Kapitel 3

Kapitel 3

 

Diese schreckliche Zeit war nun längst vorüber; doch hielt Lotti die Erinnerung an sie in ihrer Seele wach. Sie wollte nicht vergessen, daß auch ihr ein gehöriges Maß an Leid und Enttäuschung zugeteilt worden, sie wäre sich sonst im Vergleich mit anderen Menschenkindern ungerecht bevorzugt erschienen. Wie vielen wird es denn so gut, mit ihr sagen zu können: Ich habe das Leben, das ich brauche!

Ihrer alten Beschäftigung, zu der sie zurückgekehrt war, verdankte sie täglich neue Freude, verdankte ihr Frieden, Frohsinn und Unabhängigkeit. Wäre ihr Vater nur noch dagewesen, um dies alles mit ihr zu genießen! Aber leider, Meister Johannes ruhte schon seit geraumer Zeit in der kühlen Erde.

Er hatte keine Mühseligkeit des Alters kennengelernt; niemals hatten ihm Auge und Hand bei Ausführung der Gedanken seines erfinderischen Kopfes ihre Dienste versagt. Wohl waren seine Haare weiß geworden, hatten seine Wangen sich entfärbt, aber aus seinen klaren Zügen leuchtete der Glanz einer unverwelklichen Jugend. Die Jugend des mit Bewußtsein Werdenden. Unermüdlich strebend und lernend, hatte er sich nicht Zeit genommen, recht zu überlegen, wieviel er schon erstrebt und erlernt – da plötzlich, ohne auch nur einen seiner Vorboten geschickt zu haben, trat der Tod an ihn heran.

Und jetzt, im Angesicht der ewigen Trennung, fiel dem Meister der Gedanke schwer aufs Herz, daß er seine Tochter fast mittellos in der Welt zurücklassen müsse. Er hätte ihr so leicht eine behagliche Wohlhabenheit sichern können! – Vor einem Jahre noch fand sich die beste Gelegenheit dazu, da bot ein reicher Kenner, der sich in die Uhrensammlung Feßlers vernarrt hatte, eine Summe dafür, eine lächerlich hohe Summe, wahrhaftig ein Vermögen. Allein Johannes hatte nicht einmal geschwankt, war ruhig dabei geblieben: »Die Uhren sind mir nicht feil.«

Über diesen Leichtsinn, diese törichte Selbstsucht machte er sich in seiner letzten Stunde bittere Vorwürfe und bat noch sterbend seinen Sohn Gottfried, jenen abgewiesenen Käufer aufzusuchen und ihm zu melden, die Sammlung, nach welcher er so heißes Verlangen trage, stehe ihm nun zur Verfügung. Lotti jedoch erklärte, daß sie ebenso gern ihre Seele verkaufen ließe wie diese Uhren.

So blieben sie denn in ihrem Besitze, wenn auch nicht ohne manchen harten Kampf. Die Sammlung Meister Feßlers war allmählich doch in einem Kreise von Kennern und Liebhabern zu dem ihr gebührenden Rufe gelangt. Es fehlte nicht an zudringlichen Leuten, die trotz der standhaften Zurückweisungen, die sie erfuhren, immer wieder erschienen, immer neue Bewerbungen anstellten, immer glänzendere Anerbietungen machten. Das war denn oft herzlich langweilig, trug aber nur dazu bei, die Liebe, welche Lotti für ihre Uhren empfand, noch zu erhöhen. Sie hörte niemals auf, ihnen ihre Sorgfalt angedeihen zu lassen, und wenn es noch soviel zu tun gab und wenn die Zeit noch so sehr drängte, ging sie nicht an ihr Tagewerk, ohne ihren Uhren einen Besuch abgestattet zu haben. Hätte sie das jemals unterlassen müssen, die rechte Begeisterung, die rechte Lust zur Arbeit hätte ihr gewiß gefehlt.

Auch heute war sie an das Schränklein getreten, das in der Ecke stand neben der Schlafzimmertür, dem großen Schreibtisch gegenüber. Eben fiel ein Sonnenstrahl schräg durch das Fenster auf das Kästchen, auf Lottis Hände, und als sie die erste Lade öffnete, schlupfte er sogleich hinein. Prächtig war’s, wie er die kleinen ehrwürdigen Meisterwerke beleuchtete, welche darin auf einem Bettlein von purpurrotem Sammet lagen.

Die glatten Gehäuse aus Messing, Kristall, Silber und Gold und die reich verzierten und die durchbrochenen, und in dieser die sorgfältig geputzten, polierten und wieder zusammengesetzten Werke erglänzten und gaben dem leuchtenden Strahl des Lichtes, der sie in ihrer Verborgenheit und Ruhe besuchen kam, seinen Gruß zurück, Das war Lade Nummer eins!

Sie enthielt drei sogenannte »lebendige Nürnberger Eier« und drei »Halsvrln«. Kein einziges Stück jünger als dreihundert Jahre, manches noch älter und gerade die ältesten von der künstlichsten Beschaffenheit. Was wollten sie nicht alles können, diese kleinen Maschinen, was trauten sie sich nicht zu? Sie begnügten sich keineswegs damit, die bürgerlichen Stunden anzuzeigen und zu schlagen und den Schläfer zu wecken, wann immer es ihm beliebte, auch den Wochen-und Monatstag verzeichneten sie, kontrollierten die Aspekte und Phasen des Mondes und behaupteten, den Stand der Sonne nachweisen zu können. Sie wandten den Himmelszeichen ihre Aufmerksamkeit zu, wußten Auskunft zu geben über die Sternzeit und nahmen Notiz vom türkischen Kalender …

Wahrhaftig, die braven Männer, denen sie ihre Entstehung verdankten, hatten sich Schweres vorgesetzt – und mit wie geringen Mitteln gedachten sie es zu erreichen! Mit Spindelechappements – mit Löffelunruhen, deren kläglich humpelnder Gang von einer Schweinsborste reguliert wurde! Sie verfertigten alle Räder aus Eisen, und von einer Schnecke war ihnen nicht einmal die Ahnung aufgekommen.

Aber – so ärmlich ihre Kunst, so reich war ihr Vertrauen. Sie wußten – das heißt, sie glaubten, und weil sie glaubten, wußten sie –, daß Schwäche zur Stärke erwachsen kann, wenn nur der rechte Segen auf ihr ruht. Kühn und demütig zugleich riefen sie die Hilfe desjenigen herbei, dem nichts unmöglich ist, und stellten die Werke ihres Fleißes unter seinen allmächtigen Schutz, empfahlen sie auch wohl der Fürsprache der Mutter Gottes oder eines vornehmen Heiligen. Einer der alten Meister hatte in den Boden des Federhauses, das die Kraft umschließt, von welcher alle Bewegung ausgeht, die das ganze Getriebe gleichsam beseelt, den Namen Jesu eingegraben. Von einem andern war aus dem feingeschnittenen, prächtig ornamentierten Monogramm der heiligen Jungfrau Maria der Schutzdeckel des Zifferblattes gebildet worden. Auf der Innenseite des Gehäuses standen die Worte eingraviert:

 

Kasper Werner hat mich gemacht

Vnd der heiligen Jvngfrav dargebracht

Da. man. zelt. 1541.

 

Immer reichere Schätze gelangten zum Vorschein, als Lotti ein Lädchen nach dem andern öffnete und schloß. Taschenuhren in allen Formen und Gestalten, achteckig, rund, oval, elliptisch, sternförmig, in Gehäusen aus Gold und Silber, aus Smaragd, Rauchtopas, Bergkristall. Unter andern gab es eine Uhr in Kreuzform, mit dem Augsburger »Stadtphyr«, »Wardein- und Wichszeichen« versehen. Das Gehäuse, das Zifferblatt und der innere Deckel waren mit Darstellungen des Leidens Christi bedeckt, die dem besten Künstler zur Ehre gereicht hätten. Leider fehlte das Meisterzeichen. Aber mit Blindheit hätte man geschlagen sein müssen, um nicht sogleich zu erkennen, daß die prächtige deutsche Arbeit aus der Zeit Kaiser Rudolfs II. stammte und vermutlich von Hans Schlotheim hergestellt worden war.

Über den Ursprung ihrer nächsten Nachbarin, gleichfalls kreuzförmig, mit Gehäuse aus einem Stück Rauchtopas, konnte kein Zweifel obwalten. Ihr Schöpfer hatte sie nicht namenlos in die Welt geschickt, sondern neben dem Stellungsgrade brav und deutlich sein »Conrad Kreizer« eingeschrieben.

Eine ganze Schar anmutiger Französinnen folgte. Köstliche Ührchen, geschmückt mit Emailmalereien von den Brüdern Huaut, oder mit erhaben geschnittenen Blumen, mit buntem Blattwerk, mit durchbrochenen Arabesken aus vielfarbigem Golde. Die Sammlung enthielt nicht minder merkwürdige Arbeiten von Tompion in England, Albrecht Erb in Wien, Gerard Mut in Frankfurt, Matthäus Degen, Christoff Strebell. Kurz, es fehlten wenig große Namen, und wer die vorhandenen mit recht scharfen Augen betrachtete, der sah mehr als nur Namen, in eine Metallplatte eingeritzt, der sah das Wesen des Meisters sich deutlich in seinem Werke spiegeln.

Nach all den köstlich verzierten Stücken erschienen die einfachen Taschenuhren von Pierre le Roy, Berthoud, Breguet, eine Emmery … Ach, die weckt traurige Erinnerungen, mahnt an die große Enttäuschung in Lottis Leben. Mit einer solchen Uhr in der Hand trat dereinst … Hinweg! – Schlafe du nur ruhig weiter. Hinweg von dir zu dem unerhörtesten Kuriosum der Sammlung – zu der Seetaschenuhr von Mudge dem Ersten.

Die Geschichte will wissen, daß dieser berühmte und unsterbliche Mann in seinem Leben nur drei Seeuhren verfertigt hat, und zwar die erste im Jahre 1774, und die beiden andern, der blaue und der grüne Zeithalter genannt, im Jahre 1777. Nun, die Geschichte hat einmal wieder geirrt. Hier war sie auf die gründlichste Art der Welt widerlegt, durch eine Tatsache – hier war eine vierte Mudge. Zwillingsschwester der älteren, der von Maskelyn in Greenwich geprüften, und sicherlich in demselben Jahre mit dieser entstanden, wie denn auch die beiden jüngeren in einem Jahre gemacht worden waren.

Die weltbekannten Beschreibungen, die wir von der ersten Seeuhr Mudges besitzen, paßten genau auf die, welche sich in Lottis Händen befand.

Die Uhr war echt, ihr edler Ursprung über jeden Zweifel erhaben, es war eine ganze Mudge – die Leistungsfähigkeit ausgenommen. Die durfte man freilich nicht mehr von ihr verlangen, der über hundert Jahre alten Greisin.

Die letzte Lade, die von Lotti geöffnet wurde, enthielt schöne Arbeiten von Arnold, Richard, Recorder, Robert, Courvoisier, Ruderas, von hölzernen Unruhen Simon Henningers und Lorenz Freys und eine vollständig erhaltene hölzerne Taschenuhr von Andreas Dilger aus Gütenbach.

Ein Familienerbe! – Als Bräutigam hatte sie der Urgroßvater Lottis ihrer Urgroßmutter zugleich mit seinem Herzen dargebracht. Gottfried nannte sie die Majoratsuhr. Sie war nie getragen worden, hatte als Schaustück im Glasschranke der Urgroßmutter geruht. Nur an hohen Festtagen wurde sie hervorgeholt und zur Freude des Enkelchen Lotti aufgezogen. Dann setzte sie sich aber auch stracks in Bewegung und vollführte einen so akkuraten und energischen Gang und bimmelte so fleißig fort, als ob sie noch in der Blüte ihrer Jahre stände und als ob sie all die Zeit einholen wollte, die sie in unfreiwilliger Muße versäumt.

Wie war sie nett! Wie waren ihre hölzernen Räder, Platten, Kloben so bewunderungswürdig ausgearbeitet. Wie sauber aus-gestochen der Unruhkloben und die Stellungsflügel, und wie schön verziert die beiden und die Klobenplatte. Man sah der kleinen Dilger gar deutlich die Liebe an, mit welcher sie ausgeführt, und auch die, mit welcher sie zeitlebens gehegt und gepflegt worden war. Ihr gehörte Lottis letzter und zärtlicher Blick, bevor sie die Lade zuschob und dabei dachte: Ja, meine Uhren – die machen mir noch das Sterben schwer!

In diesem Augenblick wurde die Zimmertür geöffnet.

»Guten Morgen«, sprach eine tiefe und wohlklingende Stimme. Lotti wandte sich rasch: »Du, Gottfried? Ist es denn schon acht Uhr?«

»Noch nicht«, war die Antwort, »ich bin heute unpünktlich.« »Zeichen und Wunder«, rief Lotti, »was ist geschehen? Was gibts’?«

Gottfried war an den Arbeitstisch getreten. Er hob die kleinen Glasglocken von den Uhren, welche darunterlagen, und nahm diese in den allergenauesten Augenschein.

»Du bist ja fertig«, sagte er nach einer Weile.

»Beinahe – aber antworte mir doch – was gibt’s?«

Er richtete sich empor, sah Lotti mit geheimnisvoller Miene, halb freudig, halb zweifelnd, an und sagte: »Eine Überraschung.«

Krambambuli

Vorliebe empfindet der Mensch für allerlei Gegenstände. Liebe, die echte, unvergängliche, die lernt er – wenn überhaupt – nur einmal kennen. So wenigstens meint der Herr Revierjäger Hopp. Wie viele Hunde hat er schon gehabt, und auch gern gehabt, aber lieb, was man sagt lieb und unvergeßlich, ist ihm nur einer gewesen – der Krambambuli. Er hatte ihn im Wirtshause Zum Löwen in Wischau von einem vazierenden Forstgehilfen gekauft oder eigentlich eingetauscht. Gleich beim ersten Anblick des Hundes war er von der Zuneigung ergriffen worden, die dauern sollte bis zu seinem letzten Atemzuge. Dem Herrn des schönen Tieres, der am Tische vor einem geleerten Branntweingläschen saß und über den Wirt schimpfte, weil dieser kein zweites umsonst hergeben wollte, sah der Lump aus den Augen. Ein kleiner Kerl, noch jung und doch so fahl wie ein abgestorbener Baum, mit gelbem Haar und gelbem spärlichem Barte. Der Jägerrock, vermutlich ein Überrest aus der vergangenen Herrlichkeit des letzten Dienstes, trug die Spuren einer im nassen Straßengraben zugebrachten Nacht. Obwohl sich Hopp ungern in schlechte Gesellschaft begab, nahm er trotzdem Platz neben dem Burschen und begann sogleich ein Gespräch mit ihm. Da bekam er es denn bald heraus, daß der Nichtsnutz den Stutzen und die Jagdtasche dem Wirt bereits als Pfänder ausgeliefert hatte und daß er jetzt auch den Hund als solches hergeben möchte; der Wirt jedoch, der schmutzige Leuteschinder, wollte von einem Pfand, das gefüttert werden muß, nichts hören.

Herr Hopp sagte vorerst kein Wort von dem Wohlgefallen, das er an dem Hunde gefunden hatte, ließ aber eine Flasche von dem guten Danziger Kirschbranntwein bringen, den der Löwenwirt damals führte, und schenkte dem Vazierenden fleißig ein. – Nun, in einer Stunde war alles in Ordnung. Der Jäger gab zwölf Flaschen von demselben Getränke, bei dem der Handel geschlossen worden – der Vagabund gab den Hund. Zu seiner Ehre muß man gestehen: nicht leicht. Die Hände zitterten ihm so sehr, als er dem Tiere die Leine um den Hals legte, daß es schien, er werde mit dieser Manipulation nimmermehr zurechtkommen. Hopp wartete geduldig und bewunderte im stillen den trotz der schlechten Kondition, in welcher er sich befand, wundervollen Hund. Höchstens zwei Jahre mochte er alt sein, und in der Farbe glich er dem Lumpen, der ihn hergab, doch war die seine um ein paar Schattierungen dunkler. Auf der Stirn hatte er ein Abzeichen, einen weißen Strich, der rechts und links in kleine Linien auslief, in der Art wie die Nadeln an einem Tannenreis. Die Augen waren groß, schwarz, leuchtend, von tauklaren, lichtgelben Reiflein umsäumt, die Ohren hoch angesetzt, lang, makellos. Und makellos war alles an dem ganzen Hunde von der Klaue bis zu der feinen Witternase; die kräftige, geschmeidige Gestalt, das über jedes Lob erhabene Piedestal. Vier lebende Säulen, die auch den Körper eines Hirsches getragen hätten und nicht viel dicker waren als die Läufe eines Hasen. Beim heiligen Hubertus! dieses Geschöpf mußte einen Stammbaum haben, so alt und rein wie der eines deutschen Ordensritters.

Dem Jäger lachte das Herz im Leibe über den prächtigen Handel, den er gemacht. Er stand nun auf, ergriff die Leine, die zu verknoten dem Vazierenden endlich gelungen war, und fragte: »Wie heißt er denn?« – »Er heißt wie das, wofür Ihr ihn kriegt: Krambambuli«, lautete die Antwort. – »Gut, gut, Krambambuli! So komm! Wirst gehen? Vorwärts!« – Ja, er konnte lange rufen, pfeifen, zerren – der Hund gehorchte ihm nicht, wandte den Kopf demjenigen zu, den er noch für seinen Herrn hielt, heulte, als dieser ihm zuschrie: »Marsch!« und den Befehl mit einem tüchtigen Fußtritt begleitete, suchte sich aber immer wieder an ihn heranzudrängen. Erst nach einem heißen Kampfe gelang es Herrn Hopp, die Besitzergreifung des Hundes zu vollziehen. Gebunden und geknebelt mußte er zuletzt in einem Sacke auf die Schulter geladen und so bis in das mehrere Wegstunden entfernte Jägerhaus getragen werden.

Zwei volle Monate brauchte es, bevor der Krambambuli, halb totgeprügelt, nach jedem Fluchtversuche mit dem Stachelhalsband an die Kette gelegt, endlich begriff, wohin er jetzt gehöre. Dann aber, als seine Unterwerfung vollständig geworden war, was für ein Hund wurde er da! Keine Zunge schildert, kein Wort ermißt die Höhe der Vollendung, die er erreichte, nicht nur in der Ausübung seines Berufes, sondern auch im täglichen Leben als eifriger Diener, guter Kamerad und treuer Freund und Hüter. »Dem fehlt nur die Sprache«, heißt es von anderen intelligenten Hunden – dem Krambambuli fehlte sie nicht; sein Herr zum mindesten pflog lange Unterredungen mit ihm. Die Frau des Revierjägers wurde ordentlich eifersüchtig auf den »Buli«, wie sie ihn geringschätzig nannte. Manchmal machte sie ihrem Manne Vorwürfe. Sie hatte den ganzen Tag, in jeder Stunde, in der sie nicht aufräumte, wusch oder kochte, schweigend gestrickt. Am Abend, nach dem Essen, wenn sie wieder zu stricken begann, hätte sie gern eins dazu geplaudert.

»Weißt denn immer nur dem Buli was zu erzählen, Hopp, und mir nie? Du verlernst vor lauter Sprechen mit dem Vieh das Sprechen mit den Menschen.«

Der Revierjäger gestand sich, daß etwas Wahres an der Sache sei, aber zu helfen wußte er nicht. Wovon hätte er mit seiner Alten reden sollen? Kinder hatten sie nie gehabt, eine Kuh durften sie nicht halten, und das zahme Geflügel interessiert einen Jäger im lebendigen Zustande gar nicht und im gebratenen nicht sehr. Für Kulturen aber und für Jagdgeschichten hatte wieder die Frau keinen Sinn. Hopp fand zuletzt einen Ausweg aus diesem Dilemma; statt mit dem Krambambuli sprach er von dem Krambambuli, von den Triumphen, die er allenthalben mit ihm feierte, von dem Neide, den sein Besitz erregte, von den lächerlich hohen Summen, die ihm für den Hund geboten wurden und die er verächtlich von der Hand wies.

Zwei Jahre waren so vergangen, da erschien eines Tages die Gräfin, die Frau seines Brotherrn, im Hause des Jägers. Er wußte gleich, was der Besuch zu bedeuten hatte, und als die gute, schöne Dame begann: »Morgen, lieber Hopp, ist der Geburtstag des Grafen…« setzte er ruhig und schmunzelnd fort: »Und da möchten Hochgräfliche Gnaden dem Herrn Grafen ein Geschenk machen und sind überzeugt, mit nichts anderem soviel Ehre einlegen zu können als mit dem Krambambuli.« – »Ja, ja, lieber Hopp…« Die Gräfin errötete vor Vergnügen über dieses freundliche Entgegenkommen und sprach gleich von Dankbarkeit und bat, den Preis nur zu nennen, der für den Hund zu entrichten wäre. Der alte Fuchs von einem Revierjäger kicherte, tat sehr demütig und rückte auf einmal mit der Erklärung heraus: »Hochgräfliche Gnaden! Wenn der Hund im Schlosse bleibt, nicht jede Leine zerbeißt, nicht jede Kette zerreißt, oder wenn er sie nicht zerreißen kann, sich bei den Versuchen, es zu tun, erwürgt, dann behalten ihn Hochgräfliche Gnaden umsonst – dann ist er mir nichts mehr wert.«

Die Probe wurde gemacht, aber zum Erwürgen kam es nicht, denn der Graf verlor früher die Freude an dem eigensinnigen Tiere. Vergeblich hatte man es durch Liebe zu gewinnen, mit Strenge zu bändigen gesucht. Es biß jeden, der sich ihm näherte, versagte das Futter und – viel hat der Hund eines Jägers ohnehin nicht zuzusetzen – kam ganz herunter. Nach einigen Wochen erhielt Hopp die Botschaft, er könne sich seinen Köter abholen. Als er eilends von der Erlaubnis Gebrauch machte und den Hund in seinem Zwinger aufsuchte, da gab’s ein Wiedersehen, unermeßlichen Jubels voll. Krambambuli erhob ein wahnsinniges Geheul, sprang an seinem Herrn empor, stemmte die Vorderpfoten auf dessen Brust und leckte die Freudentränen ab, die dem Alten über die Wangen liefen.

Am Abend dieses glücklichen Tages wanderten sie zusammen ins Wirtshaus. Der Jäger spielte Tarock mit dem Doktor und mit dem Verwalter. Krambambuli lag in der Ecke hinter seinem Herrn. Manchmal sah dieser sich nach ihm um, und der Hund, so tief er auch zu schlafen schien, begann augenblicklich mit dem Schwanze auf den Boden zu klopfen, als wollt er melden: Präsent! Und wenn Hopp, sich vergessend, recht wie einen Triumphgesang das Liedchen anstimmte: »Was macht denn mein Krambambuli?« richtete der Hund sich würde- und respektvoll auf, und seine hellen Augen antworteten: Es geht ihm gut!

Um dieselbe Zeit trieb, nicht nur in den gräflichen Forsten, sondern in der ganzen Umgebung eine Bande Wildschützen auf wahrhaft tolldreiste Art ihr Wesen. Der Anführer sollte ein verlottertes Subjekt sein. Den »Gelben« nannten ihn die Holzknechte, die ihn in irgendeiner übel berüchtigten Spelunke beim Branntwein trafen, die Heger, die ihm hie und da schon auf der Spur gewesen, ihm aber nie hatten beikommen können, und endlich die Kundschafter, deren er unter dem schlechten Gesindel in jedem Dorfe mehrere besaß.

Er war wohl der frechste Gesell, der jemals ehrlichen Jägersmännern etwas aufzulösen gab, mußte auch selbst vom Handwerk gewesen sein, sonst hätte er das Wild nicht mit solcher Sicherheit aufspüren und nicht so geschickt jeder Falle, die ihm gestellt wurde, ausweichen können.

Die Wild- und Waldschäden erreichten eine unerhörte Höhe, das Forstpersonal befand sich in grimmigster Aufregung. Da begab es sich nur zu oft, daß die kleinen Leute, die bei irgendeinem unbedeutenden Waldfrevel ertappt wurden, eine härtere Behandlung erlitten, als zu anderer Zeit geschehen wäre und als gerade zu rechtfertigen war. Große Erbitterung herrschte darüber in allen Ortschaften. Dem Oberförster, gegen den der Haß sich zunächst wandte, kamen gutgemeinte Warnungen in Menge zu. Die Raubschützen, hieß es, hätten einen Eid darauf geschworen, bei der ersten Gelegenheit exemplarische Rache an ihm zu nehmen. Er, ein rascher, kühner Mann, schlug das Gerede in den Wind und sorgte mehr denn je dafür, daß weit und breit kund werde, wie er seinen Untergebenen die rücksichtsloseste Strenge anbefohlen und für etwaige schlimme Folgen die Verantwortung selbst übernommen habe. Am häufigsten rief der Oberförster dem Revierjäger Hopp die scharfe Handhabung seiner Amtspflicht ins Gedächtnis und warf ihm zuweilen Mangel an »Schneid« vor; wozu freilich der Alte nur lächelte. Der Krambambuli aber, den er bei solcher Gelegenheit von oben herunter anblinzelte, gähnte laut und wegwerfend. Übel nahmen er und sein Herr dem Oberförster nichts. Der Oberförster war ja der Sohn des Unvergeßlichen, bei dem Hopp das edle Waidwerk erlernt, und Hopp hatte wieder ihn als kleinen Jungen in die Rudimente des Berufs eingeweiht. Die Plage, die er einst mit ihm gehabt, hielt er heute noch für eine Freude, war stolz auf den ehemaligen Zögling und liebte ihn trotz der rauhen Behandlung, die er so gut wie jeder andere von ihm erfuhr.

Eines Junimorgens traf er ihn eben wieder bei einer Exekution.

Es war im Lindenrondell, am Ende des herrschaftlichen Parks, der an den »Grafenwald« grenzte, und in der Nähe der Kulturen, die der Oberförster am liebsten mit Pulverminen umgeben hätte. Die Linden standen just in schönster Blüte, und über diese hatte ein Dutzend kleiner Jungen sich hergemacht. Wie Eichkätzchen krochen sie auf den Ästen der herrlichen Bäume herum, brachen alle Zweige, die sie erwischen konnten, ab und warfen sie zur Erde. Zwei Weiber lasen die Zweige hastig auf und stopften sie in Körbe, die bereits mehr als zur Hälfte mit dem duftenden Raube gefüllt waren. Der Oberförster raste in unermeßlicher Wut. Er ließ durch seine Heger die Buben nur so von den Bäumen schütteln, unbekümmert um die Höhe, aus der sie fielen. Während sie wimmernd und schreiend um seine Füße krochen, der eine mit zerschlagenem Gesicht, der andere mit ausgerenktem Arm, ein dritter mit gebrochenem Bein, zerbleute er eigenhändig die beiden Weiber. In dem einen derselben erkannte Hopp die leichtfertige Dirne, die das Gerücht als die Geliebte des »Gelben« bezeichnete. Und als die Körbe und Tücher der Weiber und die Hüte der Buben in Pfand genommen wurden und Hopp den Auftrag bekam, sie aufs Gericht zu bringen, konnte er sich eines schlimmen Vorgefühls nicht erwehren.

Der Befehl, den ihm damals der Oberförster zurief, wild wie ein Teufel in der Hölle und wie ein solcher umringt von jammernden und gepeinigten Sündern, ist der letzte gewesen, den der Revierjäger im Leben von ihm erhalten hat. Eine Woche später traf er ihn wieder im Lindenrondell – tot. Aus dem Zustande, in dem die Leiche sich befand, war zu ersehen, daß sie hierher, und zwar durch Sumpf und Gerölle, geschleppt worden war, um an dieser Stelle aufgebahrt zu werden. Der Oberförster lag auf abgehauenen Zweigen, die Stirn mit einem dichten Kranz aus Lindenblüten umflochten, einen ebensolchen als Bandelier um die Brust gewunden. Sein Hut stand neben ihm, mit Lindenblüten gefüllt. Auch die Jagdtasche hatte der Mörder ihm gelassen, nur die Patronen herausgenommen und statt ihrer Lindenblüten hineingetan. Der schöne Hinterlader des Oberförsters fehlte und war durch einen elenden Schießprügel ersetzt. Als man später die Kugel, die seinen Tod verursacht hatte, in der Brust des Ermordeten fand, zeigte es sich, daß sie genau in den Lauf dieses Schießprügels paßte, der dem Förster gleichsam zum Hohne über die Schulter gelegt worden war. Hopp stand beim Anblick der entstellten Leiche regungslos vor Entsetzen. Er hätte keinen Finger heben können, und auch das Gehirn war ihm wie gelähmt; er starrte nur und starrte und dachte anfangs gar nichts, und erst nach einer Weile brachte er es zu einer Beobachtung, einer stummen Frage: – Was hat denn der Hund?

Der Krambambuli beschnüffelt den toten Mann, läuft wie nicht gescheit um ihn herum, die Nase immer am Boden. Einmal winselt er, einmal stößt er einen schrillen Freudenschrei aus, macht ein paar Sätze, bellt, und es ist geradeso, als erwache in ihm eine längst erstorbene Erinnerung…

»Herein«, ruft Hopp, »da herein!« Und Krambambuli gehorcht, sieht aber seinen Herrn in allerhöchster Aufregung an, und – wie der Jäger sich auszudrücken pflegte – sagt ihm: »Ich bitte dich um alles in der Welt, siehst du denn nichts? Riechst du denn nichts? … O lieber Herr, schau doch! riech doch! O Herr, komm! Daher komm! …« Und tupft mit der Schnauze an des Jägers Knie und schleicht, sich oft umsehend, als frage er: Folgst du mir? zu der Leiche zurück und fängt an, das schwere Gewehr zu heben und zu schieben und ins Maul zu fassen, in der offenbaren Absicht, es zu apportieren.

Dem Jäger läuft ein Schauer über den Rücken, und allerlei Vermutungen dämmern in ihm auf. Weil das Spintisieren aber nicht seine Sache ist, es ihm auch nicht zukommt, der Obrigkeit Lichter aufzustecken, sondern vielmehr den gräßlichen Fund, den er getan hat, unberührt liegenzulassen und seiner Wege – das heißt in dem Fall recte zu Gericht – zu gehen, so tut er denn einfach, was ihm zukommt.

Nachdem es geschehen und alle Förmlichkeiten, die das Gesetz bei solchen Katastrophen vorschreibt, erfüllt, der ganze Tag und auch ein Stück der Nacht darüber hingegangen sind, nimmt Hopp, eh er schlafen geht, noch seinen Hund vor.

»Mein Hund«, spricht er, »jetzt ist die Gendarmerie auf den Beinen, jetzt gibt’s Streifereien ohne Ende. Wollen wir es andern überlassen, den Schuft, der unsern Oberförster erschossen hat, wegzuputzen aus der Welt? – Mein Hund kennt den niederträchtigen Strolch, kennt ihn, ja, ja! Aber das braucht niemand zu wissen, das habe ich nicht ausgesagt… Ich, hoho! … Ich werd meinen Hund hineinbringen in die Geschichte… Das könnt mir einfallen!« Er beugte sich über Krambambuli, der zwischen seinen ausgespreizten Knien saß, drückte die Wange an den Kopf des Tieres und nahm seine dankbaren Liebkosungen in Empfang. Dabei summte er: »Was macht denn mein Krambambuli?« bis der Schlaf ihn übermannte.

Seelenkundige haben den geheimnisvollen Drang zu erklären gesucht, der manchen Verbrecher stets wieder an den Schauplatz seiner Untat zurückjagt. Hopp wußte von diesen gelehrten Ausführungen nichts, strich aber dennoch ruh- und rastlos mit seinem Hunde in der Nähe des Lindenrondells herum.

Am zehnten Tage nach dem Tode des Oberförsters hatte er zum erstenmal ein paar Stunden lang an etwas anderes gedacht als an seine Rache und sich im »Grafenwald« mit dem Bezeichnen der Bäume beschäftigt, die beim nächsten Schlag ausgenommen werden sollten.

Wie er nun mit seiner Arbeit fertig ist, hängt er die Flinte wieder um und schlägt den kürzesten Weg ein, quer durch den Wald gegen die Kulturen in der Nähe des Lindenrondells. Im Augenblick, in dem er auf den Fußsteig treten will, der längs des Buchenzaunes läuft, ist ihm, als höre er etwas im Laube rascheln. Gleich darauf herrscht jedoch tiefe Stille, tiefe, anhaltende Stille. Fast hätte er gemeint, es sei nichts Bemerkenswertes gewesen, wenn nicht der Hund so merkwürdig dreingeschaut hätte. Der stand mit gesträubtem Haar, den Hals vorgestreckt, den Schwanz aufrecht, und glotzte eine Stelle des Zaunes an. Oho! dachte Hopp, wart, Kerl, wenn du’s bist; trat hinter einen Baum und spannte den Hahn seiner Flinte. Wie rasend pochte ihm das Herz, und der ohnehin kurze Atem wollte ihm völlig versagen, als jetzt plötzlich, Gottes Wunder! – durch den Zaun der »Gelbe« auf den Fußsteig trat. Zwei junge Hasen hängen an seiner Waidtasche, und auf seiner Schulter, am wohlbekannten Juchtenriemen, der Hinterlader des Oberförsters. Nun wär’s eine Passion, den Racker niederzubrennen aus sicherem Hinterhalt.

Aber nicht einmal auf den schlechtesten Kerl schießt der Jäger Hopp, ohne ihn angerufen zu haben. Mit einem Satze springt er hinter dem Baum hervor und auf den Fußsteig und schreit: »Gib dich, Vermaledeiter!« Und als der Wildschütz zur Antwort den Hinterlader von der Schulter reißt, gibt der Jäger Feuer… All ihr Heiligen – ein sauberes Feuer! Die Flinte knackst, anstatt zu knallen. Sie hat zu lange mit aufgesetzter Kapsel im feuchten Wald am Baum gelehnt – sie versagt.

