Im Jahre 1829 kehrte unser Großvater Vockel aus Pyrmont, wo er vergeblich Heilung von einem Brustleiden gesucht hatte, zurück. Auf dem Gipfel des Klum ließ er den Reisewagen halten, stieg aus und überblickte zum letztenmal die Stätte seiner langjährigen und erfolgreichen Tätigkeit. Ein verwahrlostes Gut hatte er übernommen, ein sorglich und weise gepflegtes, das seine Freude geworden war, schickte er sich an für immer zu verlassen. Klein mußte von dort oben das Bereich seines Strebens und Wirkens ihm erscheinen und nur wie ein weißer Strich im Grün sein geliebtes Haus. Aber sagen durfte er sich, daß er in diesem kleinen Bereich zum Segen gewaltet hatte und daß sein Wohnort für die Hütten in seiner Nähe Schutz und Schirm gewesen war.

Und nun, nicht ganz zwei Jahrzehnte später, stand die törichte Enkelin dieses Edlen und Weisen dem Klum gegenüber und hielt einige mit großer Kinderschrift beschriebene Papierstreifen in der Hand: ihre offenen Briefe an unbekannte Empfänger.

Sogar an – bei uns seltenen – windstillen Tagen war das Gartenhaus auf seinem Hügel von unermüdlich spielenden Lüften umweht. Immer war ich sicher, dort den Boten bereit zu finden, der mein Sendschreiben übernehmen und befördern sollte. Am schönsten war’s bei heftigem Sturme, wenn die Wetterfahne, die in Gestalt eines Blätterkranzes das Dach bekrönte, sich knarrend drehte und das Ährenmeer auf den Feldern große Wellen schlug.

Dem Sturm vertraute ich mit Entzücken meine papiernen Brieftauben an, hielt sie hoch empor, war glücklich, wenn er sie mir entriß und sie bald nur noch wie weiße Pünktchen vor meinen Augen aufblitzten im Sonnenlicht … flogen, flogen – und meine Gedanken ihnen nach. Wer wird sie finden? Ein Mann, eine Frau, ein Kind? und sich wundern, sich freuen und fragen: Wer schickt mir diesen Gruß! Wer schreibt mir so schöne, liebe Sachen?

Nie trat die Versuchung mich an, von meinem Verkehr mit den Freunden jenseits der Berge und Meere gegen irgendwen auch nur die geringste Erwähnung zu tun. Vielleicht leitete mich dabei eine unbestimmte Angst vor einem Zweifel, einem Spott, der den Filigranbau meiner Träume erschüttert oder mir seinen Schimmer, wenn auch nur mit einem Hauch, getrübt hätte.

 

Zdißlawitz hat keine eigene Kirche; die Gemeinde ist in dem benachbarten Dorfe Hostitz eingepfarrt. Die Fahrstraße, die beide Orte verbindet, läuft bergab und bergan im Bogen zwischen Obstbäumen, Feldern und Hainen. Die Sehne dieses Bogens bildet ein Fußsteig, auf dem unsere Dorfleute in zwanzig Minuten aus ihren Behausungen zur Kirche gelangen. Bei gutem Wetter nämlich; denn bei schlechtem, wenn der Regen unsern lehmigen Boden durchweicht und kniehoch in einen zähen Brei verwandelt, dann gibt es keine Berechnung der Distanzen mehr, und das Anlangen auch des besten Schreiters an seinem Bestimmungsorte wird zur problematischen Sache.

In Hostitz, in der kleinen Lokalei, die heute den Titel einer Pfarrei führt, ohne deshalb stattlicher geworden zu sein, lebte unser allerbester Freund, der hochwürdige Herr Pater Borek. Er hatte meine Eltern getraut, mich getauft, unsere Mutter zu Grabe geleitet. Er hat meiner Schwester und mir die Lehren eines milden Christentums vermittelt. Zweimal wöchentlich kam er zur Unterrichtsstunde am Vormittage, blieb zu Tische bei uns, und wenn er den Heimweg antrat, gaben wir Kinder ihm das Geleite.

Meine Schwester und ich hatten es nie besonders eilig und wichtig, die Vorbereitungen zu einer Lektion zu treffen. Wenn aber die Religionsstunde in Sicht kam, da entwickelten wir eine ameisenhafte Tätigkeit im Herbeischleppen der unnötigsten Dinge. Ein Tintenzeug, das nie gebraucht wurde, Schreibhefte, deren blütenhafte Unschuld immer unberührt blieb, ein Polster für den Stuhl des geistlichen Herrn, das er immer hinwegtat, bevor er sich setzte. Auf dem Kanapee Platz zu nehmen, konnten wir ihn nicht bewegen. »Was Ihnen einfällt! Das schöne Kanapee … Das ist doch nicht zum Draufsetzen da?« – Schön? Nun, wenn er’s sagte! Es stand am Pfeiler zwischen den zwei Fenstern, hatte plumpe, mit Holz eingefaßte Lehnen und trug ein Wollkleid von unerklärlicher Farbe. Eine Art Gelbgrün, über das ein grauer Hauch hinwehte. Ihm gegenüber, an der Langseite des Tisches, ließ Pater Borek sich nieder; wir zwei, die eine rechts, die andere links von ihm, nahmen die Schmalseiten ein. Wenn beim »Aufsagen« des Katechismus oder der biblischen Geschichte eine Stockung eintrat, wartete unser gütiger Religionslehrer und schwieg und sah ins Gelbgrau hinein mit seinen kleinen geduldigen Augen, die immer trauriger wurden, je länger die Stockung dauerte. An der Wand, gerade vor mir, machte ein niedriger Schrank sich breit, auf dem unsere Menagerie in stattlicher Reihe paradierte. Zu jedem Geburts- und Namenstage bekamen meine Schwester und ich ein Tier aus Carton-pierre, ein wildes oder ein zahmes, zum Geschenk. Famose Geschöpfe! nur – etwas heimtückisch. Wie sie es anstellten, wer weiß es? Gewiß aber ist: sie verstanden nie, sich so interessant zu machen als während der Religionsstunde. Förmlich in einem neuen Lichte erschienen sie, es war ein Genuß, sie anzusehen. Der Elefant entwickelte eine ungewohnte Anmut, die Tigerin lächelte hold. Wir müssen ihnen einmal gar zuviel Aufmerksamkeit zugewendet haben, denn der Herr Lokalist, dieses Urbild der Langmut, sah sich zu der Warnung genötigt, er werde ein Tuch breiten lassen über unsere Tiere, wenn ihr Anblick uns zerstreue.

Wir blieben starr. Ein Ereignis ohne Beispiel: der geistliche Herr drohte mit einer Strafe! Ich weiß nicht, was in diesem Augenblick größer gewesen sein mochte, unsere Beschämung oder der Wunsch, uns in seiner Meinung zu rehabilitieren.

Am Abend, nachdem man uns zu Bette gebracht – wir zwei Großen hatten jetzt unser eigenes Schlafzimmer –, wurde Rat gehalten und das Mittel bald gefunden, dem guten Pater zu beweisen, wie zweckmäßig die Maßregel gewesen wäre, die er uns in Aussicht gestellt hatte.

Als er wiederkam, empfingen wir ihn mit siegreichen Mienen und nahmen hastig unsere Plätze am Tische ein. Dabei gab’s ein unterdrücktes Gekicher, ein Hin- und Herschießen von Blicken an Pater Borek vorbei, ein verstohlenes Gucken nach der Menagerie. Wird er es endlich merken? – Vivat! Endlich merkte er etwas. Er wandte sich, seine Augen folgten der Richtung der unseren, und nun sah er, daß wir seine Worte in Ehren gehalten und unsere Tiere eigenhändig verhüllt hatten mit unseren Umhängtüchern. Sie waren leider nur etwas zu klein, und von einer Seite guckte ein halber Dachshund, von der anderen ein halber Löwe aus dem Versteck hervor.

Meine Schwester sprach, mit wichtiger Miene auf die mangelhafte Umkleidung deutend: »Wissen Sie, Hochwürden, damit unsere Tiere uns nicht zerstreuen.«

Er seufzte: »Aber! Aber!« und blickte ratloser denn je ins Gelbgraue. Unsere ausgebreiteten Umhängetücher, der halbe Dachshund, der halbe Löwe zerstreuten uns viel mehr, als der vollständige Aufzug der Vierfüßler jemals getan hatte.

Vom achten Geburtstage Fritzis an wurden wir mitgenommen, wenn man sonntags nach Hostitz zur Kirche fuhr. Gut vorbereitet durch den geistlichen Herrn, wohnten wir der Messe mit inbrünstiger Andacht bei.

Der Anblick der vielen Betenden, der Ausdruck ihrer Gesichter, ihr Gesang rührte und ergriff mich in der Seele. Ich liebte sie, ich fühlte mich mit ihnen verwandt, weil ich auf derselben Erdscholle wie sie geboren war. Erhebend wirkte auf mich der Klang der Orgel, und mit einem Entzücken, das kein Wort zu schildern vermag, flatterte und bebte mein ganzes Herz der Erscheinung unseres Herrn entgegen, und jubelvolle Demut erfüllte mich, wenn der Glockenklang feierlich seine Ankunft verkündete. Der Herr des Himmels und der Erde ließ sich nieder zu uns, kam zu uns in unsere kleine, schmuckarme Kirche, erfüllte uns mit den süßen und heiligen Schauern seiner göttlichen Gegenwart …

Aufmerksam verfolgte ich jede Bewegung und jeden Schritt des Priesters am Altare, merkte mir genau seine laut gesprochenen und den Tonfall seiner nur gemurmelten Worte.

Beim Nachhausekommen holte ich dann eine Schachtel herbei, die ein vollständiges Meßgerät aus Zinn enthielt, und versuchte nun selbst die Messe zu lesen. Meine Schwester ministrierte, wenn auch ungern, und mußte sehr gebeten werden, bevor sie sich dazu herbeiließ. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte sie, »es scheint mir nicht ganz recht.« Aber ich wußte sie zu überreden: ich machte ihr klar, daß wir dem Pater Borek eine neue, viel schönere Überraschung als die letzte bereiten würden, wenn wir einmal unser kleines Meßopfer vor ihm darbrächten. Da sieht er doch, wie wir achtgeben in der Kirche und wie gut wir uns alles, was dort vorgeht, merken.

Sie blieb zwar bei ihrem: »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, beugte sich aber, wie gewöhnlich, meinem Willen.

Eines Nachmittags wurde denn der geistliche Herr eingeladen, in das Zimmer Großmamas zu treten, die ins Geheimnis gezogen war. Er und sie nahmen Platz vor einer Doppeltür in der Tapete. Ihr äußerer Flügel stand offen, von innen war sie weiß ausgelegt, und in ihrer Vertiefung hatten wir unseren Altar errichtet. In feierlicher Stimmung erschienen wir, meine Schwester das Glöcklein schwingend, ich hinter ihr, den verdeckten Kelch in den Händen, ganz Andacht und Versunkenheit. An unsere kleine Gemeinde dachten wir nicht während der unbefugten Darbringung unseres Opfers. Aber als wir, die Konsekrierende und die Ministrierende, ernst, wie wir gekommen waren, von dannen schritten, sah ich den geistlichen Herrn erwartungsvoll an und rechnete auf einen freundlichen, beifallspendenden Blick. Statt dessen begegnete ich einem sehr befremdeten. Pater Borek sah traurig und fast wie verlegen aus. Wir hatten ihm mit der unbefugten Ausübung einer heiligen Handlung kein Vergnügen gemacht.

»Siehst du, es war nicht recht«, sagte meine Schwester, als wir in unser Zimmer zurückkehrten.

Sie legte das Kamisölchen ab, das sie angetan hatte, um aufs Haar einem Sakristan zu gleichen; ich entledigte mich der zwei Schürzen, die, eine nach vorn, die andere nach rückwärts gebunden, ein Meßgewand vorstellen sollten. Langsam räumten wir das Meßgerät wieder in seine Schachtel ein, recht mit dem Gefühl: zum letztenmal und für immer.

Bald darauf sollte mein treuer Seelsorger noch weit Schlimmeres durch mich erfahren.

Er bereitete uns in seiner mild eindringlichen Weise zur ersten Beichte vor, und ich malte mir gar deutlich die Wonne aus, die mich ergreifen würde nach der Lossprechung von allen meinen Sünden. Sie sind ausgelöscht, sind wie nie begangen: ich werde keine Gewissensbisse mehr haben, weil ich unhöflich war gegen das Stubenmädchen, voll Streitlust gegen meine Brüder, weil ich so heiß gewünscht habe, ein tüchtiger Prügel möge aus den Wolken niederfahren und der Mademoiselle blaue Flecke schlagen. In engelhafter Reinheit werde ich aus dem Beichtstuhl treten, und engelhafte Freude wird mein Herz erfüllen.

Diese Aussicht war entzückend, aber furchtbar die Angst, früher oder später doch wieder in meine alten Fehler zu verfallen und den Glanz meiner Seelenschönheit zu trüben. Ach – wer sterben könnte, gleich nachdem er sündenfrei geworden ist! Er wäre gerettet, er würde pfeilgerade auffliegen in den Himmel und von dessen Bewohnern empfangen werden wie ein Heimgekehrter von den Seinen.

Aus dem brennenden Wunsche nach einem so herrlich erlösenden Tod keimte und reifte auch sehr bald der Entschluß, ihn herbeizuführen. Das konnte ich ja, das war ja kinderleicht; es kostete nur einen Schritt oder vielmehr einen Sprung – einen Sprung aus dem Fenster. Wer sterben will, springt aus dem Fenster, und diese Art, ins Jenseits zu entfliehen, sollte die meine sein. Daß unser Haus nur ein Stockwerk hatte und daß mein Sturz durchaus nicht todbringend sein mußte, erwog ich nicht; ich war dem Nächstliegenden entrückt, schwebte schon in himmlischen Sphären, der Nähe Gottes entgegen, in die geöffneten Arme meiner Mutter. Ahnungen der Glückseligkeit erfüllten mich, kein Zweifel an der Vortrefflichkeit meiner Tat störte mich, kein Gedanke an den Abschied von den Meinen fiel mir aufs Herz …

In der Kapelle war mittels eines Fauteuils und eines Betschemels ein Beichtstuhl improvisiert worden. Sehr gut erinnere ich mich, daß ich beim Eintreten dem geistlichen Herrn zulächelte und daß er mich ernst ansah und ein weißes Tüchlein, das er in der Hand trug, emporhob und vor sein Gesicht hielt.

Meine Schwester legte zuerst ihre Beichte ab; ich folgte, ich tat mein Schuldbekenntnis mit heißer Reue und vernahm in tiefster Zerknirschung die Ermahnungen meines priesterlichen Freundes und in unsagbarer Spannung der leise gemurmelten Lossprechung. –

Von dem unmittelbar darauf Folgenden gibt mein Gedächtnis mir keine Rechenschaft. Ich finde mich erst im Zimmer meiner Großmutter wieder, auf ihrem Arbeitsstuhle stehend am offenen Fenster, sehe mich hastig und in Angst, überrascht zu werden, das Fensterbrett ersteigen. Nun ein rascher, heftiger Satz, ein Schlag vor die Stirn, ein Funkenstieben vor den Augen … Ich stürzte – aber nicht hinab in den Garten – zurück ins Zimmer. Mein Sprung hatte mich zu hoch getragen; ich war an das Fensterkreuz angeprallt und lag halb betäubt auf dem Boden, als die Tür sich öffnete und Pater Borek eintrat.

Im Saal hatten sich alle zum Frühstück versammelt; nur eines seiner Beichtkinder fehlte. Er, von einer unbestimmten Angst erfaßt, ging, es zu suchen, und fand es und sah, wie es sich bei seinem Anblick entsetzt aufraffte und nun vor ihm stand, verstört, verwundet … Wohin waren plötzlich meine Träume von Engelsunschuld und Himmelsherrlichkeit gekommen? Nach den ersten Fragen schon, die der geistliche Herr an mich stellte, bei der Mühe und dem Schmerz, die es mich kostete, sie zu beantworten, wußte ich: Ein schweres Unrecht war, was ich im Sinne gehabt, und ich hatte eine Sünde begehen wollen, viel größer als die Sünden, deren ich mich in der Beichte angeklagt.

Mein Freund, mein Vertrauter, mein Lehrer sah traurig zu mir herab, seine gütigen Augen wurden immer trüber, die Kummerfalten längs der Wangen vertieften sich immer mehr … Er streckte die Hand aus, drückte die Schwurfinger an die Beule auf meiner Stirn und sagte: »Da hat Ihr Schutzengel ›Merk’s, Tölpel!‹ draufgeschrieben.«

Er hat mir auch später keine Vorwürfe über meine mißlungene Himmelfahrt gemacht. Vorwürfe zu machen war so wenig die Sache unseres lieben geistlichen Herrn! Strenge lag ihm fern; er wandte sie sogar da nicht an, wo sie sehr am Platze gewesen wäre. Das schadete aber seinem Ansehen in der Gemeinde nicht. »Er ist eben ein Heiliger«, sagten die Leute, »und meint, alles in Güte schlichten zu können.«

Zwei Jahre früher, anno 1836, als in unserer Gegend die Cholera wütete, da hatte der stille und einfache Mann sich in seiner Glorie gezeigt. Die Seuche raffte Tag für Tag neue Opfer mit grauenhafter Plötzlichkeit hinweg. Sie überfiel die Menschen und ließ nicht mehr ab von ihrer Beute. Unaufhörlich klang der traurige Schall des Zügenglöckleins vom Dorfe herüber. Tag und Nacht stand Pater Borek im schweren Dienste seines Priesteramtes. Von Sterbebett zu Sterbebett rief es ihn. So manches Mal konnte er zu dem Kranken, dem er die letzten Tröstungen brachte, nur gelangen, indem er über Leichen wegschritt, die auf dem Boden hingestreckt lagen. An den Fenstern des Schlosses rasselte sein Wägelchen immer und immer wieder vorbei. Wir hörten es von weitem kommen, knieten nieder und beteten für eine scheidende Seele.

Im ersten Schrecken hatten sich die armen Menschen widerstandslos der unbekannten Feindin überantwortet. Man mußte sie erst lehren, daß es möglich sei, gegen sie anzukämpfen.

