»Es heißt, wissen S’, daß er den Heger erschossen hat.«

»Es heißt! Es wird wohl nicht nur heißen.«

Der Alte schwieg eine Weile, dann sah er Paul von der Seite an, zeigte lachend zwei Reihen Zähne, gelblich wie Elfenbein und fest wie eine Mauer: »Ja sehen S’, ich sag …« Er spreizte die Finger auseinander und setzte seine Hand in eine langsam wiegende Bewegung: »Es kann sein – und es kann auch nit sein.«

»Ich kenn euch!« sprach Paul.

»So?« fragte der Bauer, und in dem einen Worte und dem Blicke, womit er es begleitete, lag eine ganze Reihe spöttischer Zweifel.

Paul fuhr eifrig fort: »Ihr seid immer dieselben! Von der Wilddieberei könnt ihr nicht lassen. Heute wie vor zwanzig Jahren wird nur so hineingehauen in unsere Wälder, werden unsere Wiesen abgegrast …«

»Die meinen auch«, sprach Balthasar.

»Und wo bleibt der Respekt vor fremdem Eigentum? Wann werden die Leute endlich lernen, daß ein Unterschied ist zwischen Mein und Dein?«

Der Alte zog seine Pfeife aus der Tasche und begann ruhig sie zu stopfen. Sie waren jetzt in die Nähe der Schule gekommen. Vor der Tür stand ein junger Mensdi, schäbig, aber stutzerhaft gekleidet, und schäkerte mit einer frech aussehenden Dirne.

»Das ist der neue Schullehrer«, sagte Balthasar in nachlässigem Tone.

– »Der? Der junge Bursch? Der kann ja selbst die Schule nicht absolviert haben.«

»Hat’s auch nit.«

»Wieso? Ist er relegiert worden?«

»Es heißt, daß er, wissen S’, drinnen in der Stadt aus dem Schulzimmer oder von wo Maschinen mitgenommen hat, um dran zu studieren. Aber – vergessen muß er haben, daß sie ihm nit gehören, denn sonst –« sprach Balthasar mit einer pfiffigen Harmlosigkeit, die des größten Schauspielers würdig gewesen wäre –, »denn sonst hätt er sie ja nit verkaufen können.«

»Das wißt ihr?« rief Paul, »und den macht ihr zum Schullehrer? Den duldet ihr?«

»Wir haben ihn nit grad ausgesucht, aber er hat halt ›Prodektion‹, und wenn er einmal dasitzt, bringt ihn selbst unser lieber Herrgott nit weg, das müssen Sie auch wissen, Herr Graf«, setzte Balthasar hinzu, zufrieden mit dem Eindruck, den das Streiflicht hervorbrachte, welches er auf die Ortszustände geworfen.

»Eure Schuld, wenn er dasitzt… Jetzt habt ihr ihn, könnt eure Kinder zu ihm in die Schule schicken!«

»Ich schick die meinen nit.«

»Ihr schickt sie nicht? Existiert vielleicht kein Schulzwang in Sonnberg?«

»Ich zahl halt Straf«, antwortete der Bauer mit ruhigem Lächeln. »Ich kann’s ja tun.«

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander, beide in Gedanken nicht angenehmer Art versunken.

»Wenn die Frau Gräfin«, sagte der Alte auf einmal und fuhr unwillkürlich mit der Hand nach dem Hute, »wenn die Frau Gräfin noch am Leben wäre, so was wär nie geschehen … Und hier –« setzte er in plötzlich verändertem Tone hinzu – »tät es auch anders aussehen!«

Er deutete auf den großen, mit verschwenderischem Luxus erbauten Meierhof, dem sie sich allmählich genähert hatten.

Paul meinte, das könne man doch nicht wissen, aber daß es hier nicht aussehe, wie sich’s gehöre, sei allerdings ausgemacht. In der Tat, darüber konnte kein Zweifel herrschen. Das Vieh in schlechtem Stande, die Gebäude vernachlässigt, die kostbaren Maschinen, die Paul aus England geschickt hatte, zwar noch nicht benützt, aber schon beschädigt, im Freien, jedem Unwetter ausgesetzt, während der Schuppen daneben mit elendem Gerümpel angefüllt war. Alles schmutzig, unordentlich durcheinandergeworfen, alles verwahrlost und weder Knecht noch Magd sichtbar, kein Mensch in der Nähe, den man hätte fragen können: Wie geht das zu?

Balthasar steckte die Pfeife, ohne sie jedoch anzuzünden, zwischen die Zähne, stemmte beide Arme in die Seiten und sagte: »Die Frau Gräfin ist tot, die alten Herrschaften sehen nix mehr – und Sie …« Sein Mund verzog sich ironisch: »Sie haben halt gar zuviel zu tun!«

 

Im Amtshause, das von dem Meierhofe nur durch die Straße getrennt war und das mit seinen zwei Geschossen, seiner verzierten Fassade und seinem französischen Dache einem Schlößchen glich, wurde es plötzlich lebendig. Ein Fenster im ersten Stocke war eröffnet und so rasch wieder zugeschlagen worden, daß die Trümmer zerbrochener Scheiben klirrend zu Boden fielen. Darauf entstand in dem Hause eine Bewegung wie in einer überrumpelten Festung, und endlich erschien auf der Schwelle ein großer, breitschultriger, sehr dicker Mann. Sein Gesicht hatte die Form und den Umfang eines Tellers und die Farbe einer Feuernelke. Als Balthasar den Herrn Verwalter kommen sah, machte er sich eilig von dannen. Die langen Schöße seines Rockes flogen hinter ihm her und waren anzusehen wie die Flügel eines Nachtfalters. Er rückte vor dem Verwalter kaum den Hut, und dieser erwiderte den kurzen Gruß mit auffallender Freundlichkeit. Hingegen vergab er seiner Würde dem Herrn Grafen junior gegenüber nicht ein Jota.

