskripte zurückerhielt, konnte ich ihr nicht zeigen, und doch wollte sie jeden sehen. – Ich wußte oft nicht, welche Notlüge ersinnen, um zu erklären, warum es mir unmöglich sei, ihr die Zuschrift mitzuteilen, die ich in Begleitung einer wieder abgelehnten Einsendung erhalten hatte. Immer schwerer entschloß ich mich, die Botin des abermaligen Scheiterns einer frohen Erwartung zu sein.

»Nicht angenommen? Auch das nicht? Und ich hielt es doch für mein Bestes.«

Mehr sagte sie nicht – aber ich ermaß den Schmerz, den diese heroisch kühlen Worte verbargen.

Und ich sah mich im Zimmer um – und ich war anwesend bei ihrem Mittagessen, und ich wußte, sie empfindet bitter die Dürftigkeit, die aus jedem Winkel dieses Raumes schreit, aus jedem Schüsselchen, das ihr die Hausmagd auf den Tisch stellt. Durch Jahrzehnte hat sie in königlichen Schlössern gewohnt und an königlicher Tafel gespeist. Sie mußte ja leiden, sie mußte! unter dem Kontrast zwischen einst und jetzt …

Nun, sie verriet es nie. – Die Übergütige, die sich zu einem strengen Wort gegen mich nie hatte aufraffen können, wies jede Andeutung an das Glück, das es mir gewähren würde, ihr Dasein behaglicher gestalten zu dürfen, energisch zurück.

»Ich bin ganz zufrieden, ich brauche nichts, schicke mein Manuskript jetzt nur an einen anderen Verleger.«

Und sobald es eine neue Reise angetreten hatte, stiegen die Hoffnungen wieder empor. Eines ihrer Bücher würde ja doch einmal »einschlagen« und dann alle übrigen zu Ehren bringen. »Denke nur, wie lange du gerungen hast um deinen ersten Sieg!«

Sieg! Mir war leicht, ihr zu beweisen, daß es nicht weit her sei mit diesem »Sieg«. Sie hatte hundert Einwendungen, aber ein bißchen wohl tat es ihrem wunden Herzen doch zu hören, daß ihre Schülerin sich nicht in ungetrübtem Ruhmesglanze sonnte.

Sie hat das Bitterste erlitten, das ich weiß: sie hat einen brennenden und unerfüllbaren Wunsch in der Seele getragen. Und noch einen zweiten, einen weniger heißen, aber sehnlichen, hatte sie und betete täglich um dessen Gewährung, die ihr auch zuteil wurde. Ihr Tod war sanft und schmerzlos. Ohne vorhergegangene Krankheit ist sie eines Nachts, nachdem sie sich am Abend zuvor wohlauf und gesund zur Ruhe begeben hatte, aus dem zeitlichen in den ewigen Schlaf gesunken. – Im Traume, im schönen, lichtverklärten Traume, so hoffe ich, du gute Träumerin!

 

Es war wieder Frühling geworden. Die Kastanienbäume im Prater standen im hellsten Flor, auf den Wiesen, die grünten und dufteten, fanden reiche und arme Kinder sich beim Blumenpflücken ein, die einen zum Vergnügen, die anderen zum Erwerb. Es war hauptsächlich auf Veilchen abgesehen. Von denen banden die Mütter der armen Kinder einige Dutzend an einen kleinen Stab, legten ihnen ein Efeublatt als Stehkragen um und boten die Sträußchen zum Preise von drei Kreuzern Konventionsmünze in den Straßen der Stadt aus. Der aufmerksame Gatte brachte der Frau ein »Büscherl« heim, der Bräutigam legte es der Braut zu Füßen, das Kind den Eltern, und welche Freude bereitete das bescheidene Geschenk! – Ihren beliebtesten Standort hatten die Verkäuferinnen am Graben vor dem Trattnerhof, und dieser Alte, mein Gegenüber, mit dem ich von meinem Fenster aus gern Zwiesprache pflege, versichert mir, die kleinen »Praterveigerln« hätten bis zu seinem zweiten Stock hinauf geduftet. Die großen »wällischen Veilchen« hingegen könnten haufenweise an ihm vorbeigetragen werden, er röche nichts davon.

Ich möchte das Körbchen einer Blumenfrau von einst gar zu gern neben dem tragbaren Blumenmagazin einer ihrer Kolleginnen von heute stehen sehen! In dem einen kleine dunkle Urbilder der Lieblichkeit, des Segens, den sie ausströmen, unbewußt, in dem andern alle Farbenglut und Formenpracht südlicher Flora in Glanz und Reichtum prangend. Was hätten die einander zu sagen, die beiden! Kulturgeschichte würden sie reden.

Die Zeit verfloß, die Tage wuchsen und mit ihnen unsere Sehnsucht nach der Rückkehr auf das Land. Sie war für Mitte Mai festgesetzt und allmählich in so nahe Aussicht gekommen, daß man begann, die Koffer vom Boden herunterzuschaffen. Auch die unseren erschienen, und wir machten uns an die köstliche Arbeit des Einpackens und sangen dazu aus vollem Halse nach der Melodie des Volksliedes Da droben auf dem Bergerl mein selbstverfaßtes Reiselied:

 

Adieu nun, du Wien,

Wir fahren hinaus,

Nicht weit in die Fremde,

O nein, nach Zuhaus.

 

Dort steht’s auf dem Bergel

So traurig und denkt:

Wann werden die Kinder

Mir wiedergeschenkt?

 

Sei froh jetzt, mein altes,

Sie sind schon ganz nah,

Gott grüß dich, sie kommen,

Die Kinder sind da!

 

Wohl hatte Fritzi gefunden, das Liedchen passe nicht mehr für uns, und so hatte ich eins für erwachsene Mädchen gedichtet. Das war aber ohne Schwung und sang sich nicht von selbst wie das erste. So blieben wir bei dem.

Unser Festjubel erfuhr eine jähe Störung, die Abreise mußte verschoben werden, denn Großmama war plötzlich erkrankt.

»Nichts von Bedeutung«, versicherte der Arzt, ein Homöopath, der damals in Wien großes Ansehen genoß. »Eine leichte Lungenentzündung; in vierzehn Tagen ist die alte Frau wieder gesund, und dann fahren Sie mit ihr, je eher, je besser, aufs Land!«

In vierzehn Tagen! in vierzehn Tagen erst? – das ist ja so lang, nicht auszudenken, wie lang, das ist ja nicht zu erleben, das Ende dieser vierzehn Tage. Wir waren über diese Verzögerung unserer Abreise so unglücklich, daß wir ihre Veranlassung im ersten Augenblick kaum erwogen. Als aber zwei Tage vergingen, an denen wir die Großmama nicht sehen durften, als es noch am dritten hieß: »Sie hat Fieber, sie hustet und muß Ruhe haben«, begann uns angst zu werden. Auch Papa war besorgt und äußerte Zweifel an der Unfehlbarkeit des berühmten Arztes. Am vierten Tage hatten wir beim Nachhausekommen vom Spaziergang angeläutet an Großmamas Wohnungstür, waren, als sie geöffnet wurde, ins Vorzimmer gedrungen und bestürmten die Kammerjungfer mit Bitten, uns zu melden. Sie brauche nur zu sagen, daß wir da seien, sonst gar nichts. Vielleicht, man könne ja nicht wissen, vielleicht würden wir doch vorgelassen.

Die Kammerjungfer mahnte zur Geduld. Unsere Eltern und der Arzt, die sich schon eine Weile bei Großmama befänden, würden gleich kommen und dann bestimmen, was zu geschehen habe. Als sie eintraten und wir unser Anliegen vorbrachten, wies der Doktor uns barsch ab. Er war in schlechter Laune und fuhr ungeduldig heraus, als Papa Besorgnisse um die Kranke äußerte: »Sehen Sie denn nicht? Es geht ja besser. Ganz gesund wird man in dem Alter doch nicht von einem Tag zum andern!«

Beide Eltern fragten noch: »Also wirklich keine Gefahr?«

»Wenn ich Ihnen sage: nicht die geringste.«

Das war denn schön und beruhigend. Von den vierzehn Tagen, die überstanden werden sollten, bevor Großmama reisen durfte, waren vier vorbei. Zehn noch dazu, und wir sind wieder in unserem lieben alten Neste … Die Lindenbäume wiegen ihre blühenden, duftenden Zweige und die Fichten ihre in die Wolken strebenden Wipfel; wie von einer unsichtbaren Riesenhand gestreichelt, wallen und schmiegen sich wohlig die Millionen Ähren auf den Feldern, die mütterliche Heimaterde qualmt, die Sonne leuchtet, freundliche Augen lachen, und alle, alle sagen: »Grüß euch Gott!«

Nun war der fünfte Tag gekommen – ein Maitag mit Sommertemperatur, auf dem Lande wonnig, in der Stadt für mich ein Kopfschmerzenausbrüter. Sie hatten sich heftig eingestellt, und als die Eltern am Vormittage mit uns ausfahren wollten, bat ich, zu Hause bleiben zu dürfen.

Die Meinen waren kaum fort, als Madame Vaxelaire herbeigeeilt kam, um mir zu sagen, daß Großmama heraufgeschickt habe … Sie wollte Fritzi und mich sehen … und schrecklich – schrecklich – jetzt sei Fritzi nicht da! –

Die Erregung, mit der die gute Frau sprach, entsetzte mich. Was hat das zu bedeuten? Was gab es denn? Ich war aufgesprungen, ich rannte auf den Gang. Dort stand der alte Josef, der gekommen war, uns abzuholen, uns beide, und jetzt mich allein über die Stiege geleitete.

»Nestesti, Nestesti!« war alles, was er auf meine hastigen und angstvollen Fragen erwiderte.

Die Kammerjungfer erwartete mich – tief bekümmert, von Zweifeln und Sorgen zerquält. Sie wußte nicht, ob es recht von ihr sei, mich zur Großmama zu führen. In der Früh, als der Arzt dagewesen war, hatte er unsere Bitten um Einlaß grimmig abgewiesen. Aber die Frau Baronin wolle uns sehen, habe den Befehl, uns zu holen, so bestimmt gegeben – da müsse man ihr doch gehorchen.

Wir gingen in das Speisezimmer und leise auf den Fußspitzen zur Tür des Schlafzimmers. Sie war nur angelehnt und gab meinem zaghaften Drucke nach.

Ich blieb auf der Schwelle stehen.

Die zwei Fenster rechts, die in das Rotgäßchen sahen und zwischen denen am breiten Pfeiler das Bild meiner Mutter hing, waren ganz, das Fenster der Tür gegenüber bis zur halben Höhe verhängt. So konnte die Kranke ein Stückchen Himmel sehen von ihrem Bette aus, das die Mitte der Längswand zur Linken des Eingangs einnahm. Nie anders als eilig und freudig war ich in dieses stille Gemach getreten, und nun bannte eine schwere, beklemmende Bangigkeit mich auf meinen Platz. Von ihm aus sah ich die hochgetürmten Polster, deren Stickereien das Kopfende des Bettes überragten, sich ein wenig bewegen, und nun hörte ich die Stimme Großmamas. Sie fragte: »Die Kinder – kommen sie?«

Da faßte ich mir ein Herz, da lief ich zu ihr, und plötzlich und wonnig ergriff mich die Freude des Wiedersehens. Ganz ungetrübt. Großmama machte mir nicht den Eindruck einer Kranken. Sie saß fast aufrecht in ihrem Bette, an ihre Schultern schmiegte sich ihr weicher, feiner Schal mit den bunten Blümchen, den sie so gern hatte. Sie war auch frisiert wie gewöhnlich, trug eine reich garnierte weiße Haube und an jeder Seite der Stirn drei braune Seidenlocken.

Was liegt einem Kinde an der Schönheit alter Leute? Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob meine greise Großmutter schön sei oder nicht. Jetzt aber sagte ich mir und war sehr glücklich und stolz darüber: Sie ist ebenso schön, wie sie lieb ist und gut!

Sie hatte mir zugenickt. »Fritzi?« fragte sie, und ihre Stimme war arm und heiser.

Ich versicherte, daß Fritzi gleich kommen werde, und begann, ohne selbst zu wissen warum, eine lebhafte Beredsamkeit zu entfalten. Genau entsinne ich mich, wie jeder Einzelheit dieser letzten mit meiner Großmutter verlebten Stunde, daß ich von Zdißlawitz erzählte, und wie mich’s freue, daß sie wieder fast gesund sei, weil wir jetzt bald abreisen könnten.

Sie lächelte – sehr traurig, kam mir vor – und machte mir ein Zeichen, mich auf einen Sessel zu setzen, der an ihrem Bette stand, mit der Lehne gegen das Fenster. Ich gehorchte, war aber durch Großmamas Schweigen und durch ihr trauriges Lächeln aus meiner zuversichtlichen Stimmung und in Verlegenheit geraten. So verhielt ich mich denn ganz ruhig und wagte nicht mehr, mich zu rühren. Großmama hatte die Augen geschlossen, und ihrem schweren und hörbaren Atem glaubte ich zu entnehmen, daß sie schliefe.

Alles still rings um uns. Manchmal nur rollte ein Wagen durch das Gäßchen und über den Rabenplatz. Die Sonne mußte nun im Zenit stehen, der Himmel leuchtete in purpurner Bläue. Durch den unverhangen gebliebenen Teil der Fenster fiel goldiges Licht in das Zimmer und bildete einen breiten hellen Streifen an den Wänden. Sie waren glatt, mit grüner Farbe bemalt. Von meinem Platze aus sah ich gerade auf die Stelle hin, an der, vor nun auch schon acht Jahren, mein Kinderbett durch längere Zeit gestanden hatte. Meine Schwester war an den Masern erkrankt, wir wurden getrennt, und Großmama nahm mich in ihre Obhut. Mein kleines Lager war in ihrem Schlafzimmer aufgeschlagen, und wenn ich früher als sie erwachte, stellte ich mich sachte auf und begann die Farbe von der Wand loszulösen. Eine angenehme Morgenbeschäftigung. Die Farbe, die sehr dick aufgetragen war, bildete hie und da Blasen, und wenn man sie eindrückte, sprangen sie ab wie Glas, und wie Glas ließ sich auch ihre nächste Umgebung vom lichten Grund abheben. Ein wenig weiter kam dann wieder ein Bläschen, und wieder wurde es eingedrückt, und nach ein paar Wochen war mitten im Grün ein weißer, vielfach ausgebuchteter Fleck zu sehen, der sich wie ein Ozean auf einer Landkarte ausnahm. Die Kammerjungfer hatte zu dem Unfug länger geschwiegen, als ihr leicht wurde, und machte ihren Bedenklichkeiten endlich Luft. Sie stellte sich mit gerungenen Händen vor den Ozean und gab die bestimmtesten Versicherungen ab, daß sie nicht ahne, was jetzt mit der so übel zugerichteten Wand anzufangen sei. Großmama, die mir eben Unterricht im Häkeln gab, antwortete gleichmütig: »Man wird sie frisch anstreichen lassen.«

Ich hatte nie wieder daran gedacht – jetzt fiel es mir ein, und dem leisen Anstoß folgend, stieg nach und nach ein Zeichen ihrer still waltenden Liebe ums andere vor mir auf, eine unendliche Reihe, die sich im Unbewußtsein der Kindheit verlor … Und diese Liebe, die immer gab, sich nie erschöpfte, hatte ich besessen und hingenommen wie etwas ganz Selbstverständliches, das mir gebührte, mich nie besonnen, daß ich ein göttliches Geschenk genoß, und noch weniger, daß es mir je genommen werden könnte … Immer würde ich sie haben, die mir jede Freude bereitet hatte, die sie mir bereiten konnte, immer eine Entschuldigung für mich gewußt, mir alles verziehen hatte, zuletzt sogar die Dichterei. Und wie wird es erst sein, wenn ich Großes geleistet haben werde und sie stolz auf mich sein wird? … Als ich, diese stumme Frage auf dem Herzen, zu ihr emporsah, begegnete mein Blick ihren weit geöffneten Augen, die mit unsagbarer Zärtlichkeit auf mir ruhten. Es glitt wie ein lichter Schein über ihr Gesicht, und sie wies nach einem Tisch, den man in die Nähe ihres Bettes gerückt hatte. Dort standen allerlei Schächtelchen mit Hustenbonbons, die ich sonst sehr zu würdigen wußte.

»Nimm dir«, sagte sie.

Mir aber war auf einmal jäh und schrecklich die Ahnung einer grausamen Möglichkeit aufgegangen: Wenn sie stürbe! Wenn wir unsere Großmutter nicht mehr hätten! … Ich sprang auf, ich stürzte mich über ihre Hand und küßte sie viel-, vielmals …

Sie zog diese liebe Hand zurück, legte sie auf meinen Kopf, als ich aufschluchzend mein Gesicht in die Decke preßte, und sprach: »Nur gescheit! Nur gescheit!«

 

Am nächsten Tage knieten meine Schwester und ich am Bett der toten Großmutter mit tief gesenkten Häuptern. Wir wagten nicht, emporzusehen. Eine Leiche – das muß etwas furchtbar Trauriges sein. Man hätte uns sonst, als unser kleines Schwesterchen starb, nicht so ängstlich von ihm ferngehalten und es nicht so rasch fortgetragen. Nach langem Gebete stand Fritzi auf und ließ einen scheuen Blick über das Angesicht der Toten gleiten … »Oh!« sagte sie plötzlich und faltete die Hände in frommer, freudiger Überraschung: »Oh – schau!« Nun stand auch ich auf, und meine Augen folgten der Richtung der ihren, und auch meine Hände falteten sich … Wie heilig war unsere Großmutter, wie herrlich und heilig! Der schwermütige Zug um den Mund, den wir an ihr gekannt hatten, war verschwunden, die stummen Lippen, deren Sprache ich immer verstanden hatte, sagten: Jetzt ist alles gut. Ein unaussprechlicher, unendlicher Frieden lag auf ihren stillen Zügen und wehte uns entgegen, eine himmlische Tröstung und Erhebung, ein letzter Gruß ihrer Liebe. Wir konnten uns von ihr nicht losreißen und – weinten nicht. Man soll nicht weinen in der Nähe von Toten, es tut ihnen weh. Ich weiß nicht, wieso wir zu dieser Überzeugung gelangt waren. Erst als Tante Helene und Vetter Moritz kamen, sie laut klagend, er von tiefstem Leid erfüllt, brach meine Schwester in Schluchzen aus und vermochte ihren Schmerz nicht mehr zu bemeistern. Am Abend fieberte sie, und nachdem man sie zu Bette gebracht hatte, schluchzte sie noch im Schlafe.

 

Es wurde uns nicht erlaubt, das Sterbezimmer ein zweitesmal zu betreten. Wir sollten die Tote nicht mehr sehen, es griff uns zu sehr an. Bei der Einsegnung nur waren wir zugegen, als unsere Großmutter im geschlossenen Sarge lag, bereit zur letzten Reise nach unserem »Zuhause«.

Wie irrten alle, die glaubten, daß ich sie jetzt nicht sähe, daß die Wände ihrer metallenen Behausung für mich nicht durchsichtig wären!

Die Verstorbene hatte unseren Vater zum Vollstrecker ihrer letztwilligen Anordnungen bestellt, und dadurch wurde unser Aufenthalt in Wien neuerdings verlängert. Ich erhielt den Auftrag, diese Zeit zu benützen, um einen Katalog der Bücher meiner Großmutter anzufertigen. Sie waren mein und meiner Schwester Eigentum geworden und sollten im Sommer verpackt und nach Zdißlawitz geschickt werden. Ich ging mit Eifer an meine Arbeit, hatte keine Ahnung davon, was das heißt: »einen Katalog anzufertigen«, meinte aber diese Aufgabe zu lösen, indem ich ein Buch nach dem andern aus dem Schranke holte, den Titel desselben in ein Heft eintrug und es dann wieder an seinen früheren Platz stellte.

Das Zimmer, in dem die kleine Bibliothek Großmamas sich befand, war ihr Toilettezimmer gewesen, stieß an das Schlafgemach und hatte wie dieses die Aussicht auf das sogenannte »Rabenplatzl«. Die Wand zunächst am Fenster nahm der Bücherschrank ein, und wenn ich seine Flügel öffnete, breitete sich das helle Licht sonniger Junivormittage über eine auserlesene Gesellschaft.

Sie bewohnte fünf Geschosse und bildete in jedem eine stattliche Reihe von vornehm in braunen, roten und grünen Saffian gekleideten Buchpersönlichkeiten. Ihre Anführerin war die Bibel. Ich kannte den Band; er hatte meinem Großvater gehört, und es waren viele Zeichen von seiner Hand darin eingelegt. An einer Stelle befand sich außer dem Zeichen ein Bleistiftstrich. Die Stelle lautete: »Und ich hörete eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Schreibe: Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach.«

Oh, das verstand ich! Der Anblick meiner entschlafenen Großmutter hatte es mich gelehrt: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben.« Und wo hatte ich diese Stelle gefunden, die mir so hell einleuchtete? In der Offenbarung Johannis, der heiligen, rätselhaft verschleierten Schrift, deren Geheimnisse noch niemand durchdrungen hat. Nicht einmal der große Newton, der, wie mein Vetter mir unlängst erzählt, die letzten Jahre seines Lebens dem Studium und der Erklärung der Apokalypse gewidmet hatte … Und ich – es mutete mich an wie ein Wunder –, ich verstand sie! Mir war’s gegeben, mir, einem Kinde! … In unaussprechlichem Jubel schwoll mein Herz, ich glaubte, daß eine himmlische Erleuchtung mir zuteil geworden sei.

Mit zitternden Fingern blätterte ich zurück vom vierzehnten zum ersten Kapitel, und was ich las, Vers um Vers, war ein schönes, seltsames Gedicht. Aber je weiter ich kam, je dunkler wurde mir der Sinn des Gelesenen. Da half kein Kopfzerbrechen. Einzelne Bilder nur schwebten vor mir, sehr klar und in großer Pracht, so wie der Heilige sie geschaut hatte, als er »war im Geiste«. Blendend die Vision von dem Einen, den er nicht nennt und der anzusehen war wie Jaspis und Sardis und vor dessen von einem Regenbogen wie Smaragd umgebenen Thron die Ältesten ihre goldenen Kronen niederlegten. Ich sah die vier Lebendigen und sah das Buch mit den Sieben Siegeln in der Rechten des Einen und glaubte, eine Ahnung davon zu haben, was für ein Buch das war, und die Namen der vier Lebendigen nennen zu können. Damit ging meine Weisheit zu Ende. Von nun an gab es keinen Lichtschein mehr, der mir einen Pfad zu neuem Begreifen und Erkennen gewiesen hätte … Nein, ich war das gottbegnadete Kind nicht, das in Einfalt findet, »was kein Verstand des Verständigen sieht«.

Enttäuscht und beschämt brachte ich das Buch der Bücher wieder an seinen Platz und bemerkte jetzt: außer an der einen Stelle, die ich zuerst aufgeschlagen hatte, war in der ganzen Apokalypse kein Zeichen eingelegt.

Zunächst an die Heilige Schrift schmiegte sich das Werk ihres frommen und milden Apostels, Thomas a Kempis, und er hatte Herder zum Nachbarn, und dann kam Lessing. Neben seinen Werken stand seine Biographie in drei Bänden, von K.G. Lessing. Ich las die ersten Kapitel und wurde dabei in meinen eigenen Augen so klein, wie ich nicht einmal als Auslegerin der Offenbarung Johannis geworden war. Meine hohe Meinung von meiner Begabung, meinem Lerneifer, meinem Wissensdrang erfuhr eine jämmerliche Einschränkung durch den Vergleich zwischen mir und dem Kinde Gotthold Ephraim. Wie kam ich mir vor, ich Dreizehnjährige, von Zweifeln Gequälte, wenn ich las: »Im vierten und fünften Jahre wußte er schon, warum und wie er glauben sollte.« Und weiter: »Als ein Maler ihn im fünften Jahre mit einem Bauer, in dem ein Vogel saß, malen wollte, erfuhr dieser Vorschlag seine ganze kindische Mißbilligung. ›Mit einem großen, großen Haufen Bücher‹, sagte er, ›müssen Sie mich malen, oder ich mag lieber gar nicht gemalt sein.‹« Und da er auf die Fürstenschule nach Meißen gebracht wurde, »mußte man ihn um ein Jahr älter machen, weil keiner unter dem dreizehnten Jahre angenommen werden soll.« Auf der Schule studierte er sogar in den freien Stunden, und Klassiker, deren Namen ich nicht einmal hatte aussprechen hören, »waren seine Welt«.

So sind die Kinder beschaffen, aus denen große Menschen werden – so war ich nicht. Ich konnte mir nicht einmal recht vorstellen, wie dem beneidenswerten Gotthold Ephraim zumute gewesen sein mußte im Besitze seines großen Reichtums. Alles gäbe ich darum, nur einen Tag, nur eine Stunde lang so zu sein wie er, umgehen zu dürfen mit unsterblichen Menschen wie mit Freunden und einzudringen in ihre leuchtende Gedankenwelt.

Es war eine bittere Zeit der Selbsterkenntnis, voll Sehnsucht und Kümmernis, diese erste, die ich Aug in Auge mit den Bewohnern des Bücherschrankes meiner Großmutter zubrachte.

Zur Unterstützung meines Gedächtnisses habe ich Lessings Biographie, die seitdem in meinem Besitze ist, zur Hand genommen und finde auf dem Schutzblatte des ersten Bandes die Zeilen eingeschrieben:

 

Ich bin ein Nichts für meinen Gott,

Für meinen Nächsten bin ich klein,

Mir selber dien ich nur zum Spott,

Wie könnt ein Mensch noch ärmer sein?

 

Allmählich trat Erholung von dieser Depression ein. Wenn auch nicht ein Lessing, konnte doch etwas anderes Gutes aus mir werden. Nur lernen mußte ich zuerst, alles kennenlernen, was es Schönes gab in diesen Büchern, die nun ich zu meiner Welt machen wollte. So feierte ich wahre Leseorgien und fand die Vormittage, die vermeintlich mit Katalogisieren ausgefüllt wurden, immer zu kurz. Voll Heißhunger verschlang ich, was ich vorfand an Dramen von Shakespeare, Racine, Corneille, Goethe, Kleist, und bedauerte nur, daß meine arme Großmutter nicht ein einziges Werk der Klassiker besessen hatte, in die Lessing sich versenkte, als er in meinem Alter stand. Er freilich, er lernte sie in ihrer Sprache kennen, der Glückliche. Weil er ein Bub war, durfte er das, er mußte sogar Griechisch lernen und Latein. Von seinen Lippen tönte die Sprache, in der Themistokles, Demosthenes, Cäsar, Titus geredet haben. Zum Ruhme gereichte ihm sein Glück … Wofür würde ich angesehen werden, wenn ich anfangen wollte, Griechisch und Latein zu lernen? Ganz einfach für verrückt. Ich war ja nur ein Mädchen. Was gehört sich alles nicht, schickt sich alles nicht für ein Mädchen! Himmelhoch türmten sich die Mauern vor mir empor, zwischen denen mein Dichten und Trachten sich zu bewegen hatte, die Mauern, die mich – umfriedeten.

Kein gutes Wort in dieser Anwendung! »Umfrieden« paßt nur für den Kirchhof, in dem die Toten liegen; die Lebendigen kommen um den Frieden, wenn man ihnen enge Grenzen setzt … Sie werden fortwährend suchen, sie zu durchbrechen, immer gegen sie anrennen und glauben: Dieses Mal weichen sie mir!

Das dürften ungefähr die Gedanken gewesen sein, die damals meinen jungen Kopf durchschwirrten und denen ich in zahllosen Gedichten Worte gab; es ist von den stürmischen und hoffärtigen, deren ich mich später schämte, nichts übriggeblieben. Nur einige friedliche Verslein ließ ich bestehen. Als den letzten aus den Kinderjahren möge ihnen hier Unterkunft gewährt sein.

 

Was hör ich in der Dämmerung?

Wie Glöcklein hell es klinget.

‘s ist wohl der Tag, der licht und jung

Ein goldnes Liedchen singet.

 

Wenn ich als Kind zum Himmel geschaut,

Hat drohen mein Land geblinkt und geblaut.

Jetzt ist der Himmel geworden so leer,

Ich sehe mein Land, mein liebes, nicht mehr.

 

Der sogenannte Katalog war fertig; ich hatte nun angefangen ihn abzuschreiben, weil ich einen Grund haben mußte, um meine Vormittage noch immer in der Wohnung Großmamas zubringen zu dürfen. Da herrschte jetzt Grabesstille; die Küche sowie das »Frauenzimmer« waren leer. Die Köchin und die Kammerjungfer hatten sich in ihre Heimat begeben, um dort ihren Ruhestand und ihr Ruhegehalt zu genießen. Nur der alte Josef war noch anwesend und sollte, bevor er uns auf das Land nachfolgte, die Verpackung der Möbel überwachen. Mit treuer Liebe zu seiner langjährigen Tätigkeit hielt er die Zimmer der verstorbenen Herrin so nett und blank wie je. Doch standen jetzt alle Türen weit offen, und ich konnte, ohne eine Klinke zu berühren, von der Küche aus bis in den großen Salon gehen. Daß auch seine Tür offenstand, mutete mich besonders fremdartig an. Wir Kinder hatten ihn nie betreten; er wurde auch nur benutzt, wenn unsere Großmutter eine Gesellschaft gab, was selten geschah. Immer nur verstohlen hatten wir hineingeguckt, wenn Josef darin gravitätisch seines Amtes waltete mit Staubbesen und Flederwisch. Der Salon machte uns einen feierlichen Eindruck. Seine weiß lackierten, durch vergoldete Stäbe in Felder eingeteilten Wände verbreiteten einen majestätischen Glanz, und die Mahagonimöbel mit Intarsien und Beschlägen aus Bronze hatten jedes eine eigene noble Physiognomie. Der hellgelbe Seidenstoff, mit dem die Polsterung des Kanapees, der Stühle und Sessel überzogen war, schimmerte so prächtig, wie ich nie wieder einen hellgelben Seidenstoff habe schimmern gesehen.

Und dieses imposante, mit dem Reiz des Geheimnisvollen umkleidete Gelaß, da stand es nun erschlossen, jedem zugänglich, und war eben nur ein Zimmer wie ein anderes.

Wie merkwürdig kamen meine Wanderungen mir vor durch die Räume, denen die zurückgeschlagenen Türflügel das Gepräge grenzenloser Ödigkeit verliehen. Ich wollte sie mir beleben, wollte mir einbilden, daß der Schatten der Entschlafenen vor mir herschwebe und Gestalt annehme und daß ich sie sehen werde, an ihrer Toilette sitzend oder am Fenster im Schlafzimmer; und wenn da nicht, im nächsten, vielleicht im Speisezimmer, an dem Tische, an dem wir so oft ihre Gäste gewesen waren. Ich ging von Tür zu Tür, ganz sachte, voll Sehnsucht und doch ein wenig bange, schloß die Augen und öffnete sie plötzlich und hoffte: Jetzt – jetzt muß sie dir erscheinen … Aber da war nichts. Ihr Platz blieb unbesetzt; die Stuben blieben leer …

Der Tag vor der Abreise von Wien und vor dem Scheiden von den lieben Räumen, die mir mit jeder in ihnen verlebten Stunde teurer und heiliger geworden, war gekommen, und ich veranstaltete eine kleine Abschiedsfeier. Ich holte zwei Bücher aus dem Schranke, nahm Platz am Arbeitstische meiner Großmutter und überdachte innig und ließ durch meinen Kopf und durch mein Herz ziehen, was diese beiden Bücher mir geschenkt hatten. Es war soviel!

Das eine, der erste Band der Mémoires pour servir à l’histoire d’Anne d’Autriche, épouse de Louis XIII, roi de France, par Madame de Motteville, hatte mir einen herrlichen Dramenstoff geschenkt, den ich im Laufe der Zeit immer reicher ausgestaltete. Alles, was in mir lebte an Vergötterung des Schönen, an Verachtung und Haß des Schlechten und Gemeinen und nicht zum mindesten an übermütigem Humor, mit dem ich oft verletzte und Anstoß erregte, alles ließ sich da hineinschütten wie in eine eigens mir zu Lieb und Ehr geformte goldene Schale.

Cinq-Mars war mein Held, der junge, leichtsinnige, leichtgläubige Günstling Ludwigs XIII., der seinen Herrn von der erdrückenden Tyrannei des allmächtigen Ministers Richelieu befreien will, im tollkühn unternommenen Kampfe mit dem Riesen unterliegt und nach einem Augenblick des Verzagens prachtvoll stirbt.

Und was für Gestalten gruppieren sich um ihn! Ludwig XIII., den mit kühnen Strichen hinzuzeichnen die reine Wonne sein wird, der sich fühlbar unter die Hand des Bildners schmiegt. Eine königliche Erscheinung, von einer kleinen Seele belebt; treulos wie die Schwäche, hart wie die Engherzigkeit. In einem Gefühl nur bleibt er unwandelbar, im Hasse gegen den Gewaltigen, der sich rühmen darf: »Ich habe meinen König zu meinem Diener gemacht und diesen Diener zum größten Monarchen der Welt.«

Sein Herr verabscheut ihn und kann ihn nicht entbehren, sein Herr ist im geheimen das Haupt jeder Verschwörung gegen ihn, und sobald eine neue mißlingt, kriecht der »Herr« grollend und knirschend zu Kreuze und liefert, ein Kronzeuge, seine Mitschuldigen dem Sieger aus. Und endlich einmal bietet, ja bietet! er seine beiden Söhnchen dem triumphierenden Kardinal zum Pfande völliger Unterwerfung an. Aber da bäumt die Königin sich auf und bewahrt »die Kinder Frankreichs« vor der Schmach, die ihnen droht. Ich liebte Königin Anna von Österreich und wollte schon dafür sorgen, daß jeder, der sie durch mich kennenlernte, sie ebenfalls lieben müßte. Als die Heldin sollte sie geschildert werden, die kühn und stolz den verliebten Löwen abgewiesen hatte, da er sich vermaß, um ihre Frauengunst zu werben. In allen Stunden ihres Lebens litt sie unter seiner unersättlichen Rachgier, erlitt Demütigungen und Grausamkeiten ohne Zahl und unterwarf sich nicht … Und wie viele tauchten neben ihr auf und waren voll Kraft und voll Leben und mir in ihren geheimsten Regungen und verborgensten Motiven durchsichtig wie die Luft.

Aber die Krone des Ganzen sollte doch die Figur Richelieus werden. Der Reichtum, den sie der Phantasie bot, war unerschöpflich. Wo man antippte, gab’s Funken. Diese rätselhaften Kontraste! Der Mann, der sein Frankreich an die Spitze aller Staaten der Erde gestellt, die Hugenotten besiegt, den mächtigen, rebellischen Adel unterworfen hatte, der die Vertreter der Parlamente mit den Fingern seiner Rechten wie Marionetten an Drähtchen hüpfen ließ – buhlte um literarischen Ruhm. Es fraß ihm am Herzen, daß die Pariser den Tragödien des jungen Corneille zujauchzten und die ihres alten Ministers mit so wenig Geräusch als möglich zu Grabe – gähnten. Der Kirchenfürst und Heerführer, der den Purpurmantel des Kardinals über der Stahlrüstung trug, wollte auch als Tänzer glänzen. Die Bewunderung, die seine Größe der Königin nicht abgewann, versuchte er ihr durch seine Grazie abzugewinnen. Oh, die Sarabande, mit der er sich zweihundert Jahre früher vor der Majestät und ihrem Hofstaat lächerlich gemacht, wie oft hat er sie mir aufgeführt im Schlafzimmer meiner Großmutter! Und wie viele andere herrliche Szenen! Die letzte zum Beispiel des ersten Aufzuges: der König ist im Lager vor Perpignan, umringt von Feinden des Kardinals, und der liegt krank und gebrochen in Tarascon, weiß sich verraten und verkauft, weiß von dem Vertrag mit Spanien, der ihn stürzen soll, und vermag nicht, ihn in seine Hand zu bekommen.

Da plötzlich verwandelt sich seine Trostlosigkeit in wilden Triumph. Einer seiner Späher ist zurückgekehrt und legt einen ausgehöhlten Wanderstab vor ihn hin. Er enthält eine Rolle – den Vertrag. Nun hat er sie – da stehen sie, die ihn unterzeichnet haben: Gaston von Orleans, des schwachen Königs elender Bruder, der Herzog von Bouillon, der Großstallmeister Cinq-Mars. – Sie sind zu hoch emporgeschossen, Monsieur le Grand! Man wird Sie um einen Kopf kürzer machen. – Von neuer Lebenskraft beseelt, erhebt der kranke Kardinal sich vom Pfühl. Zu Pferde seine Garden! Das Gefolge rüste, ein Zug voll Glanz und Pracht ordne sich! Es geht zu Hof; es geht mit fürstlichem Gepränge ins königliche Lager nach Perpignan!

Dort sollte der zweite Aufzug spielen, und ich dachte ihn mir sehr bewegt. Wir lernen Cinq-Mars kennen in seinem liebenswürdigen und blinden Glauben an sein Glück und seinen Freund de Thou und Fontrailles, der die Verhandlungen mit Spanien geleitet hat. Gerüchte, der Kardinal sei sterbend, sind aufgetaucht; Gaston von Orleans meint, Katzen hätten ein zähes Leben, man solle nachhelfen.

»Seht den König an«, sagt er zu Cinq-Mars, »er macht mir Sorge, er war gestern wieder sehr krank. Wenn er vor seinem Minister stürbe, würde es euch schlecht ergehen.« Cinq-Mars weist den Gedanken an den nahen Tod seines Herrn mit Schaudern zurück. Wie kann man einen solchen Gedanken nur haben, nur fassen? – »Versucht’s!« erwidert Gaston, »und erinnert euch dann meines Mittels. Ich bleibe der Herzog von Orleans auch nach dem Tode meines Bruders. Ihr seid dann nur noch – der Feind des Kardinals.« Cinq-Mars schlägt den abscheulichen Rat des Herzogs und die Warnungen de Thous in den Wind. Er und seine Anhänger blicken mit seliger Zuversicht dem unausbleiblichen Sturze Richelieus und kommenden schönen, ruhmvollen Tagen entgegen. – Im Lager wird gespielt, getanzt, musiziert; es herrscht tolle Lustigkeit … Nun, auf einmal, tritt, als sei plötzlich etwas Unheimliches aufgetaucht, da und dort Stille ein; sie verbreitet sich weiter und weiter, auch die Kühnsten halten den Atem an; die sangen und schrien – sie lauschen. Zwei Worte erschüttern die Luft und erfüllen die fröhlichsten Herzen mit Grauen: »Seine Eminenz!« –

Richelieu betritt das Lager wie der Tod den Ballsaal.

Wundergut gefiel mir dieses Ende des zweiten Aufzugs, und im dritten sollte es noch viel schöner kommen. Da sollte im Zelte des Königs die Begegnung zwischen ihm und dem Kardinal stattfinden. Ganz unhistorisch, aber daran lag mir nichts. Ich sah es, deutlich zum Greifen – so war es denn!

Sie saßen einander gegenüber, und mit kaum bezähmtem Wohlgefallen spürte einer in den Zügen des andern jedem Zeichen schweren Siechtums nach. Den Blick in die Augen des Königs gesenkt, unverwandt, unerbittlich, berichtet sein treuer Diener dem Ahnungslosen, daß er schändlich hintergangen wird … Er legt ihm den Vertrag mit Spanien vor und ist voll Entsetzen über die Gefahr, in der das Land und der Monarch gestanden haben. Sein Herz blutet, eine Rührung ergreift ihn, wenn er sich fragt: »Wer sind diese Verräter?« und antworten muß: »Die Nächsten seinem Thron, seinem Vertrauen, seiner Liebe, es sind die, denen mein König im Begriffe war, seinen einzigen Getreuen zu opfern.« Kaum noch bewahrt Ludwig einen Schein der Fassung, kaum noch verbirgt der Kardinal seinen knirschenden Zorn hinter der Maske süßlicher Heuchelei und erlangt alles, was er will, wie er es will – demütig angeboten … Eine vortreffliche Szene, und genial würden Laroche und Löwe sie spielen.

Reiche Handlung stand mir auch für den vierten und fünften Akt zur Verfügung:

Die Auslieferung de Thous, den keine andere Schuld traf, als daß er der Freund eines Feindes Richelieus gewesen, an den Kardinal.

Cinq-Mars’ leichtsinniges Spielen mit dem Verhängnis, das über ihm schwebt.

Die Fahrt Richelieus auf der Rhône. In purpurumhangener Barke liegt der Sterbende, und von seinem stolzen Fahrzeug wird ein ärmlicher Kahn geschleppt. Seine Opfer befinden sich darin, zwei Menschen, kraftvoll und jung, in blühender Gesundheit. Und er, der vielleicht seinen alternden Schattenkönig nicht mehr überlebt, die beiden wird er überleben. Der Gedanke zaubert ein Lächeln auf sein düsteres Gesicht und legt ihm grauenvolle Worte auf die Lippen.

Den Tod meines jungen Helden. Seinen Abschied von der großen Prinzessin, die ihm ihr Herz geschenkt hatte, und von seiner berückenden Geliebten Marion Delorme … Wie mit dem Fuße stößt er dann ein Leben von sich, in dem seine ehrgeizigen Träume sich nicht erfüllen sollten.

Entsühnt durch den Priester, erbaut durch die Frömmigkeit des Freundes betritt er den Weg zur Richtstätte. Zu dem letzten Gang hat dieser Mann, dieses Kind sich schmücken lassen wie zu einem Gang nach Hofe. Diese heroische Eitelkeit war mir unaussprechlich rührend und kostete mich viele Tränen.

Lange Jahre hindurch sollte ich mich mit diesem Stoffe, von dem ich gemeint hatte, daß er sich von selbst zum Drama gestalten werde, herumschlagen. Zuletzt stand ich an der Spitze einer kleinen Armee von Manuskripten, von denen nur die ersten den Titel Cinq-Mars, die letzten aber den Titel Richelieu führten. Seine Gestalt wuchs und wuchs riesenhaft vor mir empor, bis sie mir – entwuchs und ich begriff, daß ich aus meiner Blindheit über ihre Größe den Mut geschöpft hatte, sie darzustellen. Allmählich waren die Augen mir aufgegangen, ich wußte: Mit all meiner Begeisterung, all meinem Fleiß habe ich nur ein Pfuschwerk zustande gebracht.

Durchaus nicht in einem Verzweiflungsanfall, ganz ruhig schichtete ich dann meine Cinq-Mars und Richelieus im Ofen sorgfältig und nett zu einem Scheiterhaufen zusammen und zündete ihn an.

Er rauchte erst sehr stark, dann lohten schöne Flammen auf. Die Blätter – viele von ihnen waren kalligraphiert und illustriert – wanden und krümmten sich wie in Schmerzen, Fünkchen – Klosterfrauen, die in ihre Zellen eilen, nennen sie die Kinder – huschten über den Zunder. Nun lag ein unförmiger Pack schwarzer, schmutziger Fetzen da – als Frucht so vieler Mühen. Hätte eine Vision mich dieses Ende sehen lassen, als ich in den ersten zärtlichen Verkehr mit dem vortrefflichen »Stoffe« trat, für den ich Madame de Motteville so dankbar segnete, würde ich die Arbeit, die zu diesem Resultate führte, unternommen haben?

Fast glaube ich: ja.

 

An jenem Junimorgen aber vor nun einundsechzig Jahren trübte nicht die leiseste Furcht vor der Möglichkeit eines Mißlingens meine freudige Zuversicht. »Mein Stück« leuchtete vor mir im reinen Glanze eines Phantasiegebildes, an das die gestaltende Hand noch nicht gelegt wurde. Noch war es geistiger Natur, noch haftete keine Werdequal und keine der Widrigkeiten ihm an, mit denen jede Geburt eines Lebendigen sich vollzieht.

Das zweite Buch, das ich mir zu meinem Abschiedsfeste eingeladen hatte, enthielt die Oden Klopstocks. Ich kannte von ihnen allen nur eine, diese aber kannte ich gut. Sie hieß Die Frühlingsfeier und war mir entgegengekommen, als ich ihre alte braune Behausung ein wenig durchmustern wollte. Immer öffnete sie sich da, wo die Frühlingsfeier stand. Wie oft mußten andere vor mir sie dort aufgesucht haben, und wer mochte es gewesen sein – meine Großmutter, mein Großvater oder vielleicht meine Mutter?

Vielleicht sind sie alle es gewesen, und diese noch sichtbare leise Spur führte ein Kind, dessen Dasein dem ihren entsprossen war, aus seinem bangen Tasten und Suchen auf den Weg, den sie gegangen waren.

 

Nicht in den Ozean der Welten alle

Will ich mich stürzen –…

 

Nur um den Tropfen am Eimer,

Um die Erde nur will ich schweben und anbeten –…

Wer sind die Tausendmaltausend, wer die Myriaden alle,

Welche den Tropfen bewohnen und bewohnten? Und wer bin ich?

… mehr wie die Erden, die quollen,

Mehr wie die Siebengestirne, die aus Strahlen zusammenströmten!

 

Mehr – weil ich weiß, wie wenig ich bin: – ein verwehender Hauch auf einem Stäubchen im All … Aber der Atem Gottes lebt in diesem Hauche. Um das zu begreifen, bedurfte ich einer Gnadengabe des Unendlichen, eines Lichtstrahls von seinem Geiste. Er hat ihn mir gespendet, seinem Geschöpf, und ich darf »mein Vater« zu ihm sagen.

 

Als ich auf der Schwelle stehenblieb und noch einmal zurückblickte in den stillen Raum, aus dem ein teures und köstliches Leben entschwunden und in dem ich so oft allein mit meinen Gedanken gewesen war, überkam es mich: Eine andere, als ich ihn betreten, verlasse ich ihn. Meine Sehnsucht, zu denken und zu leiden, sollte sich fortan nicht nur von dämmernden Träumen nähren, sie begann sich zu erfüllen. Eine kleine Vergangenheit lag schon hinter mir. Ich hatte gedacht und gelitten – ich war kein Kind mehr.

Meine Kinderjahre – Teil 1

Les souvenirs des vieillards a-t-on

sont une part d’héritage qu’ils doi

vent acquitter de leur vivant.

G. Lenôtre

 

Vorwort

Die Geschichte des Erstlingswerkes, die K.E. Franzos vor zwölf Jahren herausgegeben hat, brachte auch einen Beitrag von mir. Alles, was darin ausgesagt ist, unterschreibe ich heute noch, einen Irrtum aber muß ich berichtigen. Meine Erinnerungen an die Kinderzeit, meinte ich damals, sind nicht besonders lebhaft, und erfahre nun, daß sie, um es zu sein, nur geweckt zu werden brauchten. Es unterblieb zu jener Zeit; denn so alt ich schon war, lag doch noch etwas wie Zukunft vor mir, und auf sie, nicht zurück zur Vergangenheit, lenkten sich meine Gedanken.

Nun stehe ich am Ziel, der Ring des Lebens schließt, Anfang und Ende berühren sich. Mit einer Macht des Erinnerns, die nur das hohe Alter kennt, lebt die Kindheit vor mir auf. Aber nicht wie ein kräftig ausgeführtes Gemälde auf hellem Hintergrund, in einzelnen Bildern nur, die deutlich und scharf aus dem Dämmer schweben. Die Phantasie übt ihr unbezwingliches Herrscherrecht und erhellt oder verdüstert, was sie mit ihrem Flügel streift. Sie läßt manches Wort an mein Ohr klingen, das vielleicht nicht genauso gesprochen wurde, wie ich es jetzt vernehme; läßt mich Menschen und Begebenheiten in einem Lichte sehen, das ihnen eine an sich vielleicht zu große, vielleicht zu geringe Bedeutung verleiht. Ihrer über das Kindergemüt, dessen Entfaltung ich darzustellen suchte, ausgeübten Macht wird dadurch nichts genommen. Das Schwergewicht liegt auf dem Eindruck, den sie hinterlassen haben, und ihn bestimmt die Beschaffenheit des Wesens, das ihn empfing. Dieses Wesen ist treu geschildert, buchstäblich und im Geiste.

 

Rom, Januar 1905

 

Unter den Augen der Meinen, unter dem Einfluß ihrer verwöhnenden Liebe sind diese Skizzen entstanden. Ein Reflex der Teilnahme, die sie erweckten, fiel auf sie, und ich dachte: Ihr seid etwas.