Auch bei uns war die Seuche eingekehrt. Einige der Diener wurden von ihr ergriffen. Maman Eugénie und unser kleiner Viktor erlitten schwere Anfälle des furchtbaren Übels. Mama erholte sich langsam, das schwächliche Kind schien verloren. Sogar die freudige und trostvolle Zuversicht des Arztes, Doktor Engel, geriet endlich ins Wanken. Er war ein noch junger Mann, ein großer, dunkelbärtiger Jude, und kam täglich aus der kleinen Stadt Kremsier von einem Dorf, von einem Schloß zum andern gefahren und bemühte sich um den ärmsten seiner Kranken mit der gleichen Sorgfalt wie um den wohlhabendsten. Von Pater Borek unterstützt, leitete er die Anstalten, die getroffen wurden, um das Elend, von dem wir umgeben waren, zu lindern und neuem Unglück womöglich vorzubeugen. Morgens und abends standen im Schloßhofe große Pfannen voll dampfender Rumforder Suppe. Die Leute kamen mit Töpfen und Kannen und holten eine gute, gesunde Nahrung für sich und ihre Kinder, Massen von Unterkleidern wurden verteilt. Am eifrigsten von unserer Großmutter, die sich nie genug tat, wenn es zu geben und zu helfen galt. Wo sie war, da war Hochherzigkeit und Güte, da – wenigstens uns Kindern gegenüber – war aber auch große Nachsicht und etwas Schwäche. Sie brachte es nicht übers Herz, uns sogleich davonzujagen, wenn wir uns heranschlichen, um zuzusehen bei der Suppen- und Kleiderverteilung. Sie drückte ein Auge zu, wenn wir der Köchin oder einer Küchenmagd den Schöpflöffel abschwatzten, um ihre Tätigkeit am Suppenkessel nur ein bißchen, nur ein klein wenig ausüben zu dürfen. Allerdings kannte man damals die feige Angst vor Ansteckung noch nicht, die heute herrscht. Noch waren die unsichtbaren Feinde nicht entdeckt, die in scheinbar reiner Luft hausen und jeden Atemzug zur Lebensgefahr machen können. Unsere Unwissenheit war unsere Stärke. Es fiel weder unserem Vater noch einem andern Gutsbesitzer in der Umgebung ein, die Flucht zu ergreifen, wenn im angrenzenden Dorfe eine ansteckende Krankheit ausgebrochen war. Man blieb daheim, teilte das Mißgeschick der kleinen Nachbarn, fand das selbstverständlich und setzte es nicht auf Rechnung seiner Humanität.

Einmal, an einem schönen Sommervormittag, gerade nach der Ausspeisung der Dörfler, bei der wir uns wieder überflüssig machten, kam das Kindermädchen in den Hof gelaufen und rief uns zu: »Die Mama läßt Ihnen sagen, Sie sollen hinaufschauen zu dem Fenster!« und dabei deutete sie auf das letzte des Seitenflügels, in dem die jetzt zum Krankenzimmer verwandelte Kinderstube sich befand. »Sie werden etwas sehen, was Sie schon lange nicht mehr gesehen haben.«

Nun brach ein unaussprechlicher Jubel aus. Etwas sehen, das wir lange nicht mehr gesehen hatten, und dort am Fenster? Es war leicht zu erraten, was das sein konnte. Der Kleine! der Kleine – und vielleicht auch die Mama! Wir standen und guckten und guckten empor in brennender Erwartung. Und jetzt wurde der innere Flügel des Fensters, das wir anstarrten, geöffnet, und dicht an den äußeren trat Mama und mit ihr unsre alte Pepi mit einem Wesen auf dem Arme, bei dessen Anblick wir weinten und lachten. Er war’s, es war unser armes Brüderlein. Aber sein Gesicht war gelb wie eine Zitrone und förmlich zusammengeschrumpft. Der kläglich verzogene Mund versuchte uns zuzulächeln, und ein müdes Händchen hob sich und winkte grüßend zu uns herab. Adolf fing an zu tanzen und drehte sich wie ein Derwisch; unsere Kleinste jauchzte. Und alle sandten unzählige Küsse zu unseren Genesenden empor. Ein Wunder, daß die Sehnsucht uns nicht wie an Stricken zu ihnen hinaufzog.

In vollster Festfreude fand uns Papa, der mit Doktor Engel aus dem Hause trat. Er warf einen raschen Blick auf uns, wandte sich dem Arzte zu und umarmte ihn. »Kinder«, sprach er, »dankt dem. Der heißt nicht nur Engel, der ist ein Engel.«

Er wiederholte diese Worte regelmäßig, wenn er später jener schweren Zeiten gedachte, und versäumte dann auch nie, unseren getreuen Seelsorger zu preisen: »Ja, der jüdische Arzt und der katholische Geistliche, allen Respekt! Beide waren Helden.«

 

Meine Zweifel an dem wirklichen Bestehen all dessen, was mich umgab, meldeten sich allmählich immer seltener. Der Glaube an die Schöpferkraft meines Auges erlosch. Zugleich wurden die Bilder meiner erträumten Welt in der unerreichbaren Ferne immer undeutlicher. Die lange und eigensinnig genährte, immer getäuschte Hoffnung auf ein wenn auch noch so schwaches Zeichen »von drüben« entschwand am Ende doch. Auch eine mütterliche Liebe für meine Verse und meine Prosa begann sich in mir zu regen, und statt sie den Lüften auszuliefern, schrieb ich sie sauber und nett in ganz kleine Hefte, die ich selbst verfertigte und von denen ich immer mehrere Exemplare in meiner Tasche trug. Wenn mir eine besonders tönende Strophe zum Preise Gottes, der Heiligen Jungfrau oder eines Helden, den ich heiß verehrte, gelungen war, dann ging mein Mund über von dem, was mein Herz erfüllte. Ich deklamierte und sang meine Hymnen; da säuselte und brauste es nur von »voile« und »étoile«, »gloire« und »espoir« und so weiter!

Manchmal wurde meine Schwester aufmerksam und sagte: »Das ist schön; wo hast du das gelesen?« – Aber wenn ich voll Stolz erwiderte: »Das hab ich selbst gemacht!« war es vorbei mit der Bewunderung, und sie bat in ihrer sanften Art: »Ach geh, mach doch keine Gedichte!« – Und nun konnte ich noch so dringend fragen, was sie gegen mein Versemachen einzuwenden habe, immer lautete ihre Antwort ausweichend und unbestimmt.

Es kam ihr »halt so kurios« vor. Ich glaube, daß eine dunkle Empfindung ihr verriet, Versemachen sei eine gefährliche Sache, mit der man sich lieber nicht befassen sollte. Sie forderte mich nie auf, eines meiner Gedichte zum zweiten Male herzusagen, und wich jedem Gespräch darüber ängstlich aus. Von dem Schmerz und dem Groll, den diese stumme Ablehnung mir verursachten, habe ich nie etwas verraten, und wie oft sollte ich sie erleiden! Alles wiederholt sich im Leben. Der Grundton, auf den das Schicksal des Größten wie des Kleinsten gestimmt ist, kommt immer wieder hervor. Die stumme Ablehnung, die mein erstes poetisches Gestammel durch eine Getreueste und Geliebteste erfuhr, wurde meiner Schriftstellerei bis ins reifste Alter durch andere Vielgetreue und Vielgeliebte zuteil.

Allverehrte, auch von den Meinen anerkannte Autoritäten hatten mir längst ein Talentchen und die Berechtigung, es auszuüben, zugesprochen, und immer noch bewahrten die mir teuersten Menschen über meine per nefas geborenen Geisteskinder ein rücksichtsvolles Schweigen.

Als meine Schwester ihr zehntes und ich mein neuntes Jahr erreicht hatte, wurden wir von Zeit zu Zeit ins Theater mitgenommen. Im jetzigen Karl- damals noch das Kasperl-Theater genannt, ergötzten wir uns an der Aufführung einiger urwienerischer Possen, die genial gespielt wurden. Einen hinreißenden Eindruck aber machte mir Raimunds Mädchen aus der Feenwelt (wenn ich nicht irre, im Theater an der Wien dargestellt). Völlig berauscht kam ich nach Hause; die Richtung, in der meine Phantasie fortan ihre Flüge nehmen sollte, war bestimmt. Ich wurde unerschöpflich in der Erfindung von Theaterstücken, die ich nicht aufschrieb, sondern nur meiner Schwester und unsern Freundinnen und Altersgenossinnen erzählte. Gegen diese Art der Produktion wendete Friederike nichts ein; sie übernahm sogar eine Rolle, wenn die Aufführung meiner Komödie beschlossen wurde. Und das war keine so leichte Sache, denn die Schauspielerinnen mußten die Reden improvisieren. Es geschah mit Feuereifer und gänzlich unbefangen. Auf ein Publikum brauchten wir nicht Rücksicht zu nehmen; das fehlte, ging uns aber nicht ab. Die Gouvernanten, die es hätten bilden können, saßen im Nebenzimmer und schwatzten. Uns selbst zu erfreuen und zu gefallen war der Zweck unserer künstlerischen Leistungen, und sie erfüllten ihn glänzend.

Da – in der Zeit ihrer hohen Entfaltung, schien eine noch höhere ihnen bevorzustehen. Eines Sonntags erfuhren wir die merkwürdigste Überraschung. Unsere feinste Darstellerin, sie, die mit meiner Schwester in den Rollen der unschuldig Verfolgten abwechselte, erschien, Triumph im rosigen Gesichtchen, in den zarten Händen ein Manuskript, und verkündete uns, daß sie ein Theaterstück gedichtet und aufgeschrieben habe.

Nein, war’s möglich? Aufgeschrieben, ein ganzes Theaterstück? – Nein, diese Fanni, wer hätte ihr das zugetraut! Sie lächelte stillvergnügt, setzte sich an den Tisch und begann mit leiser, bewegter Stimme ihr Werk vorzulesen. Wir hörten mit gespannter Aufmerksamkeit zu; es gefiel uns außerordentlich; es war etwas Neues. Bisher hatten wir uns im Heroischen oder im Lustigen bewegt. Fanni brachte etwas Sentimentales. Die Rollenverteilung machte keine Schwierigkeiten; wir einigten uns rasch. Am zufriedensten war wohl ich. Mir war die Darstellung eines alten Onkels anvertraut, der zankt und poltert, sich aber zuletzt als der weichste Gemütsmensch entpuppt und eine rührende Rede hält.

Der Abend wurde damit zugebracht, die Rollen auszuschreiben. Um sie auswendig zu lernen, benutzten wir die Woche hindurch jeden freien Augenblick. Am nächsten Sonntag fand die Probe, am übernächsten die Aufführung statt; nicht bei uns, sondern im Hause der Mutter unserer Dichterin. Ein kleines Theater war aufgestellt, ein kleines Publikum war eingeladen, die Vorstellung ging wie am Schnürchen. Alle Personen, die auftraten, wurden ernst genommen und erhielten Applaus; bloß der alte Onkel erregte immer nur Heiterkeit. Seine Zornesausbrüche wirkten komisch, und als er am Schlusse rührend werden wollte, brach das Publikum in Gelächter und der Mißverstandene in Tränen aus. Und nun kam der bitterste Tropfen im Leidenskelche dieses Abends. Für sein mühsam unterdrücktes Schluchzen, für die heißen Tränen, die ihm in den grauen Bart liefen, erntete der alte Onkel lauten, grausamen Beifall.

Am nächsten Sonntag stellte unsere Freundin sich an der Spitze eines zweiten Theaterstückes ein, das sie uns auch vorlas. Es war – wieder eine Neuerung – in deutscher Sprache geschrieben. Ihm aber geschah Unrecht von Anfang an. Man wollte sich nicht mehr mit dem Ausschreiben der Rollen und mit dem Memorieren plagen. Überdies sagte der Stoff des neuen Dramas uns nicht zu. Es war ein biblischer: Abrahams Opfer. Willkürlicherweise hatte die Dichterin die Erzmutter Sarah in den Vordergrund gestellt. Sie spionierte, entdeckte und erlauschte alles, was ihr Gatte sann, war, sichtbar oder unsichtbar, immer auf der Bühne. Sie hatte sich durch ihr zudringliches Wesen schon recht mißliebig gemacht, schon manches: »O je, die Sarah! ist sie wieder da?« war laut geworden, als die Vorleserin zu der Stelle kam: »Sarah tritt auf. Sie wirft ihre Augen in eine Allee …« Weiter ging es nicht. Ein Schrei der Entrüstung erhob sich. Das hätte man wissen mögen, wie das zu machen war. Man bat um Erklärungen; man verhöhnte jede, die versucht wurde; man brach den Stab über das Opfer Abrahams.

Dieser unselige Mißerfolg riß auch mich ins Verderben. Unsere besten Kräfte entdeckten plötzlich, daß die Komödienspielerei sie eigentlich langweile. Meine in hellem Enthusiasmus erdachten Theaterstücke teilten das Schicksal meiner Gedichte – niemand wollte sie mehr anhören. So wurden denn meine kleinen Hefte abermals meine einzigen Vertrauten. Längere Zeit hindurch half mir eine trotzige Resignation, über ihren Inhalt Schweigen zu bewahren. Ebensogut hätte ich aber eine Brut Singvögel mit mir herumtragen und sie bewegen können, stumm zu sein. »Hat er es einmal aufgeschrieben, will er, die ganze Welt soll’s lieben.« Mir vertrat meine Schwester diese ganze Welt, die »es« lieben sollte. Sie jedoch war erschrocken und betrübt, als ich ihr wieder mit meinen Gedichten kam. So hatte ich denn meine unglückliche Kuriosität noch nicht abgetan? Wie unzufrieden wären der Papa und die Großmutter und die Tante, wenn sie etwas von ihr erführen! – Ich gestand mir, daß sie recht haben könne, wollte es aber nicht zugeben und berief mich auf das Beispiel der Mutter Fannis, die sich freute, daß ihre Tochter Theaterstücke machte. – Ja, es war eben anders bei uns, und ich hatte mich zu fügen. Wenn man weiß, daß man etwas nicht tun soll, läßt man’s bleiben. Das ist ganz einfach. Sie hielt mir eine ihrer hübschen, wehmütigen Predigten, die dem Tiefsten ihres warmen, frommen, liebevollen Herzens entquollen. Dabei wurde sie so traurig und brach endlich in so heiße Tränen aus, daß ich, gerührt und ergriffen, einen heroischen Vorsatz faßte und ihr versprach, nicht mehr davon zu reden, wenn »es« in meinem Kopf wieder anfangen würde zu dichten, auch nie mehr etwas aufzuschreiben und, wenn die Versuchung dazu mich anträte, innig zu beten um die Kraft, ihr zu widerstehen.

So tat ich mit heißer Inbrunst, und die Gebete, die ich im frommen Selbstbetrug zum allgütigen, allmächtigen Vater und Schöpfer emporsandte, waren nichts anderes als ein armes, kindisches Versgestammel.

 

In der Stadt begleiteten wir zwei Ältesten unsere Großmutter am Sonntag in die Ruprechtskirche, und nach der Messe durfte dann immer eine von uns noch eine Weile bei Großmama bleiben. Da war denn einmal wieder mein Sonntag, und ich stand am Fenster und genoß die wohlbekannte Aussicht. Unser Haus hatte die Form eines langgeschwänzten Klaviers; sein schmales Ende zog sich vom Haarmarkt herüber durch zwei kleine Gassen bis zum sogenannten »Rabenplatzl«. Dort überragte es turmartig seine beiden Nachbarn zur Rechten und zur Linken, uralte, umfangreiche Häuser. Das Gegenüber bildete ein gelbes, plumpes Gebäude, das uns nur seine Ecke zuwandte und immer im Begriff schien, auf dem abschüssigen Terrain des Platzl zur Donau hinabzugleiten, der auch die beiden Gassen, die neben ihm hinliefen, entgegenstrebten.

Sehr heiter und belebt war es hier herum nicht, am wenigsten des Sonntags, wenn die Kaufleute die Läden geschlossen hatten. An diesem einen Sonntags-, einem Frühlingsmorgen, aber erschimmerte alles, worauf meine Augen sich richteten, im Reflex des Glanzes, der mir die Seele erfüllte. Ich freute mich am Sonnenlicht, das auf fremden Fensterscheiben blinkte – zu den unseren drang es nicht. Ehrwürdig und lieb sogar erschienen mir auf den Dächern die plumpen Rauchfänge mit ihren schiefen Hüten, denen der blaue Himmel einen leuchtenden Hintergrund abgab.

In der Kirche war ich heute besonders andächtig gewesen, hatte die heilige Messe eifrig nachgebetet aus dem Büchlein Nouvelles heures à l’usage des enfants, das ich seit meinem siebenten Jahre besaß. Den krönenden Schluß meiner Sonntagsfeier bildete immer das Genießen des poetischen Anhangs, der dem kleinen Buche beigegeben war und unter anderem die Méditation sur la mort von Pierre Corneille enthielt. Sie erschien mir als das Höchste, zu dem ein Dichtergeist sich aufschwingen kann, sie machte mein Entzücken aus und mein Leid; denn meine eigenen Poesien erschienen mir so fahl und nichtig wie Staub im Vergleich zu diesen prunkvollen Versen. Sie klangen damals, als ich am Fenster stand und den Himmel und die Rauchfänge bewunderte, in mir nach. Ich sagte sie leise vor mich hin, so lang, bis ich, hingerissen von meiner Begeisterung, dem Wunsche, sie geteilt zu sehen, nicht mehr widerstehen konnte. So trat ich denn zu Großmama, die auf dem Kanapee saß und strickte, und begann, jetzt aber laut:

 

»Pense, mortel, à t’y résoudre,

Ce sera bientôt fait de toi.

Tel aujourd’hui donne la loi,

Qui demain est réduit en poudre.«

 

Sie sah etwas befremdet von ihrer Arbeit auf, sie lächelte; der gütige Ausdruck, mit dem ihre Augen auf mir ruhten, ermunterte mich fortzufahren. Und öfters, während ich sprach, nickte sie mir Beifall zu, und als ich zum Schlusse gekommen war, lobte sie das Gedicht und mich – weil ich es auswendig gelernt hatte. Ihr Lob, mit dem sie so sparsam war wie mit Tadel, berauschte mich, und noch mehr davon zu erlangen begehrte meine geschmeichelte Eitelkeit.

Auswendig gelernt? Ach was! Ich hatte es nicht auswendig gelernt … Es hatte sich von selbst meinem Gedächtnis angeklebt. Alle Verse, die ich las, klebten sich ihm an, fielen mir wieder ein beim Spazierengehen oder beim Spielen. Die Verse kamen zu mir, weil ich selbst Verse machen konnte. Ja, ich mußte es der Großmama anvertrauen … Auf einmal waren meine guten Vorsätze, war alles vergessen, was ich meiner Schwester versprochen und mir selbst zugeschworen hatte. Ich wußte nur noch, daß alles gesagt und gesungen werden müsse, was mir im Herzen klang und tönte, andern zur Freude, mir selbst zum Heile. Hastig und konfus werde ich es vorgebracht haben, aber meinen wirren Reden entnahm Großmama doch die Neuigkeit, daß ich »Poesien« machte. So schöne noch nicht wie Pierre Corneille, aber das wird kommen, später, ganz gewiß, wenn ich eine erwachsene Dichterin sein werde … Du lieber Gott! In der Schilderung dieses ruhmvollen Zukunftsbildes kam ich nicht weit. Großmama unterbrach sie mit einer Strenge, die ich noch nie von ihr erfahren hatte und die mir bis zum heutigen Tage unerklärlich geblieben ist. Warum hat die sonst Gütigste und Nachsichtigste mein Geschwätz nicht wie eine kindische Torheit, sondern wie ein Unrecht behandelt und hart zurückgewiesen? Bevor ich mich besonnen und den Mut zu einem Wort der Entschuldigung gefunden hatte, war ich fortgeschickt worden und befand mich unter der Obhut Josefs, Großmamas altem Diener, auf dem Heimweg in den zweiten Stock. Das war eine Reise! Das war ein Emporsteigen mit einer Last auf dem Gewissen, die schwerer wurde mit jeder Stufe, die ich sonst lustig hinaufhüpfte und jetzt so mühsam erklomm. Wie oft blieb ich stehen; wie brannte mir die Lüge auf den Lippen: Josef, ich bitte Sie, kehren wir um; ich hab etwas vergessen.