»Der Herr Graf sind da«, sprach er bitter und vorwurfsvoll, »begeben sich stante pede in die Ökonomie, ohne mich haben avisieren zu lassen. Ich darf die Gnade nicht haben, teilzunehmen an der Inspektion.«

»Nur eine Morgenpromenade, lieber Vogel. Allerdings bin ich nicht erbaut von dem, was ich bisher sah und hörte«, erwiderte Paul, teils ergötzt, teils geärgert durch die gewundenen Reden des feierlichen Herrn, den dessen feinfühlende Gemahlin »mein opulenter Mann« zu nennen pflegte.

»Ah – – Insinuationen!…«

»Davon ist nicht die Rede, aber werfen Sie doch nur einen Blick um sich!«

»Das tue ich täglich«, entgegnete der Herr Verwalter mit einem Selbstbewußtsein, als ob es auf Erden nichts Ruhmvolleres geben könne, als Blicke um sich zu werfen. »Jeden vom Dache gefallenen Ziegel, jede gestohlene Latte, Herr Graf, Sie finden sie wieder – im Wirtschaftsjournal. Aber jedoch adaptiert, restauriert darf nichts werden. Wir haben strikten Enthaltungsbefehl. ›Tun Sie nichts ohne meinen Sohn!‹ ist des Herrn Grafen stets von neuem wiederholt erteilte Weisung, der sich fügsam zu erweisen nicht immer ganz leicht fällt.«

»Weniger wörtlich befolgt wäre der Befehl besser befolgt«, versetzte Paul. Er hatte den Rückweg angetreten und eilte rasch vorwärts, belästigt durch die Begleitung des Herrn Verwalters, dem es, wie sein schnaubender Atem verriet, schwer wurde, mit ihm Schritt zu halten.

Am Ausgange des Dorfes befanden sich einige elende Baracken: die sogenannten »herrschaftlichen« Arbeiterwohnungen. Der Wind blies durch ihre zerklüfteten Mauern, die Scheiben ihrer kleinen Fensterchen waren zerbrochen oder erblindet, die Löcher in ihren halb abgedeckten Dächern gemahnten an aufgerissene hungrige Mäuler. Den Vordergrund des Jammerbildes bildete eine Pfütze, in der eine zahlreiche Kinderschar mit einem Vergnügen herumpatschte, das gewisser Geschöpfe würdig gewesen wäre, die mit mehr Beinen und mit weniger Gottähnlichkeit ausgestattet wurden als das menschliche Geschlecht.

»Unsere Arbeiterwohnungen!« rief Paul entrüstet – »durfte auch hier nichts hergestellt werden?… Es war schon der Wunsch meiner verstorbenen Frau, daß sie niedergerissen und an ihrer Stelle neue, geräumigere errichtet würden.«

Der Verwalter lächelte: »Hauptsächlich aus Moralitätsgründen. Die Frau Gräfin nahmen Anstoß daran, mehrere Personen unterschiedlichen Geschlechtes in nicht unterschiedlichen Lokalitäten unterbringen zu lassen. Die hochgeborene Frau vergaßen, daß derlei hier überall vorkommt. Wir haben Wohnungsnot in Sonnberg. Die Leute sind es gewöhnt, und warum sollte es der Arbeiter besser haben als der Bauer? Es würde schlechtes Blut machen, zu befürchten geben … Auch kann niemand der Gutsverwaltung zumuten, sich zur Tugendwächterin der Bevölkerung aufzuwerfen, und haben die Leute ihren eigenen Standpunkt – wie der Herr Graf dereinst selbst der hochseligen Frau Gräfin zu bedenken zu geben geruhten.«

So war’s. Mehr aus Widerspruchsgeist als aus Überzeugung hatte Paul damals die Forderung abgewiesen, die seine Frau an ihn gestellt, eindringlich im Namen der Menschlichkeit. Einen Augenblick war er nahe daran gewesen, einzuwilligen, denn im stillen gab er ihr recht. Aber war er der Mann, der gemahnt zu werden brauchte an die Erfüllung einer Pflicht? – Würde er sie als solche anerkennen, ihr wäre längst Genüge geschehen. Demnach hatte Paul ein rasches Ende gemacht, erklärt, er wolle von der Sache nichts mehr hören, und über die Subjektivität der Weiber gespottet, die immer sich, immer nur sich in die Lage der andern versetzen können und unfähig sind, irgendein Verhältnis anders als persönlich zu beurteilen.

»Mitleid ist Schwäche!« hatte er ausgerufen, plötzlich aber innegehalten, weil ihm ein Zweifel an der Unbestreitbarkeit dieses Satzes aufgestiegen war, weil ihn beim Anblick des Schmerzes, den sein Starrsinn verursachte, eine Regung überkommen hatte, derjenigen beinahe ähnlich, die er soeben verdammt …

Die junge Frau jedoch, wie hatte sie in seiner Seele zu lesen gewußt! Das leise, kaum eingestandene Gefühl, das zu ihren Gunsten sprach, wie war es sogleich von ihr erraten, wie dankbar sein Erwachen begrüßt worden! Wie hatte sie, mit neubelebter Hoffnung auf den Sieg ihrer guten Sache, die Arme um den Hals ihres Mannes geschlungen, den Kopf an seine Brust gedrückt, voll zärtlicher Begeisterung zu ihm emporgesehen und ihm zugeflüstert: »O du Schwächling!«

Ja, ja, sie war anmutig gewesen und hold. – –

Paul fuhr auf aus seinem Sinnen. »Nehmen Sie an«, sprach er zu seinem Begleiter, »daß ich heute anders denke als zu jener Zeit, daß ich einsehe – kurz, suchen Sie die Pläne zu den Arbeitshäusern hervor, die meine Frau damals zeichnen ließ. Der Bau soll sogleich in Angriff genommen werden.«

Der Beamte steckte mit Würde die Hand in seine Weste. »Herr Graf scheinen einen Systemwechsel vorzunehmen zu beabsichtigen. Vielleicht intensive Wirtschaft, was hier nicht geht!… Wovon Herr Graf sich selbst genugsam überzeugten und was ich mehrmals die Gnade hatte zu bemerken, dereinst bei unvergeßlichen Gelegenheiten, in denen mir das Unglück widerfuhr, mir das Mißfallen der hochseligen Frau Gräfin zuziehen zu müssen.«

Ein hämischer Zug verunstaltete seine feisten Lippen, sooft er von der Verstorbenen sprach.