Jetzt bin ich allein und bin in Rom, und hierher werden sie mir nachgesandt, wenn auch erst im Negligé der Korrekturbogen, doch schon als »Drucksache« und vorbereitet zur Fahrt in die Fremde. – Meine Kleinen, ihr kommt mir recht armselig vor mit eurem Geplauder von Puppen und Ammenmärchen. Mich beschäftigen andere Dinge als eure Geringfügigkeiten. Die Weltgeschichte spricht zu mir, ich lebe an der Stätte, an der Jahrhunderte hindurch ihr mächtiger Puls geschlagen hat, und bin da, ein dankbarer Gast, fortwährend zu hohen Festen und großartigen Schauspielen geladen … Ich kann durch den Steineichenhain auf die Höhe in der Villa Medici wandeln und die Sonne untergehen sehen hinter dem Janiculus. Majestätisch ist das Tagesgestirn versunken; in den feurigen Himmel ragt die Kuppel von Sankt Peter, und durch die Lüfte gleiten, andachtweckend, auf tönenden Schwingen die silbernen Klänge ihrer Glocken … Der graue Streifen, der links am Horizont emporzusteigen scheint, das ist das Meer, das Tyrrhenische, das auf seiner ruhelos wogenden Brust die Flotten Roms getragen hat, zur Eroberung vergänglicher Reiche und unvergänglicher Kunst … Und bei der Tassoeiche kann ich stehen und ihrem Gestöhn im Winde lauschen. Quercia del Tasso! Der Blitz hat sie getroffen und ihren Stamm zerspellt, der Sturm hat wild in ihrem Geäste gehaust, aber noch begrünt sich alljährlich ihr gelichteter Wipfel. Sie strotzte in Kraft, war jung und reich bekleidet, als der Poet sich todesmatt zu ihr herüberschleppte von Sankt Onofrio, wo er »im Verkehr mit den heiligen Vätern den Verkehr mit dem Himmel begonnen hatte«. Was galten ihm noch seine höchsten Erdenwünsche, die Dichterkrönung auf dem Kapitol, die Huld der angebeteten Frau? … Aber der Mai war nahe, in Duft und in Blüte stand die Welt, und Sehnsucht nach dem herben Glück der letzten Abschiedsgrüße zog ihn hierher in den Schatten seiner Eiche. Seine sterbenden Augen haben auf dem Bilde geruht, das vor uns liegt, und der Gedanke verleiht der traumhaften Schönheit des Anblicks eine wehmütige Verklärung. Ein Hauch ewigen Frühlings weht über den Geländen der holden Berge, aber der Monte Gennaro besinnt sich, daß Winter ist, und trägt seine Tiara aus Schnee … Und in der Tiefe liegt die Stadt, die heute noch keine Fabriken hat mit rauchenden Schlöten und keine berußten Dächer, und selbstleuchtend erscheinen im Abendlichte ihre schimmernden Mauern. Wie tot liegt sie da, die soviel verbrochen und soviel erduldet hat. Kein Laut dringt herauf, vernehmbar nur dem inneren Ohr ist ihre feierliche Sprache des Schweigens.

Mein stilles Fest auf dem Janiculus habe ich gestern begangen und heute auf dem Forum einige Stunden zugebracht, geleitet von einem liebenswürdigen und gar zuverlässigen Führer, dem jüngsten Buche meines verehrten Freundes, Professor Hülsen. Doch was sind einige Stunden auf dem Forum! Nicht mehr als ein eiliges Vorüberwandeln an Stätten, die durch herrliche Taten geweiht, durch entsetzliche Greuel gebrandmarkt worden. Von der Basilika Julia bin ich zum Heiligtum der Juturna gewandert, zu Santa Maria Antiqua, zum Atrium Vestae und hinauf zur Velia, zum schönsten der römischen Triumphbogen. Und dann auf dem Rückweg betrat ich die Sacra Via und meinte den Boden unter meinen Füßen erzittern zu fühlen und dröhnen zu hören vom Marsche der Legionen. Eine Riesenschlange, die Reiche erdrückt hat in ihren gewaltigen Ringen, bewegt sich der Siegeszug zum Kapitol, umbraust vom Zuruf der Menge. Goldene Beutestücke funkeln, die Ketten der Gefangenen klirren. Sie kommen am Tullianum vorbei, und dort, in seine »abschreckende Dunkelheit« hinabgeschleudert, verschwinden Heerführer, Fürsten, Könige. Niemals staut der Zug, unaufhaltsam strebt er vorwärts, dem Triumphwagen nach zur Höhe, auf der Jupiter in seinem Heiligtume thront …

Noch ganz erfüllt von den Eindrücken, die ich Tag für Tag empfange, hier in diesem großen Rom, kehre ich in meine Behausung zurück und sollte meine Skizzen vornehmen, auf die Druckfehlerjagd ausziehen und entgleisten Sätzen auf die Beine helfen. Das wird mir schwer. Mein Glauben an euer Etwas ist mir entschwunden, ihr armen Blätter. Weil ihr aber eure papiernen Flügel schon entfaltet habt, so fliegt denn, so gut ihr könnt. Heimwärts, rate ich euch, dorthin, wo ihr geboren seid und wo immerwache Liebe euch empfängt. Indessen wird Rom den Purpurmantel seiner Rosen umgetan haben, und bei uns zu Hause werden an Bäumen und Sträuchern die Knospen schwellen und Schößlinge in Unzahl hervorsprießen. Das ist dann auch für das grüne Seelchen, dessen Geschichte ihr erzählt, der richtige Augenblick, sich ans Licht zu wagen.

 

Meine Schwester Friederike war vierzehn Monate, ich war vierzehn Tage alt, als unsere Mutter starb. Dennoch hat eine deutliche Vorstellung von ihr uns durch das ganze Dasein begleitet. Ihr lebensgroßes Bild hing im Schlafzimmer der Stadtwohnung unserer Großmutter. Ein Kniestück, gemalt von Agricola. Er hat sie in einem idealen Kostüm dargestellt, einem bis zum Ansatz der Schultern ausgeschnittenen dunkelgrünen Samtgewand mit hellen Schlitzen und langen, weiten Ärmeln. Der Kopf ist leicht gewendet und etwas geneigt; der Hals, die auf der Brust ruhende Hand sind von schimmernder Weiße und gar fein und schön geformt. Das liebliche Gesicht atmet tiefen Frieden; die braunen Augen blicken aufmerksam und klug, und aus ihnen leuchtet das milde Licht eines Geistes so klar wie tief.

Zu diesem äußeren Ebenbilde stimmten die Schilderungen, die uns von dem Wesen, dem Sein und Tun unserer Mutter gemacht wurden. So einhellig wie über sie habe ich nie wieder über irgend jemand urteilen gehört. Wenn die Rede auf sie kam, hatten die verschiedensten Leute nur eine Meinung. Und gern und oft wurde von ihr geredet. Besonders hoch in Ehren stand ihr Gedächtnis auf ihrem väterlichen Gute Zdißlawitz, wo der größte Teil ihres Lebens verflossen war.

Ich glaube, daß meine Liebe zu den Bewohnern meiner engsten Heimat ihren Ursprung hat in der Dankbarkeit für die Anhänglichkeit und Treue, die sie meiner Mutter über das Grab hinaus bewahrten. Die Diener sprachen von ihr, die Beamten, die Dorfleute, die Arbeiter im Garten. Ein alter Gehilfe nannte ihren Namen nie, ohne das Mützlein zu ziehen: »Das war eine Frau, Ihre Mutter! … Gott hab sie selig.« Da wurde mir immer unendlich stolz und sehnsüchtig zumute: »Ich seh ihr ähnlich, nicht wahr? Geh, sag ja!« – Er zwinkerte mit den Augen und schob die Unterlippe vor: »Ähnlich? Ähnlich schon, aber ganz anders.« Es sollte sich niemand mit ihr vergleichen wollen, nicht einmal ihre eigene Tochter. – »Ja«, fuhr er nach einer Pause fort, »blutige Köpfe hat’s gegeben bei ihrem Begräbnis; geschlagen haben sie sich um die Ehre, ihren Sarg zu tragen. – Das war eine Frau!«

Man hatte uns die Überzeugung beigebracht, daß sie vom Himmel aus über uns wache und uns als ein zweiter Schutzengel umschwebe in Stunden der Krankheit oder der Gefahr. Ich vergesse nie, mit welcher Zuversicht und mit welcher geheimnisvollen Glückseligkeit das Bewußtsein ihrer Nähe mich oft erfüllte.

In einem Punkte hatte ich dasselbe Schicksal erfahren wie sie. Auch ihr Leben war um den Preis des Lebens ihrer Mutter erkauft worden, und auch ihr war die auserlesene Schicksalsgunst zuteil geworden, für den schwersten Verlust den denkbar besten Ersatz zu finden – die liebreichste und gütigste Stiefmutter. Die ihre, unsere vortreffliche Großmutter Vockel, erreichte, unserer Kindheit zum Heile, vorgerückte Jahre. Sie blieb bei uns nach dem Tode ihrer Tochter; sie verließ uns auch dann nicht, als unser Vater sich wieder verheiratete.

In Wien bezog sie eine Wohnung im ersten Stock seines Hauses, dem sogenannten »Drei-Raben-Haus«, auf dem damals sogenannten »Haarmarkt«. Wir bewohnten den zweiten Stock. Im Sommer lebte sie mit uns auf dem Lande.

Sie war klein und mager und hatte einen für ihre zarte Gestalt etwas zu großen Kopf. Ihr Gesicht blieb noch im Alter schön. Ein edel und kräftig gebautes Gesicht. Die Stirn von klassischer Bildung, die Nase schlank und leicht gebogen, mit feinen, beweglichen Flügeln. Der Mund schmal und gerade, die Lippen fest geschlossen – so charakteristisch für die vereinsamte, stolze, schweigsame Frau. Ihre großen, tiefdunkeln Augen hatten einen schwermütigen Ausdruck. Ich habe ihn manchmal sich wandeln gesehen in einen schmerzlich-geringschätzigen; zu einem verachtungsvollen, verdammenden wurde er nie. Sie wunderte sich nicht leicht über ein Unrecht, das sie begehen sah; durch eine hochherzige Handlung, deren Zeugin sie war oder von der sie hörte, konnte sie so freudig überrascht werden wie durch ein unerwartetes selbsterlebtes Glück. Ein solches, ein eigenes, war ihr gleichsam nur im Vorübergehen zuteil geworden. Unser Großvater und sie hatten geheiratet aus Liebe – nicht zueinander, sondern zu einem Kinde, zu seinem Kinde. Und in dieser Liebe erst hatten sie sich gefunden, und ihr anfangs geschwisterliches Verhältnis reifte langsam zu einem schönen ehelichen heran.

Der Tod löste den Bund und nahm auch bald darauf der Verwitweten die einzige vielgeliebte Tochter. Diese hatte in ihrem Testamente ihren Gatten zum Herrn auf Zdißlawitz eingesetzt. So war nun unsere Großmutter ein Gast geworden in ihrem ehemaligen Haus und Heim. Sie beschied sich. Sie wünschte nichts mehr, als nur in der Nähe der Kinder ihres Kindes leben zu dürfen.

In der kleinen Erzählung Die erste Beichte habe ich eine Skizze von der herrlichen Frau entworfen. Die eigentümliche Art ist erwähnt, in der sie, die kaum je eine Besorgnis, geschweige denn eine Klage aussprach, Klagen aufnahm. »Alles geht vorüber, alles wird gut«, sagte sie halblaut vor sich hin. Und wenn es in ihrer Macht lag, das Üble und Traurige gutzumachen, dann wurde es gut.

Ausgesprochen hat sie es nicht, im stillen soll sie aber sehr gelitten haben, als unser Vater sich wieder vermählte und an die Stelle unserer Mutter eine jüngere und schönere Frau trat, »Maman Eugénie«, eine geborene Freiin von Bartenstein. Das erste Kind, das sie zur Welt brachte, war ein Knabe und das zweite wieder ein Knabe, während die Verstorbene ihrem Gatten nur Töchter geboren hatte. Nun würden wir nichts mehr gelten, besorgte die Großmutter. Zurückgesetzt würden wir werden und zu fühlen bekommen, daß es eigentlich uns, den Älteren, zugestanden hätte, männlichen Geschlechts zu sein.

Die Besorgnisse der lieben alten Frau erwiesen sich als ganz ungerechtfertigt. Unsere junge Mama schloß uns ebenso innig ins Herz wie ihre eigenen Kinder, die kleinen Brüder und das holde Schwesterlein, das ihnen nachfolgte. Wir ließen es uns sehr wohl sein unter der milden mütterlichen und großmütterlichen Herrschaft, und unser Übermut wäre allmählich stark ins Kraut geschossen, wenn ihn die Hand der temperamentvollen Kinderfrau nicht niedergehalten hätte.

Sei gesegnet noch in deinem Grabe, in dem du seit so langen Jahren ruhst, du brave Josefa Navratil, genannt Pepinka! Du hast dir ein unschätzbares Verdienst um uns erworben. Du hast uns zu einer Zeit, in der die weisesten Vorstellungen keinen Weg zu unserem Verständnis gefunden hätten, durch eine rechtzeitig angebrachte demonstratio directa bewiesen, daß der Schuld unerbittlich die Strafe folgt. Gewiß trifft das auch im Leben ein, aber oft so spät und in so verhüllter Weise, daß menschliche Augen den Zusammenhang nicht mehr entdecken. In unserer Kinderstube ging die Sache rasch und einfach vor sich. Wenn eine Tür heftig zugeworfen wurde, wenn es beim Spiel allzu lautes Geschrei oder arge Streitigkeiten gab, kam Pepi daher auf ihren großen, weichen Schuhen und hielt Gericht. Ohne erst zu fragen, wer der Schuldigste sei, teilte sie – darin ein ganz getreues Bild des Schicksals – ihre Schläge aus. Wir nahmen sie ohne Widerspruch in Empfang und liebten unsere Pflegerin und Richterin. Wir fürchteten sie nicht einmal sehr, so laut sie manchmal auch zankte und so zornig sie uns anfunkeln konnte mit ihren feurigen schwarzen Augen.

 

Hatte eine erziehliche Maßregel unserer Schicksalsgöttin sehr hart getroffen, dann ging man zu Anischa, meiner ehemaligen Amme, und weinte sich bei ihr aus. Sie war der lichte Stern unserer Kinderstube und immer freundlich und gut. Auch bildhübsch war sie und lieblich anzusehen in ihrer heiteren hannakischen Tracht. Sie verwandte viel Sorgfalt auf ihr Äußeres, sie schlang das bunte Tuch mit den langen Fransen kunstvoll um ihren Kopf, trug immer nur schimmernd weiße Halskrausen, seidene, mit Flittern benähte Leibchen und tadellos gesteifte und geplättete Röcke.

Pepinka brummte sie manchmal an: »Was putzen Sie sich so auf? Er kommt heute doch nicht.«

Die arme Anischa wurde jedesmal feuerrot und antwortete leise und demütig: »Heute nicht und morgen nicht.«

Er kam auch nicht. Hingegen erschien alljährlich im Herbste eine ältliche Frau, die wir, dem Beispiel Anischas folgend, »pani kmotrenka« nannten, in Zdißlawitz. Ein derber Junge in schmucker hannakischer Tracht begleitete sie. Er stand im selben Alter wie ich, und Pepi sagte, daß er eine Art Bruder von mir sei. So erwiesen wir ihm denn alle geschwisterlichen Ehren, fütterten ihn, beschenkten ihn, luden ihn ein, an unseren Spielen teilzunehmen. Er aß, was man ihm auftischte, er nahm, was man ihm anbot, aber er dankte nicht, er lächelte nicht; er verhielt sich uns gegenüber trotzig wie ein Bock. Leichten Herzens sagten wir ihm Lebewohl, wenn er sich wieder empfahl. Anischa begleitete ihren Besuch zum Wägelchen, das ihn vor dem Dorfwirtshaus erwartete. Sie hatte rote Augen, wenn sie zurückkam, war aber nicht mehr so bedrückt und befangen wie tagsüber während der Anwesenheit des wortkargen Bäuerleins.

Ein anderes Ereignis wiederholte sich gleichfalls alljährlich, dieses aber im Frühjahr und fast unmittelbar nach der Ankunft auf dem Lande. Da war es gewöhnlich unsere Großmutter, die eines Morgens eintrat und sagte: »Pepi, der Bader ist da«, worauf Pepi ihrem Schranke ein Pack Wäsche entnahm und das Zimmer verließ. An einem solchen Tage sahen wir sie nicht mehr; sie kam erst am folgenden wieder, hatte einen verbundenen Arm und speiste uns mit einer ausweichenden Antwort ab, wenn wir fragten, wo sie gestern gewesen sei und warum sie einen Verband trage.

Einmal aber schlichen Adolf, der ältere der Brüder, und ich ihr nach bis zum ersten Absatz der Treppe, und von dort aus sahen wir sie in eines der sonst immer verschlossenen ebenerdigen Zimmer treten.

Wir schlichen weiter bis zum nächsten Absatz und bis zum dritten und endlich bis zur Tür, hinter der Pepi verschwunden war. Drinnen im Zimmer wurden Sessel gerückt, es wurde Wasser in Gläser und in Lavoirs geschüttet, und eine fremde Männerstimme sprach höhnisch: »Fürchten S’ Ihnen? Recht haben S’. Warten S’ nur, was Ihnen heut geschieht!«

Du lieber Gott, was ging da vor? Von Angst und von Helfedrang ergriffen, warfen wir uns gegen die Tür. Sie war verschlossen. Wir schrien und klopften und hörten Papa klagen: »Jesses, die Kinder!«

»Ruh geben! Draußen bleiben!« wetterte die Männerstimme.

In starrem Entsetzen schwiegen wir eine Weile. Endlich wurde die Tür von innen aufgesperrt, geöffnet, und heraustrat das Stubenmädchen und hielt in der Hand eine große Schale voll Blut. Nun überstieg unsere Bestürzung alle Grenzen. Blut! Blut! Soviel Blut! Von wem das viele Blut?

»Von der Pepi«, antwortete das unbegreifliche Mädchen ganz gleichgültig. »Der Doktor hat ihr zur Ader gelassen. Und jetzt seien Sie still, sonst wird der Doktor auch Ihnen zur Ader lassen.«

»Zur Ader gelassen! Was ist das? Wie ist das? Muß man sterben, wenn man zur Ader gelassen bekommt?«

Sie lachte und riet uns, gleich hinaufzugehen, wenn wir nicht noch gestraft werden wollten für unsere Neugier.

Die Neugier blieb vorläufig ungestillt, aber unsere Seelenruhe wurde uns zurückgegeben, denn drinnen in der Stube erhob die Stimme Pepinkas sich in alter Kraft und befahl den »verdunnerten Kindern«, sogleich zur Anischa zu gehen.

Wir gehorchten und hatten dann noch einen sehr guten Tag fast uneingeschränkter Freiheit, und am Abend erzählte uns Anischa, viel länger als ihr sonst erlaubt wurde, schöne, wundervolle Märchen.

O welch ein Erzählertalent war unsere Anischa! Wie verstand sie zu schildern, zu spannen, ihre Phantasiegebilde klar und lebendig hinzustellen, sie aufsteigen, vorüberschweben, entschwinden zu lassen! Jammervoll nüchtern erscheint mir die Kinderstube, aus der die Märchenerzählerin »grundsätzlich« verbannt ist. Wir haben das Glück genossen, uns nach Herzenslust in einer Wunderwelt ergehen zu dürfen, sowohl als kleine wie später als größere Kinder. Es war uns ein stolzes Vergnügen, eine Menge zu hören und zu sehen, was andere nicht hörten und nicht sahen: im Gurgeln des Brunnens am Ende des Gemüsegartens die Stimme des Wassermanns; im Glanz, der im Hochsommer über die Ähren fliegt, huschende Lichtgeister, und Elfchen im Laube, wenn es leise zu rascheln beginnt. Diese Elfchen, wußte Anischa, sind zu Mittag nicht größer als Libellen. Aber sie wachsen sehr, sehr geschwind, und um Mitternacht sind ihre Flügel wie Adlerflügel, und das Laub stöhnt, wenn sie mit Windeseile hindurchfegen.

»Ja, gewiß! ja, es stöhnt!« Wir alle behaupteten es. Jedes von uns wollte einmal um Mitternacht wach gewesen sein und das Stöhnen vernommen haben. Nur unsere Sophie, die nicht; die wußte noch nichts von Wassermännern, Irrwischen und Elfen. Sie schlief schon lang, diese Kleine, zur Stunde des Märchenerzählens, und Anischa saß neben ihrem Bettchen, und wir saßen auf Schemeln zu ihren Füßen.

Ganz anders arg und grausig als das Stöhnen des Laubes beim Wehen leiser Lüfte waren die schrillen Schmerzenslaute, die sich erhoben, wenn ein heftiger Sturm die Ecke des Hauses, die wir bewohnten, umrauschte. Es brach aus ihm wie Schluchzen, flüsterte wie hastiges Flehen, glitt über die Fensterscheiben mit tastenden Fingern …

»Hört ihr?« fragte dann eines von uns die andern, »das ist Melusine, die ihre Kinder sucht, nach ihnen ruft, um ihre Kinder jammert und weint.« Melusine … Grad ist sie vorbeigeflogen; meine Schwester hat ihren weißen Schleier erblickt und sagt ganz leise: »Lösche das Licht, Anischa, daß sie uns nicht sieht; sie glaubt vielleicht, wir sind ihre Kinder, und holt uns.«

Ein Märchen gab’s, das erzählte Anischa nur mir allein, weil ich so couragiert war. Meine Schwester, die kleinen Brüder durften nichts hören von der »zlá hlava«; sie hätten lang nicht einschlafen können und schwere Träume gehabt.

Diese »hlava«, das war ein Kopf, nichts weiter als ein Kopf, ohne alles Zubehör. Er hatte struppige Haare und einen struppigen, feuerroten Bart, Teufelsaugen und Ohren so groß, daß er sie als Flügel gebrauchen konnte. Aber nicht lange, weil er sehr schwer war und bald wieder zu Boden plumpste. Der Kopf war ein König und hatte ein Heer, und im Kriege rollte er ihm voran, eine fürchterliche Kugel, und biß den Menschen und den Pferden in die Füße, daß sie reihenweise tot hinfielen. Er hatte auch eine Königin, die neben ihm schlafen mußte auf demselben Polster und vor Schrecken über seinen Anblick ganz weiß wurde, immer weißer und endlich selbst ein Gespenst.

Greuliche Untaten beging die »hlava«, und eine ihrer schlimmsten war, daß sie der Großmutter Anischas, als diese einmal des Nachts von einem Botengang heimkehrte, auf der Hutweide nachgerollt kam … Die Großmutter hörte sie pusten, knirschen und schnauben und rannte! rannte! Bis zu ihrem Hause rannte sie; dort aber stürzte sie zusammen und wußte nichts mehr von sich, eine Stunde lang – o länger als eine Stunde! Am nächsten Tag ging der Großvater und mit ihm das halbe Dorf auf die Hutweide, und an der Stelle, wo die Großmutter das Scheuel zuerst pusten, knirschen und schnauben gehört, lag ein großer, runder, weißer Stein, den – man schwor darauf – noch niemand da gesehen hatte. Nur der Hirtenbub behauptete steif und fest, daß der Stein von jeher da gewesen sei. Aber der Hirtenbub war dumm und ein halber Trottel. Der Stein wurde eingegraben, und heute noch machen die Leute einen Umweg, wenn sie an dem Platz, wo er liegt, vorüberkommen.

Ich nahm natürlich Partei gegen den Hirtenbuben. Ich wäre am liebsten gleich nach Trawnik, wo Anischa zu Hause war, gefahren, hätte die Hutweide besucht und den gespenstischen Stein ausgegraben. Und je entsetzter Anischa sich stellte über meine Tollkühnheit, desto mehr fühlte ich sie wachsen und verstieg mich zu den Versicherungen: »Ach, ich möchte, ich möchte, daß die hlava einmal mir nachgerollt käme! Ich würde nicht davonlaufen, o nein! o nein! Ich würde stehenbleiben – ich! Ich würde mich umsehen und der hlava dreimal nacheinander recht ins Gesicht das heilige Zeichen des Kreuzes machen. Da wäre sie gleich weg. O ich fürchte mich nicht – ich weiß nicht, wie das ist, sich fürchten; ich hab eine große Courage!«

 

Es war viel Geflunker bei dieser Behauptung. Ich wußte sehr gut, was Furcht sei, denn in der Furcht vor dem Papa waren meine Schwester und ich aufgewachsen. Man hatte sie uns in der Kinderstube eingeflößt durch eine Drohung, die sich nie erfüllte, stets aber wirksam blieb: »Wartet nur, ich sag’s dem Papa, und dann werdet ihr sehen!«

Was wir sehen würden, blieb in ein Dunkel gehüllt, das unsere Phantasie mit Schrecknissen bevölkerte. Kein Wunder. Den Zorn unseres Vaters zu erfahren wäre entsetzlich gewesen. Nicht nur kleinen, auch erwachsenen Leuten leuchtete das ein. So liebenswürdig Papa in guten Stunden sein konnte, so furchtbar in seinem unbegreiflich leicht gereizten Zorn. Da wurden seine blauen Augen starr und hatten den harten Glanz des Stahls, seine kraftvolle Stimme erhob sich dräuend – und vor diesen Augen, dieser Stimme hätten wir in den Boden versinken mögen, wenn wir uns auch nicht der geringsten Schuld bewußt waren.

Zum Schaden unseres Verhältnisses zu ihm ließ sich Papa in gereizter Stimmung manchmal zu dem unglückseligen Ausspruch hinreißen: »Nicht geliebt will ich sein, sondern gefürchtet!« Wie sehr er sich damit täuschte, lernten wir später einsehen; als Kinder nahmen wir die Sache als ausgemacht an und taten ihm den Willen, weit über seine eigene Erwartung. Wir zwei Schwestern zitterten und bebten vor ihm; die Brüder waren in seiner Nähe viel unbefangener, obwohl Pepi mit ihrer Drohung, sie der Strenge Papas zu überliefern, gegen sie besonders freigebig war.

Ich erinnere mich eines Tages, an dem meine Schwester das Mißgeschick erfuhr, beim Spielen mit dem Balle eine Fensterscheibe einzuschlagen. Nun war uns die peinlichste Sorgfalt für alles Zerbrechliche, das uns umgab, zum Gesetz gemacht worden, und die arme Kleine, die sich so schwer daran vergangen hatte, geriet in sinnlose Verzweiflung.

»Der Papa! Der Papa!« rief sie in Todesangst, kniete auf den Boden nieder, rang die Händchen, faltete sie und schluchzte herzzerreißend.

Wir umstanden sie betroffen und ratlos. Großmama, die neben uns wohnte, war auf Fritzis Geschrei herbeigeeilt, und sie und Pepinka sprachen der Armen Trost zu und bemühten sich, sie zu beruhigen. Ganz umsonst. Sie war schon blau im Gesichte, stoßweise rang sich der Atem aus ihrer Brust, in Bächen rannen die Tränen über ihre Wangen.

Großmama, sehr besorgt, tauschte leise einige Worte mit Pepi. Dann, nach einem neuen, vergeblichen Versuch, ihre kummervolle Enkelin zu beschwichtigen, verließ sie das Zimmer. Bald darauf betrat sie es wieder, und wer kam hinter ihr hergeschritten? Der unbewußte Urheber all dieses Leids und Schreckens – der Papa.

Lautlose Stille empfing ihn. Fritzi verstummte. Keines von uns regte sich. Der Blick des Vaters glitt über die Gruppe seiner bestürzten, angsterfüllten Kinder und blieb auf der kleinen Knienden haften. Sie war wie versteinert. Ihre prachtvollen braunen Augen starrten weitgeöffnet zum Vater empor; nur die Lippen des schmerzverzogenen Mundes zuckten. Und jetzt ließ sich eine überaus sanfte Stimme schmeichelnd, ja bittend vernehmen: »Fritzi, meine Fritzi, weine nicht! Meine Fritzi soll nicht weinen, meine Fritzi ist ja brav. Ich hab ja meine Fritzi lieb!« Und auf einmal sahen wir unsere Älteste hoch über uns erhoben in den Armen Papas und hörten sie wieder schluchzen, aber bei weitem nicht mehr so heftig wie früher.

Der Papa lachte: »Dummheit! Dummheit! Die Fritzi hat ein Fenster zerschlagen; das macht nichts. Der Papa ist ja gar nicht bös – der Papa … Schau her, Fritzi, schau, was der Papa tut!«

Er ließ sich ihren Ball reichen und schleuderte ihn durch das nächste Doppelfenster, dessen beide Scheiben er, wie aus der Pistole geschossen, durchflog. Eine Sekunde schweigender Überraschung, und dann lag an die Schulter des Papas geschmiegt Fritzis selig lächelndes Gesichtchen. Sie weinte noch, aber Tränen heller Freude und Dankbarkeit. Und Papa tanzte mit seinem Töchterchen in den Armen im Zimmer herum, und wir jauchzten und jubelten ihm zu.

Ich indessen, gelehrig wie ich nun einmal war, machte mir eine Nutzanwendung aus dieser Begebenheit.

Unser Frühstück bestand aus Milch und aus Königskerzentee, von uns Himmelbrandtee genannt. Die Blüten, aus denen er bereitet wurde, sammelten wir auf unsern Spaziergängen selbst und fanden das Getränk köstlich. Leider wurde uns der Genuß dieser Delikatesse sehr vergällt durch den Anblick der Kannen, in denen man sie auftrug. Sie gehörten zu den Überbleibseln eines Vieux-Saxe-Käferservices, das heute ein Vermögen wert wäre. Damals hatte der Fluch des Veralteten sie getroffen. Auf der »herrschaftlichen Tafel« prangte modernes englisches Steingutgeschirr; die Tische der Dienerschaft und der Kinder besetzte man mit beschädigtem Vieux-Saxe. Ich fand das unwürdig, ich fand, daß auch wir etwas Modernes haben sollten, ich feindete besonders unsere Teekanne an mit ihrem defekten Schnabel und ihren grauslichen fliegenden Käfern. Der Moment schien mir, nach der Erfahrung, die wir gestern gemacht hatten, äußerst günstig, um ihr den Untergang zu bereiten.

So wartete ich nur, bis unsere Tassen alle gefüllt waren; dann holte ich aus … Ein Schlag – die alte Kanne wankte, stürzte, und die Käfer taten ihren letzten Flug – auf den Boden.

Nun aber gestalteten sich die Folgen ganz anders, als ich es mir ausgedacht hatte. Meine Erwartung, daß Papa geholt werden und daß er sofort auch die Milchkanne zerschlagen würde, erlitt eine bittere Enttäuschung. Es kam unserer Pepinka dieses Mal nicht in den Sinn, eine höhere Instanz anzurufen. Sie wählte zur Bestrafung meines Angriffs auf die Sicherheit des Porzellans – das standrechtliche Verfahren.

 

Den ersten Unterricht im Lesen und Schreiben erteilte uns Herr Volteneck, der Verwalter von Zdißlawitz. Er hatte eine rundliche Gestalt und einen an den Schläfen eingedrückten, länglichen Kopf und nahm sich von weitem aus wie ein Zylinder mit einer kleinen Gurke darauf. Seine Leibfarben waren Braun und Gelb, braun die klugen, sanften Augen, das schlichte Perückchen, die Umgebung der unaufhörlich nach Schnupftabak verlangenden Nase und die Fingerspitzen, die ihr den aromatischen Staub zuführten. Gelb waren die kleinen Hände und das kleine Gesicht.

Die Seelenfarbe dieses Mannes aber kann nur das zarteste Apfelblütenrosa gewesen sein.

Schon unter meinem Großvater hatte er die Stelle der amtierenden Gerichtsperson auf dem Gute redlich und ehrenhaft versehen und genoß allgemeine Hochachtung. Dabei war er das Stichblatt schlechter Witze, die besonders unter den Schloßleuten unkrautmäßig wucherten. Er hatte eine eigene Manier, von Zeit zu Zeit seinen Rock an der Brust mit beiden Händen zu fassen und gegen den Nacken hinzuschieben. Die Gewohnheit, behauptete man, ist ihm vom Kuttentragen geblieben, denn die Kutte hat er getragen, er ist ein entlaufener Kapuziner.

Und nun hätte er seinen ganzen Lebensgang wahrheitsgetreu darstellen, hätte urkundlich nachweisen können, daß er nie einen Tag im Kloster zugebracht, geistliche Kleidung nie getragen hatte – alles umsonst! Sie wären nicht zu erschüttern gewesen in ihrer Überzeugung; er ist und bleibt ein davongelaufener Kapuziner.

Zum Unglück hatte der reizlose, ältliche Mann den Mut gehabt, eine hübsche junge Frau heimzuführen, die nicht gerade pedantisch gewesen sein soll im Festhalten an der ehelichen Treue. Darüber wurde oft gespöttelt, in verhüllter Weise sogar in seiner Gegenwart. Wir wußten natürlich nicht, um was es sich handelte; aber wir sahen, daß er ausgelacht wurde, und unsere Empörung darüber war groß, denn wir liebten diesen guten, alten Menschen und langmütigen Lehrer. Wir liebten ihn schon um seiner herrlichen Schrift willen. Da war keine, von der einfachen Kurrent bis zur Kyriliza, die er nicht hingemalt hätte in unsere Zensurenbüchlein, leicht und schwungvoll, daß die Feder hinschwebte in kleinen und großen Linien, Kreisen und Ovalen, wie durstige Schwalben spielend über dem Wasser schweben.

Im Zensurenbüchlein meiner Schwester wimmelte es von »ausgezeichnet«; ich brachte es selten zu einem »sehr gut«, und auch dieses war meist ganz mager hingehaucht, gleichsam der Schatten eines »sehr gut«. Dabei ging es vollkommen gerecht zu. Meine Schwester konnte schon geläufig lesen, während ich noch die Kunst des Buchstabierens nicht völlig innehatte.

Papa pflegte sich selten und auch dann nur oberflächlich nach dem Fortgang unserer Studien zu erkundigen. Ein kurzes: »Brav sein!« war alles, was er mir sagte, wenn er auf seine Frage »Sind sie fleißig?« die Antwort erhalten hatte: »Fritzi sehr, und Marie wird es auch werden.«

Einmal aber, wie es bei ihm meist geschah, machte etwas, das er oft übersehen und überhört hatte, ganz plötzlich Eindruck auf ihn.

»Werden? Oho, erst werden?« wiederholte er das letzte Wort, das Mama gesprochen hatte, wandte den Kopf und sah mich an.

Es war bei Tische. Obenan saß unsere liebe Mama, unsere Großmutter zu ihrer Rechten, unser Vater zu ihrer Linken. Dann war ein langer Zwischenraum an dem großen ovalen Tische, und dann kamen wir zwei, meine Schwester und ich.

»Kann sie vielleicht noch nicht lesen? Hat im Frühjahr angefangen, lernt jetzt schon den ganzen Sommer und kann noch nicht lesen?« setzte Papa sein Verhör fort, und ein Strafgericht drohte aus seiner Stimme.

Eine Verhandlung zwischen ihm und Mama folgte. Unsere Großmutter schwieg; sie mischte sich nie in eine Beratung der Eltern, die uns betraf.

Es ist mir später klargeworden, daß Papa die »Methode« des Herrn Verwalters angezweifelt und den Besitz einer besseren – sich selbst zugeschrieben hat. Zu meinem Entsetzen, zur – ich bemerkte es wohl! – stillen Unzufriedenheit Großmamas befahl er mir, morgen früh zu ihm zu kommen. »Allein«, schloß er nachdrücklich.

Das war ein Wort!

Wir betraten immer nur in corpore die Zimmer Papas zum Guten-Morgen- und zum Gute-Nacht-Sagen. Damals war nur ein Flügel an das Schloß angebaut; in dem befand sich unsere Wohnung. Die Papas lag am andern Ende der langgestreckten Front. Ihre Zimmer mündeten auf einen geschlossenen Gang, den wir täglich zweimal durchwanderten. Seine Fenster sahen auf den Hof; der Blumenhof hieß er, und er verdiente seinen Namen, denn er war von Blumengruppen und von hohen, mit blühenden Topfpflanzen besetzten Gestellen umschlossen. Aus dem Hofe führte ein breites Tor, das immer weit geöffnet blieb, in eine tiefschattige, von vier Reihen herrlicher Lindenbäume gebildete Allee. Als ich ein Kind war, da strotzte noch ihr Gezweige von Saft, da waren ihre Blätter hellgrün und weich wie Samt und ihre Blüten voll süßen Duftes. Damals prangten sie in ihrer Vollkraft. Aber Höhe ist Wende. Heute wehren ihre Wipfel den Sonnenschein nicht mehr völlig ab. Er dringt durch das dünn gewordene Laub und wirft den dunklen Stämmen goldige Lichter vor die Füße, wie spielend, wie übermütig fragend: Seht ihr? da sind wir nun doch! – Einst, wenn der Wind sich durch die Unzahl der Blätter drängte, da gab’s ein weiches Rauschen, ein sanftes, harmonisches Flüstern. Anders ist das jetzt. Anders als in den jungen spielt der Wind in den alten Bäumen. Die Stimmen sind rauh, die er in ihnen erweckt. Ein Knistern und Knarren durchläuft das Geäst; da und dort zerbricht ein dürrer Zweig und fällt …

Auf dem Wege zu Papa begleitete uns die Kinderfrau und wartete im Vorzimmer auf unsere Rückkehr.

Wenn wir in der Frühe bei unserem Vater eintraten, saß er an seinem Schreibtisch, mit dem Rücken gegen die Tür, hatte große Wirtschaftsbücher vor sich liegen, rechnete und schrieb. Wir wurden meistens freundlich empfangen, küßten ihm eines nach dem andern die Hand, beantworteten seine Frage: »Seid’s brav?« immer bejahend und so auch bald die darauffolgende: »Ist die Pepi da? Gut also, also geht.«

Manchmal durfte er in seiner Arbeit nicht unterbrochen werden. Da hieß es: »Seid ruhig, wartet.« Man wartete, rührte sich nicht und hatte Zeit, sich mit schüchterner Neugier im Zimmer umzusehen. Es kam mir größer vor als alle anderen im Hause, und jeder Gegenstand darin hatte etwas Eigentümliches und erregte mein ganz besonderes Interesse. Wie merkwürdig war schon der Lüster, der an vergoldeten Ketten von der Decke niederhing! Eine flache, mattgrüne, mit Arabesken aus Bronze geschmückte Schale. Aus ihr heraus streckten sich sechs magere, sehnsüchtige Arme und trugen in ihren Händen tulpenförmige kleine Urnen, aus denen vergilbte Wachskerzen emporragten. Einen sehr ernsten Eindruck machten die schwarzen Möbelgestelle, der umfangreiche, schwarze Schreibtisch und die Schwärze der ganzen Gesellschaft von Schränken und Etageren.

Über dem Kanapee, das rechts an der Längswand stand, hing ein Bild, das ich mit dem Blick eben nur zu streifen wagte, weil mir sonst heiße Tränen in die Augen schossen.

Es war eine schöne Radierung und stellte einen Invaliden der Grande Armée vor, einen alten Mann in verbrauchter Uniform. Er saß auf einem Bänkchen vor einer niedrigen Hütte. Sein kahles Haupt war gebeugt, seine Arme lagen auf den ausgespreizten Knien; er hielt sein Taschentuch in den Händen und ruhte aus von einer traurigen Arbeit. An der Wand neben ihm lehnte die Schaufel, mit der er eine Grube gegraben hatte für einen treuen Gefährten – seinen Hund. Der lag zu seinen Füßen, das gebrochene Auge noch auf den Herrn gerichtet. – Ich habe dich schwer verlassen, schien es zu sagen, aber ich mußte fort; es war ja hohe Zeit. Sieh mich nur an, lieber Herr. Bin ich nicht zum Kinderspott geworden, so alt und abgezehrt und häßlich? Mut, lieber Herr, steh auf und lege mich in die Grube, die du für mich gegraben hast. Ich werde da schlafen, und – Hunde träumen ja, weißt du – träumen, daß wir wieder jung sind, wir zwei, und schön und gesund. Entschließ dich, lieber Herr …

Endlich wird der Invalide doch aufstehen, nach der Schaufel greifen und den guten Hund begraben und dann keinen Freund und keinen Kameraden mehr haben und nichts mehr auf der Welt …

Noch andere Bilder hingen an den Wänden, Radierungen und Kupferstiche, lauter Erinnerungen an die Feldzüge gegen Frankreich, die unser Vater mitgemacht hatte, an Erzherzog Karl und an Napoleon. Und auf dem Schreibtisch befand sich ein Aquarellbildchen und stellte drei hübsche Offiziere in Uniform, drei junge Hauptleute, dar: unseren Vater und seine zwei Brüder, und diese seine zwei Brüder waren vor dem Feinde geblieben.

»Vor dem Feinde geblieben.« Ich hörte das sagen und fragte mich, was es bedeuten sollte. Es schien etwas Trauriges und Schönes zu sein. Papa sprach es immer in sehr ernstem und sehr stolzem Tone aus. Und auch das wirkte ergreifend auf mich und trug dazu bei, die ehrfürchtige Scheu zu erhöhen, mit der ich in seinem Zimmer stand.

 

Und nun galt’s, wie Papa gestern befohlen hatte, mich allein in sein imponierendes Bereich zu begeben. Mama begleitete mich bis zur Schwelle des Eingangszimmers, blieb dort stehen und machte mir, als ich mich nach einigen Schritten umwandte und ihr Lebewohl zuwinkte, ein Zeichen, vorwärts zu gehen und dann anzuklopfen. Ich tat’s, und: »Herein!« tönte es mir laut und barsch entgegen.

Ein ermutigender Empfang wurde mir nicht zuteil. Papa reichte mir zwar die Hand zum Kusse, ließ aber vom Moment meines Eintretens an fortwährend seinen Blick forschend und streng auf mir ruhen und fragte endlich: »Was ist dir denn? Was machst du für ein Gesicht? Mir scheint, du fürchtest dich. Du hast ein schlechtes Gewissen. Wer kein schlechtes Gewissen hat, fürchtet sich nicht.«

Nun war das Unglück fertig.

Nun mußte ich ja überzeugt sein, daß ich ein ganz elendes Gewissen hatte, denn wahrhaftig, ich zitterte vor Angst.

Ach, es war danach! Alles war danach. Was lag auf dem großen, schwarzen Schreibtisch, auf dem Platze, den sonst die Wirtschaftsbücher einnahmen? Eine Fleißarbeit Papas. Bewunderungswürdig im Grunde. Viereckige Blättchen von gleicher Größe aus Kartenpapier. Man sah ihnen die Sorgfalt und militärische Pünktlichkeit an, mit der sie zugeschnitten und reihenweise in gleichen Abständen voneinander geordnet worden waren. Jedes einzelne von ihnen trug ein dick und deutlich ausgeführtes Zeichen. Ein gut gekanntes und gut gehaßtes Zeichen – einen Buchstaben.

»Was ist das?« fragte Papa und wies, nicht ohne Wohlgefallen, auf das kleine papierne Pikett vor ihm.

Ich meinte, es seien Buchstaben.

»Ja, ja, Buchstaben, natürlich. Aber das Ganze da – das Ganze!«

»Buchstaben … viele Buchstaben …« Bei den Buchstaben blieb ich. Wie die Familie heißt, wenn sie vollzählig versammelt ist, wußte ich nicht. Ich wußte überhaupt bald gar nichts mehr, nicht einmal ein A von einem I zu unterscheiden und auch nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, als Papa ein geringschätziges: »I! A!« ausstieß.

Der einzelnen Vorgänge bei diesem denkwürdigen Examen kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur einer großen Verwirrung, die in den Reihen der schnurgerade aufmarschierten Kärtchen eintrat, entsinne ich mich: sie wanden sich wie Schlangen, sie tanzten, bildeten Gruppen, stoben davon nach allen Richtungen. Und dabei deutete Papas Finger unbeweglich auf eine Stelle, die für mich abwechselnd von einem A, einem B, einem C besetzt war. Einen Buchstaben um den andern nannte ich, riet und riet und erriet nicht. Die Qual dauerte lang. Mein armer Papa, der Selbstbeherrschung doch so ungewohnt, nahm sich zusammen, wiederholte dieselbe Frage mehrmals, ohne die Stimme allzusehr zu erheben. Die meine aber wird wohl zuletzt gar keinen Laut mehr gehabt haben. Ich vermochte trotz aller Anstrengung nicht, auch nur ein vernehmliches Wort über die Lippen zu bringen, und nahm in hilfloser Bestürzung das Urteil entgegen, daß ich – ein großes Mädel von fünf Jahren – mich mit Schande beladen habe. Der kurze Spruch Papas schloß mit dem Befehl: »Hinaus!«

Ich besorge sehr, ihn mit unanständiger Geschwindigkeit und ohne Abschiedsgruß erfüllt zu haben.

Noch hatte ich auf meinem Rückzug das Eingangszimmer nicht durcheilt, als Papa mir nachkam, die Tür vor mir öffnete, mich hinausschob und mit einem raschen Wurf das ganze Alphabet über mich ausstreute. Dann flog die Tür hinter ihm zu, und ich kauerte auf dem Boden, sammelte hastig die Kartenblättchen in meine Schürze und lief, so rasch ich konnte, davon.

Und nun muß ich sagen: Dieser Buchstabensprühregen, den mein Vater mir damals nachschickte, ist die einzige »Gewalttat« gewesen, die ich je durch ihn erfuhr. Seine Hand hat mich nie unsanft berührt, er hat seine Stimme nie laut gegen mich erhoben, dieser fürchterliche, liebe, gute Papa.

 

Wie oft höre ich junge Leute und Kinder sogar behaupten: »Bei mir richtet man nur mit Güte etwas aus, aber mit Strenge nichts.« Das kommt mir vor, wie wenn eins sagte: »Vom schmeichelnden Lüftchen lasse ich mich allenfalls dirigieren, dem Orkan trotze ich.«

Du armes Reislein!

Ein Zornesausbruch unseres im Grund der Seele so guten Vaters schloß jeden Gedanken an Widerstand aus. Ob sich ein solcher Ausbruch zu dem, was ihn veranlaßt hatte, in einem halbwegs erklärlichen Verhältnis befand, die Frage stellten wir uns nicht. Wir meinten, daß man an der Handlungsweise seines Vaters Kritik nicht üben kann. In späteren Jahren verwandelte das »kann« sich in ein »darf«. – Einem jungen Menschen von heute muß es schwerfallen, unsere Empfindungsweise zu begreifen. Es gibt ja kaum etwas, das sich in einer Zeit, die ich zu überdenken vermag, so verändert hätte wie die Art des Verkehrs zwischen Eltern und Kindern.

Wenn unsere Großmutter von ihrer Mutter sprach, sagte sie »unsere Allergnädigste« und neigte leise das Haupt. Unsere Mutter sagte »Sie« zu ihrem Vater. Er war ihr geistiger Führer, ihr alleiniger Lehrer. Von ihrer Hand beschriebene Hefte, die sich bei uns zu Hause in der Bibliothek erhalten haben, geben Zeugnis von dem Ernst und der Gründlichkeit der Studien, die er sie treiben ließ. Aus jeder Zeile ihrer auch noch vorhandenen Briefe an ihn spricht unbegrenzte Ehrfurcht. Wir standen mit unserem Vater auf dem Duzfuße; er war aber ungefähr von der Sorte, auf dem sich das russische Bäuerlein mit dem Väterchen in Petersburg befindet. Von einer Seite ein unbeschränktes Machtgefühl, von der anderen Unterwürfigkeit. Heute ist das anders. Die Jugend steht obenan; sie wertet und entwertet. Das Alter sieht bewundernd oder grollend zu. Ich staune nur, wie rasch es abdiziert hat. Komisch fast ist die Eilfertigkeit, mit der es sich in die Ecke drückt, um dem vorbeibrausenden Zug der Jugend nur ja nicht im Wege zu sein. Dankbarkeit erhellt die Gesichter der Eltern, wenn ihre Söhne oder ihre Töchter auf der Jagd nach Brot, nach Glück, nach Ruhm einen Augenblick haltmachen, um den Alten einen Lappen ihrer kostbaren Zeit zu schenken. Und auch gute moderne Kinder haben dabei doch das Gefühl eines Zugeständnisses, das sie den unmodernen Eltern machen.