Gute Nacht, so sieht das Sterben aus, denkt der Alte… Doch nein – er ist heil, sein Hut nur fliegt, von Schroten durchlöchert, ins Gras…

Der andere hat auch kein Glück; das war der letzte Schuß in seinem Gewehr, und zum nächsten zieht er eben erst die Patrone aus der Tasche…

»Pack an!« ruft Hopp seinem Hunde heiser zu: »Pack an!« Und: »Herein, zu mir! Herein, Krambambuli!« lockt es drüben mit zärtlicher, liebevoller – ach, mit altbekannter Stimme…

Der Hund aber – –

Was sich nun begab, begab sich viel rascher, als man es erzählen kann.

Krambambuli hatte seinen ersten Herrn erkannt und rannte auf ihn zu, bis – in die Mitte des Weges. Da pfeift Hopp, und der Hund macht kehrt, »der Gelbe« pfeift, und der Hund macht wieder kehrt und windet sich in Verzweiflung auf einem Fleck, in gleicher Distanz von dem Jäger wie von dem Wildschützen, zugleich hingerissen und gebannt…

Zuletzt hat das arme Tier den trostlos unnötigen Kampf aufgegeben und seinen Zweifeln ein Ende gemacht, aber nicht seiner Qual. Bellend, heulend, den Bauch am Boden, den Körper gespannt wie eine Sehne, den Kopf emporgehoben, als riefe es den Himmel zum Zeugen seines Seelenschmerzes an, kriecht es – seinem ersten Herrn zu.

Bei dem Anblick wird Hopp von Blutdurst gepackt. Mit zitternden Fingern hat er die neue Kapsel aufgesetzt – mit ruhiger Sicherheit legt er an. Auch »der Gelbe« hat den Lauf wieder auf ihn gerichtet. Diesmal gilt’s! Das wissen die beiden, die einander auf dem Korn haben, und was auch in ihnen vorgehen möge, sie zielen so ruhig wie ein paar gemalte Schützen.

Zwei Schüsse fallen. Der Jäger trifft, der Wildschütz fehlt.

Warum? Weil er – vom Hunde mit stürmischer Liebkosung angesprungen – gezuckt hat im Augenblick des Losdrückens. »Bestie!« zischt er noch, stürzt rücklings hin und rührt sich nicht mehr.

Der ihn gerichtet, kommt langsam herangeschritten. Du hast genug, denkt er, um jedes Schrotkorn wär’s schad bei dir. Trotzdem stellt er die Flinte auf den Boden und lädt von neuem. Der Hund sitzt aufrecht vor ihm, läßt die Zunge heraushängen, keucht kurz und laut und sieht ihm zu. Und als der Jäger fertig ist und die Flinte wieder zur Hand nimmt, halten sie ein Gespräch, von dem kein Zeuge ein Wort vernommen hätte, wenn es auch statt eines toten ein lebendiger gewesen wäre.

»Weißt du, für wen das Blei gehört?«

»Ich kann es mir denken.«

»Deserteur, Kalfakter, pflicht- und treuvergessene Kanaille!«

»Ja, Herr, jawohl«

»Du warst meine Freude. Jetzt ist’s vorbei. Ich habe keine Freude mehr an dir.«

»Begreiflich, Herr«, und Krambambuli legte sich hin, drückte den Kopf auf die ausgestreckten Vorderpfoten und sah den Jäger an.

Ja, hätte das verdammte Vieh ihn nur nicht angesehen! Da würde er ein rasches Ende gemacht und sich und dem Hunde viel Pein erspart haben. Aber so geht’s nicht! Wer könnte ein Geschöpf niederknallen, das einen so ansieht? Herr Hopp murmelt ein halbes Dutzend Flüche zwischen den Zähnen, einer gotteslästerlicher als der andere, hängt die Flinte wieder um, nimmt dem Raubschützen noch die jungen Hasen ab und geht.

Der Hund folgte ihm mit den Augen, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war, stand dann auf, und sein mark- und beinerschütterndes Wehgeheul durchdrang den Wald. Ein paarmal drehte er sich im Kreise und setzte sich wieder aufrecht neben den Toten hin. So fand ihn die gerichtliche Kommission, die, von Hopp geleitet, bei sinkender Nacht erschien, um die Leiche des Raubschützen in Augenschein zu nehmen und fortschaffen zu lassen. Krambambuli wich einige Schritte zurück, als die Herren herantraten. Einer von ihnen sagte zu dem Jäger: »Das ist ja Ihr Hund.« – »Ich habe ihn hier als Schildwache zurückgelassen«, antwortete Hopp, der sich schämte, die Wahrheit zu gestehen. – Was half’s? Sie kam doch heraus, denn als die Leiche auf den Wagen geladen war und fortgeführt wurde, trottete Krambambuli gesenkten Kopfes und mit eingezogenem Schwanze hinterher. Unweit der Totenkammer, in der »der Gelbe« lag, sah ihn der Gerichtsdiener noch am folgenden Tage herumstreichen. Er gab ihm einen Tritt und rief ihm zu: »Geh nach Hause!« – Krambambuli fletschte die Zähne gegen ihn und lief davon; wie der Mann meinte, in der Richtung des Jägerhauses. Aber dorthin kam er nicht, sondern führte ein elendes Vagabundenleben.

Verwildert, zum Skelett abgemagert, umschlich er einmal die armen Wohnungen der Häusler am Ende des Dorfes. Plötzlich stürzte er auf ein Kind los, das vor der letzten Hütte stand, und entriß ihm gierig das Stück Brot, von dem es aß. Das Kind blieb starr vor Schrecken, aber ein kleiner Spitz sprang aus dem Hause und bellte den Räuber an. Dieser ließ sogleich seine Beute fahren und entfloh.

Am selben Abend stand Hopp vor dem Schlafengehen am Fenster und blickte in die schimmernde Sommernacht hinaus. Da war ihm, als sähe er jenseits der Wiese am Waldessaum den Hund sitzen, die Stätte seines ehemaligen Glückes unverwandt und sehnsüchtig betrachtend – der Treueste der Treuen, herrenlos!

Der Jäger schlug den Laden zu und ging zu Bette. Aber nach einer Weile stand er auf, trat wieder ans Fenster- der Hund war nicht mehr da. Und wieder wollte er sich zur Ruhe begeben und wieder fand er sie nicht.

Er hielt es nicht mehr aus. Sei es, wie es sei! … Er hielt es nicht mehr aus ohne den Hund. – Ich hol ihn heim, dachte er, und fühlte sich wie neugeboren nach diesem Entschluß.

Beim ersten Morgengrauen war er angekleidet, befahl seiner Alten, mit dem Mittagessen nicht auf ihn zu warten, und sputete sich hinweg. Wie er aber aus dem Hause trat, stieß sein Fuß an denjenigen, den er in der Ferne zu suchen ausging. Krambambuli lag verendet vor ihm, den Kopf an die Schwelle gepreßt, die zu überschreiten er nicht mehr gewagt hatte.

Der Jäger verschmerzte ihn nie. Die Augenblicke waren seine besten, in denen er vergaß, daß er ihn verloren hatte. In freundliche Gedanken versunken, intonierte er dann sein berühmtes: »Was macht denn mein Krambam…« Aber mitten in dem Worte hielt er bestürzt inne, schüttelte das Haupt und sprach mit einem tiefen Seufzer: »Schad um den Hund!«

Ihr Traum

Im Sommer 79 hatte ich von einem hohen Kunstfreunde den Auftrag erhalten, Land und Leute des Kronlands Mähren in einer Reihe von Bildern zu charakterisieren. Da ich meine Zeit gehörig ausnützen und auch ganz unabhängig bleiben wollte, vermied ich, von der Gastfreundschaft der Schloßbewohner Gebrauch zu machen, und nahm trotz der Liebenswürdigkeit, mit der sie mir überall angeboten wurde, mein jeweiliges Standquartier wohl oder übel – meistens übel – im Dorfwirtshaus.

Rasch ging die Arbeit mir von der Hand. Ende September hatte ich alle meine Skizzen und sogar einige Bilder fertig. Mit gutem Gewissen und sehr heiterem Mut durfte ich wieder heimwärts fliegen nach Wien, wohin für den ersten Oktober eine Verabredung mich rief – mächtig rief… Ich verrate nichts, ich sage nur: mein Herz, das heute noch von Winterfrost nichts weiß, befand sich damals im Drang der Herbstäquinoktialstürme.

Am Morgen des letzten September erwachte ich zugleich mit dem Haushahn im Gasthof des Dorfes Willowic. Ein ganzer Tag war noch zu überwinden, bevor sie aufging, die Sonne des ersten Oktobers. Wenn ich heute meine Heimreise antrat, lagen noch ein paar Abendstunden, lag eine sicherlich schlaflose Nacht zwischen der Stunde meiner Ankunft und der meines Glückes. Ich entschloß mich, meine Ungeduld tagsüber zu verrennen und die Nacht lieber im Waggon als im Bett zu durchwachen. Einen Lokalzug verschmähend, der mich zur nächsten Nordbahnstation gebracht hätte, hing ich meinen Tornister um, steckte einigen Mundvorrat zu mir und trat die Wanderung an. Sonderliche Genüsse bot sie mir nicht. Die Gegend dort ist ebenso fruchtbar wie unmalerisch; sie erinnert mich immer an ein nichtssagendes, aber von Gesundheit strotzendes Gesicht. Der Menschenschlag aber ist nicht übel, und hie und da hatte ich doch Gelegenheit, mein Skizzenbuch herauszuziehen und während meiner kurzen Rast eine Kindergruppe und die schlanke Gestalt eines hübschen Mädchens oder eines jungen Burschen zu konturieren.

Die Sonne neigte sich schon zum Untergang, und ich schritt gemütlich weiter, überzeugt, daß ich die Richtung nach meinem Ziele innehielt. Um mich dessen jedoch zu vergewissern, holte ich von Zeit zu Zeit Erkundigungen bei Vorübergehenden ein.

»Jen rovno«, hieß es anfangs, dann einmal: »Na levo«, einmal: »Na pravo«, und je weiter ich kam, desto bedenklicher schüttelte der Angesprochene den Kopf und sagte: »Daleko! daleko!«

Also erst geradeaus, dann links, dann rechts, und endlich weit, weit!

Es begann zu dunkeln. Seit einer Weile schon rieselte ein dichter, kühler Regen mit großer Emsigkeit nieder. Die Abspannung, nach der ich mich so herzlich gesehnt hatte, war allmählich eingetreten, und meine Phantasie fing an, mir einen wenn auch noch so langweiligen Aufenthalt im Wartezimmer der Bahnstation als etwas Wünschenswertes vorzuspiegeln.

Mein Weg, eine gut gehaltene Vizinalstraße, führte längs einer bewaldeten Anhöhe dahin, und plötzlich drang zwischen den vom Sturm gerüttelten Baumwipfeln ein funkelnder Glanz mir ins Auge. Etwas tiefer unten glaubte ich hellen Lichtschein durch das Dickicht schimmern zu sehen. Er verschwand, nachdem ich ein paar hundert Schritte weitergegangen war; dafür aber stieß ich am Ende des Wäldchens auf einen breiten Hohlweg, an dessen beiden Seiten sich zwei Reihen, soviel mir in der Dunkelheit wahrzunehmen möglich war, ziemlich ansehnlicher Bauernhäuser erhoben. Das Wirtshaus war unschwer zu finden, und bald trat ich pudelnaß und mit triefendem Regenschirm in die von Tabaksqualm und Petroleumdünsten erfüllte Gaststube. An einem schmalen Tische saßen einige Bauern, tranken, rauchten und spielten Karten. Der Wirt und ein junger Livreebedienter standen, dem Spiele zusehend, daneben. Ich lüftete den Hut vor der Gesellschaft, wandte mich an den Wirt, verlangte zu essen und zu trinken und forderte ihn auf, mir eine Fahrgelegenheit nach N., das nicht mehr weit sein könne, zu verschaffen.

Obwohl der Mann jedes meiner Worte verstand – ich sah es ihm an dem stumpfen Kegel seiner Nase an –, erwiderte er verächtlich: »Ne rozumim!« (ich verstehe nicht) und wandte mir den Rücken.

Die Bauern blinzelten einander verstohlen und schmunzelnd zu, der Bediente jedoch, der mich seit meinem Eintreten aufmerksam betrachtet hatte, sprang jetzt mit einem Schrei des Jubels auf mich los. Er rief: »Herr Professor!« und ich rief: »Christel Mayerchen, vulgo Varus!«

»Jawohl, Varus, ich bin’s, ich bin’s! Eine Ehre für mich, daß Sie mich wiedererkennen!«

»Und auch ein Wunder«, sagte ich, denn mein Farbenreiber von einst, der gutmütige Knirps, den wir – niemand wußte aus welchem Grunde – Varus nannten, hatte sich gewaltig herausgemacht. Als ein prächtiger Bursche stand er vor mir, in all und jedem verändert, nur nicht in seiner großen Dienstbeflissenheit.

»Herr Professor«, sagte er, »Sie wollen zum Nachtzug zurechtkommen? Das geht nicht mehr, mit Bauernpferden schon gar nicht. Ja, wenn Sie nur um eine Viertelstunde früher gekommen wären, die unseren hätten Sie mit dem größten Vergnügen hingeführt.«

»Die unseren?«

»Die gräflichen mein ich, die aus dem Schlosse, aber auch die bringen Sie jetzt nicht mehr hin.«

»Nicht mehr?« – ich hätte den Menschen prügeln mögen für diese Nachricht und schnaubte ihn an: »Wann kommt der nächste Zug nach N.?«

»Morgen acht Uhr früh. Um fünf steht der Wagen, der Sie hinführt, vor dem Schloß… Aber kommen, Herr Professor, ins Schloß kommen müssen Sie.«

Ich schickte ihn zum Teufel samt allen Einladungen, die er in fremdem Namen machte.

Da brach er in ein freudiges Gelächter aus: »Wenn sich’s nur darum handelt – eine Einladung von der Frau Gräfin, noch dazu eine sehr dringende, will ich gleich bringen.« Sprach’s – und war draußen mit einem Satze.

Ich hatte nun nichts Eiligeres zu tun, als mein ganzes, auf meiner Künstlerfahrt erbeutetes Tschechisch zusammenzuraffen, um einige Fragen an die Anwesenden zu stellen: Wie die Frau Gräfin heiße, ob sie alt oder jung, verheiratet oder verwitwet, ob sie eine gute Dame und beliebt im Dorfe sei.

Den Namen erfuhr ich. Es war der eines alten Landadelsgeschlechtes, und ich besann mich einer in Paris lebenden russischen Fürstin – einer berühmt und berückend schönen Frau, die aus demselben Hause stammte. Meine weiteren Erkundigungen blieben fruchtlos. Der Wirt und seine Gäste schnitten geheimnisvolle Gesichter und antworteten ausweichend.

Ich erhielt von alledem den Eindruck, die Schloßherrin gelte für eine brave, aber etwas absonderliche Frau, der man in Anbetracht vieler edler Eigenschaften ihre Schrullen verzieh.

Nach einiger Zeit war mein Christel wieder da und verkündete mit wichtiger Miene, die Frau Gräfin heiße mich sehr willkommen und erwarte mich in einer halben Stunde zum Diner.

Diner? – Diner auf dem Lande um sieben Uhr abends? – ganz englisch, aber viel zu nobel für mich in meinen beschmutzten Reisekleidern. Ich deprezierte auf das eifrigste – es war umsonst. Der Tyrann aus Dienstbeflissenheit hatte sich schon meines Tornisters bemächtigt und lief voran, und ich – nun, ich lief ihm, das heißt meinen Skizzen nach.

Draußen heulte der Sturm, lehnte sich gegen uns wie eine unsichtbare Wand, machte das Vorwärtskommen zum atemraubenden Kampfe. Wir waren, nachdem wir die Straße überschritten hatten, in einem, soviel ich sehen konnte, sehr ausgedehnten und sehr verwilderten Park angelangt und gingen vorwärts, immer bergan. Plötzlich, bei einer jähen Krümmung des Weges, erblickte ich ein Schlößchen, ein Stockwerk hoch, mit dreizehn Fenstern Front, und alle erleuchtet, sowohl die des ersten Geschosses wie des Hochparterres. Daher war der helle Glanz gekommen, den ich vorhin durch das Geäste hatte schimmern sehen. Hinter dem Schlosse zog eine bewaldete Höhenkette sich hin und war gekrönt von einem weißen tempelartigen Bau, aus dem das einsame Licht, das mich zuerst begrüßt hatte, mir wieder entgegenblinkte.

»Ist das die Kirche dort oben?« fragte ich meinen Führer.

»Die Gruft«, erwiderte er kurz und wurde immer einsilbiger, je näher wir dem Herrenhause kamen; ich hingegen immer neugieriger. Zuletzt gestaltete sich unser Gespräch folgendermaßen: »Sind viele Gäste da?«

»O nein.«

»Wird das Schloß von einer großen Familie bewohnt?«

»O nein.«

»Wem zu Ehren also diese Beleuchtung?«

»Das ist immer so.«

Wir traten in den Hof, der vom Hauptgebäude und von zwei Seitenflügeln gebildet wurde. Tiefe Ruhe herrschte. Kein Laut außer dem Geplätscher des Springbrunnens, der aus einem kleinen Bassin emporstieg, ließ sich vernehmen. Im Innern des Hauses dieselbe Stille. Unter der Einfahrt lagen zwei Doggen auf einem Kissen. Uralte Hunde. Sie erhoben die Köpfe – ihre halb erloschenen Augen richteten sich auf mich. Die eine kam sogar heran, beschnupperte meine Hand und – schlich enttäuscht davon. Sie streckte sich, daß ihr Bauch den Boden berührte, öffnete den zahnlosen Rachen zu einem Jammergeheul und kehrte erschöpft zu ihrer Lagerstätte zurück.

Ich habe ein ähnliches Gebaren an einem Hunde beobachtet, der seinen Herrn verloren hatte und nach Jahren noch nicht vergessen konnte.

Christel führte mich in ein Zimmer des Hochparterres und half mir meinen Anzug in den bestmöglichen Stand setzen. Dabei begann er wieder zu sprechen oder vielmehr zu flüstern: »Ja, Herr Professor, den Dienst hier im Hause verdank ich Ihnen. Wie die Frau Gräfin das Zeugnis gesehen hat, das Sie mir ausgestellt haben, war ich gleich aufgenommen. Ich bin zwar dem Doktor zugeteilt, dem aufgeblasenen Gelehrten, aber es ist doch ein guter Dienst, und was die Bezahlung betrifft… Gott erhalte die Frau Gräfin!… Aber jetzt«, unterbrach er sich, »wird’s gleich Zeit sein, und ich muß mich noch umkleiden… Bitte, Herr Professor, gehen Sie allein hinauf, oben wenden Sie sich rechts; im Gang die vierte Tür, die ist’s. Bitte nur einzutreten, Sie werden empfangen werden wie die Heiligen Drei Könige.«

Mit dieser Versicherung verließ er das Zimmer, und ich dachte dabei: Möge mir der zu erhoffende Empfang an einer gut besetzten Tafel zuteil werden. Mein Magen knurrte gewaltig, und meine ganze Neugier war jetzt darauf gerichtet, ob man in diesem stillen Hause eine dem Menschen ersprießliche Küche führe.

So ging ich denn erwartungsvoll die Treppe empor, kam in einen breiten, hübsch dekorierten Gang und befand mich bald vor der Tür, die Christel mir bezeichnet hatte. Eine Doppeltür, ein Meisterwerk der Kunsttischlerei, reich geschmückt mit anbetungswürdiger Marketerie – meine Liebhaberei. Oh, wie gerne hätte ich dieses Prachtstück ausheben und nach Wien in mein Atelier spedieren lassen. Das ging aber nicht an – ewig schade! So sagt ich denn zu mir selbst: Vorbei, vorbei, du wünschereicher Sterblicher, und trat alsbald in den Speisesaal oder vielmehr in ein Paradies – ein Paradies im Zopfstil. Die anmutigen Stukkaturen an der Decke, die schwungvollen Draperien an Fenstern und Türen, die reiche Einrichtung, alles zusammen machte im Glanz der Lichter, die vom kristallenen Kronleuchter niederstrahlten, einen ungemein harmonischen und heiteren Eindruck. Vortrefflich erhaltene Fresken bedeckten die Wände und brachten die ländlichen Vergnügungen der ehemaligen Schloßbewohner zur Darstellung. Herren und Damen in der Tracht des achtzehnten Jahrhunderts fuhren im Schlitten dahin, hielten eine Obstlese ab, tanzten im Grünen, jagten auf ramsnasigen Pferden dem Hirsche nach.

Es waren brav gemalte zierliche Bilder, die meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, nicht genug aber, um mich den Hunger vergessen zu machen, der mich quälte und durch einen klassisch gedeckten kleinen Speisetisch mit zwei Kuverts noch gereizt wurde. Ich begann mit wachsender Ungeduld im Saale auf und ab zu pendeln und bemerkte erst jetzt, daß ich nicht allein war. Am Kredenzschrank in der Ecke stand regungslos ein weißhaariger schwarzbefrackter Kammerdiener, den Blick unverwandt auf eine der Seitentüren gerichtet. Nun öffneten sich beide Flügel, der Alte machte eine tiefe, ehrerbietige Reverenz, und gefolgt von zwei Dienern erschien die Herrin des Hauses und kam mit leisen raschen Schritten auf mich zu.

Ich sah sie an, und mein Herz erbebte – mein Künstlerherz. Was ich so oft gesucht und nie gefunden, nicht im Leben und nicht in der Kunst, da stand es glorreich in der größten Vollkommenheit vor mir – das Urbild einer schönen Greisin.

Beschreiben kann ich sie nicht – wie ich denn jetzt auch weiß, daß mein vielgepriesenes Bild, das ich mit solcher Liebe, mit so begeistertem Vertrauen zu meiner Kunst gemalt, nur einen schwachen Abglanz der sanften Hoheit ihres wunderbaren Wesens wiedergibt … Und wenn ich auch sage: Die Züge ihres blassen Gesichts waren fein und edel, aus ihren dunklen Augen leuchteten Verstand und Güte, ihre schlanke Gestalt erhob sich über die Mittelgröße – was wißt ihr dann? Die Gräfin trug ein eng anliegendes graues Kleid mit breitem weißem Spitzenkragen und eine ebenfalls weiße Spitzenhaube über den schneeweißen glattgescheitelten Haaren.

Ich hatte nicht einen Schritt ihr entgegengemacht, war plump wie ein Tölpel stehengeblieben und muß sehr albern und verblüfft dreingesehen haben, als sie mir die Hand reichte, ihre merkwürdigen Augen voll Wohlwollen auf mir ruhen ließ und sprach: »Welche Freude, Sie bei uns zu sehen, Herr Professor, wie glücklich werden meine Kinder sein!«

Ohne Ahnung, wen sie meinte, murmelte ich etwas Unverständliches.

»Allerdings hat der Zufall Sie hierherführen müssen«, sagte sie mit leichtem Vorwurf, »den Einladungen meines Iwan haben Sie kein Gehör geschenkt.«

Auch darauf wußte ich nichts zu antworten und entschuldigte mich ins Blaue hinein. Sie lächelte – ihre Erwiderung war stumm, mir jedoch höchst angenehm, denn sie bestand in einem freundlich auffordernden Wink, ihr gegenüber am Tisch Platz zu nehmen.

Der Kammerdiener hatte den Sessel der Gräfin gerückt, Christel, der in ihrem Gefolge gekommen war, den meinen. Wir setzten uns, und die Schloßfrau fuhr fort, mich zu behandeln wie einen alten Freund, der sich nach kurzer Abwesenheit am wohlbekannten Herde wieder eingefunden hat.

Die Gräfin las mir mein Erstaunen vom Gesichte ab und sagte: »Sie sind nicht in einem fremden Hause, Herr Professor, Sie sind bei Ihren treuesten und wärmsten Bewunderern. Mein Iwan hat die Ehre, Sie persönlich zu kennen. – Iwan T.«, beantwortete sie meinen fragenden Blick.

Dieser Name brachte mir nach kurzem Besinnen einen jungen Mann in Erinnerung, der mich vor mehreren Jahren aufgesucht. Er hatte Skizzen mitgebracht, die viel Talent verrieten, meine Ratschläge erbeten und mir die Abyssinier abgekauft, die von so vielen reichen Leuten für unerschwinglich erklärt worden waren.

»Fürst Iwan T.? Was ist aus ihm geworden? Pflegt er sein Talent?«

»Getreulich und immer unter Ihrem Einfluß. Ihre freundliche Aufnahme hat ihn völlig berauscht, und kürzlich ist er nach London gereist, einzig und allein um die Ausstellung Ihrer Orientbilder zu sehen.«

Ei, dacht ich, dieser Dame muß die Zeit schnell vergehen! »Vor kurzem? – Wie man’s nimmt; ich habe seit sechs Jahren in London nicht mehr ausgestellt«, erwiderte ich – und die Augen erhebend, begegnete ich denen des Kammerdieners, der hinter seiner Gebieterin stand. Drohend zugleich und flehend glotzte der alte Bursche mich an. Um was er flehte, wovor er mich warnte, konnte ich allerdings nicht erraten.

»Seit sechs Jahren?« wiederholte die Gräfin ungläubig, »das ist nicht möglich …« Sie senkte den Kopf und schaute ernst und sinnend vor sich hin. –

An wen mahnte sie mich in dieser Haltung, mit diesem Schauen, ohne zu sehen? Diesem wehmütigen, träumerischen Schauen – – an wen mahnte sie mich doch?

Langsam richtete die Gräfin sich empor und machte mit der Hand eine Bewegung in der Luft, dieselbe, die der Zeichner macht, der eine licht gebliebene Stelle auf seinem Bilde verschummert. »Ja, lieber Professor, das Rechnen habe ich verlernt, zehn Jahre sind mir wie zwei und zwei wie zehn. Das aber ist gewiß, Sie sind meines Iwan leuchtendes Vorbild. Die Sehnsucht, Ihnen nachzustreben, trieb ihn fort. – Er wollte malen wie Sie … Ein hohes Ziel, das er sich da gesteckt – ein hohes Ziel … Meinen Sie nicht?«

Was sollte ich darauf antworten? – Ja wäre gar zu aufrichtig gewesen und nein gar zu falsch. So half ich mir, indem ich das Gespräch von neuem auf den jungen Fürsten brachte und fragte: »Wo ist er jetzt?«

»Wieder verreist – – aber er wird bald wiederkommen, nicht wahr, Leonhard?« wandte sie sich an den Kammerdiener.

Der, mit tiefer Verbeugung, antwortete: »Zu dienen, hochgräfliche Gnaden.« Dazu machte er Zeichen, die mir galten und die ich dieses Mal verstand. Sie hießen: – Hörst du, man sagt ja, so ist’s Brauch bei uns, halte dich daran!

»Matja, ein großer Jäger vor dem Herrn«, fuhr die Gräfin fort, »Matja hätte ihn gar zu gern begleitet nach Afrika –«

»Wer?« fiel ich zagend ein, ungewiß, ob in diesem Hause die Frage nicht ebenso verpönt sei als der Zweifel. Die Gräfin jedoch versetzte gelassen: »Sein älterer Bruder. Aus dieser Reise ist aber nichts geworden – die Kinder haben eine andere angetreten.« Sie griff sich an die Stirn, ein schmerzlicher Ausdruck flog über ihr Angesicht. »Matja mußte zu seinem Vater nach Wolhynien«, nahm sie wieder das Wort. »Iwan blieb allein in Marseille. Er hat mir von dort Bilder geschickt, die sogar mich – die ihm doch viel zutraut – überraschten.«

Sie beschrieb diese Bilder mit großer Anschaulichkeit und legte dabei ein tüchtiges und selbständiges Kunsturteil an den Tag.

Trotzdem hörte ich ihr nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu, ich vergaß die weise und liebenswürdige Rede über den Mund, aus dem sie floß. Unter anderem sprach die Gräfin von einer meiner älteren Arbeiten, lobte dieselbe fein und klug und begründete das gespendete Lob. Sie tat es mit innigem Wohlwollen, mit echter Freude am Erfreuen und dem Gewürdigten gegenüber mit einer Bescheidenheit, die an Demut grenzte.

Da durchblitzte mich’s: – An die alte Frau mahnt sie, die meine Mutter war – an die arme Bewohnerin einer Hütte in unseren Tiroler Bergen… Im nächsten Augenblick freilich sagte ich mir schon: Ach nein! mit der Ähnlichkeit ist’s nichts. Aber daß sie, wenn auch im Fluge, vor mir aufgetaucht, daß ich nur meinte sie zu finden, hatte mir gutgetan, mir das Herz erwärmt. Die Befremdung, die mich im Bann gehalten, seitdem ich das Schloß betreten, war verschwunden, auch ich wurde gesprächig.

Auf die schweren Weine, die mir zu Anfang der Tafel serviert worden, hatte ich bereits eine Flasche Veuve Cliquot gesetzt. Die Gräfin ermunterte mich, den Anfang mit einer zweiten zu machen: »Es ist der Lieblingswein meiner Kinder und wird deshalb immer im Keller gehalten.«

Auf meine Bitte gestattete sie, die bisher nicht einen Tropfen Wein genommen hatte, daß auch ihr Champagnerglas gefüllt werde. Schon hatte sie es an die Lippen geführt, als ich ausrief: »Auf die Gesundheit der Fürsten Matja und Iwan!«

Merkwürdigerweise mußte, was ich da getan, dem Alten mir gegenüber nicht recht sein, denn ich fühlte, ja fühlte, ohne aufzublicken, obwohl ich wahrlich kein Sensitiver bin, daß seine Augen mich zornig angrollten. Doch machte ich mir um so weniger Sorgen darüber, als die Gräfin sowohl diesen ersten Toast wie einen zweiten, den ich auf sie ausbrachte, sehr gnädig aufnahm. Meine Stimmung wurde immer heiterer. Die Atmosphäre der Schönheit und der Pracht, die mich umgab, die vorzüglichen Weine, die ich getrunken hatte, die Freundlichkeit, mit der meine edle Wirtin mich behandelte, versetzten mich in einen köstlichen Rausch. Ich empfand ein himmlisches Behagen, eine große Dankbarkeit und Vertrauensseligkeit und erzählte der Gräfin meine Lebensgeschichte von A bis Z. Sie hörte teilnehmend zu, unterbrach mich nur manchmal mit dem Ausspruch: »Das hätten meine Kinder auch –« oder: »Das hätten sie nicht getan.«

Und während ich sprach und aß und trank, hörte ich nicht auf, ihre Züge, den wechselnden Ausdruck ihres Gesichtes zu studieren. Ja, wer dich malen könnte! hatte ich anfangs gedacht, jetzt dacht ich schon – du wirst gemalt, und wenn es gelingt, dann gibt’s ein Bild ohnegleichen.

Rembrandt hat ein unvergeßlich liebes Mütterchen auf die Leinwand gezaubert, andere haben wohlerhaltene alte Frauen verewigt; den Adel des Alters, eine Greisin als Greisin schön, hatte, soviel ich wußte, noch niemand gemalt. Ich hoffte der erste zu sein.

Die Mahlzeit war zu Ende, der schwarze Kaffee wurde gebracht, mein Christel, der seinen Dienst als dritter Aufwärter feierlich wie ein Theaterkönig, unhörbar und lautlos wie ein Schatten versehen hatte, erhielt von der Gräfin den Befehl, Zigarren und Zigaretten aus dem Zimmer des Fürsten Matja zu bringen. Nachdem dieser Auftrag besorgt war, verließ die Dienerschaft das Zimmer. O wie ungern ging der alte Leonhard! An der Tür wandte er sich noch, und hinter dem Rücken seiner Gebieterin streckte er die Hände gegen mich aus, faltete sie und preßte dann mit vielsagender Gebärde die Rechte an seine Lippen.

Die Gräfin schob mir die Zigarrenkiste zu, deren Inhalt fast unwiderstehlich lockend duftete. »Bitte, nehmen Sie – nichts da, es muß sein«, sprach sie gebieterisch, als ich aus Höflichkeit eine heuchlerische Ablehnung vorbrachte. »Matja wäre gekränkt, wenn er erführe, daß Sie seine Imperiales verschmäht haben … Wie? – noch immer Komplimente? Da bleibt mir nichts übrig, als Ihnen mit gutem Beispiel voranzugehen.« Sie nahm eine winzige Zigarette und zündete sie an. »Sehen Sie, wozu meine unartigen Kinder mich verleitet haben?« sagte sie lächelnd und – rauchte aus Gastfreundschaft, aber ohne Übung, denn sie blies in ihr Zigarettchen hinein, bis es ausging. Ich sekundierte diskret. Ein famoses Kraut, das ich zwischen den Zähnen hielt, aber doch gar zu trocken für meinen Geschmack.

Eine kurze Pause, und die Gräfin begann: »Wenn sie jetzt kämen, die Kinder, und Sie hier träfen, Herr Professor, und mich in Ihrer Gesellschaft rauchend wie ein Student, das wäre ein Jubel – das wäre …«

Sie legte die längst erloschene Zigarette weg und sah in die Luft, wieder wie vorhin, so träumerisch, so verloren … Und ich – immer mein Bild im Kopfe – betrachtete sie mit heißer Aufmerksamkeit, bewunderte den milden silbernen Glanz ihrer weichen Haare – die Stirn um einige Linien höher, als Praxiteles mit seinem Schönheitsideal vereinbar gefunden hätte, aber edel geformt und geistvoll, eine Stirn, die nie andere als reine Gedanken geborgen. Die Augen … Gott steh mir bei! wie konnt ich doch nur zweifeln, an wen sie mich erinnerten. Hatte ich nicht hundertmal versucht, ihnen sehr ähnliche aus dem Gedächtnis nachzupinseln, ohne daß es mir gelang … denn sie waren unergründlich und seicht, sie konnten in einer und derselben Minute ein tödliches Ermatten widerspiegeln und vor Lebenslust sprühen.