Dieser hoffärtige Mensch hat sie gehaßt und grollt ihr noch nach dem Tode. Er verzeiht es ihr nie, daß sie so manchen Kampf gegen ihn siegreich geführt. Siegreich, denn sie war stark, mutig und verständig, dachte Paul, und entließ den Herrn Verwalter mit einigen trockenen Worten.

 

Der Graf und die Gräfin erwarteten ihren Sohn zum Frühstück im Saale, beide nach altem Brauche sorgfältig gekleidet vom frühen Morgen an. Sie im grünen, glatten Seidenkleide, das nur wenig über die Knöchel reichte und die ausgeschnittenen, kreuzweise gebundenen Schuhe sehen ließ. Die lichten Locken, zu beiden Seiten der Stirn aufgesteckt, das feine Gesicht mit den milden Augen, von einer weißen Haube umgeben, die ganze Gestalt wie aus einem Rahmen eines edlen, aber verblaßten Bildes getreten, das vor dreißig Jahren gemalt worden war. Ihr Mann, der sie einst um Kopfeslänge überragte, sah jetzt nicht größer aus als sie. Seine breite Brust war eingesunken, seine Schultern hatten sich gewölbt. Aber schön geblieben waren die herrlichen Züge seines Gesichtes. Den kahlen Scheitel des wie aus Erz geformten Hauptes umgab ein Kranz von schneeigen Haaren, und wie weiße Seide schimmerte der Bart, der auf die Brust des Greises niederwallte.

Der Graf stand am Fenster, auf seinen Stock gelehnt, und sprach: »Er ist schon draußen, schon seit sechs Uhr, sieht sich um, wird Befehle geben, Einrichtungen treffen, alles nach der neuen Art, alles anders als zu unserer Zeit und tausendmal besser. Ja, der versteht’s! Der Vogel wird sich freuen, daß er einmal wieder etwas lernen kann.«

Die Gräfin meinte, dies sei ohne Zweifel der Fall und könne nicht schaden; es gäbe so manches zu tun in Sonnberg, und gewiß, ein gewöhnlicher Mensch fände hier ein überreiches Feld für seine Tätigkeit, aber für Paul ist das alles zu kleinlich, zu gering, der bescheidene Beruf eines Landwirts, der füllt einen solchen Mann nicht aus. »Wie lange er wohl bei uns bleibt?« schloß sie ihre Betrachtungen.

»Danach darf man ihn nicht fragen!« rief der Greis. »Du weißt, das kann er nicht leiden. Nur keinen Zwang, nur keine Liebestyrannei!«

Paul war während dieser letzten Worte eingetreten, und man setzte sich an den Frühstückstisch. Er freute sich im stillen über das frischere Aussehen der beiden alten Leute. Die Nachtruhe, die ihnen der Gedanke gar süß gemacht, daß ihr Sohn einmal wieder unter demselben Dache mit ihnen schlafe, hatte sie unsäglich erquickt.

»Bist du zufrieden mit unserer Wirtschaft?« fragte der Graf. »Vogel hält strenge Ordnung, ein braver Mann, das muß man ihm lassen … auch fehlt uns nichts als bares Geld. Das Erträgnis, sagt Vogel, das Erträgnis! – ja, leider. Es wird ihm oft schwer, die großen Regiekosten zu bestreiten.«

– Die Regiekosten? dachte Paul, o lieber Vogel! o lieber – Schurke! Du hast dich sonderbar ausgewachsen. Meine Abwesenheit bekommt dir schlecht. – Er antwortete ausweichend, vorläufig könne er noch keine Meinung abgeben, in einigen Tagen aber, nächste Woche vielleicht …

»Nächste – Woche?!« wiederholten seine beiden Eltern zugleich. So lange bleibt er? O Glück! Sie dachten nicht mehr, ein solches zu erleben. Die Mutter vergaß in ihrer Freude einen Augenblick die stets geübte Zurückhaltung, die sich jede Äußerung der Zärtlichkeit versagte. Sie glitt schmeichelnd mit den Fingern über den auf dem Tische ruhenden Arm ihres Sohnes. Es lag in dieser schüchternen Berührung so viel unterdrückte Liebe, ein so unaussprechlicher Dank, daß Paul innig sprach: »Gute Mutter!« ihre Hand ergriff und an seine Lippen drückte. Die Gräfin warf einen Blick voll seliger Überraschung auf ihren Gatten, dessen Angesicht dieselbe Empfindung aussprach. Sie schienen sich zu fragen: Was ist das? – was ist geschehen? Ist er’s denn noch?

»Je länger du bleibst, um so besser für uns«, sagte der Graf. »Du bist immer willkommen, lieber Sohn.«

Den alten Leuten war seltsam zumute – ungefähr wie frommen verzückten Betern, zu denen der steinerne Heilige, vor dem sie knien, sich plötzlich niederbeugen und Worte des Segens über ihre Häupter sprechen würde.

Die Unterhaltung geriet ins Stocken, das Frühstück war beendet; Paul ging auf sein Zimmer mit der Absicht – an Thekla zu schreiben.

Nur eine Spanne Zeit trennte ihn von dem Augenblick, in dem er Abschied von ihr genommen, es hatte sich darin so gut wie nichts begeben, nicht ein Ereignis, das der Mühe lohnte erzählt zu werden, und doch: ihm schien sie lang und inhaltsreich, diese kurze, stille Zeit; er meinte fast in ihr mehr erlebt zu haben als in seinem ganzen übrigen Dasein. Womit soll er seinen Brief beginnen, den ersten, den er an Thekla schreibt? Meine Gedanken haben Sie nicht verlassen … Eine Lüge! – Ich habe meine Eltern wohlauf gefunden… Was kümmern sie seine Eltern? Diese schlichten Leute werden ihr immer fremd bleiben und sie auch ihnen.