Aber ich brachte es nicht heraus. Wir gingen weiter; wir langten an. – Nun war keine Hoffnung mehr. Ich würde keine Gelegenheit mehr finden, mich zu rechtfertigen – es wenigstens zu versuchen. Großmama kam, ich wußte das wohl, auf eine einmal erteilte Rüge nie wieder zurück. Die Sache war für sie abgetan, und meine Absicht, eine Dichterin zu werden, blieb in ihren Augen etwas Unrechtes und Sündhaftes. Ihre Entrüstung hatte es mir gezeigt. Ach, wenn der Himmel sich meiner erbarmen und mich erlösen wollte von dieser Sündhaftigkeit, oder was es denn sein mochte. Erlöse mich! erlöse mich! rief ich den Allmächtigen an, und bei ihm und bei meiner Getreuesten, meiner Schwester, suchte ich Hilfe in meiner mit Verzweiflung recht nahe verwandten Ratlosigkeit. Aber Hilfe wußte meine Schwester nicht zu bringen. Sie meinte immer nur: »Sprich nicht davon; dann vergeht’s vielleicht.«

Vielleicht! Ihre Zuversicht war dahin; sie begann mein Übel als ein unheilbares anzusehen. Wir beteten ein wenig und weinten viel, und ich wünschte mir ehrlich und heiß, bald zu sterben, um nicht noch mehr unwillkürliche Schuld auf mein Haupt zu laden. Gut bei diesem Verfahren der Meinen war bloß die Absicht. Gewollt haben sie mein Bestes und, ohne zu wissen, was sie taten, mir das peinvoll demütigende Gefühl eines angebornen geheimen Makels aufgebürdet.

Mit der Zeit wandte sich das Blatt, jedoch nicht zum Besseren. Woraus mir ein Vorwurf gemacht wurde, das war etwas Unentrinnbares und ohne mein Wissen und Wollen durch eine höchste, göttliche Macht über mich verhängt. Die Leiden, die ich dadurch erduldete, und leiden wollte ich ja! erschienen mir nicht wie gewöhnliche, sondern wie besonders schöne und erhabene, wie die eines Märtyrertums, und aus diesem Bewußtsein schöpfte ich eine große Widerstandskraft; es erweckte aber auch in mir ein tüchtiges Maß Hoffart.

 

Gegen die Schreckensherrschaft unseres Drachen in Gouvernantengestalt hatte sich allmählich eine kleine Partei gebildet. Wenn er gar zu arg wetterte, erschien unversehens Pepinka oder unser feines, braves Stubenmädchen Apollonia und machte dem Tanz ein Ende. Ja, wenn es hier »einen solchen Spektakel« gibt, muß der Papa gerufen werden, hieß es mit vielsagenden Blicken nach der Mademoiselle. Sogleich legte sich der Sturm, und wir merkten wohl, auf wen die Drohung gemünzt war. Auch Tante Helene fand sich oft ein, holte uns ab und nahm uns mit in ihr Zimmer.

Sie bewohnte dasselbe, in dem Maman Eugénie gestorben, und wir sprachen von jüngstvergangenen glücklichen Zeiten, in denen sie noch bei uns gewesen war. Aber auch längst vergangene und sehr traurige Zeiten ließ Tante Helene vor uns aufleben, ihre freudlose, sorgenvolle Jugend. Sie war in Armut aufgewachsen; sie hatte ihren Bräutigam und zwei Brüder in den Kriegen gegen Frankreich verloren. Über den dritten – unseren Vater – war sie lange in quälendem Zweifel geblieben, ob er tot oder gefangen sei. Viel Leiden hatte die Tante erfahren müssen, bis ihr endlich ein Glück erblühte. Ihrer Ehe mit einem ausgezeichneten, allverehrten, aber weit älteren Manne entsproß ein Söhnchen. Nun lernte sie das Beste und Höchste kennen, was das Leben dem Weibe zu bieten hat. Ihr Kind wurde ihre Freude, ihr Licht. Zu einem Loblied gestaltete sich ihre Rede, wenn sie von ihm sprach, und mit Spannung hörten wir zu; denn alles war interessant, und am interessantesten die Kindheit des Onkel Moritz.

So titulierten wir unseren Vetter, nicht wegen des Unterschiedes im Alter, sondern wegen des großen Ansehens, das er bei uns genoß. Seine Mutter verwahrte in ihrem Schreibtisch einen Schatz: alle Zeugnisse, die der »Onkel« sich verdient hatte, als kleiner Junge in der Privatschule Kudlig, später im Theresianum, wo er den Gymnasialunterricht erhielt, und endlich in der Ingenieurakademie, die er als Armeeleutnant verließ.

Eine lange Kette der Ehren.

Für uns war die Zeit, in der Onkel Moritz als kleiner Junge das Institut Kudlig besucht hatte, die interessanteste seines ganzen Lebens. Dieses unglaublich merkwürdige Institut befand sich nämlich auf dem Hohen Markt und dort auch – man denke! – das Polizeihaus. Meisterlich verstanden wir das Gespräch in seine unheimliche Nähe zu lenken, von wo immer es auch ausgegangen sein mochte. Und dann hob ein Fragen an, so dringend und so neugierig, als hätten wir von der Antwort, die kommen würde, keine Ahnung gehabt: »Was hat manchmal dort gestanden, dort, beim Polizeihaus? Vor dem Balkon und vor der großen Figur mit der Waage in der Hand?«

»Was dort gestanden hat? Nun, ihr wißt ja, der Pranger ist manchmal dort aufgerichtet worden.«

»Ja, ja, der Pranger. Wie der nur aussehen muß, so ein Pranger? Und wie das sein muß, wenn man oben ist, und alle Menschen schauen hinauf … Und einmal, nicht wahr, hat der Onkel Moritz auch hinaufgeschaut?«

»Ja, einmal, weil die Magd, die ihn im Institut abholte, ihn nicht rasch vorbeigeführt hat, wie sie sollte, sondern ihm erlaubt hat stehenzubleiben.«

»Und da waren just zwei Frauen oben auf dem Pranger, eine alte und eine junge, und was haben die getan? Erzähl! erzähl!«

»Ihr wißt es ja ohnehin. Die alte hat geweint, und die junge hat geschimpft und die Leute angegrinst.«

»Auch den Onkel Moritz?«

»Auch ihn.«

»Ach, die muß grauslich gewesen sein! Und was hat er gesagt?«

»Was soll er gesagt haben? Nichts. Abends aber hat er nicht einschlafen können aus Angst, sie kommt und grinst ihn an.«

Der kleine Onkel Moritz von damals stand jetzt – 1840 – im siebenundzwanzigsten Jahre, war Oberleutnant im Geniekorps und kürzlich auf seine Bitte von Olmütz nach Wien transferiert worden, um an der Ingenieurakademie die Professur der Naturwissenschaften zu übernehmen.

Tante Helene lebte auf nach seiner Ankunft. Man kann sich ein innigeres, schöneres Verhältnis nicht denken als das zwischen dieser Mutter und diesem Sohne. Dafür mußte bei unserem Vater und seinem Neffen die gegenseitige Zuneigung und Wertschätzung ihre Kraft bewähren, um die Kontroversen, in die beide Männer oft gerieten, friedlich ausklingen zu lassen. Der ältere verteidigte seine Ansichten mit sprudelnder Lebhaftigkeit, der junge die seinen gelassen und nachdrücklich. Am Ende eines solchen Streites war es immer Papa, der die Hand zur Versöhnung bot. Er hatte ein starkes Emotionsbedürfnis und liebte Versöhnungen ebensosehr, wie er den Kampf liebte. Ihm, der als sechzehnjähriger Jüngling der Theresianischen Akademie und ihren Schulen Valet gesagt hatte, um sich dem Kriegsdienst zu widmen, war es nicht recht begreiflich, wie ein Soldat sich auf die Wege der »Gelahrten« begeben konnte. Der Gelahrten! Durch das Vertauschen des zweiten e in diesem Worte mit einem a glaubte er seine geringe Meinung von dem Stand, den es bezeichnet, an den Tag zu legen. Sie tragen einen Fluch an sich, diese Menschen; sie sind unpraktisch und finden jedes Stühlchen, auf dem sie beim Mahle des Lebens Platz nehmen möchten, immer schon besetzt. Papa hatte vor Jahren zu gleicher Zeit mit Hegel die Kur in Karlsbad gebraucht und von der äußeren Erscheinung des berühmten Philosophen einen befremdlichen Eindruck erhalten. Sie blieb für ihn das Urbild der Gestalt, in der die Leuchten der Wissenschaft auf Erden wandeln. Er versäumte nie, wenn er von seiner Begegnung mit Hegel sprach, dessen vermeintes Wort zu zitieren: »Ich habe nur einen Schüler gehabt, der mich verstanden hat, und auch der hat mich mißverstanden.« Ebenso brachte er gern ein Kommando in Erinnerung, das während Bonapartes ägyptischen Feldzuges vor jedem Zusammenstoß mit dem Feinde gegeben wurde. Da hieß es zur Sicherung der notwendigen wie der überflüssigen Begleiter des Hauptquartiers: »Les ânes et les savants au milieu!«

Diese Spötteleien ließen Onkel Moritz sehr kühl. »Ich fühle mich nicht betroffen«, sagte er; »ich bin kein ›savant‹. Ich komme mir vor wie ein Schwamm, sauge mich an in den Vorlesungen Ettinghausens und Schrötters und presse mich am nächsten Tage in meiner eigenen Vorlesung aus.«

An seinem freien Tage, am Sonntag, speiste er regelmäßig bei uns und erwies uns vor dem Diner manchmal die Ehre eines Besuches im schoolroom. Es befriedigte unsere Eitelkeit gar sehr, daß er Mademoiselle Henriette nicht mehr Beachtung schenkte, als die Höflichkeit gebot, und deutlich merken ließ, er sei nicht ihret-, sondern unsertwegen gekommen. Gewiß aber nicht, um uns Komplimente zu machen. Er belächelte unser seit Frau Krähmers Scheiden gänzlich in Verfall geratenes Klavierspiel und unser fortwährendes Französischparlieren. Eines Tages machte er sich darüber lustig in Gegenwart Mademoiselles. Sie nahm es übel – was ihr freilich nicht zu verargen war –, schleuderte ihm einige zornige »Mais Monsieur!« zu und stolzierte aus dem Zimmer. Uns schwebten die Folgen vor Augen, die aus der bedrohlich gewordenen Stimmung unserer Gouvernante erwachsen würden. Onkel Moritz fuhr fort, uns zu hänseln. Er bedauerte die arme deutsche Wissenschaft, weil wir so gar keine Notiz von ihr nahmen. Wohin man auch blickte, weit und breit war kein deutsches Lehr- oder Lesebuch zu erschauen. Und unsere Hefte, die auf dem Tische lagen, die er zur Hand nahm und durchblätterte! Sie trugen die Aufschriften: Grammaire; Calligraphie; Dictée; Dictée; Calligraphie; Grammaire. Die Abwechslung war gering. Nun aber, zu meinem Entsetzen, kam ihm ein Heftchen in die Hand, das ich, von Mademoiselle am Lehrtisch beim Dichten überrascht, in eines meiner großen Hefte geschoben und dort vergessen hatte. Er schlug es auf und las: Ode à Napoléon – mein letztes Gedicht. Etwas grandios Heroisches, das der Nachwelt, wenn es ihr erhalten geblieben wäre, erst den rechten Begriff vom Genie des Imperators gegeben hätte. Den Schluß bildete ein cri de haine an die Adresse des perfiden Albion, dem ich schmachvollen Untergang auf Erden, im Jenseits die ärgste Höllenpein verhieß.

»Von wem ist denn das?« fragte Onkel Moritz in einem Tone, bei dem mir heiß und kalt wurde und der so wegwerfend war, daß meine Schwester sich in meiner Ehre gekränkt fühlte. Die Getreue, der meine Dichterei doch so herzlich zuwider war, nahm sie einem andern gegenüber in Schutz und sagte mit allerliebster Würde, als ob von etwas Respektablem die Rede sei: »Es sind Gedichte von der Marie.«

Er lachte, las weiter und verzog während des Lesens keine Miene, und ich hatte die Empfindung, daß mich jemand würgte und daß mir dabei hunderttausend Ameisen über die Wangen liefen und über den ganzen Körper, mit kalten, hastigen Füßchen.

Nach einer Zeit, in der ich mir einbilden konnte, daß ein Begriff der Ewigkeit mir aufgegangen war, legte Onkel Moritz das Heftchen auf den Tisch zurück. Gleichgültig, wie wenn es ein Knäuel Zwirn oder irgendeine andere Geringfügigkeit gewesen wäre. Ich wagte nicht, ihn anzusehen, und noch weniger, ihn zu fragen: Hat es dir denn gar nicht gefallen? Was wir gestern gelitten haben, ist nichts; was wir heute leiden, ist alles. Die Abfertigung, mit der Großmama mich vor einigen Jahren so unglücklich gemacht hatte, erschien mir bei weitem weniger grausam als das Schweigen des ersten Lesers meiner von Flammen der Begeisterung durchloderten Ode.

Im Laufe der Woche erhielt ich eine hübsche, mit einem Seidenband umwundene Rolle zugeschickt. Sie enthielt sehr gutes Zuckerwerk und einen Briefbogen. Auf den hatte der Onkel in seiner beneidenswert klaren, gleichmäßigen Schrift das Loblied auf den Rhein aus dem Waldfräulein von Zedlitz hingesetzt. Vom Anfang:

 

O Rhein, wie klingt dein Name hold,

Gleich einer Glocke, hell von Gold,

O fließe fort in stolzer Ruh,

Taufwasser deutschen Volkes du!

 

bis zum Schlusse:

 

Es singen die Sänger zur Harfe laut,

Was sie im Nebel der Lüfte geschaut!

Sie singen fort bis diese Stund,

Noch ist geschlossen nicht ihr Mund;

Sie werden singen vom stolzen Rhein,

Solang er fließt in das Meer hinein!

 

Nun aber folgte ein Epilog:

 

Oh, sing auch du, du deutsche Maid,

Nicht fremden Ruhm in fremdem Kleid!

Du bist ein Sproß aus gut germanschem Blut,

Was deutsch du denkst, hab deutsch zu sagen auch den Mut.

 

Diese Verse galten mir! An mich waren sie gerichtet, und ich fühlte mich dadurch hochgeehrt und ausgezeichnet. Und wie leuchtete ihr Inhalt mir ein und erhellte mir das Herz! Ich durfte sagen, was ich dachte, wenn ich es nur in deutscher Sprache sagte. Ein sehr Gestrenger sanktionierte mein Dichten unter dieser Bedingung. Aber – »was deutsch du denkst …« Es kam mir nicht vor, daß meine Gedanken gebürtige Deutsche wären. Als kleine Kinder hatten wir fast nur Böhmisch und später dann fast nur Französisch gesprochen – und die Sprache, die wir reden, ist doch die, in der wir denken. Eine strenge Selbstüberwachung begann. Meine Einfälle wurden auf ihre Nationalität geprüft. Innerlich fand meine Umgestaltung aus einer französischen in eine deutsche Dichterin geschwinder statt, als je die Verwandlung einer Raupe in einen – sagen wir – Kohlweißling stattgefunden hat. Von der Notwendigkeit, mir die deutsche Sprache als meine Denksprache anzugewöhnen, war ich sofort überzeugt, und keinesfalls hat meine Sangesfreudigkeit eine lange Störung erlitten. Der Hymnus an den Rhein bekam eine zahlreiche Nachkommenschaft. Mit ganz besonderer Wonne schwelgte ich im Wohlklange des Verses: »Es singen die Sänger zur Harfe laut …« Die Harfe bildete denn auch die köstlichste Bereicherung meines neuen poetischen Hausrats, und bald begann es in meinen Liedern von Harfenklängen zu tönen. Doch vertauschte ich oft das musikalische Rüstzeug der Barden mit der Laute der Minnesänger, weil sich auf »Laute« soviel mehr und lieblichere Reime finden lassen als auf das stolze, herbe »Harfe«.

 

Der Winter des Jahres 1841 war verflossen, ein stiller, fast trübseliger Winter. Wir hatten alle ein dumpfes Bewußtsein davon, daß sich im Hause ein außerordentliches Ereignis vorbereite. Etwas Erwartungsvolles, Spannendes lag in der Luft, die Stimmungen unseres Vaters wechselten noch rascher als sonst; er schien in einem schweren Kampfe mit sich selbst befangen. Wir fanden ihn oft, wenn wir zu Tante Helene kamen, in ein Gespräch mit ihr vertieft, das bei unserem Eintreten abgebrochen wurde. Auch Großmama nahm an diesen Beratungen teil, die – wir sahen es wohl – einen quälenden Eindruck auf sie machten. Die glostende Aufregung, in der die Spitzen der Familien sich befanden, warf Reflexe nach allen Richtungen. Die Dienstleute zischelten untereinander und schwiegen plötzlich, wenn eines von uns in ihre Nähe kam. Sie machten geheimnisvolle Gesichter; sie nahmen uns gegenüber ein liebevoll-bedauerndes, beschützendes Wesen an. Das Seltsamste aber war die Veränderung, die mit Mademoiselle Henriette vorging. Sie bemeisterte sich, mäßigte ihre Zornesausbrüche und ganz besonders ihre Großmut im Erteilen von Strafen. Alle Hausgenossen schienen einen Grund zu haben, uns ungewöhnliche Rücksichten zu erweisen; nur Monsieur Just blieb immer gleich unbefangen, immer derselbe gute, heitere Kamerad.