In einer lustigen Männergesellschaft, deren feurige Beherrscher diese Augen waren, habe ich sie, eines Momentes Dauer, gesehen wehmütig ins Leere schauen mit dem Blick, mit dem Ausdruck der Augen meiner verehrungswürdigen Gastfreundin … Und da, in der Freude über meine Entdeckung, erhitzt vom Wein, glühend von Schöpferwonne – schon tauchte es vor mir empor, das Bild, das mein bestes werden sollte – vergaß ich, daß ich im Begriffe stand, einen Namen zu nennen, der in diesem Hause nicht hätte ausgesprochen werden dürfen, und rief: »Fürstin T. in Paris – stammt sie nicht aus Ihrer Familie?«

Die Gräfin senkte die Augen, ein Schauer lief durch ihre Glieder, sie richtete sich noch gerader auf und sprach mit eisiger Miene und Stimme: »Fürstin T. war meine Tochter. Sie ist tot.«

– Ihre Tochter!… Teufel, Teufel! was hatte ich da getan?… Die schmerzlichste Fiber im Herzen der edlen Frau berührt in meiner verfluchten Gedankenlosigkeit. Ich ward sogleich nüchtern vor Leid und Reue und stammelte bestürzt: »Tot? – die Fürstin tot?… Seit wann?«

»Seit vielen Jahren«, erwiderte sie mit einer Bestimmtheit, die den Widerspruch ausschloß.

Mir aber hatte man vor drei Tagen den Brief eines Freundes nachgeschickt, in welchem von der Fürstin als von einer sehr Lebendigen die Rede war.

Und dennoch: – »Sie ist tot!« Erschütternd hallte der Klang dieser Worte in mir nach. »Sie ist tot«, das hieß: tot für mich, ihre Mutter, ausgestrichen aus den Reihen derer, die noch fähig sind, mir weh zu tun. – Diese alte Frau, deren ganze Erscheinung eine Verkörperung der Lauterkeit war, mußte einen Trost darin finden, das verlorene Kind als ein totes zu betrauern. Mit Recht …

Ich hatte vor Jahren die Fürstin in Pariser Künstlerkreisen kennengelernt, in welchen sie lebte, seitdem die Kreise, denen sie der Geburt nach angehörte, sich ihr verschlossen hatten. Sie sehen und mich leidenschaftlich in sie verlieben, das war – nicht wie es in veralteten Romanen heißt: das Werk eines Augenblicks, aber das Werk eines Abends. Es war eine heftige Leidenschaft, denn sie raubte mir den Schlaf – den Appetit hat mir eine Leidenschaft nie geraubt. Ich mißfiel der Fürstin nicht und wiegte mich bereits in süßen Hoffnungen, als ich erfuhr, daß die Gunst der entzückenden Frau zur Zeit vergeben sei. Ein junger Maler befand sich in ihrem Besitz, der die Berühmtheit des Tages war, weil er ein freches Gemälde in seinem Atelier ausgestellt hatte, mit freiem Eintritt für das Publikum. Ich habe es auch gesehen, und sofort hat mir gegraut vor der Schmiererei, vor dem Schmierer und vor des letzteren Geliebten.

Nicht lange nachher begegnete einem meiner Freunde das Unglück, bei der Fürstin Glück zu haben und in ernsthafter Liebe für sie zu entbrennen. Sie wurde schlecht belohnt. Trotz alledem und alledem konnte der altmodische Schwärmer seine Ungetreue nicht vergessen und war auf die außerordentlich gut erhaltene, aber nicht mehr junge Frau eifersüchtig wie ein Türk. Er hatte mir neulich jenen Brief geschrieben.

Die Gräfin, die lange in tiefem Schweigen verharrt hatte, erhob jetzt die Stimme: »Sie haben die Fürstin gekannt, Herr Professor?«

»Nur vom Sehen«, antwortete ich überstürzt.

Sie faßte mich schärfer ins Auge, mit so angstvoller Spannung und zugleich mit so gebieterischer Frage, daß mir altem Sünder das Blut in die Wangen stieg und ich fast kleinlaut erwiderte:

»Nur vom Sehen. Völlig genügend aber, um einen unvergeßlichen Eindruck zu empfangen …«

»Welchen?«

»Den einer wunderbar schönen Frau.«

»Ja, schön ist sie gewesen … Schon als Kind – und schon als Kind …« Sie brach ab, eine peinliche Erinnerung schien in ihr aufzuleben. – »O Herr Professor! Sie war ihres Vaters Glück und Stolz und seine nagende Sorge. Wohl ihm, daß er ruhte im ewigen Frieden, als seine furchtbarsten Vorahnungen sich erfüllten … Wohl ihm, daß er die höllische Marter nicht geteilt, die ich erduldet habe, als sie heranwuchs, als sie blühte und prangte im Glanze ihrer sechzehn Jahre – entzückend für alle, die ihr nahten – nur für eine nicht …«

Die Gräfin war unheimlich blaß geworden, und unheimlich auch war der Blick, mit dem sie mich ansah, und der Ton, in dem sie sprach: »Unvergeßlich der Eindruck, den sie in Ihnen hervorrief, dem Maler der Seelen. – Sagten Sie nicht so vorhin? In welcher Weise unvergeßlich? Aufrichtig, aufrichtig! – Ich bin gefeit.«

»Nun, Frau Gräfin«, versetzte ich – und war damals sehr zufrieden mit dem Einfall, der mir später ziemlich roh erschien –, »kennen Sie die Nachbildung des Porträts, das Furino von Maria Stuart malte, als sie noch Dauphine von Frankreich war? Die englischen Verse, die darunter stehen, die kamen mir in den Sinn, als ich das Glück hatte …«

»Sie lauten«, fiel die Gräfin ein:

»If to her lot some human errors fall Look to her face and you’ll forget them all.

Ein sehr angreifbarer Ausspruch. Das Entzücken, das die Schönheit erweckt, kann sich in Abscheu verwandeln, wenn wir das Lügnerische der Hülle erkennen, in welcher eine makelvolle Seele sich birgt.«

Sie verwirrte sich, schwieg, begann von gleichgültigen Dingen zu reden, kam aber immer und immer wieder auf ihre Tochter zurück. »Wer trägt die Schuld?« sagte sie plötzlich. »Ihre Eltern, ihre Vorfahren waren brave Leute … Woher in ihr dieser angeborene, unüberwindliche Hang zum Schlechten? Welche gräßliche Erbschaft hatte sie angetreten?«

Die Stimme der Gräfin wurde leiser und beklommen, sie sprach in abgebrochenen Sätzen und wie aus schwerem Traume: »Der Mann, der sie liebte und heimführte, war gewarnt, ich, ihre Mutter, warnte ihn. Aber sein Glaube stand felsenfest … Unselig ist, die ihn erschüttert hat. Unselig …«

Sie hielt inne – der laute Wehruf, der ihrer Brust entstieg, verriet die Qual einer tiefen, grausam aufgerissenen Herzenswunde. – Aber größer noch als ihr Schmerz war die Stärke dieser Frau … Eine gewaltige Selbstüberwindung, abermals die verschummernde Bewegung mit der Hand, und sie zwang sich eine heitere Miene ab und sagte: »Noch ein Gläschen Chartreuse, Herr Professor. Meine Kinder behaupten, ein Diner ohne Chartreuse sei die höchste Unvollkommenheit in der kulinarischen Welt.«

Ihr Angesicht hatte sich wieder freudig verklärt, ein holder, anbetungswürdiger Zug umspielte ihren welken Mund. »Lauter schlechte Späße, aber sie beglücken die alte Großmutter, und deshalb wird mit ihnen nicht gespart. Ach, diese Kinder waren immer gut und liebevoll, wahrhaftig und treu. Was ich für sie tat und tue, ist nichts, ihre Dankbarkeit ist unendlich. So stehe ich denn immer in ihrer Schuld.«

Forderten diese Worte nicht einen Widerspruch heraus? – Ich meinte ja, und ich brachte ihn vor, so schön und fein, als ich nur immer konnte. Aber meine aufrichtige Huldigung wurde nicht zur Kenntnis genommen.

Die Gräfin nickte zerstreut und begann ohne direkten Zusammenhang mit dem Vorhergegangenen: »Niemand kann sich vorstellen, was ich empfand in der Stunde, in welcher ihr Vater mit ihnen zu mir kam. Nach der Scheidung war’s: ›Nimm sie, sie sind dein‹, sprach der um sein höchstes Gut betrogene Mann – und sie waren mein.

Paul, mein Sohn, blieb bei uns, überwachte die Erziehung seiner Söhne, sagte manchmal zu mir: ›Seien Sie nicht zu nachsichtig, liebe Mutter.‹ Ich war es nicht. Mit stiller Angst beobachtete ich die Kinder, lauerte auf Fehler – auf Keime von Fehlern in diesen Anfängen von Menschen und entdeckte nichts, das mich beunruhigen konnte. Sie sind beide reinen Herzens, und wenn auch voneinander ganz verschieden, doch beide edlen Sinnes wie ihr Vater, und ihr Streben ist wie das seine nach hohen Zielen gerichtet. Eine Stimme, die nicht trügt, sagt mir, sie sind zu Großem bestimmt.«

Sie teilte mir viele herzgewinnende Züge aus der Kindheit und Jugend ihrer Enkel mit. Nebenbei erfuhr ich, daß Fürst Paul alljährlich den Sommer auf seinen Gütern in Wolhynien zubrachte. Sein Erstgeborener, Matja, hatte ihn vor einigen Monaten dahin begleitet. Wo Fürst Iwan sich gegenwärtig aufhalte, davon machte die Gräfin keine Erwähnung.

»Sie werden bald heimkommen«, sprach sie, »aber ich darf noch nichts davon wissen, sie werden mich überraschen wollen, wie sie es schon einmal getan – morgen – heute vielleicht …«

Ihre Augen öffneten sich weit und erglänzten in rührender Hoffnungsseligkeit.

Vom Gange herüber schallte durchdringenden Klanges der Schlag einer Uhr. Die Gräfin horchte. »Halb zehn – in zwei Stunden könnten sie da sein … Iwan und Matja und ihr Vater, der mir geschrieben hat – ich weiß nicht genau wann – – die Zahlen – ja die Zahlen, mein lieber Professor! – Doch habe ich den Brief bei mir, Sie können sich selbst überzeugen …«

Sie entnahm ihrer Gürteltasche eine kleine Mappe, in der eine Anzahl wohlgeordneter, aber schon etwas vergilbter Briefe lag. Eine geweihte Hostie hätte sie nicht mit mehr Andacht berühren können als diese Blätter. Wie auf einem Heiligtume ließ sie ihre schmale, feingeäderte Hand auf dem Päckchen ruhen. Dann reichte sie mir den zuoberst liegenden Bogen und sagte: »Lesen Sie, Herr Professor! Laut, wenn ich bitten darf.«

Nun, ich nahm den durch zahlloses Falten und Entfalten ganz zerschlissenen Brief und sah, daß er vor drei Jahren auf der Besitzung des Fürsten geschrieben worden war. So gut ich konnte, das heißt: nicht sehr gut, weil ich von Natur ein gerader Kerl bin, verbarg ich mein Staunen und fragte einfach: »Ist dieser Brief wirklich der letzte, den Sie, gnädigste Gräfin, von einem der Ihren erhalten haben?«

»Der letzte«, bestätigte sie rasch und sichtlich unangenehm berührt. »Bitte, lesen Sie.«

Ich las denn, und sie hörte mir mit höchster Spannung zu.

 

»Teure Mutter!

Ich komme bald. Ich habe Ihnen eine Botschaft zu bestellen, einen letzten Dank, teure Mutter, ein Abschiedswort. Gott stärke Sie und mich. – Ich komme bald … Wir wollen ein großes Leid mit vereinten Kräften zu tragen suchen …«

 

Die Gräfin flüsterte nach: »Ein großes Leid?… was er so nennt mit seiner Kunst, jede Widerwärtigkeit als Unglück zu empfinden. Er ist nicht immer so gewesen«, seufzte sie und verwahrte ihre Briefe mit ehrfürchtiger Liebe.

Abermals entstand eine Pause, und abermals fiel die seltsame Stille mir auf, die über dem Hause lag und eines verwunschenen Schlosses würdig gewesen wäre. Ich erlaubte mir eine Bemerkung darüber zu machen, und die Gräfin erklärte: »Ja, mein lieber Professor, ich will es so. Wer in meinem Dienste zu bleiben wünscht, muß ein Schweiger und Sachtetreter sein. Jeder Mensch hat seine Marotte; die meine ist: Ruhe, ungestörte Ruhe schaffen um mich her. In diesen Räumen wohnen die Stimmen meiner Kinder – ich höre manchmal ihren leisen Gruß. Das Geschwätz und Getrippel der Leute, das Geräusch der Arbeit soll sie mir nicht übertönen … Still! –« sprach sie plötzlich, stand auf und wandte sich der Tür zu, durch welche ich vorhin eingetreten war.

Ich hatte mich gleichfalls erhoben, und ihrem Winke gehorchend, folgte ich ihr. Mitten im Saale hemmte sie ihren Schritt, neigte den Kopf vor und lauschte. Ihr schöner, leuchtender Blick flammte – ihre Lippen öffneten sich wie zu einem Ausruf des Entzückens – doch entstieg er ihnen nicht.

»Was fällt mir ein«, sagte sie mit wehmütigem Scherze, »ich träume wieder, es ist noch viel zu früh. Aber dafür, daß sie es nicht machen wie neulich, dafür wollen wir sorgen … Denken Sie, Herr Professor, als sie zurückkamen von ihrer ersten Reise, ganz unerwartet, da war es Nacht, ich schlief bereits, und sie, die Kinder, erlaubten nicht, daß man mich wecke. Am Morgen trete ich nun ins Frühstückszimmer und sehe und traue meinen Augen nicht: drei Tassen auf dem Tisch … ›Warum drei Tassen, Leonhard?… Was soll dies heißen?‹ – ›Daß wir da sind, Großmutter‹, und sie stürzen auf mich zu, und ich halte sie in meinen Armen, und ich sehe wieder in ihre guten, fröhlichen, blauen Augen … Es war eine schöne Überraschung, und dennoch, eine Wiederholung verbitt ich mir, deshalb komme ich ihr allabendlich zuvor. Begleiten Sie mich, Herr Professor!«

Wir gingen durch den taghell erleuchteten Gang, an der Treppe vorbei und betraten, um die Ecke biegend, einen Seitenflügel des Schlosses. Auch hier ein breiter Gang, den viele tüchtige Bilder und Trophäen aus Waffen des Orients und Okzidents schmückten.

»Ich führe Sie jetzt in die Arbeitsstube Iwans; die Wohnungen der Kinder liegen gegenüber«, sprach die Gräfin und trat durch eine gewölbte Halle mir voran ins Atelier.

Respekt! – Das war eine Arbeitsstube, die man sich gefallen lassen konnte. Etwas gar zu prunkvoll vielleicht – vielleicht eine zu große Vorliebe für Rot und Gold verratend in der Wahl der Teppiche, Gewebe, Draperien – aber wohl befand man sich inmitten dieser Reichtümer, weil sich ein eigentümlicher und echt künstlerischer Geschmack in der Anordnung derselben kundgab. Über den ganzen Raum ergoß eine vielarmige Hängelampe ein reines, ruhiges Licht und brachte dessen schönsten Schmuck, die Skizzen und Bilder, zur vollen Geltung. Sämtlich Arbeiten des jungen Fürsten und sämtlich Talentproben. Man lügt mir nach, daß ich ungern lobe, ich aber tu’s um so lieber, als mir so verteufelt selten Gelegenheit dazu gegeben wird. Hier fand ich sie und beutete sie gehörig aus. Die Gräfin schwamm in Glückseligkeit und fragte ganz besonders nach meinem Urteil über einige Gemälde, die auf den Staffeleien in der Nähe des Fensters standen. Ich entdeckte sogleich unter ihnen einen alten Bekannten, eine prächtige Hafenszene, und rief: »Das ist das beste!«

»Sein bestes, nicht wahr? und auch sein letztes. Von diesen Bildern habe ich Ihnen gesprochen; es sind diejenigen, die er mir kürzlich aus Marseille geschickt hat.«

Kürzlich? da hatte die Gräfin wieder einen Irrtum in der Zeitrechnung begangen. Das Bild war ja schon vor mehreren Jahren in der Pariser Exposition, als unverkäuflich und einfach mit Iwan signiert, ausgestellt gewesen. Damals hatte es mir einen außerordentlichen Eindruck gemacht und machte ihn mir jetzt von neuem.

»Das ist das beste«, wiederholte ich, »das steht mir höher als manches vielgerühmte Werk der neuen Schule … Möchte wissen, in welche Kategorie die Alleskenner und Nichtskönner den einreihen, der das gemalt hat?… Ein Idealist? Ihr Herren! seht nur die Wahl des Stoffes: eine Balgerei zwischen einem Soldaten und einem Matrosen, um welche ein neugieriges Publikum sich schart … Und nun die Ausführung! wessen ist die? – Eines Realisten? Nein, eines Künstlers, dem das Häßliche und Rohe widerstrebt und der dennoch die Wahrheit darstellt, die höchste, in den Gluten seiner Feuerseele geläuterte Wahrheit. Der macht aus einer Prügelei, die wir in der Wirklichkeit schwerlich mit ansehen möchten, ein unvergeßliches Kunstwerk. Alles gut dran, jede einzelne Figur sowohl wie der Schauplatz, der Himmel, die Luft, wie das Ganze. Ich bewundere alles, sogar manche Kühnheit, die ich mir nicht mehr erlauben würde – wir wollen sichergehen, wir Alten.«

Die Gräfin unterbrach mich: »Kühnheit, Herr Professor? die hätte der Schüler dem Meister abgelauscht.«

»Was Schüler«, versetzte ich, »den Schüler könnt ich beneiden.« »Sie haben keine Ursache«, erwiderte sie und zog den Vorhang von einem auf der Staffelei nebenan stehenden Bilde, und ich sah meine Abyssinier nach sieben Jahren wieder. – Nicht übel, gar nicht übel waren sie und sehr freudig meine ersten Empfindungen bei ihrem Anblick. Aber gleich kam der hinkende Bote nach: Soviel hast du damals schon gekonnt … Um wieviel mehr kannst du denn heute?… Wo bleibt der Fortschritt?… Höhe ist Wende – bist du nicht auf der deinen angelangt? – Eine Ahnung unausbleiblichen Versiegens der sprudelnden Quellen in meinem Innern durchfröstelte mich … Was dann?… dann trag’s oder stirb – nur sinke nicht. Und ich schwor mir’s zu: Du wirst dich hüten vor Selbsttäuschung, wirst nicht für Schaffenskraft halten, was nichts mehr ist als Schaffenslust … Wieder trat ich vor die Hafenszene hin und versenkte mich in ihren Anblick … O wie tüchtig, wie genial und – wie jung!…

»Herr Professor«, sagte die Gräfin, »es ist spät geworden, glaube ich – wollen wir nicht hinübergehen zu den Kindern?«

Sie näherte sich bereits der Halle, als ihr aus derselben ein junger Mann, groß, breitschultrig, bärtig, mit dunkelblonder zurückgeworfener Mähne, entgegentrat. »Noch auf, Frau Gräfin?« fragte er. »Es ist elf Uhr.«

»Elf Uhr«, stieß sie erschrocken hervor – »wirklich?… Dann«, eine grausame Enttäuschung drückte sich in ihrem Tone aus, »dann werden sie heute nicht mehr kommen.«

»O nein«, bestätigte er, und die Gräfin legte die Arme übereinander, richtete den Blick fest auf ihn und sprach mit gelassener Würde: »Woher des Weges, Doktor?«

»Ich war – Ihrem Befehl gehorchend – beim Amtmann in Reiß. Er ist ganz wohl.«

»Um so besser.« Sie wandte sich zu mir: »Herr Professor M., ich bitte Sie, Ihnen meinen Hausarzt Doktor Schmitt vorstellen zu dürfen.«

»Professor M.? Durch welchen Zufall? Ah! das freut mich …«

Er eilte auf mich zu und reichte mir die Hand.

Die Gräfin hatte Platz genommen, wir folgten ihrem Beispiel. Der Doktor entfaltete eine lebhafte Beredsamkeit und teilte mir seine Ansichten über Maler und Malerei sehr unbefangen mit.

Ich hätte wahrscheinlich viel lernen können aus seinem Vortrag, wenn er nicht mitten in demselben unterbrochen worden wäre. Aber dies geschah, und zwar durch Freund Christel, der mit verstörtem Gesichte herbeigeschlichen kam und dem Doktor einige Worte ins Ohr sagte.

»Tut mir leid«, erwiderte dieser mit einer entlassenden Handbewegung. »Was gibt es?« fragte die Gräfin, und Schmitt antwortete: »Etwas Unangenehmes, Frau Gräfin. Im Meierhof scheint sich ein Pferd losgerissen und einen der Knechte verletzt zu haben.«

»Verletzt?«

»Es hat ihn geschlagen, hierher«, wagte Christel vorzubringen und griff an die Hüfte.

»Der Chirurg ist gerufen worden; er waltet bereits seines Amtes. Ich bitte, der Sache keine zu große Wichtigkeit beizulegen, es ist hoffentlich überflüssig«, suchte der Doktor zu beruhigen – erfolglos jedoch.

»Davon will ich mich selbst überzeugen«, sprach die Gräfin und erhob sich.

Auf ihren Befehl lief Christel voran, um Hut und Mantel bringen zu lassen. – Ich bot meine Begleitung an, die Gräfin dankte mit der Versicherung, daß sich immer Begleiter genug bei ihren Dorfgängen einfänden. In der Tat trafen wir beim Hinaustreten auf den Gang einige Diener und Dienerinnen bereits dort versammelt, an ihrer Spitze Leonhards schattenhafte Gestalt. Aus dem Hintergrunde stürzte, so schnell sie konnte, eine tonnenrunde Kammerfrau mit den verlangten Kleidungsstücken herbei.

Im Begriff fortzueilen, richtete die Gräfin noch die Frage an ihren Arzt: »Sie kommen also nicht?«

»Ich bitte, mich gnädigst zu entschuldigen«, erwiderte er, und sie ging.

Beim Doktor hatte ein rascher Übergang von guter in schlechte Laune stattgefunden. Trotzdem lud er mich ein, mit ihm auf sein Zimmer zu kommen, und ich nahm an, weil meine Absicht war, die Rückkehr der Hausfrau zu erwarten, um mich bei ihr zu empfehlen. Unterwegs beobachtete Doktor Schmitt ein verdrießliches Schweigen und ließ seinem Unmut erst freien Lauf, als wir in seiner Gelehrtenstube saßen und dampften. »Es ist unglaublich«, brummte er, »wie oft die gute Gräfin mich in Kollision mit dem Dorfbader brächte, wenn ich mich nicht zur Wehre setzen würde.« Er hatte sich in einem ungeheuren Lehnstuhl so schlangenmäßig zusammengerollt, daß man nicht wußte, wo der Mensch anfing und wo er aufhörte, und sprach und sprach! – Allerdings recht gescheit und witzig, aber alles, was er sagte, war mehr oder minder – Selbstverherrlichung.

So eitel, dachte ich im stillen, kann ein verständiger Mensch nur auf dem Lande werden, wo er vermutlich der einzige in seiner Art ist. Und als er eine seiner Auseinandersetzungen mit dem grollenden Ausruf schloß: »Ich bin hier nicht an meinem Platze«, entgegnete ich: »Warum bleiben Sie?«

»Das ist es ja – ich kann nicht anders, ich bin angeschmiedet auf Lebensdauer – nämlich der Gräfin. Ihre Verwandten haben mich engagiert.« »Unter guten Bedingungen natürlich?« »Unter vortrefflichen. Und dennoch – ich hätte nicht annehmen sollen. Das Leben hier ist doch gar zu ärmlich. Indessen – was ist zu tun? Vor geistigem Verkommen bewahre ich mich nach Kräften durch häufig erbetenen und immer gern erteilten Urlaub. Ich bedarf seiner zu wissenschaftlichen Reisen, zur Aufrechterhaltung meiner zahlreichen Verbindungen. Die Gräfin sieht das ein, kleinlich ist sie nicht.«

»Das glaube ich Ihnen gern, daß diese Frau nicht kleinlich ist.«

»Sie sind begeistert von ihr; kein Wunder. Mit welcher Liebenswürdigkeit wird sie das ›leuchtende Vorbild‹ ihres Iwan aufgenommen, Ihnen ihr ganzes Vertrauen geschenkt haben … Aber, Herr Professor, die Geschichten, die Ihnen neu waren, wachsen mir bereits zum Halse heraus.«

»Die Gräfin hat mir keine Geschichten erzählt.«

»Keine einzige aus der Kindheit ihres Matja und ihres Iwan? Das setzt mich in Erstaunen.«

»Wie mich, aufrichtig gestanden, die Art und Weise, in welcher Sie, Herr Doktor, von der Gräfin reden.«

»Ich? – ich habe die höchste Achtung vor ihr, ich sage jedem, der’s hören will, daß ich, ein Psychiater, in diesem Hause überflüssig und im Besitz einer Sinekure bin.«

»Als Psychiater sicherlich.«

»Jawohl, und trotzdem … Ist Ihnen gar nichts Seltsames an ihr aufgefallen?«

Ich antwortete ausweichend, und er begann gelehrt zu werden und berief sich auf Tod und Teufel, unter andern auch auf Schopenhauer.

»Diese Frau«, sagte er, »führt ein Traumleben, in dem es jedoch an wachen Momenten nicht fehlt. Schopenhauer sagt in seinem Versuch über Geistersehen: Bei der Tätigkeit aller Geisteskräfte scheint im Traume das Gedächtnis allein nicht disponibel. Längst Verstorbene figurieren darin noch immer als Lebende …«

Mich überlief’s. – »Was heißt das?… was wollen Sie damit sagen?« Ich ahnte wohl, was jetzt kommen würde, und war doch voll Angst, es aussprechen zu hören. – »Wo ist Fürst Iwan?« stieß ich plötzlich hervor.

Der Doktor schlug auf den Tisch. »Herr Professor! so sind Sie ihr wirklich aufgesessen? Haben nicht bemerkt …« Er hielt inne und rief, einem Geräusch von Stimmen und Schritten, das sich vernehmen ließ, lauschend: »Der Tausend, da kommt sie schon zurück von ihrem Krankenbesuch.«

»Hat sie den auch im Traum gemacht?« fragte ich.

»Nein«, erwiderte er, »und ich will Ihnen erklären …«

Aber ich hörte ihn nicht zu Ende; ich war schon aufgestanden und verließ mit einer Entschuldigung das Zimmer, um der Frau des Hauses entgegenzugehen.

Sie kam an der Spitze ihres Gefolges langsam dahergeschritten. Meine Stimme schien mir einen aufdringlichen Klang in diesen stillen Räumen zu wecken, als ich mich an die Gräfin wandte mit einer Erkundigung nach ihrem Kranken.

»Es geht schlecht«, sprach sie, tief erregt und noch ganz im Banne der eben erhaltenen peinlichen Eindrücke.

An der Schwelle ihrer Gemächer verabschiedete ich mich und lehnte dankend ihre Aufforderung zu längerem Bleiben ab. So befahl sie denn, mit dem frühesten alles für meine Abreise bereit zu halten, und entließ mich mit den Worten; »Vielleicht besinnen Sie sich doch anders und schenken mir noch einen Tag.«

Meiner Treu! ich tät’s gern, dacht ich bei mir und wollte mich wieder zum Doktor zurückbegeben, der mir die Beendigung des Satzes, in dem er unterbrochen worden, schuldig geblieben war. Ich tät’s, ich bliebe, wenn nicht die Hexe wäre, die Julietta, und meine Sehnsucht – und die Furcht vor ihrem Zorn.

Während ich meinen Weg fortsetzte, ging ein Diener hinter mir her, der eine Lampe nach der andern abdrehte. Er hielt in seinem finsternisverbreitenden Geschäft erst inne, als Christel herbeikam, ihm abwinkte und zugleich mir die Meldung brachte, der Doktor habe sich zur Ruhe begeben und lasse mir gute Nacht wünschen. Für diese gute Nacht wünschte ich ihn zum Teufel und ging mit Christel auf mein Zimmer, dasselbe, in das er mich nach meiner Ankunft geführt hatte.

Ich muß wieder ein beschämendes Geständnis ablegen. Als der Bursche sich mir beim Auskleiden mit solcher vom Herzen kommender Dienstwilligkeit behilflich, oder sagen wir: überflüssig machte und mir so recht wie ein guter, dienender Geist erschien, dem man wohl Vertrauen schenken könne, kam mich die Versuchung an, ihn auszufragen, um zu erfahren, was er und seinesgleichen von der Gebieterin dächten. – Sogleich jedoch überwand ich diese ganz ordinäre Regung und schickte Christel schlafen, nachdem ich ihm dringend aufgetragen, mich morgen Schlag fünf zu wecken. Und nun war ich allein mit meiner Neugier und mit meinem ungelösten Rätsel. Eine große Ungeduld ergriff mich. Um sie zu täuschen, nahm ich mein Skizzenbuch und begann, erst lässig, allmählich immer mehr ins Feuer geratend, ein paar Entwürfe zu machen … Maria im Alter. Sie lehrt ein Kindlein die Liebesgebote ihres Sohnes und Herrn … Sie steht am Sterbebett eines Pharisäerknechts – beide ausführbar – keiner das Rechte. Das Rechte mußte ich noch finden, es kam mir nicht, wie schon so oft, als Offenbarung. In meinem Kopf entstand ein wildes Ringen, und wer vollführt’s? – lauter stumpfe elende Gedanken. Gebt Ruh, ihr seid nichts, und es ist erbärmlich, wenn die Ohnmacht schaffen will … Unsinn und Qual! – und doch keine Qual, denn nicht einen Augenblick verließ mich in meiner Pein und Not die feste, die erlösende Hoffnung: Die Erfüllung kommt, sie muß. Was sich dir jetzt verhüllt, du wirst es sehen. Was dir heute unerreichbar ist, fällt dir morgen von selbst in den Schoß.

So vertröstete ich mich, stand auf, tauchte meinen Kopf in das mit frischem Wasser gefüllte Waschbecken, öffnete alle Fenster und legte mich, zunächst um auszuruhen, an Schlaf dachte ich nicht, in das weit ins Zimmer hineinragende Himmelbett. Ein köstliches Lager, das mir da bereitet worden. Mit Hochgenuß streckte ich mich aus, freute mich des Hereinströmens der kühlen Luft und horchte dem Rauschen der windbewegten Bäume, das von Zeit zu Zeit der Schrei eines beutegierigen Nachtvogels durchdrang. Wohlige Ruhe umfing mich, ein Reflex alles dessen, was mich heute bewegte, sammelte sich wie in einem Brennpunkt und umwob mich mit dunkelhellen, geheimnisvollen Strahlen … Ich weiß noch, daß ich ein Frauenbild von erhebender Schönheit vor mir sah und daß es meine edle Gastfreundin vorstellte und ein Werk war, das den Namen dessen, der es schuf, durch die Jahrhunderte trägt …

Plötzlich wacht ich auf – grelles Sonnenlicht, das mir in die Augen fiel, hatte mich aufgeweckt … Schon Tag? Mir war, als hätte ich kaum eine Stunde geschlafen. – Am Fuße meines Bettes stand Christel, hatte den Vorhang zurückgeschoben und blinzelte mich halb mutwillig, halb verlegen an.

»Schon fünf?« rief ich, und er kratzte sich hinter dem Ohr.

»Sehen Sie doch, wie hoch die Sonne steht, es hat just zehn geschlagen.«

Wie mir wurde, wie ich ihn anfuhr – darüber mag ich mich nicht ausbreiten. Aber bekennen muß ich, daß Christel wohl versucht hatte, mich zu wecken, daß es ihm aber nicht gelang, weil ich in meinem Waterlooschlaf gelegen hatte. So nämlich nennen meine Freunde den eisernen Schlaf, der mich zum erstenmal befiel, nachdem ich als junger Künstler einen furchtbaren Mißerfolg erlitten. Später stellte er sich seltener, meist nur nach einer großen Ermüdung bei mir ein. Und auch dann nicht immer – zu meinem Bedauern, denn aus einem solchen Schlaf erwache ich als ein glücklicher Mensch und fühle mich fähig, alle Kräfte, die in mir liegen, zu verwerten und jede Niederlage von einst wettzumachen durch Sieg um Sieg.

Auch an diesem Morgen überkam mich eine herrliche Stimmung, leider jedoch erst, als meine Flüche gegen Christel bereits ausgestoßen waren. Um so sanfter und freundschaftlicher fragte ich ihn jetzt, wann der nächste Zug in der Station eintreffe.

»In fünf Stunden dreißig Minuten. Sie haben noch zwei Stunden Zeit zum Frühstück und zu einem kleinen Spaziergang, wenn’s gefällig ist.«

»Und zu einem Besuch bei der Frau Gräfin?«

»Das nicht.« – Christel geriet in Bestürzung. »Vormittags darf unter Dienstesentlassung kein Mensch angemeldet werden. Auch ist die Frau Gräfin nie zu Hause.«

»Wieso nie? – das heißt wohl für Besucher?«

»Nein, wirklich – aber ich bitte, fragen Sie lieber den Doktor –« setzte er mit demütigem Flehen hinzu. »Er hat ohnehin fragen lassen, ob er Ihnen Gesellschaft leisten darf beim Frühstück.«

»Ohne weiteres«, erwiderte ich und hatte mich kaum gewaschen und angekleidet, als der junge Mann auch schon ins Zimmer trat. Er schüttelte mir die Hand und erkundigte sich, ob ich viel versäume durch meine verspätete Ankunft in Wien?