Aber das Kind, dessen Mutter sie werden und das sie lieben lernen soll, von dem will er ihr sprechen. Nur muß man kennen, was man beschreiben will, und er hat die Kleine noch kaum gesehen; wie absichtlich schafft man sie ihm aus dem Wege, erwähnt ihrer nicht, gedenkt es ihm wohl noch, daß er dereinst zu behaupten pflegte, kleine Kinder seien ihm ein Greuel. Das war damals nur halb und ist jetzt gar nicht mehr wahr, Eltern jedoch glauben nichts schwerer, als daß mit ihren Kindern eine Veränderung vorgehen könne. Paul erhob sich, um zu schellen, und in diesem Augenblicke wurde nach leisem Pochen die Tür geöffnet, und sein Töchterchen trat ein. Es klammerte sich dabei mit einer Hand an den Rock seiner Wärterin, in der anderen trug es einen Veilchenstrauß. Einen solchen, ganz so gebunden, legte Marie dereinst täglich auf seinen Schreibtisch: dort hatte er ihn soeben halb unbewußt vermißt.

»Das bringen wir dem Papa«, sprach die Wärterin. Sie beugte sich zu der Kleinen nieder und suchte sich von ihr loszumachen. »Es ist ein guter Papa, geh zu ihm, mein Engel, geh!«

Es entstand ein langer, in flüsterndem Tone geführter Wortwechsel zwischen Mariechen und ihrer Pflegerin, dem Paul damit ein Ende machte, daß er der letzteren befahl, sich zu entfernen.

»Und das Kind?«

»Das bleibt bei mir.«

»Ganz allein? Es ist so scheu – Sie sind ihm so fremd –«

Unwillig wiederholte Paul seinen Befehl, die Frau erlaubte sich keine Einwendung mehr, sie ging bestürzt von dannen, und ihr Zögling, noch viel erschrockener als sie, hatte nicht einmal den Mut, sich nach ihr umzuwenden.

Wie eine kleine Bildsäule blieb Mariechen regungslos an ihrem Platze und senkte das traurige Gesicht tief auf ihre Brust.

Arme, verkümmerte Pflanze! dachte Paul. Wachsest auf zwischen einem geschlossenen und einem schon geöffneten Grabe … Du brauchtest frischere Lebensluft!

Eine Regung mitleidiger Liebe schlich sich in seine Seele; er sah die Furcht, mit der sie unter den gesenkten Lidern hervor jede seiner Bewegungen beobachtete, und wagte nicht, sich ihr zu nähern. Sie voll Angst vor ihm, er voll Bangen vor ihrer Angst – so standen Vater und Tochter einander gegenüber.

Endlich kniete er nieder und sprach mit gedämpfter Stimme: »Mariechen, komm zu mir!«

Das Kind rührte sich nicht, aber die Nerven um seinen Mund begannen zu zittern, ein schwerer Seufzer hob seine Brust, und es brach in unaufhaltsames Weinen aus. Paul ging an seinen Schreibtisch zurück. Sie mag sich ausweinen! Hat ohne Ursache angefangen, wird ohne Ursache aufhören!

Aber die Ausdauer eines schluchzenden Kindes ist ein länger Ding als eines Mannes Geduld. Er wollte die seine nicht verlieren, er hielt sich die Ohren zu, versuchte seine Aufmerksamkeit auf zwei Goldamseln zu lenken, die im Grün der Linde vor seinen Fenstern wie Lichtstrahlen von Ast zu Ast huschten, bemeisterte sich lange, zuletzt aber wandte er sich doch um, sprang auf und herrschte dem Kinde zu: »Schweige!«

Es gehorchte augenblicklich, hielt inne mitten im Schluchzen und sah aus großen, in Tränen schwimmenden Augen erschrocken und flehend zu seinem Vater empor. Und dieser Blick traf ihn wie ein Stoß in das Herz. So hatte die Mutter des Kindes ihn angesehen, damals, als sie zum ersten und letzten Male nein zu ihm gesagt, an jenem Tage, der unwiderruflich über ihr Leben entschied… Da war die Erinnerung wieder, deren er sich mit dem Aufgebote seiner ganzen Willenskraft nicht zu erwehren vermochte, die ihn wie mit einem Zauberbanne umwob, seitdem er den heimischen Boden betreten hatte.

Kann das Weib, das im Leben hilflos zu seinen Füßen lag, ihn nach dem Tode besiegen? Fleht sie aus dem Jenseits zu ihm? sieht ihn mit unvergeßlichem Blicke aus dem Auge ihres Kindes an – ihres kleinen Abbildes… nein, kein Abbild, sie selbst, in jedem Zuge des Gesichtes – in jeder Bewegung sie, so ganz und gar sie selbst, als gäbe es eine rückwärts schreitende Zeit, ein umgekehrtes Leben, das wieder zur Kindheit führt …

Im Innersten erschüttert, hob Paul das Kind in seinen Armen empor und drückte es an sich. Allein der Ausbruch seiner Zärtlichkeit erweckte Entsetzen und dieses seinen Grimm. »Fürchte dich nicht!« rief er in törichtem Zorne, »fürchte dich nicht!« während er sie tödlich erschreckte. Alle Glieder des zarten Körperchens begannen zu zittern, die Augen wurden starr, und in großer Bestürzung setzte Paul das Kind auf den Boden hin. Da blieb es still, mit herabhängenden Armen, das Köpfchen tief gebeugt – auf das Allerschlimmste gefaßt, recht wie ein junges Vöglein im verlassenen Neste, über dem ein Gewitter schwebt … Schon hat der Blitz gezuckt – wann trifft sein Strahl?

O du allmächtige Hilflosigkeit! du wehrlose, vor der alle Kraft des Starken sich auflöst in einen Strom des Erbarmens!