Es ist so, und je tiefer ins Greisenalter ich hineingerate, um so mehr Hochachtung bekomme ich vor dem, was ist. Mein Vater hätte sich zu ihr nie bequemt; was in seinen Tagen für das einzig Rechte und Gehörige galt, sollte in allen Tagen dafür gelten. Er hatte von Kind auf Subordination geleistet, hatte sie von seinem Jünglingsalter an pflichtgemäß zu fordern gehabt. Gehorsam! Wie ferner Donner rollte das R am Schluß der zweiten Silbe, wenn er dieses Wort befehlend aussprach.

Wie seine beiden Brüder, Josef und Fritz, war unser Vater Zögling der Theresianischen Ritterakademie gewesen und hatte sie verlassen, um Kriegsdienste zu nehmen. Josef, den Ältesten, traf bei Dresden 1813 die tödliche Kugel. Der Jüngste, Fritz, fand vor Parma 1814 einen Heldentod. Unser Vater, bei einer glänzenden Waffentat in der Nähe von Cléry an der Loire schwer verwundet, geriet in französische Gefangenschaft. Im Jahre 1816 trat er, noch nicht völlig hergestellt, in den Ruhestand. Das militärische Wesen, die gerade Haltung, den strammen Gang behielt er bis ins höchste Alter bei. Mit einem großen Vorrat an positivem Wissen hatte er sich nicht beladen und lebte in dieser Beziehung sozusagen von der Hand in den Mund. Doch litt er dabei keinen Mangel. Sein guter, klarer Verstand, sein Schönheitssinn, seine Schlagfertigkeit und Beobachtungsgabe ließen ihn nie im Stiche. Er verzichtete gern auf vieles, das sich erlernen läßt, weil er reich war an vielem, das sich nicht erlernen läßt. Er hatte Sinn für Poesie und war ein Freund der Musik; nur durfte sie nicht zu ernst sein. Vor allem aber war er ein Freund des Theaters, und für ihn wie für so viele ist das Burgtheater ein mächtiges Bildungsmittel gewesen. Bis kurz vor seinem Tode blieb er ein treuer Besucher des geliebten alten Hauses. Die Aufführung eines klassischen Stückes »in der Burg« versäumte er nie und verließ seine Loge nicht, bevor das letzte Wort gesprochen und der Vorhang gefallen war. Dabei schämte er sich aber durchaus nicht, zu gestehen, daß kein noch so großes »Vergnügen an tragischen Gegenständen« ihm die Wonne aufwog, ein Theaterstück Raimunds aufführen zu sehen. Raimund stand von allen Dramatikern seinem Herzen am nächsten. Und wieviel von seiner liebe- und verständnisvollen Sympathie für das Wesen, für das Schaffen, für den ergreifend wehmütigen Humor unseres altösterreichischen Dichters hat er uns vererbt! Lange bevor wir ins Theater geführt wurden, hatten wir die Bekanntschaft des Verschwenders, des Herrn Rappelkopf, des Barometermachers auf der Zauberinsel gemacht und verdankten sie den Erzählungen unseres Vaters, die er so gern und so oft wiederholte. Sein Reichtum an Geschichten und Anekdoten war unerschöpflich. Es gab ihrer von allen Sorten, lustige und traurige. Es gab auch lange komische Gedichte, von denen wir nie mehr als den Anfang zu hören bekamen. Das Schönste, uns Liebste blieben aber doch immer die Erzählungen Papas von seinen Erlebnissen während der Kriegsjahre. Schlicht, einfach und klar brachte er sie vor, mit edler Bescheidenheit. Der Ausdruck seines Gesichtes wurde mild und weich, und seine Augen, die er fest auf einen Punkt in der Ferne richtete, trübten sich, wenn er seiner Brüder gedachte. Ich habe im Ohr noch den Klang der Stimme, mit dem er von dem letzten Zusammentreffen mit ihnen sprach, das ihm beschieden gewesen war. Der nächste Morgen trennte sie; in wenigen Tagen standen sie alle vor dem Feinde. Josef, schon mehrmals verwundet und nur notdürftig geheilt, hatte Todesahnungen. Fritz sprach übermütig: »Die Kugel, die mich trifft, ist noch nicht gegossen!« Mein Vater forderte beide zu einem feierlichen Gelöbnis auf: »Der zuerst fällt, gibt den Überlebenden ein Zeichen. Wenn eine Möglichkeit dazu vorhanden ist, geschieht’s.« Sie schworen es sich zu: Der fällt, grüßt die Überlebenden. Aus dem Jenseits grüßt eine Liebe, die stärker ist als der Tod.

Zwei der Brüder waren hinübergegangen, und der dritte hatte gehofft und geharrt und sich nach dem verheißenen Zeichen gesehnt. Es kam nicht – es konnte nicht gegeben werden … Den Behauptungen eines Verkehrs mit Verstorbenen setzte mein Vater den schroffsten Unglauben entgegen: »Es führt kein Weg von drüben zu uns, sonst hätten meine Brüder ihn gefunden«, sagte er.

Unter den vielen »Geschichtchen«, an denen wir uns nicht satt hören konnten, zeichnete sich besonders das von dem kleinen französischen Herrn mit dem blauen Mantel aus. Sein Schauplatz war Troyes. Dort hielt an einem kalten Märzmorgen der Zug der Gefangenen, die man nach der Normandie brachte, eine kurze Rast. Viele Leute eilten herbei, um ihn zu sehen; die Verwundeten erregten besondere Aufmerksamkeit. Der Leiterwagen, in dem man meinen Vater mit anderen Blessierten auf Stroh gebettet hatte, wurde umdrängt; Neugierige kamen herbei, Männer und Frauen – auch junge, hübsche. Peinlich für einen, der gewöhnt war, jungen Frauen ganz andere als mitleidige Gefühle einzuflößen. Und gerade er sah wohl unter allen Leidensgefährten am bedauernswürdigsten aus. Marodeure hatten ihn ausgeplündert, als er bewußtlos auf dem Schlachtfelde lag. Seine Wunden schmerzten, Fieberfröste schüttelten ihn, mühsam richtete er sich auf. Sein Blick wandte sich von den Leuten, die ihn umgaben, ab und begegnete dem eines kleinen alten Herrn, der in einiger Entfernung am Eingang eines Hausflurs stand. Er trug einen blauen Mantel mit schwarzem Kastorkragen, der am Halse mit einem Kettchen aus Stahl geschlossen war. Langsam löste der kleine alte Herr das Kettchen, schritt auf meinen Vater zu, nahm den Mantel von den Schultern und reichte ihn dem freudig Überraschten mit dem einzigen Worte: »Tenez!«

Er wartete den Dank nicht ab, er war gleich wieder in seinem Hausflur verschwunden.

Das war eine Wohltat, dieser fadenscheinige Mantel, dessen Eigentümer nicht danach aussah, als hätte er viele überflüssige Kleidungsstücke zu verschenken. –

Lieber kleiner alter Herr aus Troyes, dein Geschenk war königlich, deine ärmliche Spende so reich! Im Lichte bleibt dein Andenken für uns, die wir als Kinder dich verehren lernten.

Die Gefangenen kamen am Hauptquartier Napoleons vorbei. Sie sahen den Imperator. Er war zu Pferde, sehr blaß, prachtvoll sein Cäsarengesicht, die Gestalt schwer und aufgedunsen. Mit einigen der Unglücklichen im Zuge sprach er und ließ ihnen Geld reichen. Mein Vater erhielt dreihundert Francs, die ihm sehr zugute kamen während seiner Internierung in Caen. Dort fand er sich vortrefflich aufgehoben bei einem braven alten Ehepaare. Auch für diese beiden Leute hegte er eine unaussprechliche Dankbarkeit und konnte die soupe à l’oignon nicht genug loben, die zu kochen seine Hausfrau verstand. Als seine Wiederherstellung fortschritt und er auch feste Nahrung zu sich nehmen durfte, kaufte er ein Messer, mit dem er Brot in die Suppe einschnitt, ein großes Taschenmesser mit grauer Hornschale und mehreren Klingen. Es hat immer auf seinem Schreibtisch gelegen, und man brauchte es nur mit der Fingerspitze leise anzutippen und zu sagen: »Nicht wahr, Papa, das hast du in der Normandie gekauft?« Alsbald waren die alten Erinnerungen alle geweckt, und er ließ sie vor uns aufsteigen in deutlichen, farbigen Bildern. Wir sahen den Hauptmann Dubsky für tot auf dem Kampfplatz bei Cléry liegen, sahen die Marodeure herankommen, die ihn ausplünderten und ihn ganz tot gemacht hätten, wenn er nicht auf einige Worte, die sie an ihn richteten, in ihrer Sprache geantwortet hätte. »Laisse le vivre, il parle français«, sagte einer zum andern. Dann wurde er auf einen Wagen gehoben und fortgeführt in Feindesland. – Oh, wie litten wir mit ihm und sorgten jedesmal von neuem, daß es ihm nun schlecht ergehen werde! Aber bald kam trostreich der blaue Mantel zum Vorschein und imponierend der Anblick des Kaisers Napoleon und endlich zur Erquickung die soupe à l’oignon.

Wie unser Vater hielten auch wir seine Erinnerungen hoch in Ehren und stimmten ihm von Herzen bei, wenn er eine summarische Verurteilung der Franzosen nicht duldete. Er sprach immer mit der größten Anerkennung von ihnen, gegen die er jahrelang im Felde gestanden hatte. Es war damals allgemein so üblich: man schoß den Feind tot, aber man verleumdete ihn nicht.

 

Mein Vater besaß in hohem Grade die männliche Tugend der Gerechtigkeit. Eigensinn kannte er nicht. Wenn er, hingerissen von seinem leidenschaftlichen Temperament, ein zu hartes Urteil gefällt, eine zu strenge Strafe diktiert hatte, ruhte er nicht, bevor es ihm gelungen war, seine Schuld glänzend gutzumachen. Die Lüge verabscheute er, und daß man feig sein könne, begriff er nicht. Nicht einmal den Frauen verzieh er Furchtsamkeit, und was andere in Schrecken versetzt, löste bei ihm eine Wallung des Zornes aus. Viele starke und überzeugende Beispiele wüßte ich davon zu geben, doch will ich nur ein kleines anführen, weil es so charakteristisch ist.

In Zdißlawitz wurde das Eintreffen eines Trupps ungarischer Ochsen erwartet, die zur Mast eingestellt werden sollten. Wir Kinder hatten uns im Meierhof eingefunden, um ihren Einzug mit anzusehen. Papa beorderte uns auf die Rampe den Stallungen gegenüber und blieb mit den Beamten in der Nähe des breiten Hoftores stehen. Eine Staubwolke kündigte das Herannahen der Fußreisenden an. Sie kamen, geleitet von ihren Treibern, wegmüde, die ganze Herde mit den riesigen, spitzen Hörnern, den breiten Köpfen, mageren Leibern, eingefallenen Flanken. Der Burggraf, ein großer, stattlicher Mann, trat an die Tiere heran, rief den Treibern, den Stalleuten Befehle zu. Auf einmal hörte man ihn ein Angstgebrüll ausstoßen und sah ihn entfliehen … Die übrigen Beamten stoben auseinander wie Spreu, in die ein Windstoß fährt. Ein Ochse war wild geworden und stürzte schnaubend, den Kopf gesenkt, den Schwanz emporgereckt, auf den Platz zu, den sie früher eingenommen hatten und auf dem mein Vater jetzt allein stand. – Er aber, empört über die Frechheit des Gastes, sprang ihm entgegen, schwang das Spazierstöckchen und rief mit drohender Stimme: »Na – du!«

Uns stockte der Atem. Die erschrockenen Treiber schrien und ließen ihre Peitschen knallen. Der aufgeregte Sohn der Steppe besann sich, bog aus und schloß sich wieder seinen Gefährten an.

Noch eine Eigenschaft darf ich meinem Vater nachrühmen: die Treue. Wer seine Liebe errungen hatte, dem blieb sie ein unverlierbarer Besitz. Seine Frau war für ihn die einzige in der Welt. Leicht mochte er freilich auch der geliebtesten das Leben nicht gemacht haben; dazu war er zu sehr Kampfnatur, dem raschen Wechsel seiner Stimmungen zu sehr unterworfen. Die Ausgeglichenheit fehlte und auch der feine Blick für die Vorgänge im Gemütsleben selbst derer, die ihm am nächsten standen. Aber – nehmt alles nur in allem – er war ein Mann mit warmem Herzen, stark an Leib und Seele.

Im Jahre 1825 verheiratete sich mein Vater mit der verwaisten Tochter des in Österreich unvergessenen, um unsere Kunstindustrie hochverdienten Freiherrn von Sorgenthal. Die Ehe war von kurzer Dauer. Seine anmutige kleine Frau verließ ihn bald.

Er hat sie, dankbar für die schwärmerische Liebe, die sie ihm entgegenbrachte, innig betrauert, ein volles Glück aber doch erst in der Verbindung mit seiner zweiten Frau, meiner Mutter, gefunden. Liebreich und sorgsam hat sie alles Gute und Edle in ihm gehütet und entfaltet, hat mit kluger, sanfter Hand die Mängel seines Wesens in den Schatten gedrängt und seine Rauhigkeiten zu mildern gesucht. Die Jahre, in denen sie an seiner Seite gestanden, bildeten die Krone seines Lebens, und er hat die Erinnerung an sie heilig gehalten.

Nach ihrem Tode, der völlig unerwartet eintrat, rang er mit der Verzweiflung und wollte dem Leben ein Ende machen, das ihm fortan unerträglich erschien. Ein Zufall, die Dazwischenkunft eines Verwandten, der ihm die schon geladene Pistole entwand, vereitelte den unseligen Entschluß. Einige Wochen nach dem furchtbaren Verluste schrieb mein Vater an seine Schwester nach Wien: »Wie überglücklich bin ich gewesen! Sichtbarlich vom Himmel begünstigt, hatte ich alle Ursache zu fragen: Gibt es wohl einen glücklicheren Menschen auf dieser weiten Erde denn mich? Anders sieht es nun in mir aus. Aus allen meinen Himmeln geworfen, kann ich nun fragen: Wo ist wohl mehr Schmerz, Kummer und Leiden zu finden als in meinem Herzen, welches statt des ihren hätte aufhören sollen zu schlagen, da für meine armen Kinder der Verlust des Vaters gegen jenen einer solchen Mutter, wie meine Marie war, sowohl in der Gegenwart wie in der Zukunft bei weitem weniger empfindlich gewesen wäre!«

Die Zeit verging und übte ihre unwiderstehliche Macht aus. Der Daseinswille, die Sehnsucht nach einer Häuslichkeit erwachten von neuem; er kam zu dem Schlusse: »Wenn der Himmel mir mein Haus niederreißt, muß ich es mir wieder aufbauen.« So hat er denn auch das seine wieder aufgebaut, und abermals wurde es ihm nach kurzer Zeit zerstört. Erst seinem vierten Ehebunde war eine lange Dauer beschieden.

Er stand in hohem Greisenalter, als ihm sein Daheim mit grausamer Raschheit noch einmal verödet wurde. Und wenn dieser letzte schmerzvolle Schlag ihn auch in allen Seelentiefen erschütterte, fand der schwer Heimgesuchte allmählich doch seine Fassung und seine Kraft wieder. Sie wankte keinen Augenblick, als die Anzeichen des herannahenden Endes sich einstellten. Er hatte dem Tod in Jünglings- und in Mannesjahren so oft ins Auge geblickt; mit großer Ruhe, in tiefem Frieden sah er ihm nun entgegen. Als treuer Hausvater nahm er mit guten Worten Abschied von jedem einzelnen seiner Angehörigen und von jedem seiner Diener.

Der Priester, der ihm die letzte Wegzehrung gereicht hatte, wandte sich vom Sterbebette zu uns und sprach: »Ihr Vater stirbt wie ein braver Soldat.«

 

Von diesem, in wenigen Zügen nur entworfenen Bilde eines Starken wende ich mich wieder den kleinen Erlebnissen seiner Kinder zu.

Als meine Schwester ihre Wanderung ins sechste und ich die meine ins fünfte Lebensjahr zurückgelegt hatte, sollten wir eine Gouvernante bekommen.

Es war Spätherbst, und wir waren in Wien, und schon seit längerer Zeit hatte Pepinka ihre Drohungen mit den Strafgerichten Papas in Drohungen vor den Strafgerichten der Gouvernante umgesetzt.

»Wartet nur, was euch die Gubernante tun wird!« hieß es jetzt beim geringsten Anlaß zur Unzufriedenheit, den wir ihr gaben.

Kein Wunder, daß wir der Ankunft der neuen Machthaberin ohne Begeisterung entgegensahen.

Zu dem großen Ereignis wurden geziemende Vorbereitungen getroffen.

Unser wartete eine Art Proserpina-Schicksal. Schlafen sollten wir nach wie vor bei der Kinderfrau, tagsüber jedoch bei der Gouvernante bleiben in ihrem eigens für sie eingerichteten Zimmer. Es war kein Prachtgemach! Es hatte die Aussicht auf einen mit Glasfenstern versehenen Gang, der das Haus auf der Hofseite umlief. Nicht der geringste Ausblick ins Freie bot sich dem Fräulein; Zerstreuung konnte ihr nur die Betrachtung ihrer neuen Möbel bieten. Unter ihnen zeichnete sich ein großes Kanapee aus, das durch eine kunstreiche und zu jener Zeit noch ungewöhnliche Einrichtung spielend leicht in ein bequemes Bett umgewandelt werden konnte.

Ach, du lieber Gott! Auf diesem Kanapee werden wir neben der »Gubernante« sitzen müssen den ganzen Tag. Und den ganzen Tag wird sie uns erziehen, und wir werden von allem, was sie zu uns sagt, kein Wort verstehen, denn sie spricht nur Französisch, so eine »Gubernante«. Das alles sagte Pepinka, um uns recht angenehm vorzubereiten zum Empfang ihrer Nachfolgerin.

Sie kam, und als Mama uns zur Begrüßung zu ihr führen wollte, machte ich eine Szene, schrie und heulte und mußte über die kleine Stiege, die aus der Kinderstube ins Gouvernantenzimmer führte, getragen werden.

 

Wie freudig bin ich seitdem alle Morgen die fünf Stufen derselben kleinen Treppe hinabgehüpft, um gleich nach dem Frühstück zu Mademoiselle Hélène zu eilen! Wie bald haben wir sie liebgewonnen, diese Dritte im Bunde der Vortrefflichen, die unsere Kindheit schön und glücklich gemacht haben. Einige Jahre unserer Kindheit, sollte ich sagen, denn gar bald haben zwei von ihnen uns verlassen.

Mademoiselle Hélène Hallé war unsern Eltern durch die Gräfin Saint-Aulaire, die damalige französische Botschafterin, empfohlen worden. Sie stammte aus gutem Hause und war eine äußerst sympathische Erscheinung. Eine große junge Dame mit durchsichtigem, rosigem Teint, rötlich-blonden Haaren und sanften blauen Augen. Sanft und ruhig war auch ihre liebe Art und Weise. Sie gewann, ohne im geringsten darum zu buhlen, das Wohlwollen aller Hausgenossen, sogar das unserer eifersüchtigen Pepinka. Reinste Freude bot uns der Umgang mit ihr; eine »leçon« war helle Unterhaltung. Nach kurzer Zeit konnten meine Schwester und ich Französisch reden und lesen. Im Herbste noch, noch in Zdißlawitz, war es mir plötzlich und fast mit Leichtigkeit gelungen, den Inhalt deutscher Bücher zu enträtseln. Die Unterrichtsstunde bei Papa hatte doch wunderbar rasch gute Früchte getragen, und so standen nun geöffnet vor mir die Pforten zweier Weltliteraturen.

Aber nicht bloß Gelehrsamkeit galt es zu erwerben – auch mit »weiblichen Handarbeiten« sollte ich mich befassen: ich sollte stricken lernen. Warum mir das als eine Schmach erschien, ist mir heute noch unerklärlich. Ich wehrte mich heftig und lange, doch wurde mein Widerstand endlich besiegt. Der Abscheu, den ich vor der Strickkunst empfand, endete mit der Herstellung von Strumpfbändern für meine geliebte Mama. Sie waren das Mißratenste, was je auf diesem Gebiete geleistet worden; aber die größten Meisterwerke hätten nicht freudiger empfangen werden können als das klägliche Paar. Mit welcher Zärtlichkeit schloß mich Mama in ihre Arme und wischte mir die Tränen ab, die ich vergoß, indem ich ihr das Zeichen meiner Unterwerfung auf den Schoß legte!

Das Weihnachtsfest war nahe, wir konnten die Tage bis zum 24. Dezember schon an den Fingern abzählen, als sich etwas begab, das uns in die größte Aufregung versetzte. Vor unsern Nasen gleichsam verschwanden unsere Puppen. Auf einmal waren alle fort. Eine vollständige Puppenauswanderung hatte stattgefunden.

Das Bett, in das Fritzi gestern noch ihre älteste Tochter, die große Christine, schlafen gelegt hatte – leer. Die Angehörigen Christinens hinweggefegt, als ob sie nie dagewesen wären. Meine blonde Fanchette, die freilich von der Blondheit nur noch den Ruf besaß – denn eine geduldige Friseurin war ich nicht –, ebenfalls unauffindbar. Wir kramten vergeblich nach ihr in unsern Laden, durchforschten alle Schränke und Winkel. Wir liefen ins Kinderzimmer und klagten die armen kleinen Brüder des Raubes unserer Puppen an. Daß wir auch im vorigen Jahre kurze Zeit vor Weihnachten denselben Jammer erlebt und dann unter dem Christbaum ebenso viele Puppen, als wir vermißt hatten, mit glänzend lackierten Gesichtern, reichem Gelock und schön gekleidet sitzen sahen, fiel uns nicht ein. Oh, wir waren dumme Kinder! Ich glaube nicht, daß es heutzutage noch so dumme Kinder gibt.

Pepinka, ärgerlich über die Nachgrabungen, die wir nun auch in dem von ihr beherrschten Reiche zu unternehmen begannen, ließ sich zu einem unvorsichtigen Worte hinreißen. »Geht, geht! sucht eure Puppen dort, wo sie sind.«

»Weißt du, wo sie sind? … Ja, ja, du weißt es! Wo sind sie?« Wir ließen nicht nach, gaben ihr keine Ruhe, bis sie endlich, um uns loszuwerden, sagte: »Die kleine Greislerin hat sie gestohlen. Grad ist sie mit der Christine über die Gasse gelaufen.«

Gestohlen also! unsere Kinder gestohlen! durch die kleine Greislerin – oh, das leuchtete uns ein. Der konnte man alles Schlechte zutrauen. Ihre Mutter hatte einen Laden, gerade unter einem der Fenster des Kinderzimmers. Wir kauften dort die Glas- und Steinkugeln, mit denen wir eine Art Kriegsspiel spielten. Von der Mutter erhielten wir immer fünf Stück für einen Kreuzer, von der Tochter nur drei. Genügte das nicht, um uns ein Licht aufzustecken über das ganze Wesen dieser Person? Sie, natürlich, war die Puppenentführerin, sie lief herum mit der Christine, an ihr mußte Rache genommen werden. Es mußte! Ich war Feuer und Flamme dafür, und es gelang mir, meine Schwester davon zu überzeugen. Auch die sanfteste Mutter kann grausam werden, wenn es Kindesraub zu bestrafen gilt. Am liebsten würden wir die Missetäterin durchgeprügelt haben – woher aber die Gelegenheit dazu nehmen? Sie bei der Frau Greislerin verklagen? Ach, die tut ihr nichts, die fürchtet sich selbst vor ihr. Was also soll geschehen? Was für ein Gesicht soll unsere Rache haben? Ein schwarzes! machten wir endlich aus. Es war beschlossen, was der Diebin geschehen soll: Wir werden ihr Tinte auf den Kopf gießen.

Pepi war ins Nebenzimmer zu den Kleinen gegangen und hatte die Tür geschlossen; wir glaubten unser nichtsnutziges Vorhaben ungestört ausführen zu können. Ich holte eilends das Fläschchen herbei, das unsern Tintenvorrat enthielt; wir schoben in das Fenster, unter dem der Greislerladen sich befand, einen Schemel und bestiegen ihn. Fritzi öffnete den inneren Fensterflügel und mit Mühe nur ein wenig den äußeren, und ich steckte den mit der Tintenflasche bewaffneten Arm durch den Spalt. Jetzt – hinunter mit dem Guß! Hinunter auf die Greislerin, die natürlich nichts Besseres zu tun hat, als dazustehen und ihm ihr schuldiges Haupt darzubieten.

Die spanische Armada war einst nicht siegesgewisser ausgezogen als wir zu unserer Unternehmung – und ihr Schicksal teilten wir. Die Elemente erhoben sich wider uns. Es stürmte an dem Tage im Rotgäßchen wie anno 1588 auf dem Atlantischen Ozean, und noch dazu gab’s ein Gestöber von weichem Schnee. Ein Windstoß entriß meiner Schwester den Fensterflügel und schlug ihn gleich darauf so schnell wieder zu, daß ich kaum Zeit hatte, meinen ausgestreckten Arm zurückzuziehen und das Tintenfläschchen vor dem Sturze zu retten. Sein Inhalt übersprühte die Glasscheibe, tropfte, mit Schnee und Regen vermischt, vom Fenstersimse herab, umhüllte meine Finger mit der Farbe der Trauer.

Laut und lebendig gestaltete sich der Schluß des ganzen Abenteuers. Pepinka mußte etwas von unserm Treiben vernommen haben, denn plötzlich stürzte sie herbei. Ihr Antlitz glich dem rot aufgehenden Monde, ihre Haubenbänder flogen – ich weiß noch recht gut, daß sie eidottergelb waren.

»Ihr Verdunnerten!« rief sie. »Jesus, Maria und Josef! Fenster aufreißen, mitten im Winter! Was fällt euch ein, ihr, ihr …« Der Rest sei Schweigen. Mögen die Ehrentitel, mit denen sie uns ausstattete, der Vergessenheit anheimfallen. Sie bildeten eine relativ milde Einleitung zu den in prophetischem Tone ausgesprochenen Worten: »Ihr könnt euch freuen. Gleich wird die Polizei über euch kommen!«

Da war mit einemmal alles erloschen, jeder Funke des Hasses gegen die Greislerin und bis aufs letzte Flämmchen unsere lodernde Racheglut. Nur noch einen heißen Wunsch hatten wir, nur mit einer Bitte bestürmten wir Pepinka: Nur die Polizei nicht hereinlassen! Nur der Polizei nicht erlauben, daß sie komme, uns »einzuführen«!

 

Der Winter verrann, das Frühjahr war nahe; wir begrüßten die ersten wärmeren Tage mit Freude und hofften auf unsere baldige Abreise nach Zdißlawitz. Sehr angenehm und wie ein Gruß aus der Heimat mutete es uns an, als wir eines Morgens einen schönen Hannaken im blauen Mantel auf dem Gange stehen sahen. Er schien zu warten, und bald kam denn auch Papas Jäger, von dem er sich vermutlich hatte anmelden lassen, und holte ihn ab. Wir liefen eiligst ins Kinderzimmer, um dort zu verkünden, daß der Franz soeben einen Hannaken zu Papa geführt habe. Pepi empfing unsere Nachricht ohne Überraschung. Anischa saß auf einer Fußbank neben dem Tischchen, an dem unsere kleinen Brüder spielten, und hatte die Augen voll Tränen. Als wir auf sie zutraten, nahm sie unsere Hände und küßte sie mit innigster Zärtlichkeit; aber unsere Frage, warum sie geweint habe, wollte sie nicht beantworten. Pepi schaffte uns bald und auffallend gebieterisch fort. Auch war die Zeit zur Unterrichtsstunde da. Nachher wurde der gewohnte Spaziergang auf die Bastei unternommen, dann Toilette gemacht und Schlag vier Uhr zu Tisch gegangen. Am Nachmittag, als wir mit Mademoiselle Hélène »die Kleinen« besuchen kamen, was sahen wir? – Sophiederl auf dem Arme eines fremden Mädchens, das mit ihr herumtanzte, während Pepi mit den Buben Verstecken spielte. Das tat sie sonst nie, das war Anischas Amt.

»Wo ist Anischa?« riefen meine Schwester und ich, von einer bösen Ahnung ergriffen. Pepi machte zuerst Ausflüchte, vertröstete uns, versicherte, Anischa sei nur für kurze Zeit weggegangen und würde bald wiederkommen. Wir brachten ihren Versicherungen den größten Unglauben entgegen. »Weggegangen?« – Anischa ging nie weg, ging nur am Sonntag in die Kirche, und heute war gar nicht Sonntag.

Auf einmal durchblitzte es mich … Wie pflegte Pepi, wenn sie ein wenig böse war, zu sagen? »Er kommt heute nicht.« Und wie pflegte Anischa zu antworten? – »Heute nicht und morgen nicht.«

Jetzt aber, ganz gewiß, jetzt war »er« gekommen und hatte sie hinweggeführt; denn »er«, das war kein anderer als der Hannak, den wir am Morgen gesehen hatten. Gern war sie nicht mit ihm gegangen; sie hätte sonst nicht so arm und verweint auf dem Fußschemel gesessen bei den Brüdern, sie hätte uns nicht so inbrünstig die Hände geküßt … Die Liebe! die Geliebte! Da hatte sie Abschied von uns genommen … Und wir nicht von ihr … warum hat man uns nicht Abschied nehmen lassen von ihr? Warum? fragte ich und wollte doch die Gründe nicht hören, die Pepinka dafür angab. Ich wollte auch nicht glauben, daß Anischa wiederkommen werde … Belogen und betrogen fühlte ich mich. Nein, nein! sie würde nicht wiederkommen, nie! Der grausliche Hannak würde sie nie mehr hergeben. Entrüstet klagte ich ihn an und Pepi, die ihm Anischa überliefert hatte, und benahm mich recht wie ein Unband beim Einzug des ersten bitteren Schmerzes in mein Leben.

 

Im Laufe des Sommers erkannte ich dann mit freudiger Beschämung, wie unrecht es von mir gewesen war, an einem Wiedersehen mit Anischa zu verzweifeln. Die schwer Entbehrte besuchte uns und brachte allerlei Eßwaren mit, die uns vortrefflich schmeckten. Sie lobte ihren Mann, ihren Sohn, ihre zwei braven Kühe und sah gut und zufrieden aus. Nur waren ihre Hände sehr abgearbeitet.

Manches Jahr hindurch ist sie so gekommen zur Sommerszeit, und bis zu ihrem Tode bin ich mit ihr im Verkehr geblieben. Meinerseits im schriftlichen; ihre Antworten auf meine Briefe bestanden in einigen Zeilen, die sie dem Herrn Pfarrer diktierte. Sie setzte nur ein kleines, meist recht schiefes Kreuz darunter, denn schreiben konnte die vortreffliche Erzählerin nicht.

Auf dem letzten Zettel, den ich von dem geistlichen Herrn bekommen habe, fehlte Anischas kleines Kreuz. Dafür stand ein anderes, ein größeres, auf einem Hügel des Friedhofs ihres Dorfes, und unter ihm ruhte die Getreue.

Mademoiselle Hélène hatte kaum zwei Jahre bei uns zugebracht, als es auch von ihr scheiden hieß. Ihre Familie rief sie nach Frankreich zurück. Sie trennte sich nicht leicht von uns Kindern; am schwersten aber, wir konnten uns darüber nicht täuschen, trennte sie sich von Mama. Sie schien von einer großen Besorgnis erfüllt und bat dringend und wiederholt, ihr nur gewiß in einiger Zeit Nachricht geben zu lassen … nur ganz gewiß! … Mama versprach’s, umarmte sie, und beide hatten feuchte Augen.

Der Wagen war schon angemeldet worden, der Mademoiselle Hélène zum Postgebäude auf dem Alten Fleischmarkt bringen sollte. Von dort aus setzte sich die Diligence in Bewegung. Wöchentlich ein paarmal kam sie dick und gelb herbeigerasselt und fuhr über den Haarmarkt dahin, mit Reisenden besetzt, die sich auf dem Wege nach fremden, fernen Ländern befanden.

Heute trug sie uns einen köstlichen Besitz davon. Fritzi und ich knieten auf Stühlen am offenen Fenster. Mama stand zwisdien uns und hatte ihre Arme um uns gelegt. In höchster Spannung blickten wir auf die Straße hinab, und leise begann in mir die Hoffnung sich zu regen: Vielleicht kann Mademoiselle Hélène sich doch nicht entschließen, von uns fortzugehen … Vielleicht kommt sie wieder zurück …

Nun rollte er heran, im Trabe zweier kräftiger Pferde, der breite, schwere Kasten, ein rosiges Gesicht neigte sich aus dem Schlage … und wir hatten die letzten Grüße getauscht mit unserer guten Hélène Hallé.

Als wir zurückkehrten in ihr verlassenes Zimmer, fiel eine große Traurigkeit uns aufs Herz. Die Möbel hatten ihre imposante Feierlichkeit für uns verloren, und wir meinten auch ihnen die Bekümmernis darüber anzusehen, daß sie der besten Mademoiselle nicht mehr dienen sollten. Auch die kleinen Brüder fragten betrübt nach ihr; von allen wurde sie schwer vermißt.

Was wir an ihr verloren hatten, die uns den Gehorsam zur Freude, das Lernen zum Genuß, das Leben leicht und heiter gemacht hatte, das ermaßen wir aber erst völlig, nachdem ihre Nachfolgerin eingetroffen war. Grausamer für uns hätte ein Tausch kaum ausfallen können.

Wer Mademoiselle Henriette unsern Eltern empfohlen hatte, wußten wir nicht, doch davon waren wir überzeugt: Beim Jüngsten Gericht wird er darüber zur Rechenschaft gezogen werden.

In seinem Zorne hatte Gott Mademoiselle Henriette zur Gouvernante geschaffen. Sie war schön und jung; darin bestand die einzige Ähnlichkeit, die sie mit Hélène Hallé hatte. In allem übrigen war sie ihr Widerspiel.

Äußerlich eine mittelgroße, schlanke Brünette, mächtiges Dunkel im Haar, Feuer in den Augen. Innerlich – ein Drache. Eine treue Anhängerin der Moral, die unsere Modernen erfunden zu haben glauben, eine Dienerin der Pflicht, »sich auszuleben«. Sehr unwillkürlich bildeten ihre Zöglinge dabei doch einige Hindernisse, und als solche hat sie uns herzlich gehaßt. Es regnete Strafen. Die ärgste diktierte sie mir, als ich einmal in offenen Aufruhr gegen sie geriet, weil sie statt les Autrichiens »les autres chiens« gesagt hatte. Hoch angerechnet soll übrigens der leidenschaftlichen Dame eines werden, und ihr zum Ruhme muß ich es besonders hervorheben: wohl hat sie uns hungern, hat uns bis zur Erschöpfung im Winkel stehen, viele Seiten aus Noël et Chapsal auswendig lernen lassen, von denen wir kein Wort verstanden – geschlagen hat sie uns nicht. Die Note fehlte in der Symphonie ihres Erziehungsprogramms. Trotzdem lernten wir durch sie aufs gründlichste erfahren, wie tief unglücklich Kinder sein können, die sich wehrlos einer böswilligen Macht überantwortet fühlen.

 

Wir würden nicht lange unter den Launen der Tyrannin gelitten haben, wenn Mama sich damals um uns hätte kümmern können. Aber sie konnte nicht, sie war krank und unsere Trennung von ihr durch mehrere Wochen eine vollständige.

Im Vorfrühling gab sie einem Kindlein das Leben, das sich sehr beeilte, auf alle Vorteile dieses Geschenks zu verzichten. Es brauchte keine Wiege, nur einen Sarg. Einige Wochen verflossen, und endlich durften wir zwei Großen zuerst, die drei Kleinen nach uns die arme, kranke Mama wieder besuchen und täglich ein bißchen länger, wenn auch nicht stundenlang wie sonst, bei ihr bleiben.

Und einmal wurde mir eine große, unaussprechlich große Freude zuteil. Mamas treue Pflegerin, Tante Helene, die Schwester unseres Vaters, brachte eine wundervolle Nachricht: Doktor Wierer hatte der Mama erlaubt auszufahren, und sie ließ sagen, daß ich, ich, die Marie, sie begleiten werde. Das war mir ein Glück, vom Himmel gefallen, das war mir die pure Seligkeit. Mich wollte sie mitnehmen bei ihrer ersten Ausfahrt, keines von meinen Geschwistern, nur mich, mich allein! So hat sie mich denn, machte ich sofort aus, am liebsten von uns allen. Günstlingsgefühle erfüllten mich. Daß Fritzi erstaunt und betrübt dreinsah, daß die Brüder schrien: »Auch ausfahren mit der Mama!« ließ mich ganz gleichgültig. Mochten sie nur Spazierengehen auf der Bastei, ich fuhr mit Mama, denn ich – ich war ihr Liebling. Oh, sehr oft war es mir schon so vorgekommen. Jetzt wußte ich’s.

Wir fuhren zum Belvedere. Papa hatte die noch schwache Rekonvaleszentin über die Stiege getragen und in den Wagen gehoben; er war unter der Einfahrt stehengeblieben, als der Schlag geschlossen worden, und hatte mir lächelnd zugerufen: »Achtgeben auf die Mama!«

Im Garten des Belvederes machte sie nur einige Schritte bis zur ersten Bank des großen Parterres und blieb dort sitzen und sprach nicht. Ich lief vor ihr hin und her, ich ahmte, entschlossen, sie zu zerstreuen, das Summen und Brummen der Mücken und der Fliegen nach, ich setzte mich zu ihr und schwatzte ihr allerlei vor und besaß doch sonst das Geheimnis, sie lachen zu machen. Heute versagten alle meine Unterhaltungskünste. Wohl nickte sie mir liebreich zu, blieb aber schweigsam und traurig, schlug den pelzverbrämten Mantel fester um ihre schmale Gestalt und fröstelte, obwohl die Sonne, die im Scheitel stand, so glühende Strahlen niedersandte, daß die Blumen ihre Köpfchen verdrießlich neigten und das junge Gras förmlich versengt aussah.

Am Abend, als wir durch das Kinder – in unser Schlafzimmer gingen, fanden wir dort Tante Helene im Gespräch mit Pepi, beide sehr aufgeregt. Pepi perorierte in ihrer heftigen Weise: »Ich hab’s ja gesagt … … Ausfahren lassen … Jetzt schon ausfahren! Gleich umbringen wäre gescheiter.« Sie schimpfte über Doktor Wierer, und als wir wissen wollten, was denn geschehen sei, bestand ihre Antwort in einem neuen heftigen Ausfall gegen den Arzt.

Und nun war’s, wie es schon wochenlang gewesen: Mama war wieder krank. Der Eingang, durch den man aus dem Gouvernantendepartement zu ihr gelangte, blieb wieder verschlossen, das Speisezimmer blieb wieder unbenutzt. Es stieß an ihr Schlafgemach und befand sich wie dieses an der Vorderseite des Hauses. Ebenso der Salon und die Wohnung Papas.

Wenn unser Drache am Morgen Billette schrieb auf rosenfarbigem Papier, mit einem Blümchen in der Ecke, schlichen meine Schwester und ich uns davon, leise und gebückt über den Gang an den Fenstern Mademoiselles vorbei und weiter ans Ziel unserer Wünsche, in die Nähe Mamas, ins Speisezimmer.

Auf zweien der Stühle, die dort in langer Reihe an der Wand links vom Eingang standen, nahmen wir Platz und – warteten.

Worauf? Nun, daß Mama uns rufen lasse. Sie würde uns doch gewiß einmal rufen lassen, und da wollten wir gleich bei der Hand sein. Wir saßen ganz still und rührten uns nicht, aus Furcht, weggeschickt zu werden.

Manchmal ging Papa an uns vorbei mit unhörbaren Schritten und mit gesenktem Haupte. Er öffnete vorsichtig die Tür des Krankenzimmers und trat auf ein Zeichen, das ihm von dort gegeben wurde, ein oder kehrte wieder zurück in seine Gemächer, ebenso lautlos, wie er gekommen war. Oder er trat an ein Fenster, lehnte die Stirn an die Scheiben und blieb so stehen, lang, lang, endlos schien es uns.

Regelmäßig zur selben Morgenstunde kam Doktor Wierer, den Pepi von jeher angefeindet hatte und den auch wir nicht liebten, weil er uns beim geringsten Unwohlsein auf schmale Kost setzte, auf »einen Spinat und eine Ponade«.

Unsere Großmutter Vockel war auch täglich da und holte Erkundigungen nach der Kranken ein. Und »Grandmaman« Bartenstein, Mamas Mutter! – Wenn sie erschien, brachte sie Trost und Zuversicht. Sie sprach nie eine Besorgnis, immer eine Hoffnung aus. Immer lag der Widerschein heldenmütig bewahrten Seelenfriedens auf ihrem durchsichtig blassen Gesichte, dem das ihrer Tochter so ähnlich war. Immer schritt sie gerade aufgerichtet, schmal wie eine Gerte, in ihrer tiefen Witwentrauer dahin, und keiner vermochte wahrzunehmen, welch eine schwere Sorgenlast auf ihren zarten Schultern ruhte.

Voll Angst, weggeschickt zu werden, lehnten wir uns zurück auf unsern Stühlen, sooft jemand eintrat, mucksten nicht und spielten uns auf die Unsichtbaren hinaus. Wenn aber eine unserer Großmütter kam, standen wir auf und küßten ihre Hände. Sie würden uns nicht fortwinken, diese lieben, alten Hände, das wußten wir. Auch die gute Tante Helene hatte nichts gegen unser Dableiben einzuwenden; sie brachte uns manchmal sogar einen Gruß von Mama. Eines unvergeßlichen Tages kam sie aus dem Krankenzimmer sorgenvoller und bekümmerter denn je. Mama sandte meiner Schwester eine zärtliche Umarmung, und mich – es kam merkwürdig zögernd heraus –, mich ließ sie zu sich rufen. Ich jauchzte auf, ich wollte zu ihr stürzen. Die Tante hielt mich an beiden Schultern fest. Merkwürdig ernst und fast feierlich sprach sie zu mir. Sie stellte mir vor, daß Mama das Fieber habe und sich infolgedessen manches einbilde, das gar nicht sei. So bilde zum Beispiel die arme Mama sich jetzt ein, daß ich ein großes Unrecht begangen habe. Dafür wolle sie mir einen Verweis erteilen, und was sie wolle, müsse geschehen; sie dürfte um keinen Preis durch einen Widerspruch aufgeregt werden. Der Doktor habe es strengstens verboten. Und so müsse ich, weil sie durchaus darauf bestand, zu ihr kommen, müsse die Vorwürfe, die sie mir machen würde, schweigend anhören, um Verzeihung bitten und dann sogleich fortgehen. Dringend legte mir die Tante das alles ans Herz, und ich versprach gern, es zu tun. Ach, unsagbar gern! Was lag mir daran, von Mama ausgezankt zu werden, wenn ich sie nur wiedersehen durfte!

Zitternd vor Glückseligkeit betrat ich ihr Zimmer und wollte auf sie zueilen. Da streckte sie den Arm abwehrend aus.

 

Sie lag auf dem Ruhebette, in einen Schal gehüllt, eine Decke über den Knien. Ihr Kopf war in die Kissen zurückgelehnt, und mit Schrecken sah ich, daß ihr schönes, ihr geliebtes Gesicht ganz klein und auch seltsam verändert, fast fremd geworden war. Ihre weichen braunen Haare, die sich sonst in weichen Locken an die Schläfen schmiegten und die Wangen umspielten, waren glatt gescheitelt und von einer kleinen, weißen Haube bedeckt.

Am ungewohntesten aber war der Ausdruck der Augen, die mich mit unruhig gequälten Blicken ansahen. Sie sprach mühsam, mit klangloser Stimme, und – klagte mich einer Lüge an. Einer Lüge, des, wie man uns immer sagte, Schimpflichsten? … Das war ja gar nicht möglich, das war ein grausamer Scherz, und wenn mir nicht ein Schluchzen die Kehle zugeschnürt hätte – ich hätte gelacht.

Ein Wort stieß ich heraus, oder vielmehr, es kam von selbst, es drängte sich auf meine Lippen: »Mama!« und obwohl Tante Helene, die hinter das Ruhebett getreten war, mir Zeichen machte zu schweigen, wiederholte ich doch immer: »Mama«, als wäre sie es nicht, neben der ich da stand, als müsse ich sie herbeirufen können. Mich zu verteidigen fiel mir nicht ein; ich dachte nicht einmal daran, daß mir unrecht geschah. Ich fühlte einen dumpfen Schmerz, eine grenzenlose Betroffenheit und hatte zugleich die Empfindung: Es muß ausgehalten werden, es geht vorbei. Auf einmal wird meine Mama mich in ihre Arme nehmen, und alles wird gut sein.

Immer wieder rief ich sie an, mit dem einen angstvoll ausgestoßenen Worte. Sie wollte nicht hören, sie wies mich zurück, sooft ich nähertrat und ihre Hand zu fassen suchte.

Ohne Erbarmen wurde ich zuletzt fortgeschickt.

Ich bin damals im siebenten Jahre gewesen und bin heute im fünfundsiebzigsten. Wenn aber die Erinnerung an jene Stunde lebhaft vor mir aufsteigt, erwacht noch ein Reflex der Qual, die damals mein Kinderherz zerriß. Damals, als ich, nach der Ausweisung aus dem Zimmer Mamas, mich nicht entschließen konnte, seine Schwelle zu verlassen, nicht zu rufen, nicht zu pochen wagte, nur den Mund an den Türspalt preßte, an dem meine Tränen herunterliefen, und hineinhauchte, leise und jammervoll: »Verzeih! Verzeih!«

Dieses Wiedersehen mit meiner viel-, vielgeliebten Mama blieb das letzte.

Von Tag zu Tag stiegen die Besorgnisse um sie. Der furchtbare Ausspruch: »Keine Hoffnung mehr!« wurde getan, und eines Morgens kamen Großmama Vockel und Tante Helene verweint und übernächtigt zu uns und brachten die Trauerbotschaft.

In der Nacht, während wir schliefen, hatte Mama uns für immer verlassen … Für immer? – das ließ sich nicht begreifen. Wie hatte sie uns für immer verlassen können, die uns so liebgehabt?

Unser Vater ließ sagen, daß er uns sehen wolle, und wir gingen zu ihm.

Im Speisezimmer trafen wir »Grandmaman« Bartenstein. Sie trat aus dem Gemach ihrer entschlafenen Tochter uns entgegen. Wir blieben stehen. Ich erinnere mich der fast scheuen Ehrfurcht, die mich bei ihrem Anblick ergriff. Auf den Mienen meiner Geschwister malte sich, bewußt und unbewußt, dasselbe Gefühl. Es lag in dem Augenblick etwas Überirdisches in der Erscheinung dieser Frau. Ein so großartiges Bild der Resignation hat sich mir nie wieder dargeboten.

Man sagte uns, sie sei am Morgen gekommen, einige Stunden, nachdem sie die Meldung vom Tode Mamas erhalten hatte. Sie sei niedergekniet am Bette und habe gebetet, das Gesicht in den Händen, lautlos, tränenlos. Kein Beben durchlief ihre Glieder, kein Schluchzen hob ihre Brust, aber allen Anwesenden war, als wohnten sie einer feierlich ergreifenden Andachtsübung bei. Endlich hatte sie sich erhoben, hatte einen langen Kuß auf die Stirn der Toten gedrückt und war hinweggeschritten, aufrecht wie immer.

Jener fernen Vergangenheit mußte ich gedenken, als diese stille Heldin vor nun auch schon vierzig Jahren nach Zdißlawitz kam zur Hochzeit ihrer Enkelin, unsrer Sophie. Da besuchte sie zum erstenmal das Grab ihrer Tochter. »Laßt mich dort allein!« sprach sie mit einer Bestimmtheit, der niemand entgegenzutreten wagte. Nicht einmal auf dem Wege zur Gruft wollte sie begleitet sein. –

 

Unser Vater hemmte nicht den Ausbruch seines Schmerzes. Der starke Mann war völlig gebrochen, seine Stimme versagte, als er mit uns sprechen wollte, und er weinte mit seinen Kindern wie ein Kind.