– »Hm!« antwortete ich, »hm, hm – eine Sitzung der Akademie.«

»Eine Sitzung? O Herr Professor« – und der Ausruf kam ihm vom Herzen –, »das muß Ihnen schrecklich sein!«

»Passiert, und ich will’s verschmerzen, vorausgesetzt, daß Sie mir eine Abschiedsaudienz bei der Frau Gräfin verschaffen.«

Nachdem er sich dazu bereit erklärt hatte, bestätigte er Christels Behauptung, daß die Gräfin vormittags nie zu Hause sei.

»Und wo ist sie?«

»Bei den Ihren. – Wir müssen sie dort aufsuchen.«

Ich beeilte mich, meine Mahlzeit zu beenden, und folgte ihm, sehr bemüht, meine Spannung zu verbergen. Mich verdroß die Überlegenheit, mit welcher er neben mir herschritt, ganz wie ein Hofmeister, der seinen Zögling zu einem interessanten Schauspiel geleitet und Betrachtungen über die Art anstellt, in welcher der Junge sich wohl dabei benehmen wird.

Wir wanderten durch dichtverwachsene Laubgänge die Lehne hinan, die hinter dem Schloß emporstieg. Es war ein wunderschöner Tag und in der Luft ein Frühlingsatem, mit dem einzelne vertrocknete Zweige am Geäste und die dürren Blätter, welche der Wind raschelnd vor uns hertrieb, in seltsamem Widerspruch standen.

Der Doktor sprach, absichtlich wie mir schien – vielleicht tat ich ihm unrecht –, durchaus nur von gleichgültigen Dingen. Eine gute Weile nahm ich mich zusammen, endlich aber riß mir die Geduld, und ich brach aus: »Ich bin kein Freund von Überraschungen, Herr Doktor!… Wohin führen Sie mich?«

Er erwiderte mit verwünschter Gelassenheit: »Zur Gruft, wo die Gräfin ihre Vormittage zubringt und aus der sie oft ganz traurig heimkehrt, weil diejenigen, die dort in den Sarkophagen liegen, nicht gekommen sind, um mit ihr zu beten.«

»Zu beten? sie weiß nicht …«

»Sie weiß nicht mehr, sie hat vergessen – vergessen wollen. Das Maß ihrer Leidensfähigkeit war erschöpft durch den Tod ihres Mannes und durch das Leben ihrer Tochter. Den Verlust ihrer Enkel – beide, denken Sie, sind gewaltsam aus dem Dasein gefördert worden – und den ihres Schwiegersohnes hätte sie nicht ertragen können. Da hat ›die Natur‹ sich ihrer erbarmt und ihr die Fähigkeit geschenkt, Träume zu weben, in denen die Begrabenen auferstehen. Übrigens entreißt sie sich manchmal diesen Wahnvorstellungen. Sie findet dazu die Kraft, wenn es gilt, erfüllen, was sie für Pflicht gegen ihre Toten hält. Zum Beispiel in der Kapelle dort oben eine Messe hören an jedem Erinnerungstage. Ein solcher ist heute, und wir finden sie möglicherweise so klar, als jemand sein kann, der im Nebel der Frömmigkeit wandelt. – Den zu zerstreuen, war ich zuerst bemüht, denn ich halte ihn für den anonymen Urheber …«

»Bleiben wir bei den Tatsachen!« unterbrach ich ihn. »Wie sagten Sie vorhin: beide Enkel eines gewaltsamen Todes gestorben?«

»Beide, und zwar rasch nacheinander – und der Fürst gleich darauf. An gebrochenem Herzen, heißt es, ich meine an einem Lungenleiden, das er seit langem in sich getragen haben soll. Jedenfalls war sein Ende nicht tragisch wie das seiner Söhne.« Der Doktor hielt inne, erwartend, daß ich ihn bitten werde fortzufahren. Ich tat es nicht, und so erzählte er denn aus eigenem Antrieb weiter: »Iwan, der jüngere, der Maler, hat in Marseille, kurz bevor er sich nach Afrika einschiffen wollte, einen französischen Offizier herausgefordert. Warum? Weil jener, der eben aus Paris kam, etwas respektlos von der Fürstin-Mutter gesprochen hatte. Das Duell fand statt, und der ritterliche Verteidiger einer verlorenen Ehre blieb auf dem Flecke.«

»Ein Unglück, nicht nur für die Seinen, auch für die Kunst. Schade um den Mann.«

»Gewiß ein Unglück und zugleich eine Lächerlichkeit.«

»Herr«, sagte ich, »mögen solche Lächerlichkeiten nie aussterben in unserer ernsten Welt.«

»Das ist Geschmacksache, sehen Sie. – Meinetwegen brauchte ein reiches und hoffnungsvolles Leben nicht hingeworfen zu werden, um eine schadhafte Reputation zu verteidigen, weil es zufällig die eigene Mutter ist, welche sich diese Reputation gemacht hat.«

Gar zu gern hätte ich ihm darauf eine tüchtige Antwort gegeben, aber nichts dergleichen fiel mir ein. Ich hasse die kalte Vernunft – gegen sie aufkommen kann ich nicht.

Er fuhr fort: »Der Majoratsherr, der Matja, war aus derberem und gesunderem Stoffe gebaut als sein Bruder und ein leidenschaftlicher Jäger. Er ging in Wolhynien zugrunde auf einer Bärenjagd … Aber sehen Sie, wir sind am Ziel.«

Wir waren aus dem Dickicht herausgetreten, vor uns lag zwischen uralten Bäumen eine dicht bewachsene, kurz geschorene Wiese. Sie zog sich den Berg hinan, auf dem ein wahrer Prachtbau emporragte. Es war ein Tempel aus poliertem grauem Marmor, dessen Gebälk von weißen korinthischen Säulen getragen wurde. Eiben und Zypressen umgaben ihn im Halbkreis und bildeten eine dunkle Sichel inmitten der Laubwaldungen, die schon herbstlich entfärbt weithin die Höhen bedeckten. Die Pforte des Tempels stand offen, und der innere Raum, von Sonnenlicht durchflutet, das durch die hohen Fenster brach, blinkte uns goldig entgegen.

»Ein merkwürdiger Bau«, sagte ich.

»Ein Mausoleum«, erwiderte der Doktor. »Die Gräfin hat es nach dem Tode ihres Mannes errichten lassen. Die anderen sind viel später dort beigesetzt worden … Aber Sie haben nicht mehr allzuviel Zeit, wenn Ihnen daran liegt, sie noch einmal zu sehen; kommen Sie.«

»Wohin?« rief ich aus und blieb stehen. »An die Ruhestätte ihrer Lieben? – Sie vielleicht im Gebete stören – was denken Sie?«

»Die Gebetstunde ist längst vorbei, kommen Sie, es wird sie freuen … Sie wollen nicht? – Nun, so muß ich Sie denn anmelden.«

Mit großen Schritten ging er vorwärts, und ich, durch seine Zuversicht ermutigt, folgte ihm nach. Schon konnte ich das goldene Kreuz auf dem Altare sehen, der frei inmitten des Tempels stand. Über ihm hing die Lampe mit dem Ewigen Licht … Dieses – ja dieses war’s, das mir gestern so freundlich durch die Bäume hindurchgeschimmert hatte. In der Dunkelheit ein klarer, verheißender Stern, in der Tageshelle ein schwach glimmender Schein.

Oben am Eingang ließ der Doktor sich wieder blicken. »Nicht mehr da, Sie haben Unglück!« schrie er mir zu. »Bemühen Sie sich trotzdem herauf, es ist ganz hübsch hier.«

Mich aber widerte es an, das Heiligtum meiner Gastfreundin an der Seite dieses pietätlosen Gesellen zu betreten. Statt aller Antwort wandte ich mich ab und sah – im selben Augenblick sah ich gerade mir gegenüber die Gräfin aus dem Walde herausschreiten. – Sie trug einen Laubkranz in ihrer Hand und durchschritt langsamen Ganges, unbewußt und mechanisch, die Wiese auf dem kürzesten Wege dem Grabdenkmal zu.

Nach kurzem Zaudern wagte ich’s, eilte ihr nach, und mich tief verneigend, pochenden Herzens, sprach ich sie an. Sie tat erschrocken einen Schritt zurück, Bestürzung und Verlegenheit malten sich in ihren Zügen. Rasch jedoch nahm sie sich zusammen.

»Ah – Herr Professor …« sprach sie und reichte mir die Hand, »so haben Sie sich’s doch überlegt und sind geblieben … Iwans wegen? Sagte ich Ihnen denn, daß heute sein Geburtstag ist? Nein, nicht wahr? Eine schöne Fügung also, daß Sie es sind, der ihm heute diesen Kranz bringen kann.«

Sie reichte ihn mir, wir stiegen die Stufen hinan und standen in einem hochgewölbten Raum, dessen reich kassettierte Kuppel von schlanken Säulen getragen wurde. Zwischen diesen, an der Evangelienseite des Altars, standen fünf Marmorsärge. Einer derselben war offen und leer. Auf den Deckeln der übrigen las ich die Namen derer, von welchen die Gräfin gestern so oft, mit soviel Liebe und wie von Lebenden gesprochen hatte.

Die alte Frau breitete ihre Arme mit einer unsagbar ergreifenden Gebärde aus. »Alle tot –« sprach sie, »alle tot!«

Sie war aus ihrem Traum erwacht.

Wir gingen von Sarg zu Sarg, und im Innersten ergriffen, schmückte ich denjenigen meines gottbegnadeten Jüngers, der auf dem besten Wege gewesen, mein Meister zu werden. Die Gräfin stand dabei, hoch aufgerichtet, regungslos. Als mein Blick dem ihren begegnete, schüttelte sie das Haupt: »Bedauern Sie mich nicht. Ich habe die Meinen nicht begraben. Nur ihren Staub. Die Seelen, die ihn belebten, wohnen weit … Aber sie kommen – aus lichten Bereichen kommen, kraft ihrer unsterblichen Liebe, meine Kinder zu mir. Ich fühle – wie oft! – ihre beglückende Nähe. Und wenn ich durchs Haus gehe, durch den Garten, durchs Dorf, scheinbar allein, ich bin es nicht – meine Toten gehen mit …«

Der Doktor, der die Zeit über schweigend an der Pforte gelehnt hatte, räusperte sich laut. Die Gräfin nahm seine Mahnung zur Kenntnis, ein bleiches Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Mein Hausarzt zwar behauptet, das sei ein Wahn, und will mich davon kurieren, ich aber hoffe unheilbar zu sein.«

Der Doktor murmelte: »Das heißt hoffen, sich immer der Wahrheit verschließen zu können.«

»Wahrheit!« fuhr ich ihn an, »wie sieht die aus, die bei Ihnen zu haben ist?… War jemals in dergleichen Fragen die Wahrheit von gestern noch die von heute?«

»Sie werden den Zug versäumen, Herr Professor«, erwiderte er.

Ich küßte der Gräfin die Hände und rief: »Heil Ihnen, edle Frau, Heil Ihrem Traum, Ihrem Wahn, Heil Ihrem schönen Glauben. Halten Sie so lange an ihm fest, als Ihnen niemand eine Wahrheit bringt, die schöner ist als er.«

Ich ging. Der Doktor gab mir das Geleite und ließ unaufhörlich die Quellen reichlicher Belehrung springen. Aber dieser ganze Segen rieselte über einen Unwürdigen nieder. Alle meine Gedanken waren gefangengenommen von dem Eindruck, den ich empfing, als ich mich zum letztenmal nach der Gruftkapelle zurückwandte. Die Gräfin stand auf der Schwelle, und ich glaubte, den Freudenglanz auf ihrem Angesicht noch schimmern zu sehen, den meine Worte hervorgerufen hatten.

Und ich versäumte den Zug, und ich kam erst am nächsten Tage in Wien an, und ich fand Juliettas Abschiedsbrief angenagelt an der Tür meines Ateliers. Und das alles war mir gleichgültig, weil ich malte – malte und von der Welt nichts wußte und von unserer Erde nichts verlangte, als daß sie ihre eigene Bahn verfolge und sich’s nicht einfallen lasse, in die Sonne oder irgendwohin anders zu stürzen, bevor mein Werk geschaffen war.

Sie erfüllte mir den Wunsch, und ins Leben trat meine Mater resurrecti, die ihr alle kennt: Maria am Grabe, in dem ihr Sohn gelegen – aus dem er auferstand.

Das Urbild meiner besten Arbeit habe ich nicht wiedergesehen. Am selben Tage, an welchem diese mit dem großen Preise gekrönt wurde, erhielt ich die Nachricht vom Tode der Gräfin. Sie war plötzlich und schmerzlos aus dem Leben geschieden.

Er Lasst Die Hand Kuessen

»So reden Sie denn in Gottes Namen!« sprach die Gräfin, »ich werde Ihnen zuhören; glauben aber – nicht ein Wort.«

Der Graf lehnte sich behaglich zurück in seinem großen Lehnsessel: »Und warum nicht?« fragte er.

Sie zuckte leise mit den Achseln: »Vermutlich erfinden Sie nicht überzeugend genug.«

»Ich erfinde gar nicht, ich erinnere mich. Das Gedächtnis ist meine Muse.«

»Eine einseitige, wohldienerische Muse! Sie erinnert sich nur der Dinge, die Ihnen in den Kram passen. Und doch gibt es auf Erden noch manches Interessante und Schöne außer dem – Nihilismus.« Sie hatte ihre Häkelnadel erhoben und das letzte Wort wie einen Schuß gegen ihren alten Verehrer abgefeuert.

Er vernahm es ohne Zucken, strich behaglich seinen weißen Bart und sah die Gräfin beinahe dankbar aus seinen klugen Augen an. »Ich wollte Ihnen etwas von meiner Großmutter erzählen«, sprach er. »Auf dem Wege hierher, mitten im Walde, ist es mir eingefallen.«

Die Gräfin beugte den Kopf über ihre Arbeit und murmelte: »Wird eine Räubergeschichte sein.«

»O nichts weniger! So friedlich wie das Wesen, durch dessen Anblick jene Erinnerung in mir wachgerufen wurde, Mischka IV. nämlich, ein Urenkel des ersten Mischka, der meiner Großmutter Anlaß zu einer kleinen Übereilung gab, die ihr später leid getan haben soll«, sagte der Graf mit etwas affektierter Nachlässigkeit und fuhr dann wieder eifrig fort: »Ein sauberer Heger, mein Mischka, das muß man ihm lassen! Er kriegte aber auch keinen geringen Schrecken, als ich ihm unvermutet in den Weg trat – hatte ihn vorher schon eine Weile beobachtet… Wie ein Käfersammler schlich er herum, die Augen auf den Boden geheftet, und was hatte er im Laufe seines Gewehres stecken? Denken Sie: – ein Büschel Erdbeeren!«

»Sehr hübsch!« versetzte die Gräfin. »Machen Sie sich darauf gefaßt – in Bälde wandern Sie zu mir herüber durch die Steppe, weil man Ihnen den Wald fortgetragen haben wird.«

»Der Mischka wenigstens verhindert’s nicht.«

»Und Sie sehen zu?«

»Und ich sehe zu. Ja, ja, es ist schrecklich. Die Schwäche liegt mir im Blut – von meinen Vorfahren her.« Er seufzte ironisch und sah die Gräfin mit einer gewissen Tücke von der Seite an.

Sie verschluckte ihre Ungeduld, zwang sich zu lächeln und suchte ihrer Stimme einen möglichst gleichgültigen Ton zu geben, indem sie sprach: »Wie wär’s, wenn Sie noch eine Tasse Tee trinken und die Schatten Ihrer Ahnen heute einmal unbeschworen lassen würden? Ich hätte mit Ihnen vor meiner Abreise noch etwas zu besprechen.«

»Ihren Prozeß mit der Gemeinde? – Sie werden ihn gewinnen.«

»Weil ich recht habe.«

»Weil Sie vollkommen recht haben.«

»Machen Sie das den Bauern begreiflich. Raten Sie ihnen, die Klage zurückzuziehen.«

»Das tun sie nicht.«

»Verbluten sich lieber, tragen lieber den letzten Gulden zum Advokaten. Und zu welchem Advokaten, guter Gott! … ein ruchloser Rabulist. Dem glauben sie, mir nicht, und wie mir scheint, Ihnen auch nicht, trotz all Ihrer Popularitätshascherei.«

Die Gräfin richtete die hohe Gestalt empor und holte tief Atem. »Gestehen Sie, daß es für diese Leute, die so töricht vertrauen und mißtrauen, besser wäre, wenn ihnen die Wahl ihrer Ratgeber nicht freistände.«

»Besser wär’s natürlich! Ein bestellter Ratgeber, und – auch bestellt – der Glaube an ihn.«

»Torheit!« zürnte die Gräfin.

»Wieso? Sie meinen vielleicht, der Glaube lasse sich nicht bestellen? … Ich sage Ihnen, wenn ich vor vierzig Jahren meinem Diener eine Anweisung auf ein Dutzend Stockprügel gab und dann den Rat, aufs Amt zu gehen, um sie einzukassieren, nicht einmal im Rausch wäre es ihm eingefallen, daß er etwas Besseres tun könnte als diesen meinen Rat befolgen.«

»Ach, Ihre alten Schnurren! – Und ich, die gehofft hatte, Sie heute ausnahmsweise zu einem vernünftigen Gespräch zu bringen!«

Der alte Herr ergötzte sich eine Weile an ihrem Ärger und sprach dann: »Verzeihen Sie, liebe Freundin. Ich bekenne, Unsinn geschwatzt zu haben. Nein, der Glaube läßt sich nicht bestellen, aber leider der Gehorsam ohne Glauben. Das eben war das Unglück des armen Mischka und so mancher anderer, und deshalb bestehen heutzutage die Leute darauf, wenigstens auf ihre eigene Fasson ins Elend zu kommen.«

Die Gräfin erhob ihre nachtschwarzen, noch immer schönen Augen gegen den Himmel, bevor sie dieselben wieder auf ihre Arbeit senkte und mit einem Seufzer der Resignation sagte: »Die Geschichte Mischkas also!«

»Ich will sie so kurz machen als möglich«, versetzte der Graf, »und mit dem Augenblick beginnen, in dem meine Großmutter zum erstenmal auf ihn aufmerksam wurde. Ein hübscher Bursche muß er gewesen sein; ich besinne mich eines Bildes von ihm, das ein Künstler, der sich einst im Schlosse aufhielt, gezeichnet hatte. Zu meinem Bedauern fand ich es nicht im Nachlaß meines Vaters und weiß doch, daß er es lange aufbewahrt hat, zum Andenken an die Zeiten, in welchen wir noch das jus gladii ausübten.«

»O Gott!« unterbrach ihn die Gräfin, »spielt das jus gladii eine Rolle in Ihrer Geschichte?«

Der Erzähler machte eine Bewegung der höflichen Abwehr und fuhr fort: »Es war bei einem Erntefest und Mischka einer der Kranzträger, und er überreichte den seinen schweigend, aber nicht mit gesenkten Augen, sah vielmehr die hohe Gebieterin ernsthaft und unbefangen an, während ein Aufseher im Namen der Feldarbeiter die übliche Ansprache herunterleierte.

Meine Großmutter erkundigte sich nach dem Jungen und hörte, er sei ein Häuslerssohn, zwanzig Jahre alt, ziemlich brav, ziemlich fleißig und so still, daß er als Kind für stumm gegolten hatte, für dummlich galt er noch jetzt. – Warum? wollte die Herrin wissen; warum galt er für dummlich? … Die befragten Dorfweisen senkten die Köpfe, blinzelten einander verstohlen zu und mehr als: ›So – ja eben so‹, und: ›Je nun, wie’s schon ist‹, war aus ihnen nicht herauszubringen.

Nun hatte meine Großmutter einen Kammerdiener, eine wahre Perle von einem Menschen. Wenn er mit einem Vornehmen sprach, verklärte sich sein Gesicht dergestalt vor Freude, daß es beinahe leuchtete. Den schickte meine Großmutter anderen Tages zu den Eltern Mischkas mit der Botschaft, ihr Sohn sei vom Feldarbeiter zum Gartenarbeiter avanciert und habe morgen den neuen Dienst anzutreten.

Der eifrigste von allen Dienern flog hin und her und stand bald wieder vor seiner Gebieterin. ›Nun‹, fragte diese, ›was sagen die Alten?‹ Der Kammerdiener schob das rechte, auswärts gedrehte Bein weit vor…«

»Waren Sie dabei?« fiel die Gräfin ihrem Gaste ins Wort.

»Bei dieser Referenz gerade nicht, aber bei späteren des edlen Fritz«, erwiderte der Graf, ohne sich irremachen zu lassen. »Er schob das Bein vor, sank aus Ehrfurcht völlig in sich zusammen und meldete, die Alten schwämmen in Tränen der Dankbarkeit.

›Und der Mischka?‹

›Oh, der‹ – lautete die devote Antwort, und nun rutschte das linke Bein mit anmutigem Schwunge vor -›oh, der – der laßt die Hand küssen.‹

Daß es einer Tracht väterlicher Prügel bedurft hatte, um den Burschen zu diesem Handkuß in Gedanken zu bewegen, verschwieg Fritz. Die Darlegung der Gründe, die Mischka hatte, die Arbeit im freien Felde der im Garten vorzuziehen, würde sich für Damenohren nicht geschickt haben. – Genug, Mischka trat die neue Beschäftigung an und versah sie schlecht und recht. ›Wenn er fleißiger wäre, könnt’s nicht schaden‹, sagte der Gärtner. Dieselbe Bemerkung machte meine Großmutter, als sie einmal vom Balkon aus zusah, wie die Wiese vor dem Schlosse gemäht wurde. Was ihr noch auffiel, war, daß alle anderen Mäher von Zeit zu Zeit einen Schluck aus einem Fläschchen taten, das sie unter einem Haufen abgelegter Kleider hervorzogen und wieder darin verbargen. Mischka war der einzige, der, diesen Quell der Labung verschmähend, sich aus einem irdenen, im Schatten des Gebüsches aufgestellten Krüglein erquickte. Meine Großmutter rief den Kammerdiener. ›Was haben die Mäher in der Flasche?‹ fragte sie. – ›Branntwein, hochgräfliche Gnaden.‹ – ›Und was hat Mischka in dem Krug?‹

Fritz verdrehte die runden Augen, neigte den Kopf auf die Seite, ganz wie unser alter Papagei, dem er ähnlich sah wie ein Bruder dem anderen, und antwortete schmelzenden Tones: ›Mein Gott, hochgräfliche Gnaden – Wasser!‹

Meine Großmutter wurde sogleich von einer mitleidigen Regung ergriffen und befahl, allen Gartenarbeitern nach vollbrachtem Tagewerk Branntwein zu reichen. ›Dem Mischka auch‹, setzte sie noch eigens hinzu.

Diese Anordnung erregte Jubel. Daß Mischka keinen Branntwein trinken wollte, war einer der Gründe, warum man ihn für dummlich hielt. Jetzt freilich, nachdem die Einladung der Frau Gräfin an ihn ergangen, war’s aus mit Wollen und Nichtwollen. Als er in seiner Einfalt sich zu wehren versuchte, ward er Mores gelehrt, zur höchsten Belustigung der Alten und der Jungen. Einige rissen ihn auf den Boden nieder, ein handfester Bursche schob ihm einen Keil zwischen die vor Grimm zusammengebissenen Zähne, ein zweiter setzte ihm das Knie auf die Brust und goß ihm so lange Branntwein ein, bis sein Gesicht so rot und der Ausdruck desselben so furchtbar wurde, daß die übermütigen Quäler sich selbst davor entsetzten. Sie gaben ihm etwas Luft, und gleich hatte er sie mit einer wütenden Anstrengung abgeschüttelt, sprang auf und ballte die Fäuste… aber plötzlich sanken seine Arme, er taumelte und fiel zu Boden. Da fluchte, stöhnte er, suchte mehrmals vergeblich sich aufzuraffen und schlief endlich auf dem Fleck ein, auf den er hingestürzt war, im Hofe, vor der Scheune, schlief bis zum nächsten Morgen, und als er erwachte, weil ihm die aufgehende Sonne auf die Nase schien, kam just der Knecht vorbei, welcher ihm gestern den Branntwein eingeschüttet hatte. Der wollte schon die Flucht ergreifen, nichts anderes erwartend, als daß Mischka für die gestrige Mißhandlung Rache üben werde. Statt dessen reckt sich der Bursche, sieht den anderen traumselig an und lallt: ›Noch einen Schluck!‹

Sein Abscheu vor dem Branntwein war überwunden.

Bald darauf, an einem Sonntagnachmittag, begab es sich, daß meine Großmutter auf ihrer Spazierfahrt, von einem hübschen Feldweg gelockt, ausstieg und bei Gelegenheit dieser Wanderung eine idyllische Szene belauschte. Sie sah Mischka unter einem Apfelbaum am Feldrain sitzen, ein Kindlein in seinen Armen. Wie er selbst, hatte auch das Kind den Kopf voll dunkelbrauner Löckchen, der wohlgebildete kleine Körper hingegen war von lichtbrauner Farbe, und das armselige Hemdchen, das denselben notdürftig bedeckte, hielt die Mitte zwischen den beiden Schattierungen. Der kleine Balg krähte förmlich vor Vergnügen, sooft ihn Mischka in die Höhe schnellte, stieß mit den Füßchen gegen dessen Brust und suchte ihm mit dem ausgestreckten Zeigefinger in die Augen zu fahren. Und Mischka lachte und schien sich mindestens ebensogut zu unterhalten wie das Bübchen. Dem Treiben der beiden sah ein junges Mädchen zu, auch ein braunes Ding und so zart und zierlich, als ob ihre Wiege am Ganges gestanden hätte. Sie trug über dem geflickten kurzen Rocke eine ebenfalls geflickte Schürze und darin einen kleinen Vorrat aufgelesener Ähren. Nun brach sie eine derselben vom Stiele, schlich sich an Mischka heran und ließ ihm die Ähre zwischen der Haut und dem Hemd ins Genick gleiten. Er schüttelte sich, setzte das Kind auf den Boden und sprang dem Mädchen nach, das leicht und hurtig und ordentlich wie im Tanze vor ihm floh; einmal pfeilgerade, dann wieder einen Garbenschober umkreisend, voll Ängstlichkeit und dabei doch neckend und immer höchst anmutig. Allerdings ist bei unseren Landleuten eine gewisse angeborene Grazie nichts Seltenes, aber diese beiden jungen Geschöpfe gewährten in ihrer harmlosen Lustigkeit ein so angenehmes Schauspiel, daß meine Großmutter es mit wahrem Wohlgefallen genoß. Einen anderen Eindruck brachte hingegen ihr Erscheinen auf Mischka und das Mädchen hervor. Wie versteinert standen beide beim Anblick der Gutsherrin. Er, zuerst gefaßt, neigte sich beinahe bis zur Erde, sie ließ die Schürze samt den Ähren sinken und verbarg das Gesicht in den Händen. Beim Souper, an welchem, wie an jeder Mahlzeit, der Hofstaat, bestehend aus einigen armen Verwandten und aus den Spitzen der gräflichen Behörden, teilnahm, sagte meine Großmutter zum Herrn Direktor, der neben ihr saß: ›Die Schwester des Mischka, des neuen Gartenarbeiters, scheint mir ein nettes, flinkes Mädchen zu sein, und ich wünsche, es möge für die Kleine ein Posten ausgemittelt werden, an dem sie sich etwas verdienen kann.‹ Der Direktor erwiderte: ›Zu Befehl, hochgräfliche Gnaden, sogleich… obwohl der Mischka meines Wissens eine Schwester eigentlich gar nicht hat.‹

›Ihres Wissens‹, versetzte meine Großmutter, ›das ist auch etwas, Ihr Wissen! … Eine Schwester hat Mischka und ein Brüderchen. Ich habe heute alle drei auf dem Felde gesehen.‹

›Hm, hm‹, lautete die ehrerbietige Entgegnung, und der Direktor hielt die Serviette vor den Mund, um den Ton seiner Stimme zu dämpfen, ›es wird wohl – ich bitte um Verzeihung des obszönen Ausdrucks – die Geliebte Mischkas und, mit Respekt zu sagen, ihr Kind gewesen sein.‹«

Der unwilligen Zuhörerin dieser Erzählung wurde es immer schwerer, an sich zu halten, und sie rief nun: »Sie behaupten, daß Sie nicht dabei waren, als diese denkwürdigen Reden gewechselt wurden? Woher wissen Sie denn nicht nur über jedes Wort, sondern auch über jede Miene und Gebärde zu berichten?«

»Ich habe die meisten der Beteiligten gekannt und weiß – ein bißchen Maler, ein bißchen Dichter, wie ich nun einmal bin –, weiß aufs Haar genau, wie sie sich in einer bestimmten Lage benommen und ausgedrückt haben müssen. Glauben Sie Ihrem treuen Berichterstatter, daß meine Großmutter nach der Mitteilung, welche der Direktor ihr gemacht, eine Wallung des Zornes und der Menschenverachtung hatte. Wie gut und fürsorglich für ihre Untertanen sie war, darüber können Sie nach dem bisher Gehörten nicht im Zweifel sein. Im Punkte der Moral jedoch verstand sie nur äußerste Strenge, gegen sich selbst nicht minder als gegen andere. Sie hatte oft erfahren, daß sie bei Männern und Frauen der Sittenverderbnis nicht zu steuern vermöge, der Sittenverderbnis bei halbreifen Geschöpfen jedoch, der mußte ein Zügel angelegt werden können. – Meine Großmutter schickte ihren Kammerdiener wieder zu den Eltern Mischkas. Mit der Liebschaft des Burschen habe es aus zu sein. Das sei eine Schande für so einen Buben, ließ sie sagen, ein solcher Bub habe an andere Dinge zu denken.

Der Mischka, der zu Hause war, als die Botschaft kam, schämte sich in seine Haut hinein…«

»Es ist doch stark, daß Sie jetzt gar in der Haut Mischkas stecken wollen!« fuhr die Gräfin höhnisch auf.

»Bis über die Ohren!« entgegnete der Graf, »bis über die Ohren steck ich darin! Ich fühle, als wäre ich es selbst, die Bestürzung und Beschämung, die ihn ergriff. Ich sehe ihn, wie er sich windet in Angst und Verlegenheit, einen scheuen Blick auf Vater und Mutter wirft, die auch nicht wissen, wo ein und aus vor Schrecken, ich höre sein jammervoll klingendes Lachen bei den Worten des Vaters: ›Erbarmen Sie sich, Herr Kammerdiener! Er wird ein Ende machen, das versteht sich, gleich wird er ein Ende machen!‹

Diese Versicherung genügte dem edlen Fritz, er kehrte ins Schloß zurück und berichtete, glücklich über die treffliche Erfüllung seiner Mission, mit den gewohnten Kniebeugungen und dem gewohnten demütigen und freudestrahlenden Ausdruck in seiner Vogelphysiognomie: ›Er laßt die Hand küssen, er wird ein Ende machen.‹«

»Lächerlich!« sagte die Gräfin.