An einem regnerischen Sonntagnachmittage dieses Frühjahrs waren wir alle fünf bei Tante Helene versammelt und spielten eifrigst »Schwarzer Peter«, als Papa eintrat. Er blieb eine Weile am Tische stehen, wechselte einige Worte mit der Tante, wandte sich dann an uns und fragte: »Kinder, was würdet ihr sagen, wenn ich euch eine neue Mama brächte?«

Die drei Kleinen sahen verständnislos zu ihm empor, Fritzi wurde über und über rot, senkte den Kopf und schwieg. Mir kam eine Erleuchtung. Das also war’s – darüber beriet sich unser Vater mit Großmama und mit der Tante, darüber zischelten die Leute – wir sollten eine Stiefmutter bekommen. Alle bösen Stiefmütter, die in den Märchen ihr Wesen treiben, standen mir vor Augen, und es fiel mir nicht ein, daß Maman Eugénie auch eine Stiefmutter gewesen war und daß es demnach unaussprechlich gute Stiefmütter geben könne. Ohne mich lang zu besinnen, rief ich aus: »Bring uns keine neue Mama; wir brauchen keine!«

Wenn ich mich recht erinnere, überhörte Papa diesen kühnen Protest; am nächsten Tag aber machte seine Verlobte ihren ersten Besuch in unserem Hause. Sie kam in Begleitung ihrer Mutter, die eine imponierende Dame mit noch außerordentlich schönen Gesichtszügen war.

Von der ersten Begegnung mit ihr und ihrer Tochter hielt unsere Großmama Vockel sich fern, nur Tante Helene nahm teil daran. Das Benehmen der drei Damen gegeneinander hielt sich in den Grenzen einer kühlen Höflichkeit, und auch uns bezeigte die zukünftige Stiefmutter keine besondere Freundlichkeit, was recht und ehrlich war. – Ich übernehme euch, wie man Pflichten übernimmt, sagten ihre lichten, blauen Augen, und wie gut verstanden wir sie! Meine Schwester teilte mein Gefühl einer gewissen peinlichen Beschämung dieser hohen Erscheinung gegenüber, die uns bald so nahe stehen sollte. Als wir verabschiedet und in unser Zimmer zurückgeschickt wurden, sagte Fritzi schwerbetrübt: »Wenn wir nur nicht fünf wären!«

Die neue Mama war ebenso imponierend wie ihre Mutter, hatte das dreißigste Jahr schon zurückgelegt und neigte zur Fülle. Ihre Haare waren blond, ihr Teint war rosig, ihr Mund, nicht klein, aber fein geschnitten, hatte schön geschwungene Lippen und war geschmückt mit den herrlichsten Zähnen. Im ganzen bot sie ein Bild blühender Gesundheit und selbstbewußter Kraft. Der ersten Begegnung mit ihr folgte bald eine zweite, die den herben Eindruck der früheren bedeutend milderte. Und nun machten wir zusammen auch gleich aus, daß sie am Ende noch sehr gut mit uns sein werde.

Wirklich erfuhren wir bald darauf durch sie eine große Wohltat. Fremde Leute hatten ihr die Augen geöffnet über Mademoiselle Henriette, und sie verlangte deren Entfernung aus dem Hause und sorgte zugleich für einen Ersatz. Es war der beste, der sich hätte finden lassen. Das Fräulein, dem jetzt unsere Erziehung anvertraut wurde, hieß Marie Kittl und war eine Deutschböhmin, die Tochter eines Fürstlich-Schwarzenbergischen Hofrates und Schwester des damaligen Direktors des Prager Konservatoriums. Wir kamen bei diesem Regierungswechsel aus der Hölle in den Himmel. Ich wüßte keine gute und vortreffliche Charaktereigenschaft zu nennen, die unser Fräulein Marie nicht besessen hätte. Geboren für ihren Beruf, war sie eine Kinderfreundin ohnegleichen und begabt mit dem innigsten Verständnis für alle Vorgänge in der Kinderseele. Sie kannte keine Rücksicht auf ihr eigenes Interesse, ihr Behagen, ihre Gesundheit, wenn es sich um unser Wohl handelte. Wie viele Nächte hat sie an unseren Krankenbetten durchwacht, wie sorgsam uns betreut in der Rekonvaleszenz, wie klug und geschickt uns lernen gelehrt, mit welcher Hingebung an unseren Spielen teilgenommen!

Daß wir sie nicht von der ersten Stunde an vergötterten, daran trug ihr Äußeres schuld, das nichts besonders Einnehmendes hatte. Im Gegensatz zu unseren früheren, groß und schlank gewachsenen Gouvernanten war ihre Gestalt und waren auch ihre Hände und Füße etwas ins Breite geraten. Sie stand in den Zwanzigen, schien aber viel älter. Ihrer Hautfarbe fehlte die Frische, ihre Bewegungen waren ohne Anmut, ihre Nase … doch nein, ich will nicht detaillieren. An jedem einzelnen ihrer Züge hätte sich etwas aussetzen lassen, während der Gesamteindruck, den die Physiognomie und das Wesen unseres Fräuleins Marie machten, höchst sympathisch war. Ein feiner, nobler, etwas schwärmerischer Geist sprach aus ihren kurzsichtigen Augen, und bald wurde es uns zur Ehrensache, sie beifallspendend auf uns ruhen zu sehen. Sie war eine tüchtige Musikerin und sang besonders Lieder sehr hübsch, mit angenehmer, gut geschulter Stimme. Wirklich ergreifend trug sie eine der Kompositionen ihres Bruders, das liebenswürdige Lied Der Vogelsteller, vor. Wer kennt es heute noch? Wer kennt noch Kittls Oper Die Franzosen vor Nizza, die in den vierziger Jahren vom Prager Publikum mit großem Beifall aufgenommen wurde?

Wer auch schwärmt heute noch für den Dichter Egon Ebert? Marie Kittl tat es aus vollem Herzen, und wir, getreu unserer Manie, angenehme Überraschungen zu bereiten, fanden uns eines Tages feierlich als Deklamatricen bei ihr ein. Wir wollten etwas im geheimen Auswendiggelerntes vortragen: ein Gedicht von Ebert, das die Sage von dem Mönche behandelt, den ein Wunder zum Glauben an die Ewigkeit bekehrt. Er war gegen Abend in den Wald gegangen, hatte sich ins Moos gelegt unter einen Baum, in dessen Zweigen ein Vöglein lieblich sang, war eingeschlafen und mochte wohl eine Stunde geschlafen haben; denn als er erwachte, glitten schon dunkle Schatten über den Waldesgrund, und die Kirchenglocke rief zur Hora. Der Mönch erhob sich und schritt dem Kloster zu. Er ging den wohlbekannten Weg, und seltsam verändert kam ihm der vor, seltsam verändert alles um ihn her, die Sprache, die Tracht der Menschen, denen er begegnete; fremdartig sogar mutete die Gegend ihn an und völlig fremd das Kloster, das er nun betrat. Das ist sein altes, kleines Kloster nicht mehr, das ist ein Prachtbau, in Marmorglanz schimmernd, mit riesiger Pforte, mit breiten Gängen. Er steht im Treppenhaus und

 

Sieht hinan die hohen Stufen,

Sieht hinan die hohen Hallen,

Schlägt die Hände bang zusammen:

Gott, o Gott! Was ist geschehn?

 

Mönche kommen, ihm alle unbekannt, scharen sich um ihn, fragen ihn, was er wünscht, wen er sucht. Seine Freunde möchte er sehen, seine Genossen:

 

Ruft mir doch den Vater Bernhard

Und den weisen Cyprianus,

Daß sie mir das Dunkel klären

Und das Rätsel lösen mögen.

 

Seine Worte erregten Staunen und Grauen:

 

Liegt ja doch der Vater Bernhard

Und der weise Cyprianus

Schon dreihundert Jahr im Grabe.

 

So erfährt der Mönch, daß er im Walde nicht ein Stündlein, sondern drei Jahrhunderte verschlafen hat, und die Ahnung einer unendlichen Zeitdauer steigt in ihm auf.

Nun aber drohte unserer Unternehmung eine Gefahr. Fritzi sollte das Gedicht sprechen bis zu der Stelle: »Und das Rätsel lösen mögen«, dann war’s an mir fortzufahren. Ja – wenn die Namen der zwei Patres nur nicht für uns die Quintessenz alles Komischen enthalten hätten! Wenn es nicht schon in Fritzis Gesicht gezuckt und geblitzt hätte, sobald der Moment, sie über die Lippen zu bringen, nahte, wenn ich mich nur vor verhaltenem Lachen nicht gekrümmt und gewunden hätte, während sie losbrach und die guten Mönche silbenweise und kreischend herbeirief. Als dann ich sie übernahm, um sie für dreihundert Jahre ins Grab zu legen – da war es Fritzi, die sich krümmte und wand und ich, die laut auflachte.

So ging es bei den Proben, so bei der Vorstellung, die kläglich mißraten wäre ohne die Langmut unserer Zuhörerin. Marie wartete ruhig, bis unser Lachanfall überstanden war, und blickte uns dabei nachsichtsvoll an mit ihren kleinen Augen, aus denen eine Güte leuchtete, so groß wie die Welt (mathematisch würde ich das beweisen, wäre ich Sophie Germain). Sie kannte das junge Kindervolk; sie fragte nicht nach dem Warum seines Lachens oder Weinens, sie wußte: Sensationen, das sind seine Gründe. Wir empfanden dankbar die Wohltat ihres Verstehens und fühlten uns glücklich in ihrer sicher geleitenden Hand.

Einmal, ganz besonders gerührt durch neue Beweise ihrer geduldigen Liebe, baten wir sie, uns gegenüber nicht das steife »Sie« zu gebrauchen, sondern uns wie die kleinen Geschwister, die wir darum beneideten, »du« zu nennen. Sie forderte dasselbe von uns, und nun war das freundschaftliche Verhältnis auf den Ton gestimmt, in dem es sich erhalten sollte durchs ganze Leben. Wie eine kleine Insel der Seligen ragt die Erinnerung an die Zeit, die wir damals verlebten, vor mir empor. Sie war die schönste, friedlichste meiner ganzen Kindheit.

 

Seit Anfang Mai befanden wir uns auf dem Lande unter der Obhut unserer Großmutter und Tante Helenes. Papa war in Wien zurückgeblieben, wo am 21. Juni seine Vermählung stattfand. Zwei Tage später sollte er mit seiner jungen Frau in Zdißlawitz eintreffen. Nach seiner Berechnung, wenn auf der Reise alles klappte, wenn nicht Regen eintrat und die Wege völlig ruinierte, in den Nachmittagsstunden. Empfangsfeierlichkeiten waren streng verboten; im Hause fand keine Veränderung statt. Tante Helene zog aus den Zimmern Maman Eugénies, die sie benutzt hatte, in eine Gastwohnung zu ebener Erde – das war alles.

Wir hatten uns bis jetzt wenig mit dem Gedanken an die neue Stiefmutter beschäftigt; als es aber hieß: Morgen ist sie da! gerieten wir in die gespannteste Erwartung. Daß Großmama stiller und ernster war denn je und Tante Helene besonders traurig, bemerkten wir kaum. Vom Wetter hing die rechtzeitige Ankunft der Reisenden ab – es gab also nichts Interessanteres als das Wetter. Und das war schlecht. Am Abend schon begann es zu regnen, und es regnete fort die ganze Nacht und auch den ganzen Morgen! Im Hause herrschte Ratlosigkeit. Die Beamten kamen und halfen sie vergrößern. Der Regen hielt an – was tun? Gestern waren Relaispferde entgegengeschickt worden; sollte man noch andere nachschicken? Wenn sie überflüssig waren, gab’s Verdruß; wenn sie gebraucht wurden und fehlten, gab’s auch Verdruß. Der Verwalter konstatierte das unter frenetischem Tabakschnupfen; der Burggraf, dem daran lag, nicht alle seine Pferde auf die Landstraße zu schicken, prophezeite gutes Wetter. Und richtig, es machte sich! Zu Mittag lag ein silberner Schimmer über dem Himmel, am Nachmittag schien die Sonne. Da zog man unserer Kleinsten ihr weißes Kleidchen an und auch uns weiße Kleider und unseren Brüdern ihre neuen blauen Blusen, und für jedes von uns brachte der Gärtner ein Bukett. Die Kleine sollte das ihre mit einigen begrüßenden Worten zuerst übergeben, und der Anblick dieses engelhaft schönen Kindes, das für sich und für seine Geschwister um ein bißchen mütterliche Liebe bat, mußte die neue Mama gewinnen und rühren. Nun waren wir zu ihrem Empfang bereit, und so würde sie denn gleich kommen. Wir standen im Hofe, und alle Augenblicke wollte das eine oder das andere das Rollen eines Wagens gehört haben, der den Berg heraufgefahren kam und nur der ihre sein konnte.

»Oh, mir klopft das Herz!« rief eines der fünf und ein anderes: »Und erst mir, fühl nur!« – »Meins klopft noch stärker.« Jedes wollte im Besitze des stärksten Herzklopfens sein.

So verging der Nachmittag. Das Wetter trübte sich wieder; wir wurden ins Haus zurückgerufen, lungerten herum, schlichen von einem Fenster zum anderen und spähten hinaus. Die Kleinste hatte vor Schläfrigkeit schon ganz verglaste Augen, wollte aber durchaus nicht zu Bett gehen und weinte bitterlich, als Pepinka sie in die Arme nahm und unter den zärtlichsten Liebkosungen ins Kinderzimmer trug. Dann gelang es Monsieur Just mit vieler Mühe, die beiden Büblein, die vor Schläfrigkeit nur noch lallten, aber doch wie die großen Schwestern aufbleiben wollten, in ihre Stuben zu locken. Endlich, ganz spät, ließ die Tante das Souper auftragen. Niemand aß; erschöpft von der Aufregung, in der der Tag zugebracht worden war, verlangten wir nach nichts anderem mehr als nach Ruhe. Still saßen wir bei Tische und hörten mit stumpfer Gleichgültigkeit den Regen unablässig niederströmen und prasselnd an die Fenster schlagen.

Es wurde elf Uhr. Nun legte Großmama ihr Strickzeug, das sie mechanisch vorgenommen hatte, fort, und: »Schlafen gehen!« hieß es für uns. Aber die Leute sollten doch noch eine Weile auf den Beinen bleiben und der Nachtwächter in der Nähe des Hoftores seines Amtes walten.

Wir lagen in unseren Betten im ersten tiefen Schlafe, als Großmama uns weckte. Sie war in Nachttoilette, ganz eingehüllt in ein umfangreiches braunes Seidentuch, und trug einen Leuchter mit brennender Kerze in der Hand. »Kinder, sie sind da!« rief sie. Ihre Stimme zitterte, und auch die Hand zitterte, in der sie den Leuchter hielt.

Das Haustor knarrte, Pferdehufe trappelten auf dem Holzpflaster der Einfahrt, ein schwerer Wagen rollte langsam herein … Einige Augenblicke, und aus der Tür des Nebenzimmers traten die neue Mama und unser Vater. Sie begrüßten die Großmama, kamen zu uns heran und küßten eine nach der anderen. Papa erzählte von den Widerwärtigkeiten der Reise. Besonders arg war es auf der letzten Strecke gewesen. Nur Schritt für Schritt kamen die Pferde auf den elenden Wegen vorwärts; die Finsternis wurde fast undurchdringlich. Gar oft mußte der Jäger absteigen, mit einer Wagenlaterne vorausgehen und leuchten … Und die Xaverine! Eine solche Ängstlichkeit wie die ihre war dem Papa noch nie vorgekommen – geschrien, alle Heiligen angerufen … sie hatte keine Courage, seine Frau.

Es war bald wieder dunkel und still um uns her, aber einschlafen konnten wir lange nicht.

Wie feucht das Kleid Mamas an ihr niederhing, und auch ihr Gesicht war ganz feucht; wir hatten es bemerkt, als sie uns küßte. Sie hatte geweint. – »Natürlich, weil sie sich gefürchtet hat«, meinte Fritzi, die das innigste Verständnis besaß für jede wie immer geartete Ängstlichkeit. Nach einer Weile – ich hatte gedacht, sie schliefe schon – begann sie wieder: »Eine Hochzeitsreise … Es ist traurig, eine solche Hochzeitsreise!«

Ich wunderte mich sehr. War das eine Hochzeitsreise? Das Wort schon hatte einen so heiteren Klang; man stellte sich darunter etwas ganz Helles, Angenehmes vor … Konnte man denn weinend ankommen von einer Hochzeitsreise?

 

Die erste Empfindung, die Mama Xaverine uns einflößte, war ein großes Bedauern. Wir fanden sie oft in Tränen. Sie litt an Heimweh, sie litt unter den Schwierigkeiten ihrer Stellung. Auf einen Schlag mit fünf Kindern gesegnet, die vierte Frau eines ältlichen, ihr fast fremden Mannes sein, durch ihre Umgebung, durch alles, was sie vor Augen hatte, an ihre Vorgängerinnen gemahnt werden, Vergleiche hervorrufen, die nicht immer das Wohlwollen anstellt, und nie seinen guten Mut verlieren – dazu hätte viel gehört. Überdies wirkte gar befremdlich auf sie der Einblick in einen musterhaft geführten Haushalt. Alles festgefügt und ineinandergreifend, strenge Ordnung und durchsichtige Klarheit, nirgends ein Winkel, in dem unlauteres Getriebe und betrügerisches Wesen sich verbergen konnten. Eine atmende, fühlende Maschine, die ihre Tagesarbeit munter und gelassen verrichtete, an der aber auch das kleinste Rad und die kleinste Schraube glänzte vor Vergnügen an ihrer treuen Pflichterfüllung und der Anerkennung, die ihr dafür zuteil wurde.

Im Geiste dieses genialen Pedantismus weiterzuwirken lag nicht in der Absicht und nicht in der Fähigkeit der neuen Gebieterin. Sie suchte vor allem unserem Hause den etwas bürgerlichen Anstrich abzustreifen, der ihm eigen war, trotz des soliden Wohlstandes, der in ihm herrschte, der vielen Diener, der hübschen Livreen, der eleganten Equipagen. Der Verwandten- und Bekanntenkreis Mamas stand auf der sozialen Leiter um eine Sprosse höher als der unsere und sollte allmählich der tonangebende werden.