»Sprich«, flüsterte Paul, »sprich nur ein Wort – oder weine, Kindchen! weine – ich bitte dich …«

Sie bleibt still, stumm, leblos … Atmet sie denn? In namenloser Spannung hält er seinen Atem an, um dem ihren besser zu lauschen – – da läßt sich im Nebenzimmer das Trippeln kleiner emsiger Schritte vernehmen, das Gebimmel einer winzigen Schelle… Mariechen horcht plötzlich auf, an der Tür wird ein Kratzen laut, gebieterisch einlaßheischend – und das Kind erhebt den Kopf, ein schwaches Rot tritt auf seine Wangen, es schlägt freudig die Händchen zusammen und – »Kitty!« ruft es aufjauchzend.

Paul öffnete die Tür, und an ihm vorbei schoß ein zottiges Hündchen und sprang mit lautem Gebelle auf das kleine Mädchen zu. Es umhüpfte sie, leckte ihr die Hände und das Gesicht, sprang wieder davon, streckte die Vorderbeine von sich, soweit es konnte, bog das Kreuz ein, bellte, sah sie an und keuchte mit herabhängender Zunge.

Und sie – wie sie es lockte! wie sie es rief mit liebkosenden Namen, wie sie es mit ihren beiden Ärmchen umschlang, seinen Kopf an ihre Brust drückte und wiegte mit ernsthafter Zärtlichkeit.

Ja, dem kann sie schöntun! der steht in ihrer Gunst … Man könnte ihn beneiden … Paul lächelte über seine kindischen Gedanken – es ist weit mit ihm gekommen: er ist eifersüchtig auf einen Hund.

Unmutig schellte er der Wärterin und befahl ihr, die Kleine hinwegzuführen. Er wandte sich ab, als es geschah; was brauchte er zu sehen, wie gern sie von ihm ging?

 

Einmal wohl fällt uns die Liebe vom Himmel, einmal – und nicht wieder. Hast du die Gottesgabe nicht zu schätzen gewußt – jetzt heißt es um sie werben, um sie dienen … Der Veilchenstrauß war auf den Boden gefallen, Paul hob ihn auf und legte ihn neben sich auf den Schreibtisch. Er begann einen neuen Brief an Thekla, aber es stand in den Sternen geschrieben, daß auch dieser nicht beendet werden sollte. Von der Straße herüber drang ein sonderbares Geräusch. Als ob zehntausend Wespen schnarrten, als ob zehntausend Hornissen brummten und dazwischen ein Dudelsack pfiffe, war es anzuhören. Ein Geräusch, in seiner Art nicht minder berühmt als die Luftmusik auf Ceylon, nur besser erklärt von Gelehrten und selbst von Ungelehrten, denn sobald es sich vernehmen ließ, wußte jedermann auf eine Viertelmeile in der Runde: der Freiherr von Kamnitzky fährt über Land! Und was da rasselt, quiekt und stöhnt, es ist seine historische Kalesche. Ein edles Vehikel, ein ehrwürdiges Denkmal aus der Vergangenheit. Wann es erbaut wurde – »die jetzigen Kinder denken’s nicht!«

In Form und Farbe glich es der Hälfte eines Tiroler Apfels und war mit dunkelbraunem Tuche – das aber aus neuerer Zeit stammte, denn es zählte keine fünfundzwanzig Jahre -gefüttert. Es schwebte in wolkennaher Höhe auf Schneckenfedern, ein mächtiger Radschutz hing an schwerer Kette unter dem Kasten. Vorgespannt waren ein paar dicke, kurzhalsige Schimmel mit Beinen wie Säulen; ansehnliche Gäule, die, nach dem Zeugnis ihres Herrn, »einmal ins Kugeln gekommen, einige Meilen auf oder ab nicht weiter regardierten«.

Der Freiherr von Kamnitzky hatte immer einen Spaß auf den Lippen und ein paar Silbergulden in der Tasche, war deshalb sehr beliebt bei der Dienerschaft in Schloß Sonnberg, die sich um die Ehre riß, den Schlag seiner Kalesche zu öffnen und das aus mehreren Stufen bestehende Trittbrett herunterzuschlagen. Kamnitzky war eben im Begriffe, diese fliegende Treppe zu betreten, als Paul aus dem Schlosse geeilt kam, um ihn zu begrüßen.

»Was der Teufel!« rief der Freiherr und blieb wie versteinert stehen.

Paul half ihm herab: »Ich werde dich doch nicht umsonst nach Wien reisen lassen«, sagte er.

»Umsonst nach Wien? mich? – sei so gut und sag das deinen Eltern – umsonst … O das ist wieder – o freilich … verzeih, aber so albern reden doch nur gescheite Leute«, rief Kamnitzky voll Entrüstung und versäumte auch diese Gelegenheit nicht, den »gescheiten Leuten« eins anzuhängen.

Er fragte einen Diener – nicht Paul, mit dem sprach er vorläufig kein Wort mehr –, wo der Herr Graf sich befinde, und wünschte angemeldet zu werden. Eine Höflichkeit, die er nie außer acht setzte, ebensowenig als der Graf jemals versäumte, ihm darüber Vorwürfe zu machen. Aber es geht eben nichts über eine gute, altgewohnte Art, das Gespräch anzuknüpfen, und so wurde denn auch heute wie immer der Gastfreund mit den Worten empfangen: »Sich anmelden lassen? Alter Mensch, was fällt dir ein?«

Bei Tische war Kamnitzky lustig bis zur Ausgelassenheit, aß und trank ansehnlich, machte die schlechtesten Witze, ohne ein einziges Mal darüber zu erröten. Seine gute Laune und sein guter Appetit erweckten das innigste Wohlgefallen der alten Leute. In Bestürzung jedoch gerieten sie, als er nach dem Speisen begann, über die Regierung zu schimpfen; sie besorgten sehr, Paul könne das übelnehmen.

»Er meint nicht dich«, sagte der Greis beruhigend zu seinem Sohne.