Wir aber – wie bald stellte sich die Reaktion ein gegen alle die dunkeln und herzzerreißenden Eindrücke, die wir an diesem Tage empfangen hatten! – Wir spielten am Abend ganz vergnügt in den Zimmern der Kleinen. Plötzlich entsann ich mich dessen, was geschehen war, und sagte zu meiner Schwester: »Jetzt ist diese beste Mama gestorben, wir werden sie nie wiedersehen – warum sind wir denn nicht traurig?«

»Warte nur«, erwiderte sie, »wenn erst die schwarzen Kleider kommen, dann werden wir schon traurig sein.«

So spät wie noch nie traten wir die Reise nach Zdißlawitz an. Sie nimmt heute sechs Stunden in Anspruch; damals dauerte sie anderthalb, und wenn das Wetter schlecht war, zwei Tage. Im Reisewagen, uns gegenüber, auf dem Platze, den sonst Mama an der Seite unseres Vaters eingenommen hatte, saß Tante Helene. Schwermütiger Ernst an der Stelle erquickender Heiterkeit. Die traurige Jugend, die sie durchkämpft und durchduldet hatte in Mühsal und Leid, warf einen Schatten über ihr ganzes Leben.

Es war kein geringes Opfer, das sie ihrem Bruder brachte, als sie sich entschloß, die Leitung seines Hauses und der Erziehung seiner Kinder zu übernehmen. Sie gab damit ihre Unabhängigkeit auf und den Frieden ihres kleinen, mit kunstvoller Sorgfalt geführten Haushalts, um an die Spitze eines großen zu treten, in dem die verschiedensten Elemente sich geltend machen wollten und dessen Herr ein unglücklicher, schwerlebiger Mann war.

Als ein langes Fest war uns sonst die Reise erschienen, und die Vorbereitungen zu ihr schon so angenehm. Das Einpacken, besonders das der Unterrichtsgegenstände, die immer zuerst in den Koffern verschwanden, welch ein Genuß! Und die Fahrt selbst, das Rollen über die Landstraße, an den Pappelbäumen vorbei, durch Ortschaften und Dörfer. Das Wechseln der Pferde auf den Poststationen, das lustige Trompetengeschmetter, mit dem die Postillone uns gern ergötzten, denn sie wußten: »fürs Blasen« gibt’s ein Extra-Trinkgeld.

Zuletzt dann, die Krone des Ganzen, die Ankunft in Zdißlawitz. War das ein Drängen im Schloßhof, wenn unsere Wagen hereinfuhren! War das ein Willkommenrufen und Versichern, man hätte die Stunde, die uns wiederbringen sollte, kaum erwarten können! Nicht minder herzlichen Willkomm als die Menschen bot die traute heimische Natur, boten die Felder, die Wiesen, die blütenüberschneiten Bäume am Rande der Wege und im Garten jeder Halm und jeder Strauch. Kein schöneres Wiedersehen aber als das mit unserer Lindenallee, unserem liebsten Spielplatz an heißen Sommertagen – o wie herzlich habe ich oft gewünscht, ein Riese zu sein mit ungeheuern Armen, um alle diese Wipfel umfassen und an mein Herz drücken zu können!

 

Nicht heiter wie sonst gestaltete sich nach dem Tode Mamas unsere Ankunft auf dem Lande. Nur ernste Mienen, nur Kundgebungen der Teilnahme empfingen uns. Unser erster Weg führte in die Gruft, wo eine Nische mehr zugemauert worden war. Wir kannten diese Stätte des Friedens gar gut. Sie lag jenseits der Straße in einem schattigen Parke, den wir Kinder täglich besuchten. Meine Schwester und ich traten oft in den stillen, kühlen Raum, um dort andächtig unserer Toten zu gedenken. Nun kamen auch die »Kleinen« mit uns, und wir beteten zusammen, denn neben unserer unbekannten-wohlbekannten Mutter schlief jetzt auch die ihre: unser aller vielgeliebte Mama.

Unsere Unterrichtsstunden beim Herrn Verwalter wurden nicht wieder aufgenommen. Meine Schwester und ich waren nun des Lesens und – wie man so sagt – des Schreibens kundig. Auch einige Begriffe vom Rechnen und von der Geographie hatte im Laufe des Winters ein mit Geduld reichlich ausgestatteter Lehrer uns in Wien beigebracht. Mademoiselle Henriette gewährte sich und ihren Schülerinnen spärliche Einblicke in die Geheimnisse der französischen Grammatik und gab uns täglich eine Anzahl Verse und eine halbe Seite Prosa zum Auswendiglernen auf.

Die Grammatik hätte unsertwegen ihre Geheimnisse für sich behalten können. Das allmähliche Auswendiglernen einer Anthologie, die Fabeln von Lafontaine und viele hübsche Gedichte enthielt, machte uns Vergnügen.

Eine sprudelnde Quelle des Glückes aber wurde mir die Histoire universelle von Louis Richard dit Bressel. Es gibt nicht viele Menschen, deren Umgang mich erfreut und bereichert hat wie mein Umgang mit diesem Buche. Dickleibig, großoktav, eng bedruckt auf dünnem Papier, in blau und grün marmoriertem Pappendeckel – so präsentierte es sich. Aber welchen Schatz barg das Innere dieser schlichten Erscheinung: eine Wünschelrute, die mich auf einen Wink in Sagenwelten versetzte, in dunkle, in sonnighelle, die ältesten Zeiten in rätselhafter Ferne vor mir auftauchen, mich die alten miterleben ließ. Bis zum Untergang des römischen Kaiserreichs führte sie, und ich folgte ihr, ob leidend, schmerz- und haßerfüllt, ob in jubelnder Bewunderung – immer voll brennender Spannung.

Es gab eine Zeit, da konnte man das Werk meines Historikers wo immer aufschlagen, mir einen Satz vorlesen und mich auffordern, weiter fortzufahren, ich versagte nicht. Und bis heute ist so manche Stelle dieses lieben Buches meinem Gedächtnis eingeprägt geblieben.

Felsenfest stand meine Freundschaft mit dem biederen Bressel, als ein Wundermann sich unserem Bunde anschloß.

Er hieß Perrault.

Nach der Sage und der Geschichte fand eine neue Bereicherung meines Daseins, das holde Märchen, sich ein. Und auch dieses reizumflossene Wesen ließ allen seinen Schimmer und all seine Pracht einem ärmlichen Schreine entsteigen. Die jetzigen Kinder denken’s nicht, wie kümmerlich die Hüllen gewesen sind, in denen unsere größten Reichtumsspender sich uns darstellten. Perraults Märchenhort, von Madame Foa für kindliche Leser eingerichtet, bildete den Inhalt von einigen unscheinbaren gelben Bändchen. Hie und da erschien im Texte ein schwarzer Fleck, und wenn man recht aufmerksam hinsah, ließen Konturen sich erblicken. Ein Kopf kam zum Vorschein, eine Gestalt, die man als zu ihm gehörend vermuten durfte, und – o welches Entzücken, wenn man in ihr einen winzigen, aber ganzen Prinzen Percinet entdeckte! Ein paar Seiten weiter, und da stand eine Dame im Schleppkleid, hatte die Form einer Stangenbohne und statt des Gesichts einen Patzen Druckerschwärze, war aber in unseren Augen die Prinzessin mit den goldenen Haaren und schön wie das Morgenrot.

Ja, damals war er noch ein ganz junges Bübchen, saß auf dem Schoße seiner Mutter, und sie erzählte ihm die Märchen, die er später versinnbildlichen sollte mit seinem begnadeten Griffel, der Genius Gustave Doré.

Wir hatten ihn noch nicht zum Führer und Lenker. In vollster Freiheit waltete unsere Phantasie und wurde da schöpferisch, wo sie heute nur eine Nachempfinderin zu sein braucht. Meine Illustrationen zu Bressel und Perrault malte ich mir selbst in die Lüfte.

Es waren schöne Stunden der Kunstbetätigung, und sie schlugen mir in der Zeit, die ich an Sonn- und Feiertagen bei meiner Großmutter nach ihrer Rückkehr aus der Kirche zubrachte.

Die Fenster ihres Zimmers sahen links auf den Gruftgarten und rechts über die Felder und die Wiesen. Weit gedehnt auf hügeligem Boden, senkten und hoben sie sich wie mit müdem, sachtem Schwunge der fernen Bergkette zu, aus der, nur bei ganz klarem Himmel wahrnehmbar, der Hostein majestätisch emporragt.

In der Vertiefung des einen Fensters stand auf zarten geschwungenen Beinen der Arbeitstisch unserer Großmutter und davor ihr Stühlchen, eine ganz eigentümliche Sitzgelegenheit mit niedrigen Seitenlehnen und ohne Rückenlehne. Über dem Arbeitstische hing das Bild der verstorbenen Levrette. Als sie noch ein schmales Hündlein gewesen war, hatte sie ihren Ruheplatz auf dem Stühlchen hinter ihrer Herrin erhalten und das Recht, sich dort breitzumachen, im Sinne des Wortes rücksichtslos ausgeübt. Sie betätigte ihre Ausdehnungskraft zuletzt derart, daß unsere arme Großmutter sich dos-à-dos mit ihr nur noch halb im Schwebesitz behaupten konnte. Jetzt hatte Dame Levrette das Irdische längst gesegnet und saß, in Öl »auf Leinwand verewigt«, ihrer ehemaligen Lagerstelle gegenüber.

Immer fleißig, häkelte und strickte die Großmutter schöne Bettdecken, feine Strümpfe für uns, warme, dauerhafte Kleidungsstücke für die Armen im Dorfe. An Sonn- und Feiertagen arbeitete sie nicht. Da holte sie einen Band der Stunden der Andacht von Zschokke aus dem Schranke und vertiefte sich in dieses Lebenswerk des schweizerischen Schulmannes und Dichters. Es stammte von unserem Großvater, der Protestant gewesen war, und seine gut katholische Witwe erbaute sich daran.

Während sie ihre sonntägliche Feier abhielt, war ich abgereist nach dem Land der Träume.

In der Ecke neben dem zweiten Fenster befand sich ein großer Fauteuil. Vor ihn stellte ich zwei fausthohe Pferdchen aus Pappe, türmte alle Polster des Diwans auf ihn, erklomm den hohen Sitz, und nun – leb wohl, Vaterhaus, leb wohl, Heimat! Meine Pferde werden lebendig, ihnen wachsen schimmernde, rauschende Flügel, der alte Fauteuil wird eine goldene Muschel mit weißen weichen Seidenkissen und breiten Schleiersegeln, und ich fliege schneller als die schnellste Schwalbe über die Berge und über ein weites Meer in mein himmlisch lichtes Märchenland.

Von den Abenteuern, die ich dort bestand, von den Wundertaten, die ich dort ausführte, habe ich viele Jahre später – es ist nun auch schon lange her – einem kleinen Neffen erzählt, von mir dabei in der dritten Person. So stark sein Glaube auch war – daß die kleine, alte Tante selbst die Heldin all der Märchenromane gewesen, bei denen ihn oft gruselte, hätte er vielleicht doch bezweifelt.

Manchmal, wenn es besonders lang still geblieben war in meiner Ecke, wandte die Großmutter sich nach mir um und fragte: »Bist du noch da? Was tust du?«

Scheinbar tat ich nichts. In Wirklichkeit hatte ich eben einen Drachen getötet oder die greuliche Stiefmutter Grognon in ein Faß voll giftiger Schlangen geschleudert.

 

Der Sommer und der Herbst vergingen. Wir fuhren wieder nach Wien, und dort wurden zwei neue Lehrkräfte für uns bestellt. Ihre Aufgabe war, bei meiner Schwester und mir Talente auszubilden, von denen ich keines besaß. Während Fritzi bald zu den besten Schülerinnen des Tanzmeisters Monsieur Minetti gehörte, erlebte er keine Freude an mir. Jaleo de Xeres! du Kind des stolzen Spaniens, welch ein Schmerzenskind warst du für mich! Deine Posen und Pas studierten wir ein beim Geklapper unserer Kastagnetten und bei den Mißklängen der Gitarre, die am Halse Herrn Minettis an einem Bande hing, das einst himmelblau gewesen war. Am 24. Februar, dem Geburtstage Papas, sollten wir ihn und eine kleine gebetene Gesellschaft mit der Aufführung des iberischen Tanzes ergötzen. Aber schon im Jänner raufte Minetti seine grauen Lockenhaare und bombardierte den Plafond mit grimmigen Blicken. Ein Fiasko prophezeite er mir und sich statt eines »Divertissements«, das wir darbieten sollten. Dabei fuhr er mit dem breiten Daumen so wild über die Saiten seines armen Klimperkastens, daß er dröhnte. Manchmal stampfte er auch mit dem Fuße, doch nicht ohne Zierlichkeit.

Nur der Mühe, die meine Schwester sich mit mir gab, nur der unerschöpflichen Geduld, mit der sie mich anhielt, den unseligen Jaleo immer von neuem mit ihr einzuüben, dankte ich den kleinen Erfolg, den ich schließlich im Schatten ihres großen Erfolges errang.

Indessen – meine Leiden beim Tanzunterricht zählten nicht im Vergleich zu denen bei den Klavierstunden, die eine Frau Krähmer uns erteilte. Eine strenge Lehrerin und nicht bloß gegen mich, die musikalisch völlig Unbegabte, sondern auch gegen meine Schwester, die, talentvoll und fleißig, eine freundliche Behandlung verdient hätte. Doch erlitten auch ihre Finger harte Zurechtweisungen mittels eines Stabes aus Elfenbein, den Frau Krähmer immer bei sich führte und meisterhaft zu gebrauchen verstand. Seine Aufgabe war, die Noten anzuzeigen, auf die man eben seine Aufmerksamkeit zu richten hatte, aber er trieb mit Eifer eine Nebenbeschäftigung. Er sauste mit einer Sicherheit, die nie verfehlte, und einer Kraft, die nie versagte, auf den Finger nieder, der sich einer Abirrung von der richtigen Taste schuldig machte. Er traf den Knöchel so hart, daß es klapperte, und flog gleich wieder zu den Noten empor, und die hätte man genau unterscheiden sollen, wenn einem die Augen in Tränen schwammen? Einen Einwand zu erheben, wagten wir nicht; dazu war Frau Krähmer viel zu imposant. Nur eine der anderen vertrauten wir an, daß wir doch recht arme Kinder wären mit einem Drachen als Gouvernante und einer mitleidslosen Klaviermeisterin.

Ganz regelmäßig schloß mein Morgengebet mit dem dringenden Flehen: »Lieber Gott, mache, daß Frau Krähmer heute nicht kommt!« Daran fügte ich ein Direktiv für unseren lieben Herrgott. Nicht etwa weil ein Unglück sie getroffen hat, weil sie vielleicht auf der Straße überfahren worden ist. Nein, nichts Böses soll ihr geschehen sein, im Gegenteil, etwas sehr Angenehmes, aber nur etwas, das sie abhält, heute zu kommen. Wie ein richtiger Bettler sorgte ich nicht über das Heute hinaus.

Mein Gebet wurde nie erhört. Jeden Morgen mit dem Glockenschlag der zehnten Stunde sahen wir von unserem Fenster aus die Gefürchtete pflichttreu und pünktlich auf den Gang treten. Sie trug einen großen schwarzen Hut mit weit ausladendem Schirm, der unter dem Kinn festgebunden war und den sie nie ablegte. Ihr edles, schmales Gesicht sah aus seinem Hintergrunde hervor wie aus der Tiefe einer sehr schattigen Laube. Auch von ihren unförmlich großen und dicken grauen Handschuhen trennte sie sich nicht. Nur den dunkeln Tuchmantel, der mehrere Kragen hatte, wie zu jener Zeit die Mäntel der Fiakerkutscher, zog sie aus. Seltsam war’s, wenn sich aus dieser weitläufigen Umhüllung eine mittelgroße, feine Gestalt herausschälte, der man die Kraft nicht zugetraut hätte, eine so schwere Last zu schleppen. Mit augendienerischer Beflissenheit suchten wir uns dabei unserer Lehrerin nützlich zu machen. Dann nahm eine von uns beiden Platz am Klavier, die andere setzte sich ans Fenster, faltete ein Blatt ihres Grammaireheftes vierfach zusammen und trug in die so hergestellten Abteilungen die Conjugaison eines Verbes gedankenlos und mechanisch ein.

Beim Fortgehen ermahnte uns Frau Krähmer, fleißig zu üben, und trabte fort auf Stiefeln, in ihrer Art ebenso wuchtig wie der Mantel. Mademoiselle spöttelte ihr nach, sie trage die Kleider ihres verstorbenen Gatten zum Andenken an ihn. Dieser unwürdigen Zuhörerin hatte sie erzählt, daß ihr Mann ein ausgezeichneter Musiker gewesen, vom Unglück aber immer verfolgt worden war. Seine Familie blieb, als er starb, in Armut zurück. Seitdem erwarb die Mutter das tägliche Brot für sich und für ihre fünf Kinder. Um auch nur zu ahnen, was das heißt, waren wir nicht gescheit genug. Zwei ihrer Söhne wollten auch Musiker werden. »Der ältere ist ein Genie«, sagt Madame Krähmer, »und wird ein großer Künstler und sehr berühmt und reich werden.« Bis dahin muß sie aber »courir le cachet« und Unterricht geben im Klavier, das noch dazu gar nicht »son instrument« ist. Ihre Meisterschaft übt sie aus auf der – man denke! –, auf der Klarinette! Mademoiselle fand kein Ende mit Witzeleien über diese Klarinette. Es war ja doch »le comble du ridicule«, daß eine Frau sich’s einfallen ließ, anders als zum Spaße mit gespitzten Lippen in ein hölzernes Rohr hineinzublasen. Wirklich, einer solchen Geschmacklosigkeit war nur eine Deutsche fähig! Wir in unserer Abneigung gegen Frau Krähmer gingen gern auf diese Scherze ein und freuten uns wie auf eine große Ergötzlichkeit, als Großmama uns eines Tages ankündigte: »Frau Krähmer gibt ein Konzert im Musikvereinssaale, und ihr dürft mich dahin begleiten.«

Viel zu früh kamen wir; unsere Ungeduld hatte sich nicht bändigen lassen. Fast noch leer gähnte der Saal uns an, als wir eintraten, und füllte sich nur langsam. Kleine Füße kamen angetrippelt; die Schüler und Schülerinnen der Konzertgeberin erschienen unter der Obhut ihrer Eltern oder des Erziehungspersonales. Ehrenplätze nahmen einige ältere Herren ein, die von vielen jungen Männern und jungen Fräulein respektvoll begrüßt wurden.

»Das sind die Professoren«, sagte die Großmama.

Du lieber Gott, wenn man vor so einem spielen sollte!

Von den Darbietungen derer, die bei diesem Konzerte aus Gefälligkeit mitgewirkt haben, weiß ich nichts mehr. Aber vor mir schwebt deutlich, unvergeßlich ein ergreifendes Bild: Frau Krähmer zwischen ihren beiden Söhnen. Der jüngere, ein Jüngling von etwa fünfzehn Jahren, handhabte seine Viola mit Ruhe und erstaunlicher Sicherheit, stillvergnügt in der Ausübung seiner Kunst. Der ältere, der Violinspieler, war hoch aufgeschossen, hager und hatte auffallend rote Flecke auf den Wangen. Er wandte die leuchtenden dunkeln Augen nicht von seiner Mutter. Fragend, erratend ruhten sie auf ihr, und aus ihnen sprach Vergötterung. Ja, ich habe das gesehen! – oder vielmehr damals nur geahnt. Die größte Zärtlichkeit, die ein Menschenherz empfinden kann, die hervorgeht halb aus Begeisterung, halb aus Erbarmen, leuchtete aus diesem Sohnesblick.

Und sie, seine Mutter … Schüchtern fast war die gefürchtete Meisterin vor ihre Schüler getreten und stand da, eng umschlossen von einem schwarzen Seidenkleide, das in spärlichen Falten an ihr niederhing. O gewiß! wenn Kleider sprechen könnten, das ihre hätte gesagt: Was zerrt ihr mich aus meiner Dunkelheit ans Tageslicht, das zum Verräter wird an meinem Gebrechen? Eine ähnliche Sprache hätte wohl das kleine Spitzentuch geführt, das über der Brust Frau Krähmers gekreuzt war. Auf dem Kopf trug sie eine weiße unter dem Kinn gebundene Haube, und jetzt sah man erst, wie schön braun ihre glatt gescheitelten Haare noch waren und wie rein das Oval ihrer Wangen sich erhalten hatte. Und ihre Hände, die wir heute zum erstenmal ohne Hülle erblickten, mußte man bewundern. Schlanke Hände mit seelenvollen Fingern. Ihre Spitzen berührten abwechselnd eine oder die andere der blanken Klappen des Instruments, aus dem die Meisterin wie mit leisen Küssen liebliche Töne hervorlockte.

Heitere Melodien erklangen; manchmal glaubte man das silberne Lachen eines Kindes zu hören. Es hob sich hell ab von dämmeriger Begleitung. Die Stimmen der Viola und der Violine schmiegten sich ihr an, trugen sie, blieben immer voll Hingebung dienend und untertan, ob ihr tiefernster Gesang in breitem Strome flutete und brauste, ob er kristallklar dahinglitt mit seidiger Geschmeidigkeit.

Es war traumhaft schön. Man konnte eine Landschaft vor sich hinzaubern unter grauem Himmel mit weitem Ausblick in die Ferne; alle Umrisse unbestimmt, die Farben ineinander verschmolzen. Aber verborgen in den Zweigen eines Baumes hatte sich ein Vogel – der sang. Sang Licht und Duft und Farbe in die graue Landschaft hinein … O du gebenedeites Kehlchen! Gebenedeit vor allem, die uns von seinen Wundertönen träumen läßt – die Klarinette Frau Krähmers.

Mit fanatischer Bewunderung sah ich zu der genialen Künstlerin im dürftigen Gewand empor, mit derselben Empfindung, meine ich, mit der ihr Sohn sie ansah. Auch in meine Bewunderung mischte sich ein namenloses Mitgefühl. Ich bin ja damals nur ein unwissendes Kind gewesen, aber davon hatte ich gehört: Todesrosen nennt man die roten Flecke, die auf den eingefallenen Wangen junger, hagerer Menschen brennen. Sah die Mutter die Rosen auf den Wangen ihres Lieblings, ihrer Hoffnung, ihres Stolzes, nicht?

Beim Nachhausekommen wurden wir von Fräulein Henriette mit Gespöttel über den Genuß, den wir gehabt hatten, empfangen. Sie schrieb unsere Versicherungen, daß es herrlich gewesen sei, einem esprit de contradiction zu, den sie versprach uns auszutreiben. Meine Schwester schwieg und bat auch mich zu schweigen. An dem Tage schluckte ich denn meinen Ärger hinunter; als Mademoiselle aber am nächsten wieder anfing, sich über das Konzert Frau Krähmers lustig zu machen, brach ich los. All mein Groll und Haß gegen sie machte sich Luft, ich tobte, ich ließ mich durch ihre Drohungen nicht einschüchtern. Schwören möchte ich nicht darauf, fürchte aber sehr, daß ich ihr eine Ohrfeige angetragen haben dürfte. Und als sie, nicht minder zornig als ich, zu Papa zu gehen und mich bei ihm zu verklagen drohte, riß ich, tollkühn vor Wut, die Tür auf und rief: »Gehen Sie! Gehen Sie!«

Sie machte von meiner Einladung keinen Gebrauch; sie fühlte sich doch nicht so ganz im Rechte; aber eine Reihe von Strafen kündigte sie mir an, die damit anfing, daß ich in die Ecke treten und dort stehen mußte, bis Frau Krähmer zur Stunde kam.

Wir hatten ausgemacht, meine Schwester und ich, daß wir auf sie zugehen und ihr die Hand küssen würden. Doch verging uns bei ihrem Anblick der Mut dazu. Wir brachten nur stammelnd heraus, daß es gestern so schön gewesen wäre – so schön. Sie wies uns kurz ab; sie war nicht mehr die herzbezwingende Künstlerin, sie war wieder die strenge Lehrerin. Emsig wie immer flog der Elfenbeinstab vom Notenblatt herunter auf die Knöchel meiner Finger. Indessen – das große Mitleid ist eine große Kraft, eine, die doppelt wirkt. Sie beschützt den, der sie erregt, sie macht den unverletzlich, der sie empfindet. Die Klapse taten nicht mehr weh.

Diese Unterrichtsstunde war eine der letzten, die Frau Krähmer in unserem Hause erteilt hat. Der Frühling brach an, und wir verließen Wien. Nach unserer Wiederkehr sollten die Klavierlektionen wieder aufgenommen werden. Die Lehrerin wurde berufen. Sie kam nicht. Sie war, sagten ihre Hausleute, nach dem Tode ihres älteren Sohnes verreist. Wohin wußten sie nicht, vermuteten nur: nach Deutschland. Einige ihrer Schüler hatten schon Erkundigungen eingeholt, aber nichts von ihr erfahren können.

Weil sie tot ist, weil sie ganz gewiß tot ist, bildete ich mir ein und malte mir aus, wie traurig ihr Sterben gewesen sein mußte, in der Fremde, in Armut und Einsamkeit. Ich dachte oft an sie, träumte von ihr, sah sie vor mir stehen im Konzertsaale auf dem Podium zwischen ihren Söhnen. Und die Erinnerung an diesen ergreifend wehmütigen Anblick ist zum Ereignis geworden in meinem Leben. Sie hat dazu beigetragen, es auf die Tonart zu stimmen, in der es sich abspielen sollte. Ein Begriff war mir aufgegangen von dem Leiden, das in der Welt ist und neben uns hergeht mit erhobenem Haupte und geschlossenen Lippen, von einer Armut, die darbt und ringt, ohne je zu sagen: Gib! Hilf! Ganz unbestimmt noch, eben nur als leises Vorgefühl, war ein trotziges und selbstsüchtiges Mitleid in mir erwacht, ein Wille zum Leiden. Nicht weil die anderen etwas davon haben, sondern weil mein Leiden mir das ihre erleichtert.

 

Im Frühjahr 1839 begleitete ein neuer Hausgenosse uns auf das Land: Just Dufoulon, ein neunzehnjähriger bildhübscher Franzose – ein Erzieher für unsere Brüder in Gestalt eines guten Kameraden. Seine Mutter war mit ihm von Paris nach Wien gekommen und dort unser täglicher Gast gewesen. Sie wünschte die Familie kennenzulernen, an die sie den einzigen Sohn hingab. Es bestand eine Ähnlichkeit zwischen ihrem Schicksal und dem der Frau Krähmer; auch Madame Dufoulon war Witwe, auch sie setzte auf das Haupt eines geliebten Kindes alle ihre Hoffnungen – und ebenso schmerzvoll sollten sie getäuscht werden.

Vom ersten Tage an erschien »Monsieur Just« uns Kindern wie ein älterer Bruder. Der Respekt war da, aber die Liebe überwog.

An Liebe hat es ihm überhaupt bei uns nicht gefehlt, und nur allzu heiße brachte ihm ein Herz im Sturme dar, denn es war ein gar feuriges, es war das Herz seiner Kompatriotin.

Monsieur Just wurde der Anführer aller unserer Spiele und mein besonderer Freund, obwohl meine Eitelkeit oft schwer durch ihn litt. Er behauptete regelmäßig den Sieg beim jeu de barre und beim Wettlauf, und schlug er mich einmal nicht, dann war meine Demütigung erst recht groß. Dann fühlte ich mich von ihm als ein albernes Kind behandelt, das man gewinnen läßt, und dann strafte ihn mein entrüstetes: »Monsieur, vous trichez!«

Ich hatte im Garten einen Umkreis ausgemittelt, den ich in zehn Minuten zu umlaufen vermochte. Ich allein, niemand sonst, nicht einmal Mademoiselle. Doch mußte ich meinen Ruhm mit Seitenstechen bezahlen, die sich nach vollbrachter Heldentat einstellten.

Und nun begab es sich, daß Monsieur Just, dem ich eine Wette angeboten hatte, denselben Weg in fünf Minuten zurücklegte.

Tief betrübt und beschämt sah ich ihn an. Er war sehr rot, und auf eine kleine Genugtuung hoffte ich doch noch und fragte: »Monsieur, avez vous des picotements?«

Er lachte nur, er war herrlich bei Atem, und meine Brüder, diese miserablen Kleinen, bejubelten ihn, bejubelten den Sieg ihres jungen Galliers über die hannakische Atalante.

Bald danach war aber Monsieur Just in Gefahr, sein Ansehen bei ihnen einzubüßen.

In dem kleinen Park, wo die Gruftkapelle sich erhebt, breitet ein üppiger Wiesengrund, von prachtvollen Kastanienbäumen und dichten Gebüschen umsäumt, seinen blumendurchwirkten Teppich aus. Dorthin hatten wir an einem heißen Sommernachmittag unsern Spielplatz verlegt. Ein »Cinquante et un« war eben im besten Gange, als plötzlich in dem Geäste und Gezweige über uns kreischendes Vogelgezwitscher laut wurde. Todesbang und kriegerisch zugleich, ein verzweifelter Schlachtruf, pflanzte es sich weit und weiter fort. Hunderte von kleinen Stimmen waren laut, piepsten, pfiffen, kleine Flügel rauschten, das gefiederte Völkchen schoß umher wie toll. Man kennt den Grund eines solchen Aufruhrs. »Ein Raubvogel! Ein Raubvogel!« riefen wir und rannten ins Freie, auf die Wiese hinaus.

Und richtig, wir sahen ihn. Ruhig und majestätisch und scheinbar regungslos schwebte auf ausgebreiteten Schwingen der Gefürchtete, der Gehaßte, der den jungen Vögeln im Neste die Mutter raubt, Wachteln würgt und Rebhühner und unsere armen Tauben … ein riesiger Geier. Monsieur Just, die Brüder wurden wie von einem Fieber ergriffen. – Ein Gewehr … O Gott, wer eines hätte und den Übeltäter herunterschießen könnte! Ein Gewehr … Ach, der Papa hat so viele Gewehre – aber niemand würde wagen, eines nur anzurühren ohne seine Erlaubnis …

Monsieur Just, Adolf, der schöne, starke, rotwangige Junge, sind ratlos; dem kleinen Viktor kommt ein Gedanke. Im Bedientenzimmer, da hängt an der Wand ein altes Geschütz, ein Tromblon, und ist immer geladen. Er weiß das. Also vorwärts! Her damit! Monsieur Just rennt, stürzt dem Schlosse zu, die beiden Büblein ihm nach … Sie kommen nicht weit, er ist schon hinter der Kapelle verschwunden, während sie kaum die Mitte der Wiese erreicht haben. Dort stehen sie und warten und »fippern« vor Spannung und Ungeduld, und wir stehen bei ihnen und warten und »fippern« auch. Der Geier hat einen Stoß nach abwärts gemacht, spreizt sich völlig herausfordernd: Zielt nur, trefft! Die Aufregung der Brüder ist unbeschreiblich. Adolf glüht vor Blutdurst, Viktors bis zur Pein gesteigerte Spannung gibt ihm einen Stich ins Gelbe; er möchte seine schmächtige Gestalt bis zum Geier hinaufdehnen können, er streckt sich, er hüpft ratlos bald auf der einen, bald auf der anderen Fußspitze. Mademoiselle ist dieses Mal eines Sinnes mit uns und verkündet jubelnd die Rückkehr Monsieur Justs … sie hat ihn zuerst erblickt auf dem Wege vom Schlosse her. Nur unsere Älteste will nicht, daß geschossen werde, und verstopft sich die Ohren. Aber da hilft nichts mehr, der Schütze kommt gestoben, rennt wie ein Verfolgter und ist es auch – es sind Leute hinter ihm her, sie schreien ihm nach, sie drohen … Mademoiselle Henriette versteht etwas Deutsch, etwas Böhmisch, sie ist auf die Warnungen aufmerksam geworden, die Monsieur Just zugerufen werden. Wir haben ihn mit Ausbrüchen der Begeisterung empfangen. Er steht da, den unförmigen Schießprügel in den Händen, sieht sieghaft empor, legt an … Da fällt Mademoiselle ihm in den Arm und schreit: »Au nom du Ciel, ne tirez pas!«

»Halt!« lassen sich nun schon aus der Nähe die Stimmen des Zimmerwärters und anderer Diener vernehmen. »Nicht schießen! Das alte Zeug platzt Ihnen in der Hand!«

Voll Entsetzen erklärt Mademoiselle dem jungen Mann, an den sie sich herandrängt, die Bedeutung dieser Worte. Er wehrt sie ab, zögert aber doch …

Und nun stürzt der kleine Viktor vor Monsieur Just auf die Knie. Er hebt die Arme zu ihm empor, er verschlingt krampfhaft die Finger und keucht und fleht: »Tirez! Je vous aimerai! je vous adorerai! Tirez! tirez!«

Der heiße Wunsch seines Kinderherzens blieb unerfüllt. Monsieur Just ließ sich überzeugen, daß es Unsinn wäre, die Muskete in Gebrauch zu nehmen, die soviel Neigung zeigte, aus Ärger darüber, daß man ihr eine Anstrengung zugemutet hatte – zu bersten.

»Aber der Geier! der Geier!« schreien die Buben. Die Leute beruhigen sie: »Geduld! Der Franz« – das war Papas Büchsenspanner – »kommt schon, wird gleich dasein, der holt ihn herunter.«

Der Franz! … Nun stehen alle unsere Hoffnungen auf dem Franz. Zum größten Glück läßt er nicht auf sich warten. Meine Brüder und ich, wir laufen ihm entgegen. »Hierher! da, sehen Sie, da!« Wir rufen alle durcheinander, jedes weiß den Platz am besten, auf dem Franz sich aufstellen soll. – »Da?«

Franz schaut in die Höhe, schaut und schaut und murmelt etwas, das einem Fluch zum Verwechseln ähnlich ist.

Der stolze Vogel hatte seine Feindesschar mit einem leichten Flügelschlag gegrüßt, in ruhiger Majestät einen großartigen Kreis umschrieben und war dann plötzlich wie ein abgeschossener Riesenpfeil am Himmel hingeflogen und verschwunden.

Viktor ballte sein Fäustchen gegen Monsieur Just. »Poitron, va!« sagte er.

Und noch von einem an Gemütsbewegung nicht minder reichen Erlebnis aus jener Zeit weiß ich zu berichten; von einer Begegnung mit einer Katze.

Von klein auf hatte ich einen Abscheu gegen das ganze Geschlecht dieser samtpfötigen Raubtiere, dieser Vogelmörder mit dem unhörbaren Schritt, den widerwärtig weichen Bewegungen, den falschen phosphoreszierenden Augen. Mich überlief’s bei ihrem Anblick, Hände und Füße wurden mir eiskalt, ich zitterte am ganzen Leibe, wenn meine Geschwister ein Kätzchen ins Zimmer brachten. Das kam übrigens selten vor, auch mein Vater liebte diese Tiere nicht, man hielt sie nicht im Hause und verjagte sie aus dem Garten.

Eines Tages ging ich über den Hof, der Lindenallee entgegen an den hohen Blumengestellen vorbei. Zwischen einem von ihnen und den Gebüschen, die seine Rückwand verdecken, befand sich ein Bottich mit Wasser zum Begießen der Blumen. Da, wie gesagt, ging ich vorbei und vernahm plötzlich ein Kratzen und Plätschern, wie wenn sich etwas aus dem Wasser herausarbeiten wollte und immer wieder hineinplumpste; dazwischen, dünn und schrill, ein angstvolles, hilfeheischendes Miauen. Es durchblitzte mich … Eine Katze! Eine Katze ist ins Wasser gefallen – oder hineingeworfen worden … Es gibt böse Menschen, die so etwas tun, die grausam sein können gegen Tiere … Haben wir nicht unlängst eine Fledermaus gesehen, eine jämmerliche! Der Sohn des Gärtners hatte ihre Flügel an ein Brett genagelt … Wie sie pfiff, wie ihr kleiner Körper bebte, wie sie rang … Oh, herzzerreißend! – und dort die Katze, die krallt und miaut, ringt auch um ihr Leben … und das muß qualvoll anzusehen sein … Ich wandte mich und eilte vorbei. Aber bald regte sich das Gewissen und auch – die Eitelkeit. Soll ich sie zugrund gehen lassen, weil sie mir zuwider ist? Es wäre schlecht, es wäre feig! … Ich werde doch nicht feig sein – ich!

Also zurück durchs Gebüsch und mutig hinzugetreten an die Stätte des Grauens … Mutig, ja, das war ich im Vorsatz, in der Tat elend vor Angst. Es wurde schlimmer, je näher ich dem Bottich trat, es wurde Entsetzen, als ich, mich auf die Fußspitzen stellend, ein scheußliches Ding gewahrte, ein mit dunklem, struppigem Fell überzogenes Skelett … Es haut um sich mit langen, dürren Beinen, es krümmt einen fürchterlichen Rücken … Wie Knoten in einem Stricke stehen die Knorpel hervor … Und danach die Hand ausstrecken, es anrühren, das sollst du, das willst du? … Ich tu’s! … Vom Fieber des Abscheus geschüttelt, ergreife ich das Ding und hebe es in die Höhe. – Aber da ringelt sich sein fadendünner Schwanz, da faucht es mich an, setzt an zum Sprung in mein Gesicht … Oh, du Miserables! Empört und schaudernd werfe ich es auf den Boden und laufe davon und bilde mir ein, daß es mir nachläuft … ja, ja, ich höre es, es faucht, es ist schon nahe, es wird mich erreichen, an mir hinaufspringen … Und ich renne mit klopfendem Herzen, mit versagendem Atem, ich Heldin, vor einem eingebildeten Verfolger durch Gartengänge, über Wege und Wiesen, bis meine Füße versagen und ich in Angstschweiß gebadet niederstürze …

Ich weiß die Stelle gar gut, und wenn ich an ihr vorbeikomme, gedenke ich noch oft lächelnd jener Schreckensstunde.

Am nächsten Tage fragte ich den alten Gartengehilfen: »Sag mir, wer wirft denn da bei uns Katzen ins Wasser?«

Ob ich das Vieh in dem Bottich meine? Ja, das hatte er hineingeworfen. Aber es krabbelte sich heraus, und da schlug er es tot.

Totgeschlagen hatte er’s! Und womit denn? – »Ja, mit der Schaufel; mit der da. Was eine Katze ist, wird nicht geduldet im Garten. Und das war nicht einmal eine rechte, war so was Halbes.«

»Und was war denn die andere Hälfte? vielleicht ein Ratz?«

Er gab darüber keine Auskunft, und ich war im stillen ganz zufrieden mit dieser Lösung der Dinge, betrachtete aber doch das Mordinstrument mit Gruseln und auch ihn, der etwas erschlagen hatte.

Wie zur Rechtfertigung wiederholte er, daß Katzen im Garten durchaus nicht geduldet werden dürfen.

»Nicht einmal halbe?«

»Oh, die schon gar nicht!«

 

In dem Gedichte in Prosa Schattenleben gab ich Rechenschaft von einer eigentümlichen Vorstellung, mit der ich meine ganze Kindheit hindurch gespielt habe.

Da hat es mich denn sehr überrascht, als ich kürzlich in einer von Tolstoi erzählten Geschichte seiner Jugend die Schilderung der ganz gleichen Erscheinung fand. Auch er hat unter ihrem Banne gestanden, und ich habe seitdem gehört, daß es sich damit nicht um etwas Exzeptionelles bei Kindern handelt. So manche sollen von dem Zweifel an der Wirklichkeit dessen, was sie umgibt, heimgesucht sein. Bei mir hatte der Zweifel sich allmählich zur Überzeugung herangebildet.

Der Himmel, zu dem ich emporsah, die Sonne, der Mond, die Sterne und die Landschaft, die mich umgab, und was sie belebte oder vielmehr zu beleben schien, das alles war nicht. Meine Augen nur zauberten es hin. Wohin mein Blick fiel, wölbte sich das Firmament, breitete ein Stück Erdenwelt sich aus. Wohin aber mein Blick nicht drang, da war das Nichts, die Leere. Vor mir die Welt, hinter mir das schreckliche Nichts, grau, stumm, tot. Oh, wie brannte ich darauf, ihm einmal auf die Spur zu kommen, diesem Nichts! Unheimlich war’s und häßlich, sich immer sagen zu müssen: Es gähnt hinter dir her, macht sich breit in seiner grenzenlosen Armut und unaussprechlichen Langweiligkeit.

Nein, ich wollte mich nicht beständig von ihm narren lassen, ich wollte es entlarven und ihm auf sein schnödes Geheimnis kommen.

Und ich rannte, so schnell ich nur konnte, in den Garten tief hinein bis an den Zaun, und dort, rasch wie ein Blitz, sah ich mich um … Aber da war schon wieder alles aufgestellt, die Gesträuche, die Bäume, Blumenbeete und Wiesen. Meine Augen waren immer zu langsam gewesen, kamen immer zu spät.

Manchmal faßte ich kühne Entschlüsse. Wenn die Menschen nicht sind, wenn ich sie mir nur einbilde, will ich sie mir so einbilden, wie sie sein müßten, um mir bequem und angenehm zu sein. Ich will mir einen Papa einbilden, den ich nicht fürchte, und eine Gouvernante, die mich nicht quält. Und einem in dieser Weise umgestalteten Papa, einer Mademoiselle Henriette, die eitel Liebe und Güte war, begegnete ich dann mit einer unbefangenen Vertraulichkeit, die äußerst mißfälliges Staunen erregte und mir manche Strafe zuzog. Das war gleichsam der stimmende Akkord zu der Erfahrung, die ich im späteren Leben so oft machen sollte. Über keines der Wesen, die ihre Existenz wirklich nur unserer Einbildungskraft verdanken, haben wir unumschränkte Macht. Wir können sie ins Leben rufen, sie aber nicht handeln lassen nach unserm bloßen Gefallen. Sind es Menschen, die den Namen verdienen, dann haben sie ihre eigenen Gesetze, müssen tun nach ihrer eigenen Natur und sich aus diesem Tun ihr Schicksal bereiten.

Zu jener Zeit, in der die irdische Welt mir zu einer Sinnestäuschung herabgesunken war, hatte ich mir eine andere, eine so schöne hergestellt, wie eine Kinderphantasie sie nur jemals erschuf. Sie befand sich weit drüben jenseits der Berge und eines großen Meeres. An heißen Sommertagen, wenn die Sonne im Scheitel stand und die Sonnenstäubchen glitzerten wie Diamanten – wenn ich da recht lang zum Himmel hinaufblickte, da glaubte ich in der leuchtenden Bläue mein Land sich spiegeln zu sehen. Seine Wälder blieben immer dicht, immer blühten seine Blumen und reiften seine Früchte. Die Männer waren hohe Göttergestalten, die Frauen alle wie Feenköniginnen. Die Hauptsache aber waren die unzähligen Kinder, von denen mein Land wimmelte. Sehr verschiedene Kinder und durchaus nicht alle gut und schön, aber alle so vollkommen frei wie junge Füllen auf unabsehbaren Weiden. Ich malte mir ihr buntes Treiben, ihre Spiele und ihre Kämpfe aus, ich dachte mich in sie hinein, ich war sie. Einmal die, einmal der, einmal das mit allen Tugenden geschmückte opferdurstige kleine Mädchen, einmal ein übermütiger, wilder Junge. Nicht immer konnte ich dann die Gestalt, in der ich eben einhergewandelt war, sofort ablegen. Es blieben Überreste von ihr an mir haften. Und wieder überraschte ich meine Umgebung durch ein Gebaren von ganz besonderer Art. Gewöhnlich holte meine Schwester mich herab von einem Gipfel der Vollkommenheit oder strafte mein keckes und bubenhaftes Benehmen, indem sie ein sehr trauriges Gesicht machte, mich mit schmerzlicher Mißbilligung ansah und sagte: »Du bist aber heute wieder so kurios!«

Damit brachte sie mich augenblicklich zu mir, denn »kurios« sein wollte ich um keinen Preis. Es erschien mir, ohne daß ich einen Grund dafür hätte anführen können, sehr schimpflich.

Allmählich genügte es mir nicht mehr, nur in Gedanken in meinem Lande zu weilen, und ich eröffnete eine Korrespondenz mit seinen Bewohnern. Ich schrieb kleine Briefe auf das feinste Papier, das ich auftreiben konnte, und übergab es den Lüften zur Besorgung. So wurde Uhlands guter Rat: »Gib ein fliegend Blatt den Winden« von mir befolgt, bevor er mir zur Kenntnis kam.

Glückwünsche zu dem beseligten Leben, das meine fernen Freunde führten, Ausbrüche der Sehnsucht und Grüße bildeten den Inhalt meiner Briefe. Ich schrieb jeden mehrmals ab, bevor er mir endlich würdig schien, seine Reise anzutreten. Wenn er aber so weit gebracht war, dann kannte meine Ungeduld, ihn abzuschicken, keine Grenzen. Da gab’s nur noch einen Wunsch: den günstigsten Augenblick erspähen, in dem ich ihn seinen Flug unbemerkt antreten lassen konnte. Eine Stelle war dazu auserwählt; sie befand sich in der südöstlich gelegenen Ecke, die der Garten gegen die Fahrstraße und die Felder bildet. Ein Erdhügel ist dort aufgeschichtet, der einem Gartenhause zum Postament diente, einem hölzernen, weiß angestrichenen Rundbau mit rotem Kuppeldache. Die kleine Anhöhe bietet an sonnigen Sommertagen eine freundliche Aussicht auf die wellige, fruchtbare Landschaft, auf das in weichen, warmen Tönen schimmernde Marsgebirge, auf den abgestumpften Kegel des Klum, der jetzt bewaldet ist, auf dem aber damals nur ein paar einzelne Bäume standen.

Für uns knüpft sich an ihn eine Erinnerung, die mir etwas Ergreifendes hat.

Meine Kinderjahre – Teil 2

Im Jahre 1829 kehrte unser Großvater Vockel aus Pyrmont, wo er vergeblich Heilung von einem Brustleiden gesucht hatte, zurück. Auf dem Gipfel des Klum ließ er den Reisewagen halten, stieg aus und überblickte zum letztenmal die Stätte seiner langjährigen und erfolgreichen Tätigkeit. Ein verwahrlostes Gut hatte er übernommen, ein sorglich und weise gepflegtes, das seine Freude geworden war, schickte er sich an für immer zu verlassen. Klein mußte von dort oben das Bereich seines Strebens und Wirkens ihm erscheinen und nur wie ein weißer Strich im Grün sein geliebtes Haus. Aber sagen durfte er sich, daß er in diesem kleinen Bereich zum Segen gewaltet hatte und daß sein Wohnort für die Hütten in seiner Nähe Schutz und Schirm gewesen war.

Und nun, nicht ganz zwei Jahrzehnte später, stand die törichte Enkelin dieses Edlen und Weisen dem Klum gegenüber und hielt einige mit großer Kinderschrift beschriebene Papierstreifen in der Hand: ihre offenen Briefe an unbekannte Empfänger.

Sogar an – bei uns seltenen – windstillen Tagen war das Gartenhaus auf seinem Hügel von unermüdlich spielenden Lüften umweht. Immer war ich sicher, dort den Boten bereit zu finden, der mein Sendschreiben übernehmen und befördern sollte. Am schönsten war’s bei heftigem Sturme, wenn die Wetterfahne, die in Gestalt eines Blätterkranzes das Dach bekrönte, sich knarrend drehte und das Ährenmeer auf den Feldern große Wellen schlug.

Dem Sturm vertraute ich mit Entzücken meine papiernen Brieftauben an, hielt sie hoch empor, war glücklich, wenn er sie mir entriß und sie bald nur noch wie weiße Pünktchen vor meinen Augen aufblitzten im Sonnenlicht … flogen, flogen – und meine Gedanken ihnen nach. Wer wird sie finden? Ein Mann, eine Frau, ein Kind? und sich wundern, sich freuen und fragen: Wer schickt mir diesen Gruß! Wer schreibt mir so schöne, liebe Sachen?

Nie trat die Versuchung mich an, von meinem Verkehr mit den Freunden jenseits der Berge und Meere gegen irgendwen auch nur die geringste Erwähnung zu tun. Vielleicht leitete mich dabei eine unbestimmte Angst vor einem Zweifel, einem Spott, der den Filigranbau meiner Träume erschüttert oder mir seinen Schimmer, wenn auch nur mit einem Hauch, getrübt hätte.