Ohne Frage zog mit der neuen Stiefmutter ein frischerer Geist bei uns ein. Sie besaß, was man »des talents d’agrément« nannte, sang mit angenehmer Stimme und nettem Ausdruck französische Romanzen, und wir waren glücklich, sie auf dem Klavier begleiten zu dürfen. Ebensosehr freute es uns, ihr zuzuhören, wenn sie, was sie regelmäßig tat, im Herbste, als die Abende länger wurden, vorlas. Grüns edles Gedicht Der letzte Ritter, Kenilworth, Godwie-Castle, auch manches gute Buch von Friederike Bremmer und Emilie Flygare-Carlèn lernten wir durch sie kennen mit einem Genuß, für den ich nie aufhören werde ihr dankbar zu sein. Wir gewannen sie bald sehr lieb und bewunderten, außer ihrem Gesang und ihrer Vorlesekunst, auch ihre Malereien. Kleine Ölbilder, die sie unter der Leitung ihres Lehrers gemalt hatte, würden vor einer strengeren Kritik als die unsere bestanden haben. Besonders reizvoll aber fanden wir Aquarelle, die in einem Album versammelt und von Mama ganz allein gemalt waren: Darstellungen aus dem Leben, das sie daheim geführt hatte, ihre Lieblingsplätze im Garten und im Schlosse – alles höchst interessant, und heute müßte man mir mit einem Rudolf oder Franz Alt kommen, um mich so zu erfreuen, wie die Bilder der guten Mama mich erfreut haben. Sie zeichnete kühn und naiv und lebte mit der Perspektive auf demselben Fuße wie Giotto. Da gab es zum Beispiel in ihrem Album ein Bild, das den Titel führte Mein Zimmer und das Aussehen eines aufgerichteten Schachbretts hatte. An dem hingen mehrere Möbel und ein kleiner Hund. Nach oben verjüngte sich das Brett, und auf seiner schmalen Kante stand an einem offenen Fenster eine Dame vor einem Blumentopf. – Wenn die nur nicht herunterrutscht! dachte man. Weil sie aber am nächsten Tage noch dastand, verging die Sorge, und die Heiterkeit des Anblicks blieb.

Im Laufe des Sommers verließ uns unsere liebe Tante Helene, und schwer wurde ihr und uns der Abschied, obwohl die Trennung nur kurze Zeit dauern sollte. Sie fuhr nach Wien, um im dritten Stock des Rabenhauses eine Wohnung für sich und Onkel Moritz einzurichten, dieselbe, die sie schon innegehabt hatten, als er noch ein Kind war, und die später er und ich durch viele Jahre bis zu seinem Tode bewohnt haben. Sie war nicht groß, und durch keines ihrer Fenster drang je ein Sonnenstrahl. Ihm aber durchleuchtete die Erinnerung an seine glückliche Kindheit und an Mannesjahre voll reicher geistiger Tätigkeit ihre bescheidenen Räume. Er hat den Abbruch des alten Gebäudes nicht mehr erlebt.

Nun ist es hinweggefegt. An einer Ecke des Platzes, den es wuchtig und breit eingenommen hat, erhebt sich ein schmuckes Haus mit schmalem Eingangstor, schmaler Treppe, niedrigen, schmalen Gängen und niedrigen Zimmern. Nach englischer Mode heißt es, die aus der Not eine Tugend macht. Der Rest des Baugrundes ist Straßengrund geworden. Wagen und Automobile rasseln, Ströme von Menschen schreiten über den Boden, in den einst die »Drei Raben« ihre mächtigen Fundamente senkten.

Eine zweite Vielgetreue schied im Laufe des Winters. Die alte Pepinka trat in Pension. Mama Xaverine sah ihrer Niederkunft entgegen und hatte für das Kindchen, das zur Welt kommen sollte, eine andere, jüngere Wärterin gewählt. Pepinka schlich sich nicht leise davon wie Anischa, stürmisch und tränenreich war ihr Abschied von dem Hause, in dem sie fünf Kinder mit grenzenloser Pflichttreue und Hingebung aufgezogen hatte. Besonders schwer fiel ihr die Trennung von ihrem Liebling, von unserer Ältesten. Und diese hörte ich am Abend desselben und manchen folgenden Tages noch lange schluchzen, nachdem man uns zu Bette gebracht hatte. Ich kannte die Ursache ihres Grams. Ihn erweckte der Gedanke: Jetzt geht auch Pepinka schlafen und hat niemand, der ihr gute Nacht sagt. In ihrer Unermüdlichkeit nahm Fräulein Marie die Obsorge über unsere Kleine auf sich, die damals noch mehr ins Kinder- als ins Gouvernantenzimmer gehört hätte. Aber sie befand sich in bester Hut, und für meine Schwester und mich war es ja doch ein auserlesenes Vergnügen, das »Sophiederl« jetzt immer in der Nähe zu haben und mit beaufsichtigen zu dürfen.

Unter dem Einnuß Mamas erfuhr nach und nach unser ganzes Unterrichtswesen eine Umgestaltung. Vom Gediegenen hüpften wir zum Gleißenden hin. Ein neuer Klavierlehrer setzte uns bald instand, unserem Vater Potpourris aus verschiedenen Opern vorzuspielen. Zu seinem Geburtstage konnten wir ihm »reizende« Aquarelle darbringen, in denen sich stellenweise eine erstaunliche Routine verriet, die wir mit dem besten Willen nicht für selbsterworben halten konnten.

An die Stelle des altmodischen Herrn Minetti trat eine elegante Französin, die den Tanzunterricht damit begann, daß sie uns gehen, stehen, sitzen lehrte und in den Salon eintreten und den Salon verlassen und grüßen – je nach Gebühr. Der Praxis ließ sie die Theorie vorangehen. Man hätte ihre Definitionen der verschiedenen Arten zu grüßen bei einem Haare geistvoll nennen können. Zum Schluß kamen dann, oft wiederholt, die Worte: »Oh, meine jungen Damen, genau muß das wissen, wer gute Manieren haben will! Gute Manieren, meine jungen Damen, sind sehr viel, sind beinahe alles. Wenn Napoleon gute Manieren gehabt hätte, wäre er ein ganz großer Mann gewesen.«

Mit einem lieben Hausgenossen, mit Monsieur Just, war eine Zeit nach der Ankunft unserer Stiefmutter eine traurige Veränderung vorgegangen. Seine kindliche, immer gleichmäßige Fröhlichkeit, sein inniges Interesse für jedes einzelne von uns, seine eifrige Teilnahme an unseren Spielen – alles vermindert, alles wie verwelkt und erloschen.

Im Sommer schon war es uns oft aufgefallen, daß er dasitzen konnte ohne Bewußtsein dessen, was um ihn vorging. Wenn wir ihn in einem solchen Augenblick anriefen, fuhr er auf und starrte uns an, verwirrt und fragend, wie plötzlich geweckt aus tiefem Traume. Manchmal rannte und rannte er im Garten herum, bis ihm der Atem versagte und er halb bewußtlos auf eine Bank niedersank. Unserem Vater gegenüber war er immer völlig unbefangen gewesen, hatte nie die geringste Furcht vor ihm gezeigt, hatte auch keinen Grund dazu gehabt, denn Papa hielt ihn wert und ergriff jede Gelegenheit, ihn zu loben und ihn unseren Brüdern als Muster aufzustellen. Jetzt aber ging Monsieur Just ihm aus dem Wege, sooft es ihm nur möglich war. Wir bemerkten, daß er eine ganz andere Stimme hatte als sonst, wenn er mit unserem Vater sprechen mußte, der doch immer gleich gut gegen ihn war und dem sein seltsames Wesen Besorgnis zu erregen schien. Auch die Gegenwart Mamas setzte den armen Monsieur Just in große Verwirrung; er wurde rot und blaß und geriet völlig außer Fassung. Warum nur? Sie behandelte ihn ja nicht um ein Haar anders als uns, ebenso freundlich und mütterlich.

Einmal geschah’s, daß sie bei Tische eine Frage an ihn stellte und er zusammenfuhr, die Augen auf sie richtete, erbleichte, wankte und – ohnmächtig zu Boden stürzte.

Wir weinten und jammerten und hielten ihn für tot. Er aber, eine Stunde später, lachte über uns und über seinen Unfall und versicherte, daß ihm nichts fehle, gar nichts, und daß es sehr gesund sei, manchmal ein bißchen ohnmächtig zu werden.

Der kleine Victor ließ sich über das Unheimliche der Sache nicht so leicht beruhigen und fragte unaufhörlich: »Mais pourquoi avez-vous été mort, Monsieur Just? Pourquoi avez-vous été mort?«

Mit Fräulein Marie hatte Just lange Unterredungen. Sie schien ihm tröstend, beschwichtigend zuzusprechen. Einmal glaubten wir zu hören, daß sie ihn beschwor, auf die Bitten unserer Eltern Rücksicht zu nehmen, und daß er darauf erwiderte: »Ich kann nicht, es ist unmöglich, ich muß fort!«

Im Spätherbste dann, bald nach unserer Rückkehr in die Stadt, begab es sich, daß er vom Abendessen wegblieb, das immer gemeinsam für uns in unserem Lehrzimmer aufgetragen wurde. Erst als es für die Brüder Zeit war schlafenzugehen, holte er sie ab. Er brachte ihre Mäntel, legte sie ihnen um, sagte meiner Schwester und mir gute Nacht, ging auf Fräulein Marie zu und drückte ihr die Hände herzlich und lange, konnte aber nicht sprechen. Wir sahen voll Bestürzung, daß er schwer mit seinen Tränen rang, und erhielten keine Antwort auf unsere besorgten Fragen, was ihm sei und warum er weine. Er schob die Knaben bei den Schultern vor sich her der Tür zu, die sich bald darauf zum letztenmal hinter diesem lieben Menschen schloß.

Am nächsten Morgen kamen die Brüder weinend zu uns herüber. Monsieur Just war fort. Er hatte ihnen Lebewohl gesagt und uns alle noch, alle, vielmals grüßen lassen.

Mama war den Knaben auf dem Fuße gefolgt, bemühte sich, uns zu trösten, und versicherte, Monsieur Just werde wiederkommen, er habe jetzt nur für kurze Zeit zu seiner Mutter nach Frankreich reisen müssen. Und dann bat sie die gute Marie, heute auch die Buben zu beaufsichtigen und mit der ganzen Kindergesellschaft im großen Familienkobel – das war ein weitläufiger, viersitziger Wagen – in den Prater zu fahren. Für abends hatte Papa eine Loge im Kasperltheater genommen, wo Döbler seine Taschenspielerkünste vorführte.

Vierzehn Tage hindurch hatten wir Ferien. Man ließ uns nicht Zeit, dem Schmerz um unseren Freund nachzuhängen. Wir undankbaren, leichtsinnigen und eitlen Kinder genossen jedes dargebotene Vergnügen aus dem Grunde und bildeten uns viel ein auf die Mühe, die unsere Eltern sich gaben, uns zu zerstreuen.

Einmal fuhren wir nach einer Vorstadt, in der sich eine vielgerühmte Erziehungsanstalt für Knaben befand. Unser Besuch mußte angekündigt gewesen sein, denn der Vorsteher und seine Frau erwarteten uns auf der Schwelle ihres Hauses. Wir wurden durch all seine Räume geführt, auf die Ordnung und Reinlichkeit, die in ihnen herrschten, auf die Zweckmäßigkeit jeder Einrichtung, auf jeden Vorzug des mustergültigen Instituts aufmerksam gemacht. Unsere Eltern waren voll der Anerkennung und des Lobes.

Aus dem Hause ging’s in den Garten, dessen Größe gerühmt wurde und der uns sehr klein erschien. Einige Dutzend Knaben und Jünglinge spazierten herum, spielten oder turnten. Alle, die vom Vorsteher-Ehepaare angesprochen wurden, antworteten je nachdem mit einem kindlichen: »Ja« oder »Nein«, »Mutter« oder »Vater«.

Am nächsten Tage bei Tisch ergingen sich unsere Eltern im Preise der Anstalt, ihrer Leiter, des blühenden und zufriedenen Aussehens der Zöglinge. Fräulein Marie und auch wir Kinder wurden aufgefordert, unsere Meinung zu sagen. Wie das Urteil der anderen ausgefallen ist, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, daß ein Gelächter sich erhob, als ich erklärte, Mutter zu sagen zu einer fremden Frau würde ich meinen Kindern nie erlauben!

Bald darauf standen die Brüder im Speisezimmer, eingeknöpft in ihre kleinen Paletots, die Hüte in der Hand, zum Fortgehen bereit. Aus den hellblauen Augen des jüngeren sprach eine schmerzliche Betroffenheit. Sollte mit ihm nicht etwas geschehen, das eigentlich unmöglich war, sollte er nicht fort von zu Hause? Der ältere hatte den Kopf von ihm abgewandt, er wollte ihn nicht ansehen, sein Anblick hätte ihm zu weh getan. Wir kannten ihn, Fritzi und ich, wir wußten, was in ihm vorging. Er hatte jetzt nur eine Sorge. Wie wird es dem Kind ergehen im Institute? Unter allen Buben, die dort sind, wird er der jüngste und schwächste sein, und sein starker Bruder wird vielleicht nicht immer zurechtkommen können, um ihm beizustehen, wenn er sich in Händel einläßt, der leicht gereizte, streitbare Kleine. Keiner der beiden sprach, und auch wir brachten kein Wort heraus, und es war, als ob die Scheidenden uns fast schon entfremdet wären. Wir betrachteten sie von einer Fenstervertiefung aus, und der Druck einer beängstigenden Befangenheit, eines peinlichen Zwiespalts lag auf uns.

Warum schickt man sie fort, diese zwei Kinder, die ein gutes Daheim, die Eltern und Geschwister haben? Ist es nicht grausam, sie fortzuschicken unter fremde Menschen? Aber die Eltern tun es, und was sie tun, hatten wir von klein auf gehört, ist immer das Rechte.

Der Wagen wurde angemeldet, Papa kam aus seinem Zimmer, und aus dem ihren, von der entgegengesetzten Seite, kam Mama. Sie umarmte die beiden kleinen Buben und ermahnte sie, recht brav zu sein, sie würden dann schon am nächsten Sonntag wiederkommen dürfen.

»Und dableiben?« Ich glaube, wir riefen das alle zugleich wie aus einem Munde, und die Enttäuschung war bitter, als es dann hieß: »Ja, ja, den ganzen Tag.«

Papa schritt der Ausgangstür zu. »Sagt adieu und kommt!« sprach er, und es war leicht, aus seinem strengen Tone eine unterdrückte Rührung herauszuhören.

Von einigen der Notizbüchlein, die ich damals immer nebst Bleistift und Federmesser in meiner Tasche herumtrug, sind noch Rudera erhalten. Ein ganz schief mit Bleistift liniiertes Blättchen kam mir neulich in die Hand, auf dem, kaum noch zu entziffern, geschrieben steht: »Die Brüder sind heute fort. Ich habe einen Schmerz in meinem Herzen. Der ist viereckig und hat Ränder, die sind scharf. Er hat auch Spitzen.«

Am nächsten Sonntag hatten die Knäblein wirklich »Ausgang«. Papa holte sie selbst im Institute ab. Sie waren traurig und gedrückt, und der Kleine vertraute mir geheimnisvoll an: »Was dort für Buben sind! … Wie die sind! Das kannst du nicht denken, wie die sind!«

Ihre Ferienzeit brachten die Brüder in Zdißlawitz zu, und wir verlebten gute Tage mit ihnen. Einer der Vorsteher der Anstalt, Herr Hönig, hatte sie begleitet. Er war mit Monsieur Just an Liebenswürdigkeit, Lustigkeit, an Erfindungsgabe bei den Spielen nicht zu vergleichen, aber ein vortrefflicher Mensch, ein wahrer Freund seiner Zöglinge. Sie hatten leider bald das Mißgeschick, auch ihn zu verlieren; er trat, wenn ich nicht irre, eine Professorstelle an einem Gymnasium an. Sein besonderer Schützling, der kleine Victor, war ganz untröstlich und schrieb an Papa: »Ich hab drei Tage um Herrn Hönig geweint.«

Im September, an meinem Geburtstage, erlebte ich das für mich vielleicht denkwürdigste Ereignis meiner Kinderjahre: Mama schenkte mir Schillers sämtliche Werke in einem Bande. Ein großes, dickes, prächtiges Buch, eng gedruckt, ein Reichtum, nicht zu erschöpfen, und wenn ich hundert Jahre alt würde. In den ersten Tagen, im ersten Rausche des Besitzes, war von systematischem Lesen nicht die Rede. Ich glaube, daß es eine der Balladen gewesen ist, die mich umfing wie eine feurige Umarmung und mich erhob in ein Bereich nie geträumter Herrlichkeit. Das gibt’s? – das gibt’s – Das ist eingefangen da auf diesen Blättern, und wenn man seine Augen auf ihnen ruhen läßt, steigt es herauf, durchtränkt die Seele, prägt sich dem Gedächtnis ein, und man hat es, man kann es vor sich hersagen und sehen, was er gesehen hat, dieser Dichter, und uns darstellt mit prunktvollen Worten, wie nur der eine, einzige sie sprechen konnte! Das Titelbild, ein Stahlstich nach der Schillerstatue von Thorwaldsen, stellte mir den Dichter in edelster Erscheinung dar. So mächtig, so voll Größe und Kraft und das schöne Haupt doch gebeugt unter der Last des schweren Kranzes. Selbst errungen, der überreiche, der ihn nun bedrückte. Klar wurde es mir freilich nicht, daß der Bildhauer vielleicht diesen Gedanken hatte ausdrücken wollen; nur als etwas Unbestimmtes, unsagbar Anziehendes kam es mir zum Bewußtsein. Marie und meine Schwester fanden mich einmal in die Betrachtung des Bildes meines vergötterten Dichters versunken, und ich machte sie auf sein unter dem Kranze gesenktes Haupt aufmerksam. Da legte Fritzi ihre Hand auf meinen Scheitel und sagte: »Sie glaubt gewiß, daß auch sie einmal einen solchen Kranz auf ihrem Kopf haben und so dastehen wird.«

Sie hatte das liebreich, mit ganz harmlosem Spotte gesprochen und mich trotzdem schwer beleidigt. Gerade jetzt meldete »es« sich nicht mehr. Seitdem ich im Besitze meines Schiller war, lebte ich nur in ihm, und seine Gedichte unermüdlich herzusagen machte jetzt mein Glück und meine Freude aus. Wie oft mußten die alten, vertrauten Lindenbäume unserer Allee den Eichwald brausen hören! Wie oft rief ich ihnen, die gewiß darüber staunten, zu: »Ich habe gelebt und geliebet!«

Alles wiederholt sich im Leben, weil wir selbst uns immer wiederholen, und wie ich einst mit allen meinen Gedanken und Gefühlen in der Haut eines kühnen Drachentöters oder eines armen, verfolgten Stieftöchterleins gesteckt hatte, so war ich jetzt abwechselnd eine oder die andere Heldengestalt Schillers und nahm zum Erstaunen meiner Umgebung plötzlich laut Abschied von meinen geliebten Triften oder forderte mit ungestümem Pathos Gedankenfreiheit.