»Bitte um Verzeihung! Wohl mein ich ihn und sein ganzes, ihm nachbetendes Gelichter«, rief der erregte Freiherr.

Er stellte sich mit dem Rücken an den kalten Kamin, versenkte beide Hände in die Hosentaschen und setzte seinen Oberkörper in regelmäßige Schwingungen. Die Schöße seines Rockes, die er unter den Armen hielt, bewegten sich dabei wie zwei schwarze Ruder in der Luft. Er hatte den Kopf zurückgeworfen und eine lange Virginia zwischen die Zähne geklemmt, die wie gewöhnlich nicht ins Glühen kommen wollte. Sein kühnes Gesicht drückte die höchste Kampflust aus.

»Euch alle mein ich, politische Doktoren, Verjüngerer, Verbesserer des Staates, Baumeister … ja, saubere Baumeister!… Flicken einen Riß in der Mauer, reparieren am Dache und merken nicht oder tun, als ob sie nicht merkten, daß die Fundamente wanken… Wißt ihr, wie das Fundament heißt, auf dem ganz allein ein festes Staatsgebäude sich errichten läßt? Rechtsgefühl. An dem fehlt’s bei uns … Gesetze macht ihr? Zeitvergeuder! Gesetze haben wir genug, aber die Leute, die sie befolgen, die sollen noch geboren werden. – Was Gesetze! sagen wir. Gesetze kommen vom Staat, der unser Feind ist, der den einzelnen auffrißt, wie Ugolino seine Kinder auffraß – um ihnen den Vater zu erhalten. Vorteil, dauernden für den Wohlhabenden, augenblicklichen für den armen Teufel, auf den gehen wir aus. Wie’s dem Allgemeinen, dem großen Ganzen tut, das – hol’s der Kuckuck! Was kümmert’s uns?«

Er hielt inne, dunkelrot und keuchend, und fuhr sogleich wieder heftig fort: »Bevor dieses Kampf-ums-Dasein-Evangelium ausgerottet ist, heißt all eure Tätigkeit salva venia nichts!… Aber freilich – wer steigt gern vom First in den Keller… und daß der First von selbst zum Keller kommt, dazu hat’s ja für euch noch keine Gefahr… Wäre auch eine verfluchte Arbeit da unten. Getan müßte sie werden, und verschüttet, und wieder getan, und wieder verschüttet; und hundertmal das scheinbar Vergebliche zu tun, müssen ein paar hundert Männer den Heldenmut haben, die Heldenkraft!… Ein stilles Wirken – unscheinbar, unbewundert. Ein Leben voll Müh und Selbstverleugnung ginge drauf, und wenn’s zu Ende wäre, spräche keiner: Seht hin, was der geleistet hat! – Viel später erst, ein Enkel deiner Enkel freute sich vielleicht: – Sieh da, die Luft wird rein – das Volk wird brav; es gibt Handwerker, die Wort halten, ehrliche Krämer, einsichtige Bauern. Wer hat die Saat zu diesen bescheidenen Tugenden ausgesät unter uns?… Das haben – von langer Hand her – schlichte Männer getan, die sich geplagt haben, redlich, im Dunkel der Niedrigkeit, wohin kein Strahl des Ruhmes dringt; ihre Namen weiß man nicht …

Wen reizt ein solcher Lohn?! Es ist zum Lachen – der lockt keinen Hund vom Ofen, geschweige denn einen glänzenden Redner von der beifallumrauschten Bühne herunter!«

Die alten Leute horchten verblüfft und hielten die Augen auf ihren Sohn gerichtet.

– Er läßt den kindischen Menschen faseln, dachten sie, plötzlich wird er sprechen und ihn schlagen, mit einem Wort. Aber Paul schwieg und sagte endlich nur: »Man könnte dir zwar manches einwenden, allein im ganzen hast du so unrecht nicht.«

Seine Eltern sahen einander lächelnd an: – O dieser Paul! – Welche Güte, welche Nachsicht mit dem armen streitsüchtigen Toren, der aus seinem Mausloch die Welt reformieren will. Kamnitzky jedoch wurde nun völlig wild.

»So unrecht nicht?« rief er. – »Wahrhaftig?… Da meint man immer: Wenn man nur einmal einen von ihnen erwischen könnte und zur Rechenschaft ziehen, gleich hieße es: Das alles wissen wir besser als du! Wollen helfen, werden’s schon… Wir kennen unser Ziel – den Weg dahin, den zu wählen überlasse uns – davon verstehst du nichts. Das wär ein Wort, das sich hören ließe! Aber: Du hast recht… Schämt euch … das ist ein schöner Trost!«

»Geh – geh«, sagte Paul, zog ein Feuerzeug aus der Tasche und hielt Kamnitzky ein brennendes Zündhölzchen hin, an dem dieser mit unsäglicher Mühe seine Zigarre wieder für einige Augenblicke zum Glimmen brachte.

»Na«, sprach er nach einer Weile, »nichts für ungut.« Er wurde plötzlich sehr rot und sehr gerührt, reichte Paul die Hand und beteuerte, daß sie »deswegen doch« die Alten bleiben würden. Bald darauf nahm er Abschied, und Paul mußte ihn ein Stück Weges in seinem Wagen begleiten. Hier fühlte der Freiherr sich als Wirt und entfaltete eine hinreißende Liebenswürdigkeit. Nachdem sie sich getrennt hatten, erhob sich Kamnitzky in seiner historischen Kalesche und winkte seinem Freunde, solange er ihn noch sehen konnte, mit seinem bunten großen Taschentuche die freundlichsten Grüße zu.