»Höchst lächerlich«, bestätigte der Graf. »Meine gute, vertrauensselige Großmutter hielt die Sache damit für abgetan, dachte auch nicht weiter darüber nach. Sie war sehr in Anspruch genommen durch die Vorbereitungen zu den großen Festen, die alljährlich am zehnten September, ihrem Geburtstage, im Schlosse gefeiert wurden und einen Vor- und Nachtrab von kleinen Festen hatten. Da kam die ganze Nachbarschaft zusammen, und Dejeuners auf dem grünen Teppich der Wiesen, Jagden, Pirutschaden, Soupers bei schönster Waldbeleuchtung, Bälle – und so weiter folgten einander in fröhlicher Reihe… Man muß gestehen, unsere Alten verstanden Platz einzunehmen und Lärm zu machen in der Welt. Gott weiß, wie langweilig und öde unser heutiges Leben auf dem Schlosse ihnen erscheinen müßte.«

»Sie waren eben große Herren«, entgegnete die Gräfin bitter, »wir sind auf das Land zurückgezogene Armenväter.«

»Und – Armenmütter«, versetzte der Graf mit einer galanten Verneigung, die von derjenigen, der sie galt, nicht eben gnädig aufgenommen wurde. Der Graf aber nahm sich das Mißfallen, das er erregt hatte, keineswegs zu Herzen, sondern spann mit hellem Erzählerbehagen den Faden seiner Geschichte fort: »So groß der Dienertroß im Schlosse auch war, während der Dauer der Festlichkeiten genügte er doch nicht, und es mußten da immer Leute aus dem Dorfe zur Aushilfe requiriert werden. Wie es kam, daß sich gerade dieses Mal auch Mischkas Geliebte unter ihnen befand, weiß ich nicht; genug, es war der Fall, und die beiden Menschen, die einander hätten meiden sollen, wurden im Dienste der Gebieterin noch öfter zusammengeführt, als dies in früheren Tagen bei der gemeinsame Feldarbeit geschehen war. Er, mit einem Botengang betraut, lief vom Garten in die Küche, sie von der Küche in den Garten – manchmal trafen sie sich auch unterwegs und verweilten plaudernd ein Viertelstündchen…«

»Äußerst interessant!« spottete die Gräfin – »wenn man doch nur wüßte, was sie einander gesagt haben.«

»Oh, wie Sie schon neugierig geworden sind! – aber ich verrate Ihnen nur, was unumgänglich zu meiner Geschichte gehört. – Eines Morgens lustwandelte die Schloßfrau mit ihren Gästen im Garten. Zufällig lenkte die Gesellschaft ihre Schritte nach einem selten betretenen Laubgang und gewahrte am Ende desselben ein junges Pärchen, das, aus verschiedenen Richtungen kommend, wie freudig überrascht stehenblieb. Der Bursche, kein anderer als Mischka, nahm das Mädchen rasch in die Arme und küßte es, was es sich ruhig gefallen ließ. Ein schallendes Gelächter brach los – von den Herren und, ich fürchte, auch von einigen der Damen ausgestoßen, die der Zufall zu Zeugen dieses kleinen Auftritts gemacht hatte. Nur meine Großmutter nahm nicht teil an der allgemeinen Heiterkeit. Mischka und seine Geliebte stoben natürlich davon. Der Bursche – man hat es mir erzählt«, kam der Graf scherzend einer voraussichtlichen Einwendung der Gräfin entgegen –, »glaubte in dem Augenblick sein armes Mädchen zu hassen. Am selben Abend jedoch überzeugte er sich des Gegenteils, als er nämlich erfuhr, die Kleine werde mit ihrem Kinde nach einer anderen Herrschaft der Frau Gräfin geschickt; zwei Tagereisen weit für einen Mann, für eine Frau, die noch dazu ein anderthalb Jahre altes Kind mitschleppen mußte, wohl noch einmal soviel. – Mehr als: ›Herrgott! Herrgott! o du lieber Herrgott!‹ sprach Mischka nicht, gebärdete sich wie ein Träumender, begriff nicht, was man von ihm wolle, als es hieß, an die Arbeit gehen – warf plötzlich den Rechen, den ein Gehilfe ihm samt einem erweckenden Rippenstoß verabfolgte, auf den Boden und rannte ins Dorf, nach dem Hüttchen, in dem seine Geliebte bei ihrer kranken Mutter wohnte, das heißt gewohnt hatte, denn nun war es damit vorbei. Die Kleine stand reisefertig am Lager der völlig gelähmten Alten, die ihr nicht einmal zum Abschiedsegen die Hand aufs Haupt legen konnte und die bitterlich weinte. ›Hört jetzt auf zu weinen‹, sprach die Tochter, ›hört auf, liebe Mutter. Wer soll Euch denn die Tränen abwischen, wenn ich einmal fort bin?‹

Sie trocknete die Wangen ihrer Mutter und dann auch ihre eigenen mit der Schürze, nahm ihr Kind an die Hand und das Bündel mit ihren wenigen Habseligkeiten auf den Rüchen und ging ihres Weges an Mischka vorbei und wagte nicht einmal, ihn anzusehen. Er aber folgte ihr von weitem, und als der Knecht, der dafür zu sorgen hatte, daß sie ihre Wanderung auch richtig antrete, sie auf der Straße hinter dem Dorfe verließ, war Mischka bald an ihrer Seite, nahm ihr das Bündel ab, hob das Kind auf den Arm und schritt so neben ihr her.

Die Feldarbeiter, die in der Nähe waren, wunderten sich: ›Was tut er denn, der Tropf? … Geht er mit? Glaubt er, weil er so dumm ist, daß er nur so mitgehen kann?‹

Bald nachher kam keuchend und schreiend der Vater Mischkas gerannt: ›Oh, ihr lieben Heiligen! Heilige Mutter Gottes! Hab ich mir’s doch gedacht – seiner Dirne läuft er nach, bringt uns noch alle ins Unglück… Mischka! Sohn – mein Junge! … Nichtsnutz! Teufelsbrut!‹ jammerte und fluchte er abwechselnd.

Als Mischka die Stimme seines Vaters hörte und ihn mit drohend geschwungenem Stocke immer näher herankommen sah, ergriff er die Flucht, zur größten Freude des Knäbleins, das ›Hott! hott!‹ jauchzte. Bald jedoch besann er sich, daß er seine Gefährtin, die ihm nicht so rasch folgen konnte, im Stich gelassen, wandte sich und lief zu ihr zurück. Sie war bereits von seinem Vater erreicht und zu Boden geschlagen worden. Wie wahnsinnig raste der Zornige, schlug drein mit den Füßen und mit dem Stocke und ließ seinen ganzen Grimm über den Sohn an dem wehrlosen Geschöpfe aus.

Mischka warf sich dem Vater entgegen, und ein furchtbares Ringen zwischen den beiden begann, das mit der völligen Niederlage des Schwächeren, des Jüngeren, endete. Windelweich geprügelt, aus einer Stirnwunde blutend, gab er den Kampf und den Widerstand auf. Der Häusler faßte ihn am Hemdkragen und zerrte ihn mit sich; der armen kleinen Frau aber, die sich inzwischen mühsam aufgerafft hatte, rief er zu: ›Mach fort!‹

Sie gehorchte lautlos, und selbst die Arbeiter auf dem Felde, stumpfes, gleichgültiges Volk, fühlten Mitleid und sahen ihr lange nach, wie sie so dahinwankte mit ihrem Kinde, so hilfsbedürftig und so völlig verlassen.

In der Nähe des Schlosses trafen Mischka und sein Vater den Gärtner, den der Häusler sogleich als ›gnädiger Herr‹ ansprach und flehentlichst ersuchte, nur eine Stunde Geduld zu haben mit seinem Sohne. In einer Stunde werde Mischka gewiß bei der Arbeit sein; jetzt müsse er nur geschwind heimgehen und sich waschen und sein Hemd auch. Der Gärtner fragte: ›Was ist ihm denn? Er ist ja ganz blutig.‹ – ›Nichts ist ihm‹, lautete die Antwort, ›er ist nur von der Leiter gefallen.‹

Mischka hielt das Wort, das sein Vater für ihn gegeben, und war eine Stunde später richtig wieder bei der Arbeit. Am Abend aber ging er ins Wirtshaus und trank sich einen Rausch an, den ersten freiwilligen, war überhaupt seit dem Tage wie verwandelt. Mit dem Vater, der ihn gern versöhnt hätte, denn Mischka war, seitdem er im Schloßgarten Beschäftigung gefunden, ein Kapital geworden, das Zinsen trug, sprach er kein Wort, und von dem Gelde, das er verdiente, brachte er keinen Kreuzer nach Hause. Es wurde teils für Branntwein verausgabt, teils für Unterstützungen, die Mischka der Mutter seiner Geliebten angedeihen ließ; und diese zweite Verwendung des von dem Burschen Erworbenen erschien dem Häusler als der ärgste Frevel, den sein Sohn an ihm begehen konnte. Daß der arme Teufel, der arme Eltern hatte, etwas wegschenkte, an eine Fremde wegschenkte, der Gedanke wurde der Alp des Alten, sein nagender Wurm. – Je wütender der Vater sich gebärdete desto verstockter zeigte sich der Sohn. Er kam zuletzt gar nicht mehr nach Hause, oder höchstens einmal im geheimen, wenn er den Vater auswärts wußte, um die Mutter zu sehen, an der ihm das Herz hing. Diese Mutter…« der Graf machte eine Pause – »Sie, liebe Freundin, kennen sie, wie ich sie kenne.«

»Ich soll sie kennen? … Sie lebt noch?« fragte die Gräfin ungläubig.

»Sie lebt; nicht im Urbilde zwar, aber in vielfachen Abbildern. Das kleine schwächliche, immer bebende Weiblein mit dem sanften, vor der Zeit gealterten Gesicht, mit den Bewegungen des verprügelten Hundes, das untertänigst in sich zusammensinkt und zu lächeln versucht, wenn eine so hohe Dame, wie Sie sind, oder ein so guter Herr, wie ich bin, ihm einmal zuruft: ›Wie gehts?‹ und in demütigster Freundlichkeit antwortet: ›Vergelt’s Gott – wie’s eben kann.‹ – Gut genug für unsereins, ist seine Meinung, für ein Lasttier in Menschengestalt. Was dürfte man anders verlangen, und wenn man’s verlangte, wer gäbe es einem? – Du nicht, hohe Frau, und du nicht, guter Herr…«

»Weiter, weiter!« sprach die Gräfin. »Sind Sie bald zu Ende?«

»Bald. – Der Vater Mischkas kam einst zu ungewohnter Stunde nach der Hütte und fand da seinen Jungen. ›Zur Mutter also kann er kommen, zu mir nicht‹, schrie er, schimpfte beide Verräter und Verschwörer und begann Mischka zu mißhandeln, was sich der gefallen ließ. Als der Häusler sich jedoch anschickte, auch sein Weib zu züchtigen, fiel der Bursche ihm in den Arm. Merkwürdig genug, warum just damals? Wenn man ihn gefragt hätte, wie oft er den Vater die Mutter schlagen sah, hätte er antworten müssen: ›Soviel Jahre, als ich ihrer denke, mit dreihundertfünfundsechzig multipliziert, das gibt die Zahl.‹ – Und die ganze Zeit hindurch hatte er dazu geschwiegen, und heute loderte beim längst gewohnten Anblick plötzlich ein unbezwinglicher Zorn in ihm empor. Zum zweiten Male nahm er gegen den Vater Partei für das schwächere Geschlecht, und dieses Mal blieb er Sieger. Er scheint aber mehr Entsetzen als Freude über seinen Triumph empfunden zu haben. Mit einem heftigen Aufschluchzen rief er dem Vater, der nun klein beigeben wollte, rief er der weinenden Mutter zu: ›Lebt wohl, mich seht ihr nie wieder!‹ und stürmte davon. Vierzehn Tage lang hofften die Eltern umsonst auf seine Rückkehr, er war und blieb verschwunden. Bis ins Schloß gelangte die Kunde seiner Flucht; meiner Großmutter wurde angezeigt, Mischka habe seinen Vater halbtot geschlagen und sich dann davongemacht. Nun aber war es nach der Verletzung des sechsten Gebotes diejenige des vierten, die von meiner Großmutter am schärfsten verdammt wurde; gegen schlechte und undankbare Kinder kannte sie keine Nachsicht… Sie befahl, auf den Mischka zu fahnden, sie befahl, seiner habhaft zu werden, um ihn heimzubringen zu exemplarischer Bestrafung.

Ein paarmal war die Sonne auf- und untergegangen, da stand eines Morgens Herr Fritz an der Gartenpforte und blickte auf die Landstraße hinaus. Lau und leise wehte der Wind über die Stoppelfelder, die Atmosphäre war voll feinen Staubes, den die Allverklärerin Sonne durchleuchtete und goldig schimmern ließ. Ihre Strahlen bildeten in dem beweglichen Element reizende kleine Milchstraßen, in denen Milliarden von winzigen Sternchen aufblitzten. Und nun kam durch das flunkernde, tanzende Atomengewimmel eine schwere, graue Wolkensäule, bewegte sich immer näher und rollte endlich so nahe an der Pforte vorbei, daß Fritz deutlich unterscheiden konnte, wen sie umhüllte. Zwei Heiducken waren es und Mischka. Er sah aus, blaß und hohläugig wie der Tod, und wankte beim Gehen. In den Armen trug er sein Kind, das die Händchen um seinen Hals geschlungen, den Kopf auf seine Schulter gelegt hatte und schlief. Fritz öffnete das Tor, schloß sich der kleinen Karawane an, holte rasch einige Erkundigungen ein und schwebte dann, ein Papagei im Taubenfluge, ins Haus, über die Treppe, in den Saal hinein, in welchem meine Großmutter eben die sonnabendliche Ratsversammlung hielt. Der Kammerdiener, von dem Glücksgefühl getragen, das Bedientenseelen beim Überbringen einer neuesten Nachricht zu empfinden pflegen, rundete ausdrucksvoll seine Arme und sprach, vor Wonne fast platzend: ›Der Mischka laßt die Hand küssen. Er ist wieder da.‹

›Wo war er?‹ fragte meine Großmutter.

›Mein Gott, hochgräfliche Gnaden‹ – lispelte Fritz, schlug mehrmals schnell nacheinander mit der Zunge an den Gaumen und blickte die Gebieterin so zärtlich an, als die tiefste, unterwürfigste Knechtschaft es ihm nur irgend erlaubte. ›Wo wird er gewesen sein… Bei seiner Geliebten. Ja‹, bestätigte er, während die Herrin, empört über diesen frechen Ungehorsam, die Stirn runzelte, ›ja, und gewehrt hat er sich gegen die Heiducken, und dem Janko hat er, ja, beinahe ein Auge ausgeschlagen.‹

Meine Großmutter fuhr auf: ›Ich hätte wirklich Lust, ihn henken zu lassen.‹

Alle Beamten verneigten sich stumm; nur der Oberförster warf nach einigem Zagen die Behauptung hin: ›Hochgräfliche Gnaden werden es aber nicht tun.‹

›Woher weiß Er das?‹ fragte meine Großmutter mit der strengen Herrschermiene, die so vortrefflich wiedergegeben ist auf ihrem Bilde und die mich gruseln macht, wenn ich im Ahnensaal an ihm vorübergehe. ›Daß ich mein Recht über Leben und Tod noch nie ausgeübt habe, bürgt nicht dafür, daß ich es nie ausüben werde.‹

Wieder verneigten sich alle Beamten, wieder trat Schweigen ein, das der Inspektor unterbrach, indem er die Entscheidung der Gebieterin in einer wichtigen Angelegenheit erbat. Erst nach beendigter Konferenz erkundigte er sich gleichsam privatim nach der hohen Verfügung betreffs Mischkas.

Und nun beging meine Großmutter jene Übereilung, von der ich im Anfang sprach.

›Fünfzig Stockprügel‹, lautete ihr rasch gefällter Urteilsspruch; ›gleich heute, es ist ohnehin Samstag.‹

Der Samstag war nämlich zu jener Zeit, deren Sie«, diesem Worte gab der Graf eine besondere, sehr schalkhafte Betonung, »sich unmöglich besinnen können, der Tag der Exekutionen. Da wurde die Bank vor das Amtshaus gestellt…«

»Weiter, weiter!« sagte die Gräfin, »halten Sie sich nicht auf mit unnötigen Details.«

»Zur Sache denn! – An demselben Samstag sollten die letzten Gäste abreisen, es herrschte große Bewegung im Schlosse, meine Großmutter, mit den Vorbereitungen zu einer Abschiedsüberraschung, die sie den Scheidenden bereiten ließ, beschäftigt, kam spät dazu, Toilette zum Diner zu machen, und trieb ihre Kammerzofen zur Eile an. In diesem allerungünstigsten Momente ließ der Doktor sich anmelden. Er war unter allen Dignitären der Herrin derjenige, der am wenigsten in Gnaden bei ihr stand, verdiente es auch nicht besser, denn einen langweiligeren, schwerfälligeren Pedanten hat es nie gegeben.

Meine Großmutter befahl, ihn abzuweisen, er aber kehrte sich nicht daran, sondern schickte ein zweitesmal und ließ die hochgeborene Frau Gräfin untertänigst um Gehör bitten, er hätte nur ein paar Worte über den Mischka zu sprechen.

›Was will man denn noch mit dem?‹ rief die Gebieterin; ›gebt mir Ruhe, ich habe andere Sorgen.‹

Der zudringliche Arzt entfernte sich murrend.

Die Sorgen aber, von denen meine Großmutter gesprochen hatte, waren nicht etwa frivole, sondern solche, die zu den peinvollsten gehören – Sorgen, für welche Ihnen, liebe Freundin, allerdings das Verständnis und infolgedessen auch das Mitleid fehlt – Poetensorgen.«

»O mein Gott!« sagte die Gräfin unbeschreiblich wegwerfend, und der Erzähler entgegnete: »Verachten Sie’s, soviel Sie wollen, meine Großmutter besaß poetisches Talent, und es manifestierte sich deutlich in dem Schäferspiel Les adieux de Chloë, das sie gedichtet und den Darstellern selbst einstudiert hatte. Das Stückchen sollte nach der Tafel, die man im Freien abhielt, aufgeführt werden, und der Dichterin, obwohl sie ihres Erfolges ziemlich sicher war, bemächtigte sich, je näher der entscheidende Augenblick kam, eine desto weniger angenehme Unruhe. Beim Dessert, nach einem feierlichen, auf die Frau des Hauses ausgebrachten Toast, gab jene ein Zeichen. Die mit Laub überflochtenen Wände, welche den Einblick in ein aus beschnittenen Buchenhecken gebildetes Halbrund verdeckt hatten, rollten auseinander, und eine improvisierte Bühne wurde sichtbar. Man erblickte die Wohnung der Hirtin Chloë, die mit Rosenblättern bestreute Moosbank, auf der sie schlief, den mit Tragant überzogenen Hausaltar, an dem sie betete, und den mit einem rosafarbigen Band umwundenen Rocken, an dem sie die schneeig weiße Wolle ihrer Lämmchen spann. Als idyllische Schäferin besaß Chloë das Geheimnis dieser Kunst. Nun trat sie selbst aus einem Taxusgange, und hinter ihr schritt ihr Gefolge, darunter ihr Liebling, der Schäfer Myrtill. Alle trugen Blumen, und in vortrefflichen Alexandrinern teilte nun die zarte Chloë dem aufmerksam lauschenden Publikum mit, dies seien die Blumen der Erinnerung, gepflückt auf dem Felde der Treue und bestimmt, dargebracht zu werden auf dem Altar der Freundschaft. Gleich nach dieser Eröffnung brach ungemessener Jubel im Auditorium los und steigerte sich von Vers zu Vers. Einige Damen, die Racine kannten, erklärten, er könne sich vor meiner Großmutter verstecken, und einige Herren, die ihn nicht kannten, bestätigten es. Sie aber konnte über die Echtheit des Enthusiasmus, den ihre Dichtung erweckte, nicht im Zweifel sein. Die Ovationen dauerten noch fort, als die Herrschaften schon ihre Wagen oder ihre Pferde bestiegen hatten und teils in stattlichen Equipagen, teils in leichten Fuhrwerken, teils auf flinken Rossen aus dem Hoftor rollten oder sprengten.

Die Herrin stand unter dem Portal des Schlosses und winkte den Scheidenden grüßend und für ihre Hochrufe dankend zu. Sie war so friedlich und fröhlich gestimmt, wie dies einem Selbstherrscher, auch des kleinsten Reiches, selten zuteil wird. Da – eben im Begriff, sich ins Haus zurückzuwenden – gewahrte sie ein altes Weiblein, das in respektvoller Entfernung vor den Stufen des Portals kniete. Es hatte den günstigsten Augenblick wahrgenommen und sich durch das offenstehende Tor, im Gewirr und Gedränge unbemerkt, hereingeschlichen. Jetzt erst wurde es von einigen Lakaien erblickt. Sogleich rannten sie, Herrn Fritz an der Spitze, auf das Weiblein zu, um es gröblich hinwegzuschaffen. Zum allgemeinen Erstaunen jedoch winkte meine Großmutter die dienstfertige Meute ab und befahl zu fragen, wer die Alte sei und was sie wolle. Im nämlichen Moment räusperte sich’s hinter der Gebieterin und nieste, und den breitkrempigen Hut in der einen Hand und mit der anderen die Tabaksdose im Busen verbergend, trat der Herr Doktor bedächtig heran: ›Es ist, hm, hm, hochgräfliche Gnaden werden entschuldigen‹, sprach er, ›es ist die Mutter des Mischka.‹

›Schon wieder Mischka, hat das noch immer kein Ende mit dem Mischka? … Und was will die Alte?‹

›Was wird sie wollen, hochgräfliche Gnaden? Bitten wird sie für ihn wollen, nichts anderes.‹

›Was denn bitten? Da gibt’s nichts zu bitten.‹

›Freilich nicht, ich habe es ihr ohnehin gesagt, aber was nutzt’s? Sie will doch bitten, hm, hm.‹

›Ganz umsonst, sagen Sie ihr das. Soll ich nicht mehr aus dem Hause treten können, ohne zu sehen, wie die Gartenarbeiter ihre Geliebten embrassieren?‹

Der Doktor räusperte sich, und meine Großmutter fuhr fort: ›Auch hat er seinen Vater halbtot geschlagen.‹

›Hm, hm, er hat ihm eigentlich nichts getan, auch nichts tun wollen, nur abhalten, die Mutter nicht ganz totzuschlagen.‹

›So?‹

›Ja, hochgräfliche Gnaden. Der Vater, hochgräfliche Gnaden, ist ein Mistvieh, hat einen Zahn auf den Mischka, weil der der Mutter seiner Geliebten manchmal ein paar Kreuzer zukommen läßt.‹

›Wem?‹

›Der Mutter seiner Geliebten, hochgräfliche Gnaden, ein erwerbsunfähiges Weib, dem sozusagen die Quellen der Subsistenzmittel abgeschnitten worden sind… dadurch, daß man die Tochter fortgeschickt hat.‹

›Schon gut, schon gut! … Mit den häuslichen Angelegenheiten der Leute verschonen Sie mich, Doktor, da mische ich mich nicht hinein.‹

Der Doktor schob mit einer breiten Gebärde den Hut unter den Arm, zog das Taschentuch und schneuzte sich diskret. ›So werde ich also der Alten sagen, daß es nichts ist.‹ Er machte, was die Franzosen une fausse sortie nennen, und setzte hinzu: ›Freilich, hochgräfliche Gnaden, wenn es nur wegen des Vaters wäre…‹

›Nicht bloß wegen des Vaters, er hat auch dem Janko ein Auge ausgeschlagen.‹

Der Doktor nahm eine wichtige Miene an, zog die Augenbrauen so hoch in die Höhe, daß seine dicke Stirnhaut förmliche Wülste bildete, und sprach: ›Was dieses Auge betrifft, das sitzt fest und wird dem Janko noch gute Dienste leisten, sobald die Sugillation, die sich durch den erhaltenen Faustschlag gebildet hat, aufgesaugt sein wird. Hätte mich auch gewundert, wenn der Mischka imstande gewesen wäre, einen kräftigen Hieb zu führen nach der Behandlung, die er von den Heiducken erfahren hat. Die Heiducken, hochgräfliche Gnaden, haben ihn übel zugerichtet.‹

›Seine Schuld; warum wollte er ihnen nicht gutwillig folgen.‹

›Freilich, freilich, warum wollte er nicht? Vermutlich, weil sie ihn vom Sterbebette seiner Geliebten abgeholt haben – da hat er sich schwer getrennt… Das Mädchen, hm, hm, war in anderen Umständen, soll vom Vater des Mischka sehr geprügelt worden sein, bevor sie die Wanderung angetreten hat. Und dann – die Wanderung, die weit ist, und die Person, hm, hm, die immer schwach gewesen ist… kein Wunder, wenn sie am Ziele zusammengebrochen ist.‹

Meine Großmutter vernahm jedes Wort dieser abgebrochenen Sätze, wenn sie sich auch den Anschein zu geben suchte, daß sie ihnen nur eine oberflächliche Aufmerksamkeit schenkte. ›Eine merkwürdige Verkettung von Fatalitäten‹, sprach sie, ›vielleicht eine Strafe des Himmels.‹

›Wohl, wohl‹, nickte der Doktor, dessen Gesicht zwar immer seinen gleichmütigen Ausdruck behielt, sich aber allmählich purpurrot gefärbt hatte. ›Wohl, wohl, des Himmels, und wenn der Himmel sich bereits dreingelegt hat, dürfen hochgräfliche Gnaden ihm vielleicht auch das weitere in der Sache überlassen… ich meine nur so!‹ schaltete er, seine vorlaute Schlußfolgerung entschuldigend, ein -›und dieser Bettlerin‹, er deutete nachlässig auf die Mutter Mischkas, ›huldvollst ihre flehentliche Bitte erfüllen.‹

Die kniende Alte hatte dem Gespräch zu folgen gesucht, sich aber mit keinem Laut daran beteiligt. Ihre Zähne schlugen vor Angst aneinander, und sie sank immer tiefer in sich zusammen.

›Was will sie denn eigentlich?‹ fragte meine Großmutter.

›Um acht Tage Aufschub, hochgräfliche Gnaden, der ihrem Sohne diktierten Strafe untersteht sie sich zu bitten, und ich, hochgräfliche Gnaden, unterstütze das Gesuch, durch dessen Genehmigung der Gerechtigkeit besser Genüge geschähe, als heute der Fall sein kann.‹

›Warum?‹

›Weil der Delinquent in seinem gegenwärtigen Zustande den Vollzug der ganzen Strafe schwerlich aushalten würde.‹

Meine Großmutter machte eine unwillige Bewegung und begann langsam die Stufen des Portals niederzusteigen. Fritz sprang hinzu und wollte sie dabei unterstützen. Sie aber winkte ihn hinweg: ›Geh aufs Amt‹, befahl sie, ›Mischka ist begnadigt.‹

›Ah!‹ stieß der treue Knecht bewundernd hervor und enteilte, während der Doktor bedächtig die Uhr aus der Tasche zog und leise vor sich hinbrummte: ›Hm, hm, es wird noch Zeit sein, die Exekution dürfte eben begonnen haben.‹

Das Wort, ›begnadigt‹ war von der Alten verstanden worden; ein Gewinsel der Rührung, des Entzückens drang von ihren Lippen, sie fiel nieder und drückte, als die Herrin näher trat, das Gesicht auf die Erde, als ob sie sich vor soviel Größe und Hoheit dem Boden förmlich gleichzumachen suche.

Der Blick meiner Großmutter glitt mit einer gewissen Scheu über dieses Bild verkörperter Demut: ›Steh auf‹, sagte sie und zuckte zusammen und horchte… und alle Anwesenden horchten erschaudernd, die einen starr, die andern mit dem albernen Lachen des Entsetzens. Aus der Gegend des Amtshauses hatten die Lüfte einen gräßlichen Schrei herübergetragen. Er schien ein Echo geweckt zu haben in der Brust des alten Weibleins, denn es erhob stöhnend den Kopf und murmelte ein Gebet…

›Nun?‹ fragte einige Minuten später meine Großmutter den atemlos herbeistürzenden Fritz: ›Hast du’s bestellt?‹

›Zu dienen‹, antwortete Fritz mit seinem süßesten Lächeln: ›Er laßt die Hand küssen, er ist schon tot.‹« –

»Fürchterlich!« rief die Gräfin aus, »und das nennen Sie eine friedliche Geschichte?«

»Verzeihen Sie die Kriegslist, Sie hätten mich ja sonst nicht angehört«, erwiderte der Graf. »Aber vielleicht begreifen Sie jetzt, warum ich den sanftmütigen Nachkommen Mischkas nicht aus dem Dienst jage, obwohl er meine Interessen eigentlich recht nachlässig vertritt.«

Kapitel 7

Kapitel 7

 

Am nächsten Tage erschien er nicht mit seinem Gesuche. Auch am nächstfolgenden erwartete ihn der Rat vergebens.

Es wurde in seine Wohnung geschickt, nachzufragen, ob er erkrankt sei. Seine Hausfrau befand sich in großer Sorge, war einmal um das andere zur Polizei gerannt, das unbegreifliche Ausbleiben ihres Mietsmannes dort anzuzeigen und zu Nachforschungen aufzufordern. Sie hatte auch Ziegler von der Sache in Kenntnis gesetzt, und der irrte schon seit zwei Tagen rastlos umher auf der Suche nach seinem Freunde.

Aber vergeblich; Andreas kam nicht zum Vorschein. Da und dort wollte man einen Menschen gesehen haben, auf den die Beschreibung, die von ihm gemacht wurde, paßte, doch bemühte man sich umsonst, seine Spur zu verfolgen. Kaum entdeckt, verlor sie sich wieder.

An einem kalten Märzabend kehrte Ziegler von einem seiner erfolglosen Streifzüge zurück. Der Vorort, in dem er nach dem Vermißten gesucht hatte, lag schon eine tüchtige Strecke hinter ihm. Er wanderte am Saume der mit Pappeln bepflanzten Landstraße mißmutig heimwärts.

Schon flimmerten Lichter in den Fenstern der Vorstadthäuser, die er zunächst zu erreichen trachtete, schon kämpften in der Ferne lange Reihen matter Gasflammen mit dem Zwielicht. Ziegler war zu einer Stelle gelangt, wo die Straße einen weiten Bogen um kleine Anhöhen bildete, und lenkte querfeldein, den Weg abzuschneiden.

Er ging rasch, mit großen Schritten. Um ihn alles still. Nur von Zeit zu Zeit drang von der Straße herüber das ächzende Knarren eines schwerbeladenen Frachtwagens, ein Peitschenknall und der fluchende Anruf des Fuhrmanns an seine Gäule.

»Hei! Die Märzluft weht scharf über die Wintersaaten. Ein schöner Frühlingsgruß für all die Millionen Triebe, die in der Natur erwacht sind, knospen und keimen«, brummt der Wanderer und eilt immer schneller vorwärts. – Plötzlich stößt sein Fuß an einen auf dem Boden liegenden Körper … Weiß Gott, da ruht, den Kopf auf einem Erdhügel gebettet, ein Mensch in sanftem Schlafe. Ziegler beugt sich über ihn. Es ist Andreas.

Eine bleierne Blässe bedeckte sein Gesicht, und es hatte die Unbeweglichkeit des Todes.

Ewige Güte, atmet er denn?!

Angstvoll lauschte der Freund … Lange, lange nichts, kein Hauch, keine Regung … Endlich hob sich die Brust tief und rasch mehrmals nacheinander. Dann wieder die frühere leblose Ruhe. Ziegler griff nach der Hand des Schläfers, sie glühte, ungleich und hastig rieselten ihre Pulse dahin.

Die Uhr lief ab, das Lämpchen flackerte ungeduldig seinem Erlöschen zu.

»Andreas! Andreas!« rief Ziegler schmerzlich aus. Jener erwachte und richtete sich in den Armen seines Freundes auf. Ein Ausdruck unaussprechlicher Freude glitt über sein Gesicht, als er den Getreuen erkannte.

»Glaubst du einige Schritte machen zu können? Nur bis zur Straße, dort ruhst du wieder, indes ich einen Wagen herbeihole.«

»Warum sollt ich nicht gehen können?«

»Du scheinst mir krank.«

»Oh, mir ist wohl!… Frieden! Frieden hier!« flüsterte Andreas und legte die Hand auf die Brust. »Ich alte Stubenfliege habe mir ihn erwandert … Möchtest du’s glauben?«

Seine Rede wurde unverständlich.

»Komm«, bat Ziegler, »komm, Andreas.«

»Wohin?«

»Nach Hause jetzt, dann fährst du nach den Bergen, wirst in einem schönen Schlosse wohnen, bei edlen Menschen; wirst Stücke schreiben, wie sie uns gefallen, uns beiden, und sie mir vorlesen, wenn ich dich besuche.«

Andreas lächelte, wie ein Weltbesieger lächeln würde, wenn man ihm ein Spielzeug aus der Kinderzeit brächte, damit er sich daran ergötze.

»Nein, nein«, sprach er, »das ist vorbei – selig überwunden! – O diese Rast!«

»Vorbei?« fragte Ziegler vorwurfsvoll, »vorbei die Liebe zur heiligen Poesie? – das edle Ringen des Dichters? Du fliehst aus dem Kampfe?«

»Ich habe ihn beendet. Doch beginnt ein neuer, ein anderer, und in dem werde ich siegen!«

Andreas stand aufrecht und sprach leise, aber eindringlich und klar; sein Gesicht leuchtete im Widerscheine eines überirdischen Glückes.

»Das Kunstwerk aus mir heraus zu bilden, es hinzustellen, den Menschen eine Leuchte – dazu fehlte mir die Kraft. Aber der geheimnisvolle Drang nach Gestaltung des Schönen soll dennoch sein Genüge finden … In mir vermag ich’s auszubilden!… Jeden Mißklang, jede kleinliche Empfindung aus der Seele bannen, alles Wollen und Können zusammenstimmen zu einer mächtigen Harmonie … Ein Kunstwerk leben – welch eine Wonne, Freund!«

Wehmütig, mit grollendem Mitleid erwiderte der: »Dazu bereitet man sich wohl vor, indem man aufgeregt und fiebernd umherschweift im Wettersturm? Komm, du armer Träumer, komm.«

Und sorgsam knöpfte er ihm über die Brust den Kastor zu. Wie sah der aus, der mürbe Geselle!

Widerstandslos ließ sich Andreas von seinem Führer geleiten, und langsam schritten sie durch die sinkende Nacht der großen Stadt zu, die im Nebel vor ihnen lag.

 

Wenige Wochen, nachdem sie ihren Knaben nach dem Friedhof geleitet hatten, folgten Ziegler und seine Frau dem Sarge ihres Freundes dahin. Eine kleine Anzahl Beamter schloß sich ihnen an, sogar Rat Seydelmann kam gefahren und warf die erste Scholle Erde in das Grab des harmlosen Menschenkindes, das im Leben nicht viel lauter gewesen war als jetzt in seiner letzten Behausung.

Die Zeremonie war beendet, die Beamten gingen heim, mehr oder weniger gerührt.

Ein ernstes, schönes Paar, das bisher abseits gestanden hatte, näherte sich langsam. Der Mann und die Frau schienen tief ergriffen; er trug einen prächtigen Blumenkranz, den sie ihm nun abnahm und auf das frische Grab legte. Ziegler und seine Gattin traten zu ihnen, und sie grüßten einander wie gute Bekannte.

»In diese Ruhe paßt er besser als in das lärmende Treiben der Welt«, sprach Auwald, und Ziegler erwiderte: »Jawohl. Der paßte in das Menschengewoge wie eine Perle in eine Kugelmühle.«

Sie wechselten noch einige Worte.

»Wir haben uns an einem Sterbebette kennengelernt, aber fürs Leben«, sagte Auwald.

»Auf Wiedersehen in Steiermark«, fügte seine Frau hinzu.