Böse Stunden der Reaktion stellten sich allerdings auch ein, ich konnte auch Entrüstung empfinden über meinen Abgott. Er hatte mir mit der matten Limonade und mit verschiedenen Grobheiten, die der alte Miller seiner Frau sagt, Kabale und Liebe verunstaltet, und sehr lächerlich kamen die Gedichte an Laura mir vor. Ich erlaubte mir sogar, eines von ihnen zu travestieren, und wurde dafür von Marie tüchtig gezankt. Sie bedauerte, daß Mama mir ein Kleinod in die Hand gegeben habe, dessen Wert zu schätzen ich noch ganz und gar nicht vermöge. Ich würde mir sonst eine Kritik nicht erlauben – aus Pietät. Zur Pietät aber fehle mir die Reife.

Sie fehlte mir freilich auch zur Würdigung dieser Strafpredigt. Viel später erst ging ein Verständnis des innigen Zusammenhanges zwischen Unreife und Mangel an Pietät mir auf. Aus Tausenden von Lehren, die das Leben uns erteilt, aus täglichen Erfahrungen können wir es schöpfen. Pietät ist immer nur die Frucht der edlen Ausgeglichenheit, die man Reife nennt. Die Jugend weiß nichts von ihr, und ewig unerreicht bleibt sie den Halbgebildeten, den Vorurteilsvollen, den Parteilichen.

Daß meine Stiefmutter unrecht gehabt hat, mir, dem elfjährigen Kinde, die Werke Schillers zu schenken, kann ich heute noch nicht einsehen. Ich werde es meinen Eltern auch immer danken, daß sie im Laufe des folgenden Winters meine Schwester und mich an jedem ihrer Logentage ins Burgtheater mitnahmen. Wir sahen alle klassischen Stücke, die auf der damals Ersten deutschen Bühne zur Aufführung kamen. Wir sahen Das Leben ein Traum und fühlten uns in den Himmel getragen von dem Schwung seiner Verse, wir sahen Wallenstein mit Anschütz in der Titelrolle, Maria Stuart, Hamlet, wir sahen den Prinzen in Emilia Galotti von Fichtner so hinreißend und liebenswürdig dargestellt, daß wir herzlich wünschten, der alte Edoardo möge doch ihm seinen Segen geben zur Vermählung mit Emilia. Von einem weniger soliden Bunde wußten wir nichts und fanden überdies den Grafen Appiani einen recht steifleinenen Herrn. Minna von Barnhelm mit Fräulein Enghaus als Minna, Lucas als Tellheim, Wilhelm als Werner, La Roche als Just gespielt zu sehen war ein feinster, unauslöschlicher Kunstgenuß. Und nun erst Egmont mit Löwe in der Titelrolle und Julie Rettich als Margarete. Da, und als Mutter der Makkabäer und später dann als Marfa im Demetriusfragment, hat diese Frau, die eine Herrschernatur war und ihre Kunst wie eine Priesterschaft ausübte, dank ihrer geistigen Überlegenheit und echten Seelengröße eine Höhe erreicht, zu der stärkere, aber auf minder edlem Boden stehende Talente nie gelangen.

Wie die Märchen Perraults, wie die Geschichte und die Sagen des Altertums, so wurden uns auch die Kunstgenüsse im Burgtheater in ärmlicher Ausstattung geboten. Meine verehrte Freundin, Gräfin Schönfeld, ehemals Luise Neumann, und ich erinnern uns oft lächelnd des Rüstzeugs, mit dem die großen Schauspieler jener Tage versehen wurden, um ihre glänzenden Siege zu erringen. Der ganze Dekorationsapparat der Ersten deutschen Bühne entfaltete sich innerhalb der Grenzen äußerster Sparsamkeit. Besonders hart übte sie ihre Gesetze dem feinen Lustspiel gegenüber aus. In den vornehmen Häusern saßen die Damen auf einem mit Rohrgeflecht überspannten Kanapee, im bürgerlichen Haushalt gab es nur Holzsessel. Eine Zimmerdekoration, eine besonders gute alte Bekannte, war in jungen Tagen rosenfarbig gewesen, zwei Landschaften, Grau in Grau gemalt, zierten ihre Mittelwand. Bevor sie selbst erschien, schwebte ihr der ganzen Breite nach ein Streifen sehr schmutziger Fransen voran, in die sich allmählich ihre untere Partie aufgelöst hatte. Während sie niederrollte, kamen rechts und links je zwei Diener, die je einen glatten, viereckigen Tisch auf die Bühne stellten. Sie trugen auch einige Sessel herbei, und wenn ein Paar von diesen vor das Souffleurhüttchen gestellt wurde, ahnten wir, daß ein wichtiges Gespräch zu erwarten war, und spitzten die Ohren. Es kam; die Zuhörer genossen es und verstanden jede feine Wendung und freuten sich jeder Pointe, und unsere Herzensangelegenheit war’s, die man dort verhandelte. Wenn ein Liebling des Publikums auftrat, ging’s wie ein leises, freudiges Atmen durch das Haus; ein beifälliges Gemurmel, ein kurzes, herzliches Klatschen dankte für besonders vortreffliches Spiel. Unsere Mimen verstanden die Innigkeit unseres Dankes und die Treue zu schätzen, die ihrer nie vergessen und die Nachwelt zwingen werde, ihnen Kränze zu flechten.

Unser altes Burgtheater! Es war für mich, und wird es gewiß für viele gewesen sein, ein Quell edler Freude, ein Bildungsmittel ohnegleichen. Ihm verdanke ich die Grundlage zu meiner ästhetischen Erziehung, die damals begann und heute – noch lange nicht beendet ist.

Die Glückseligkeit, in die mich die Vorstellung versetzte, wurde immer etwas getrübt durch das Fallen des Vorhangs nach den Aktschlüssen. Es riß mich aus der Bezauberung und mahnte, daß ein Teil der mir so köstlichen Stunden vorüber sei.

Der Nachgenuß aber war etwas Vollkommenes. Ich wandelte einher wie auf dem Kothurn, ja, es kam mir in die Füße! Ich schritt gleich den hochgestellten Persönlichkeiten bei feierlichen Aufzügen auf der Bühne, heroische Gefühle erfüllten mein Herz, der Wille zum Leiden erwachte in seiner ganzen Stärke und mit ihm die brennende Sehnsucht nach einem großartigen Martyrium.

Neben den klassischen Stücken waren aber die Schau- und Lustspiele, die bei den Meinen besonders in Gnaden standen, auch mir sehr willkommen. Zwei Damen, zwei dramatische Schriftstellerinnen, gelangten um jene Zeit sehr oft zu Worte. Die Prinzessin Amalie von Sachsen mit dem Oheim, dem Landwirt, der Stieftochter, Frau von Weißenthurn mit zahlreichen Dramen. Die Erinnerung an sie ist erloschen; ich entsinne mich nur dunkel des einen, das Pauline hieß und in dem Luise Neumann die Hauptrolle spielte.

»Ach, die liebe, gute Frau von Weißenthurn, wenn wir sie nicht hätten!« sagte Börne, und sie hätte erwidern dürfen: Ach, der liebe, gute Börne, der destruktive Kritik so meisterhaft übt – wenn ich den nicht hätte! Er nimmt mich mit in seine – Vielleicht-Unsterblichkeit; wer würde ohne ihn nach einem halben Jahrhundert noch etwas wissen von meinem Schauspiel Agnes van der Lille und von meinem Lustspiel Beschämte Eifersucht?

Der Winter 1842 brachte dem Burgtheater drei Ereignisse: die erste Aufführung von Friedrich Halms Der Sohn der Wildnis, den Abschied Johannas von Weißenthurn vom Burgtheater, dem sie durch zweiundfünfzig Jahre angehört hatte, die Feier von Korns vierzigjährigem »Dienstjubiläum«.

Dem Sohn der Wildnis stand ich ratlos gegenüber. Das »romantische Drama« feierte Triumphe, ich hörte nur Aussprüche des Lobes und der Bewunderung, während mir einige Szenen geradezu Pein verursachten. Einen großen Teil der Schuld daran schob ich Julie Rettich, der Darstellerin der Parthenia, zu. Der edlen Frau und Künstlerin fehlte der Zauber der Anmut. Wenn sie, im zweiten Akte von den wilden Tektosagen gefangengenommen, sich hinsetzte und Kränze wand, entwickelte sie diese unwahrscheinliche Tätigkeit mit verletzend eckigen Bewegungen. Man mußte wirklich ein Barbarenhäuptling sein, um nicht Anstoß an ihnen zu nehmen. – Aber dann … Als Ingomar, angewidert durch die Niedertracht des Kulturvolkes, dessen Genösse er geworden, sich losreißt, um in seine Wildnis zurückzukehren, holt Parthenia sein ihr anvertrautes Eigentum, sein Schwert, herbei. – Er will es ihr abnehmen. – Nein. Sie wird es tragen – ihm nach.

»Wohlan denn«, sagt er, »bis zum Markte –«

Und sie:

 

»Bis zum Markt –

Nein, noch ein Stückchen weiter – bis ans Tor –

 

Noch weiter, bis zum Meer und übers Meer

Hinaus, und über Berg und Tal und Ströme,

Nach Ost und West, wohin dein Lauf sich kehrt.

Wohin dich irrend deine Schritte tragen,

Solang mein Herz pocht, meine Pulse schlagen,

Solang ich atme, trag ich dir dein Schwert!«

 

Da meinte man Glockenklang zu vernehmen, siegreich und unwiderstehlich flutete der Wohlklang dieser Verse durch das Haus, getragen von einer Stimme, die gleich einer Naturgewalt mächtig blieb, ob sie dräute oder schmeichelte, brauste oder lispelte.

Gar oft haben wir den Sohn der Wildnis aufführen gesehen, und jedesmal brach an dieser Stelle des Gedichtes jubelvoller Beifall los, in den mein Vater einstimmte und auch ich aus allen meinen Kräften. Leid tat mir nur, daß der Sieg des Barbaren über die unerträglich nörgelnde Griechin kein vollständiger war. Sein Bärenfell hätte er wieder umhängen, in seine Wälder hätte er die merkwürdigerweise Geliebte mitnehmen und wieder Häuptling seiner Tektosagen werden sollen, ein Feind und Schrecken der verruchten Stadt Massalia, nicht ihr friedlicher Bürger. So meinte ich als Kind, und bei der Meinung bin ich geblieben und habe sie viele Jahre später dem Dichter mitgeteilt, der mein treuer Freund und Lehrer geworden ist.

Er hat mir nicht ganz unrecht gegeben.

Der Abschied Frau von Weißenthurns von der Stätte ihrer langjährigen Tätigkeit gestaltete sich zu einem Burgtheater-Familienfeste. Unter fast ununterbrochenem zustimmendem Gemurmel des Publikums und so vielem Applaus, als sich halbwegs passend anbringen ließ, wurden zwei von der dichtenden Schauspielerin verfaßte Stücke aufgeführt. Dann, stürmisch gerufen, trat sie an die Rampe und erzählte umständlich ihren ganzen Lebenslauf. Sehr andächtig hörte man ihr zu, und als sie mit Worten innigen Dankes schloß, erntete sie Dank, sehr warmen, aber völlig platonischen. Kein Lorbeerregen, keine Auffahrt von Blumenarrangements; nichts von fanatischen Huldigungen, die jetzt unseren Bühnengrößen dargebracht werden und – wer weiß – vielleicht einen Mangel verbergen. Gibt man heute soviel, weil man morgen nichts mehr zu geben hätte?

»Dableiben! Dableiben!« riefen wir alle, ehe der Vorhang sich senkte, der guten Frau von Weißenthurn zu, der es nicht einfiel fortzugehen. Wir sahen sie gar oft noch im dritten Stock des Burgtheaters in der Schauspielerloge sitzen. Wenn eines ihrer Werke aufgeführt wurde, fehlte sie nie und belohnte bei den rührenden Stellen ihre ehemaligen Kollegen durch strömende Tränen für ihr vorzügliches Spiel.

Wie das Jubiläum Korns gefeiert wurde, davon vermag ich nicht mehr Rechenschaft zu geben; ich weiß nur, daß wir erschraken, als wir erfuhren, er gehöre dem Burgtheater seit vierzig Jahren an. Da hatten unsere Großmütter schon für ihn geschwärmt, und er wäre ein alter Mann? … Und neulich erst hatte er uns so gut gefallen als Admiral in den Fesseln, und Fritzi war tief gekränkt gewesen, als Papa sagte: »Der arme Korn hat keine Stimme mehr.« Und nun mußte man’s ganz natürlich finden, daß er keine Stimme mehr hatte, dieser bejahrte Liebling. Übrigens – Liebling blieb er, trotz seiner Heiserkeit, die sich nicht mehr geben wollte. Löwe war ja herrlich und kam uns in manchen Rollen, zum Beispiel als Siegfried in Raupachs Nibelungen, wie ein Halbgott vor und Fichtner stets wie das Urbild der Liebenswürdigkeit. Auch Lucas konnte äußerst gewinnend sein in seiner gehaltenen, noblen, etwas feierlichen Weise; aber Korn blieb der Feinste, der unumschränkte Beherrscher schöner Form, die nur das Sichtbargewordene des schönsten geistigen Inhalts sein konnte. Korn blieb der siegreichste Herzensbezwinger. Einmal erhielt er einen Beweis davon, der ihm gewiß mehr Freude machte als der lauteste Applaus und die schmeichelhafteste Rezension. Er hatte seinen unvergeßlichen Hauptmann Klinger gespielt, stand als gütige Vorsehung der ganzen Gesellschaft mitten unter glücklichen Brautpaaren, sah sich um und fragte: »Und mich will niemand heiraten?« – »Ich!« antwortete ihm laut eine Mädchenstimme. Aus einer Loge des ersten Ranges kam der Ruf spontan, mit unwillkürlicher Hingerissenheit. Korn lächelte, wollte aber nichts gehört haben; das Publikum lachte wohlwollend; einige »Bravo!« ließen sich hören, einige Parterrebesucher grüßten hinauf zu der Loge, in der eine anmutige junge Gräfin sich bestürzt hinter ihre bestürzten Eltern zurückzog.

Kaum zwei Jahre hatten wir unter der Obhut unserer guten Marie gestanden, als sie nach Prag berufen wurde, wo ihr Vater und ihr Bruder an Typhus erkrankt waren. Sie fand die Ihren in einem fast trostlosen Zustand. Er besserte sich zwar allmählich, unter allen Umständen aber, schrieb unsere Freundin, müßten wir uns auf eine lange Trennung gefaßt machen; vorläufig wäre der Tag ihrer Rückkehr noch nicht abzusehen.

So blieb denn nichts übrig, als sich dem bedenklichen Auskunftsmittel einer provisorischen Regierung zu bequemen, und unser Haus wurde der Schauplatz eines seltsamen Gouvernantenfestzuges. Eine schöne, hochgewachsene Deutschböhmin, die in Paris erzogen worden war, eröffnete ihn. Ihr Benehmen konnte man nur vortrefflich nennen; sie war weder verlegen noch anmaßend, grüßte schön, aß schön. Aber bei der Wahl ihres Berufes hatte sie danebengegriffen und zog deshalb vor, ihn nur nominell auszuüben. Sie hatte reiche dunkelblonde Haare, die sie nach der damals herrschenden Mode vorne abgeteilt und in Locken trug. Den Morgen brachte sie damit zu, den goldigen Kopfschmuck auf dem Lockenholz zu glätten und zu blänken, und den Abend damit, ihn in Papilloten zu wickeln. In der Zwischenzeit lag sie auf dem Kanapee und las Romane aus der Leihbibliothek. Der Müßiggang, dem die Interimsgouvernante uns überließ, wurde sehr bald langweilig. Es verdroß uns auch, daß sie sich um unsere Jüngste gar nicht bekümmerte. Die kleine Sophie aber lernte ihr etwas ab. Sie hatte feine, von Natur gelockte Haare und fing an, dem Beispiel des Fräuleins folgend, eine der seidenweichen Strähnen nach der andern um ein Kipfel zu winden, das sie eigens zu dem Zwecke vom Frühstück aufbewahrt hatte. Sie saß auf einem Schemel, schaute vor sich hin, sprach nicht und wand ihre Locken auf und ab und hätte stundenlang so dasitzen mögen, wenn wir es geduldet hätten.

Mama täuschte sich nicht über die Unzulänglichkeit der wohlerzogenen Dame. Eines Tages verschwand sie samt ihren Romanen und ihrem Lockenholz, und ihre Stelle wurde durch eine kleine, dicke, rotbäckige Französin eingenommen. Das war nun die Gutmütigkeit in Person, dieses abermalige Fräulein. Schon nach den ersten Unterrichtsstunden, die sie uns gab, bemerkte ich, daß sie mich an Ignoranz weit übertraf. Ihre Bekanntschaft mit Geographie und Geschichte war von komischer Dürftigkeit. Die Sprachlehre kannte sie nur dem Namen nach. Sie mußte, um unser Diktando auszubessern, das Buch, aus dem sie vorgesagt hatte, zu Hilfe nehmen. Ich fragte sie, ob sie nicht auswendig korrigieren könne, und sie antwortete unbefangen: »Ma foi, non!«

Mon Dieu! Es war ihr nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie Gouvernante werden sollte. In Wohlhabenheit aufgewachsen, hatte sie selbst eine Gouvernante gehabt, eine vernünftige, von der sie nicht geplagt wurde mit dem Studium gelehrter Bêtisen. Auch gute Eltern hatte sie gehabt; nur ein bißchen verschwenderisch waren sie und hinterließen, als sie starben, ihren schon erwachsenen Kindern, einem Sohn und einer Tochter, sehr beträchtliche Schulden.

Les pauvres vieux! Sie werden sich Sorgen genug gemacht haben! Ihre Kinder grollten ihnen nicht. Der Sohn diente in der österreichischen Armee, hatte es bis zum Hauptmann gebracht und seine Schwester kürzlich nach Wien berufen. In Frankreich durfte sie sich als garde d’enfants placieren, in Wien nur als Gouvernante. Pensez donc – die Schwester eines Hauptmanns! Wir lernten auch ihn kennen, Papa lud ihn oft zu Tische. Er hatte große Ähnlichkeit mit seiner Schwester, liebte sie sehr, nahm sie oft mit auf »Elitebälle« und ließ ihr dort zwei Portionen Gefrorenes geben. Oh, ihr Bruder, der Hauptmann, der kargte nicht! Der war die Krone der Brüder, der Hauptleute, der Menschen überhaupt! Sie geriet in Begeisterung, wenn sie von ihm sprach, schob die Bücher und Hefte fort, sprang auf und schlug uns eine Partie »au loup« vor.

Im Augenblick waren Fritzi und ich von Angstfrösteln durchrieselt. Mademoiselle hob die kleine Sophie auf ihre Schulter und zog sich in die Ecke hinter dem Ofen zurück. Ein bedrohliches Brummen, Knurren, Knirschen begann daraus hervorzudringen … Der Loup war da … Vorsichtig schlichen wir heran, und wenn es uns gelang, an der Höhle des Raubtieres dreimal nacheinander vorbeizuhuschen, ohne gefangen zu werden, dann hatten wir gewonnen. Aber das kam fast nie vor. Es erhaschte uns; unter einem Indianergeschrei der kleinen Schwester fletschte es seine Zähne, wir fühlten uns schon zerfleischt und zerrissen – und das war ein großer Genuß.