 

Zurückkehrend durch die hallenden Gänge, kam Paul an den Gemächern vorüber, die seine Frau bewohnt hatte. Er blieb stehen, legte die Hand auf die Türklinke, sie gab seinem Drucke nach – ein kurzes Zögern, ein kurzer Kampf mit sich selbst, und er setzte seinen Fuß auf die Schwelle, die er nicht mehr betreten hatte, seitdem der Tod sie überschritten. – So vergessen sind diese Räume, daß man nicht einmal daran denkt, sie abzuschließen; der Zerstörung anheimgefallen, dem unablässigen ruhelosen Kampf der Natur gegen jedes Werk der Menschenhand. Paul war auf einen traurigen Anblick gefaßt, aber er hatte geirrt. In den stillen Gemächern zeigte sich nicht eine Spur des Unbewohntseins. Sie lagen freundlich da, von den Strahlen der untergehenden Sonne erleuchtet. Der Abendhauch schwebte durch die geöffneten Fenster über die reichgefüllten Blumenkörbe, durchwürzte die Luft mit zarten Düften, bewegte die weißen Vorhänge. Spiegelblank glänzten die Dielen, Teppiche waren allenthalben ausgebreitet, jede Kleinigkeit befand sich an ihrem gewohnten Platze; alles war so sorgsam geordnet, so liebevoll gepflegt, als wenn auch hier täglich, stündlich eine Wiederkehr erwartet würde.

Langsamen und leisen Schrittes ging Paul durch das Vorzimmer, den Salon und betrat das Schlafgemach.

Bei seinem Erscheinen erhoben zwei Personen sich rasch von dem Kanapee in der Tiefe des Zimmers, und Entschuldigungen flüsternd glitten sie hinaus wie Schatten.

Seine Eltern!…

Sie feiern hier ihre Feste der Erinnerung, finden einen Widerschein entschwundenen Glückes in der Betrachtung von Gegenständen, die der Verstorbenen gedient, ihren teuersten Besitz ausgemacht haben. Sie lebt ihnen in dieser Umgebung, lebt in ihrem liebsten Gedanken, in dem Gedanken an ihn, von dem hier alles Zeugnis gibt. Er war der Gott dieses stillen Heiligtums, aus dem die Priesterin geschieden ist. Wohin er blickt, tritt ihm sein Bild entgegen – als rosiges Kind, als Knabe mit Peitsche und Ball, als Jüngling im Studentenrocke mit leuchtenden Augen und kühn zurückgeworfenem Haar, als Mann in der Ruhe der Kraft, im Vollbewußtsein ungemessenen Selbstvertrauens … Das war er als Bräutigam, und ein verwelkter Myrtenkranz hängt an dem Rahmen des Bildes.

Das altertümliche Glaskästchen in der Ecke enthält Erinnerungen an ihn, Geschenke von ihm. Sie hat alles mit gleicher Sorgfalt bewahrt. Die Wiesenblume, auf einem Spaziergange gepflückt, und das Diamantenkreuz, das er ihr am Hochzeitstage gab, hatten für sie denselben Wert.

Ja, über dieses Herz hat er geherrscht … da war er Gebieter – Schicksal… Ein ungütiger Gebieter, ein hartes Schicksal!

Der hohe Schrank am Pfeiler war geöffnet; ihre Bücher standen darin. Eine kleine, aber auserlesene Schar. Mit stolzen Geistern hatte sie verkehrt, die bescheidene Frau. Paul schlug einen oder den andern Band auf; ein Wort an den Rand geschrieben, eine flüchtige Bemerkung, an und für sich nichts, aber bedeutungsvoll durch die Stelle, an welcher sie stand, bewies, daß ein sehendes Auge auf diesen Blättern geruht. Dieses junge Weib, fast noch ein Kind, ganz allein auf sich selbst angewiesen, hatte sich mit mutigem, wahrheitsuchendem Verstand an ernste Lebensfragen herangewagt, hatte den erratenden Blick besessen, der sich ohne Zögern mit rascher Sicherheit auf das Wesen der Dinge richtet. Ihr Geist, den Paul so hoffärtig übersah, war ein dem seinen ebenbürtiger gewesen. Wie herrlich hätte diese reiche Seele sich entfaltet im Sonnenschein der Güte, im milden Hauche des Verständnisses …

Zu spät – zu spät erkannt!

Ich war allein in deinen Armen, ich starb vor Sehnsucht an deiner Brust, tönten die Stimmen der Stille; das Leblose beseelte sich, um es ihm zuzurufen in den verlassenen Räumen, in denen der Atem ihrer Liebe ihn umwehte.

Oh, daß sie lebte! eine Stunde nur, nur einen Augenblick! so lange nur, daß er ihr sagen könnte: Ich weiß jetzt, was du littest – ich erfuhr es auch!

Aber es ist vorbei, sie ruht in einem Frieden, den nichts mehr stört, nicht einmal ein Gedanke der Liebe, der sie einst beseligt hätte, nicht einmal ein Schrei flammender Reue – nicht einmal das Schmerzenswort, das Erlösungswort: Verzeih!

Paul warf sich in den Lehnsessel vor dem Schreibtische und stützte den Kopf in seine Hand. Da blitzte ein leuchtender Punkt ihm entgegen, ein letzter Sonnenstrahl fiel herein und streifte den vergoldeten Schlüssel, der an der Schreibtischlade stak. Langsam zog er ihn heraus. Der feine Staub, der gleichmäßig verteilt auf allen Gegenständen lag, die sie enthielt, bewies, daß sie nicht geöffnet worden war – lange nicht. Vielleicht nicht mehr, seitdem die Verstorbene den Brief hineingelegt, der ihm zuerst in die Augen fiel: sein letzter, eiliger Abschiedsgruß. – »Ich kann nicht mehr kommen, wir marschieren morgen«, hieß es darin. Das Papier war zerknittert, einzelne Buchstaben waren verwischt… Wie viele Küsse mußten darauf gebrannt haben, wie viele Tränen daraufgefallen sein! – Die Hand zitterte, mit der Paul den Brief beiseite legte und, mechanisch eine Mappe öffnend, in derselben zu blättern begann. Zwischen anderen Papieren fand er ein zur Hälfte beschriebenes Blatt – Mariens wohlbekannte Schriftzüge, das Datum: drei Tage vor ihrem Tode, die Aufschrift: »Lieber Paul!«

 

»Du hast fort müssen ohne Abschied. Ich dachte wohl, daß es so kommen würde, und das hat mich neulich feige gemacht. Jetzt bin ich stark und mutig, wie du es warst und leicht sein konntest, weil du dachtest, ich seh sie alle in wenigen Tagen wieder.«

 

Nein – er hatte es nicht gedacht, er hatte sie betrogen. Er war mit dem Entschlusse gegangen, vor der langen Trennung nicht wiederzukehren, er wollte sich nur den Ärger und die Pein eines tränenreichen Abschieds ersparen.