Man drückte einander herzlich die Hände; Auwald und Mathilde verließen den Friedhof.

Ziegler jedoch hielt noch eine Besprechung mit dem Totengräber, indessen die Mutter am Grabe ihres Kindes betete. Endlich traten auch die beiden den Heimweg an. Aber Ziegler hatte noch etwas auf dem Herzen, das nicht einmal seine treue Genossin erfahren sollte. Am Gitter angelangt, hieß er sie warten und kehrte allein nach dem Hügel zurück, unter dem der Freund schlief, den er geliebt, der Dichter, den er bewunderte. Hier, nachdem er sich überzeugt hatte, daß niemand in der Nähe war, der ihn beobachten konnte, warf er sich auf beide Knie nieder und verharrte so einige Augenblicke in stummem Schmerze.

Dann zog er mit zitternder Hand einen frischen Lorbeerzweig aus der Brusttasche seines Rockes und legte ihn zu Häupten des Grabes neben den duftenden Blumenkranz.

Kapitel 5

Kapitel 5

 

Draußen auf dem Gange ließen sich Stimmen vernehmen. »Tür Nr. 19?« fragte die eine. »Ja, ja«, antwortete die andere. Ein rasches Klopfen, ein rasches Öffnen der Tür, und hereintrat, den Hut auf dem Kopfe, den Spazierstock geschultert – Herr Moritz Salmeyer.

»Ich überfalle Sie«, sprach er zu dem über diesen unerwarteten Besuch verblüfften Andreas. »Ah! Ah!… Sie wohnen hier recht hübsch. Aussicht ein Dach, ein paar Schornsteine, zwischendurch ein bißchen Himmel.«

Er nahm den Hut ab und setzte sich in den Lehnstuhl, den ihm Andreas mit den Worten zurechtrückte: »Ich weiß nicht, was mir die Ehre verschafft …«

»Der Wunsch, Ihnen nützlich zu sein. – Eine Art von Reue!« sagte Salmeyer. Er schlug ein Bein über das andere, stützte den Ellbogen auf die Sessellehne, das Gesicht auf die Hand und sah den Poeten mit gescheiten Augen an, in denen ein Strahl von wirklichem Wohlwollen glänzte.

»Ich will Ihnen einen Rat geben und einen Vorschlag machen. Ich interessiere mich für Sie und bin bereit, Ihre Bestrebungen zu fördern.«

»Sie, mein Herr?«

»Zur Sache! – Haben Sie alle Rezensionen gelesen, die über Ihr Stück geschrieben wurden?«

»Nein, doch höre ich, daß sie fast ausnahmslos abfällig lauteten.«

»Nun denn! Daraus mögen Sie ersehen, daß sich heutzutage in der Literatur nichts machen läßt, wenn man nicht wenigstens einen Teil der Kritik für sich hat. Ein Buch, ein Stück hinausschicken in die Welt und denen, die ihm die Wege bahnen, einen Ruf machen sollen, nicht sagen: Nehmt euch meiner Arbeit an, das ist so kühn, daß man es schwerlich klug nennen darf.«

»Aber …« wollte Andreas einwenden.

»Erlauben Sie!« fiel ihm Salmeyer ins Wort. »Jeder Schaffende bedarf der Gunst der Kritik. Ein Tor, der sie verschmähte, wenn sie ihm angeboten wird.« Er machte eine kleine Pause und sprach dann mit einer komisch huldvollen Bewegung: »Sie bietet sich Ihnen an. Noch mehr, die Kritik nimmt Sie auf in ihre Genossenschaft … Erlauben Sie!« wiederholte er, da sich Andreas von neuem anschickte, ihn zu unterbrechen. »Ich bin Redakteur des Feuilletons der Staatszeitung, ich öffne Ihnen die Spalten unseres Blattes.«

»Mir?!« rief Andreas.

»Warum nicht?«

»Weil ich ein langsamer Arbeiter, weil ich nicht schlagfertig bin.«

»Das ist im Anfange keiner – und dann, ich dränge Sie nicht. Liefern Sie mir nur jeden Monat einen Aufsatz über dies und das … Historische Essays, ästhetische Aperçus, verwerten Sie Ihre Lesefrüchte. Sie können auch Kritiken bringen über neue Erscheinungen in der Literatur. Versuchen Sie sich einmal als Humorist; wer weiß, ob Sie nicht, Ihnen selbst unbewußt, Talent zur Satire haben? Es findet sich oft bei solchen zurückgezogenen, melancholischen Naturen wie die Ihre.«

»Spotten Sie meiner?« fragte Andreas.

»Fällt mir nicht ein!« erwiderte Salmeyer ungeduldig. »Ich sagte schon, daß ich mich Ihnen hilfreich erweisen will … Mein Handwerk ist, die Leute zu unterhalten oder zu plagen … Ihnen will ich Gutes tun. Schlagen Sie Kapital aus dieser Velleität. – Ein rascher Entschluß! Nehmen Sie meinen Antrag an. Wenn Sie Fuß fassen in der Kritik, ist Ihre Schriftstellerlaufbahn gesichert. Ihr Drama wird in allen Zeitschriften, die mit uns in Verbindung stehen, besprochen, an vielen Bühnen angenommen werden und auf einigen vielleicht Erfolg haben.«

»Und dann?« fragte Andreas. »Daß mein Stück keinen Erfolg hatte, das ist es ja nicht, was mich niederdrückt. Was – Erfolg!… Den machen die anderen. Aber die Leistung ist mein, für die habe ich einzustehen; die habe ich gerichtet und den Stab gebrochen über mein Talent.«

»Lächerlich«, entgegnete Salmeyer. »Sie haben soviel und mehr Talent als hundert andere, die damit Glück machen … Bei Ihnen ist nur ein Umstand bedenklich …« Er hielt inne, zwinkerte mit den Augen und fuhr dann lebhaft fort: »Sie sind zu spät geboren! Vor dreißig oder fünfzig Jahren wäre man Ihnen verständnisvoll entgegengekommen, Ihre Stimme hätte einen lauten Widerhall erweckt. Aber heute!… Die Menschen, für welche Sie schreiben, sind tot.«

»Damit ist alles gesagt«, sprach Andreas schmerzlich. »Ich bin nur ein Pfuscher. Der rechte Dichter schreibt für solche, die noch nicht geboren sind.«

»Das ist eine Phrase!« erklärte Salmeyer. »Welchen Maßstab legen Sie an?«

»Den höchsten natürlich«, antwortete Andreas leuchtenden Auges, »den einzig berechtigten in der Kunst, der zeitlichen Offenbarung des Ewigschönen und des Ewigguten.«

Der Literat lachte. »Also auch Sie beten dieses hohle Schlagwort nach. Ich hätte mir’s denken können. Wann werdet ihr endlich einsehen, ihr Träumer, daß nichts bleibend ist als die Veränderung, nichts schön, als was dafür gilt, nichts gut, als was Nutzen bringt.«

Andreas erhob sich. Ihm schwindelte. Alles, woran er geglaubt, woran er sich begeistert, was ihm den festen Halt geboten hatte, konnte das weggeleugnet und schwankend genannt werden? – Und wenn – warum hatte er’s nicht selbst, nicht früher erkannt?

»Ich bitte Sie«, hub Salmeyer von neuem an, »verzichten Sie auf Ihre Ideale. Stimmen Sie sich herab. Sinken Sie, sinken Sie! herunter – bis zum jetzigen Geschmack! Je mehr Sie sich verfeinern, desto unverständlicher, ungenießbarer werden Sie, und werden es endlich mit Recht. Ein hohes Streben, das immer unbelohnt bleibt, beschädigt zuletzt den reinsten Charakter, weil es ihn verbittert. Glauben Sie mir: tragen Sie den Anforderungen des Tages Rechnung! Unser heutiges Publikum will nicht Erhebung, es will Unterhaltung, und den, der sie ihm gewährt, belohnt es nach Verdienst, sehr oft über Verdienst … Zum Beispiel – mich!… Meinen Sie, daß ich mich täusche über den Wert der Produktionen, denen ich meine Popularität verdanke?… Doch genug! Sie sind nicht ohne Talent, machen Sie nur davon den richtigen Gebrauch.«

Er hatte, während er sprach, die Banknoten vom Tische genommen und rollte sie zu Tüten zusammen, faltete sie zu dreieckigen Hütchen. Jetzt hielt er sie in die Höhe.

»Ihre Tantieme, nicht wahr?«

Andreas nickte bejahend.

»Soviel«, sprach Salmeyer leichthin, »bezahlt die Staatszeitung für drei meiner Feuilletons. Ich schreibe sie meistens im Kaffeehause, auf dem Billard, zwischen zwei Kegelpartien. – Nun, was beschließen Sie?«

»Mir selbst treu zu bleiben, meinem alten Selbst, von dem ich doch nicht mehr lassen kann«, erwiderte Andreas und glättete die Banknoten, die Salmeyer wieder auf den Tisch gelegt hatte, sorgfältig mit beiden Händen.

»Nach Ihrem Belieben denn!« sagte der Journalist gereizt. »Sie gehören zu den Leuten, denen nicht zu helfen ist.«

Er stand auf, wendete sich und bemerkte das Bild der Gräfin von Auwald über der Bücherstelle.

»Ha!« rief er aus, »die schöne Auwald! – Wie kommen Sie zu ihrem Porträt?«

»Ich habe es gekauft«, stotterte Andreas erblassend, wie im Vorgefühle eines Unglücks.

Der Literat drohte ihm mit dem Finger: »So – so – gekauft?… Ei, Sie stiller Sünder!… Deshalb also Ihre Parteinahme für den Gemahl?…«

»Was meinen Sie?« fragte Andreas in peinvoller Bestürzung.

»O die böse, böse Welt – o diese vornehmen Damen!« seufzte Salmeyer mit drolligem Pathos. Er schlug eines der Manuskripte auf und blätterte darin.

»Das sind wohl Ihre Werke?… Und wie schön geschrieben, wie prächtig! – zehn – fünfzehn – wahrhaftig, fünfzehn sorgfältig ausgearbeitete Theaterstücke! In jedem, ich bin’s überzeugt, so viel Gutes, daß man, wär’s von einem Freunde und Mitarbeiter, leicht ein Lorbeerreislein für den Dichter daraus entsprießen lassen könnte. Aber Sie wollen nichts von uns, und alle diese Buchstaben bleiben tot.«

Andreas blickte zu dem Sprechenden empor. Ein eigentümlicher Ausdruck feiner Selbstironie belebte seine Züge: »Tot diese Buchstaben, von denen ich jeden mit soviel Liebe hingemalt habe? – Das doch nicht«, sagte er. »Jeder davon ist ein Teilchen einer Gedankenseele; sie fügen sich zu Worten zusammen, und Worte bilden den Körper des Gedankens.«

Der Literat hörte ihm mit lächelnder Aufmerksamkeit zu und rief plötzlich: »Ich war blind! Ich war blind!… Nein, Sie sind nicht angetan, mitzuwirken in unserer heißen Werkstätte, in unserer großen stoffzermalmenden Maschine! Sie werden niemals ein Rädchen, nicht einmal eine Speiche an einem Rädchen sein.«

Er klopfte mit keckem Humor Andreas auf die Schulter: »Sie selbst sind Stoff und sollen verarbeitet werden. Und damit grüße ich Sie!«

Salmeyer sah aufmerksam im Zimmer umher, als wollte er sich dessen Bild fest einprägen, und ging.

Andreas wartete, bis er sicher sein konnte, ihn auf der Treppe nicht mehr einzuholen, und schlug dann hastigen Schrittes den Weg nach Zieglers Wohnung ein.

Es dunkelte schon, als Andreas vor dem Hause anlangte, und er zögerte einzutreten und vielleicht die Ruhe des Freundes zu stören. Im Hofe brannte eine Gasflamme und warf ihren flackernden Schein auf das Fenster des von Ziegler bewohnten Zimmers im Erdgeschosse. Andreas konnte nicht wahrnehmen, ob sich noch Licht darin befand, denn der Vorhang war herabgelassen.

Er trat an die Tür der kleinen Küche, die den Eingang zur Stube des Lehrers bildete. Die Klinke gab seinem leisen Drucke nach, man hatte vergessen abzusperren. Im angrenzenden Gemache herrschte tiefe Stille; ein schwacher Schimmer fiel durch die Risse der geborstenen Türe. Andreas näherte sich und pochte.

Nach einer Weile antwortete eine Frauenstimme zögernd: »Herein.«

Die Eheleute saßen am Tische einander gegenüber. Das Weib nähte an einem Knabenhemde, der Mann hielt die Hände über den Knien verschränkt und starrte regungslos vor sich hin auf den Boden. Er erwachte nicht aus seinem Sinnen, als Andreas eintrat und der Frau die Hand reichte, die sie weinend ergriff.

Erst nachdem der Freund ihn angeredet hatte, erhob er den Kopf.

»Ei, ei!« sprach er und betrachtete Muth mit verwirrtem Blicke, dann, als besänne er sich plötzlich, fügte er hinzu: »Vorlesen? ganz recht, ein neues Drama?… Ich bin begierig.«

»Nein, nein«, antwortete Andreas und sah nach der Ecke des Zimmers hin. Dort ruhte, mit einem Linnen bedeckt, auf dem Lager der Eltern die Leiche des Kindes. Ihr zu Häupten brannte eine Wachskerze, mit einem Kränzlein künstlicher Blumen umwunden, daneben stand ein Kruzifix aus schwarzem Holze.

Als die Frau die Richtung bemerkte, die das Auge des Besuchers genommen, machte sie eine abwehrende Bewegung.

»Sehen Sie ihn jetzt nicht an«, bat sie. »Morgen bahren wir ihn erst auf. Ich bin noch nicht zustande gekommen mit seinem Sterbehemde. Mein Gott, in der langen Krankheit wurde soviel gebraucht …«

»Not im Hause«, sagte der Mann. »Ehrlicher Name dahin. Mein Wort gegeben – es nicht gehalten. Nicht halten können.«

»Du wirst Wort halten, du kannst es!« rief Andreas, zog ein Päckchen aus der Tasche und legte es vor Ziegler hin.

»Das ist dein, dein Eigentum.«

Der Lehrer sah ihn fragend an, faltete die Banknoten auseinander, und stumm vor Erstaunen schob er sie seiner Frau hin. Die stieß bei dem unerwarteten Anblick einen Freudenschrei aus, der jedoch in einem schmerzlichen Schluchzen endigte. Sie legte die Stirn auf den Rand des Tisches, und ihre Tränen flossen unaufhaltsam.

»Woher kommt das?« fragte Ziegler, auf das Geld deutend.

Andreas legte ihm die Hand auf die Schulter.

»,Marc Aurel’ schickt es, dem du auf die Bühne geholfen hast.«- Er sprach zu seinem alten Freunde wie zu einem Kind. -»Du allein, mit deinem Rate: Einreichen! – weißt du noch? – Sonst hätte ich mich ja niemals getraut …«

Ziegler lehnte weder ab, noch sagte er ein Wort des Dankes. Er reichte Andreas nicht einmal die Hand. Er sah seinen Retter nur an, lange, fest. Und dem war dabei zumute, als wüchse und erstarke er unter diesem Blicke, als erlöse dieses ehrliche Auge, das ihm das Glück verdankte, sich wieder frei erheben zu können, ihn, ihn selbst von allem Leid, von aller Pein. Als stände er in der Schuld des Mannes, durch den ihm gegönnt worden zu erfahren, was es heißt, einem guten Menschen wohlzutun.

Ziegler erhob sich lautlos wie einst beim Schlusse der Vorlesungen und trat an das Fenster. Dort stand er unbeweglich. Angstvoll betrachteten ihn Andreas und die Frau. Sie wagten kaum zu atmen.

Endlich kam er zu ihnen zurück; die peinliche Spannung war aus seinem Gesichte verschwunden. Sein Weib stürzte sich an seine Brust.

Andreas aber benützte diesen Augenblick, um hinwegzueilen. Er fürchtete, sich von seiner Rührung übermannen zu lassen.

Kapitel 6

Kapitel 6

 

Am Morgen des nächsten Sonntags wurde der kleine Ziegler begraben. Andreas begleitete die Eltern auf dem Heimweg vom Friedhofe noch eine gute Strecke und ging dann seiner Wohnung zu.

Unter dem Tore begegnete er seiner Hausfrau, die zugleich ihre eigene Hausbesorgerin war; eine rüstige Witwe von fünfzig Jahren. Sie hatte ihn nicht selten merken lassen, daß sie keineswegs abgeneigt wäre, ihren stattlichen Nacken noch einmal dem Ehejoch zu beugen, im Falle sich ein Mann fände von reinen Sitten und von geachteter Lebensstellung – ein Beamter zum Beispiel –, der den Wert dieser freiwilligen Unterwerfung zu würdigen wüßte.

Das Gesicht der Dame, das sich sonst bei Muths Anblick immer freundlich erhellte, grollte heut wie eine Gewitterwolke.

Sie hielt Andreas eine Nummer der Staatszeitung hin und sprach: »Lesen Sie doch das Zeug da. – Heilige Jungfrau!… Mir soll man so etwas nicht weismachen. Ich kenne Ihren Lebenswandel und weiß, wer ein und aus geht bei meinen Mietsleuten. – Zeitungsjuden! Lügenpack!« fügte sie mit der vollsten Energie ihres konfessionellen und staatsbürgerlichen Bewußtseins hinzu.

Der Zeitungsartikel, der die Hausfrau so sehr in Harnisch brachte, führte den Titel: »Die letzten Originale«, war mit M.S. unterzeichnet und in seiner Art ein Meisterstück. Andreas las ihn mit schaudernder Bewunderung.

Nicht mehr als zwanzig bis dreißig Zeilen waren jeder der Persönlichkeiten gewidmet, die Salmeyer in seinem Aufsatze mit beißender Satire, mit etwas Sentimentalität und mit ausbündigem Talent schilderte. Es war kein Zweifel möglich, daß hier nach der Natur gezeichnet worden, doch war’s in einer Art geschehen, die die Urbilder der Porträts, trotz ihrer unverkennbaren Ähnlichkeit, nicht berechtigte zu sagen: »Ich fühle mich getroffen«, so fest ihnen auch der Pfeil im Fleische saß.

Der geschickteste Staatsanwalt hätte den Versuch aufgegeben, den Verfasser dieses Libells zur Verantwortung zu ziehen. Seine Anklage wäre ihm unter den Händen zerronnen, ein Ding, das man sehen muß, aber nicht fassen kann.

In einem Kapitel des Feuilletons war Andreas geschildert. Er sah sich selbst in dem Bilde des rastlos und unbelohnt schaffenden Dichters. Mit welchem dämonischen Geiste war es entworfen! mit welcher Divinationsgabe! – Wie war die Wurzel aller seiner Leiden bloßgelegt! – das Mißverhältnis in ihm zwischen Drang und Talent, zwischen dem Blick für das Künstlerische und dem Blick für das Praktische, zwischen seinem Verständnis der Vergangenheit und seinem Nichtverstehen der Gegenwart. Mit welcher Virtuosität war das Messer geführt, das seine Brust öffnete und sein Herz enthüllte, sein zuckendes Herz, das er mit so keuschem Stolze vor jedem Menschenauge verbarg!

Den Schluß des Aufsatzes bildete, nach einer kurzen Beschreibung der Dachstube des Gelehrten, folgende »schöne Stelle«:

 

»Und allabendlich öffnet sich die Tür dieses stillen Heiligtums, und hereinschwebt, geschmückt zu den Festen in den Fürstensälen unserer Residenz, eine dort heimische und gefeierte Schönheit.

Und über den armen Poeten beugt sich ihre königliche Gestalt. Auf der bleichen Stirn des Denkers ruhen Lippen so duftig und frisch wie die Rose im Tau. Lippen, für deren Kuß die Reichsten, die Edelsten, die Mächtigsten ihre Schätze hingäben, ihren Ruhm, ihre Macht!…

Vergebliche Liebesmühe!… Für sie steigt die Göttin nicht aus den Wolken. Ihnen ist sie unerreichbarer als dem Sünder die himmlische Au, als dem Wanderer im Wüstenbrand der schattenkühle Wald.«

Um dieser Abgeschmacktheit die entsprechende Würze zu geben, waren die beiden Silben des Namens Auwald mit gesperrter Schrift gedruckt.

Andreas hatte langsam gelesen, Wort für Wort, seinen Augen nicht trauend, wegzweifelnd, was er sah … Er träumt, er fiebert. Seine Phantasie treibt mit ihm ein fürchterliches Spiel, zeigt ihm den Namen, der ihm heilig ist, schmachvoll an die Öffentlichkeit gezerrt, besudelt und entweiht. Teuflischer Traum, hinweg mit deinem Spuk!

O sich nur besinnen – nur besinnen, und er verschwindet …

Aber nein!… Es steht da … schwarz auf weiß, unleugbar steht es da …

Andreas sprang auf. Rote Funken tanzten vor seinen Augen, eine Empfindung wahnsinniger Wut loderte in ihm empor.

Außer sich rannte er im Zimmer umher und suchte in seiner friedlichen Behausung nach einer Waffe – nach irgend etwas, das als solche dienen konnte. Aber da war nichts als ein spanisches Rohr mit schwerem Messingknopfe, ein Erbstück seines Vaters. Das ergriff er und eilte zur Tür.

In diesem Augenblicke öffnete sie sich, und auf der Schwelle stand in seiner ganzen Breite und Wucht Finanzrat Seydelmann.

»Wohin?« rief dieser, als Andreas, den Stock in der Hand, an ihm vorbeistürzen wollte, ohne Notiz zu nehmen von der unerhörten Ehre, die ihm durch einen Besuch seines Chefs zuteil wurde.

»Bleiben Sie!« befahl Seydelmann und drängte den Widerstrebenden mit überlegener Kraft in das Zimmer zurück. »Was wollen Sie tun?«

Er hatte sich dem Tische genähert und deutete mit einer Hand auf die Zeitung, die dort aufgeschlagen lag, während er mit der andern den Arm Muths umklammert hielt.

»Mit dem Stocke über den Verfasser dieses Artikels herfallen? Einen Skandal machen? Einen Kriminalprozeß heraufbeschwören? Sie – ein Beamter!… Das, was heut der Gegenstand des Geschwätzes ist in einigen Salons und in einigen Kaffeehäusern und morgen vergessen sein wird, zum Markt- und Kneipengespräch machen?… Sie sind verrückt! Meiner Treu – verrückt!«

»Widerrufen muß er! Ich will ihn dazu zwingen!« keuchte Andreas. »Er muß öffentlich Abbitte tun, muß bekennen, daß er erfunden, gelogen, schändlich verleumdet hat!«

»Widerrufen? – Und was?« fragte der Rat. »Er hat ja nichts behauptet. Sie scheinen das Feuilleton nicht zu Ende gelesen zu haben. Er verwahrt sich am Schlusse ausdrücklich gegen den Verdacht, daß er nach der Natur gezeichnet hätte.,Die letzten Originale’ sind Figuren aus einem Romane, den er unter der Feder hat und für vollständig erfunden erklärt.«

»Damit schützt er nur sich!« fiel Andreas zornig ein. »Das Publikum weiß, was von solchen Erklärungen zu halten ist.«

»Da haben Sie recht, leider recht«, bestätigte der Rat, »und ich staune, woher Ihnen diese plötzliche Einsicht kommt, da Sie doch so wenige bewiesen, indem Sie einen Menschen, der von Indiskretionen lebt, zu Ihrem Vertrauten machten.«

»Zu meinem – Vertrauten?!« rief Andreas.

Der Finanzrat betrachtete seinen Untergebenen mit einem durchbohrenden Blicke.

»Herr Salmeyer kann doch nicht erraten haben …«

Er stockte und fuhr nach einer Pause in verändertem Tone fort: »Ihre Bestürzung, Ihre Verlegenheit, sooft der Name Auwald vor Ihnen ausgesprochen wird, brachten noch ganz andere Leute als diesen Rezensenten auf die rechte Fährte.«

Andreas stiegen die Haare zu Berge. Also wirklich – man glaubte, was er nicht auszudenken wagte? – hielt das Unsinnige für möglich?… Ein dummer, blöder Wahn, für den niemand auch nur den Schatten eines Grundes anzuführen vermochte, fand Anhänger, wuchs heran zu einer Macht, gewaltig – vielleicht nicht mehr zu besiegen!

Dies alles war so wunderlich, so toll, daß es aufhörte, ein Unglück zu sein, daß man nur noch Sinn haben konnte für den Humor des tödlichen Spaßes, der ihn, Andreas, Andreas den armen Teufel, in einem Atem nannte mit der glänzenden Schönheit, die, überschüttet mit den reichsten Gütern des Lebens, ihr heiteres Dasein in einer Sphäre genoß, der seinen so fern wie Sterne der Erde.

Dem Finanzrat wahrhaftig zum Schrecken, brach Andreas plötzlich in ein krampfhaftes Lachen aus und rief: »Ich schwöre, daß ich die Sonne nicht gestohlen, sie nicht in meine Tasche gesteckt habe. Sie steht noch am Himmel. Nur Geduld! warten Sie bis morgen, da geht sie wieder auf.«

Und er lachte von neuem, aber mit einem Lachen, das der schneidendste Schmerz erpreßte, mit einem Lachen, herzzerreißender als das Schluchzen der Qual.

Dem Rat wurde angst und bange.

»Nehmen Sie sich zusammen, Herr Muth! Ich ersuche, ich bitte Sie, ernsthaft zu sein. Einmal in Ihrem Leben«, fügte er mit unüberlegter Härte hinzu – »einmal in Ihrem Leben beherrschen Sie sich!«

»Einmal in Ihrem Leben …« Mechanisch sprach Andreas die Worte nach.

Du ewige Gerechtigkeit!

Seine Vergangenheit rollte sich auf vor seinem geistigen Auge wie ein Bild, er übersah mit einem Blicke sein ganzes Dasein. –

Es war nur eine lange Kette von niedergehaltenen Empfindungen, nur ein unterdrückter Schrei. Ein stillschweigendes Verzichten, so lange geübt, bis sich im fortwährenden Selbstbesiegen sogar die Kraft des Wunsches abgestumpft. Eine Reihe fehlgeschlagener Hoffnungen, über die niemals eine Klage sich seinen Lippen entrang. Um ihn, wohin er blickte, der Sieg der Mittelmäßigkeit, der Parteilichkeit, und all sein Schmerz, alle seine Entrüstung erdrückt in seinem Innern. Unterdrückt mit Macht selbst der Schatten einer unreinen Regung: Erbitterung, Neid, Mißgunst. Nichts lebendig in ihm als das Bewußtsein, entsagt zu haben und in aller Zukunft entsagen zu können, demütig, starkmütig und ohne Groll.

Und nun: »Beherrschen Sie sich einmal in Ihrem Leben!«

Er erwiderte nichts, er lachte lauter als zuvor und erschien dem Finanzrat nachgerade unheimlich. Es geschah, was sich in seiner langen Dienstzeit nicht ereignet hatte, der hohe Beamte vergaß seiner offiziellen Würde und sprach mit dem Untergebenen, wie ein gewöhnlicher Mensch zu einem andern spricht.

Dennoch war jedes Wort ein Dolchstoß für den armen Andreas.

»Beruhigen Sie sich«, sagte Seydelmann, »Sie sind empfindlich wie ein bloßgelegter Nerv. – Das Unglück ist einmal geschehen, Sie können nur noch seine Konsequenzen verringern oder erhöhen. Je weniger Bedeutung Sie ihm geben, desto weniger Bedeutung wird es haben. – Kommen Sie morgen in das Büro, so ruhig, als wäre nichts vorgefallen. Man ist gewöhnt, jede Ihrer Empfindungen auf Ihrem Gesicht zu lesen; gelingt es Ihnen, gleichgültig zu scheinen, so wird man glauben, daß Sie es seien. Wenn Ihre Kollegen über den Zeitungsartikel von Herrn Salmeyer scherzen, so scherzen Sie mit. Diesen Rat Ihnen zu geben, bin ich gekommen. Und noch eines!… Nehmen Sie das Bild dort von der Wand. Die Neugier könnte leicht einen oder den andern Ihrer Bekannten zu Ihnen führen. Es wäre nicht gut, wenn sie das Porträt da hängen sähen.«

Seydelmann war am Schlusse dieser Rede wieder zum Bewußtsein seiner Stellung gekommen und verabschiedete sich mit gewohnter Gemessenheit.

 

Andreas blieb vernichtet zurück.

Ja, der Rat hatte recht: das Unglück war geschehen! Wer vermöchte der Skandalsucht ihren Wahn zu benehmen? Ohnmächtig steht die Wahrheit der Lüge gegenüber und die reinste Tugend dem blödesten Verdacht.

Ruhe denn. – Gleichmut – Standhaftigkeit! und dann: »Entfernen Sie das Bild.«

Andreas nahm es von der Wand und betrachtete noch einmal diese edlen und anmutigen Züge. Wie so oft versenkte er sich wieder in den geliebten Anblick … Da schrak er plötzlich zusammen. O Gott! Schritte … Schritte, die sich seiner Türe nähern … Wenn jemand käme und fände ihn – das Bild in den Händen … Mit dem Unverstand des Schreckens stürzt er auf die Türe zu und schiebt den Riegel vor. Gleich darauf besinnt er sich: er hätte nichts Ungeschickteres tun können. Draußen steckt der Schlüssel und verrät dem Nahenden seine Anwesenheit.

Nie, niemals war es einem seiner Kollegen eingefallen, ihn zu besuchen, jetzt kommen sie, von Neugier getrieben …

Er stand und lauschte. Draußen war wieder alles still geworden; die Schritte verhallten auf der Dachstiege. Gerettet – für dieses Mal!

Aber die Furcht vor einem Überfall wird sich wiederholen, Andreas ist nicht mehr sicher in seinen vier Wänden, nicht mehr zu Hause in seinem Daheim, seitdem die Bosheit und der Vorwitz dieses arme Stübchen belauern und, was darin vorgeht, roh entstellt hinausschreien in die Welt.

Nein, seine entweihte Behausung ist kein Aufenthalt mehr für das Bild der von ihm verehrten Frau. Der Entschluß ist gefaßt – kein Zögern also!

Fest, mit beiden Händen, ergriff er den Rahmen und brach ihn entzwei. Das Glas zertrümmerte in tausend Stücke, zerschnitt ihm die Hände; er achtete dessen nicht, schürte das Feuer im Ofen und warf die Reste des Bildes hinein.

Die Nacht hindurch wandelte er auf und ab in seinem Zimmer. Er wartete auf Müdigkeit, er sehnte sich nach Erschöpfung. Wenn er keine Kraft mehr zur Aufregung besitzt, dann kommt die Ruhe von selbst, dann wird es leicht sein, gleichgültig zu scheinen, dann mögen sie im Büro spötteln, soviel sie wollen.

All sein Blut hat sich zum Herzen gedrängt, dort liegt und lastet es, unbeweglich, schwer … O das regt sich nicht, das steigt nicht in die Wangen!

Es schlägt Mitternacht, schlägt ein Uhr.

Die Nacht vergeht zu schnell, die Müdigkeit hat nicht Zeit, zu kommen. Andreas fühlt sich so wach wie am hellen Mittag.

Zwei Uhr!

Die Lampe flackert auf und erlischt. Dem unsteten Wanderer in der Dachstube fährt es durch den Sinn, daß er sie nie mehr entzünden, daß sie nie mehr seiner stillen Arbeit am Schreibtische leuchten wird. – Der Dichter ist tot, seine Zelle steht leer. –

Drei Uhr!… Wie die Tage wachsen! Ein fahler Lichtschein dämmert schon am Himmel …

Könnte Andreas nur müde werden! Aber er ist rüstig, sein Schritt wird immer rascher, immer leichter, er meint zu schweben. Und was er alles sieht! Der kleine Ziegler schreitet an seiner Seite, schmiegt sich an ihn und sagt: »Wir wollen ja zusammen in die Berge – wann denn – wann gehen wir?«

»Bald, mein Junge, bald, mein lieber Junge!«

Andreas legt die Hand auf die blonden Locken des Knaben, der ihn anlächelt mit freudestrahlendem Gesicht. Jetzt wendet er sich – geht – geht fort –

»O bleibe, Kind« – Torheit das!… Er liegt ja draußen auf dem Friedhof, Andreas war selbst dabei, als man ihn begrub, und hat sich nur eingebildet … Aber dort – das kann nicht Täuschung sein! dort wo das Bild Mathildens gehangen, dort bewegt sich etwas – die Mauer ist geöffnet – eine Lichtgestalt tritt hervor …

»Um Gottes willen, Sie, Frau Gräfin – -? Was denken Sie? Hinweg! Wenn man Sie hier träfe …«

Nein – wahrhaftig, Andreas muß über seine eigenen Phantasien lachen. Wen hat er für die Gräfin gehalten? – Es ist zu toll – den jungen Fanghund des Zollrevisors, den dieser vorgestern so unbarmherzig züchtigte, weil er sich erdreistete, den Herrn Finanzrat anzuknurren, was sich denn doch nicht schickt, nicht schickt – nicht schickt!

Andreas wiederholte die zwei Worte unzähligemal in allen Arten, tröstend, belehrend, verweisend, indem er den Hund streichelte, bis sich dieser – sonderbar genug – in eine Katze verwandelte, die ihn anglotzte mit Augen aus grünem Feuer. Dann sprach er sie vor sich hin, stiller, lauter, singend, klagend: »Nicht schickt! nicht schickt!«

Dabei erfaßte ihn ein Wirbelsturm und drehte ihn im Kreise, bis ihn schwindelte und er niederzusinken meinte – aber nicht sank. Seine Muskeln schienen Stahl geworden, er fühlte sich stark, fühlte alles Leben in sich erhöht, fühlte sich von einer Kraft beseelt, nicht zu bewältigen, nicht zu verbrauchen …

Fünf Uhr!