 

Zdißlawitz hat keine eigene Kirche; die Gemeinde ist in dem benachbarten Dorfe Hostitz eingepfarrt. Die Fahrstraße, die beide Orte verbindet, läuft bergab und bergan im Bogen zwischen Obstbäumen, Feldern und Hainen. Die Sehne dieses Bogens bildet ein Fußsteig, auf dem unsere Dorfleute in zwanzig Minuten aus ihren Behausungen zur Kirche gelangen. Bei gutem Wetter nämlich; denn bei schlechtem, wenn der Regen unsern lehmigen Boden durchweicht und kniehoch in einen zähen Brei verwandelt, dann gibt es keine Berechnung der Distanzen mehr, und das Anlangen auch des besten Schreiters an seinem Bestimmungsorte wird zur problematischen Sache.

In Hostitz, in der kleinen Lokalei, die heute den Titel einer Pfarrei führt, ohne deshalb stattlicher geworden zu sein, lebte unser allerbester Freund, der hochwürdige Herr Pater Borek. Er hatte meine Eltern getraut, mich getauft, unsere Mutter zu Grabe geleitet. Er hat meiner Schwester und mir die Lehren eines milden Christentums vermittelt. Zweimal wöchentlich kam er zur Unterrichtsstunde am Vormittage, blieb zu Tische bei uns, und wenn er den Heimweg antrat, gaben wir Kinder ihm das Geleite.

Meine Schwester und ich hatten es nie besonders eilig und wichtig, die Vorbereitungen zu einer Lektion zu treffen. Wenn aber die Religionsstunde in Sicht kam, da entwickelten wir eine ameisenhafte Tätigkeit im Herbeischleppen der unnötigsten Dinge. Ein Tintenzeug, das nie gebraucht wurde, Schreibhefte, deren blütenhafte Unschuld immer unberührt blieb, ein Polster für den Stuhl des geistlichen Herrn, das er immer hinwegtat, bevor er sich setzte. Auf dem Kanapee Platz zu nehmen, konnten wir ihn nicht bewegen. »Was Ihnen einfällt! Das schöne Kanapee … Das ist doch nicht zum Draufsetzen da?« – Schön? Nun, wenn er’s sagte! Es stand am Pfeiler zwischen den zwei Fenstern, hatte plumpe, mit Holz eingefaßte Lehnen und trug ein Wollkleid von unerklärlicher Farbe. Eine Art Gelbgrün, über das ein grauer Hauch hinwehte. Ihm gegenüber, an der Langseite des Tisches, ließ Pater Borek sich nieder; wir zwei, die eine rechts, die andere links von ihm, nahmen die Schmalseiten ein. Wenn beim »Aufsagen« des Katechismus oder der biblischen Geschichte eine Stockung eintrat, wartete unser gütiger Religionslehrer und schwieg und sah ins Gelbgrau hinein mit seinen kleinen geduldigen Augen, die immer trauriger wurden, je länger die Stockung dauerte. An der Wand, gerade vor mir, machte ein niedriger Schrank sich breit, auf dem unsere Menagerie in stattlicher Reihe paradierte. Zu jedem Geburts- und Namenstage bekamen meine Schwester und ich ein Tier aus Carton-pierre, ein wildes oder ein zahmes, zum Geschenk. Famose Geschöpfe! nur – etwas heimtückisch. Wie sie es anstellten, wer weiß es? Gewiß aber ist: sie verstanden nie, sich so interessant zu machen als während der Religionsstunde. Förmlich in einem neuen Lichte erschienen sie, es war ein Genuß, sie anzusehen. Der Elefant entwickelte eine ungewohnte Anmut, die Tigerin lächelte hold. Wir müssen ihnen einmal gar zuviel Aufmerksamkeit zugewendet haben, denn der Herr Lokalist, dieses Urbild der Langmut, sah sich zu der Warnung genötigt, er werde ein Tuch breiten lassen über unsere Tiere, wenn ihr Anblick uns zerstreue.

Wir blieben starr. Ein Ereignis ohne Beispiel: der geistliche Herr drohte mit einer Strafe! Ich weiß nicht, was in diesem Augenblick größer gewesen sein mochte, unsere Beschämung oder der Wunsch, uns in seiner Meinung zu rehabilitieren.

Am Abend, nachdem man uns zu Bette gebracht – wir zwei Großen hatten jetzt unser eigenes Schlafzimmer –, wurde Rat gehalten und das Mittel bald gefunden, dem guten Pater zu beweisen, wie zweckmäßig die Maßregel gewesen wäre, die er uns in Aussicht gestellt hatte.

Als er wiederkam, empfingen wir ihn mit siegreichen Mienen und nahmen hastig unsere Plätze am Tische ein. Dabei gab’s ein unterdrücktes Gekicher, ein Hin- und Herschießen von Blicken an Pater Borek vorbei, ein verstohlenes Gucken nach der Menagerie. Wird er es endlich merken? – Vivat! Endlich merkte er etwas. Er wandte sich, seine Augen folgten der Richtung der unseren, und nun sah er, daß wir seine Worte in Ehren gehalten und unsere Tiere eigenhändig verhüllt hatten mit unseren Umhängtüchern. Sie waren leider nur etwas zu klein, und von einer Seite guckte ein halber Dachshund, von der anderen ein halber Löwe aus dem Versteck hervor.

Meine Schwester sprach, mit wichtiger Miene auf die mangelhafte Umkleidung deutend: »Wissen Sie, Hochwürden, damit unsere Tiere uns nicht zerstreuen.«

Er seufzte: »Aber! Aber!« und blickte ratloser denn je ins Gelbgraue. Unsere ausgebreiteten Umhängetücher, der halbe Dachshund, der halbe Löwe zerstreuten uns viel mehr, als der vollständige Aufzug der Vierfüßler jemals getan hatte.

Vom achten Geburtstage Fritzis an wurden wir mitgenommen, wenn man sonntags nach Hostitz zur Kirche fuhr. Gut vorbereitet durch den geistlichen Herrn, wohnten wir der Messe mit inbrünstiger Andacht bei.

Der Anblick der vielen Betenden, der Ausdruck ihrer Gesichter, ihr Gesang rührte und ergriff mich in der Seele. Ich liebte sie, ich fühlte mich mit ihnen verwandt, weil ich auf derselben Erdscholle wie sie geboren war. Erhebend wirkte auf mich der Klang der Orgel, und mit einem Entzücken, das kein Wort zu schildern vermag, flatterte und bebte mein ganzes Herz der Erscheinung unseres Herrn entgegen, und jubelvolle Demut erfüllte mich, wenn der Glockenklang feierlich seine Ankunft verkündete. Der Herr des Himmels und der Erde ließ sich nieder zu uns, kam zu uns in unsere kleine, schmuckarme Kirche, erfüllte uns mit den süßen und heiligen Schauern seiner göttlichen Gegenwart …

Aufmerksam verfolgte ich jede Bewegung und jeden Schritt des Priesters am Altare, merkte mir genau seine laut gesprochenen und den Tonfall seiner nur gemurmelten Worte.

Beim Nachhausekommen holte ich dann eine Schachtel herbei, die ein vollständiges Meßgerät aus Zinn enthielt, und versuchte nun selbst die Messe zu lesen. Meine Schwester ministrierte, wenn auch ungern, und mußte sehr gebeten werden, bevor sie sich dazu herbeiließ. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte sie, »es scheint mir nicht ganz recht.« Aber ich wußte sie zu überreden: ich machte ihr klar, daß wir dem Pater Borek eine neue, viel schönere Überraschung als die letzte bereiten würden, wenn wir einmal unser kleines Meßopfer vor ihm darbrächten. Da sieht er doch, wie wir achtgeben in der Kirche und wie gut wir uns alles, was dort vorgeht, merken.

Sie blieb zwar bei ihrem: »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, beugte sich aber, wie gewöhnlich, meinem Willen.

Eines Nachmittags wurde denn der geistliche Herr eingeladen, in das Zimmer Großmamas zu treten, die ins Geheimnis gezogen war. Er und sie nahmen Platz vor einer Doppeltür in der Tapete. Ihr äußerer Flügel stand offen, von innen war sie weiß ausgelegt, und in ihrer Vertiefung hatten wir unseren Altar errichtet. In feierlicher Stimmung erschienen wir, meine Schwester das Glöcklein schwingend, ich hinter ihr, den verdeckten Kelch in den Händen, ganz Andacht und Versunkenheit. An unsere kleine Gemeinde dachten wir nicht während der unbefugten Darbringung unseres Opfers. Aber als wir, die Konsekrierende und die Ministrierende, ernst, wie wir gekommen waren, von dannen schritten, sah ich den geistlichen Herrn erwartungsvoll an und rechnete auf einen freundlichen, beifallspendenden Blick. Statt dessen begegnete ich einem sehr befremdeten. Pater Borek sah traurig und fast wie verlegen aus. Wir hatten ihm mit der unbefugten Ausübung einer heiligen Handlung kein Vergnügen gemacht.

»Siehst du, es war nicht recht«, sagte meine Schwester, als wir in unser Zimmer zurückkehrten.

Sie legte das Kamisölchen ab, das sie angetan hatte, um aufs Haar einem Sakristan zu gleichen; ich entledigte mich der zwei Schürzen, die, eine nach vorn, die andere nach rückwärts gebunden, ein Meßgewand vorstellen sollten. Langsam räumten wir das Meßgerät wieder in seine Schachtel ein, recht mit dem Gefühl: zum letztenmal und für immer.

Bald darauf sollte mein treuer Seelsorger noch weit Schlimmeres durch mich erfahren.

Er bereitete uns in seiner mild eindringlichen Weise zur ersten Beichte vor, und ich malte mir gar deutlich die Wonne aus, die mich ergreifen würde nach der Lossprechung von allen meinen Sünden. Sie sind ausgelöscht, sind wie nie begangen: ich werde keine Gewissensbisse mehr haben, weil ich unhöflich war gegen das Stubenmädchen, voll Streitlust gegen meine Brüder, weil ich so heiß gewünscht habe, ein tüchtiger Prügel möge aus den Wolken niederfahren und der Mademoiselle blaue Flecke schlagen. In engelhafter Reinheit werde ich aus dem Beichtstuhl treten, und engelhafte Freude wird mein Herz erfüllen.

Diese Aussicht war entzückend, aber furchtbar die Angst, früher oder später doch wieder in meine alten Fehler zu verfallen und den Glanz meiner Seelenschönheit zu trüben. Ach – wer sterben könnte, gleich nachdem er sündenfrei geworden ist! Er wäre gerettet, er würde pfeilgerade auffliegen in den Himmel und von dessen Bewohnern empfangen werden wie ein Heimgekehrter von den Seinen.

Aus dem brennenden Wunsche nach einem so herrlich erlösenden Tod keimte und reifte auch sehr bald der Entschluß, ihn herbeizuführen. Das konnte ich ja, das war ja kinderleicht; es kostete nur einen Schritt oder vielmehr einen Sprung – einen Sprung aus dem Fenster. Wer sterben will, springt aus dem Fenster, und diese Art, ins Jenseits zu entfliehen, sollte die meine sein. Daß unser Haus nur ein Stockwerk hatte und daß mein Sturz durchaus nicht todbringend sein mußte, erwog ich nicht; ich war dem Nächstliegenden entrückt, schwebte schon in himmlischen Sphären, der Nähe Gottes entgegen, in die geöffneten Arme meiner Mutter. Ahnungen der Glückseligkeit erfüllten mich, kein Zweifel an der Vortrefflichkeit meiner Tat störte mich, kein Gedanke an den Abschied von den Meinen fiel mir aufs Herz …

In der Kapelle war mittels eines Fauteuils und eines Betschemels ein Beichtstuhl improvisiert worden. Sehr gut erinnere ich mich, daß ich beim Eintreten dem geistlichen Herrn zulächelte und daß er mich ernst ansah und ein weißes Tüchlein, das er in der Hand trug, emporhob und vor sein Gesicht hielt.

Meine Schwester legte zuerst ihre Beichte ab; ich folgte, ich tat mein Schuldbekenntnis mit heißer Reue und vernahm in tiefster Zerknirschung die Ermahnungen meines priesterlichen Freundes und in unsagbarer Spannung der leise gemurmelten Lossprechung. –

Von dem unmittelbar darauf Folgenden gibt mein Gedächtnis mir keine Rechenschaft. Ich finde mich erst im Zimmer meiner Großmutter wieder, auf ihrem Arbeitsstuhle stehend am offenen Fenster, sehe mich hastig und in Angst, überrascht zu werden, das Fensterbrett ersteigen. Nun ein rascher, heftiger Satz, ein Schlag vor die Stirn, ein Funkenstieben vor den Augen … Ich stürzte – aber nicht hinab in den Garten – zurück ins Zimmer. Mein Sprung hatte mich zu hoch getragen; ich war an das Fensterkreuz angeprallt und lag halb betäubt auf dem Boden, als die Tür sich öffnete und Pater Borek eintrat.

Im Saal hatten sich alle zum Frühstück versammelt; nur eines seiner Beichtkinder fehlte. Er, von einer unbestimmten Angst erfaßt, ging, es zu suchen, und fand es und sah, wie es sich bei seinem Anblick entsetzt aufraffte und nun vor ihm stand, verstört, verwundet … Wohin waren plötzlich meine Träume von Engelsunschuld und Himmelsherrlichkeit gekommen? Nach den ersten Fragen schon, die der geistliche Herr an mich stellte, bei der Mühe und dem Schmerz, die es mich kostete, sie zu beantworten, wußte ich: Ein schweres Unrecht war, was ich im Sinne gehabt, und ich hatte eine Sünde begehen wollen, viel größer als die Sünden, deren ich mich in der Beichte angeklagt.

Mein Freund, mein Vertrauter, mein Lehrer sah traurig zu mir herab, seine gütigen Augen wurden immer trüber, die Kummerfalten längs der Wangen vertieften sich immer mehr … Er streckte die Hand aus, drückte die Schwurfinger an die Beule auf meiner Stirn und sagte: »Da hat Ihr Schutzengel ›Merk’s, Tölpel!‹ draufgeschrieben.«

Er hat mir auch später keine Vorwürfe über meine mißlungene Himmelfahrt gemacht. Vorwürfe zu machen war so wenig die Sache unseres lieben geistlichen Herrn! Strenge lag ihm fern; er wandte sie sogar da nicht an, wo sie sehr am Platze gewesen wäre. Das schadete aber seinem Ansehen in der Gemeinde nicht. »Er ist eben ein Heiliger«, sagten die Leute, »und meint, alles in Güte schlichten zu können.«

Zwei Jahre früher, anno 1836, als in unserer Gegend die Cholera wütete, da hatte der stille und einfache Mann sich in seiner Glorie gezeigt. Die Seuche raffte Tag für Tag neue Opfer mit grauenhafter Plötzlichkeit hinweg. Sie überfiel die Menschen und ließ nicht mehr ab von ihrer Beute. Unaufhörlich klang der traurige Schall des Zügenglöckleins vom Dorfe herüber. Tag und Nacht stand Pater Borek im schweren Dienste seines Priesteramtes. Von Sterbebett zu Sterbebett rief es ihn. So manches Mal konnte er zu dem Kranken, dem er die letzten Tröstungen brachte, nur gelangen, indem er über Leichen wegschritt, die auf dem Boden hingestreckt lagen. An den Fenstern des Schlosses rasselte sein Wägelchen immer und immer wieder vorbei. Wir hörten es von weitem kommen, knieten nieder und beteten für eine scheidende Seele.

Im ersten Schrecken hatten sich die armen Menschen widerstandslos der unbekannten Feindin überantwortet. Man mußte sie erst lehren, daß es möglich sei, gegen sie anzukämpfen.

Auch bei uns war die Seuche eingekehrt. Einige der Diener wurden von ihr ergriffen. Maman Eugénie und unser kleiner Viktor erlitten schwere Anfälle des furchtbaren Übels. Mama erholte sich langsam, das schwächliche Kind schien verloren. Sogar die freudige und trostvolle Zuversicht des Arztes, Doktor Engel, geriet endlich ins Wanken. Er war ein noch junger Mann, ein großer, dunkelbärtiger Jude, und kam täglich aus der kleinen Stadt Kremsier von einem Dorf, von einem Schloß zum andern gefahren und bemühte sich um den ärmsten seiner Kranken mit der gleichen Sorgfalt wie um den wohlhabendsten. Von Pater Borek unterstützt, leitete er die Anstalten, die getroffen wurden, um das Elend, von dem wir umgeben waren, zu lindern und neuem Unglück womöglich vorzubeugen. Morgens und abends standen im Schloßhofe große Pfannen voll dampfender Rumforder Suppe. Die Leute kamen mit Töpfen und Kannen und holten eine gute, gesunde Nahrung für sich und ihre Kinder, Massen von Unterkleidern wurden verteilt. Am eifrigsten von unserer Großmutter, die sich nie genug tat, wenn es zu geben und zu helfen galt. Wo sie war, da war Hochherzigkeit und Güte, da – wenigstens uns Kindern gegenüber – war aber auch große Nachsicht und etwas Schwäche. Sie brachte es nicht übers Herz, uns sogleich davonzujagen, wenn wir uns heranschlichen, um zuzusehen bei der Suppen- und Kleiderverteilung. Sie drückte ein Auge zu, wenn wir der Köchin oder einer Küchenmagd den Schöpflöffel abschwatzten, um ihre Tätigkeit am Suppenkessel nur ein bißchen, nur ein klein wenig ausüben zu dürfen. Allerdings kannte man damals die feige Angst vor Ansteckung noch nicht, die heute herrscht. Noch waren die unsichtbaren Feinde nicht entdeckt, die in scheinbar reiner Luft hausen und jeden Atemzug zur Lebensgefahr machen können. Unsere Unwissenheit war unsere Stärke. Es fiel weder unserem Vater noch einem andern Gutsbesitzer in der Umgebung ein, die Flucht zu ergreifen, wenn im angrenzenden Dorfe eine ansteckende Krankheit ausgebrochen war. Man blieb daheim, teilte das Mißgeschick der kleinen Nachbarn, fand das selbstverständlich und setzte es nicht auf Rechnung seiner Humanität.

Einmal, an einem schönen Sommervormittag, gerade nach der Ausspeisung der Dörfler, bei der wir uns wieder überflüssig machten, kam das Kindermädchen in den Hof gelaufen und rief uns zu: »Die Mama läßt Ihnen sagen, Sie sollen hinaufschauen zu dem Fenster!« und dabei deutete sie auf das letzte des Seitenflügels, in dem die jetzt zum Krankenzimmer verwandelte Kinderstube sich befand. »Sie werden etwas sehen, was Sie schon lange nicht mehr gesehen haben.«

Nun brach ein unaussprechlicher Jubel aus. Etwas sehen, das wir lange nicht mehr gesehen hatten, und dort am Fenster? Es war leicht zu erraten, was das sein konnte. Der Kleine! der Kleine – und vielleicht auch die Mama! Wir standen und guckten und guckten empor in brennender Erwartung. Und jetzt wurde der innere Flügel des Fensters, das wir anstarrten, geöffnet, und dicht an den äußeren trat Mama und mit ihr unsre alte Pepi mit einem Wesen auf dem Arme, bei dessen Anblick wir weinten und lachten. Er war’s, es war unser armes Brüderlein. Aber sein Gesicht war gelb wie eine Zitrone und förmlich zusammengeschrumpft. Der kläglich verzogene Mund versuchte uns zuzulächeln, und ein müdes Händchen hob sich und winkte grüßend zu uns herab. Adolf fing an zu tanzen und drehte sich wie ein Derwisch; unsere Kleinste jauchzte. Und alle sandten unzählige Küsse zu unseren Genesenden empor. Ein Wunder, daß die Sehnsucht uns nicht wie an Stricken zu ihnen hinaufzog.

In vollster Festfreude fand uns Papa, der mit Doktor Engel aus dem Hause trat. Er warf einen raschen Blick auf uns, wandte sich dem Arzte zu und umarmte ihn. »Kinder«, sprach er, »dankt dem. Der heißt nicht nur Engel, der ist ein Engel.«

Er wiederholte diese Worte regelmäßig, wenn er später jener schweren Zeiten gedachte, und versäumte dann auch nie, unseren getreuen Seelsorger zu preisen: »Ja, der jüdische Arzt und der katholische Geistliche, allen Respekt! Beide waren Helden.«

 

Meine Zweifel an dem wirklichen Bestehen all dessen, was mich umgab, meldeten sich allmählich immer seltener. Der Glaube an die Schöpferkraft meines Auges erlosch. Zugleich wurden die Bilder meiner erträumten Welt in der unerreichbaren Ferne immer undeutlicher. Die lange und eigensinnig genährte, immer getäuschte Hoffnung auf ein wenn auch noch so schwaches Zeichen »von drüben« entschwand am Ende doch. Auch eine mütterliche Liebe für meine Verse und meine Prosa begann sich in mir zu regen, und statt sie den Lüften auszuliefern, schrieb ich sie sauber und nett in ganz kleine Hefte, die ich selbst verfertigte und von denen ich immer mehrere Exemplare in meiner Tasche trug. Wenn mir eine besonders tönende Strophe zum Preise Gottes, der Heiligen Jungfrau oder eines Helden, den ich heiß verehrte, gelungen war, dann ging mein Mund über von dem, was mein Herz erfüllte. Ich deklamierte und sang meine Hymnen; da säuselte und brauste es nur von »voile« und »étoile«, »gloire« und »espoir« und so weiter!

Manchmal wurde meine Schwester aufmerksam und sagte: »Das ist schön; wo hast du das gelesen?« – Aber wenn ich voll Stolz erwiderte: »Das hab ich selbst gemacht!« war es vorbei mit der Bewunderung, und sie bat in ihrer sanften Art: »Ach geh, mach doch keine Gedichte!« – Und nun konnte ich noch so dringend fragen, was sie gegen mein Versemachen einzuwenden habe, immer lautete ihre Antwort ausweichend und unbestimmt.

Es kam ihr »halt so kurios« vor. Ich glaube, daß eine dunkle Empfindung ihr verriet, Versemachen sei eine gefährliche Sache, mit der man sich lieber nicht befassen sollte. Sie forderte mich nie auf, eines meiner Gedichte zum zweiten Male herzusagen, und wich jedem Gespräch darüber ängstlich aus. Von dem Schmerz und dem Groll, den diese stumme Ablehnung mir verursachten, habe ich nie etwas verraten, und wie oft sollte ich sie erleiden! Alles wiederholt sich im Leben. Der Grundton, auf den das Schicksal des Größten wie des Kleinsten gestimmt ist, kommt immer wieder hervor. Die stumme Ablehnung, die mein erstes poetisches Gestammel durch eine Getreueste und Geliebteste erfuhr, wurde meiner Schriftstellerei bis ins reifste Alter durch andere Vielgetreue und Vielgeliebte zuteil.

Allverehrte, auch von den Meinen anerkannte Autoritäten hatten mir längst ein Talentchen und die Berechtigung, es auszuüben, zugesprochen, und immer noch bewahrten die mir teuersten Menschen über meine per nefas geborenen Geisteskinder ein rücksichtsvolles Schweigen.

Als meine Schwester ihr zehntes und ich mein neuntes Jahr erreicht hatte, wurden wir von Zeit zu Zeit ins Theater mitgenommen. Im jetzigen Karl- damals noch das Kasperl-Theater genannt, ergötzten wir uns an der Aufführung einiger urwienerischer Possen, die genial gespielt wurden. Einen hinreißenden Eindruck aber machte mir Raimunds Mädchen aus der Feenwelt (wenn ich nicht irre, im Theater an der Wien dargestellt). Völlig berauscht kam ich nach Hause; die Richtung, in der meine Phantasie fortan ihre Flüge nehmen sollte, war bestimmt. Ich wurde unerschöpflich in der Erfindung von Theaterstücken, die ich nicht aufschrieb, sondern nur meiner Schwester und unsern Freundinnen und Altersgenossinnen erzählte. Gegen diese Art der Produktion wendete Friederike nichts ein; sie übernahm sogar eine Rolle, wenn die Aufführung meiner Komödie beschlossen wurde. Und das war keine so leichte Sache, denn die Schauspielerinnen mußten die Reden improvisieren. Es geschah mit Feuereifer und gänzlich unbefangen. Auf ein Publikum brauchten wir nicht Rücksicht zu nehmen; das fehlte, ging uns aber nicht ab. Die Gouvernanten, die es hätten bilden können, saßen im Nebenzimmer und schwatzten. Uns selbst zu erfreuen und zu gefallen war der Zweck unserer künstlerischen Leistungen, und sie erfüllten ihn glänzend.

Da – in der Zeit ihrer hohen Entfaltung, schien eine noch höhere ihnen bevorzustehen. Eines Sonntags erfuhren wir die merkwürdigste Überraschung. Unsere feinste Darstellerin, sie, die mit meiner Schwester in den Rollen der unschuldig Verfolgten abwechselte, erschien, Triumph im rosigen Gesichtchen, in den zarten Händen ein Manuskript, und verkündete uns, daß sie ein Theaterstück gedichtet und aufgeschrieben habe.

Nein, war’s möglich? Aufgeschrieben, ein ganzes Theaterstück? – Nein, diese Fanni, wer hätte ihr das zugetraut! Sie lächelte stillvergnügt, setzte sich an den Tisch und begann mit leiser, bewegter Stimme ihr Werk vorzulesen. Wir hörten mit gespannter Aufmerksamkeit zu; es gefiel uns außerordentlich; es war etwas Neues. Bisher hatten wir uns im Heroischen oder im Lustigen bewegt. Fanni brachte etwas Sentimentales. Die Rollenverteilung machte keine Schwierigkeiten; wir einigten uns rasch. Am zufriedensten war wohl ich. Mir war die Darstellung eines alten Onkels anvertraut, der zankt und poltert, sich aber zuletzt als der weichste Gemütsmensch entpuppt und eine rührende Rede hält.

Der Abend wurde damit zugebracht, die Rollen auszuschreiben. Um sie auswendig zu lernen, benutzten wir die Woche hindurch jeden freien Augenblick. Am nächsten Sonntag fand die Probe, am übernächsten die Aufführung statt; nicht bei uns, sondern im Hause der Mutter unserer Dichterin. Ein kleines Theater war aufgestellt, ein kleines Publikum war eingeladen, die Vorstellung ging wie am Schnürchen. Alle Personen, die auftraten, wurden ernst genommen und erhielten Applaus; bloß der alte Onkel erregte immer nur Heiterkeit. Seine Zornesausbrüche wirkten komisch, und als er am Schlusse rührend werden wollte, brach das Publikum in Gelächter und der Mißverstandene in Tränen aus. Und nun kam der bitterste Tropfen im Leidenskelche dieses Abends. Für sein mühsam unterdrücktes Schluchzen, für die heißen Tränen, die ihm in den grauen Bart liefen, erntete der alte Onkel lauten, grausamen Beifall.

Am nächsten Sonntag stellte unsere Freundin sich an der Spitze eines zweiten Theaterstückes ein, das sie uns auch vorlas. Es war – wieder eine Neuerung – in deutscher Sprache geschrieben. Ihm aber geschah Unrecht von Anfang an. Man wollte sich nicht mehr mit dem Ausschreiben der Rollen und mit dem Memorieren plagen. Überdies sagte der Stoff des neuen Dramas uns nicht zu. Es war ein biblischer: Abrahams Opfer. Willkürlicherweise hatte die Dichterin die Erzmutter Sarah in den Vordergrund gestellt. Sie spionierte, entdeckte und erlauschte alles, was ihr Gatte sann, war, sichtbar oder unsichtbar, immer auf der Bühne. Sie hatte sich durch ihr zudringliches Wesen schon recht mißliebig gemacht, schon manches: »O je, die Sarah! ist sie wieder da?« war laut geworden, als die Vorleserin zu der Stelle kam: »Sarah tritt auf. Sie wirft ihre Augen in eine Allee …« Weiter ging es nicht. Ein Schrei der Entrüstung erhob sich. Das hätte man wissen mögen, wie das zu machen war. Man bat um Erklärungen; man verhöhnte jede, die versucht wurde; man brach den Stab über das Opfer Abrahams.

Dieser unselige Mißerfolg riß auch mich ins Verderben. Unsere besten Kräfte entdeckten plötzlich, daß die Komödienspielerei sie eigentlich langweile. Meine in hellem Enthusiasmus erdachten Theaterstücke teilten das Schicksal meiner Gedichte – niemand wollte sie mehr anhören. So wurden denn meine kleinen Hefte abermals meine einzigen Vertrauten. Längere Zeit hindurch half mir eine trotzige Resignation, über ihren Inhalt Schweigen zu bewahren. Ebensogut hätte ich aber eine Brut Singvögel mit mir herumtragen und sie bewegen können, stumm zu sein. »Hat er es einmal aufgeschrieben, will er, die ganze Welt soll’s lieben.« Mir vertrat meine Schwester diese ganze Welt, die »es« lieben sollte. Sie jedoch war erschrocken und betrübt, als ich ihr wieder mit meinen Gedichten kam. So hatte ich denn meine unglückliche Kuriosität noch nicht abgetan? Wie unzufrieden wären der Papa und die Großmutter und die Tante, wenn sie etwas von ihr erführen! – Ich gestand mir, daß sie recht haben könne, wollte es aber nicht zugeben und berief mich auf das Beispiel der Mutter Fannis, die sich freute, daß ihre Tochter Theaterstücke machte. – Ja, es war eben anders bei uns, und ich hatte mich zu fügen. Wenn man weiß, daß man etwas nicht tun soll, läßt man’s bleiben. Das ist ganz einfach. Sie hielt mir eine ihrer hübschen, wehmütigen Predigten, die dem Tiefsten ihres warmen, frommen, liebevollen Herzens entquollen. Dabei wurde sie so traurig und brach endlich in so heiße Tränen aus, daß ich, gerührt und ergriffen, einen heroischen Vorsatz faßte und ihr versprach, nicht mehr davon zu reden, wenn »es« in meinem Kopf wieder anfangen würde zu dichten, auch nie mehr etwas aufzuschreiben und, wenn die Versuchung dazu mich anträte, innig zu beten um die Kraft, ihr zu widerstehen.

So tat ich mit heißer Inbrunst, und die Gebete, die ich im frommen Selbstbetrug zum allgütigen, allmächtigen Vater und Schöpfer emporsandte, waren nichts anderes als ein armes, kindisches Versgestammel.

 

In der Stadt begleiteten wir zwei Ältesten unsere Großmutter am Sonntag in die Ruprechtskirche, und nach der Messe durfte dann immer eine von uns noch eine Weile bei Großmama bleiben. Da war denn einmal wieder mein Sonntag, und ich stand am Fenster und genoß die wohlbekannte Aussicht. Unser Haus hatte die Form eines langgeschwänzten Klaviers; sein schmales Ende zog sich vom Haarmarkt herüber durch zwei kleine Gassen bis zum sogenannten »Rabenplatzl«. Dort überragte es turmartig seine beiden Nachbarn zur Rechten und zur Linken, uralte, umfangreiche Häuser. Das Gegenüber bildete ein gelbes, plumpes Gebäude, das uns nur seine Ecke zuwandte und immer im Begriff schien, auf dem abschüssigen Terrain des Platzl zur Donau hinabzugleiten, der auch die beiden Gassen, die neben ihm hinliefen, entgegenstrebten.

Sehr heiter und belebt war es hier herum nicht, am wenigsten des Sonntags, wenn die Kaufleute die Läden geschlossen hatten. An diesem einen Sonntags-, einem Frühlingsmorgen, aber erschimmerte alles, worauf meine Augen sich richteten, im Reflex des Glanzes, der mir die Seele erfüllte. Ich freute mich am Sonnenlicht, das auf fremden Fensterscheiben blinkte – zu den unseren drang es nicht. Ehrwürdig und lieb sogar erschienen mir auf den Dächern die plumpen Rauchfänge mit ihren schiefen Hüten, denen der blaue Himmel einen leuchtenden Hintergrund abgab.

In der Kirche war ich heute besonders andächtig gewesen, hatte die heilige Messe eifrig nachgebetet aus dem Büchlein Nouvelles heures à l’usage des enfants, das ich seit meinem siebenten Jahre besaß. Den krönenden Schluß meiner Sonntagsfeier bildete immer das Genießen des poetischen Anhangs, der dem kleinen Buche beigegeben war und unter anderem die Méditation sur la mort von Pierre Corneille enthielt. Sie erschien mir als das Höchste, zu dem ein Dichtergeist sich aufschwingen kann, sie machte mein Entzücken aus und mein Leid; denn meine eigenen Poesien erschienen mir so fahl und nichtig wie Staub im Vergleich zu diesen prunkvollen Versen. Sie klangen damals, als ich am Fenster stand und den Himmel und die Rauchfänge bewunderte, in mir nach. Ich sagte sie leise vor mich hin, so lang, bis ich, hingerissen von meiner Begeisterung, dem Wunsche, sie geteilt zu sehen, nicht mehr widerstehen konnte. So trat ich denn zu Großmama, die auf dem Kanapee saß und strickte, und begann, jetzt aber laut:

 

»Pense, mortel, à t’y résoudre,

Ce sera bientôt fait de toi.

Tel aujourd’hui donne la loi,

Qui demain est réduit en poudre.«

 

Sie sah etwas befremdet von ihrer Arbeit auf, sie lächelte; der gütige Ausdruck, mit dem ihre Augen auf mir ruhten, ermunterte mich fortzufahren. Und öfters, während ich sprach, nickte sie mir Beifall zu, und als ich zum Schlusse gekommen war, lobte sie das Gedicht und mich – weil ich es auswendig gelernt hatte. Ihr Lob, mit dem sie so sparsam war wie mit Tadel, berauschte mich, und noch mehr davon zu erlangen begehrte meine geschmeichelte Eitelkeit.

Auswendig gelernt? Ach was! Ich hatte es nicht auswendig gelernt … Es hatte sich von selbst meinem Gedächtnis angeklebt. Alle Verse, die ich las, klebten sich ihm an, fielen mir wieder ein beim Spazierengehen oder beim Spielen. Die Verse kamen zu mir, weil ich selbst Verse machen konnte. Ja, ich mußte es der Großmama anvertrauen … Auf einmal waren meine guten Vorsätze, war alles vergessen, was ich meiner Schwester versprochen und mir selbst zugeschworen hatte. Ich wußte nur noch, daß alles gesagt und gesungen werden müsse, was mir im Herzen klang und tönte, andern zur Freude, mir selbst zum Heile. Hastig und konfus werde ich es vorgebracht haben, aber meinen wirren Reden entnahm Großmama doch die Neuigkeit, daß ich »Poesien« machte. So schöne noch nicht wie Pierre Corneille, aber das wird kommen, später, ganz gewiß, wenn ich eine erwachsene Dichterin sein werde … Du lieber Gott! In der Schilderung dieses ruhmvollen Zukunftsbildes kam ich nicht weit. Großmama unterbrach sie mit einer Strenge, die ich noch nie von ihr erfahren hatte und die mir bis zum heutigen Tage unerklärlich geblieben ist. Warum hat die sonst Gütigste und Nachsichtigste mein Geschwätz nicht wie eine kindische Torheit, sondern wie ein Unrecht behandelt und hart zurückgewiesen? Bevor ich mich besonnen und den Mut zu einem Wort der Entschuldigung gefunden hatte, war ich fortgeschickt worden und befand mich unter der Obhut Josefs, Großmamas altem Diener, auf dem Heimweg in den zweiten Stock. Das war eine Reise! Das war ein Emporsteigen mit einer Last auf dem Gewissen, die schwerer wurde mit jeder Stufe, die ich sonst lustig hinaufhüpfte und jetzt so mühsam erklomm. Wie oft blieb ich stehen; wie brannte mir die Lüge auf den Lippen: Josef, ich bitte Sie, kehren wir um; ich hab etwas vergessen.

Aber ich brachte es nicht heraus. Wir gingen weiter; wir langten an. – Nun war keine Hoffnung mehr. Ich würde keine Gelegenheit mehr finden, mich zu rechtfertigen – es wenigstens zu versuchen. Großmama kam, ich wußte das wohl, auf eine einmal erteilte Rüge nie wieder zurück. Die Sache war für sie abgetan, und meine Absicht, eine Dichterin zu werden, blieb in ihren Augen etwas Unrechtes und Sündhaftes. Ihre Entrüstung hatte es mir gezeigt. Ach, wenn der Himmel sich meiner erbarmen und mich erlösen wollte von dieser Sündhaftigkeit, oder was es denn sein mochte. Erlöse mich! erlöse mich! rief ich den Allmächtigen an, und bei ihm und bei meiner Getreuesten, meiner Schwester, suchte ich Hilfe in meiner mit Verzweiflung recht nahe verwandten Ratlosigkeit. Aber Hilfe wußte meine Schwester nicht zu bringen. Sie meinte immer nur: »Sprich nicht davon; dann vergeht’s vielleicht.«

Vielleicht! Ihre Zuversicht war dahin; sie begann mein Übel als ein unheilbares anzusehen. Wir beteten ein wenig und weinten viel, und ich wünschte mir ehrlich und heiß, bald zu sterben, um nicht noch mehr unwillkürliche Schuld auf mein Haupt zu laden. Gut bei diesem Verfahren der Meinen war bloß die Absicht. Gewollt haben sie mein Bestes und, ohne zu wissen, was sie taten, mir das peinvoll demütigende Gefühl eines angebornen geheimen Makels aufgebürdet.

Mit der Zeit wandte sich das Blatt, jedoch nicht zum Besseren. Woraus mir ein Vorwurf gemacht wurde, das war etwas Unentrinnbares und ohne mein Wissen und Wollen durch eine höchste, göttliche Macht über mich verhängt. Die Leiden, die ich dadurch erduldete, und leiden wollte ich ja! erschienen mir nicht wie gewöhnliche, sondern wie besonders schöne und erhabene, wie die eines Märtyrertums, und aus diesem Bewußtsein schöpfte ich eine große Widerstandskraft; es erweckte aber auch in mir ein tüchtiges Maß Hoffart.

 

Gegen die Schreckensherrschaft unseres Drachen in Gouvernantengestalt hatte sich allmählich eine kleine Partei gebildet. Wenn er gar zu arg wetterte, erschien unversehens Pepinka oder unser feines, braves Stubenmädchen Apollonia und machte dem Tanz ein Ende. Ja, wenn es hier »einen solchen Spektakel« gibt, muß der Papa gerufen werden, hieß es mit vielsagenden Blicken nach der Mademoiselle. Sogleich legte sich der Sturm, und wir merkten wohl, auf wen die Drohung gemünzt war. Auch Tante Helene fand sich oft ein, holte uns ab und nahm uns mit in ihr Zimmer.

Sie bewohnte dasselbe, in dem Maman Eugénie gestorben, und wir sprachen von jüngstvergangenen glücklichen Zeiten, in denen sie noch bei uns gewesen war. Aber auch längst vergangene und sehr traurige Zeiten ließ Tante Helene vor uns aufleben, ihre freudlose, sorgenvolle Jugend. Sie war in Armut aufgewachsen; sie hatte ihren Bräutigam und zwei Brüder in den Kriegen gegen Frankreich verloren. Über den dritten – unseren Vater – war sie lange in quälendem Zweifel geblieben, ob er tot oder gefangen sei. Viel Leiden hatte die Tante erfahren müssen, bis ihr endlich ein Glück erblühte. Ihrer Ehe mit einem ausgezeichneten, allverehrten, aber weit älteren Manne entsproß ein Söhnchen. Nun lernte sie das Beste und Höchste kennen, was das Leben dem Weibe zu bieten hat. Ihr Kind wurde ihre Freude, ihr Licht. Zu einem Loblied gestaltete sich ihre Rede, wenn sie von ihm sprach, und mit Spannung hörten wir zu; denn alles war interessant, und am interessantesten die Kindheit des Onkel Moritz.

So titulierten wir unseren Vetter, nicht wegen des Unterschiedes im Alter, sondern wegen des großen Ansehens, das er bei uns genoß. Seine Mutter verwahrte in ihrem Schreibtisch einen Schatz: alle Zeugnisse, die der »Onkel« sich verdient hatte, als kleiner Junge in der Privatschule Kudlig, später im Theresianum, wo er den Gymnasialunterricht erhielt, und endlich in der Ingenieurakademie, die er als Armeeleutnant verließ.

Eine lange Kette der Ehren.

Für uns war die Zeit, in der Onkel Moritz als kleiner Junge das Institut Kudlig besucht hatte, die interessanteste seines ganzen Lebens. Dieses unglaublich merkwürdige Institut befand sich nämlich auf dem Hohen Markt und dort auch – man denke! – das Polizeihaus. Meisterlich verstanden wir das Gespräch in seine unheimliche Nähe zu lenken, von wo immer es auch ausgegangen sein mochte. Und dann hob ein Fragen an, so dringend und so neugierig, als hätten wir von der Antwort, die kommen würde, keine Ahnung gehabt: »Was hat manchmal dort gestanden, dort, beim Polizeihaus? Vor dem Balkon und vor der großen Figur mit der Waage in der Hand?«

»Was dort gestanden hat? Nun, ihr wißt ja, der Pranger ist manchmal dort aufgerichtet worden.«

»Ja, ja, der Pranger. Wie der nur aussehen muß, so ein Pranger? Und wie das sein muß, wenn man oben ist, und alle Menschen schauen hinauf … Und einmal, nicht wahr, hat der Onkel Moritz auch hinaufgeschaut?«

»Ja, einmal, weil die Magd, die ihn im Institut abholte, ihn nicht rasch vorbeigeführt hat, wie sie sollte, sondern ihm erlaubt hat stehenzubleiben.«

»Und da waren just zwei Frauen oben auf dem Pranger, eine alte und eine junge, und was haben die getan? Erzähl! erzähl!«

»Ihr wißt es ja ohnehin. Die alte hat geweint, und die junge hat geschimpft und die Leute angegrinst.«

»Auch den Onkel Moritz?«

»Auch ihn.«

»Ach, die muß grauslich gewesen sein! Und was hat er gesagt?«

»Was soll er gesagt haben? Nichts. Abends aber hat er nicht einschlafen können aus Angst, sie kommt und grinst ihn an.«

Der kleine Onkel Moritz von damals stand jetzt – 1840 – im siebenundzwanzigsten Jahre, war Oberleutnant im Geniekorps und kürzlich auf seine Bitte von Olmütz nach Wien transferiert worden, um an der Ingenieurakademie die Professur der Naturwissenschaften zu übernehmen.

Tante Helene lebte auf nach seiner Ankunft. Man kann sich ein innigeres, schöneres Verhältnis nicht denken als das zwischen dieser Mutter und diesem Sohne. Dafür mußte bei unserem Vater und seinem Neffen die gegenseitige Zuneigung und Wertschätzung ihre Kraft bewähren, um die Kontroversen, in die beide Männer oft gerieten, friedlich ausklingen zu lassen. Der ältere verteidigte seine Ansichten mit sprudelnder Lebhaftigkeit, der junge die seinen gelassen und nachdrücklich. Am Ende eines solchen Streites war es immer Papa, der die Hand zur Versöhnung bot. Er hatte ein starkes Emotionsbedürfnis und liebte Versöhnungen ebensosehr, wie er den Kampf liebte. Ihm, der als sechzehnjähriger Jüngling der Theresianischen Akademie und ihren Schulen Valet gesagt hatte, um sich dem Kriegsdienst zu widmen, war es nicht recht begreiflich, wie ein Soldat sich auf die Wege der »Gelahrten« begeben konnte. Der Gelahrten! Durch das Vertauschen des zweiten e in diesem Worte mit einem a glaubte er seine geringe Meinung von dem Stand, den es bezeichnet, an den Tag zu legen. Sie tragen einen Fluch an sich, diese Menschen; sie sind unpraktisch und finden jedes Stühlchen, auf dem sie beim Mahle des Lebens Platz nehmen möchten, immer schon besetzt. Papa hatte vor Jahren zu gleicher Zeit mit Hegel die Kur in Karlsbad gebraucht und von der äußeren Erscheinung des berühmten Philosophen einen befremdlichen Eindruck erhalten. Sie blieb für ihn das Urbild der Gestalt, in der die Leuchten der Wissenschaft auf Erden wandeln. Er versäumte nie, wenn er von seiner Begegnung mit Hegel sprach, dessen vermeintes Wort zu zitieren: »Ich habe nur einen Schüler gehabt, der mich verstanden hat, und auch der hat mich mißverstanden.« Ebenso brachte er gern ein Kommando in Erinnerung, das während Bonapartes ägyptischen Feldzuges vor jedem Zusammenstoß mit dem Feinde gegeben wurde. Da hieß es zur Sicherung der notwendigen wie der überflüssigen Begleiter des Hauptquartiers: »Les ânes et les savants au milieu!«

Diese Spötteleien ließen Onkel Moritz sehr kühl. »Ich fühle mich nicht betroffen«, sagte er; »ich bin kein ›savant‹. Ich komme mir vor wie ein Schwamm, sauge mich an in den Vorlesungen Ettinghausens und Schrötters und presse mich am nächsten Tage in meiner eigenen Vorlesung aus.«

An seinem freien Tage, am Sonntag, speiste er regelmäßig bei uns und erwies uns vor dem Diner manchmal die Ehre eines Besuches im schoolroom. Es befriedigte unsere Eitelkeit gar sehr, daß er Mademoiselle Henriette nicht mehr Beachtung schenkte, als die Höflichkeit gebot, und deutlich merken ließ, er sei nicht ihret-, sondern unsertwegen gekommen. Gewiß aber nicht, um uns Komplimente zu machen. Er belächelte unser seit Frau Krähmers Scheiden gänzlich in Verfall geratenes Klavierspiel und unser fortwährendes Französischparlieren. Eines Tages machte er sich darüber lustig in Gegenwart Mademoiselles. Sie nahm es übel – was ihr freilich nicht zu verargen war –, schleuderte ihm einige zornige »Mais Monsieur!« zu und stolzierte aus dem Zimmer. Uns schwebten die Folgen vor Augen, die aus der bedrohlich gewordenen Stimmung unserer Gouvernante erwachsen würden. Onkel Moritz fuhr fort, uns zu hänseln. Er bedauerte die arme deutsche Wissenschaft, weil wir so gar keine Notiz von ihr nahmen. Wohin man auch blickte, weit und breit war kein deutsches Lehr- oder Lesebuch zu erschauen. Und unsere Hefte, die auf dem Tische lagen, die er zur Hand nahm und durchblätterte! Sie trugen die Aufschriften: Grammaire; Calligraphie; Dictée; Dictée; Calligraphie; Grammaire. Die Abwechslung war gering. Nun aber, zu meinem Entsetzen, kam ihm ein Heftchen in die Hand, das ich, von Mademoiselle am Lehrtisch beim Dichten überrascht, in eines meiner großen Hefte geschoben und dort vergessen hatte. Er schlug es auf und las: Ode à Napoléon – mein letztes Gedicht. Etwas grandios Heroisches, das der Nachwelt, wenn es ihr erhalten geblieben wäre, erst den rechten Begriff vom Genie des Imperators gegeben hätte. Den Schluß bildete ein cri de haine an die Adresse des perfiden Albion, dem ich schmachvollen Untergang auf Erden, im Jenseits die ärgste Höllenpein verhieß.

»Von wem ist denn das?« fragte Onkel Moritz in einem Tone, bei dem mir heiß und kalt wurde und der so wegwerfend war, daß meine Schwester sich in meiner Ehre gekränkt fühlte. Die Getreue, der meine Dichterei doch so herzlich zuwider war, nahm sie einem andern gegenüber in Schutz und sagte mit allerliebster Würde, als ob von etwas Respektablem die Rede sei: »Es sind Gedichte von der Marie.«

Er lachte, las weiter und verzog während des Lesens keine Miene, und ich hatte die Empfindung, daß mich jemand würgte und daß mir dabei hunderttausend Ameisen über die Wangen liefen und über den ganzen Körper, mit kalten, hastigen Füßchen.

Nach einer Zeit, in der ich mir einbilden konnte, daß ein Begriff der Ewigkeit mir aufgegangen war, legte Onkel Moritz das Heftchen auf den Tisch zurück. Gleichgültig, wie wenn es ein Knäuel Zwirn oder irgendeine andere Geringfügigkeit gewesen wäre. Ich wagte nicht, ihn anzusehen, und noch weniger, ihn zu fragen: Hat es dir denn gar nicht gefallen? Was wir gestern gelitten haben, ist nichts; was wir heute leiden, ist alles. Die Abfertigung, mit der Großmama mich vor einigen Jahren so unglücklich gemacht hatte, erschien mir bei weitem weniger grausam als das Schweigen des ersten Lesers meiner von Flammen der Begeisterung durchloderten Ode.