Daß der gegenwärtige Zustand nicht von Dauer sein konnte, verstand sich von selbst und war uns auch ganz recht; denn wir sehnten uns nach unseren Beschäftigungen, nach einem Unterricht, wie Marie ihn erteilt hatte, zurück. Wir waren so gut im Zuge gewesen, hatten uns der Fortschritte, die wir machten, gefreut. Und nun waren sie jählings unterbrochen worden, und unser kaum erwachter Wissensdurst blieb ungestillt. Allerdings erhielten wir »Stunden«; doch wurden besonders die im Klavierspielen und Zeichnen recht oberflächlich gegeben und genommen. Die einzige Ausnahme in all dem dilettantenhaften Wesen machte der Unterricht, den eine Engländerin uns in ihrer Muttersprache erteilte, eine hübsche, etwas nervöse Frau, an den Associé eines englischen Geschäftshauses in Wien verheiratet. Daheim war sie Lehrerin an einem angesehenen »College« gewesen und suchte nun wieder ihre freie Zeit auszufüllen. Sie brauchte Beschäftigung und Zerstreuung, denn ach, der Himmel versagte ihr, die sich so schmerzlich danach sehnte, das Mutterglück. Sie hatte kein Kind, dem sie ihre Sorgfalt widmen konnte. Wenn sie unsere Sophie erblickte, war die zurückhaltende und gern absprechende Frau wie verwandelt, war ganz Hingebung und Entzücken. Sie küßte und herzte die Kleine, gab ihr die zärtlichsten Namen und brach zuletzt in heiße Tränen aus.

Die »englische Lehrerin« war uns schon deswegen wert, weil Fräulein Marie Kittl sie empfohlen hatte; von einem förmlichen Strahlenglanz schien sie uns aber umgeben, als wir hörten, daß sie auch einer unserer gefeiertsten Burgtheatergrößen, Luise Neumann, Unterricht erteilte. Wir staunten ein Wesen, das mit ihr in persönlichem Verkehr stand, wie ein Weltwunder an. Wir wollten wissen, ob sie ihr Glück denn auch ganz ermaß und Luise Neumanns Hefte mit gehörigem Respekt durchsah. Und wie waren diese Hefte beschaffen, und befand sich nie ein Fehler darin? Und warum lernte Luise Neumann Englisch? Wozu braucht sie, die alle Welt bezaubert, auch noch Englisch zu lernen? »Ja«, bekamen wir zur Antwort, »sie ist eben sehr gescheit; sie weiß, wer die englische Sprache beherrscht, überragt in jeder Hinsicht alle, die sie nicht beherrschen. Und wie sie lernt! und wie sie die schwersten Worte ausspricht! Da könnten Sie sich ein Beispiel nehmen, meine kleinen Misses.« – Natürlich wurde es sofort ein Ziel unseres Ehrgeizes, Luise Neumann an Eifer und Fleiß zu erreichen, und wenn wir einmal Außerordentliches geleistet hatten, nahm die Lehrerin zur Belohnung einen Brief mit, den wir an unsere Vielbewunderte gerichtet und den sie ihr zu übergeben versprach. Er wurde mit vereinten Geisteskräften aufgesetzt, bevor ich ihn ins reine schrieb; unter welcher Gemütsbewegung, das weiß Gott. Zu dieser Korrespondenz konnten doch nur hochfeine Bögelchen verwendet werden. Weh mir, wenn ich eines verdarb; sie waren so teuer, und wir hatten so wenig Geld! Von den schmalen Einkünften, die wir am Ersten jedes Monats bezogen, mußte unsere Armenpflege bestritten, mußten an den Namenstagen der Hausleute kleine Geschenke für sie, mußten überdies unsere Handschuhe gekauft werden. Je nun – Schwärmerei und Liebe verrichten Wunder; das Briefchen war geboren, schmuck und zierlich, meistens rosenfarbig, und versank ins Ledertäschchen der Mistreß, dessen Bügel sich mit einem triumphierenden Schnapper über ihm schloß. Wir konnten das Wiedererscheinen der Lehrerin kaum erwarten und bestürmten sie mit Fragen nach dem Gelingen ihrer Mission. Ließ denn Luise Neumann uns gar nichts sagen? Schickte sie uns nicht einmal einen kleinen Gruß? »Nein, heute nicht, sie hatte keine Zeit – vielleicht ein nächstes Mal.«

– Keine Zeit, einen Gruß zu schicken? Das wollte mir doch nicht recht einleuchten.

Eines Tages war die Engländerin mit Schnupfen behaftet und hatte mehr Sacktücher in ihr Täschchen gestopft, als dem behagte. Doch fügte es sich in sein Schicksal, tat seine Pflicht und hielt alles ihm Anvertraute hartnäckig fest. Der Not gehorchend, wollte seine Besitzerin ihm plötzlich von seinem Inhalt etwas entreißen; es widerstand – sie brauchte Gewalt – da, voll Grimm und Tücke, spie es die sämtlichen verschluckten Güter auf den Tisch und auf den Boden aus. Gebrauchte und nichtgebrauchte Taschentücher kamen zum Vorschein und zugleich – unsere Briefe an Luise Neumann. Alle! Die Briefe alle, »all die lieben, kleinen …« Ja, ich hatte etwas davon gewittert, daß unser Vertrauen getäuscht wurde; daß es aber in solchem Grade geschehen könne, hätte ich nicht für möglich gehalten, und ohne den geringsten Rückhalt sprach ich der falschen Mistreß meine Meinung aus. Die Unglaubliche, auf einer langen Reihe von Wortbrüchen ertappt, kam nicht einen Augenblick außer Fassung. Sie kehrte sogleich den Spieß um und behauptete, sie schäme sich unserer Albernheit. Wie hatten wir nur glauben können, daß sie einer berühmten Künstlerin zumuten werde, ihre Zeit mit dem Lesen von Briefen zu verlieren, die Kinder an sie richteten!

So endete in einem Gefühl nagender Pein eine ganze Menge großer Gemütsbewegungen. Und dieser Reichtum und soviel Liebe und Begeisterung hatten sich entfaltet – um nichts.

Es fiel mir schwer aufs Herz und beschäftigte meine Gedanken: Wie kann etwas in der Welt gewesen sein – um nichts?

Und doch war’s hier der Fall, und etwas war geschehen, was eigentlich nicht geschehen kann. Es erschien mir als ein Widersinn und als eine Grausamkeit.

In späteren Jahren habe ich das kleine Erlebnis in anderem Maßstab und in anderer Form sich an mir und um mich zahllose Male wiederholen gesehen. Die Bewegung, mit der du ein Steinchen ins Rollen bringst, pflanzt sich fort, Gott weiß wie weit. Was aber dein Innerstes erbeben machte in Zorn und Qual, in Wonne und Entzücken – kann erlöschen und sterben, ohne die geringste Wirkung nach außen geübt zu haben. –

Wie kleine Tote, die ihr Geheimnis ins Grab mitnehmen, lagen unsere zerknitterten Briefchen vor mir, und ich besang den Eindruck, den ihr Anblick mir machte, in einem Gedicht, das ihr Los geteilt hat.

 

Jetzt hätte meine Freundin Marie dasein müssen! Jetzt wäre ihre Anwesenheit mir segensreich gewesen. Ihr durfte ich alles sagen; mit allen meinen Zweifeln und Bekümmernissen durfte ich ihr kommen. Das Unbedeutendste, das in meiner kleinen Gedankenwelt vorging, war ihr wichtig. Sie nahm alles ernst, was ich selber ernst nahm, wenn es auch noch so töricht war. Die Waffe des Spottes, die Erwachsene nur zu gern gegen Kinder gebrauchen, hat sie nie angewendet. Um meine Reue über die Parodie auf »Laura am Klavier« kundzutun, hatte ich sie noch kurz vor ihrem Scheiden mit einem Siegeshymnus auf das Liebespaar Friedrich und Laura überrascht, in den ich die Chöre der Seraphim und Cherubim einstimmen ließ. Marie lächelte nicht einmal; sie fand einzelnes sogar recht hübsch und entfesselte mit ihrem Lobe eine Flut von Herzensergießungen. Immer schmerzlicher vermißte ich jetzt die Vertraute meiner Dichterleiden, bestürmte sie mit immer heißeren Bitten: »Komm! komm! wir verwildern. Komm! komm, oder ich lasse mich verhungern!«

Ich begriff nicht, warum ihre Antworten auf meine Beschwörungen und Drohungen kühl beschwichtigend lauteten und warum die Pausen zwischen ihnen immer länger wurden. Meine Klagen langweilten Mama endlich so sehr, daß sie sich entschloß, mir mitzuteilen, Fräulein Kittl werde nicht mehr zu uns zurückkehren. Sie habe die Ihren in ansteckender Krankheit gepflegt, und ihre Nähe könne gefahrbringend sein. Nach Jahren hat meine Stiefmutter mir gestanden, daß sie ihre übertriebene Ängstlichkeit oft und sehr bitter bereut habe, nachdem vielfache Erfahrungen sie belehrten, daß eine Erzieherin wie Marie Kittl gefunden zu haben ein Glücksfall sei, der sich nicht leicht wiederhole.

Als wir hörten, wie die Dinge standen, war die Trauer meiner Schwester groß, und ich hatte Anfälle von Verzweiflung. Wußten denn die Menschen nichts Besseres, als uns zu belügen und zu betrügen? Wie durfte man uns so hinhalten, uns ein ganzes Jahr hindurch von der Hoffnung auf die Rückkehr unserer Freundin leben lassen, während sie uns längst entrissen war? Vollkommen, unwiederbringlich, denn sie hatte die Stelle als Gouvernante bei einer jungen Prinzessin Arenberg in Paris angenommen und befand sich schon seit einiger Zeit dort, indessen wir, da alle unsere letzten Briefe unbeantwortet blieben, uns eingeredet hatten, sie wolle uns überraschen. Plötzlich, wenn wir am wenigsten daran dächten, werde die Tür aufgehen, und sie werde dastehen in ihrer Mantilla, der wir nachsagten, daß sie etwas Spanisches habe, obwohl sie aus Prag stammte. Und auf ihrem Kopfe würde ihr Hut mit frischgekräuselten Federn thronen, und in den Rüschen, die sein Inneres schmückten, würden unserer Freundin dünne Locken, eigensinnig wie Schwächlinge einmal sind, sich verfangen … Oh, die Liebe! Dastehen werde sie, die Arme ausbreiten und nicht sprechen können vor Rührung. Meine Schwester mochte ihr dann nur entgegenstürzen, jauchzend, in Freudentränen gebadet. Was mich betraf, ich war entschlossen, mich zu beherrschen, der schroffsten Spartanerin zum Trotz, und nichts von meiner Glückseligkeit zu verraten. Bei der ersten Lektion aber wollte ich unserer Ersehnten in großartiger Weise erklären, daß ich jede Stunde, die sie nicht bei uns zugebracht hatte, als eine verlorene ansah. Und sie sollte wissen: Die ist’s, die scheinbar Gleichgültige, die mich am liebsten hat.

Und nun waren mir nicht nur die vielen vergangenen Stunden, sondern auch alle, die noch kommen sollten, verloren. Was ich in dieser langen Zeit aufgespeichert hatte an unausgesprochenen Einfällen und Empfindungen, um es ihr mitzuteilen, der ganze knospende Reichtum mußte nun zurückgedrängt werden und lag, gleichsam zusammengeballt, mir schwer wie ein Stein auf dem Herzen. Ich war sehr unglücklich und viel zu kindisch, um nicht grausam zu sein, und trotz des Heroismus, den ich mir zuschrieb, viel zu schwach, um mein Unglück still zu tragen. So ließ ich es eine an ihm völlig Unschuldige entgelten: die bedauernswürdige Nachfolgerin der Mademoiselle »au loup«.

Ein junges, schüchternes Mädchen, selbst noch gewöhnt, geleitet zu werden, kam sie direkt aus dem Erziehungsinstitut zu uns. Mit meiner Schwester hatte sie leichtes Spiel, ich war ihr gegenüber ein kleiner Teufel. Dabei bewunderte ich mich noch, weil mein nichtsnutziges Benehmen gegen sie die Treue bekunden sollte, die ich unserer Freundin Marie bewahrte.

Fräulein Karoline war edel und gut, sie hat mir alles verziehen. Sie hat der Erwachsenen nicht nachgetragen, was das Kind ihr angetan. Ich aber fühle mich durch ihre Großmut nicht entsühnt. Heute noch treibt mir die Erinnerung an die bösen Streiche, die ich einem harm- und hilflosen Wesen gespielt habe, die Schamröte ins Gesicht, und fast bin ich dann geneigt, dem Franzosen beizustimmen, der sagte: »Les enfants sont des petites bêtes malfaisantes.«

Fräulein Karoline besaß tüchtige Kenntnisse in Sprachlehre, Geographie und Geschichte, und ich hätte alle Ursache gehabt, mich ihrer Leitung zu unterwerfen. Statt dessen gab ich dem bösartigen Wunsche nach, ihr beständig etwas am Zeuge zu flicken oder sie auf einem Irrtum zu ertappen. Mit müßigen Kontroversen ging viel Zeit verloren. Aus Widerspruchsgeist trat ich jeder Behauptung unserer unglücklichen Lehrerin entgegen. Wenn sie das Mittelalter mit dem Untergang des Weströmischen Reiches beginnen ließ, schwor ich darauf, daß es durch den Anfang der Völkerwanderung bezeichnet werde und daß es in der ganzen Welt nichts Wichtigeres gebe, als das zu wissen. Für Alarich offenbarte ich eine fanatische Bewunderung, die durch Platens Gedicht entzündet worden war und durch die Vorliebe Fräulein Karolinens für Stilicho genährt wurde. Sie bevorzugte die Hermunduren und Friesen; natürlich hatte ich deshalb schon für diese friedlichen Viehzüchter und Ackerbauer nur Geringschätzung übrig und fand kein Ende in Lobpreisungen der kriegerischen Langobarden, Goten und Vandalen.

Zu heißen Kämpfen führte unter anderem die Verschiedenheit unserer Ansichten über Karl den Großen. Je mehr das Fräulein diesen Heros pries, desto entschiedener erklärte ich, ihm meine Hochachtung durchaus versagen zu müssen. Für mich war es eine ausgemachte Sache, daß er seinen Bruder hatte töten lassen. Und seine Frau, warum verstieß er sie? Weil er sich des Thrones ihres Vaters bemächtigen wollte. Endlich seine entsetzliche, schauderhafte Tat, die Ermordung von 4500 Sachsen, Überwundenen, die um ihre Freiheit und ihren Glauben gekämpft hatten und die jetzt um Gnade flehten … Nein, einen Mann, der das getan hat, nenne ich nicht den »Großen«.

Bei einem besonders lebhaften Wortgefechte ließ ich mich dazu hinreißen, Kaiser Karl auch als Bekehrer anzugreifen, und nannte Widukind und Albion, die aus seiner blutgetränkten Hand das Christentum angenommen hatten, Feiglinge und Heuchler. Was konnten sie von einer Religion halten, die ihren Bekennern Untaten verzieh, wie Kaiser Karl sie an den Sachsen begangen hatte?

Dieser frevelhafte Ausbruch entsetzte Fräulein Karoline. Sie war ganz verstört, sie faltete die Hände unter dem Tische. Meine Schwester sank in sich zusammen und flüsterte: »Um Gottes willen, jetzt versündigt sie sich gar gegen die Religion!«

Ihre Worte erschreckten mich. Wir befanden uns in Zdißlawitz; unsere Religionsstunden waren wieder aufgenommen worden, ich dachte an die Betrübnis Pater Boreks, wenn meine »Versündigung« ihm hinterbracht würde. So leitete ich denn Friedenspräliminarien ein, indem ich das Fräulein versicherte, daß es mir ferngelegen habe, einen Angriff auf die Religion zu unternehmen. Karoline hatte sich von ihrem Schrecken noch nicht erholt. Fassungslos starrte sie mich an, übersprang in ihrer Gemütsbewegung Zeiten, Könige, Kaiser und große historische Umwälzungen und sprach mit bebender Stimme: »Aber Karl V. werden Sie doch gelten lassen?« – Nun, ich sah wohl, auch ihn hatte sie in Protektion genommen, und Pflicht gegen mich selbst wäre es gewesen, ihn zu verunglimpfen. Aber in Rücksicht auf meine bedrängte Lage, und doch auch weil – abermals Platen! – der Pilgrim von St. Just mir mitten im Herzen saß und weil endlich Karl V. und ich uns in der Liebhaberei für Uhren, die mich seit meiner frühen Kindheit beseelt, teilten, ließ ich ihn in Gottes Namen gelten. Fräulein Karoline atmete auf. Meine Nachgiebigkeit, an die ich sie so wenig gewöhnt hatte, war Balsam für sie. Die Gute lobte mich, sie dankte mir beinahe, was mich doch sehr beschämte; ich war mir ja bewußt, daß die Furcht vor einer Denunziation den Hauptgrund meines Rückzugs bildete. Eine vorübergehende Rührseligkeit ergriff mich, meine Kampflust löste sich in Reue und Wehmut auf, und unter ihrem Einfluß trug ich dem überraschten Fräulein das freundschaftliche »Du« an.

Wir haben nur einen Tag Gebrauch davon gemacht. Mama verbot mir mit Recht die vertrauliche Ansprache. Es sollte nicht eine Schranke mehr des Respektes vor meiner Erzieherin niedergerissen werden. Auch herrschte bald wieder Unfrieden zwischen uns.

Wir zankten uns durch das ganze Mittelalter hindurch. Wenn ich mich in dieser großen, Kulturen zerstörenden und Kulturen verbreitenden Epoche heute noch leidlich auskenne, verdanke ich’s dem Kampf, den ich mit meiner jungen Lehrerin um eine selbständige Meinung über Menschen und Begebenheiten jener Zeit führte. Gut bestellt mußte es mit meinen Kenntnissen sein, wenn ich eine Ansicht erfolgreich verteidigen wollte. Fräulein Karoline wünschte mir ebenso wehrhaft entgegenzustehen. Der Abriß aus der Weltgeschichte, der uns zur Verfügung stand, genügte uns nicht. Sie nahm ihre Zuflucht zu Tillier, mein Gewährsmann war der Abt Millot. Onkel Moritz hatte mir einige Bände von dessen Universalhistorie alter, mittlerer und neuer Zeiten in der Übersetzung Christianis geliehen, und: »Hie Tillier! Hie Millot!« lautete unser Kampfruf.