In einer Stunde geht die Sonne auf. Andreas tritt an das Fenster. Eine Spatzenfamilie macht sich lustig auf dem Dach gegenüber; der Vater ist voll Mutwillen, die respektable Mutter muß ihre Jungen gegen seine Neckereien in Schutz nehmen. – Aus dem Schornstein wirbelt Rauch empor, Andreas vertieft sich in die Betrachtung seines braungrauen Qualms, der langsam hingleitet über die Firste, sich immer mehr ausbreitet, immer durchsichtiger wird und endlich wie ein zerrissenes Gewebe davonflattert in die Lüfte.

Jetzt pocht es mit derber Faust an die Türe, und draußen ruft eine rauhe Stimme: »O je, was wär denn das? Herr Muth, Sie haben vergessen, Ihre Stiefel herauszustellen. Und das Wasserweib ist auch da.«

 

Die beiden dienenden Geister haben ihres Amtes gewaltet. Andreas ist wieder allein.

Er badet den Kopf und die blutigen Hände in frischem Wasser, er kleidet sich mit äußerster Sorgfalt an. Kein Stäubchen duldet er auf seinem Rocke, knüpft seine Krawatte wie ein eitler Pedant, wählt seine besten Handschuhe. Alles an ihm soll beweisen, daß er unbefangen ist, daß ihn nichts abzieht von den kleinen Alltagssorgen, daß er Zeit hat und Stimmung, sich um Nebensächliches zu bekümmern.

Dann tritt er seine Wanderung an … Nur noch umwenden muß er sich auf der Schwelle und einen fast zärtlichen Blick auf den Raum werfen, in dem der größte Teil seines Lebens verfloß – der beste. Andreas gedenkt der Stunden seines beglückenden Schaffens. O hätte er sich begnügt! hätte er, was hier geboren ward, auch hier sterben lassen, in dem Schutze und Frieden seines Daheim!

Er eilt die Treppe hinab.

Eine Stunde später kommt zufällig die Hausfrau an seine Türe und schreit auf: »O Wunder! Herr Muth hat vergessen, den Zimmerschlüssel abzuziehen. Das ist nicht geschehen, seit er sich hier eingemietet hat.«

Mit fieberhafter Hast legt indessen Andreas den Weg nach seinem Büro zurück. Seine Aufregung hat sich nicht beschwichtigt, doch traut er sich zu, ihrer Herr zu bleiben.

Siehe da! er kommt doch nicht so früh, als er meinte. Dort, zwanzig Schritte vor ihm, biegt schon der Sekretär um die Ecke der Seitengasse, in der er wohnt. Eine Minute früher, und Andreas hätte ihn eingeholt, hätte mit ihm eintreten können. Das ist nun leider versäumt. Schade!… Wie gut hätte es sich gemacht, wenn er früher ausgegangen wäre, wenn er jetzt nicht allein eintreten und Spießruten laufen müßte an den anderen vorbei.

Er steht am Tor und wünscht dem Portier einen guten Morgen; der dankt und wendet sich ab. Andreas sieht aus seiner großen, pelzverbrämten Rocktasche das magistrale »St« der Staatszeitung ragen.

Im Hofe herrscht schon geschäftiges Treiben. Mein Gott, wie spät ist es denn?… Alle schon da und er der letzte! – Er tritt in das Büro, grüßt auf gut Glück nach rechts und links, ohne jemanden anzusehen, und setzt sich an sein Pult und schreibt und rechnet.

Zwei Beamte in seiner Nähe flüstern miteinander, es ist gewiß nur seine Einbildung, daß sie dabei nach ihm hinschielen. Er tut jedenfalls, als bemerke er’s nicht. Eine Weile geht das so fort, jetzt aber bleibt ihm doch nichts übrig, als herauszutreten aus seinem Schweigen. Da ist eine Verordnung erschienen, die neue Bestimmungen enthält über den Zolltarif von Warenproben nach den amerikanischen Ländern. Die muß er einsehen oder zu arbeiten aufhören oder Irrtum auf Irrtum häufen. Er nimmt alle seine Kaltblütigkeit zusammen, erhebt den Kopf und eine heisere Stimme, deren Klang ihn selbst befremdet, so mühsam ringt sie sich aus seiner Kehle – und zu seinem Nachbarn gewendet, stößt er die Worte hervor: »Den letzten Zolltarif, Herr Pfeiffer – darf ich Sie bitten?«

Herr Pfeiffer steht eben im Begriffe, eine große Prise konfiszierten Schnupftabaks in seine kleine Nase zu befördern, und liebt es nicht, bei der Operation beobachtet oder gestört zu werden. Er tut, als hätte er Muths Anfrage überhört, und dieser ist gezwungen, sie zu wiederholen. Herr Pfeiffer hält das Taschentuch mit beiden Händen wie einen Vorhang vor sein Gesicht bis an die Augen und zwinkert so den Fragenden an. »Zolltarif?« erwidert er endlich – »dort, Herr Munk hat ihn.«

Herr Munk sitzt an seinem Pulte, mitten im Büro. Bis dahin also heißt es schreiten, von dem Platz am Fenster aus, an dem Andreas arbeitet. Er steht auf, macht einige Schritte, ein leises Gewisper geht von Pult zu Pult. Kanzlist Schmidel, ein junger Mann mit strotzendem Lockengebäude und rosenrotem Antlitz, auf dem beständig, wie angeleimt, der Ausdruck dummer Freude liegt, vertritt Andreas den Weg. Er hält einen Bleistift in der Hand, legt die Spitze desselben an die Lippen und spricht:

»Herr Muth.«

»Was wünschen Sie?«

Schmidel verneigt sich: »Dürft ich wohl fragen – wie befindet sich heut die Gräfin Auwald?«

Andreas erbebt, aber er hält sich gut, zuckt die Achseln und geht weiter; ruhig weiter, obwohl die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet ist. Er fühlt es, er sieht es durch die zu Boden gesenkten Lider. Alle starren ihn an. Da ist keiner, der die Barmherzigkeit hat, den Blick abzuwenden.

Je näher Andreas Herrn Munk kommt, desto tiefer versenkt der sich in das Studium der neuen Verordnung. Jetzt ist Andreas am Ziele, jetzt bittet er: »Wollen Sie die Güte haben, mir dieses Blatt einen Augenblick …«

Er hält inne. Der junge Kollege drückt, statt zu antworten, die Stirne in seine Hände und diese auf den Tisch. Seine ganze Gestalt wird von konvulsivischen Bewegungen erschüttert, deren er vergeblich Herr zu werden strebt.

»Was haben Sie? Was ist Ihnen?« fragt Andreas und vergißt seiner eigenen Qual über dem Anblick des Jünglings, der sich auf seinem Stuhle wie in Schmerzen windet.

»Was ist ihm?« fragt Andreas und blickt angstvoll um sich.

»Nichts!« platzt Munks Nachbar heraus, und alle lachen; der mit leisem Gekicher, jener gellend, unbezwinglich hallt es durch den weiten Raum, prallt zurück von den Wänden, von der Decke und schlägt wie Hagel um das Haupt des unglücklichen Andreas.

»Ach, die Gräfin von Auwald!«

»Sie Glückspilz!«

»Wenn man sich das vorstellt – Herr Muth und die Frau Gräfin!«

»Es ist eine Ehre für das ganze Büro!« rufen sie einer um den andern, und bei jeder neuen Bemerkung erschallt neues Gelächter.

Andreas blickt sprachlos vor Zorn im Kreise umher, stürzt plötzlich auf den Kollegen zu, der durch seine Frage das Signal zu dem tollen Lustigkeitsausbruch gegeben hatte, und packt ihn bei den Schultern: »Bube!« schreit er ganz außer sich. Der kleine Mann schüttelt den kräftigen Jüngling, daß dem die Zähne klappern. »Bube! Bube!« wiederholt Andreas und ist im Begriffe, den blondgelockten Schmidel unter das Pult zu schleudern.

Einige Beamte befreien diesen zwar aus den Händen Muths, aber er bebt vor Furcht, und dabei hört er nicht auf zu schwören, das lasse er sich nicht gefallen, und das stecke er nicht ein!

»Sie werden Abbitte tun!« dekretiert Munk.

»Unter keiner Bedingung!« erklärt Andreas. Da wird die Tür aufgerissen, und der Sekretär tritt ein. Er übersieht die Situation mit einem Blicke, spricht rasch und leise einige Worte zu den älteren Beamten, die ihm halb lachend, halb grollend Platz machen.

»Herr Muth!« ruft er von weitem. »Der Herr Finanzrat will Sie sprechen.« Er tritt an Andreas’ Seite, nimmt seinen Arm und führt ihn fort. Auf der Treppe sagt er zu ihm: »Wir hofften, Sie würden sich würdiger benehmen.«

»Die Kerle haben es zu arg getrieben!« erwidert Andreas ohne eine Spur von Beschämung oder Reue.

Der Sekretär blickt ihn von der Seite an und denkt: Ist dies Andreas Muth? Man könnt es fast bezweifeln. Seine weichen Züge sind über Nacht steinern geworden. Ein schlimmes Zeichen, wenn das Gesicht eines Menschen sich so plötzlich verändert.

Jetzt waren die beiden an der Schwelle des Empfangszimmers Seydelmanns angelangt.

»Fassung«, sprach der Sekretär, »Ihnen steht eine große Überraschung bevor.«

Sie traten ein.

Seydelmann war nicht allein. Neben ihm saß ein Mann in mittleren Jahren, von feinem und einnehmendem Wesen.

»Hier, Euer Exzellenz«, sagte der Finanzrat, »ist Herr Muth.«

»Seine Exzellenz, Herr Graf von Auwald«, flüsterte der Sekretär Andreas zu. Dieser hatte bisher finster zu Boden geblickt und fuhr nun wie vom Blitze getroffen zusammen. Zuviel, zuviel stürmte heute auf ihn ein, allen diesen Gemütsbewegungen war er nicht gewachsen.

Auwald erhob sich. Ein mitleidiges Lächeln umspielte seinen Mund, verwandelte sich aber, je länger sein Auge auf der gramgebeugten Gestalt vor ihm ruhte, in den Ausdruck wehmütiger Teilnahme.

»Ich höre soeben«, sagte er, »welch ein übergroßes Gewicht Sie, Herr Muth, auf die Scherze legen, in denen sich gestern einer unserer Feuilletonisten ergangen hat. Sind solche Kindereien es denn wert, einem tüchtigen Manne wie Sie auch nur eine Stunde zu vergällen?«

Bei dem milden Klang der Stimme Auwalds erbebte der Poet wie der frosterstarrte Baum beim ersten Hauch der Frühlingsluft. Er wagte es, den Blick zu dem Sprechenden zu erheben, und verwandte ihn dann nicht mehr von seinem männlich-schönen, ruhigen Angesichte.

»Die Vernünftigen und Gerechten«, fuhr Auwald fort, »werden uns deshalb nicht geringer achten, weil wir von der Mißgunst angegriffen wurden, und was die anderen betrifft, die müssen uns dankbar sein, denn wir haben ihnen die Freude verschafft, die sie am besten zu empfinden verstehen – freilich die ärmste und kläglichste von allen: die Schadenfreude.«

»Sehr gut, vortrefflich!« rief der Rat aus, und der Sekretär murmelte etwas von »besonderen und allgemeinen Standpunkten«, das zwar nicht verständlich, aber zustimmend klang.

»Die einzige Person«, begann Auwald von neuem, »die sich durch jene versuchte Beleidigung verletzt fühlen könnte, hat ihr keine Bedeutung beigelegt. Sie glaubt eben nicht, daß der wohlerworbene Ruf einer braven Frau, ehe man sich’s versieht, durch einen literarischen Taschenspieler eskamotiert werden kann.«

Die Blicke des Poeten hingen an Auwalds Lippen, als ob jedes Wort, das sie sagten, ihm Heil und Erlösung bedeute. Gerührt von der auflebenden Hoffnung, die sich in seinen verstörten Zügen aussprach, streckte ihm der Graf die Hand entgegen.

»Empor!« rief er treuherzig, »empor das Haupt! Was an uns spurlos vorüberging, soll Ihnen das Herz nicht schwer machen. Lassen Sie sich aufrichten! Sie haben um meinetwillen gelitten. Ihr Schauspiel wäre nie so herb beurteilt worden, wenn ich nicht für den Autor gegolten hätte. Erlauben Sie mir, das Mißgeschick, das ich über Sie heraufbeschworen habe, gutzumachen, soweit es in meinen Kräften steht. Der Herr Finanzrat wird Ihnen mitteilen, in welcher Weise ich es zu versuchen wünsche. Nehmen Sie meinen Antrag an, den zu vermitteln er so gütig sein will. – Ich verehre«, setzte Auwald mit Wärme hinzu, »den edlen Geist, die reine Seele, die aus Ihrem Werke zu mir gesprochen haben. Wir müssen Freunde werden … Nun, so lassen Sie mich doch ein Wort der Einwilligung hören – ich kenne noch nicht den Klang Ihrer Stimme.«

So gedrängt, versuchte Andreas zu reden. Während Auwald sprach, während seine frische Weise befreiend und wohltuend auf ihn wirkte, dachte er: – Jawohl! Du bist ein Mann! Aufgewachsen in der bewegten Welt, danach angetan, dein Haupt hoch zu tragen im Gedränge. Du hast gelebt, gekämpft, Stürme erfahren und bestanden, bist verwundet und bist geheilt worden … Ich bin nicht stark wie du. Die Streiche, die dir kaum die Haut geritzt haben, haben mich das Blut meines Herzens gekostet. Ich bin gebrochen und nicht mehr aufzurichten, doch habe Dank, daß du’s versuchtest – –

»Haben Sie Dank!« sagte er laut. Tränen zitterten in seinen Augen.

»Halt!« rief Auwald, »danken dürfen Sie mir nicht. Nebst der Freude, Sie zu gewinnen, empfinde ich ja bei dieser Gelegenheit die ganz besondere Befriedigung, beweisen zu können, daß manchmal sogar die böse Absicht einen guten Zweck fördern kann!«

Damit empfahl sich der Graf, von Seydelmann bis zur Tür begleitet.

Wie im Traume vernahm nun Andreas die Mitteilung des Finanzrates, daß Auwald gekommen war, um bei ihm Erkundigungen über den Beamten einzuziehen, den ein Journalartikel in so seltsame Verbindung mit seiner Gattin brachte. Er freute sich, Andreas eröffnen zu können, daß der Graf, sobald er erfuhr, daß Muth und der Verfasser des »Marc Aurel« ein und dieselbe Person sei, sich sofort auf das schmeichelhafteste über ihn geäußert und erklärt habe, es sei sein innigster Wunsch, ihm die Möglichkeit zu verschaffen, den Dienst aufzugeben, der ihm nicht zusagen könne, und sich einer für ihn passenderen Beschäftigung zu widmen. Zu dem Ende biete er ihm die Stelle eines Bibliothekars auf einem seiner Schlösser in Steiermark an. Dort, in herrlicher Gegend, in milder Luft, könne er ausschließlich seinen Lieblingsstudien leben, einsam, wenn er wolle, gesellig, wenn es ihm beliebe.

»Sie nehmen natürlich an«, schloß der Rat, »sind jetzt ein unabhängiger, gutsituierter Mann, brauchen übrigens deshalb dem Staate nichts zu schenken. Ich will auf Ihre Pensionierung antragen. Gehen Sie nach Hause, setzen Sie Ihr Gesuch um Versetzung in den Ruhestand auf und legen Sie es mir morgen zur Einbegleitung vor.«

Andreas hörte dies alles schweigend und mit unbegreiflicher Gleichgültigkeit an. Gläsern und ausdruckslos ruhte sein Blick auf der Stelle, die Auwald eben verlassen hatte. Mehrmals hielt der Rat während seiner Rede inne und fragte: »Hören Sie? verstehen Sie?« und jedesmal antwortete Andreas mit einem leisen Ja, das ebensogut für ein Nein gelten konnte.

Einige Minuten später sah ihn der Portier, den Hut tief in die Stirn gedrückt, totenblaß, aus dem Hause stürzen und eine seiner Wohnung entgegengesetzte Richtung einschlagen.

Kapitel 1

Nicht was wir erleben,

sondern wie wir empfinden,

was wir erleben,

macht unser Schicksal aus.

 

Kapitel 1

Er hieß Andreas Muth und war Beamter der Finanzlandesdirektion. Seit fünfundzwanzig Jahren verwaltete er seinen Dienst mit gewissenhafter Pünktlichkeit; allein daß er jemals befördert werden könnte, daran dachte niemand, er selbst nicht. Zu einer glänzenden Beamtenlaufbahn war er durch seine Erziehung nicht ausgerüstet worden. Was sein armer Vater – der kränklichkeitshalber quieszierte Professor der schönen Literatur Karl Muth – sich vor allem bestrebt hatte ihm beizubringen, das war die Kenntnis des klassischen Altertums. In seinem achten Jahre las Andreas den Cornelius Nepos und den Herodot, wie andere Kinder Campes Robinson lesen, und im fünfzehnten übersetzte er die Braut von Messina in die Sprache des Äschylus. Aber wie es in der Welt aussieht und wie man in ihr vorwärts kommen kann, das versäumte der Gelehrte seinem Sprößling beizubringen, und zwar deshalb, weil er selbst es nicht wußte.

Und als der alte Mann einmal über seinen Kommentaren zu der Abhandlung De carmine bucolico, von Hofrat Heyne, einschlief und nicht mehr erwachte, blieb Andreas so hilflos zurück wie ein verlaufenes Lamm.

Ein ehemaliger Schüler seines Vaters, mit dem sein guter Stern ihn zusammenführte, erbarmte sich seiner. Er war einflußreich, hatte viele Verbindungen, und so gelang es ihm, dem Sohne seines ehemaligen Professors einen kleinen, karg besoldeten Posten im großen Staatshaushalte zu verschaffen.

Seitdem fühlte Andreas sich geborgen. Die Vorteile, die seine Stelle ihm gewährte, schienen ihm in vollkommenem Einklange mit den Pflichten zu stehen, die sie ihm auferlegte. Voll stiller Zufriedenheit legte er täglich den Weg von seiner Wohnung in der entlegensten Vorstadt bis zum Büro zurück und freute sich bei jedem Schritte, daß er abends denselben Schritt heimwärts machen würde. Die Erwartung des Augenblicks, in dem er sein Stübchen unter dem Dache wieder betreten sollte, vergoldete ihm alle anderen Augenblicke des Tages.

Bevor er seine Kammer verließ, hatte er darin alles zum traulichen Empfange bei der Rückkehr vorbereitet. Die Lampe stand mit Öl gefüllt auf dem Tische, die Kaffeekanne auf dem Ofen, einem eisernen Zwerge, der sich bedenklich nach der rechten Seite neigte und eines seiner dünnen Beine mit einer Unternehmungslust vorstreckte, in der sich mehr Flunkerei aussprach als wahre Solidität. Der Kleiderstock in der Ecke reichte mit lächerlich langen Armen einen grauen Hausrock einladend dar, und der altersschwache Lehnsessel mit dem farblos gewordenen Lederüberzuge war vor dem Tische zurecht gerückt. Alles so vielgebraucht, so ärmlich und doch so nett, durch seine tadellose Reinlichkeit nicht nur das Auge, auch die Hand des Herrn verratend.

An der Wand, dem Bette gegenüber, hing in geschmackvollem Rahmen die Photographie einer schönen Dame in Balltoilette. Diesem Bilde, das seltsam abstach von der ehrwürdigen Gesellschaft der übrigen Einrichtungsstücke, galt der letzte Blick, den Andreas, schon auf der Schwelle stehend, zurückwarf in die Stube. Es lächelte holdselig und schien zu sagen: Auf Wiedersehen!

Der kleine Beamte schloß hinter sich ab und ging, einen kleinen Himmel in seiner Brust. Er gedachte der Zeiten, in denen das verehrte Original des Bildes ihm in lebendiger Gestalt erschienen war Tag um Tag … Die jetzt so hochgestellte Frau war damals ein armes Fräulein und wohnte mit ihrer Großmutter im dritten Stockwerke des altersgrauen Hauses, das die Ecke in die nächste Gasse bildete, Andreas gegenüber.

Am frühen Morgen schon saß sie am Fenster, neben dem Bauer, in dem ihr Hänfling, der dicke Egoist, einsam und zufrieden hauste, und begann ihr Tagewerk. – – Wie unverdrossen war sie in ihrem Fleiße! Man sah es wohl, die prächtigen Stickereien, die unter ihrer kunstfertigen Hand entstanden, waren nicht zu eigenem Gebrauche, waren den Lebensunterhalt zu schaffen bestimmt, für sie und ihre Großmutter. Die alte Dame, in ihrem blütenweißen Häubchen und ihrem schwarzen, enganschließenden Kleide, trat manchmal an den Arbeitstisch, strich mit ihren zarten Fingern über die blonden Haare der Enkelin, küßte sie auf die Stirn und verschwand wieder wie ein Schatten im Dunkel des Zimmers.

Noch emsiger flog dann die Nadel, wurde Faden an Faden gereiht. Und auf kostbarem Grunde sprossen farbenprächtige Blumen, feinschattierte Blätter, schwungvolle Arabesken.

An einem schönen Sommermorgen, Andreas wollte eben, bevor er die Stube verließ, sein Fenster schließen, da sah er die junge Nachbarin an dem ihren stehen. Sie hatte es eben geöffnet, bog sich hinaus, wendete den Kopf nach rechts und nach links wie ein Vögelchen und atmete die kühle Morgenluft mit innigem Entzücken ein. Der Hänfling putzte seinen zimtbraunen Mantel, zwitscherte und sang, hüpfte auf das oberste Stäblein im Bauer und schien, die Augen auf seine Herrin gerichtet, ihre Bewegungen nachahmen zu wollen. Sie nahm ihn auf den Finger, und nun begann ein angelegentliches Gespräch. Dem Hänfling war es hoher Ernst, dem Mädchen Spaß. Er teilte ihr eindringlich wichtige Dinge mit und erwartete voll Spannung, den kurzen Schnabel so weit als möglich aufgerissen, ihre Antwort. Sie lachte ihn aus, und von neuem begann er seinen Vortrag.

Plötzlich erhob sich von der Straße herauf das wütende Gebell einiger streitender Hunde. Voll Schrecken sträubte der Vogel sein Gefieder, breitete die Schwingen aus, und ehe das Mädchen sich’s versah, war er davongeflogen. Sie rief und lockte vergeblich, die Angst machte ihn taub. Er flatterte wie gescheucht umher, hinauf, hinab, prallte an geschlossene Fenster, schlug sich das Köpfchen an den Scheiben wund. Endlich nach einem letzten, vergeblichen Versuche, das Freie zu gewinnen, ließ er sich ganz erschöpft und atemlos auf dem Dachgesimse neben Andreas’ Fenster nieder. Der haschte ihn geschickt und rannte mit dem Flüchtling, dessen kleines Herz nicht rascher pochte als das seine, geradenweges zu der schönen Nachbarin hinüber.

Sie hatte ihn heute, da er sich als Vogelfänger bemerkbar machte, zum erstenmal erblickt. Andreas war nicht der Mann, seinen günstigen Observationsposten zu benützen, um ein junges Mädchen ohne weiteres anzustarren. Wenn er die Beobachtungen anstellte, die der Ruhe seines Herzens so gefährlich geworden waren, geschah’s bescheidentlich verborgen hinter seinem Musselinvorhange. Jetzt riß ihn die Gewalt der Ereignisse aus seiner Zurückgezogenheit.

Das Mädchen sah ihn mit seiner Beute über die Gasse in ihr Haus eilen, lief ihm bis zur Treppe entgegen und begrüßte ihn mit einem Freudenschrei.

Wenn der Gesang aller Engel zusammenklänge, gäbe das wohl einen so süßen Ton?…

Sie standen im Flure, er und sie. Das Mädchen bedauerte und herzte ihren wunden Vogel und rief dabei: »Ich danke! O wie danke ich Ihnen!« Und Andreas war bei seiner zehnten Verbeugung angelangt und wiederholte: »Überreiche hiemit – übermittle – überreiche – hiemit – hiemit –« als er schon längst überreicht und übermittelt hatte. Die Großmutter war der Enkelin gefolgt und wurde im Rahmen der Türe sichtbar, in aller Gottesfrühe schon wie eingenäht in ihr ehrwürdiges Fähnchen, so zart, so schmal! Mit einem altmodischen Knickse forderte sie den Retter des kleinen Hausfreundes auf, doch einzutreten. Dies lehnte Andreas mit bestürzter Entschiedenheit ab und empfahl sich hastig. Dabei drückte jede seiner Mienen die Bereitwilligkeit aus, nicht nur ihren Vogel vom Dache, sondern gelegentlich die beiden Damen selbst aus dem Schlunde des Ätna zu holen.

Im Nachgenusse der Erinnerung wurde ihm dieser Augenblick erst völlig schön und zum Quell beständiger Freude. Der stille Minnedienst, den er seiner Nachbarin weihte, nahm einen fast leidenschaftlichen Charakter an. Es kam so weit, daß Andreas sich mit dem Gedanken trug, den Damen drüben einen Besuch abzustatten. Allein er gab den Plan als gar zu abenteuerlich auf.

War er denn unersättlich? Was wollte er noch? – Nickte ihm nicht jetzt das liebe Mädchen freundlich zu, wenn er heimkehrend an ihrem Hause vorüberging? Sah er sie nicht täglich? Hatte er nicht die beseligende Empfindung ihrer Nähe?

So verflossen Wochen und Monate. Dann folgte eine sonderbar bange Zeit.

Neben der Nachbarin stand nun sehr oft ein Mann im Fenster, zu dem sie mit andächtiger Liebe emporschaute. Andreas kannte ihn. Er war neulich, einer Auskunft wegen, in das Amt gekommen. Muth, dem er durch seine imponierende Erscheinung auffiel, fragte, wer das sei, und erhielt zur Antwort: »Das ist Graf Auwald.«

Der Mann, der diesen Namen trug, hatte zu einer Zeit, in der der Liberalismus nicht Nutzen brachte, sondern Gefahr, seine Überzeugungen laut hinausgerufen in die Welt und viele bedrückte Seelen aufgerichtet, viele junge Herzen entflammt. Als die neue Zeit, die vorzubereiten er mitgeholfen hatte, eintrat, fiel ihm eine maßgebende Rolle im wiedergeborenen Staate zu. Er stand auf den Höhen des Lebens, im berechtigten Besitze seiner besten Güter, denn sein Glück hieß: Talent, und die Anerkennung, die ihm gezollt wurde: Gerechtigkeit.

Der also! der also! dachte Andreas, das ist recht, das ist seiner würdig, daß er sie erwählt.

Es gibt nichts Schöneres, als wenn edle Menschen sich auf dieser Welt zusammenfinden. Verachten müßte man den, der daran keine Freude hätte! – Und trotzdem – als Andreas die Wohnung drüben leer sah und die Fenster ihn öde angähnten, wollte ein selbstsüchtiger Schmerz sich seiner bemächtigen. Wie anspruchsvoll ist doch der scheinbar bescheidenste Mensch! Doch wurde er Herr seines Leides, er schämte sich dessen zu sehr.

Ein Jahr nach ihrer Verheiratung begegnete Andreas der Gräfin. Sie war am Arme ihres Mannes. Rasch und in eifrigem Gespräche schritten die beiden dahin. Dennoch erkannte sie den ehemaligen Nachbarn, blieb stehen, wendete sich, grüßte mit freudigem Lächeln und schien ihn anreden zu wollen. Allein Andreas, den Hut bis zur Erde senkend wie ein Ritter seine Lanze, eilte davon, sehr verlegen und sehr beglückt.

Bald darauf erstand er die Photographie Mathildens von Auwald, die er mit denen anderer Damen aus der Gesellschaft in der Auslage eines Kunsthändlers hatte prangen sehen, und hängte das Bild als ersten und einzigen Schmuck über der Bücherstelle an die Wand. – Eine Gelegenheit, die verehrte Frau zu sprechen, bot sich nie mehr, doch begegnete er ihr, er sah sie vorübergehen, vorüberfahren im Gewühle der großen Stadt. – Ein Moment nur, und die liebliche Erscheinung war verschwunden. Und doch nicht verschwunden. Sie schwebte in den Lüften, sie begleitete den Wanderer auf seinem Wege. An solchen Tagen beflügelte sich sein Schritt, und seine Brust hob sich freier. Die ganze Welt erschien ihm lichtvoll verklärt, das Leben schön und unermeßlich reich.

Eine minder platonische Liebe als für die anmutige Gräfin hegte Andreas für die Poesie, und zwar für die dramatische. Er dichtete und träumte in seinem einsamen Daheim. Das war das Geheimnis der Seligkeit, die ihm seine Zelle bot. Ihre kahlen grauen Wände waren die Zeugen seiner innigsten Entzückungen. Auf dem Sprunge in der Fensterscheibe, dem Tische zunächst, hatte sein Auge geruht, als er die, wie er meinte, treffliche Lösung des Knotens seines ersten Lustspieles fand. Dort in der Ecke hatte er gestanden, seinen Rock ausbürstend, als er tiefbewegt und begeisterungstrunken beschloß, daß sein letztes Trauerspiel ein Schauspiel und sein Held glücklich werden sollte. Jedes Plätzchen in dem engen Raume verkörperte eine Erinnerung an selbständiges Schaffen, aus jedem wehten ihn die Geister seiner stillen Leiden und Freuden an.

Ob der Zauber, den seine Gestalten auf ihn übten, auch von anderen gefühlt werden müsse, die Frage beschäftigte ihn wohl, aber sooft sie verneinend beantwortet wurde, beschied er sich ohne Bitterkeit und ohne Groll.

Freilich ward er seit vielen Jahren nicht müde, sie zu stellen. Sobald er ein neues Werk beendet hatte, begab er sich zu seinem Freunde und einzigen Vertrauten, dem Volkslehrer Benedikt Ziegler, und forderte ihn nicht ohne Erröten und viele Entschuldigungen und mit der dringenden Bitte um Verschwiegenheit auf, einen Abend zu bestimmen, an dem er ihm ein Drama, das er gedichtet hatte, vorlesen dürfe.

Und jedesmal ließ Benedikt Ziegler seinen Freund bis zu Ende sprechen, zog wie ein außerordentlich überraschter Mann die Augenbrauen in die Höhe und sprach: »Ei, ei, ein Drama! – Ei der Tausend, ein Drama!« Dann sagte er regelmäßig sein Erscheinen für denselben Abend zu, unter dem Vorbehalte, sein Urteil unumwunden und mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit fällen zu dürfen.

Das wurde ihm nicht nur erlaubt, sondern geradezu von ihm gefordert.

Einige Stunden später saßen die Freunde einander gegenüber in dem Kämmerlein unter dem Dache. Andreas las mit beklommener Stimme, die immer leiser wurde, je höher seine Erregung stieg. Ziegler verwandte keinen Blick von ihm und horchte eifrig und andächtig, die Ellbogen auf die hageren Knie gestützt und das Kinn auf die verschränkten Hände. Im fünften Akte – alle Stücke Muths hatten fünf Akte – war im Zimmer nur noch ein schwaches Geflüster zu vernehmen, aber die Wangen des Lesers glühten, und große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Und auf dem Angesichte des Hörers, in das die Sorge ihre herben Spuren geprägt, spiegelte sich eine tiefe Ergriffenheit. Seine scharfen Züge erschienen runder und weicher, und seine Augen glänzten feucht.

Nach der letzten Szene erhob sich Benedikt lautlos, trat an das Fenster und blieb einige Minuten stumm, indes der Poet Folterqualen litt. Endlich wandte Ziegler sich um und sagte:

»Du hast da ein vortreffliches Stück Arbeit geliefert.«

»Meinst du?« fragte Andreas tief aufatmend und fuhr in die Höhe. »In diesem Falle wäre also dein Rat?…«

»Hoftheaterintendanz!« rief der Freund im Tone eines Erleuchteten. »Einreichen, das versteht sich. Und – im voraus: Ich gratuliere!«

Darauf ging Andreas mehrere Tage mit stiller Verklärung im Gesichte umher; es waren die seligsten des Jahres, die, an welchen er sein Stück mit der schönsten Schrift ins reine schrieb, auf Papier, glatt wie Atlas und steif wie ein Brettchen.

Und so gewiß es in dem Zeitraume, den die Erde braucht, um die Sonne zu umkreisen, einen ersten Oktober gibt, so gewiß erschien an diesem ein kleines schüchternes Männchen im Büro der Hoftheaterintendanz und brachte ein tadellos ausgestattetes Manuskript und einen Brief. In diesem Briefe benachrichtigte der Verfasser die hohe Behörde, daß seine Verhältnisse ihn zwängen, die strengste Anonymität zu bewahren, und daß er den geneigten Bescheid über Annahme oder Nichtannahme seines Stückes in drei Monaten abholen lassen werde.

Nach dem Verlaufe dieser Zeit fand sich auch richtig sein Manuskript, und die Ablehnung der Intendanz, immer bereit.

Und in die schmerzliche Enttäuschung des Dichters mischte sich das versöhnende Gefühl, seiner Pflicht gegen die Mit- und Nachwelt nunmehr genügt zu haben und wieder in den Besitz seines geliebten Eigentums zu treten. Das letzte Manuskript erhielt seinen Platz neben seinen Vorgängern auf dem Bücherbrett, zu den Füßen der schönen Gräfin, zu der die Geister dieser Dichtungen aufstiegen wie unsichtbarer Weihrauch. –

So war denn einmal wieder der Tag herangekommen, an dem Andreas sich in die Hoftheaterkanzlei zu verfügen pflegte, um sein zuletzt eingereichtes Drama abzuholen.