Im Laufe der Woche erhielt ich eine hübsche, mit einem Seidenband umwundene Rolle zugeschickt. Sie enthielt sehr gutes Zuckerwerk und einen Briefbogen. Auf den hatte der Onkel in seiner beneidenswert klaren, gleichmäßigen Schrift das Loblied auf den Rhein aus dem Waldfräulein von Zedlitz hingesetzt. Vom Anfang:

 

O Rhein, wie klingt dein Name hold,

Gleich einer Glocke, hell von Gold,

O fließe fort in stolzer Ruh,

Taufwasser deutschen Volkes du!

 

bis zum Schlusse:

 

Es singen die Sänger zur Harfe laut,

Was sie im Nebel der Lüfte geschaut!

Sie singen fort bis diese Stund,

Noch ist geschlossen nicht ihr Mund;

Sie werden singen vom stolzen Rhein,

Solang er fließt in das Meer hinein!

 

Nun aber folgte ein Epilog:

 

Oh, sing auch du, du deutsche Maid,

Nicht fremden Ruhm in fremdem Kleid!

Du bist ein Sproß aus gut germanschem Blut,

Was deutsch du denkst, hab deutsch zu sagen auch den Mut.

 

Diese Verse galten mir! An mich waren sie gerichtet, und ich fühlte mich dadurch hochgeehrt und ausgezeichnet. Und wie leuchtete ihr Inhalt mir ein und erhellte mir das Herz! Ich durfte sagen, was ich dachte, wenn ich es nur in deutscher Sprache sagte. Ein sehr Gestrenger sanktionierte mein Dichten unter dieser Bedingung. Aber – »was deutsch du denkst …« Es kam mir nicht vor, daß meine Gedanken gebürtige Deutsche wären. Als kleine Kinder hatten wir fast nur Böhmisch und später dann fast nur Französisch gesprochen – und die Sprache, die wir reden, ist doch die, in der wir denken. Eine strenge Selbstüberwachung begann. Meine Einfälle wurden auf ihre Nationalität geprüft. Innerlich fand meine Umgestaltung aus einer französischen in eine deutsche Dichterin geschwinder statt, als je die Verwandlung einer Raupe in einen – sagen wir – Kohlweißling stattgefunden hat. Von der Notwendigkeit, mir die deutsche Sprache als meine Denksprache anzugewöhnen, war ich sofort überzeugt, und keinesfalls hat meine Sangesfreudigkeit eine lange Störung erlitten. Der Hymnus an den Rhein bekam eine zahlreiche Nachkommenschaft. Mit ganz besonderer Wonne schwelgte ich im Wohlklange des Verses: »Es singen die Sänger zur Harfe laut …« Die Harfe bildete denn auch die köstlichste Bereicherung meines neuen poetischen Hausrats, und bald begann es in meinen Liedern von Harfenklängen zu tönen. Doch vertauschte ich oft das musikalische Rüstzeug der Barden mit der Laute der Minnesänger, weil sich auf »Laute« soviel mehr und lieblichere Reime finden lassen als auf das stolze, herbe »Harfe«.

 

Der Winter des Jahres 1841 war verflossen, ein stiller, fast trübseliger Winter. Wir hatten alle ein dumpfes Bewußtsein davon, daß sich im Hause ein außerordentliches Ereignis vorbereite. Etwas Erwartungsvolles, Spannendes lag in der Luft, die Stimmungen unseres Vaters wechselten noch rascher als sonst; er schien in einem schweren Kampfe mit sich selbst befangen. Wir fanden ihn oft, wenn wir zu Tante Helene kamen, in ein Gespräch mit ihr vertieft, das bei unserem Eintreten abgebrochen wurde. Auch Großmama nahm an diesen Beratungen teil, die – wir sahen es wohl – einen quälenden Eindruck auf sie machten. Die glostende Aufregung, in der die Spitzen der Familien sich befanden, warf Reflexe nach allen Richtungen. Die Dienstleute zischelten untereinander und schwiegen plötzlich, wenn eines von uns in ihre Nähe kam. Sie machten geheimnisvolle Gesichter; sie nahmen uns gegenüber ein liebevoll-bedauerndes, beschützendes Wesen an. Das Seltsamste aber war die Veränderung, die mit Mademoiselle Henriette vorging. Sie bemeisterte sich, mäßigte ihre Zornesausbrüche und ganz besonders ihre Großmut im Erteilen von Strafen. Alle Hausgenossen schienen einen Grund zu haben, uns ungewöhnliche Rücksichten zu erweisen; nur Monsieur Just blieb immer gleich unbefangen, immer derselbe gute, heitere Kamerad.

An einem regnerischen Sonntagnachmittage dieses Frühjahrs waren wir alle fünf bei Tante Helene versammelt und spielten eifrigst »Schwarzer Peter«, als Papa eintrat. Er blieb eine Weile am Tische stehen, wechselte einige Worte mit der Tante, wandte sich dann an uns und fragte: »Kinder, was würdet ihr sagen, wenn ich euch eine neue Mama brächte?«

Die drei Kleinen sahen verständnislos zu ihm empor, Fritzi wurde über und über rot, senkte den Kopf und schwieg. Mir kam eine Erleuchtung. Das also war’s – darüber beriet sich unser Vater mit Großmama und mit der Tante, darüber zischelten die Leute – wir sollten eine Stiefmutter bekommen. Alle bösen Stiefmütter, die in den Märchen ihr Wesen treiben, standen mir vor Augen, und es fiel mir nicht ein, daß Maman Eugénie auch eine Stiefmutter gewesen war und daß es demnach unaussprechlich gute Stiefmütter geben könne. Ohne mich lang zu besinnen, rief ich aus: »Bring uns keine neue Mama; wir brauchen keine!«

Wenn ich mich recht erinnere, überhörte Papa diesen kühnen Protest; am nächsten Tag aber machte seine Verlobte ihren ersten Besuch in unserem Hause. Sie kam in Begleitung ihrer Mutter, die eine imponierende Dame mit noch außerordentlich schönen Gesichtszügen war.

Von der ersten Begegnung mit ihr und ihrer Tochter hielt unsere Großmama Vockel sich fern, nur Tante Helene nahm teil daran. Das Benehmen der drei Damen gegeneinander hielt sich in den Grenzen einer kühlen Höflichkeit, und auch uns bezeigte die zukünftige Stiefmutter keine besondere Freundlichkeit, was recht und ehrlich war. – Ich übernehme euch, wie man Pflichten übernimmt, sagten ihre lichten, blauen Augen, und wie gut verstanden wir sie! Meine Schwester teilte mein Gefühl einer gewissen peinlichen Beschämung dieser hohen Erscheinung gegenüber, die uns bald so nahe stehen sollte. Als wir verabschiedet und in unser Zimmer zurückgeschickt wurden, sagte Fritzi schwerbetrübt: »Wenn wir nur nicht fünf wären!«

Die neue Mama war ebenso imponierend wie ihre Mutter, hatte das dreißigste Jahr schon zurückgelegt und neigte zur Fülle. Ihre Haare waren blond, ihr Teint war rosig, ihr Mund, nicht klein, aber fein geschnitten, hatte schön geschwungene Lippen und war geschmückt mit den herrlichsten Zähnen. Im ganzen bot sie ein Bild blühender Gesundheit und selbstbewußter Kraft. Der ersten Begegnung mit ihr folgte bald eine zweite, die den herben Eindruck der früheren bedeutend milderte. Und nun machten wir zusammen auch gleich aus, daß sie am Ende noch sehr gut mit uns sein werde.

Wirklich erfuhren wir bald darauf durch sie eine große Wohltat. Fremde Leute hatten ihr die Augen geöffnet über Mademoiselle Henriette, und sie verlangte deren Entfernung aus dem Hause und sorgte zugleich für einen Ersatz. Es war der beste, der sich hätte finden lassen. Das Fräulein, dem jetzt unsere Erziehung anvertraut wurde, hieß Marie Kittl und war eine Deutschböhmin, die Tochter eines Fürstlich-Schwarzenbergischen Hofrates und Schwester des damaligen Direktors des Prager Konservatoriums. Wir kamen bei diesem Regierungswechsel aus der Hölle in den Himmel. Ich wüßte keine gute und vortreffliche Charaktereigenschaft zu nennen, die unser Fräulein Marie nicht besessen hätte. Geboren für ihren Beruf, war sie eine Kinderfreundin ohnegleichen und begabt mit dem innigsten Verständnis für alle Vorgänge in der Kinderseele. Sie kannte keine Rücksicht auf ihr eigenes Interesse, ihr Behagen, ihre Gesundheit, wenn es sich um unser Wohl handelte. Wie viele Nächte hat sie an unseren Krankenbetten durchwacht, wie sorgsam uns betreut in der Rekonvaleszenz, wie klug und geschickt uns lernen gelehrt, mit welcher Hingebung an unseren Spielen teilgenommen!

Daß wir sie nicht von der ersten Stunde an vergötterten, daran trug ihr Äußeres schuld, das nichts besonders Einnehmendes hatte. Im Gegensatz zu unseren früheren, groß und schlank gewachsenen Gouvernanten war ihre Gestalt und waren auch ihre Hände und Füße etwas ins Breite geraten. Sie stand in den Zwanzigen, schien aber viel älter. Ihrer Hautfarbe fehlte die Frische, ihre Bewegungen waren ohne Anmut, ihre Nase … doch nein, ich will nicht detaillieren. An jedem einzelnen ihrer Züge hätte sich etwas aussetzen lassen, während der Gesamteindruck, den die Physiognomie und das Wesen unseres Fräuleins Marie machten, höchst sympathisch war. Ein feiner, nobler, etwas schwärmerischer Geist sprach aus ihren kurzsichtigen Augen, und bald wurde es uns zur Ehrensache, sie beifallspendend auf uns ruhen zu sehen. Sie war eine tüchtige Musikerin und sang besonders Lieder sehr hübsch, mit angenehmer, gut geschulter Stimme. Wirklich ergreifend trug sie eine der Kompositionen ihres Bruders, das liebenswürdige Lied Der Vogelsteller, vor. Wer kennt es heute noch? Wer kennt noch Kittls Oper Die Franzosen vor Nizza, die in den vierziger Jahren vom Prager Publikum mit großem Beifall aufgenommen wurde?

Wer auch schwärmt heute noch für den Dichter Egon Ebert? Marie Kittl tat es aus vollem Herzen, und wir, getreu unserer Manie, angenehme Überraschungen zu bereiten, fanden uns eines Tages feierlich als Deklamatricen bei ihr ein. Wir wollten etwas im geheimen Auswendiggelerntes vortragen: ein Gedicht von Ebert, das die Sage von dem Mönche behandelt, den ein Wunder zum Glauben an die Ewigkeit bekehrt. Er war gegen Abend in den Wald gegangen, hatte sich ins Moos gelegt unter einen Baum, in dessen Zweigen ein Vöglein lieblich sang, war eingeschlafen und mochte wohl eine Stunde geschlafen haben; denn als er erwachte, glitten schon dunkle Schatten über den Waldesgrund, und die Kirchenglocke rief zur Hora. Der Mönch erhob sich und schritt dem Kloster zu. Er ging den wohlbekannten Weg, und seltsam verändert kam ihm der vor, seltsam verändert alles um ihn her, die Sprache, die Tracht der Menschen, denen er begegnete; fremdartig sogar mutete die Gegend ihn an und völlig fremd das Kloster, das er nun betrat. Das ist sein altes, kleines Kloster nicht mehr, das ist ein Prachtbau, in Marmorglanz schimmernd, mit riesiger Pforte, mit breiten Gängen. Er steht im Treppenhaus und

 

Sieht hinan die hohen Stufen,

Sieht hinan die hohen Hallen,

Schlägt die Hände bang zusammen:

Gott, o Gott! Was ist geschehn?

 

Mönche kommen, ihm alle unbekannt, scharen sich um ihn, fragen ihn, was er wünscht, wen er sucht. Seine Freunde möchte er sehen, seine Genossen:

 

Ruft mir doch den Vater Bernhard

Und den weisen Cyprianus,

Daß sie mir das Dunkel klären

Und das Rätsel lösen mögen.

 

Seine Worte erregten Staunen und Grauen:

 

Liegt ja doch der Vater Bernhard

Und der weise Cyprianus

Schon dreihundert Jahr im Grabe.

 

So erfährt der Mönch, daß er im Walde nicht ein Stündlein, sondern drei Jahrhunderte verschlafen hat, und die Ahnung einer unendlichen Zeitdauer steigt in ihm auf.

Nun aber drohte unserer Unternehmung eine Gefahr. Fritzi sollte das Gedicht sprechen bis zu der Stelle: »Und das Rätsel lösen mögen«, dann war’s an mir fortzufahren. Ja – wenn die Namen der zwei Patres nur nicht für uns die Quintessenz alles Komischen enthalten hätten! Wenn es nicht schon in Fritzis Gesicht gezuckt und geblitzt hätte, sobald der Moment, sie über die Lippen zu bringen, nahte, wenn ich mich nur vor verhaltenem Lachen nicht gekrümmt und gewunden hätte, während sie losbrach und die guten Mönche silbenweise und kreischend herbeirief. Als dann ich sie übernahm, um sie für dreihundert Jahre ins Grab zu legen – da war es Fritzi, die sich krümmte und wand und ich, die laut auflachte.

So ging es bei den Proben, so bei der Vorstellung, die kläglich mißraten wäre ohne die Langmut unserer Zuhörerin. Marie wartete ruhig, bis unser Lachanfall überstanden war, und blickte uns dabei nachsichtsvoll an mit ihren kleinen Augen, aus denen eine Güte leuchtete, so groß wie die Welt (mathematisch würde ich das beweisen, wäre ich Sophie Germain). Sie kannte das junge Kindervolk; sie fragte nicht nach dem Warum seines Lachens oder Weinens, sie wußte: Sensationen, das sind seine Gründe. Wir empfanden dankbar die Wohltat ihres Verstehens und fühlten uns glücklich in ihrer sicher geleitenden Hand.

Einmal, ganz besonders gerührt durch neue Beweise ihrer geduldigen Liebe, baten wir sie, uns gegenüber nicht das steife »Sie« zu gebrauchen, sondern uns wie die kleinen Geschwister, die wir darum beneideten, »du« zu nennen. Sie forderte dasselbe von uns, und nun war das freundschaftliche Verhältnis auf den Ton gestimmt, in dem es sich erhalten sollte durchs ganze Leben. Wie eine kleine Insel der Seligen ragt die Erinnerung an die Zeit, die wir damals verlebten, vor mir empor. Sie war die schönste, friedlichste meiner ganzen Kindheit.

 

Seit Anfang Mai befanden wir uns auf dem Lande unter der Obhut unserer Großmutter und Tante Helenes. Papa war in Wien zurückgeblieben, wo am 21. Juni seine Vermählung stattfand. Zwei Tage später sollte er mit seiner jungen Frau in Zdißlawitz eintreffen. Nach seiner Berechnung, wenn auf der Reise alles klappte, wenn nicht Regen eintrat und die Wege völlig ruinierte, in den Nachmittagsstunden. Empfangsfeierlichkeiten waren streng verboten; im Hause fand keine Veränderung statt. Tante Helene zog aus den Zimmern Maman Eugénies, die sie benutzt hatte, in eine Gastwohnung zu ebener Erde – das war alles.

Wir hatten uns bis jetzt wenig mit dem Gedanken an die neue Stiefmutter beschäftigt; als es aber hieß: Morgen ist sie da! gerieten wir in die gespannteste Erwartung. Daß Großmama stiller und ernster war denn je und Tante Helene besonders traurig, bemerkten wir kaum. Vom Wetter hing die rechtzeitige Ankunft der Reisenden ab – es gab also nichts Interessanteres als das Wetter. Und das war schlecht. Am Abend schon begann es zu regnen, und es regnete fort die ganze Nacht und auch den ganzen Morgen! Im Hause herrschte Ratlosigkeit. Die Beamten kamen und halfen sie vergrößern. Der Regen hielt an – was tun? Gestern waren Relaispferde entgegengeschickt worden; sollte man noch andere nachschicken? Wenn sie überflüssig waren, gab’s Verdruß; wenn sie gebraucht wurden und fehlten, gab’s auch Verdruß. Der Verwalter konstatierte das unter frenetischem Tabakschnupfen; der Burggraf, dem daran lag, nicht alle seine Pferde auf die Landstraße zu schicken, prophezeite gutes Wetter. Und richtig, es machte sich! Zu Mittag lag ein silberner Schimmer über dem Himmel, am Nachmittag schien die Sonne. Da zog man unserer Kleinsten ihr weißes Kleidchen an und auch uns weiße Kleider und unseren Brüdern ihre neuen blauen Blusen, und für jedes von uns brachte der Gärtner ein Bukett. Die Kleine sollte das ihre mit einigen begrüßenden Worten zuerst übergeben, und der Anblick dieses engelhaft schönen Kindes, das für sich und für seine Geschwister um ein bißchen mütterliche Liebe bat, mußte die neue Mama gewinnen und rühren. Nun waren wir zu ihrem Empfang bereit, und so würde sie denn gleich kommen. Wir standen im Hofe, und alle Augenblicke wollte das eine oder das andere das Rollen eines Wagens gehört haben, der den Berg heraufgefahren kam und nur der ihre sein konnte.

»Oh, mir klopft das Herz!« rief eines der fünf und ein anderes: »Und erst mir, fühl nur!« – »Meins klopft noch stärker.« Jedes wollte im Besitze des stärksten Herzklopfens sein.

So verging der Nachmittag. Das Wetter trübte sich wieder; wir wurden ins Haus zurückgerufen, lungerten herum, schlichen von einem Fenster zum anderen und spähten hinaus. Die Kleinste hatte vor Schläfrigkeit schon ganz verglaste Augen, wollte aber durchaus nicht zu Bett gehen und weinte bitterlich, als Pepinka sie in die Arme nahm und unter den zärtlichsten Liebkosungen ins Kinderzimmer trug. Dann gelang es Monsieur Just mit vieler Mühe, die beiden Büblein, die vor Schläfrigkeit nur noch lallten, aber doch wie die großen Schwestern aufbleiben wollten, in ihre Stuben zu locken. Endlich, ganz spät, ließ die Tante das Souper auftragen. Niemand aß; erschöpft von der Aufregung, in der der Tag zugebracht worden war, verlangten wir nach nichts anderem mehr als nach Ruhe. Still saßen wir bei Tische und hörten mit stumpfer Gleichgültigkeit den Regen unablässig niederströmen und prasselnd an die Fenster schlagen.

Es wurde elf Uhr. Nun legte Großmama ihr Strickzeug, das sie mechanisch vorgenommen hatte, fort, und: »Schlafen gehen!« hieß es für uns. Aber die Leute sollten doch noch eine Weile auf den Beinen bleiben und der Nachtwächter in der Nähe des Hoftores seines Amtes walten.

Wir lagen in unseren Betten im ersten tiefen Schlafe, als Großmama uns weckte. Sie war in Nachttoilette, ganz eingehüllt in ein umfangreiches braunes Seidentuch, und trug einen Leuchter mit brennender Kerze in der Hand. »Kinder, sie sind da!« rief sie. Ihre Stimme zitterte, und auch die Hand zitterte, in der sie den Leuchter hielt.

Das Haustor knarrte, Pferdehufe trappelten auf dem Holzpflaster der Einfahrt, ein schwerer Wagen rollte langsam herein … Einige Augenblicke, und aus der Tür des Nebenzimmers traten die neue Mama und unser Vater. Sie begrüßten die Großmama, kamen zu uns heran und küßten eine nach der anderen. Papa erzählte von den Widerwärtigkeiten der Reise. Besonders arg war es auf der letzten Strecke gewesen. Nur Schritt für Schritt kamen die Pferde auf den elenden Wegen vorwärts; die Finsternis wurde fast undurchdringlich. Gar oft mußte der Jäger absteigen, mit einer Wagenlaterne vorausgehen und leuchten … Und die Xaverine! Eine solche Ängstlichkeit wie die ihre war dem Papa noch nie vorgekommen – geschrien, alle Heiligen angerufen … sie hatte keine Courage, seine Frau.

Es war bald wieder dunkel und still um uns her, aber einschlafen konnten wir lange nicht.

Wie feucht das Kleid Mamas an ihr niederhing, und auch ihr Gesicht war ganz feucht; wir hatten es bemerkt, als sie uns küßte. Sie hatte geweint. – »Natürlich, weil sie sich gefürchtet hat«, meinte Fritzi, die das innigste Verständnis besaß für jede wie immer geartete Ängstlichkeit. Nach einer Weile – ich hatte gedacht, sie schliefe schon – begann sie wieder: »Eine Hochzeitsreise … Es ist traurig, eine solche Hochzeitsreise!«

Ich wunderte mich sehr. War das eine Hochzeitsreise? Das Wort schon hatte einen so heiteren Klang; man stellte sich darunter etwas ganz Helles, Angenehmes vor … Konnte man denn weinend ankommen von einer Hochzeitsreise?

 

Die erste Empfindung, die Mama Xaverine uns einflößte, war ein großes Bedauern. Wir fanden sie oft in Tränen. Sie litt an Heimweh, sie litt unter den Schwierigkeiten ihrer Stellung. Auf einen Schlag mit fünf Kindern gesegnet, die vierte Frau eines ältlichen, ihr fast fremden Mannes sein, durch ihre Umgebung, durch alles, was sie vor Augen hatte, an ihre Vorgängerinnen gemahnt werden, Vergleiche hervorrufen, die nicht immer das Wohlwollen anstellt, und nie seinen guten Mut verlieren – dazu hätte viel gehört. Überdies wirkte gar befremdlich auf sie der Einblick in einen musterhaft geführten Haushalt. Alles festgefügt und ineinandergreifend, strenge Ordnung und durchsichtige Klarheit, nirgends ein Winkel, in dem unlauteres Getriebe und betrügerisches Wesen sich verbergen konnten. Eine atmende, fühlende Maschine, die ihre Tagesarbeit munter und gelassen verrichtete, an der aber auch das kleinste Rad und die kleinste Schraube glänzte vor Vergnügen an ihrer treuen Pflichterfüllung und der Anerkennung, die ihr dafür zuteil wurde.

Im Geiste dieses genialen Pedantismus weiterzuwirken lag nicht in der Absicht und nicht in der Fähigkeit der neuen Gebieterin. Sie suchte vor allem unserem Hause den etwas bürgerlichen Anstrich abzustreifen, der ihm eigen war, trotz des soliden Wohlstandes, der in ihm herrschte, der vielen Diener, der hübschen Livreen, der eleganten Equipagen. Der Verwandten- und Bekanntenkreis Mamas stand auf der sozialen Leiter um eine Sprosse höher als der unsere und sollte allmählich der tonangebende werden.

Ohne Frage zog mit der neuen Stiefmutter ein frischerer Geist bei uns ein. Sie besaß, was man »des talents d’agrément« nannte, sang mit angenehmer Stimme und nettem Ausdruck französische Romanzen, und wir waren glücklich, sie auf dem Klavier begleiten zu dürfen. Ebensosehr freute es uns, ihr zuzuhören, wenn sie, was sie regelmäßig tat, im Herbste, als die Abende länger wurden, vorlas. Grüns edles Gedicht Der letzte Ritter, Kenilworth, Godwie-Castle, auch manches gute Buch von Friederike Bremmer und Emilie Flygare-Carlèn lernten wir durch sie kennen mit einem Genuß, für den ich nie aufhören werde ihr dankbar zu sein. Wir gewannen sie bald sehr lieb und bewunderten, außer ihrem Gesang und ihrer Vorlesekunst, auch ihre Malereien. Kleine Ölbilder, die sie unter der Leitung ihres Lehrers gemalt hatte, würden vor einer strengeren Kritik als die unsere bestanden haben. Besonders reizvoll aber fanden wir Aquarelle, die in einem Album versammelt und von Mama ganz allein gemalt waren: Darstellungen aus dem Leben, das sie daheim geführt hatte, ihre Lieblingsplätze im Garten und im Schlosse – alles höchst interessant, und heute müßte man mir mit einem Rudolf oder Franz Alt kommen, um mich so zu erfreuen, wie die Bilder der guten Mama mich erfreut haben. Sie zeichnete kühn und naiv und lebte mit der Perspektive auf demselben Fuße wie Giotto. Da gab es zum Beispiel in ihrem Album ein Bild, das den Titel führte Mein Zimmer und das Aussehen eines aufgerichteten Schachbretts hatte. An dem hingen mehrere Möbel und ein kleiner Hund. Nach oben verjüngte sich das Brett, und auf seiner schmalen Kante stand an einem offenen Fenster eine Dame vor einem Blumentopf. – Wenn die nur nicht herunterrutscht! dachte man. Weil sie aber am nächsten Tage noch dastand, verging die Sorge, und die Heiterkeit des Anblicks blieb.

Im Laufe des Sommers verließ uns unsere liebe Tante Helene, und schwer wurde ihr und uns der Abschied, obwohl die Trennung nur kurze Zeit dauern sollte. Sie fuhr nach Wien, um im dritten Stock des Rabenhauses eine Wohnung für sich und Onkel Moritz einzurichten, dieselbe, die sie schon innegehabt hatten, als er noch ein Kind war, und die später er und ich durch viele Jahre bis zu seinem Tode bewohnt haben. Sie war nicht groß, und durch keines ihrer Fenster drang je ein Sonnenstrahl. Ihm aber durchleuchtete die Erinnerung an seine glückliche Kindheit und an Mannesjahre voll reicher geistiger Tätigkeit ihre bescheidenen Räume. Er hat den Abbruch des alten Gebäudes nicht mehr erlebt.

Nun ist es hinweggefegt. An einer Ecke des Platzes, den es wuchtig und breit eingenommen hat, erhebt sich ein schmuckes Haus mit schmalem Eingangstor, schmaler Treppe, niedrigen, schmalen Gängen und niedrigen Zimmern. Nach englischer Mode heißt es, die aus der Not eine Tugend macht. Der Rest des Baugrundes ist Straßengrund geworden. Wagen und Automobile rasseln, Ströme von Menschen schreiten über den Boden, in den einst die »Drei Raben« ihre mächtigen Fundamente senkten.

Eine zweite Vielgetreue schied im Laufe des Winters. Die alte Pepinka trat in Pension. Mama Xaverine sah ihrer Niederkunft entgegen und hatte für das Kindchen, das zur Welt kommen sollte, eine andere, jüngere Wärterin gewählt. Pepinka schlich sich nicht leise davon wie Anischa, stürmisch und tränenreich war ihr Abschied von dem Hause, in dem sie fünf Kinder mit grenzenloser Pflichttreue und Hingebung aufgezogen hatte. Besonders schwer fiel ihr die Trennung von ihrem Liebling, von unserer Ältesten. Und diese hörte ich am Abend desselben und manchen folgenden Tages noch lange schluchzen, nachdem man uns zu Bette gebracht hatte. Ich kannte die Ursache ihres Grams. Ihn erweckte der Gedanke: Jetzt geht auch Pepinka schlafen und hat niemand, der ihr gute Nacht sagt. In ihrer Unermüdlichkeit nahm Fräulein Marie die Obsorge über unsere Kleine auf sich, die damals noch mehr ins Kinder- als ins Gouvernantenzimmer gehört hätte. Aber sie befand sich in bester Hut, und für meine Schwester und mich war es ja doch ein auserlesenes Vergnügen, das »Sophiederl« jetzt immer in der Nähe zu haben und mit beaufsichtigen zu dürfen.

Unter dem Einnuß Mamas erfuhr nach und nach unser ganzes Unterrichtswesen eine Umgestaltung. Vom Gediegenen hüpften wir zum Gleißenden hin. Ein neuer Klavierlehrer setzte uns bald instand, unserem Vater Potpourris aus verschiedenen Opern vorzuspielen. Zu seinem Geburtstage konnten wir ihm »reizende« Aquarelle darbringen, in denen sich stellenweise eine erstaunliche Routine verriet, die wir mit dem besten Willen nicht für selbsterworben halten konnten.

An die Stelle des altmodischen Herrn Minetti trat eine elegante Französin, die den Tanzunterricht damit begann, daß sie uns gehen, stehen, sitzen lehrte und in den Salon eintreten und den Salon verlassen und grüßen – je nach Gebühr. Der Praxis ließ sie die Theorie vorangehen. Man hätte ihre Definitionen der verschiedenen Arten zu grüßen bei einem Haare geistvoll nennen können. Zum Schluß kamen dann, oft wiederholt, die Worte: »Oh, meine jungen Damen, genau muß das wissen, wer gute Manieren haben will! Gute Manieren, meine jungen Damen, sind sehr viel, sind beinahe alles. Wenn Napoleon gute Manieren gehabt hätte, wäre er ein ganz großer Mann gewesen.«

Mit einem lieben Hausgenossen, mit Monsieur Just, war eine Zeit nach der Ankunft unserer Stiefmutter eine traurige Veränderung vorgegangen. Seine kindliche, immer gleichmäßige Fröhlichkeit, sein inniges Interesse für jedes einzelne von uns, seine eifrige Teilnahme an unseren Spielen – alles vermindert, alles wie verwelkt und erloschen.

Im Sommer schon war es uns oft aufgefallen, daß er dasitzen konnte ohne Bewußtsein dessen, was um ihn vorging. Wenn wir ihn in einem solchen Augenblick anriefen, fuhr er auf und starrte uns an, verwirrt und fragend, wie plötzlich geweckt aus tiefem Traume. Manchmal rannte und rannte er im Garten herum, bis ihm der Atem versagte und er halb bewußtlos auf eine Bank niedersank. Unserem Vater gegenüber war er immer völlig unbefangen gewesen, hatte nie die geringste Furcht vor ihm gezeigt, hatte auch keinen Grund dazu gehabt, denn Papa hielt ihn wert und ergriff jede Gelegenheit, ihn zu loben und ihn unseren Brüdern als Muster aufzustellen. Jetzt aber ging Monsieur Just ihm aus dem Wege, sooft es ihm nur möglich war. Wir bemerkten, daß er eine ganz andere Stimme hatte als sonst, wenn er mit unserem Vater sprechen mußte, der doch immer gleich gut gegen ihn war und dem sein seltsames Wesen Besorgnis zu erregen schien. Auch die Gegenwart Mamas setzte den armen Monsieur Just in große Verwirrung; er wurde rot und blaß und geriet völlig außer Fassung. Warum nur? Sie behandelte ihn ja nicht um ein Haar anders als uns, ebenso freundlich und mütterlich.

Einmal geschah’s, daß sie bei Tische eine Frage an ihn stellte und er zusammenfuhr, die Augen auf sie richtete, erbleichte, wankte und – ohnmächtig zu Boden stürzte.

Wir weinten und jammerten und hielten ihn für tot. Er aber, eine Stunde später, lachte über uns und über seinen Unfall und versicherte, daß ihm nichts fehle, gar nichts, und daß es sehr gesund sei, manchmal ein bißchen ohnmächtig zu werden.

Der kleine Victor ließ sich über das Unheimliche der Sache nicht so leicht beruhigen und fragte unaufhörlich: »Mais pourquoi avez-vous été mort, Monsieur Just? Pourquoi avez-vous été mort?«

Mit Fräulein Marie hatte Just lange Unterredungen. Sie schien ihm tröstend, beschwichtigend zuzusprechen. Einmal glaubten wir zu hören, daß sie ihn beschwor, auf die Bitten unserer Eltern Rücksicht zu nehmen, und daß er darauf erwiderte: »Ich kann nicht, es ist unmöglich, ich muß fort!«

Im Spätherbste dann, bald nach unserer Rückkehr in die Stadt, begab es sich, daß er vom Abendessen wegblieb, das immer gemeinsam für uns in unserem Lehrzimmer aufgetragen wurde. Erst als es für die Brüder Zeit war schlafenzugehen, holte er sie ab. Er brachte ihre Mäntel, legte sie ihnen um, sagte meiner Schwester und mir gute Nacht, ging auf Fräulein Marie zu und drückte ihr die Hände herzlich und lange, konnte aber nicht sprechen. Wir sahen voll Bestürzung, daß er schwer mit seinen Tränen rang, und erhielten keine Antwort auf unsere besorgten Fragen, was ihm sei und warum er weine. Er schob die Knaben bei den Schultern vor sich her der Tür zu, die sich bald darauf zum letztenmal hinter diesem lieben Menschen schloß.

Am nächsten Morgen kamen die Brüder weinend zu uns herüber. Monsieur Just war fort. Er hatte ihnen Lebewohl gesagt und uns alle noch, alle, vielmals grüßen lassen.

Mama war den Knaben auf dem Fuße gefolgt, bemühte sich, uns zu trösten, und versicherte, Monsieur Just werde wiederkommen, er habe jetzt nur für kurze Zeit zu seiner Mutter nach Frankreich reisen müssen. Und dann bat sie die gute Marie, heute auch die Buben zu beaufsichtigen und mit der ganzen Kindergesellschaft im großen Familienkobel – das war ein weitläufiger, viersitziger Wagen – in den Prater zu fahren. Für abends hatte Papa eine Loge im Kasperltheater genommen, wo Döbler seine Taschenspielerkünste vorführte.

Vierzehn Tage hindurch hatten wir Ferien. Man ließ uns nicht Zeit, dem Schmerz um unseren Freund nachzuhängen. Wir undankbaren, leichtsinnigen und eitlen Kinder genossen jedes dargebotene Vergnügen aus dem Grunde und bildeten uns viel ein auf die Mühe, die unsere Eltern sich gaben, uns zu zerstreuen.

Einmal fuhren wir nach einer Vorstadt, in der sich eine vielgerühmte Erziehungsanstalt für Knaben befand. Unser Besuch mußte angekündigt gewesen sein, denn der Vorsteher und seine Frau erwarteten uns auf der Schwelle ihres Hauses. Wir wurden durch all seine Räume geführt, auf die Ordnung und Reinlichkeit, die in ihnen herrschten, auf die Zweckmäßigkeit jeder Einrichtung, auf jeden Vorzug des mustergültigen Instituts aufmerksam gemacht. Unsere Eltern waren voll der Anerkennung und des Lobes.

Aus dem Hause ging’s in den Garten, dessen Größe gerühmt wurde und der uns sehr klein erschien. Einige Dutzend Knaben und Jünglinge spazierten herum, spielten oder turnten. Alle, die vom Vorsteher-Ehepaare angesprochen wurden, antworteten je nachdem mit einem kindlichen: »Ja« oder »Nein«, »Mutter« oder »Vater«.

Am nächsten Tage bei Tisch ergingen sich unsere Eltern im Preise der Anstalt, ihrer Leiter, des blühenden und zufriedenen Aussehens der Zöglinge. Fräulein Marie und auch wir Kinder wurden aufgefordert, unsere Meinung zu sagen. Wie das Urteil der anderen ausgefallen ist, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, daß ein Gelächter sich erhob, als ich erklärte, Mutter zu sagen zu einer fremden Frau würde ich meinen Kindern nie erlauben!

Bald darauf standen die Brüder im Speisezimmer, eingeknöpft in ihre kleinen Paletots, die Hüte in der Hand, zum Fortgehen bereit. Aus den hellblauen Augen des jüngeren sprach eine schmerzliche Betroffenheit. Sollte mit ihm nicht etwas geschehen, das eigentlich unmöglich war, sollte er nicht fort von zu Hause? Der ältere hatte den Kopf von ihm abgewandt, er wollte ihn nicht ansehen, sein Anblick hätte ihm zu weh getan. Wir kannten ihn, Fritzi und ich, wir wußten, was in ihm vorging. Er hatte jetzt nur eine Sorge. Wie wird es dem Kind ergehen im Institute? Unter allen Buben, die dort sind, wird er der jüngste und schwächste sein, und sein starker Bruder wird vielleicht nicht immer zurechtkommen können, um ihm beizustehen, wenn er sich in Händel einläßt, der leicht gereizte, streitbare Kleine. Keiner der beiden sprach, und auch wir brachten kein Wort heraus, und es war, als ob die Scheidenden uns fast schon entfremdet wären. Wir betrachteten sie von einer Fenstervertiefung aus, und der Druck einer beängstigenden Befangenheit, eines peinlichen Zwiespalts lag auf uns.

Warum schickt man sie fort, diese zwei Kinder, die ein gutes Daheim, die Eltern und Geschwister haben? Ist es nicht grausam, sie fortzuschicken unter fremde Menschen? Aber die Eltern tun es, und was sie tun, hatten wir von klein auf gehört, ist immer das Rechte.

Der Wagen wurde angemeldet, Papa kam aus seinem Zimmer, und aus dem ihren, von der entgegengesetzten Seite, kam Mama. Sie umarmte die beiden kleinen Buben und ermahnte sie, recht brav zu sein, sie würden dann schon am nächsten Sonntag wiederkommen dürfen.

»Und dableiben?« Ich glaube, wir riefen das alle zugleich wie aus einem Munde, und die Enttäuschung war bitter, als es dann hieß: »Ja, ja, den ganzen Tag.«

Papa schritt der Ausgangstür zu. »Sagt adieu und kommt!« sprach er, und es war leicht, aus seinem strengen Tone eine unterdrückte Rührung herauszuhören.

Von einigen der Notizbüchlein, die ich damals immer nebst Bleistift und Federmesser in meiner Tasche herumtrug, sind noch Rudera erhalten. Ein ganz schief mit Bleistift liniiertes Blättchen kam mir neulich in die Hand, auf dem, kaum noch zu entziffern, geschrieben steht: »Die Brüder sind heute fort. Ich habe einen Schmerz in meinem Herzen. Der ist viereckig und hat Ränder, die sind scharf. Er hat auch Spitzen.«

Am nächsten Sonntag hatten die Knäblein wirklich »Ausgang«. Papa holte sie selbst im Institute ab. Sie waren traurig und gedrückt, und der Kleine vertraute mir geheimnisvoll an: »Was dort für Buben sind! … Wie die sind! Das kannst du nicht denken, wie die sind!«

Ihre Ferienzeit brachten die Brüder in Zdißlawitz zu, und wir verlebten gute Tage mit ihnen. Einer der Vorsteher der Anstalt, Herr Hönig, hatte sie begleitet. Er war mit Monsieur Just an Liebenswürdigkeit, Lustigkeit, an Erfindungsgabe bei den Spielen nicht zu vergleichen, aber ein vortrefflicher Mensch, ein wahrer Freund seiner Zöglinge. Sie hatten leider bald das Mißgeschick, auch ihn zu verlieren; er trat, wenn ich nicht irre, eine Professorstelle an einem Gymnasium an. Sein besonderer Schützling, der kleine Victor, war ganz untröstlich und schrieb an Papa: »Ich hab drei Tage um Herrn Hönig geweint.«

Im September, an meinem Geburtstage, erlebte ich das für mich vielleicht denkwürdigste Ereignis meiner Kinderjahre: Mama schenkte mir Schillers sämtliche Werke in einem Bande. Ein großes, dickes, prächtiges Buch, eng gedruckt, ein Reichtum, nicht zu erschöpfen, und wenn ich hundert Jahre alt würde. In den ersten Tagen, im ersten Rausche des Besitzes, war von systematischem Lesen nicht die Rede. Ich glaube, daß es eine der Balladen gewesen ist, die mich umfing wie eine feurige Umarmung und mich erhob in ein Bereich nie geträumter Herrlichkeit. Das gibt’s? – das gibt’s – Das ist eingefangen da auf diesen Blättern, und wenn man seine Augen auf ihnen ruhen läßt, steigt es herauf, durchtränkt die Seele, prägt sich dem Gedächtnis ein, und man hat es, man kann es vor sich hersagen und sehen, was er gesehen hat, dieser Dichter, und uns darstellt mit prunktvollen Worten, wie nur der eine, einzige sie sprechen konnte! Das Titelbild, ein Stahlstich nach der Schillerstatue von Thorwaldsen, stellte mir den Dichter in edelster Erscheinung dar. So mächtig, so voll Größe und Kraft und das schöne Haupt doch gebeugt unter der Last des schweren Kranzes. Selbst errungen, der überreiche, der ihn nun bedrückte. Klar wurde es mir freilich nicht, daß der Bildhauer vielleicht diesen Gedanken hatte ausdrücken wollen; nur als etwas Unbestimmtes, unsagbar Anziehendes kam es mir zum Bewußtsein. Marie und meine Schwester fanden mich einmal in die Betrachtung des Bildes meines vergötterten Dichters versunken, und ich machte sie auf sein unter dem Kranze gesenktes Haupt aufmerksam. Da legte Fritzi ihre Hand auf meinen Scheitel und sagte: »Sie glaubt gewiß, daß auch sie einmal einen solchen Kranz auf ihrem Kopf haben und so dastehen wird.«

Sie hatte das liebreich, mit ganz harmlosem Spotte gesprochen und mich trotzdem schwer beleidigt. Gerade jetzt meldete »es« sich nicht mehr. Seitdem ich im Besitze meines Schiller war, lebte ich nur in ihm, und seine Gedichte unermüdlich herzusagen machte jetzt mein Glück und meine Freude aus. Wie oft mußten die alten, vertrauten Lindenbäume unserer Allee den Eichwald brausen hören! Wie oft rief ich ihnen, die gewiß darüber staunten, zu: »Ich habe gelebt und geliebet!«

Alles wiederholt sich im Leben, weil wir selbst uns immer wiederholen, und wie ich einst mit allen meinen Gedanken und Gefühlen in der Haut eines kühnen Drachentöters oder eines armen, verfolgten Stieftöchterleins gesteckt hatte, so war ich jetzt abwechselnd eine oder die andere Heldengestalt Schillers und nahm zum Erstaunen meiner Umgebung plötzlich laut Abschied von meinen geliebten Triften oder forderte mit ungestümem Pathos Gedankenfreiheit.

Böse Stunden der Reaktion stellten sich allerdings auch ein, ich konnte auch Entrüstung empfinden über meinen Abgott. Er hatte mir mit der matten Limonade und mit verschiedenen Grobheiten, die der alte Miller seiner Frau sagt, Kabale und Liebe verunstaltet, und sehr lächerlich kamen die Gedichte an Laura mir vor. Ich erlaubte mir sogar, eines von ihnen zu travestieren, und wurde dafür von Marie tüchtig gezankt. Sie bedauerte, daß Mama mir ein Kleinod in die Hand gegeben habe, dessen Wert zu schätzen ich noch ganz und gar nicht vermöge. Ich würde mir sonst eine Kritik nicht erlauben – aus Pietät. Zur Pietät aber fehle mir die Reife.

Sie fehlte mir freilich auch zur Würdigung dieser Strafpredigt. Viel später erst ging ein Verständnis des innigen Zusammenhanges zwischen Unreife und Mangel an Pietät mir auf. Aus Tausenden von Lehren, die das Leben uns erteilt, aus täglichen Erfahrungen können wir es schöpfen. Pietät ist immer nur die Frucht der edlen Ausgeglichenheit, die man Reife nennt. Die Jugend weiß nichts von ihr, und ewig unerreicht bleibt sie den Halbgebildeten, den Vorurteilsvollen, den Parteilichen.

Daß meine Stiefmutter unrecht gehabt hat, mir, dem elfjährigen Kinde, die Werke Schillers zu schenken, kann ich heute noch nicht einsehen. Ich werde es meinen Eltern auch immer danken, daß sie im Laufe des folgenden Winters meine Schwester und mich an jedem ihrer Logentage ins Burgtheater mitnahmen. Wir sahen alle klassischen Stücke, die auf der damals Ersten deutschen Bühne zur Aufführung kamen. Wir sahen Das Leben ein Traum und fühlten uns in den Himmel getragen von dem Schwung seiner Verse, wir sahen Wallenstein mit Anschütz in der Titelrolle, Maria Stuart, Hamlet, wir sahen den Prinzen in Emilia Galotti von Fichtner so hinreißend und liebenswürdig dargestellt, daß wir herzlich wünschten, der alte Edoardo möge doch ihm seinen Segen geben zur Vermählung mit Emilia. Von einem weniger soliden Bunde wußten wir nichts und fanden überdies den Grafen Appiani einen recht steifleinenen Herrn. Minna von Barnhelm mit Fräulein Enghaus als Minna, Lucas als Tellheim, Wilhelm als Werner, La Roche als Just gespielt zu sehen war ein feinster, unauslöschlicher Kunstgenuß. Und nun erst Egmont mit Löwe in der Titelrolle und Julie Rettich als Margarete. Da, und als Mutter der Makkabäer und später dann als Marfa im Demetriusfragment, hat diese Frau, die eine Herrschernatur war und ihre Kunst wie eine Priesterschaft ausübte, dank ihrer geistigen Überlegenheit und echten Seelengröße eine Höhe erreicht, zu der stärkere, aber auf minder edlem Boden stehende Talente nie gelangen.

Wie die Märchen Perraults, wie die Geschichte und die Sagen des Altertums, so wurden uns auch die Kunstgenüsse im Burgtheater in ärmlicher Ausstattung geboten. Meine verehrte Freundin, Gräfin Schönfeld, ehemals Luise Neumann, und ich erinnern uns oft lächelnd des Rüstzeugs, mit dem die großen Schauspieler jener Tage versehen wurden, um ihre glänzenden Siege zu erringen. Der ganze Dekorationsapparat der Ersten deutschen Bühne entfaltete sich innerhalb der Grenzen äußerster Sparsamkeit. Besonders hart übte sie ihre Gesetze dem feinen Lustspiel gegenüber aus. In den vornehmen Häusern saßen die Damen auf einem mit Rohrgeflecht überspannten Kanapee, im bürgerlichen Haushalt gab es nur Holzsessel. Eine Zimmerdekoration, eine besonders gute alte Bekannte, war in jungen Tagen rosenfarbig gewesen, zwei Landschaften, Grau in Grau gemalt, zierten ihre Mittelwand. Bevor sie selbst erschien, schwebte ihr der ganzen Breite nach ein Streifen sehr schmutziger Fransen voran, in die sich allmählich ihre untere Partie aufgelöst hatte. Während sie niederrollte, kamen rechts und links je zwei Diener, die je einen glatten, viereckigen Tisch auf die Bühne stellten. Sie trugen auch einige Sessel herbei, und wenn ein Paar von diesen vor das Souffleurhüttchen gestellt wurde, ahnten wir, daß ein wichtiges Gespräch zu erwarten war, und spitzten die Ohren. Es kam; die Zuhörer genossen es und verstanden jede feine Wendung und freuten sich jeder Pointe, und unsere Herzensangelegenheit war’s, die man dort verhandelte. Wenn ein Liebling des Publikums auftrat, ging’s wie ein leises, freudiges Atmen durch das Haus; ein beifälliges Gemurmel, ein kurzes, herzliches Klatschen dankte für besonders vortreffliches Spiel. Unsere Mimen verstanden die Innigkeit unseres Dankes und die Treue zu schätzen, die ihrer nie vergessen und die Nachwelt zwingen werde, ihnen Kränze zu flechten.

Unser altes Burgtheater! Es war für mich, und wird es gewiß für viele gewesen sein, ein Quell edler Freude, ein Bildungsmittel ohnegleichen. Ihm verdanke ich die Grundlage zu meiner ästhetischen Erziehung, die damals begann und heute – noch lange nicht beendet ist.

Die Glückseligkeit, in die mich die Vorstellung versetzte, wurde immer etwas getrübt durch das Fallen des Vorhangs nach den Aktschlüssen. Es riß mich aus der Bezauberung und mahnte, daß ein Teil der mir so köstlichen Stunden vorüber sei.

Der Nachgenuß aber war etwas Vollkommenes. Ich wandelte einher wie auf dem Kothurn, ja, es kam mir in die Füße! Ich schritt gleich den hochgestellten Persönlichkeiten bei feierlichen Aufzügen auf der Bühne, heroische Gefühle erfüllten mein Herz, der Wille zum Leiden erwachte in seiner ganzen Stärke und mit ihm die brennende Sehnsucht nach einem großartigen Martyrium.

Neben den klassischen Stücken waren aber die Schau- und Lustspiele, die bei den Meinen besonders in Gnaden standen, auch mir sehr willkommen. Zwei Damen, zwei dramatische Schriftstellerinnen, gelangten um jene Zeit sehr oft zu Worte. Die Prinzessin Amalie von Sachsen mit dem Oheim, dem Landwirt, der Stieftochter, Frau von Weißenthurn mit zahlreichen Dramen. Die Erinnerung an sie ist erloschen; ich entsinne mich nur dunkel des einen, das Pauline hieß und in dem Luise Neumann die Hauptrolle spielte.