Wie Fräulein Karoline es mit ihrem Orakel, in dessen Heiligtum sie mir keinen Einblick gönnte, gehalten hat, weiß ich nicht. Was mich betrifft, ich war im Auslegen der Urteile des meinen gewissenlos, drehte und wandte jedes so lang, bis ich es in Gegensatz zu einer Äußerung meiner armen Erzieherin gebracht hatte. Dann feierte ich erbärmliche Triumphe, Zwei Jahre hat Fräulein Karoline es bei uns ausgehalten, dann aber, als ihr eine Lehrerinnenstelle an einer staatlichen Mädchenschule angeboten wurde, rasch zugegriffen. – Dort waltete sie, geliebt und verehrt, durch viele Jahre ihres Amtes. Von ihrer vorgesetzten Behörde wurden ihr immer nur Zeichen der Hochachtung und der Anerkennung gespendet. Mit aller Hochachtung und Anerkennung versetzte man sie dann, zwölf Monate vor Ablauf der Zeit, die ihr das volle Gehalt als Pension gesichert hätte, in den Ruhestand. Wie am Anfang, erfuhr sie am Ende ihrer Laufbahn Grausamkeit. Doch klagte sie nicht und klagte nicht an. Ihre tiefe Frömmigkeit lehrte sie verzeihen, und Seelenfrieden ward ihr statt des Glückes. Sie verlebte ihre letzten Tage in Wien mit ihrer Schwester. Diese hatte es in einem anspruchslosen Berufe besser getroffen. Dank der Großmut der Kaiserin Karolina Augusta, deren treue Kammerfrau sie gewesen, gestaltete sich ihr Alter sorgenfrei und behaglich.

 

Nun aber ein papierenes Denkmälchen für einen lieben Freund. Ja, wir haben ihn immer sehr liebgehabt und immer ein bißchen über ihn gelacht, den Herrn Direktionsadjunkten bei dem k.k. hofkriegsrätlichen Einreichungsprotokoll zu Wien Josef Fladung.

Ich stand im dreizehnten Jahre, als er durch Mama in unser Haus eingeführt wurde, und damals schien mir, daß er dem Alter nach ein Methusalem sein könnte. Doch sollte dieser vortreffliche Mensch sich noch durch mehr als zwei Jahrzehnte seines Daseins erfreuen. Er hatte sich stets, besonders seitdem er in Pension getreten war, mit dem Studium der Naturwissenschaften und der Altertumskunde beschäftigt, in diesen Fächern es aber nur zu einem immerhin anerkennenswerten Dilettantismus gebracht. Hingegen hatte er als Mineraloge Tüchtiges geleistet. Sein Buch Versuch über die Kenntnis der Edelsteine wurde sehr geschätzt. Seine kleine, aber vortrefflich zusammengestellte und fortwährend vervollständigte lithologische Sammlung würdigten Kenner und Gelehrte ihrer Aufmerksamkeit. Wenn er seiner Neigung hätte folgen dürfen, wäre er Lehrer geworden. Im Erteilen von Unterricht fand er sein höchstes Glück. Anderen Dank, als daß ihm Aufmerksamkeit geschenkt werde, forderte er nicht. Und es war so bequem für die Mamas, nicht erst lang nach einem Professor der »höheren Gegenstände« suchen, sich nicht erst erkundigen zu müssen: Wie steht’s mit seinen politischen Ansichten, seiner Moralität, seiner Religiosität? Alles perfekt! succus expressus des Perfekten! Ein ehrenwerter, alter Herr, immer liebenswürdig und wohlwollend und immer bereit, einem Wunsch oder einer Bitte womöglich zuvorzukommen. Dabei sehr würdig und gewöhnt, mit den Spitzen der oberen Zehntausend umzugehen, ohne Demut und ohne Selbstüberhebung. Er war ein stets freudig begrüßter Gast, ob er sich im Winter in der Stadt beim Mittagstische einfand, ob im Sommer zu längerem Aufenthalt auf dem Lande. Auf sein Äußeres verwandte er große Sorgfalt und war immer sehr nett gekleidet. Zum Diner kam er nie anders als im Frack, gewöhnlich im schwarzen, bei besonderen Gelegenheiten im blauen mit gelben Knöpfen. Mit diesen Fräcken mußte er einen Pakt auf Unsterblichkeit geschlossen haben. Solange wir sie kannten, ist uns keine besondere Spur des Alterns an ihnen aufgefallen. Seine Erscheinung war höchst vertraueneinflößend, ein ehrwürdiges Bild der Rechtschaffenheit, Solidität und Feinheit; die Gestalt untersetzt, der Gang das Gegenteil von leicht. Auf den breiten Schultern saß ein kurzer Hals, der einen schönen Kopf trug, edel gewölbt, mit hoher, völlig faltenloser Stirn und immer rosig angehauchten Wangen. Deshalb, und weil sein kahler Scheitel halbmondförmig von einem Kranze schimmernd weißer Haare umgeben war, nannten wir ihn den beschneiten Rosenhügel. Sehr viel Platz nahm in seinem Gesichte die kühn gebogene Adlernase ein. Er scherzte oft über ihre Größe und behauptete, sie habe nur eine Rivalin in Wien, die des berühmten Orientalisten Freiherrn Hammer von Purgstall. Eine der beiden Anekdoten, die wir oft von ihm hörten, handelte von diesen beiden Nasen. Ihre Träger sollten einst, auf allgemeines Verlangen, aus der Blumenausstellung entfernt worden sein. Der köstliche Duft, der in ihr herrschte, wurde von den gewaltigen Gesichtsvorsprüngen der beiden Herren gänzlich aufgesogen, und die anderen Besucher hatten sich beschwert, daß nichts davon für sie übrigbliebe.

Die zweite Anekdote handelte von Perlen und war nicht erfunden.

Der Fürstin Melanie Metternich, der Gattin des Staatskanzlers, waren aus Paris einige so vorzüglich nachgemachte Perlen zugeschickt worden, daß kein Juwelier sie von echten zu unterscheiden vermochte, natürlich ohne sie zu berühren und auf ihr Gewicht zu prüfen. Diese Gelegenheit, Fladungs Kennerschaft, die für unfehlbar galt, auf die Probe zu stellen, wurde von der Fürstin ergriffen. Sie legte drei Perlen vor ihn hin und sagte:

»Zwei davon sind falsch. Wenn Sie die echte herausfinden, gehört sie Ihnen.«

Welch eine Verheißung! Die Perle wäre jedenfalls ein beneidenswerter Besitz gewesen, aber hier handelte es sich um mehr, um etwas, das, einmal verloren, nicht wiederzugewinnen ist: den Ruf der Unfehlbarkeit. Er kämpfte, er wollte um Entschuldigung bitten. »Perlen schlagen ja doch nur auf einem weiten Umweg in mein Fach«, erklärte er uns, »gewissermaßen nur als wertvolle Schmuckgegenstände. Aber trotzdem fuhr ich fort, die drei liebevoll zu betrachten, denn sie waren entzückend schön. Und heiß ist mir geworden, und immer habe ich gedacht: Mein Ruf! mein Ruf! … Nun, ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Eine von den dreien war etwas weniger makellos in der Form, hatte etwas weniger Orient … und doch … ja, von ihr ging eine eigene Anziehung aus … Und plötzlich war mir’s klar: Die ist’s … Sie war’s, und mein Ruf war gerettet, und sie wurde mein!«

Freund Fladung war der erste überzeugte Beschützer meines schriftstellerischen Gestammels, von dem ich ihm einige Proben vorgelegt hatte. Aus eigenem Antrieb, ohne mein Wissen, sprach er mit meinen Eltern, machte sie aufmerksam, daß er Talent zur Poesie in mir entdeckt habe, und riet, es zu pflegen.

Hätten sie doch gefragt, wie sie das anfangen sollten, und mir dann seine Antwort mitgeteilt! Da wüßte ich, wie die meine in ähnlichen Fällen zu lauten hätte. Das Kind, das Talent zu einer darstellenden Kunst besitzt, schickt man in eine Schule, in der sie gelehrt wird. Für das schriftstellerisch veranlagte Kind gibt es, Gott sei Lob und Dank! noch keine in Mauern eingeschlossene, mit Lehrsälen und Professoren ausgestattete Schule. Nur das Handwerk seiner Kunst könnte ihm beigebracht werden, und dieses lernt jeder am besten allein. Bücher, die vom Erlernbaren handeln, stehen ihm in Hülle und Fülle zur Verfügung; er mag aus jedem nehmen, was ihm entspricht und was er verwenden kann. Es wird nicht viel sein. Jede Dichterindividualität, wenn sie auch nicht zu den großen gehört, hat von Natur aus ihr eigenes Gepräge und gibt es der Form, in der sie sich in oft schwerem Ringen auszugestalten sucht. Der Geist baut sich selbst sein Haus; was er von fremden Baumeistern lernen kann und soll, ist nur das Alphabet der Kunst.

So meine ich, und so habe ich allmählich ein großes Mißtrauen gegen die »Pflege eines schriftstellerischen Talentes« durch andere gefaßt, besonders durch Familienmitglieder, die selbst nicht ein paar gereimte Zeilen zusammenbrächten und das Kind, das Verse aus dem Ärmel schüttelt, für ein gottbegnadetes Wesen halten, dessen Genie aufgepäppelt werden muß.

In den hinterlassenen Memoiren meines Mannes findet sich eine völlig ungerechte Selbstanklage. »Der Vetter, der gelehrte Studien trieb«, sagt er, »wollte das geringe Wissen seiner kleinen Base, deren Phantasie goldene Brücken über den Abgrund schlug, der das Wollen vom Können trennt, bereichern und benahm sich dabei höchst albern und ungeschickt.«

Gegen diesen Ausspruch protestiere ich aus allen meinen Kräften. Der geliebte und verehrte Vetter hat das einzig Rechte getan, er hat mich den Wert der Bildung ermessen gelehrt und den heißen Wunsch in mir erweckt, die klaffenden Lücken der meinen auszugleichen. Es war die größte Förderung, die er mir angedeihen lassen konnte, und nur zu danken habe ich. Nicht nur ihm, auch allen, die meinen Bestrebungen Hindernisse in den Weg legten. Sie ahnen nicht, wie oft mein Gedanke sie segnet. Selbst daß ich mich im Kampfe um ein höchstes Gut zu manchem Irrtum und mancher Übertreibung verleiten ließ, hat schlechte Früchte nicht getragen. Die Zeit heilte und half und wandte zum Guten, was sich anfangs als verfehlt dargestellt hatte. Je härter und widerwilliger der Boden war, in dem das Bäumchen meiner Kunst Wurzel schlagen mußte, desto fester stand es, und je grausamer die Mißerfolge gewesen sind, die jeden Schritt am Beginn meiner Laufbahn bezeichnet haben, desto enger schloß sich das Bündnis zwischen mir und meinem vielbestrittenen Talent.

 

Der Sommer des Jahres 1843 war der letzte, den unsere Großmutter Vockel noch mit uns in Zdißlawitz verlebte. Meine Schwester und ich hatten uns an sie viel inniger angeschlossen seit dem Austritt Marie Kittls aus unserem Hause. Sie war – das bemerkten wir, obwohl sie nie auch nur eine Silbe darüber verlor – mit der neuen Gouvernantenwahl, die Mama getroffen hatte, nicht zufrieden. Ich fühlte deutlich, wie genau unsere Ansichten in diesem Punkte zusammentrafen, und bewahrte dabei dasselbe Schweigen wie sie. Aber die Stille des Einverständnisses zwischen der Großmutter und der Enkelin befestigte nur ihr Bündnis. Weniger Worte sind zwischen zweien, die einander lieben, wohl nie gemacht worden, und nie haben zwei sich besser verstanden. Immer mit der einen einzigen Ausnahme: weder von meinen Gedichten noch von meinen Theaterstücken durfte ich vor meiner Großmutter etwas verlauten lassen. Wohl faßte ich mir einmal ein Herz und sagte ihr:

»Weißt du, Großmama, ich schreibe noch immer«, und wartete gespannt auf den Eindruck, den mein Bekenntnis machen würde. Er schien gering zu sein und äußerte sich bloß durch ein Achselzucken und durch die mit leiser Ungeduld ausgesprochenen Worte: »Nur gescheit!«

Sie sagte das oft und in der verschiedensten Weise. Liebreich, indem sie mir mit ihren feinen Fingern über die Wangen glitt, streng, wenn sie unzufrieden mit mir war. Lob und Tadel, Aufmunterung und Warnung vermochte sie in die zwei Worte zu legen: »Nur gescheit!«

So hatte ich nun doch den abscheulichen Druck vom Herzen, den das Bewußtsein mir verursacht hatte, im stillen etwas zu tun, das sie mißbilligte.

In jenen Tagen verschlang meine Korrespondenz mit Marie Kittl den größten Teil der Zeit, die ich der Ausübung meines »schriftstellerischen Berufes« widmen konnte. Meine Briefe sind – so hoffe ich wenigstens – nicht erhalten. Die ihren befinden sich, vom ersten bis zum letzten, in meinem Besitze. Ich durchblättere sie nicht ohne Grauen. Wieviel verwegenen Unsinn muß ich vorgebracht haben, um meine geduldige Freundin in solche Angst und Bangigkeit zu versetzen! Sie legte meinem Vertrauen übergroßen Wert bei; sie wollte es durch Zurechtweisungen nicht preisgeben. Je besorgter um mein Wohl sie sich aber zeigte, desto ärger werde ich es mit meinem Geflunker getrieben und die lächerlichsten Gedanken und Gefühle an den Tag gelegt haben. Wie die Melodie auch anhob, das Ende vom Lied dürfte doch immer gewesen sein: Staune in mir ein Kind von außerordentlichen Gaben und Fähigkeiten an, das zu großen Dingen bestimmt ist. Wie aus einem Spiegel blickt dieses Wunderkind mir aus den Briefen meiner oft ratlosen Führerin entgegen. Ich sehe einen kleinen Affen, der sich vor Vergnügen darüber nicht kennt, daß seine Grimassen ernst genommen werden. Womit habe ich nicht renommiert! Mit welcher Belesenheit habe ich geprunkt, um Fräulein Marie zu dem Geständnis zu veranlassen, daß meine »Literatur« ihr Sorge mache. Welcher tollkühnen Reiterstücke habe ich mich gerühmt, um den gelinden Tadel zu erfahren: »Je vous admire dans vos exploits, mais je suis loin de les approuver.« Sie fürchtet nicht nur, daß ich mir den Hals breche beim Reiten und Kutschieren, sondern auch, daß ich durch das Führen der Zügel die Ruhe und Leichtigkeit der Hand verliere. Und wie sehr brauchte ich sie, um die Gemälde, an denen ich arbeitete, auszuführen!

Die leiseste Mißbilligung, zu der meine Freundin sich aufgerafft hat, begräbt sie sogleich wieder unter einem Blumenregen von Zärtlichkeiten und Schmeicheleien. Einem: »Ma petite Maritscherl a aussi ses défauts«, folgt sogleich ein entschuldigendes: »Les défauts de son âge.« In den Augen der Übernachsichtsvollen bin ich »une petite styliste, une jeune personne délicieuse, intelligente«, und man darf es ihr sagen, weil sie viel zu gescheit ist, um sich dadurch verwöhnen zu lassen.

Ja, dieser Ton gefiel mir, der tat wohl! Von mir aus dürfte denn auch das Mögliche geschehen sein, um mir die Bewunderung und die Teilnahme meiner gläubigen Getreuen zu sichern.

Auf Kosten der Wahrheit? – Ohne Frage. Und doch würde ich mich sehr gewundert haben, wenn mich jemand eine Lügnerin genannt hätte. Zu allem anderen bildete ich mir auch noch ein, daß mein Vater, der sich den »Ritter der Wahrheit« nannte, seine heiße Wahrheitsliebe im vollen Maße auf mich übertragen habe. Auch log ich im Grunde nicht, ich erlebte ja, während ich schrieb, alles, was meine Briefe von meiner interessanten Persönlichkeit aussagten.

In einer wundervollen Novelle erzählt Isolde Kurz die Geschichte eines Knaben, mit dem umzugehen seinen Altersgenossen verboten wird, weil er für einen Lügner gilt. Alle Kinder halten sich von ihm fern; nur ein junges Mädchen schließt sich ihm an und schenkt ihm Glauben, als er ihr verspricht, sie in ein schönes, geheimnisvolles Reich zu führen, zu dem er den Zugang entdeckt hat. Die beiden begeben sich oft auf den Weg dahin, ohne je ans Ziel zu kommen. Nach einiger Zeit trennt sie das Leben, der Knabe stirbt, und viele Jahre später steht seine ehemalige Spielgenossin an seinem Grabe. Längst entschwundene Erinnerungen leben auf, und sie sagt sich: Auf diesem Denkmal sollte stehen: Hier ruht ein Dichter.

Eine Analogie ist da zwischen diesem Knaben und dem großsprecherischen Kinde, das ich gewesen bin. Wir spiegelten den anderen vor, was unsere Phantasie uns vorgespiegelt hatte.

Von langer Dauer sollte meine erträumte Herrlichkeit aber nicht sein. Ich stand am Morgen der bittersten Tage in meiner Kinderzeit.

Ehe wir Wien verließen, hatte Freund Fladung meiner Schwester und mir seine beiden letzten Werke geschenkt. Fritzi erhielt eine kleine römische und griechische Götterlehre, ich einen Leitfaden der Astronomie. Das Büchlein war hübsch eingebunden; ich stellte es neben meinen Schiller auf den höchst einfachen Tisch, den ich mit dem Namen »mein Sekretär« dekoriert hatte, und beeilte mich, Fräulein Marie mitzuteilen, daß ich jetzt auch Astronomie studiere. Um mich vor mir selbst nicht zu sehr schämen zu müssen, schlug ich den zierlichen Band auch wirklich auf.

Was las ich da gleich auf der ersten Seite? Nicht so, wie der Katechismus es lehrte, war die Welt erschaffen worden. In Perioden von unermeßlicher Dauer erst hatte unsere Erde sich aus einem feuerflüssigen Ball, der die Sonne umflog, zu dem schönen Planeten gestaltet, den wir bewohnen. Der Katechismus irrte und auch die kleine Bibel, die wir auswendig gelernt hatten und in der es hieß: »Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, daß sie schienen auf die Erde …«

Nein, nein, dazu nicht! Die waren nicht geschaffen, damit wir uns an ihrem Anblick erquicken und erbauen. Die waren für sich selbst erschaffen und die meisten von ihnen soviel größer als die Erde, wie sie größer ist als ein Stäubchen, das im Sonnenstrahle tanzt.

Und auf diesem Stäubchen, was bin dann ich? Ein tödlicher Schmerz ergriff mich bei der Frage, auf die ein Gefühl trostloser Verlassenheit, völligen Vernichtetseins antwortete.