Als er sich der Schwelle näherte, die er immer nur mit einem fröstelnden Gefühle der Bangigkeit und leiser, nicht eingestandener Erwartung überschritt, wurde die Türe von innen heftig aufgerissen. Ein Mann mit grauen, zerwühlten Haaren stürzte, Flüche murmelnd, heraus und ließ sie weit geöffnet stehen.

Andreas blickte erschrocken in das so plötzlich vor ihm erschlossene Heiligtum. Er erkannte die alten Räume nicht wieder. Die räucherigen Wände waren mit einer hellen Tapete überzogen, die Repositorien aus weichem Holze durch geschnitzte Schränke ersetzt, ein türkischer Teppich bedeckte den Fußboden, bequeme Sofas standen in den Fenstervertiefungen. In der Mitte des Zimmers erhob sich ein riesiger Schreibtisch, auf dem geöffnete und geschlossene Pakete, erbrochene und versiegelte Briefe hochaufgestapelt lagen. An dem Schreibtische saß ein noch junger Mann mit bleichem fettem Gesichte und schwarzem Vollbarte.

Der neue Sekretär, dachte Andreas und besann sich jetzt, vor einiger Zeit gehört zu haben, daß ein Direktionswechsel im Hoftheater bevorstehe, der auch den Wechsel eines Teils des Personals zur Folge haben würde. – Ein neuer Sekretär also. Nicht mehr der alte, der so grob war und es doch so gut mit Andreas meinte, der ihm so gewissenhaft alle seine Manuskripte unversehrt zurückgestellt und niemals versäumt hatte, zu dem barschen: »Nicht angenommen!« mit achtungswürdiger Aufrichtigkeit hinzuzufügen: »Der Autor mag Gott danken.«

Andreas fühlte sich ihm verpflichtet und liebte ihn, und nun war er fort, und sein schüchterner Verehrer sollte ihn nicht mehr sehen.

Während er diese traurigen Betrachtungen anstellte, war der bleiche Mann am Schreibtische seiner ansichtig geworden und rief ihm zu: »Treten Sie ein, was wünschen Sie?«

»Ich bin geschickt worden …« erwiderte Andreas und näherte sich mit vielen Verbeugungen.

»Geschickt – von wem?«

»Der Verfasser des vor drei Monaten eingereichten Schauspiels,Marc Aurel’ schickt mich – Herr Karl Stein schickt mich …«

»Karl Stein? Ganz recht, für den ist etwas da«, sprach der Sekretär und zog mit sicherem Griffe aus einem der vielen Fächer vor ihm einen Brief hervor, den er Andreas einhändigte.

»Überbringen Sie dieses Schreiben Seiner Exzellenz … Ich will sagen, Herrn Karl Stein«, verbesserte er sich mit schlauem Lächeln. »Überbringen Sie es ihm. Und: unsere ehrfurchtsvolle Empfehlung. – Was steht noch zu Ihren Diensten?« fragte er etwas ungeduldig nach einer Pause, in der Andreas ihn erwartungsvoll anblickte.

»Ich soll doch wohl ein Manuskript …«

»Doch wohl, mein guter Mann? Sie wissen wohl nicht, um was es sich handelt. Das Manuskript behalten wir. Das Stück ist angenommen. Adieu.«

Kapitel 2

Kapitel 2

 

Wie er damals aus der Theaterkanzlei herausgekommen war, darüber hat Andreas in der Folge oft nachgedacht, doch ist er nie zu einem Resultate gelangt. Eines nur steht fest, was in fünfundzwanzig Jahren nicht geschehen war, geschah – man vermißte seine Gegenwart im Büro.

Er hatte sich auf dem Wege dahin verirrt, war in einen ihm völlig unbekannten Stadtteil geraten, in ein Babel von neuen Häusern, neuen Brücken und Straßen. Steinerne Adern, durch die eine mächtig erwachte Tätigkeit ihre raschen Wellen trieb, Früchte und Pflanzstätten rüstiger Unternehmungslust. Alles fremd, alles wie durch Zauber entstanden über Nacht.

Andreas eilte staunend vorwärts und wiederholte unablässig: »Eine neue Welt! eine neue Welt!«

Kein Wunder auch. – Sein Stück war angenommen, sein Stück wurde aufgeführt, sein Stück! – das konnte in der alten Welt nicht geschehen. Während er in seinem Büro kopierte und addierte und in seinem Stübchen träumte, hatte sie sich umgestaltet.

Es war Abend geworden, als seine Irrgänge ihn endlich in die Nähe des Hoftheaters lenkten. Unwiderstehlich zog es ihn hinein. Das versäumte Mittagessen deckte den Preis des Eintritts in diesen Tempel, in dem sich vielleicht bald die geliebten Gebilde seiner Phantasie verkörpern, Leben gewinnen und die Gemüter aufmerksam lauschender, verständnisvoller Menschen ergreifen und erschüttern sollten.

Mit Mühe fand Andreas auf der letzten Galerie ein letztes Plätzchen. Er drückte sich höflich zur Seite, sooft ein neuer Ankömmling auf mehr oder minder energische Weise den Wunsch kundgab, an die Brüstung vorzudringen. Immer weiter gegen die Wand geschoben, besorgte er, zuletzt der Vorstellung kaum mehr folgen zu können. Doch kam es besser. Wenn es ihm nur gelang, sich mit einer Hand an dem eisernen Dachsparren festzuhalten und sich mit einem Knie an die Bank vor ihm zu stemmen, konnte er den Kopf so weit vorstrecken, daß er immer noch beinahe die halbe Bühne übersah.

So war es ihm doch möglich, dem bevorstehenden Genusse mit einem gewissen Behagen entgegenzuhoffen.

Es wurden zwei neue Lustspiele aufgeführt, ein einaktiges und darauf eines in mehreren Aufzügen. Das erste Stück begann. Eine einfache Handlung; aber voll inneren Lebens. Die Charaktere fein und sicher gezeichnet, lauter wirkliche Menschen, an Schwächen und Irrtümern reich, aber Teilnahme erregend und ihrer wert. Und nun erst der Dialog! – ganz durchweht von Anmut, ganz durchsprüht von Geistesfunken. – – Andreas lauschte hingerissen und betrübt.

Dahin, sagte er zu sich selbst, dahin bringst du’s nie. Niemals werden deine schwerfälligen Gedanken so klaren Ausdruck finden in so feiner Form. Dir ist diese spielende Grazie versagt, diese heitere Ausführung, der im sicheren Gefühle des Könnens die Arbeit zum Genusse wird.

Das Stückchen ging zu Ende mit einer überraschenden und doch ungemein klug angebahnten Wendung.

Andreas bereitete sich vor, in den Applaus einzustimmen, der nun im Hause losbrechen mußte, statt dessen blieb alles still. Im Parterre erhoben die Herren sich von ihren Sitzen und kehrten der Bühne den Rücken zu. Ein schwacher Versuch, Beifall zu spenden, der auf der zweiten Galerie unternommen wurde, rief sofort lebhaften Widerstand hervor, einige Zischlaute ertönten.

»Applaudieren auch noch?« sagt jemand und pfeift herzhaft, und lachend stimmen seine Nachbarn ein.

Was ist das? denkt Andreas, sind die Anforderungen des Publikums so hoch gestiegen? Ist ihm das Vortreffliche nicht mehr gut genug?… Wie werde ich vor solchen Richtern bestehen?

Der Vorhang erhob sich wieder, das zweite Stück begann. Eine derb komische Szene versetzte das Auditorium sofort in die heiterste Stimmung, und Andreas lachte mit. Aber er lachte an dem Abende nicht mehr. Der harmlose Scherz artete bald in unlautere Zweideutigkeiten aus, die Handlung wurde sinnlos, alle Gestalten auf der Bühne verzerrten sich zur Karikatur, und was sie darstellten, war ein frivoles Possenspiel.

Wie mußte sich das Publikum beleidigt fühlen, dem man ein Werk vorzuführen wagte, dessen Wirkung berechnet war auf niedrige Neigungen im Menschen, auf kindische Neugier, auf Ungeschmack, auf die Freude am Rohen und am Häßlichen.

Andreas schauderte bei dem Gedanken an den Unwillen, den es erregen, an das Strafgericht, das es heraufbeschwören müsse. Und – wieder hatte er sich getäuscht. Der Beifall stieg von Akt zu Akt; vielfach gerufen, erschien am Schlusse des letzten der Autor auf der Bühne. Eine schwankende Gestalt, der es an Muskeln und Knochen zu gebrechen schien. Er trat, sich in den Hüften wiegend, vor bis an die Rampe und verneigte sich nachlässig mit dreistem Lächeln.

Er hatte nicht umsonst auf die Gemeinheit vertraut, sie jubelte ihrem Dichter zu, bereitete ihm einen lärmenden Sieg.

Und das konnte geschehen? und das geschah in dem Hause, in dem die heilige Dichtkunst ihre reinsten Triumphe gefeiert hatte?

Alles erhob sich von den Sitzen. Andreas gelangte mit der Menge in die Halle und lehnte sich hier schwer aufatmend an einen Pfeiler, an dem die Ankündigung der morgigen Vorstellung angeheftet war. Er las den Theaterzettel, die Preise der Plätze, das Repertoire der Woche. Für den letzten Tag derselben war angesetzt: »Zum erstenmal: Marc Aurel.«

Eine brennende Glut stieg ihm in das Gesicht, und seine Knie wankten.

»Noch nicht! noch nicht!« rief er laut und unwillkürlich aus.

Die Umstehenden sahen ihn erstaunt an, einige lachten. Er wurde totenblaß vor Scham und stürzte sich wie ein Verzweifelter in die Menschenflut, die dem Ausgange zudrängte.

Am nächsten Morgen erschien er vor allen anderen im Büro, begann die Papiere auf seinem Pulte zu ordnen und vermochte nicht damit zustande zu kommen. Jeder der eintreffenden Kollegen fragte ihn, was ihm fehle, und Finanzrat Seydelmann meinte: »Wenn Sie krank sind, so bleiben Sie zu Hause.«

Aber er fühlte sich nicht krank, nur peinlich unbehaglich und von dem Drange beseelt, sich nützlich zu machen. Er spitzte die Bleistifte aller seiner Kollegen und füllte Tinte nach, und als der Sekretär, witzig wie immer, äußerte, ihm sei hungrig zumute, holte er eiligst für ihn ein Weißbrot aus dem nächsten Bäckerladen.

Nur sich regen, nur nicht ruhig bleiben auf einem Flecke, nur nicht am Pulte sitzen der Wanduhr gegenüber, deren langer Zeiger sich so schnell, beinahe sichtbar, bewegte, vorwärts, vorwärts – unaufhaltsam – einer Stunde zu – – wenn er ihrer dachte, lief es ihm mit leisem Prickeln über den Scheitel, als ob seine Haare sich sträubten.

Die Arbeit, die er in diesen Tagen verrichtete, mag ihm der Staat verzeihen. Sie war durchaus unbrauchbar und zog ihm die erste Rüge von seinem Chef zu. Die größte Strenge wird immer gegen den besten Arbeiter geübt. Bei dem, der sich niemals eine Nachlässigkeit zuschulden kommen ließ, erscheint die erste am unverzeihlichsten. So war denn auch der Tadel des Finanzrates ein herber und schloß mit den Worten: »Ich weiß nicht, wie Sie mir vorkommen.«

Worauf Muth sich leichthin, wie es gar nicht in seiner Art lag, verneigte und mit verbindlichem Lächeln erwiderte: »Jawohl! jawohl!«

Andreas hatte sich vorgenommen, der Aufführung seines Dramas nicht beizuwohnen; wie kam es, daß er trotzdem lange vor Beginn der Vorstellung auf der ersten Bank in der letzten Galerie saß und nicht wankte und nicht wich, wie arg er auch gedrängt und gestoßen wurde?

Das Parterre, die Logen füllten sich allmählich, es wurde laut geschwatzt; besonders lebhaft unterhielt sich eine Gruppe von Herren in den vordersten Reihen, zunächst dem Orchester.

Unter ihnen erblickte Andreas den Verfasser des Lustspiels, das er jüngst in denselben Räumen mit soviel Beifall hatte aufführen sehen. Bestürzt wandte er den Blick einer Loge zu, in der eine Dame sich allein befand … O Wonne!… O Schmerz! Sie, die schüchtern aus weiter Ferne angebetete Frau. Hatte der Zufall, die Gewohnheit oder eine leise Ahnung sie hergeführt, um Zeugin des Triumphes oder der Niederlage ihres stillen Bewunderers zu sein?

Er drückte das Gesicht in die Hände, und eine eigentümliche Empfindung bemächtigte sich seiner. Mitten in der Menge kam er sich vor wie ihr entrückt, wie schwebend auf Flügeln in einer ganz reinen, ganz lichten Atmosphäre. Und er sah doch wieder dieselbe Menschenmenge vor sich, unter sich, alle Räume eines glänzend erleuchteten Hauses füllend und seiner Dichtung atemlos lauschend. Dann hörte er tausendstimmig seinen Namen rufen und sah sich selbst auf der Bühne stehen, und Kränze und Blumen flogen ihm zu Füßen.

Und die schöne Frau dort in der Loge nickte ihm beifällig und bewundernd zu und war erstaunt, in dem großen, ruhmgekrönten Dichter den kleinen demütigen Beamten wiederzuerkennen, den sie einmal vor Jahren gesprochen und niemals ganz vergessen hatte, nie … Da schlug’s wie gellendes Gelächter an sein Ohr: Narr, erwache! Was du träumst, wird nur dem Genius oder dem Glücklichen. Du bist keines von beiden!

Aber eine andere melodische Stimme flüsterte ihm zu: Träume, arme Menschenseele, träume fort. Laß dich ganz durchdringen von der Seligkeit, die dich jetzt erfüllt, bewahre, wenn sie erloschen sein wird, die Erinnerung an sie. Träume, träume, wiege dich in deinem Wahne und wünsche nie, daß er dir zur Wahrheit werde. Wie dem Körper sein Schatten, folgt dem Glücke das Leid und dem Erfolge Enttäuschung, Ekel und Schmerz!…

Die Musik im Orchester verklang, das Schauspiel begann. Andreas wurde plötzlich ruhig und seiner selbst bewußt. Manchmal ward es ihm ganz leicht ums Herz, weil er dachte: Possen, das ist nicht mein Stück! Das ist ein andres, das nur denselben Namen trägt. Dann wieder tönten ihm seine sorgfältig gefeilten Verse entgegen, und hie und da blitzte doch ein Schimmer von Ähnlichkeit hindurch zwischen den Personen, die sich dort auf den Brettern bewegten, und denen, die er zu schaffen gemeint und liebevoll in der Seele gehegt hatte ein ganzes Jahr.

Sein »Marc Aurel« erfuhr dasselbe Schicksal, das neulich dem kleinen Lustspiel zuteil geworden war. Das Publikum ließ ihn lautlos an sich vorübergehen. Ein bescheidener Applausversuch, den am Schlusse einige Besucher der zweiten Galerie unternahmen, fand Widerstand, aber keinen heftigen, da allen Anwesenden ein möglichst rasches Davoneilen aus dem Theater wichtiger war als das Schicksal der Novität, die eben aufgeführt worden.

Andreas ging langsam nach Hause. Dichte Schneeflocken, vom Sturme gejagt, umwirbelten sein heißes Gesicht wohltuend kühl. Je weiter er sich von der Stadt entfernte, je menschenleerer wurden die Straßen. Nur vor den Kneipentüren standen noch kleine Gruppen von Arbeitern. Ein Betrunkener vertrat Andreas den Weg und schimpfte ihm nach, als dieser ihn zur Seite geschoben hatte und weiterwanderte. In der Nähe seiner Haustüre angelangt, sah er vor ihr eine lange Gestalt auf und ab rennen, die Arme übereinander schlagen und mit den Füßen stampfen, um sich zu erwärmen.

»Nun, wie ist’s gegangen?« rief ihm eine wohlbekannte Stimme zu, und eine wohlbekannte knochige Hand legte sich wie Blei auf seine Schultern. »Ich konnte nicht in das Theater kommen. Mein Junge ist krank und auch die Frau. Wie ist’s gegangen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Andreas, »ich glaube schlecht. O mein Freund, wir haben uns geirrt, ich bin kein Dichter.«

»Versündige dich nicht«, rief Ziegler, »ein Dichter bist du. Aber heutzutage ist das kein Mittel mehr, den Leuten zu gefallen.«

Im Büro nahm Andreas, als er am folgenden Tage eintrat, unter seinen Kollegen eine ungewöhnliche Bewegung wahr. Sie flüsterten eifrig zusammen, sobald sie ihn jedoch erscheinen sahen, wurde das Gespräch abgebrochen. Der Sekretär nahm rasch eine Zeitung von seinem Pulte und tat, als sei er auf das eifrigste mit Lesen beschäftigt.

»Das Feuilleton der Staatszeitung bringt heut eine köstliche Kritik von Moritz Salmeyer!« rief er. »Ich kenne den Verfasser, treffe ihn manchmal bei meinem Schwager, dem Buchhändler. Ein noch junger Mann, von dem auch unlängst ein Lustspiel aufgeführt wurde, das rasend gefallen hat. Boshaft ist er, aber verteufelt gescheit. Da hat er einen armen Dichter verarbeitet, dessen Drama gestern im Hoftheater kläglich durchgesunken ist. Lesen Sie, Muth, Sie werden lachen.«

Mit eiskalten Fingern nahm Andreas das Blatt und las die darin enthaltene Kritik über sein Stück.

Der Rezensent erzählte zuerst die Handlung in einer Weise, die sie als eine Ausgeburt des Blödsinns erscheinen ließ. Sodann beschäftigte er sich nicht mehr mit dem Werke, sondern mit der Person des Verfassers. Er bewies seine Talentlosigkeit, seinen Mangel an Verstand; er griff seinen Charakter an. Dies alles mit einer Lustigkeit, die an jene des Clowns im Zirkus gemahnte.

»Nun, was sagen Sie?« fragte der Sekretär. »Wie mag dem armen Tropf von Poeten zumute sein, wenn er das liest?«

»Als hätte ihn Hanswurst mit der Britsche erschlagen«, erwiderte Andreas und setzte sich an seinen Arbeitstisch.

Erschlagen unter Lachen und Scherzen. Die letzte, die reifste Arbeit seines Geistes war nicht einmal einer ernsthaften Beurteilung würdig.

Noch nie hatte er an sein Alter gedacht, jetzt fiel ihm das Bewußtsein seiner fünfundvierzig Jahre schwer auf das Herz. Was konnte die Zukunft noch gutmachen? – er hatte keine mehr. Was konnte er von sich erwarten, nachdem er, urteilslos und blind, ein langes Dasein hindurch Werke geschaffen hatte ohne Wert und Zweck?

Das Bestreben seines ganzen Lebens war töricht gewesen, lächerlich alles, seine Hoffnungen, seine Entzückungen, ja selbst seine Resignation.

Sogar sie, die bescheidene, entsprang einer Überhebung. Wo kein Anspruch vorhanden ist, da gibt es auch kein Verzichten. Nun wurden ihm die Augen geöffnet, nun sah er sich in seiner Erbärmlichkeit, und schlimmer noch, als er war, sahen ihn die anderen, die seine Verurteilung gelesen hatten – die seine, ja, er zweifelte nicht, daß sein Geheimnis, Gott weiß durch welchen Zufall, verraten sei. Gewiß! es ist so, und die Folgen werden nicht ausbleiben. Seine Kollegen werden ihm ihr Wohlwollen entziehen, ihm vielleicht sagen: Gehen Sie; ein Mensch, der öffentlich verhöhnt worden ist, gehört nicht in die Gesellschaft ehrenhafter Männer.

… Schande! Schande!… Fressende Qual, nicht zu ertragen, nicht zu besiegen – – sie umspinnt ihn, sie haftet fest an ihm, nie mehr zu tilgen, nie mehr! – Sein Wesen erstarrt unter ihrem Hauche – o könnt er sterben!

Aber so gut wird es ihm nicht. Erst muß noch alles wirklich erlitten sein, was er jetzt in Gedanken erleidet.

Im Zimmer entsteht eine Bewegung, er neigt den Kopf tiefer über das mit Worten und Zahlen bedeckte Blatt auf seinem Pulte, die schwarzen Zeichen laufen wütend durcheinander wie aufgescheuchte Ameisen.

Nun wird ein Flüstern hörbar, Schritte nähern sich, eine Stimme ruft: »Herr Muth!«

Und er springt empor.

Seine Kollegen stehen in zwei dichten Reihen vor ihm, an ihrer Spitze in feierlicher Haltung der Finanzrat und der Finanzsekretär. Jetzt, denkt Andreas, jetzt werden sie mir sagen, daß sie nicht mehr mit mir dienen wollen, daß ich um meine Entlassung bitten soll.

Der stattliche Rat weidete sich einen Augenblick an der Bestürzung seines Untergebenen und begann dann voll Salbung laut und langsam: »Sie feiern, Herr Muth, heut Ihr fünfundzwanzigjähriges Dienstjubiläum. Ich und Ihre Kollegen, wir laden Sie ein, teilzunehmen an einem zu Ihren Ehren im Gasthofe ,Zum weißen Lamm’ veranstalteten kleinen Festsouper. Und findet dasselbe um neun Uhr statt.«

Als ob er ihn nicht verstanden hätte, starrte Andreas den Sprecher mit weit aufgerissenen Augen an, in denen sich Überraschung, Freude, unaussprechliche Dankbarkeit spiegelten. Seine Hände, die die Sessellehne umklammert gehalten hatten, lösten sich, und er preßte sie ineinandergefaltet an seine Brust. Er wollte vortreten, die Knie brachen unter ihm, er wollte sprechen, die Stimme versagte ihm, und schluchzend wie ein Kind sank er auf seinen Platz zurück.

Auf eine derart überwältigende Wirkung ihrer freundlichen Demonstration waren die Herren nicht gefaßt gewesen, und sie rief bei ihnen eine nicht geringe, wenn auch männlich bekämpfte Rührung hervor.

Einige versuchten zu lächeln, keinem gelang’s. Der erste Kommissär zwinkerte dem zweiten zu; dabei gerieten die Muskeln seines Gesichts in ein sonderbares Zucken, und in seinen Augen zitterte etwas, das ihm Schmerz zu machen schien, denn er wendete sich plötzlich vom Lichte ab. Der Magazinverwalter verzog den Mund, als hätte er Tinte getrunken, und schnaubte sich so schmetternd in sein mit einer Ansicht von Sanssouci geschmücktes Taschentuch, daß der Sekretär sich’s nicht versagen konnte, ihm zuzurufen: »Der Teufel, Heinecke, Sie sollten Postillion werden!«

Finanzrat Seydelmann, dessen berühmte Trockenheit zu der Sage Veranlassung gegeben hatte, er werde nach seinem Tode nicht in Verwesung, sondern in Streusand übergehen, klopfte Muth auf die Schulter und sprach leise und väterlich ermunternd: »Seien Sie ein Mann!«

Kapitel 3

Kapitel 3

 

Im großen Speisesaal des Gasthofes »Zum weißen Lamm« war ein Tisch für die Beamten gedeckt. Oben an der Tafel, zwischen dem Finanzrat und dem Finanzsekretär, erhielt Andreas seinen Platz. Als er ihn einnahm, bemerkte er mit Überraschung, daß sich auf seinem Teller ein großer Vogel niedergelassen hatte, der eine frische Rosenknospe im Schnabel trug.

Dieser Vogel war aber nichts anderes als Muths sinnreich zusammengelegte Serviette. Ja, das mußte man ihm lassen: im Serviettenfalten besaß der Oberkellner im »Lamm« eine eigene Kunstfertigkeit, und den Festgebern war es angenehm, daß er sie heut ausgeübt zu Ehren des Jubilars.

Andreas blickte gerührt im Kreise seiner Kollegen umher. Er hätte nicht gedacht, daß sie ihn liebten. Er hatte sich immer fern von ihnen gehalten, kaum manchmal dem oder jenem einen kleinen Dienst erwiesen. Und nun gaben sie ihm ein so offenkundiges Zeichen ihrer freundschaftlichen Gesinnung! Er war zu bewegt, um sprechen, essen oder trinken zu können, aber er fühlte sich über die Maßen geehrt und suchte vergeblich zu begreifen, warum es ihm nicht gelang, recht froh zu werden. Doch nagte etwas an seinem Herzen wie das dumpfe Bewußtsein eines Unglücks, etwas, das meltauartig auf seine Lebensfreude gefallen war und sie vernichtet hatte bis auf den Grund.

Dann quälte ihn die Frage, ob er nicht betrügt, indem er Achtungsbeweise von achtungswerten Männern entgegennimmt, die ihm diese vielleicht versagen würden, wenn sie wüßten, daß er es ist, dessen Schmach in einem großen öffentlichen Blatte am selben Morgen verkündigt worden war.

Wenn sie wüßten – dachte er. – Wenn sie wüßten!

Unweit des Tisches der Beamten hatte eine kleine, aber laute Gesellschaft sich angesiedelt, und der Sekretär wechselte wiederholt mit einem ihrer Teilnehmer Grüße und Winke. Jetzt beugte er sich zu Andreas und flüsterte ihm zu: »Sehen Sie sich um, dort sitzt Salmeyer, wissen Sie, der Verfasser des Feuilletons, über das wir so sehr gelacht haben.«

Ein kalter Schauer lief über den Rücken des Angeredeten, und er starrte den Sekretär mit solcher Bestürzung an, daß dieser unwillkürlich ausrief: »Was haben Sie denn?«

Die Antwort blieb aus; statt ihrer ertönte ein mächtiges: »Meine Herren!« durch den Saal. Finanzrat Seydelmann hatte sich erhoben, das Champagnerglas in der Hand, und blickte mit majestätischer Ruhe im Kreise seiner Untergebenen umher, die sich beeilten, gleichfalls aufzustehen.

Andreas ahnte, was nun folgen würde, und hätte den Boden beschwören mögen, ihn zu verschlingen. Er kam sich vor wie erdrückt zwischen Ehre und Schande, beide zu groß, um ertragen zu werden von ihm, dem schwachen Manne, beide weit über sein Verdienst und über seine Schuld …

Seydelmann hielt eine stattliche Rede, in welcher er Muth dreimal Gerechtigkeit widerfahren ließ: als Menschen, als Kollegen und als Staatsbeamten, und schloß mit den geflügelten Worten: »Stimmen Sie mit ein, meine Herren, in das freudige ›Glück auf!‹ das ich dem von uns Gefeierten zurufe: – Er lebe hoch!«

»Er lebe hoch!« schallte es aus den Kehlen der ganzen Tischgesellschaft, laute Fröhlichkeit hatte sich ihrer bemächtigt.

»Sie müssen antworten«, flüsterte der Sekretär Andreas zu, und der raffte sich auf. Aber statt des Glases erhob er nur die flehend gefalteten Hände: »Schonen Sie meiner, hochverehrte Herren – haben Sie Nachsicht – haben Sie Dank!… Mögen Sie selbst hochleben, viel höher als ich – Sie – Sie alle!« brachte er mühsam hervor.

Es steht in Frage, ob jemand hörte, was Andreas gesagt hatte; daß sich jedoch ein allgemeiner Jubel erhob, als man ihn nicht mehr sprechen sah, ist gewiß. Die Beamten wurden immer munterer und dachten noch nicht daran, aufzubrechen, als sich ihre Nachbarn am kleinen Tische schon zum Fortgehen anschickten. Salmeyer ging mit den anderen. Gottlob! – die Luft im Zimmer wird minder drückend sein, wenn er fort ist … Er stand schon an der Türe, da rief ihn der Sekretär zurück – er kam, sie schüttelten einander die Hände. Der Literat wurde den übrigen Beamten vorgestellt, eingeladen, Platz zu nehmen und ein Glas Wein zu leeren auf das fernere Gedeihen seines Witzes, von dem Proben zu zitieren der Sekretär nicht müde wurde.

Das ihm gespendete Lob schien Salmeyer weniger zu schmeicheln als zu belustigen. Er ließ es über sich ergehen wie etwas, das man zwar nicht brauchen kann, aus Höflichkeit jedoch hinnimmt.

»Und Ihr heutiges Feuilleton«, rief sein Bewunderer, »das ist prächtig, hören Sie. Es mag keine kleine Kunst sein, über ein langweiliges Theaterstück eine kurzweilige Kritik zu schreiben.«

»Ja«, erwiderte Salmeyer, »die Kritik ist gut. Und wenn Sie erst die Pointen« – er sprach po-ïn, verlieh dem i zwei Pünktchen – »kennen würden, die darin angebracht sind! – Freilich versteht man diese nur dann recht zu würdigen, wenn man weiß, wer sich hinter dem Pseudonym Karl Stein verbirgt.«

Andreas schrak zusammen.

»Wer ist es? Können Sie uns das nicht sagen?« fragte der Sekretär und erhielt zur Antwort: »O ja! Es ist der Gemahl der noch jetzt berühmt schönen Mathilde Auwald. Der Graf Hieronymus von Auwald.«

»Wer?!« schrie Andreas laut auf, und viele Stimmen riefen durcheinander: »Der Graf von Auwald?« – »Der berühmte Dichter?« – »Der gefeierte Redner?« – »Der Führer der Liberalen?«

»Ja, ja«, sagte Salmeyer mit überlegenem Lächeln, »alle diese Eigenschaften spricht ihm der Volksmund zu. Was es damit in Wahrheit auf sich hat, lassen wir dahingestellt sein … Ich meine, sein Liberalismus und seine Schriftstellerei sind der Blinde und der Lahme, die wir aus dem Fabelbuche kennen; allein käme keiner ans Ziel. In seinen Gedichten, die von Freisinnigkeit triefen, war er nicht anzugreifen – mit seinem tendenzlosen Drama aber …«

»Woher vermuten Sie«, unterbrach ihn Andreas mit beklommenem Atem, »daß dieses Drama von ihm sei?«

»Aus dem Pseudonym auf dem Komödienzettel!« entgegnete Salmeyer. »Es ist dasselbe, unter dem sein erstes, jetzt vergessenes Epos erschien.«

»Dasselbe?« stammelte Andreas, und der Literat fuhr fort: »Mit einem tendenzlosen Drama, sage ich, und mit der Anonymität, hinter der er sich versteckt, fordert er die rücksichtslose Kritik heraus. – Nun – sie erscheint. So hoch stehen die Kunstwerke des gräflichen Jakobiners doch nicht, daß es unmöglich wäre, ihnen beizukommen. Seine Exzellenz wird gestaunt haben über die zweischneidige Klinge, die wir führen. Bei jedem Streiche blutet entweder der Staatsmann oder der Poet. – Das schönste ist, wie ich ihm aus seinem Werke heraus beweise, daß seine großen Fähigkeiten nicht minder als seine Grundsätze zweifelhafte Dinge sind …«

»Aus seinem Stücke heraus beweisen Sie ihm das?« fragte Andreas, und alle Anwesenden erschraken über den verzweiflungsvollen Ausdruck in seinen Zügen.

Salmeyer schaukelte sich auf seinem Sessel und erwiderte mit selbstbewußter Ruhe: »Unwiderleglich.«

»Wenn Sie das getan haben, so sind es wenigstens nicht die Fähigkeiten und Grundsätze des Grafen von Auwald, die Sie damit anzweifeln«, sagte Andreas. Seine Lippen bebten, und mit Mühe setzte er die Worte hinzu: »Sondern die meinen.«

»Die Ihren? – Was heißt das?… Ich bitte um Deutlichkeit … Developpieren Sie sich!« scherzte Salmeyer.

Andreas antwortete ihm nicht; er richtete sich an seine Kollegen, die voll Spannung zugehört hatten, und sprach festen Tones: »Das Schauspiel ,Marc Aurel’ ist von mir.«

»Von Ihnen?« – »Was Teufel?« – »Sie machen schöne Geschichten!« erscholl es ringsumher.

»Mystifikation der Presse!« schrie Salmeyer. »Ich habe die Presse nicht mystifizieren wollen«, beteuerte Andreas. »Ich habe dieses Stück, wie schon manches andere vorher«, schaltete er errötend ein, »unter dem Pseudonym Karl Stein eingereicht, weil es mir unbekannt war, daß der Graf von Auwald diesen Dichternamen geführt hat.«

Finanzrat Seydelmann hatte sich gegen Andreas gewendet, als jener seine Erklärung abgab, und ihn unverwandten Blickes angestarrt. Jetzt machte er mit seiner breiten Hand eine prächtig einleitende Bewegung und hob in feierlichem Tone an: »Sie müssen, Herr Muth, es bleibt Ihnen jetzt nichts anderes übrig, Sie müssen sich öffentlich als Verfasser des ,Marc Aurel’ bekennen.«

»Ich bin dazu bereit«, erwiderte Andreas.

»Überlassen Sie das mir! Ich will’s besorgen!« rief Salmeyer. Er war im Zweifel gewesen, ob er die Sache von der komischen oder von der ernsten Seite nehmen solle. Jetzt entschied er sich für das erstere und brach plötzlich in ein schallendes Gelächter aus. Dann entschuldigte er sich angelegentlich und nicht ohne Liebenswürdigkeit bei dem, wie er sagte, »zustande gebrachten Dichter«. Die Stimmung der ganzen Gesellschaft wurde bald wieder munter und ungemein günstig für Andreas, dessen Traurigkeit zu zerstreuen man herzlich beflissen war.

»Seien Sie guten Mutes, guter Muth!« sagte der Sekretär.

»Eine Dummheit muß jeder Mensch im Leben begehen!« setzte der Verwalter treuherzig tröstend hinzu. So treuherzig, daß Andreas mit tief gerührter Dankbarkeit die Hand drückte, die ihm der wohlwollende Mann über den Tisch hinüberreichte.