»Ach, die liebe, gute Frau von Weißenthurn, wenn wir sie nicht hätten!« sagte Börne, und sie hätte erwidern dürfen: Ach, der liebe, gute Börne, der destruktive Kritik so meisterhaft übt – wenn ich den nicht hätte! Er nimmt mich mit in seine – Vielleicht-Unsterblichkeit; wer würde ohne ihn nach einem halben Jahrhundert noch etwas wissen von meinem Schauspiel Agnes van der Lille und von meinem Lustspiel Beschämte Eifersucht?

Der Winter 1842 brachte dem Burgtheater drei Ereignisse: die erste Aufführung von Friedrich Halms Der Sohn der Wildnis, den Abschied Johannas von Weißenthurn vom Burgtheater, dem sie durch zweiundfünfzig Jahre angehört hatte, die Feier von Korns vierzigjährigem »Dienstjubiläum«.

Dem Sohn der Wildnis stand ich ratlos gegenüber. Das »romantische Drama« feierte Triumphe, ich hörte nur Aussprüche des Lobes und der Bewunderung, während mir einige Szenen geradezu Pein verursachten. Einen großen Teil der Schuld daran schob ich Julie Rettich, der Darstellerin der Parthenia, zu. Der edlen Frau und Künstlerin fehlte der Zauber der Anmut. Wenn sie, im zweiten Akte von den wilden Tektosagen gefangengenommen, sich hinsetzte und Kränze wand, entwickelte sie diese unwahrscheinliche Tätigkeit mit verletzend eckigen Bewegungen. Man mußte wirklich ein Barbarenhäuptling sein, um nicht Anstoß an ihnen zu nehmen. – Aber dann … Als Ingomar, angewidert durch die Niedertracht des Kulturvolkes, dessen Genösse er geworden, sich losreißt, um in seine Wildnis zurückzukehren, holt Parthenia sein ihr anvertrautes Eigentum, sein Schwert, herbei. – Er will es ihr abnehmen. – Nein. Sie wird es tragen – ihm nach.

»Wohlan denn«, sagt er, »bis zum Markte –«

Und sie:

 

»Bis zum Markt –

Nein, noch ein Stückchen weiter – bis ans Tor –

 

Noch weiter, bis zum Meer und übers Meer

Hinaus, und über Berg und Tal und Ströme,

Nach Ost und West, wohin dein Lauf sich kehrt.

Wohin dich irrend deine Schritte tragen,

Solang mein Herz pocht, meine Pulse schlagen,

Solang ich atme, trag ich dir dein Schwert!«

 

Da meinte man Glockenklang zu vernehmen, siegreich und unwiderstehlich flutete der Wohlklang dieser Verse durch das Haus, getragen von einer Stimme, die gleich einer Naturgewalt mächtig blieb, ob sie dräute oder schmeichelte, brauste oder lispelte.

Gar oft haben wir den Sohn der Wildnis aufführen gesehen, und jedesmal brach an dieser Stelle des Gedichtes jubelvoller Beifall los, in den mein Vater einstimmte und auch ich aus allen meinen Kräften. Leid tat mir nur, daß der Sieg des Barbaren über die unerträglich nörgelnde Griechin kein vollständiger war. Sein Bärenfell hätte er wieder umhängen, in seine Wälder hätte er die merkwürdigerweise Geliebte mitnehmen und wieder Häuptling seiner Tektosagen werden sollen, ein Feind und Schrecken der verruchten Stadt Massalia, nicht ihr friedlicher Bürger. So meinte ich als Kind, und bei der Meinung bin ich geblieben und habe sie viele Jahre später dem Dichter mitgeteilt, der mein treuer Freund und Lehrer geworden ist.

Er hat mir nicht ganz unrecht gegeben.

Der Abschied Frau von Weißenthurns von der Stätte ihrer langjährigen Tätigkeit gestaltete sich zu einem Burgtheater-Familienfeste. Unter fast ununterbrochenem zustimmendem Gemurmel des Publikums und so vielem Applaus, als sich halbwegs passend anbringen ließ, wurden zwei von der dichtenden Schauspielerin verfaßte Stücke aufgeführt. Dann, stürmisch gerufen, trat sie an die Rampe und erzählte umständlich ihren ganzen Lebenslauf. Sehr andächtig hörte man ihr zu, und als sie mit Worten innigen Dankes schloß, erntete sie Dank, sehr warmen, aber völlig platonischen. Kein Lorbeerregen, keine Auffahrt von Blumenarrangements; nichts von fanatischen Huldigungen, die jetzt unseren Bühnengrößen dargebracht werden und – wer weiß – vielleicht einen Mangel verbergen. Gibt man heute soviel, weil man morgen nichts mehr zu geben hätte?

»Dableiben! Dableiben!« riefen wir alle, ehe der Vorhang sich senkte, der guten Frau von Weißenthurn zu, der es nicht einfiel fortzugehen. Wir sahen sie gar oft noch im dritten Stock des Burgtheaters in der Schauspielerloge sitzen. Wenn eines ihrer Werke aufgeführt wurde, fehlte sie nie und belohnte bei den rührenden Stellen ihre ehemaligen Kollegen durch strömende Tränen für ihr vorzügliches Spiel.

Wie das Jubiläum Korns gefeiert wurde, davon vermag ich nicht mehr Rechenschaft zu geben; ich weiß nur, daß wir erschraken, als wir erfuhren, er gehöre dem Burgtheater seit vierzig Jahren an. Da hatten unsere Großmütter schon für ihn geschwärmt, und er wäre ein alter Mann? … Und neulich erst hatte er uns so gut gefallen als Admiral in den Fesseln, und Fritzi war tief gekränkt gewesen, als Papa sagte: »Der arme Korn hat keine Stimme mehr.« Und nun mußte man’s ganz natürlich finden, daß er keine Stimme mehr hatte, dieser bejahrte Liebling. Übrigens – Liebling blieb er, trotz seiner Heiserkeit, die sich nicht mehr geben wollte. Löwe war ja herrlich und kam uns in manchen Rollen, zum Beispiel als Siegfried in Raupachs Nibelungen, wie ein Halbgott vor und Fichtner stets wie das Urbild der Liebenswürdigkeit. Auch Lucas konnte äußerst gewinnend sein in seiner gehaltenen, noblen, etwas feierlichen Weise; aber Korn blieb der Feinste, der unumschränkte Beherrscher schöner Form, die nur das Sichtbargewordene des schönsten geistigen Inhalts sein konnte. Korn blieb der siegreichste Herzensbezwinger. Einmal erhielt er einen Beweis davon, der ihm gewiß mehr Freude machte als der lauteste Applaus und die schmeichelhafteste Rezension. Er hatte seinen unvergeßlichen Hauptmann Klinger gespielt, stand als gütige Vorsehung der ganzen Gesellschaft mitten unter glücklichen Brautpaaren, sah sich um und fragte: »Und mich will niemand heiraten?« – »Ich!« antwortete ihm laut eine Mädchenstimme. Aus einer Loge des ersten Ranges kam der Ruf spontan, mit unwillkürlicher Hingerissenheit. Korn lächelte, wollte aber nichts gehört haben; das Publikum lachte wohlwollend; einige »Bravo!« ließen sich hören, einige Parterrebesucher grüßten hinauf zu der Loge, in der eine anmutige junge Gräfin sich bestürzt hinter ihre bestürzten Eltern zurückzog.

Kaum zwei Jahre hatten wir unter der Obhut unserer guten Marie gestanden, als sie nach Prag berufen wurde, wo ihr Vater und ihr Bruder an Typhus erkrankt waren. Sie fand die Ihren in einem fast trostlosen Zustand. Er besserte sich zwar allmählich, unter allen Umständen aber, schrieb unsere Freundin, müßten wir uns auf eine lange Trennung gefaßt machen; vorläufig wäre der Tag ihrer Rückkehr noch nicht abzusehen.

So blieb denn nichts übrig, als sich dem bedenklichen Auskunftsmittel einer provisorischen Regierung zu bequemen, und unser Haus wurde der Schauplatz eines seltsamen Gouvernantenfestzuges. Eine schöne, hochgewachsene Deutschböhmin, die in Paris erzogen worden war, eröffnete ihn. Ihr Benehmen konnte man nur vortrefflich nennen; sie war weder verlegen noch anmaßend, grüßte schön, aß schön. Aber bei der Wahl ihres Berufes hatte sie danebengegriffen und zog deshalb vor, ihn nur nominell auszuüben. Sie hatte reiche dunkelblonde Haare, die sie nach der damals herrschenden Mode vorne abgeteilt und in Locken trug. Den Morgen brachte sie damit zu, den goldigen Kopfschmuck auf dem Lockenholz zu glätten und zu blänken, und den Abend damit, ihn in Papilloten zu wickeln. In der Zwischenzeit lag sie auf dem Kanapee und las Romane aus der Leihbibliothek. Der Müßiggang, dem die Interimsgouvernante uns überließ, wurde sehr bald langweilig. Es verdroß uns auch, daß sie sich um unsere Jüngste gar nicht bekümmerte. Die kleine Sophie aber lernte ihr etwas ab. Sie hatte feine, von Natur gelockte Haare und fing an, dem Beispiel des Fräuleins folgend, eine der seidenweichen Strähnen nach der andern um ein Kipfel zu winden, das sie eigens zu dem Zwecke vom Frühstück aufbewahrt hatte. Sie saß auf einem Schemel, schaute vor sich hin, sprach nicht und wand ihre Locken auf und ab und hätte stundenlang so dasitzen mögen, wenn wir es geduldet hätten.

Mama täuschte sich nicht über die Unzulänglichkeit der wohlerzogenen Dame. Eines Tages verschwand sie samt ihren Romanen und ihrem Lockenholz, und ihre Stelle wurde durch eine kleine, dicke, rotbäckige Französin eingenommen. Das war nun die Gutmütigkeit in Person, dieses abermalige Fräulein. Schon nach den ersten Unterrichtsstunden, die sie uns gab, bemerkte ich, daß sie mich an Ignoranz weit übertraf. Ihre Bekanntschaft mit Geographie und Geschichte war von komischer Dürftigkeit. Die Sprachlehre kannte sie nur dem Namen nach. Sie mußte, um unser Diktando auszubessern, das Buch, aus dem sie vorgesagt hatte, zu Hilfe nehmen. Ich fragte sie, ob sie nicht auswendig korrigieren könne, und sie antwortete unbefangen: »Ma foi, non!«

Mon Dieu! Es war ihr nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie Gouvernante werden sollte. In Wohlhabenheit aufgewachsen, hatte sie selbst eine Gouvernante gehabt, eine vernünftige, von der sie nicht geplagt wurde mit dem Studium gelehrter Bêtisen. Auch gute Eltern hatte sie gehabt; nur ein bißchen verschwenderisch waren sie und hinterließen, als sie starben, ihren schon erwachsenen Kindern, einem Sohn und einer Tochter, sehr beträchtliche Schulden.

Les pauvres vieux! Sie werden sich Sorgen genug gemacht haben! Ihre Kinder grollten ihnen nicht. Der Sohn diente in der österreichischen Armee, hatte es bis zum Hauptmann gebracht und seine Schwester kürzlich nach Wien berufen. In Frankreich durfte sie sich als garde d’enfants placieren, in Wien nur als Gouvernante. Pensez donc – die Schwester eines Hauptmanns! Wir lernten auch ihn kennen, Papa lud ihn oft zu Tische. Er hatte große Ähnlichkeit mit seiner Schwester, liebte sie sehr, nahm sie oft mit auf »Elitebälle« und ließ ihr dort zwei Portionen Gefrorenes geben. Oh, ihr Bruder, der Hauptmann, der kargte nicht! Der war die Krone der Brüder, der Hauptleute, der Menschen überhaupt! Sie geriet in Begeisterung, wenn sie von ihm sprach, schob die Bücher und Hefte fort, sprang auf und schlug uns eine Partie »au loup« vor.

Im Augenblick waren Fritzi und ich von Angstfrösteln durchrieselt. Mademoiselle hob die kleine Sophie auf ihre Schulter und zog sich in die Ecke hinter dem Ofen zurück. Ein bedrohliches Brummen, Knurren, Knirschen begann daraus hervorzudringen … Der Loup war da … Vorsichtig schlichen wir heran, und wenn es uns gelang, an der Höhle des Raubtieres dreimal nacheinander vorbeizuhuschen, ohne gefangen zu werden, dann hatten wir gewonnen. Aber das kam fast nie vor. Es erhaschte uns; unter einem Indianergeschrei der kleinen Schwester fletschte es seine Zähne, wir fühlten uns schon zerfleischt und zerrissen – und das war ein großer Genuß.

Daß der gegenwärtige Zustand nicht von Dauer sein konnte, verstand sich von selbst und war uns auch ganz recht; denn wir sehnten uns nach unseren Beschäftigungen, nach einem Unterricht, wie Marie ihn erteilt hatte, zurück. Wir waren so gut im Zuge gewesen, hatten uns der Fortschritte, die wir machten, gefreut. Und nun waren sie jählings unterbrochen worden, und unser kaum erwachter Wissensdurst blieb ungestillt. Allerdings erhielten wir »Stunden«; doch wurden besonders die im Klavierspielen und Zeichnen recht oberflächlich gegeben und genommen. Die einzige Ausnahme in all dem dilettantenhaften Wesen machte der Unterricht, den eine Engländerin uns in ihrer Muttersprache erteilte, eine hübsche, etwas nervöse Frau, an den Associé eines englischen Geschäftshauses in Wien verheiratet. Daheim war sie Lehrerin an einem angesehenen »College« gewesen und suchte nun wieder ihre freie Zeit auszufüllen. Sie brauchte Beschäftigung und Zerstreuung, denn ach, der Himmel versagte ihr, die sich so schmerzlich danach sehnte, das Mutterglück. Sie hatte kein Kind, dem sie ihre Sorgfalt widmen konnte. Wenn sie unsere Sophie erblickte, war die zurückhaltende und gern absprechende Frau wie verwandelt, war ganz Hingebung und Entzücken. Sie küßte und herzte die Kleine, gab ihr die zärtlichsten Namen und brach zuletzt in heiße Tränen aus.

Die »englische Lehrerin« war uns schon deswegen wert, weil Fräulein Marie Kittl sie empfohlen hatte; von einem förmlichen Strahlenglanz schien sie uns aber umgeben, als wir hörten, daß sie auch einer unserer gefeiertsten Burgtheatergrößen, Luise Neumann, Unterricht erteilte. Wir staunten ein Wesen, das mit ihr in persönlichem Verkehr stand, wie ein Weltwunder an. Wir wollten wissen, ob sie ihr Glück denn auch ganz ermaß und Luise Neumanns Hefte mit gehörigem Respekt durchsah. Und wie waren diese Hefte beschaffen, und befand sich nie ein Fehler darin? Und warum lernte Luise Neumann Englisch? Wozu braucht sie, die alle Welt bezaubert, auch noch Englisch zu lernen? »Ja«, bekamen wir zur Antwort, »sie ist eben sehr gescheit; sie weiß, wer die englische Sprache beherrscht, überragt in jeder Hinsicht alle, die sie nicht beherrschen. Und wie sie lernt! und wie sie die schwersten Worte ausspricht! Da könnten Sie sich ein Beispiel nehmen, meine kleinen Misses.« – Natürlich wurde es sofort ein Ziel unseres Ehrgeizes, Luise Neumann an Eifer und Fleiß zu erreichen, und wenn wir einmal Außerordentliches geleistet hatten, nahm die Lehrerin zur Belohnung einen Brief mit, den wir an unsere Vielbewunderte gerichtet und den sie ihr zu übergeben versprach. Er wurde mit vereinten Geisteskräften aufgesetzt, bevor ich ihn ins reine schrieb; unter welcher Gemütsbewegung, das weiß Gott. Zu dieser Korrespondenz konnten doch nur hochfeine Bögelchen verwendet werden. Weh mir, wenn ich eines verdarb; sie waren so teuer, und wir hatten so wenig Geld! Von den schmalen Einkünften, die wir am Ersten jedes Monats bezogen, mußte unsere Armenpflege bestritten, mußten an den Namenstagen der Hausleute kleine Geschenke für sie, mußten überdies unsere Handschuhe gekauft werden. Je nun – Schwärmerei und Liebe verrichten Wunder; das Briefchen war geboren, schmuck und zierlich, meistens rosenfarbig, und versank ins Ledertäschchen der Mistreß, dessen Bügel sich mit einem triumphierenden Schnapper über ihm schloß. Wir konnten das Wiedererscheinen der Lehrerin kaum erwarten und bestürmten sie mit Fragen nach dem Gelingen ihrer Mission. Ließ denn Luise Neumann uns gar nichts sagen? Schickte sie uns nicht einmal einen kleinen Gruß? »Nein, heute nicht, sie hatte keine Zeit – vielleicht ein nächstes Mal.«

– Keine Zeit, einen Gruß zu schicken? Das wollte mir doch nicht recht einleuchten.

Eines Tages war die Engländerin mit Schnupfen behaftet und hatte mehr Sacktücher in ihr Täschchen gestopft, als dem behagte. Doch fügte es sich in sein Schicksal, tat seine Pflicht und hielt alles ihm Anvertraute hartnäckig fest. Der Not gehorchend, wollte seine Besitzerin ihm plötzlich von seinem Inhalt etwas entreißen; es widerstand – sie brauchte Gewalt – da, voll Grimm und Tücke, spie es die sämtlichen verschluckten Güter auf den Tisch und auf den Boden aus. Gebrauchte und nichtgebrauchte Taschentücher kamen zum Vorschein und zugleich – unsere Briefe an Luise Neumann. Alle! Die Briefe alle, »all die lieben, kleinen …« Ja, ich hatte etwas davon gewittert, daß unser Vertrauen getäuscht wurde; daß es aber in solchem Grade geschehen könne, hätte ich nicht für möglich gehalten, und ohne den geringsten Rückhalt sprach ich der falschen Mistreß meine Meinung aus. Die Unglaubliche, auf einer langen Reihe von Wortbrüchen ertappt, kam nicht einen Augenblick außer Fassung. Sie kehrte sogleich den Spieß um und behauptete, sie schäme sich unserer Albernheit. Wie hatten wir nur glauben können, daß sie einer berühmten Künstlerin zumuten werde, ihre Zeit mit dem Lesen von Briefen zu verlieren, die Kinder an sie richteten!

So endete in einem Gefühl nagender Pein eine ganze Menge großer Gemütsbewegungen. Und dieser Reichtum und soviel Liebe und Begeisterung hatten sich entfaltet – um nichts.

Es fiel mir schwer aufs Herz und beschäftigte meine Gedanken: Wie kann etwas in der Welt gewesen sein – um nichts?

Und doch war’s hier der Fall, und etwas war geschehen, was eigentlich nicht geschehen kann. Es erschien mir als ein Widersinn und als eine Grausamkeit.

In späteren Jahren habe ich das kleine Erlebnis in anderem Maßstab und in anderer Form sich an mir und um mich zahllose Male wiederholen gesehen. Die Bewegung, mit der du ein Steinchen ins Rollen bringst, pflanzt sich fort, Gott weiß wie weit. Was aber dein Innerstes erbeben machte in Zorn und Qual, in Wonne und Entzücken – kann erlöschen und sterben, ohne die geringste Wirkung nach außen geübt zu haben. –

Wie kleine Tote, die ihr Geheimnis ins Grab mitnehmen, lagen unsere zerknitterten Briefchen vor mir, und ich besang den Eindruck, den ihr Anblick mir machte, in einem Gedicht, das ihr Los geteilt hat.

 

Jetzt hätte meine Freundin Marie dasein müssen! Jetzt wäre ihre Anwesenheit mir segensreich gewesen. Ihr durfte ich alles sagen; mit allen meinen Zweifeln und Bekümmernissen durfte ich ihr kommen. Das Unbedeutendste, das in meiner kleinen Gedankenwelt vorging, war ihr wichtig. Sie nahm alles ernst, was ich selber ernst nahm, wenn es auch noch so töricht war. Die Waffe des Spottes, die Erwachsene nur zu gern gegen Kinder gebrauchen, hat sie nie angewendet. Um meine Reue über die Parodie auf »Laura am Klavier« kundzutun, hatte ich sie noch kurz vor ihrem Scheiden mit einem Siegeshymnus auf das Liebespaar Friedrich und Laura überrascht, in den ich die Chöre der Seraphim und Cherubim einstimmen ließ. Marie lächelte nicht einmal; sie fand einzelnes sogar recht hübsch und entfesselte mit ihrem Lobe eine Flut von Herzensergießungen. Immer schmerzlicher vermißte ich jetzt die Vertraute meiner Dichterleiden, bestürmte sie mit immer heißeren Bitten: »Komm! komm! wir verwildern. Komm! komm, oder ich lasse mich verhungern!«

Ich begriff nicht, warum ihre Antworten auf meine Beschwörungen und Drohungen kühl beschwichtigend lauteten und warum die Pausen zwischen ihnen immer länger wurden. Meine Klagen langweilten Mama endlich so sehr, daß sie sich entschloß, mir mitzuteilen, Fräulein Kittl werde nicht mehr zu uns zurückkehren. Sie habe die Ihren in ansteckender Krankheit gepflegt, und ihre Nähe könne gefahrbringend sein. Nach Jahren hat meine Stiefmutter mir gestanden, daß sie ihre übertriebene Ängstlichkeit oft und sehr bitter bereut habe, nachdem vielfache Erfahrungen sie belehrten, daß eine Erzieherin wie Marie Kittl gefunden zu haben ein Glücksfall sei, der sich nicht leicht wiederhole.

Als wir hörten, wie die Dinge standen, war die Trauer meiner Schwester groß, und ich hatte Anfälle von Verzweiflung. Wußten denn die Menschen nichts Besseres, als uns zu belügen und zu betrügen? Wie durfte man uns so hinhalten, uns ein ganzes Jahr hindurch von der Hoffnung auf die Rückkehr unserer Freundin leben lassen, während sie uns längst entrissen war? Vollkommen, unwiederbringlich, denn sie hatte die Stelle als Gouvernante bei einer jungen Prinzessin Arenberg in Paris angenommen und befand sich schon seit einiger Zeit dort, indessen wir, da alle unsere letzten Briefe unbeantwortet blieben, uns eingeredet hatten, sie wolle uns überraschen. Plötzlich, wenn wir am wenigsten daran dächten, werde die Tür aufgehen, und sie werde dastehen in ihrer Mantilla, der wir nachsagten, daß sie etwas Spanisches habe, obwohl sie aus Prag stammte. Und auf ihrem Kopfe würde ihr Hut mit frischgekräuselten Federn thronen, und in den Rüschen, die sein Inneres schmückten, würden unserer Freundin dünne Locken, eigensinnig wie Schwächlinge einmal sind, sich verfangen … Oh, die Liebe! Dastehen werde sie, die Arme ausbreiten und nicht sprechen können vor Rührung. Meine Schwester mochte ihr dann nur entgegenstürzen, jauchzend, in Freudentränen gebadet. Was mich betraf, ich war entschlossen, mich zu beherrschen, der schroffsten Spartanerin zum Trotz, und nichts von meiner Glückseligkeit zu verraten. Bei der ersten Lektion aber wollte ich unserer Ersehnten in großartiger Weise erklären, daß ich jede Stunde, die sie nicht bei uns zugebracht hatte, als eine verlorene ansah. Und sie sollte wissen: Die ist’s, die scheinbar Gleichgültige, die mich am liebsten hat.

Und nun waren mir nicht nur die vielen vergangenen Stunden, sondern auch alle, die noch kommen sollten, verloren. Was ich in dieser langen Zeit aufgespeichert hatte an unausgesprochenen Einfällen und Empfindungen, um es ihr mitzuteilen, der ganze knospende Reichtum mußte nun zurückgedrängt werden und lag, gleichsam zusammengeballt, mir schwer wie ein Stein auf dem Herzen. Ich war sehr unglücklich und viel zu kindisch, um nicht grausam zu sein, und trotz des Heroismus, den ich mir zuschrieb, viel zu schwach, um mein Unglück still zu tragen. So ließ ich es eine an ihm völlig Unschuldige entgelten: die bedauernswürdige Nachfolgerin der Mademoiselle »au loup«.

Ein junges, schüchternes Mädchen, selbst noch gewöhnt, geleitet zu werden, kam sie direkt aus dem Erziehungsinstitut zu uns. Mit meiner Schwester hatte sie leichtes Spiel, ich war ihr gegenüber ein kleiner Teufel. Dabei bewunderte ich mich noch, weil mein nichtsnutziges Benehmen gegen sie die Treue bekunden sollte, die ich unserer Freundin Marie bewahrte.

Fräulein Karoline war edel und gut, sie hat mir alles verziehen. Sie hat der Erwachsenen nicht nachgetragen, was das Kind ihr angetan. Ich aber fühle mich durch ihre Großmut nicht entsühnt. Heute noch treibt mir die Erinnerung an die bösen Streiche, die ich einem harm- und hilflosen Wesen gespielt habe, die Schamröte ins Gesicht, und fast bin ich dann geneigt, dem Franzosen beizustimmen, der sagte: »Les enfants sont des petites bêtes malfaisantes.«

Fräulein Karoline besaß tüchtige Kenntnisse in Sprachlehre, Geographie und Geschichte, und ich hätte alle Ursache gehabt, mich ihrer Leitung zu unterwerfen. Statt dessen gab ich dem bösartigen Wunsche nach, ihr beständig etwas am Zeuge zu flicken oder sie auf einem Irrtum zu ertappen. Mit müßigen Kontroversen ging viel Zeit verloren. Aus Widerspruchsgeist trat ich jeder Behauptung unserer unglücklichen Lehrerin entgegen. Wenn sie das Mittelalter mit dem Untergang des Weströmischen Reiches beginnen ließ, schwor ich darauf, daß es durch den Anfang der Völkerwanderung bezeichnet werde und daß es in der ganzen Welt nichts Wichtigeres gebe, als das zu wissen. Für Alarich offenbarte ich eine fanatische Bewunderung, die durch Platens Gedicht entzündet worden war und durch die Vorliebe Fräulein Karolinens für Stilicho genährt wurde. Sie bevorzugte die Hermunduren und Friesen; natürlich hatte ich deshalb schon für diese friedlichen Viehzüchter und Ackerbauer nur Geringschätzung übrig und fand kein Ende in Lobpreisungen der kriegerischen Langobarden, Goten und Vandalen.

Zu heißen Kämpfen führte unter anderem die Verschiedenheit unserer Ansichten über Karl den Großen. Je mehr das Fräulein diesen Heros pries, desto entschiedener erklärte ich, ihm meine Hochachtung durchaus versagen zu müssen. Für mich war es eine ausgemachte Sache, daß er seinen Bruder hatte töten lassen. Und seine Frau, warum verstieß er sie? Weil er sich des Thrones ihres Vaters bemächtigen wollte. Endlich seine entsetzliche, schauderhafte Tat, die Ermordung von 4500 Sachsen, Überwundenen, die um ihre Freiheit und ihren Glauben gekämpft hatten und die jetzt um Gnade flehten … Nein, einen Mann, der das getan hat, nenne ich nicht den »Großen«.

Bei einem besonders lebhaften Wortgefechte ließ ich mich dazu hinreißen, Kaiser Karl auch als Bekehrer anzugreifen, und nannte Widukind und Albion, die aus seiner blutgetränkten Hand das Christentum angenommen hatten, Feiglinge und Heuchler. Was konnten sie von einer Religion halten, die ihren Bekennern Untaten verzieh, wie Kaiser Karl sie an den Sachsen begangen hatte?

Dieser frevelhafte Ausbruch entsetzte Fräulein Karoline. Sie war ganz verstört, sie faltete die Hände unter dem Tische. Meine Schwester sank in sich zusammen und flüsterte: »Um Gottes willen, jetzt versündigt sie sich gar gegen die Religion!«

Ihre Worte erschreckten mich. Wir befanden uns in Zdißlawitz; unsere Religionsstunden waren wieder aufgenommen worden, ich dachte an die Betrübnis Pater Boreks, wenn meine »Versündigung« ihm hinterbracht würde. So leitete ich denn Friedenspräliminarien ein, indem ich das Fräulein versicherte, daß es mir ferngelegen habe, einen Angriff auf die Religion zu unternehmen. Karoline hatte sich von ihrem Schrecken noch nicht erholt. Fassungslos starrte sie mich an, übersprang in ihrer Gemütsbewegung Zeiten, Könige, Kaiser und große historische Umwälzungen und sprach mit bebender Stimme: »Aber Karl V. werden Sie doch gelten lassen?« – Nun, ich sah wohl, auch ihn hatte sie in Protektion genommen, und Pflicht gegen mich selbst wäre es gewesen, ihn zu verunglimpfen. Aber in Rücksicht auf meine bedrängte Lage, und doch auch weil – abermals Platen! – der Pilgrim von St. Just mir mitten im Herzen saß und weil endlich Karl V. und ich uns in der Liebhaberei für Uhren, die mich seit meiner frühen Kindheit beseelt, teilten, ließ ich ihn in Gottes Namen gelten. Fräulein Karoline atmete auf. Meine Nachgiebigkeit, an die ich sie so wenig gewöhnt hatte, war Balsam für sie. Die Gute lobte mich, sie dankte mir beinahe, was mich doch sehr beschämte; ich war mir ja bewußt, daß die Furcht vor einer Denunziation den Hauptgrund meines Rückzugs bildete. Eine vorübergehende Rührseligkeit ergriff mich, meine Kampflust löste sich in Reue und Wehmut auf, und unter ihrem Einfluß trug ich dem überraschten Fräulein das freundschaftliche »Du« an.

Wir haben nur einen Tag Gebrauch davon gemacht. Mama verbot mir mit Recht die vertrauliche Ansprache. Es sollte nicht eine Schranke mehr des Respektes vor meiner Erzieherin niedergerissen werden. Auch herrschte bald wieder Unfrieden zwischen uns.

Wir zankten uns durch das ganze Mittelalter hindurch. Wenn ich mich in dieser großen, Kulturen zerstörenden und Kulturen verbreitenden Epoche heute noch leidlich auskenne, verdanke ich’s dem Kampf, den ich mit meiner jungen Lehrerin um eine selbständige Meinung über Menschen und Begebenheiten jener Zeit führte. Gut bestellt mußte es mit meinen Kenntnissen sein, wenn ich eine Ansicht erfolgreich verteidigen wollte. Fräulein Karoline wünschte mir ebenso wehrhaft entgegenzustehen. Der Abriß aus der Weltgeschichte, der uns zur Verfügung stand, genügte uns nicht. Sie nahm ihre Zuflucht zu Tillier, mein Gewährsmann war der Abt Millot. Onkel Moritz hatte mir einige Bände von dessen Universalhistorie alter, mittlerer und neuer Zeiten in der Übersetzung Christianis geliehen, und: »Hie Tillier! Hie Millot!« lautete unser Kampfruf.

Wie Fräulein Karoline es mit ihrem Orakel, in dessen Heiligtum sie mir keinen Einblick gönnte, gehalten hat, weiß ich nicht. Was mich betrifft, ich war im Auslegen der Urteile des meinen gewissenlos, drehte und wandte jedes so lang, bis ich es in Gegensatz zu einer Äußerung meiner armen Erzieherin gebracht hatte. Dann feierte ich erbärmliche Triumphe, Zwei Jahre hat Fräulein Karoline es bei uns ausgehalten, dann aber, als ihr eine Lehrerinnenstelle an einer staatlichen Mädchenschule angeboten wurde, rasch zugegriffen. – Dort waltete sie, geliebt und verehrt, durch viele Jahre ihres Amtes. Von ihrer vorgesetzten Behörde wurden ihr immer nur Zeichen der Hochachtung und der Anerkennung gespendet. Mit aller Hochachtung und Anerkennung versetzte man sie dann, zwölf Monate vor Ablauf der Zeit, die ihr das volle Gehalt als Pension gesichert hätte, in den Ruhestand. Wie am Anfang, erfuhr sie am Ende ihrer Laufbahn Grausamkeit. Doch klagte sie nicht und klagte nicht an. Ihre tiefe Frömmigkeit lehrte sie verzeihen, und Seelenfrieden ward ihr statt des Glückes. Sie verlebte ihre letzten Tage in Wien mit ihrer Schwester. Diese hatte es in einem anspruchslosen Berufe besser getroffen. Dank der Großmut der Kaiserin Karolina Augusta, deren treue Kammerfrau sie gewesen, gestaltete sich ihr Alter sorgenfrei und behaglich.

 

Nun aber ein papierenes Denkmälchen für einen lieben Freund. Ja, wir haben ihn immer sehr liebgehabt und immer ein bißchen über ihn gelacht, den Herrn Direktionsadjunkten bei dem k.k. hofkriegsrätlichen Einreichungsprotokoll zu Wien Josef Fladung.

Ich stand im dreizehnten Jahre, als er durch Mama in unser Haus eingeführt wurde, und damals schien mir, daß er dem Alter nach ein Methusalem sein könnte. Doch sollte dieser vortreffliche Mensch sich noch durch mehr als zwei Jahrzehnte seines Daseins erfreuen. Er hatte sich stets, besonders seitdem er in Pension getreten war, mit dem Studium der Naturwissenschaften und der Altertumskunde beschäftigt, in diesen Fächern es aber nur zu einem immerhin anerkennenswerten Dilettantismus gebracht. Hingegen hatte er als Mineraloge Tüchtiges geleistet. Sein Buch Versuch über die Kenntnis der Edelsteine wurde sehr geschätzt. Seine kleine, aber vortrefflich zusammengestellte und fortwährend vervollständigte lithologische Sammlung würdigten Kenner und Gelehrte ihrer Aufmerksamkeit. Wenn er seiner Neigung hätte folgen dürfen, wäre er Lehrer geworden. Im Erteilen von Unterricht fand er sein höchstes Glück. Anderen Dank, als daß ihm Aufmerksamkeit geschenkt werde, forderte er nicht. Und es war so bequem für die Mamas, nicht erst lang nach einem Professor der »höheren Gegenstände« suchen, sich nicht erst erkundigen zu müssen: Wie steht’s mit seinen politischen Ansichten, seiner Moralität, seiner Religiosität? Alles perfekt! succus expressus des Perfekten! Ein ehrenwerter, alter Herr, immer liebenswürdig und wohlwollend und immer bereit, einem Wunsch oder einer Bitte womöglich zuvorzukommen. Dabei sehr würdig und gewöhnt, mit den Spitzen der oberen Zehntausend umzugehen, ohne Demut und ohne Selbstüberhebung. Er war ein stets freudig begrüßter Gast, ob er sich im Winter in der Stadt beim Mittagstische einfand, ob im Sommer zu längerem Aufenthalt auf dem Lande. Auf sein Äußeres verwandte er große Sorgfalt und war immer sehr nett gekleidet. Zum Diner kam er nie anders als im Frack, gewöhnlich im schwarzen, bei besonderen Gelegenheiten im blauen mit gelben Knöpfen. Mit diesen Fräcken mußte er einen Pakt auf Unsterblichkeit geschlossen haben. Solange wir sie kannten, ist uns keine besondere Spur des Alterns an ihnen aufgefallen. Seine Erscheinung war höchst vertraueneinflößend, ein ehrwürdiges Bild der Rechtschaffenheit, Solidität und Feinheit; die Gestalt untersetzt, der Gang das Gegenteil von leicht. Auf den breiten Schultern saß ein kurzer Hals, der einen schönen Kopf trug, edel gewölbt, mit hoher, völlig faltenloser Stirn und immer rosig angehauchten Wangen. Deshalb, und weil sein kahler Scheitel halbmondförmig von einem Kranze schimmernd weißer Haare umgeben war, nannten wir ihn den beschneiten Rosenhügel. Sehr viel Platz nahm in seinem Gesichte die kühn gebogene Adlernase ein. Er scherzte oft über ihre Größe und behauptete, sie habe nur eine Rivalin in Wien, die des berühmten Orientalisten Freiherrn Hammer von Purgstall. Eine der beiden Anekdoten, die wir oft von ihm hörten, handelte von diesen beiden Nasen. Ihre Träger sollten einst, auf allgemeines Verlangen, aus der Blumenausstellung entfernt worden sein. Der köstliche Duft, der in ihr herrschte, wurde von den gewaltigen Gesichtsvorsprüngen der beiden Herren gänzlich aufgesogen, und die anderen Besucher hatten sich beschwert, daß nichts davon für sie übrigbliebe.

Die zweite Anekdote handelte von Perlen und war nicht erfunden.

Der Fürstin Melanie Metternich, der Gattin des Staatskanzlers, waren aus Paris einige so vorzüglich nachgemachte Perlen zugeschickt worden, daß kein Juwelier sie von echten zu unterscheiden vermochte, natürlich ohne sie zu berühren und auf ihr Gewicht zu prüfen. Diese Gelegenheit, Fladungs Kennerschaft, die für unfehlbar galt, auf die Probe zu stellen, wurde von der Fürstin ergriffen. Sie legte drei Perlen vor ihn hin und sagte:

»Zwei davon sind falsch. Wenn Sie die echte herausfinden, gehört sie Ihnen.«

Welch eine Verheißung! Die Perle wäre jedenfalls ein beneidenswerter Besitz gewesen, aber hier handelte es sich um mehr, um etwas, das, einmal verloren, nicht wiederzugewinnen ist: den Ruf der Unfehlbarkeit. Er kämpfte, er wollte um Entschuldigung bitten. »Perlen schlagen ja doch nur auf einem weiten Umweg in mein Fach«, erklärte er uns, »gewissermaßen nur als wertvolle Schmuckgegenstände. Aber trotzdem fuhr ich fort, die drei liebevoll zu betrachten, denn sie waren entzückend schön. Und heiß ist mir geworden, und immer habe ich gedacht: Mein Ruf! mein Ruf! … Nun, ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Eine von den dreien war etwas weniger makellos in der Form, hatte etwas weniger Orient … und doch … ja, von ihr ging eine eigene Anziehung aus … Und plötzlich war mir’s klar: Die ist’s … Sie war’s, und mein Ruf war gerettet, und sie wurde mein!«

Freund Fladung war der erste überzeugte Beschützer meines schriftstellerischen Gestammels, von dem ich ihm einige Proben vorgelegt hatte. Aus eigenem Antrieb, ohne mein Wissen, sprach er mit meinen Eltern, machte sie aufmerksam, daß er Talent zur Poesie in mir entdeckt habe, und riet, es zu pflegen.

Hätten sie doch gefragt, wie sie das anfangen sollten, und mir dann seine Antwort mitgeteilt! Da wüßte ich, wie die meine in ähnlichen Fällen zu lauten hätte. Das Kind, das Talent zu einer darstellenden Kunst besitzt, schickt man in eine Schule, in der sie gelehrt wird. Für das schriftstellerisch veranlagte Kind gibt es, Gott sei Lob und Dank! noch keine in Mauern eingeschlossene, mit Lehrsälen und Professoren ausgestattete Schule. Nur das Handwerk seiner Kunst könnte ihm beigebracht werden, und dieses lernt jeder am besten allein. Bücher, die vom Erlernbaren handeln, stehen ihm in Hülle und Fülle zur Verfügung; er mag aus jedem nehmen, was ihm entspricht und was er verwenden kann. Es wird nicht viel sein. Jede Dichterindividualität, wenn sie auch nicht zu den großen gehört, hat von Natur aus ihr eigenes Gepräge und gibt es der Form, in der sie sich in oft schwerem Ringen auszugestalten sucht. Der Geist baut sich selbst sein Haus; was er von fremden Baumeistern lernen kann und soll, ist nur das Alphabet der Kunst.

So meine ich, und so habe ich allmählich ein großes Mißtrauen gegen die »Pflege eines schriftstellerischen Talentes« durch andere gefaßt, besonders durch Familienmitglieder, die selbst nicht ein paar gereimte Zeilen zusammenbrächten und das Kind, das Verse aus dem Ärmel schüttelt, für ein gottbegnadetes Wesen halten, dessen Genie aufgepäppelt werden muß.

In den hinterlassenen Memoiren meines Mannes findet sich eine völlig ungerechte Selbstanklage. »Der Vetter, der gelehrte Studien trieb«, sagt er, »wollte das geringe Wissen seiner kleinen Base, deren Phantasie goldene Brücken über den Abgrund schlug, der das Wollen vom Können trennt, bereichern und benahm sich dabei höchst albern und ungeschickt.«

Gegen diesen Ausspruch protestiere ich aus allen meinen Kräften. Der geliebte und verehrte Vetter hat das einzig Rechte getan, er hat mich den Wert der Bildung ermessen gelehrt und den heißen Wunsch in mir erweckt, die klaffenden Lücken der meinen auszugleichen. Es war die größte Förderung, die er mir angedeihen lassen konnte, und nur zu danken habe ich. Nicht nur ihm, auch allen, die meinen Bestrebungen Hindernisse in den Weg legten. Sie ahnen nicht, wie oft mein Gedanke sie segnet. Selbst daß ich mich im Kampfe um ein höchstes Gut zu manchem Irrtum und mancher Übertreibung verleiten ließ, hat schlechte Früchte nicht getragen. Die Zeit heilte und half und wandte zum Guten, was sich anfangs als verfehlt dargestellt hatte. Je härter und widerwilliger der Boden war, in dem das Bäumchen meiner Kunst Wurzel schlagen mußte, desto fester stand es, und je grausamer die Mißerfolge gewesen sind, die jeden Schritt am Beginn meiner Laufbahn bezeichnet haben, desto enger schloß sich das Bündnis zwischen mir und meinem vielbestrittenen Talent.

 

Der Sommer des Jahres 1843 war der letzte, den unsere Großmutter Vockel noch mit uns in Zdißlawitz verlebte. Meine Schwester und ich hatten uns an sie viel inniger angeschlossen seit dem Austritt Marie Kittls aus unserem Hause. Sie war – das bemerkten wir, obwohl sie nie auch nur eine Silbe darüber verlor – mit der neuen Gouvernantenwahl, die Mama getroffen hatte, nicht zufrieden. Ich fühlte deutlich, wie genau unsere Ansichten in diesem Punkte zusammentrafen, und bewahrte dabei dasselbe Schweigen wie sie. Aber die Stille des Einverständnisses zwischen der Großmutter und der Enkelin befestigte nur ihr Bündnis. Weniger Worte sind zwischen zweien, die einander lieben, wohl nie gemacht worden, und nie haben zwei sich besser verstanden. Immer mit der einen einzigen Ausnahme: weder von meinen Gedichten noch von meinen Theaterstücken durfte ich vor meiner Großmutter etwas verlauten lassen. Wohl faßte ich mir einmal ein Herz und sagte ihr:

»Weißt du, Großmama, ich schreibe noch immer«, und wartete gespannt auf den Eindruck, den mein Bekenntnis machen würde. Er schien gering zu sein und äußerte sich bloß durch ein Achselzucken und durch die mit leiser Ungeduld ausgesprochenen Worte: »Nur gescheit!«

Sie sagte das oft und in der verschiedensten Weise. Liebreich, indem sie mir mit ihren feinen Fingern über die Wangen glitt, streng, wenn sie unzufrieden mit mir war. Lob und Tadel, Aufmunterung und Warnung vermochte sie in die zwei Worte zu legen: »Nur gescheit!«

So hatte ich nun doch den abscheulichen Druck vom Herzen, den das Bewußtsein mir verursacht hatte, im stillen etwas zu tun, das sie mißbilligte.

In jenen Tagen verschlang meine Korrespondenz mit Marie Kittl den größten Teil der Zeit, die ich der Ausübung meines »schriftstellerischen Berufes« widmen konnte. Meine Briefe sind – so hoffe ich wenigstens – nicht erhalten. Die ihren befinden sich, vom ersten bis zum letzten, in meinem Besitze. Ich durchblättere sie nicht ohne Grauen. Wieviel verwegenen Unsinn muß ich vorgebracht haben, um meine geduldige Freundin in solche Angst und Bangigkeit zu versetzen! Sie legte meinem Vertrauen übergroßen Wert bei; sie wollte es durch Zurechtweisungen nicht preisgeben. Je besorgter um mein Wohl sie sich aber zeigte, desto ärger werde ich es mit meinem Geflunker getrieben und die lächerlichsten Gedanken und Gefühle an den Tag gelegt haben. Wie die Melodie auch anhob, das Ende vom Lied dürfte doch immer gewesen sein: Staune in mir ein Kind von außerordentlichen Gaben und Fähigkeiten an, das zu großen Dingen bestimmt ist. Wie aus einem Spiegel blickt dieses Wunderkind mir aus den Briefen meiner oft ratlosen Führerin entgegen. Ich sehe einen kleinen Affen, der sich vor Vergnügen darüber nicht kennt, daß seine Grimassen ernst genommen werden. Womit habe ich nicht renommiert! Mit welcher Belesenheit habe ich geprunkt, um Fräulein Marie zu dem Geständnis zu veranlassen, daß meine »Literatur« ihr Sorge mache. Welcher tollkühnen Reiterstücke habe ich mich gerühmt, um den gelinden Tadel zu erfahren: »Je vous admire dans vos exploits, mais je suis loin de les approuver.« Sie fürchtet nicht nur, daß ich mir den Hals breche beim Reiten und Kutschieren, sondern auch, daß ich durch das Führen der Zügel die Ruhe und Leichtigkeit der Hand verliere. Und wie sehr brauchte ich sie, um die Gemälde, an denen ich arbeitete, auszuführen!

Die leiseste Mißbilligung, zu der meine Freundin sich aufgerafft hat, begräbt sie sogleich wieder unter einem Blumenregen von Zärtlichkeiten und Schmeicheleien. Einem: »Ma petite Maritscherl a aussi ses défauts«, folgt sogleich ein entschuldigendes: »Les défauts de son âge.« In den Augen der Übernachsichtsvollen bin ich »une petite styliste, une jeune personne délicieuse, intelligente«, und man darf es ihr sagen, weil sie viel zu gescheit ist, um sich dadurch verwöhnen zu lassen.

Ja, dieser Ton gefiel mir, der tat wohl! Von mir aus dürfte denn auch das Mögliche geschehen sein, um mir die Bewunderung und die Teilnahme meiner gläubigen Getreuen zu sichern.

Auf Kosten der Wahrheit? – Ohne Frage. Und doch würde ich mich sehr gewundert haben, wenn mich jemand eine Lügnerin genannt hätte. Zu allem anderen bildete ich mir auch noch ein, daß mein Vater, der sich den »Ritter der Wahrheit« nannte, seine heiße Wahrheitsliebe im vollen Maße auf mich übertragen habe. Auch log ich im Grunde nicht, ich erlebte ja, während ich schrieb, alles, was meine Briefe von meiner interessanten Persönlichkeit aussagten.

In einer wundervollen Novelle erzählt Isolde Kurz die Geschichte eines Knaben, mit dem umzugehen seinen Altersgenossen verboten wird, weil er für einen Lügner gilt. Alle Kinder halten sich von ihm fern; nur ein junges Mädchen schließt sich ihm an und schenkt ihm Glauben, als er ihr verspricht, sie in ein schönes, geheimnisvolles Reich zu führen, zu dem er den Zugang entdeckt hat. Die beiden begeben sich oft auf den Weg dahin, ohne je ans Ziel zu kommen. Nach einiger Zeit trennt sie das Leben, der Knabe stirbt, und viele Jahre später steht seine ehemalige Spielgenossin an seinem Grabe. Längst entschwundene Erinnerungen leben auf, und sie sagt sich: Auf diesem Denkmal sollte stehen: Hier ruht ein Dichter.

Eine Analogie ist da zwischen diesem Knaben und dem großsprecherischen Kinde, das ich gewesen bin. Wir spiegelten den anderen vor, was unsere Phantasie uns vorgespiegelt hatte.

Von langer Dauer sollte meine erträumte Herrlichkeit aber nicht sein. Ich stand am Morgen der bittersten Tage in meiner Kinderzeit.

Ehe wir Wien verließen, hatte Freund Fladung meiner Schwester und mir seine beiden letzten Werke geschenkt. Fritzi erhielt eine kleine römische und griechische Götterlehre, ich einen Leitfaden der Astronomie. Das Büchlein war hübsch eingebunden; ich stellte es neben meinen Schiller auf den höchst einfachen Tisch, den ich mit dem Namen »mein Sekretär« dekoriert hatte, und beeilte mich, Fräulein Marie mitzuteilen, daß ich jetzt auch Astronomie studiere. Um mich vor mir selbst nicht zu sehr schämen zu müssen, schlug ich den zierlichen Band auch wirklich auf.

Was las ich da gleich auf der ersten Seite? Nicht so, wie der Katechismus es lehrte, war die Welt erschaffen worden. In Perioden von unermeßlicher Dauer erst hatte unsere Erde sich aus einem feuerflüssigen Ball, der die Sonne umflog, zu dem schönen Planeten gestaltet, den wir bewohnen. Der Katechismus irrte und auch die kleine Bibel, die wir auswendig gelernt hatten und in der es hieß: »Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, daß sie schienen auf die Erde …«

Nein, nein, dazu nicht! Die waren nicht geschaffen, damit wir uns an ihrem Anblick erquicken und erbauen. Die waren für sich selbst erschaffen und die meisten von ihnen soviel größer als die Erde, wie sie größer ist als ein Stäubchen, das im Sonnenstrahle tanzt.

Und auf diesem Stäubchen, was bin dann ich? Ein tödlicher Schmerz ergriff mich bei der Frage, auf die ein Gefühl trostloser Verlassenheit, völligen Vernichtetseins antwortete.

Kapitel 14

Kapitel 14

 

Die Tage vergingen einförmig. Lotti führte ihr stilles Leben fort. Die einzige Veränderung darin brachten die Besuche des Advokaten Schweitzer hervor. Er kam sehr oft, zu Gottfrieds großer Befriedigung. Dieser hatte für ihn eine Liebe gefaßt, kaum minder plötzlich wie die Romeos zu Julien, und äußerte dieselbe in seiner beredten Weise: »Der ja! – ja der – das ist einer!«

Der Doktor brachte Nachrichten von Halwigs. Das junge Paar befand sich auf dem Gute; die Schwiegereltern waren nach England abgesegelt. Schweitzer beschäftigte sich mit dem Ordnen ihrer Angelegenheiten. Sobald er damit fertiggeworden, wollte er eine Reise nach dem Norden unternehmen, die heißen Sommermonate in Norwegen oder gar in Island zubringen. Er sagte, seine Nerven bedürften der Stärkung.

»Ich bin nervenkrank wie alle Leute: Sie allein ausgenommen und Gottfried, und vielleicht Ihre alte Agnes.«

»Nun, ich weiß nicht«, meinte Lotti und ließ ihre Augen von ihm auf Gottfried hinübergleiten.

Mit dessen Nerven, dachte sie, stände es auch nicht zum besten. Er war so eigen, schien oft selbst nicht zu wissen, was er wollte. Mehrmals schon hatte ihm Lotti Briefe von Halwig und Agathe vorgelegt, in welchen Fräulein Feßler beschworen wurde, zu ihnen zu kommen und einige Tage bei ihnen zuzubringen.

Gottfried hatte nie etwas anderes dazu gesagt als: »Ja, sie sind sehr höflich«, und: »Wann gehst du?« Aber dies geschah, in so gepreßtem Tone, daß Lotti immer wieder statt: »Morgen«, wie sie gewollt: »Ich weiß es noch nicht«, antwortete.

Endlich kam ein so herzliches und warmes Einladungsschreiben, von den beiden Gatten unterzeichnet, daß Lotti, entschlossen, sich nicht länger bitten zu lassen, noch am selben Abend zu ihrer Dienerin sprach: »Agnes, morgen fahre ich um 8 Uhr mit dem Frühzuge fort. Wenn Gottfried vormittags nach mir fragt, sagst du ihm, ich sei bei Halwigs und käme um sechs Uhr abends zurück. Wenn er mich auf dem Bahnhof erwarten will, so wird mich das sehr freuen.«

Agnes war überaus zufrieden mit diesem Auftrage. In ihrer Einbildung schwelgte sie schon im Genusse des Erstaunens, mit dem Gottfried ihre Botschaft vernehmen, und der Fragen, die er an sie stellen werde. Sie bereitete sich sogleich auf die Künste vor, mit denen sie dasselbe noch erhöhen wollte, und schlief mit dem heißen Wunsche ein, daß ihr nur das Wetter keinen Strich durch die Rechnung machen möge.

Dieser Wunsch erfüllte sich vollständig. Der schönste Tag, welchen der junge Sommer dieses Jahres noch gespendet, brach am nächsten, einem Sonntagmorgen, an. Die herrlichste Junisonne glänzte, der reinste Himmel blaute über dem schnaubenden, dampfenden Eisenbahnzuge, der Lotti aus der Stadt entführte.

Nach zweistündiger Fahrt war sie an der kleinen Station angelangt, in deren Nähe das Gut Halwigs sich befand. Dahin, wie Lotti durch Schweitzer wußte, führte ein bequemer Feldweg, und sie hatte sich vorgenommen, die kurze Strecke zu Fuße zurückzulegen. Irrezugehen war unmöglich. Die Villa lag in dem grünen Wiesenland weithin sichtbar, wie eine Perle im offenen Schreine.

Munter begab sich Lotti auf die Wanderung. Sie fühlte sich erquickt durch die rasche Bewegung und auch ein wenig berauscht durch die ungewohnte kräftige Luft. Sie war allmählich in die gehobene Stimmung geraten, die beinahe jedes Stadtkind erfaßt, wenn es plötzlich aus seiner ummauerten in die unbegrenzte Welt versetzt wird. Die atmet Frische und Freudigkeit und teilt einem empfänglichen Gemüt schon etwas davon mit. Alles so freundlich und üppig bewachsen oder bewaldet, die Weiden, die Auen und der Gürtel von wellenförmigen Hügeln, der die liebliche Gegend umschloß. Das Schönste aber, das war die gewaltige Bergkette im fernen Hintergrund. Kaum zu unterscheiden von den Wolkengebilden am Horizont lag sie in silberner Dämmerung wie ein Wunder da, und wie ein Wunder schien von ihr ein sehnsuchtweckender Zauber auszugehen. Lotti näherte sich der Villa. Zwei Fahnen wehten von ihren schlanken Türmchen und verkündeten, daß Herr und Frau vom Hause anwesend seien. Der Weg führte an der Umzäunung des Gartens, einem feinen Drahtgitter auf niederem Mauersockel, vorbei. Lotti schritt denselben entlang und kam bei dem geöffneten Tor zugleich mit einem Reiter an, der sich vom Hause her genähert hatte. Dieser, ein kleines, dürres Männchen, hielt seinen langhalsigen Braunen, welcher schnob, als ob er Feuer geschluckt hätte, ein wenig an, um Lotti eintreten zu lassen. Ohne die Kappe zu rücken, aber mit gutmütiger Herablassung beantwortete er die Fragen der Fremden. Die »Herrschaften« waren ins nächste Dorf zur Kirche gegangen und dürften in einer Stunde zurückkehren. Länger bleiben sie schwerlich fort, denn um zwölf Uhr wird gefrühstückt.

Eine Stunde warten also! – das ist im Grunde so schlimm nicht. Man kann die Zeit benützen, um den Garten anzusehen, und nebenbei um ein wenig auszuruhen.

Von dem breiten Kieswege der Avenue lenkte Lotti in einen schmaleren ein. Kein Mensch war sichtbar, soweit sie blickte, ringsumher herrschte die echte, ländliche Sonntagseinsamkeit. Lotti kam an einem herrlichen Tulpenbaum vorüber und betrat einen Fichtenhain, dessen kühler Schatten sie lockte. Unter den Bäumen stand eine eiserne Bank, auf diese ließ sie sich nieder.

Es ist doch ein gutes Ding, das Land! dachte sie und atmete tief und sah sich mit Entzücken in ihrer stillen Raststätte um. Die Fichten waren der unteren Äste schon beraubt, aber junger Nachwuchs bildete von außen einen Halbkreis um den Hain, exotische Topfpflanzen füllten die kahlen Stellen zwischen den Stämmen der alten Bäume. Zarte, südländische Palmen, Ficus, Daphnen, Begonien ließen sich’s wohl sein im Schutze der nordischen Riesen. Die Königin der Araucarien, die Excelsia, breitete ihre farrenkrautähnlichen Zweige in majestätischer Anmut aus. Harzgeruch erfüllte die Luft, die Vögel sangen, im Grase schwirrte und summte es. Mit reichgefülltem Gurt kehrten emsige Bienen vom Besuche der blühenden Sommerlinden heim. Alles eifrig, alles beschäftigt, alles, was da schwebte, flog und kroch, sich selber so wichtig und so kühn in seiner Schwäche, so unverdrossen in der Ausübung seiner kleinen Kräfte.

Lotti schaute und lauschte und gab sich völlig dem Gefühl der süßesten Ruhe hin. Still genoß sie die köstliche Stunde, dieses bewegte, rastlose und doch so friedvolle Leben und Weben um sie her … halb unbewußt, gedankenlos … da plötzlich erklang aus der Ferne das Geläute eines Glöckleins.

Zwölf Uhr. – In zwei Stunden muß sie fort, Gottfried erwartet sie, und das darf nicht umsonst geschehen. Er hat eine herbe Enttäuschung gehabt, als er kam und sie nicht zu Hause traf. Er wird die Zeit sehr lang finden und sich gewiß mit der Vorstellung quälen, daß sie nicht kommt. Aber sie wird kommen! und wenn sie scheiden müßte, ohne diejenigen gesehen zu haben, denen zuliebe sie eine Art von Flucht unternommen hat. Diese sind übrigens vielleicht schon längst von ihrem Kirchgang zurück, warum bildet Lotti sich denn ein, daß sie gerade hier vorüberkommen müssen? Sie erhob sich, um den Hain zu verlassen, und im selben Augenblick vernahm sie das Gleiten langsamer Schritte über den Kies und sah ein weißes Kleid durch die Zweige der kleinen Bäume schimmern.

Halwig und Agathe näherten sich, schon waren ihre Stimmen deutlich zu unterscheiden. Lotti eilte ihnen entgegen, war aber noch nicht auf dem Wege angelangt, als sie zögernd stehenblieb.

Die beiden Menschen, die da einherwandelten, boten den seltensten Anblick, der auf Erden zu finden ist: den des vollkommenen Glückes. Sie hielten einander umschlungen. Sein Kopf war leicht geneigt, der ihre leicht erhoben, sie sahen einander in die Augen und flüsterten sich lächelnd und leise einzelne Worte zu. Sie schienen sich in Ausdrücken der Zärtlichkeit überbieten zu wollen, allein ihr Wetteifer hatte nichts Unruhiges, nichts Stürmisches. In diesem Kampf zu siegen oder zu unterliegen mußte gleich süß sein. Da war kein Ringen, kein Sehnen, kein banger Zweifel, da war Erfüllung mit ihrem himmlischen Frieden.

Sie kamen näher, ganz nah. Lotti meinte, von ihnen bemerkt worden zu sein … doch irrte sie. Hermann und Agathe gingen vorbei, jedes blind für alles, was nicht das andere war, jedes dem andern eine ganze Welt. Nun waren sie am Ende des Weges angelangt, schritten über den Vorplan – verschwanden im Hause.

Lotti folgte ihnen nicht.

Was soll ich bei euch, dachte sie, ihr braucht keinen Dritten.

Einige Zeit verweilte sie noch, sinnend und träumend, in dem Haine, der ihr zuerst eine traute Gastfreundschaft und später, ohne daß sie es gewollt und gesucht, ein sicheres Versteck geboten hatte, dann trat sie ruhig den Rückweg an.

Die Hitze war drückend geworden. Lotti schlich mehr, als sie ging, sie hatte ja keine Eile; kam immer noch zu dem ausbündigen Vergnügen zurecht, ein paar Stunden lang vor dem Stationshäuschen auf und ab zu wandeln. Weit und breit kein Schatten, nur Wiesen und Felder. Nichts als schon in ziemlicher Nähe der Station, neben dem Grenzpfahl des Halwigschen Besitzes, ein steinernes Kreuz, von vier jungen Pappeln umgeben. Dort ließ sich ebenfalls ein wenig rasten, aber nicht im Schatten: davon war nicht die Rede, die Sonne stand ja noch im Scheitel. Gleichviel. Eine Landstreicherin, wie Lotti nachgerade geworden, dankt Gott auch für die Wohltat, auf steinerne Stufen gelagert, die Zeit, deren sie zuviel hat, an sich vorüberziehen zu lassen.

Sie trat an das Kreuz heran und bemerkte bald, daß sie keinen besseren Punkt hätte finden können, um Villa Halwig noch einmal recht nach Herzenslust zu betrachten. Das tat sie lange, und das innigste Gebet für die Erhaltung fremden Glückes, das einer Menschenbrust entsteigen kann, wurde zu Füßen des steinernen Kreuzes gesprochen.

Sodann setzte Lotti ihren Weg fort.

Sie begann ihre ganze Ausfahrt höchst drollig zu finden. Die Einladungen Halwigs und Agathens hatten sie mit dem Gefühl einer Verpflichtung belastet, dem sie gemeint durchaus genugtun zu müssen. So hatte sie sich denn aufgemacht, war gekommen und hatte, statt der sehnsüchtig ihrer wartenden Freunde, ein Liebespärchen gefunden, das verspätete Honigwochen beging und dem man keinen größeren Gefallen erzeigen konnte, als es allein zu lassen.

Sie kam sich ein wenig lächerlich vor, die gute Lotti, aber was schadet das einer so anspruchslosen Persönlichkeit wie ihr? – Nicht das geringste; und sie lachte im stillen und fühlte sich seelenvergnügt, obwohl von einem gewissen Unbehagen ergriffen, das – ein klägliches Ende ihrer poetischen Pilgerfahrt – durch ganz prosaischen Hunger hervorgerufen wurde.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Ihre Absicht war, an der Tür des Stationshäuschens zu pochen und von seinen Einwohnern für Geld und gute Worte eine kleine Stärkung zu erlangen.

Das Pochen blieb ihr erspart. Die Frau des Bahnwächters, ein stämmiges, dunkeläugiges Weib, stand am Zaun ihres kleinen Gartens und nahm hier das Ersuchen der Fremden entgegen. Ihr Benehmen war anfangs nicht sehr ermutigend für den hergelaufenen Gast, wurde aber bald so zutraulich, daß Lotti sich fragte, ob dieses leutselige Wesen etwa der Freimaurerei, die nach Schweitzers Meinung zwischen ehrlichen Leuten besteht, zuzuschreiben sei.

Eine Stunde später saß sie so gemütlich, als ob sie zur Familie gehörte, in der Bahnwächterstube. Der Mann rauchte ihr gegenüber seinen schlechten Tabak aus einer hölzernen Pfeife, das Weib, an einer groben Jacke flickend, hatte neben ihr Platz genommen auf der Bank und der pausbäckige Sprößling des Ehepaares sich’s auf Lottis Schöße bequem gemacht. Sie fand, er habe Ähnlichkeit mit einem ihrer Horatier, und das hatte sie sofort für ihn gewonnen.

Die Frau war bereits mit der Erzählung ihrer ganzen Lebensgeschichte fertiggeworden und schien nicht übel Lust zu haben, wieder von vorn anzufangen. Einleitende Betrachtungen wurden schon vorausgeschickt.

Ja, sie stand in ihrem zweiundvierzigsten Jahre, und ihr Bub hatte kürzlich erst sein drittes erreicht.

»Arme Leut kommen halt spät zum Heiraten. Auch darin, auch in so einer Sach haben’s die Reichen besser.«

Da erhob sich der Mann, der Schnellzug mußte bald auf die Strecke kommen, in einigen Minuten wurde es Zeit, den Signalflügel aufzuziehen.

Nachdem er die Stube verlassen hatte – er war ein alter Mensch und sah recht mürrisch aus – begann seine Gattin, ihn zu loben. »Er« war brav. »Er« war allgemein geachtet. Wunder wie viele Unglücksfälle hatte »er« durch seine Wachsamkeit verhütet. Sein Bub gerät ihm nach, ist wirklich schon jetzt der ganze Vater. Sie zog den Jungen an sich, gab ihm einen schallenden Kuß und fuhr mit allen fünf Fingern durch seinen zerzausten Schöpf. Ein rührender Ausdruck von Zärtlichkeit milderte und verschönerte die harten Züge ihres sonnverbrannten Gesichts, während sie ihrem Kinde diese derben Liebkosungen erteilte.

»Heute ist ein rechter Sonntag«, sagte Lotti zu ihr, »heute habe ich zwei glückliche Ehepaare gesehen.«

Die Frau blickte sie befremdet an.

»Und Sie?… Sind doch auch glücklich?«

»Ich bin auch glücklich.«

»So? und –« sie neigte den Kopf mit neugieriger Vertraulichkeit, »und was ist denn Ihr Herr?«

»Ich habe keinen; ich bin eine alte Jungfer.«

»So?… eine alte Jungfer«, wiederholte die Frau, sichtlich erkaltet und enttäuscht. Und als der Mann nun ans Fenster klopfte, um der Reisenden zu bedeuten, daß es Zeit war aufzubrechen, stach der gleichgültige Abschied, den die Wirtin von ihrem Gaste nahm, von deren früherer Freundlichkeit merklich ab. Sie hätte sich nicht anders benehmen können, wenn sie mit einem Male von Reue ergriffen worden wäre über ein übel angebrachtes Vertrauen.

Lächelnd über den Mißkredit, in welchen sie plötzlich bei ihrer neuen Freundin geraten, stieg Lotti in den Waggon.

Nur noch ein Platz war in demselben frei, und sie nahm ihn ein, zum offenbaren Verdruß einer geschlossenen Gesellschaft, die das Coupé besetzt hatte. Diese, ein übermütiges Völkchen, ließ sich, nachdem ihr erster Unwillen über den Eindringling verraucht war, in ihrer Unterhaltung nicht stören. Lotti verbrachte zwei unangenehme Stunden in dem lauten und lustigen Kreise. Ein Gefühl der Vereinsamung ergriff sie, das wegzuspotten sie sich vergeblich bemühte.

Endlich brauste die Lokomotive in den Bahnhof, und das erste, was Lotti erblickte, war Gottfrieds lange Gestalt. Er stand an die Mauer gelehnt – ein Bild der Hoffnungslosigkeit – starrte die Leute an, die dem Zuge entstiegen, und: Sie kommt nicht! Sie kommt nicht! klagte es in seinem Herzen.

Aber nun fuhr er zusammen … Sie war da – ihre Hand lag auf seinem Arme.

»Das hätt ich nicht gedacht … daß sie dich fortlassen … daß du ihnen widerstehen kannst.«

Wie ein Verzückter blickte er sie an. »Ich hab einen Wagen.«

Nein, für den dankte sie; sie war froh, dem Waggon entronnen zu sein, wollte zu Fuß mit Gottfried nach Hause gehen und ihm unterwegs ihre Erlebnisse erzählen.

Also geschah es. Er hörte ihr mit äußerster Spannung zu und ging schweigend neben ihr her. Erst als sie von der Empfindung der Überflüssigkeit sprach, von der sie beim Anblick Halwigs und seiner Frau überkommen worden, bot er ihr plötzlich seinen Arm und drückte den ihren fest an sich.

»Hier bedarf man deiner«, sagte er. »Du warst dir dort zuviel, ich – war mir hier zuwenig.«

Die letzten Worte sollten in scherzhaftem Tone gesprochen sein, kamen aber sehr wehmütig heraus.

»Und was hast du getan den ganzen langen Tag?« fragte Lotti.

Gottfried räusperte sich: »Hm – gewartet.«

»Sonst nichts?«

»Oh, es war genug! Ich weiß keine schwerere Arbeit.«

Er ergriff ihre Hand, und sie wurde ihm nicht entzogen; darüber geriet er in eine Begeisterung, die zu schildern keine noch so hinreißende Beredsamkeit imstande gewesen wäre. Die seine beschränkte sich auf den leisen Ausruf: »Liebe Lotti!«

Der Druck seiner Hand wurde erwidert, und »Guter Gottfried!« sprach sie, die er im Herzen trug von seiner Jugend und von ihrer Kindheit an.

Ein Schauer der Wonne durchrieselte ihn. Wär’s denkbar? Wär’s möglich?… Sollte er am Ende doch noch das Ziel und den Inbegriff aller seiner Wünsche erreichen?…

Ja, ja, antworteten die milden Augen, in die er fragend blickte, und der Mund, den er liebte, sprach: »Guter Gottfried, nicht erst seit heute weiß ich, daß du mir das Liebste auf der Welt bist.«

Da hätte er beinahe laut aufgejauchzt. Es war ein Glück, daß sie vor Lottis Hause angelangt waren. Getreulich und jahrelang hatte er das Geheimnis seiner tiefsten Sehnsucht in sich verschlossen, der Jubel wollte ihm die Brust zersprengen. Ein seliger Mann, faßte er seine Braut in seine Arme, und sie mußte abwehren, sonst hätte er sie wahrhaftig die Treppe hinaufgetragen. Oben angelangt, stürmte er derart an der Glocke, daß Agnes in voller Empörung herbeieilte: »Wie kann man so anreißen?« rief die Alte.

»Ihretwegen, Agnes!« antwortete er, »ich kann es nicht erwarten, Ihnen zu sagen – Sie sind die erste, die’s erfährt … Sehen Sie uns an! Wir sind Brautleute!«

 

In aller Stille wurde einige Wochen später der Bund geschlossen, der Gottfried und Lotti für immer vereinigte. Mitten im lärmenden Treiben der Stadt spann sich ihr Dasein im seligen Frieden ab. Eine kaum noch erhoffte Erhöhung ihres Glückes wurde ihnen zuteil, als nach zwei Jahren, an einem Spätsommerabend, ein kleiner Johannes Feßler gerade in dem Augenblick das Licht der Welt begrüßte, in welchem draußen die Sonne wunderbar schön unterging und im Zimmer die goldene Spieluhr, zum siebenzehnten Male an dem Tage, ihr Schäferliedchen anstimmte.

Seltsam ergriff es die Eheleute, als sie später erfuhren, daß es auch derselbe Tag gewesen, an dem Villa Halwig neuerdings ihren Besitzer gewechselt. Das Reich Hermanns hatte kurze Dauer gehabt. Er und Agathe waren bald aus dem süßen Hindämmern erwacht, in das die Befreiung von ihren Sorgen sie versetzt hatte. Sie, gewöhnt an das rege Treiben ihres großen Familienkreises auf dem Lande, begann sich zu langweilen allein mit ihrem Manne. Und auch ihm verlangte, und vielleicht noch heißer, nach Zerstreuung. Er wollte die Sehnsucht betäuben, die ihn in seiner Ruhe, seinem Behagen störte, die ihn bis in die Arme des geliebten Weibes verfolgte, die Sehnsucht nach den Qualen und Wonnen seiner Lohnschreibernächte, nach dem Fieber, das ihn durchraste, wenn er seine Romanfiguren schuf, sie leiden, sündigen, in Blut und in Schlamm waten ließ, und den Zauber erfuhr, mit dem sie ihn umstrickten. Dazu die hastende Eile, in welcher ihr Schicksal gewoben und ihr Verhängnis erfüllt werden mußte; die Angst vor dem Mißlingen, und dann wieder die Glückseligkeit, wenn das Unerwartete geschah, wenn die Gestalten, die ihm unter der Hand lebendig geworden, zuletzt durch eigene Kraft einen Abschluß herbeiführten, kühner als er ihn geahnt hatte. Halwig erfuhr, daß wer solche Aufregungen kennengelernt, sie nicht mehr missen kann und nach ihnen zurückverlangt, und wär’s aus dem Himmel. So sandte er dem schwindenden, mit Hilfe Agathens und ihrer Brüder rasch aufgezehrten Wohlstand kaum einen Gedanken des Bedauerns nach. Zur Zeit, in welcher das Gut verkauft werden mußte, machte die Gesundheit Agathens einen Aufenthalt an der See notwendig. Hermann ließ sie allein zu ihren Eltern ziehen und kehrte zu den seligen Bitternissen seiner Schriftstellerei zurück. Die Früchte, die sie lieferte, wurden noch immer in gewissen Leserkreisen verschlungen, dem Advokaten Schweitzer jedoch sagten sie nicht zu, und er sprach einmal zu Lotti: »Ich mache mir Vorwürfe. Das Opfer, zu dem ich Sie verleitet habe, war umsonst gebracht.«

Aber Lotti erwiderte: »Nicht umsonst.«

Ihr Mann blickte sie lächelnd an: »Ohne meine Entrüstung über dieses Opfer«, sagte er, »wüßte sie vielleicht heute noch nicht, daß der Gottfried auch einmal etwas für sich wollen konnte.«

Kapitel 4

Kapitel 4

 

»Eine Überraschung?« wiederholte Lotti mit einem Anfluge von Sorge, »wenn ich Überraschungen nur zu schätzen wüßte.«

»Diese wird dir gefallen«, entgegnete Gottfried. »Ich habe einen Laden gemietet und bereits eingerichtet.«

Lotti schlug die Hände zusammen und konnte vor Staunen nur die Worte herausbringen: »Aber nein!… Aber wo?«

Nun, nirgends anders als gleich nebenan in der breiten belebten Straße, die zum Domplatze führt. Ein allerliebster kleiner Laden, an dessen Ausschmückung seit acht Tagen eifrigst gearbeitet wurde, der ein schönes Fenster bekommen hatte aus einem Stück tauklaren Glases und eine geschmackvolle Vitrine mit feiner Einfassung aus Ebenholz. In dieser lagen seit gestern eine Kalenderuhr von Audemars und ein Chronometer von Dent inmitten anderer Uhren aus den vornehmsten Häusern.

Lotti war bewundernd vor ihnen stehengeblieben, aber heute erfüllte deren Kostbarkeit sie mit Schrecken. »Ein solcher Wert!« meinte sie, »ein so großes Kapital!« Es schien ihr fast zu kühn, daß Gottfried die Bürgschaft dafür übernommen hatte.

Er jedoch war durchdrungen von Ruhe und Zuversicht.

Seit langer Zeit hatte er seine Vorbereitungen getroffen. Der Meister, der ihn beschäftigte, die Freunde, die er sich noch während seiner Lehrzeit erworben, unterstützten und förderten ihn dabei auf das kräftigste. Als ob es sich an ihm erproben sollte, daß nicht bloß diejenigen Vertrauen erringen, die es nicht wert sind, sondern manchmal doch auch einer, der es verdient, fand er allenthalben bereitwilliges Entgegenkommen. Es wurden ihm so billige und günstige Bedingungen gemacht, daß er, um in seinem Geschäfte zu bestehen, keineswegs auf ein besonderes Glück zu rechnen, sondern nur auf das Ausbleiben eines raffinierten Unglücks zu hoffen brauchte.

Das setzte er Lotti auseinander, die ihm aufmerksam und immer freudiger zuhörte und endlich meinte, in der ganzen Geschichte gäbe es zwei verwunderliche Dinge; erstens, daß er sich zu dem jetzt gefaßten Entschluß solange nicht gebracht, und zweitens, daß er sich doch dazu gebracht. Was sie von der Sache halte, wisse er; hatte sie ihn nicht schon vor Jahren beschworen, sich auf eigene Füße zu stellen?

Gottfried erwiderte, seine Pedanterie sei schuld, daß es nicht früher geschehen. Er hatte sich’s einmal vorgesetzt, sein Geschäft nicht anzufangen, wenn er dazu auch nur einen Heller fremden Geldes brauchen würde. Um jedoch alles aus Eigenem bestreiten zu können, dazu habe es eben viel Zeit gebraucht.

»Und gut angewandte, das weiß Gott«, meinte Lotti. »Heil dir, daß du gleich so stattlich ausrücken kannst an der Spitze von Dents und Audemars’…«

»Die beide schon halb und halb verkauft sind«, fiel er ihr ins Wort.

»Gottfried, du machst mich übermütig! Einen Wunsch hast du mir erfüllt, der schon vor Altersschwäche erloschen war – jetzt wird ein zweiter, dem es ähnlich ergangen, lebendig. Du mußt heiraten, Gottfried.«

Er richtete seine kleinen, glänzenden braunen Augen fest auf sie und sprach ganz unternehmend: »Warum nicht?«

»Das sag ich ja«, rief Lotti, »warum nicht? Warum solltest du die brave Frau nicht finden, die du verdienst? Nur suchen heißt es, nur sich ein wenig bemühen, nur nicht, wie du es bisher getan hast, jeder Gelegenheit aus dem Wege gehen, mit einem jungen Mädchen zusammenzukommen, das vielleicht denken könnte: Dieser Gottfried Feßler wäre kein übler Mann für mich.«

Er lachte. »Ein junges Mädchen denkt das nicht.«

»Ich meine auch kein sechzehnjähriges.«

Lotti hatte sich an den Arbeitstisch begeben und begann die reparierten Uhrwerke in ihre Gehäuse einzusetzen.

Gottfried stand am Fenster und sah ihr zu. »Wann wird die Bestellung abgeliefert werden?« fragte er nach einer kleinen Weile.

»Kann morgen geschehen.«

»Tu es selbst, ich bitte dich, und nimm zugleich Abschied von dem Meister. Du darfst für ihn nicht mehr arbeiten.«

Lotti blickte ein wenig betroffen empor. »Abschied nehmen – das wäre schon gut, aber – so plötzlich, so ohne weiteres? Ich bin ihm Dank schuldig, er hat immer Rücksicht auf mich genommen, mich nie ohne Arbeit gelassen, immer gut und rasch bezahlt.«

»Rasch ja, gut – nein. Mache dir keine Sorgen. Ich habe den Herrn bereits darauf vorbereitet, daß er jetzt seine beste Arbeiterin verliert. Wie leid ihm ist, mag Gott wissen, aber begreiflich muß er’s finden, daß du dich von nun an für niemanden mehr plagen wirst als für mich, was soviel heißt als für dich selbst, denn – nicht wahr?…« Er war plötzlich in heiße Verlegenheit geraten und stockte. »Oh«, nahm er bald wieder das Wort, »da hätte ich beinahe vergessen! Der Herr bittet dich nur noch um einen letzten Freundschaftsdienst. Du möchtest so gut sein, diese Uhr anzusehen. Ist sehr fein, sagte er, hat dein Lieblingsechappement.«

»Duplex also.«

»Jawohl. Er weiß gerade keinen Arbeiter, dem er sich getraut, sie in die Hand zu geben. Überdies hat’s Eile. Morgen abend möchte er sie wiederhaben.«

Gottfried stellte ein hölzernes, mit Messing eingelegtes Kästchen vor Lotti hin. Die wandte demselben den Blick eines teilnehmenden Arztes für einen Patienten zu und fragte: »Was fehlt denn?«

»Weiß nicht«, erwiderte Gottfried, »aber ich glaube, nicht viel. Der Herr hat mir eine lange Geschichte erzählt, er hat die Uhr von einem, der sie aus Leichtsinn oder aus Not losschlug, um ein Spottgeld. Will sie jetzt sehr teuer verkaufen, deshalb sollst du die Herstellung besorgen. Er schwatzte ein langes und breites, ich habe nicht zugehört. Es wäre auch überflüssig gewesen, nachdem ich wußte, was mich dabei anging.«

Lotti, die das Kästchen nicht mehr aus den Augen gelassen, hatte es geöffnet und dann auch – mit seltsamer Spannung und Hast – die Uhr, welche darin gelegen. Unverwandt starrte sie den Namen F. Alexi & Sandoz frères auf der Küvette und die Zahl an, die darunterstand.

»Verkauft – wie sagtest du? – aus Leichtsinn oder aus Not«, sprach sie gepreßten Tones.

»Freilich, freilich«, versetzte er, lehnte sich tiefer in das Fenster zurück, sah auf den Boden nieder und schien ernstlich und scharf nachzudenken. »Du wirst mich doch heute im Geschäft besuchen!« rief er plötzlich aus.

Lotti nickte bejahend; sie hatte bereits begonnen, die Uhr zu zerlegen.

»Das Schild ist noch nicht aufgemacht«, fuhr Gottfried langsam und zögernd fort, »aber fertig ist es schon. Es wird nicht aufgemacht, bevor du die Erlaubnis dazu gibst.« Er hielt inne, er wartete, aber vergeblich. Lotti schwieg, und so hub er denn nach abermaliger Pause von neuem an: »Denk nur, welche Freiheit ich mir genommen – denk nur – ich habe auf das Schild schreiben lassen … wie gesagt, oder nicht gesagt, auf jeden Fall, wie selbstverständlich – es kann geändert werden, wenn du es wünschest …«

Jetzt erst wagte er es wieder, sie anzusehen. Sie war ganz versunken in ihre Arbeit – eine unbegreiflich schwere Arbeit für sie, die Meisterin! Ihre sonst so sichere Hand zitterte, ihr Gesicht war hochgerötet, eine mühsam unterdrückte Erregung gab sich in ihrem ganzen Wesen kund.

Was ist ihr denn? dachte Gottfried. – Ahnt sie, was er ihr zu sagen hat, und versetzt sie das in eine Befangenheit, die aussieht wie Bestürzung? Wär’s doch so! dann nimmt sie wenigstens die Sache ernst, und er braucht nicht zu fürchten, mit einem Scherze heimgeschickt zu werden, das Ärgste, was ihm geschehen könnte, dem alten Menschen. Ihre sichtbare Unruhe befreit ihn von dieser Sorge und zugleich von aller Ängstlichkeit. Er atmet auf und spricht mit einem gewissen unbeholfenen Humor, dabei aber höchst bedeutsam und nachdrücklich: »Es wäre schade, wenn an dem Schilde etwas geändert werden müßte; es ist sehr hübsch ausgefallen … Macht sich wirklich gut, auf glänzend schwarzem Grund, das G. & L. Feßler … G. und L …. Gottfried und Lotti …«

Ihre Stirn glühte, ihre Wangen brannten, sie beugte sich tiefer über ihre Arbeit und wiederholte mechanisch und ausdruckslos: »Gottfried und Lotti?«

Nein! Ihre Gedanken waren nicht bei ihm. In der Weise hätte sie ebensogut fremde Namen ausgesprochen. Die Worte, die sie vernommen, waren an ihr Ohr gedrungen, die schüchterne, inständig bittende Frage, die in ihnen lag, nicht an ihr Herz …

Jetzt trat von allen Pausen, die während dieses Gespräches gemacht wurden, die längste ein. Still war’s im Zimmer, nichts hörbar als das Ticken der vielen Uhren und endlich ein tiefer, tiefer Seufzer aus Gottfrieds Brust.

Lotti erhob den Blick und sah trotz des feuchten Schleiers, der sich vor ihre Augen gelegt hatte, den Ausdruck leidvoller Enttäuschung in seinen Zügen.

»Was ist dir, Gottfried?« sprach sie.

»Du hörst mich nicht an«, entgegnete er unmutig.

Sie nahm sich mit Gewalt zusammen: »Doch, ich habe alles gehört.«

»Hast du? Wirklich? und – hast nichts einzuwenden?… Es ist dir recht – du weißt …«

»Es ist mir recht, gewiß. Aber wenn du, Lieber, auf dein Schild auch nur G. Feßler hättest schreiben lassen, für uns hätte es dennoch und immer ›Geschwister Feßler‹ bedeutet.«

»Geschwister – so? – – ja, Geschwister«, murmelte er und zögerte, die Hand anzunehmen, die Lotti ihm reichte. Allein er ergriff sie doch und drückte sie fest und treuherzig, als Lotti sagte: »Es versteht sich ja von selbst, daß wir zwei nach wie vor treu zusammenhalten.«

»Das Schild wird also aufgemacht«, sprach er, mit einem herzhaften Versuch, vergnügt zu scheinen. »Komm es bewundern, komm bald!«

Er nahm seinen Hut und verließ das Zimmer.

Lotti war wieder allein und setzte ihre einen Augenblick unterbrochene Beschäftigung emsig fort. Sie hatte an der Uhr, die Gottfried mitgebracht, alle Brücken abgeschraubt, alle Räder ausgehoben, bis auf das Minutenrad. Das haftete noch, festgehalten vom Viertelrohr. Aber auch dieses muß nun weichen, das letzte Rad liegt bei seinen Kameraden, und Lotti hat gefunden, was sie suchte, was sie zu finden gewiß war. Ihren eigenen Namenszug und das Datum des 12. Mai, mit fast unsichtbar kleiner Schrift in die Bodenplatte eingeritzt und verborgen durch die Zähne des Rohres.

Am 12. Mai, an dem Tage, der sich heute zum fünfzehnten Male jährte, hatte sie diese Zeichen da hineingeschrieben und diese Uhr ihrem Verlobten geschenkt und dabei gesagt: »Sie kann uns gute, sie kann uns traurige Stunden anzeigen, aber keine, in der unsere Treue gewankt.«

So vermessene Behauptungen wagt die Jugend aufzustellen, solche Schwüre schwört die kindische Liebe, die, kaum erwacht, auch schon die Kraft in sich fühlt, ewig zu leben. Torheit ohnegleichen! Ebensogut könnte die Rose schwören, daß sie niemals welken wird, denkt Lotti, und halb erloschene Erinnerungen tauchen in ihrer Seele auf. Bleiche Schatten ringen sich los aus der Nacht der Vergessenheit und gewinnen allmählich Farbe und Gestalt. Sie ziehen langsam vorüber, mächtig genug, um noch eine leise Wehmut, nicht mehr mächtig, einen Schmerz zu erwecken. Sie gleichen dem Gedanken an einen dunkeln, peinvollen Traum, aus dem der Schläfer zum Licht und zum Frieden erwacht.

Kapitel 5

Kapitel 5

 

Vor fünfzehn Jahren, an einem Winternachmittage, war ein junger Mann in der Werkstätte Feßlers erschienen und hatte ihm eine alte Uhr gebracht, mit der Bitte, sie zu schätzen. Während Feßler die Uhr betrachtete, betrachtete der junge Mann ihn so aufmerksam, wie ein Maler tut, der sich das Bild eines Menschen, den er aus dem Gedächtnis malen soll, einzuprägen sucht.

»Dies ist«, sprach Feßler, nachdem er seine lange und sorgfältige Untersuchung beendet hatte, »ein kostbares Stück.« Er rief seine Tochter herbei, um auch ihre Meinung zu hören.

»Wie?« sprach der Fremde ein wenig spöttisch und sehr erstaunt, »sind Sie Kennerin, mein Fräulein?«

Lotti fühlte den Blick auf sich ruhen, mit dem fast alle jungen Männer, denen sie zum ersten Male begegnete, sie ansahen; den Blick, der deutlich fragt: Was willst du in der Welt? und an den ein nicht hübsches Mädchen sich gewöhnen muß.

Sie nahm die Uhr aus der Hand ihres Vaters und erkannte in derselben sogleich einen Taschenchronometer von Emmery mit Mudgescher Hemmung.

Der Fremde lachte herzlich auf, als sie das sagte.

»Ist’s richtig, Herr Feßler?«

»Ganz richtig«, erwiderte dieser, unangenehm berührt von dem über Gebühr zutraulichen Wesen des jungen Mannes, der, an die Seite Lottis tretend, in seinem früheren Tone fortfuhr: »Sie können mir vielleicht auch sagen, was diese Uhr wert ist?«

Lotti schüttelte den Kopf. »Was sie jetzt wert ist, kann ich nicht sagen; als sie neu war, sind gewiß nicht weniger als 150 Guineen für sie bezahlt worden.«

»Als sie neu war? Und wann mag das gewesen sein?«

»Vor siebzig Jahren etwa.«

»Ich bewundere Sie!« rief der junge Mann äußerst belustigt; »das alles erkennen Sie so auf den ersten Blick?… Jetzt aber die letzte, wichtigste Frage: Wieviel ist sie heute, wieviel ist sie Ihnen wert?« fügte er zu Feßler gewendet hinzu.

»Sie wäre mir sehr viel wert, wenn ich nicht schon eine ganz ähnliche besäße«, entgegnete dieser.

»Ah! in Ihrer Sammlung?… Wenn Sie doch wüßten, Herr Feßler, wieviel Gutes und Schönes ich schon von ihr gehört habe … von dieser Sammlung, und wie glücklich ich wäre, sie kennenzulernen … Wenn Sie das wüßten – Sie würden mir den elenden Vorwand verzeihen, den ich gebraucht habe, um mich bei Ihnen einzuschleichen.«

Er legte eine gründliche Beichte ab.

Er hieß Hermann von Halwig, war ein kleiner Beamter und nebenbei ein ganz kleiner Poet und arbeitete eben an einer Novelle, in welcher eine alte Uhr eine große Rolle zu spielen hatte. Die mußte geschildert werden, und um das zu können, brauchte er ein Modell, brauchte er vor allem einige fachmännische Kenntnis.

»Nehmen Sie mich ein wenig in die Lehre, bester Meister«, schloß er, »würdigen Sie mich eines Einblicks in Ihre Sammlung – Ihr Heiligtum, wie ich höre. – Daß ich ein ausgezeichneter Schüler sein werde, das verspreche ich nicht, aber ein dankbarer bin ich gewiß!«

Feßler sah den hübschen blonden Gesellen ein Weilchen nachdenklich an. Ihm gefielen seine fröhlichen blauen Augen und die sorglose Sicherheit, das muntere Selbstvertrauen, mit denen er sich auf die Reise durchs Leben zu begeben schien. Schweigend holte der alte Mann einige schöne Exemplare aus der Sammlung herbei und begann die Eigentümlichkeiten und Vorzüge derselben mit der Wärme eines Liebhabers auseinanderzusetzen.

Halwig unterbrach ihn anfangs sehr oft; er konnte die Scherze nicht unterdrücken, die ihm alle Augenblicke auf die Lippen traten. Allmählich jedoch wurde er still. Das herablassende und oberflächliche Interesse, das er für einige »Favoritinnen aus dem Uhrenharem« gezeigt, verwandelte sich in ein gespanntes. Den Kopf in die Hand gestützt, sah er bald die Uhren auf dem Tische, bald den Meister, zuletzt nur noch diesen an, und dabei erhellte der Ausdruck einer so innigen Freude und Verehrung seine Züge, daß Feßler dachte: Dem Burschen könnt ich gut sein – trotz des Leichtsinns, mit dem er vorgab, eine Emmery verkaufen zu wollen.

Der Bursche aber richtete sich plötzlich auf. »Was für Augen haben Sie!« rief er, »was Ihnen ein Rädchen, eine Spindel, ein Ornament, ein Stückchen Email nicht alles erzählen! Was für Augen und was für ein Herz … Sie sind ein Künstler!…«

Er deutete nach dem Schranke, dem Feßler die Uhren entnommen. »Das Kästchen dort ist für Sie, was für einen Poeten ein Schrein voll der köstlichsten Werke großer Dichter, die vor ihm gelebt. Eine schweigende, tote Welt, die ein Blick zum Dasein erweckt, zu einem mächtigern, schönern Dasein als das sogenannte wirkliche … Ein Blick – ein sehender, der Blick des Verständnisses muß es sein … Nicht wahr, lieber Meister? – Verständnis ist alles – Weisheit, Liebe, Poesie … Nach dem allein haben wir zu ringen, die wir uns einbilden, Dichter zu sein … An Stoffen fehlt’s, höre ich die Leute sagen. – Begreife das Begreifbare, und aus allem, was dich umgibt, dringt die Fülle bildsamen Stoffes auf dich ein, und wenn es dir an etwas fehlt, so ist’s an Kraft, die wogenden Quellen zu fassen und sie zu leiten an ein gewolltes Ziel!«

Er sprang auf, ergriff die Hand Feßlers, nannte ihn einen edlen, einen seltenen, einen herrlichen Mann und verabschiedete sich mit der Bitte, recht bald wiederkommen zu dürfen. Und er kam wieder, kam täglich, ganze Wochen hindurch, und wenn er ja einmal ausblieb, bedauerte dies niemand mehr als Feßler. Lotti sprach überhaupt nicht von ihm, vermied es sogar, seinen Namen zu nennen, und was Gottfried betraf, der meinte, es sei nicht übel, zwölf Stunden lang Ruhe zu haben in der Werkstatt. Er leugnete nicht, daß Halwig eine große Unterhaltungsgabe besitze, allein für seinen Geschmack machte »der Poet« einen gar zu häufigen Gebrauch davon.

»Wenn ich am Sonntag Unterhaltung habe, ist mir’s genug, täglich Unterhaltung ist mir zuviel«, sagte er und bewies es, indem er begann, das Haus zu den Stunden zu verlassen, in denen Halwig es zu besuchen pflegte. Dieser zeigte sich darüber gekränkt. Er war nicht gewöhnt, gemieden zu werden; er tat sich etwas zugute auf die Macht, die ihm über die Gemüter der Menschen gegeben war. Keiner, um dessen Neigung er sich beworben, hatte ihm widerstanden, er hatte immer gehört und geglaubt, daß man ihn liebhaben müsse, wenn er es darauf angelegt. Bitter beklagte er sich bei Lotti über die Steifheit und Kälte ihres Vetters, versicherte, trotzig wie ein verwöhntes Kind, er werfe seine Freundschaft niemandem an den Kopf, und wenn Gottfried ihn hasse, so zahle er ihn mit gleicher Münze. Sobald sich jener aber blicken ließ, kam er ihm wieder mit der alten und – darüber konnte kein Zweifel sein – aufrichtigen Wärme entgegen. Er bemühte sich, sein Interesse zu erwecken, ihm Teilnahme einzuflößen, er warb förmlich um ihn. Alle liebenswürdigen Eigenschaften seines beweglichen, frischen, herzgewinnenden Wesens kamen dabei zum Vorschein, rührten aber denjenigen nicht, dem zu Ehren sie sich in ihrem vollsten Glanze zeigten.

Eines Tages war Gottfried, mit einer dringenden Arbeit beschäftigt, von früh bis abends daheim geblieben und hatte im Eifer seines Fleißes die Stunde versäumt, zu welcher er jetzt regelmäßig seinen Rückzug vor dem »Luxusartikel«, wie er Halwig nannte, anzutreten pflegte.

Zum Bewußtsein der Zeit wurde er durch Lotti gebracht, die eine Lampe auf den Tisch stellte und ihn mahnte, Feierabend zu machen.

»Ist es denn so spät?« fragte er.

»Spät und nicht mehr hell, du verdirbst dir die Augen.«

»Was liegt daran? – Was liegt an mir?« sprach er halblaut vor sich hin, wie einer, der, plötzlich geweckt, aus dem Schlafe redet. Er stöhnte schmerzlich auf und preßte beide Hände gegen die Stirn.

Lotti wurde feuerrot; schweigend, mit einer Gebärde der Mißbilligung wandte sie sich ab. Der Vater hatte seine allabendliche Zimmerpromenade unterbrochen, war vor Gottfried stehengeblieben und fragte, was ihm fehle.

»Nichts«, erhielt er zur Antwort, »nur die Augen sind mir ein wenig müde geworden.«

»Gönn dir Ruhe«, sagte Feßler, »mach es mir nach, ich spaziere schon lange müßig auf und ab und hätte ganz gut noch eine Weile schaffen können – die Tage wachsen, der Frühling kommt heran … Ja, der kommt, man darf auf ihn zählen, der kommt. Wer aber ausbleibt«, schloß der alte Mann seine Betrachtungen, »das ist unser Hofpoet … In drei Tagen hat er sich nicht blicken lassen, und auch heute – seine Stunde ist vorbei – er kommt nicht mehr.«

»Um so besser!« rief Gottfried, »ich wollte, wir wären für immer von ihm befreit.«

»Befreit! – Ist das dein Ernst?…«

»Leider ja«, versetzte Lotti, und ein tiefer Groll sprach aus ihrer erregten Stimme.

Gottfried erhob den Kopf: »Was sagst du?«

»Daß du ungerecht bist, zum erstenmal in deinem Leben; ungerecht und grausam gegen einen edlen und guten Menschen … Es ist herzlos und tut ihm weh – gerade von dir – denn du bist es já …« ihre Lippen zitterten, der Ausdruck des bittersten Schmerzes zuckte über ihr Gesicht, »der ihm der Liebste ist von uns allen …«

Sie hielt tief atmend inne, Gottfried murmelte ein zorniges Wort, und der Vater stand in stummer Betroffenheit vor seinen beiden Kindern. In einer bisher ahnungslosen Seele dämmerte das Bewußtsein zerstörter Hoffnungen, eines nahenden Unglücks auf. Eh er sich’s versah, bevor ihm zu einer Befürchtung Zeit geblieben, war der Friede aus seinem stillen Hause entwichen und aus den Herzen seiner Kinder …

In dem Augenblicke wurde an der Hausglocke gestürmt, bald darauf durcheilten leichte Schritte das Vorgemach.

»Da ist er doch«, sagte Feßler.

Halwig erschien auf der Schwelle, er schwenkte seinen Hut und sah so glücklich aus, als ob er eben eine Welt erobert hätte.