Sie kämpfte heldenmütig mit sich selbst, aber daß sie kämpfen mußte, schon das verdroß ihn. Unwillig wandte er sich ab, mit harter Stimme wiederholend: »Weine nicht!«

Ach, sie gehorchte ja. Sie blickte ihm mit starren, trockenen Augen nach, kein Laut des Schmerzes drang aus ihren festgeschlossenen Lippen. Nur die Arme streckte sie unwillkürlich nach ihm aus, beugte sich vor – inbrünstig flehte ihre stumme Gebärde: O komm zurück!

Er hatte sich an der Tür flüchtig umgesehen, und flüchtig hatte ihr Anblick ihn gerührt… fast wäre er umgekehrt, hätte ihr einen Abschiedskuß gegönnt, fast wäre er schwach geworden. Aber er unterdrückte die unmännliche Regung, er blieb stark, er ging – der Unglückselige!…

Er las weiter.

»Eine große Ruhe ist über mich gekommen, eine göttliche Zuversicht. O wüßtest du, wie gut ich weiß: Du wirst mich lieben! Um des Kindes willen, mein Paul, das ich dir bei deiner Rückkehr in die Arme legen werde. Dieser seligmachende Glaube hilft mir über die Trennung hinweg, erfüllt mich mit freudiger Stärke. Du mein alles, mein Herr, mein Freund, ich erlebe die Stunde, in welcher dein erwachtes Herz mir entgegenschlägt, deine ganze Seele mir zuruft: Komm!«

 

»So komme denn!« rief Paul mit einem wilden Schrei. Er sprang auf, er streckte in wahnsinniger Sehnsucht die Arme aus. Beschwörend, Unmögliches erflehend erhob er sie zum Himmel und ließ sie dann plötzlich sinken mit einer Gebärde der Verzweiflung. Da ergriff es ihn, schrecklich, hoffnungslos -eine Erkenntnis, nie wieder auszurotten, eine Reue, nie zu stillen, ein unentrinnbarer Schmerz: Du hast Unschätzbares besessen und nicht zu würdigen gewußt. Er erbebte am ganzen Leibe, er preßte die Hände an seine schweratmende Brust …

Draußen in den Bäumen begann es leise zu rauschen und sich zu bewegen, eine frische Luftwelle strich durch das Gemach. Vom Garten herauf ertönte das fröhliche Lachen des Kindes. Paul raffte sich zusammen, ging festen Schrittes auf das Lager zu und schlug die Vorhänge auseinander. – –

… Seine Eltern erwarteten ihn in banger Sorge. Eine Stunde war, zwei Stunden waren vergangen. »Neun Uhr«, sagte der Vater. Die Gräfin legte ihre Arbeit weg, ergriff sie wieder, rang angstvoll die Hände in ihrem Schoße.

»Wo bleibt er?« nahm der Greis wieder das Wort – »noch immer bei ihr?«

Die Gräfin erhob sich und verließ schweigend das Zimmer.

Sie kam nach einigen Augenblicken mit verstörter Miene zurück.

»Was ist geschehen?« fragte ihr Mann, der ihr ganz außer Fassung entgegenkam.

»O Karl! er liegt auf den Knien vor ihrem Bette und weint.«

 

Am folgenden Tage schrieb Paul an Gräfin Marianne einen warmen Brief; er erging sich darin nicht in Selbstanklagen, er sprach nicht von einem heißersehnten Glück, das er der Pflicht zum Opfer bringen müsse. Einfach und lebendig schilderte er den Eindruck, den die Heimkehr ins Vaterhaus auf ihn hervorgebracht, und gestand, daß er Thekla nicht zumuten könne, das Leben zu teilen, welches er von nun an zu führen entschlossen sei.

Die Antwort blieb aus. Acht Tage später jedoch stellte Fürst Klemens sich in Sonnberg ein. »Sie versteht dich, sie, die alles versteht, nur nicht – mich zu lieben«, sprach er zu Paul. »Und Thekla, nun wir wissen ja – Statue! Gleichgültig übrigens ist es ihr nicht. Ich aber, so leid mir’s tut, ich meine: besser spät als zu spät.«

Sein Aufenthalt war von kurzer Dauer. Gräfin Neumark hatte sich bereits nach Wildungen begeben, und er brannte vor Ungeduld, ihr dahin zu folgen, wozu ihm zum erstenmal die Erlaubnis erteilt worden.

»Ich nehme Alfred mit«, sagte er … »Weißt du, daß meine Absicht ist, dem Burschen jetzt schon das Majorat abzutreten? – Warum soll ich ihn warten lassen auf meinen Tod? Und dann – eine Gräfin Neumark möchte ich Fürstin Eberstein werden sehen. Die Mutter will nichts davon wissen, vielleicht daß die Tochter… Darüber indessen ist jetzt nicht an der Zeit … Und du wirst ja hören –«

Der Fürst empfahl sich bei den alten Leuten, die ganz entzückt waren von seiner Liebenswürdigkeit, und küßte die kleine Marie, die sich’s gefallen ließ, denn das scheue Vögelchen war in den letzten Tagen fast zutraulich geworden.

Am Ausgange des Parks, wohin der Wagen bestellt worden war, nahmen die Freunde Abschied. Als die Equipage in die Biegung der Straße einlenkte, wandte Klemens den Kopf zurück, um Paul noch einmal zu grüßen; aber dieser war bereits umgekehrt und ging seinem Töchterchen entgegen, das mit offenen Armen auf ihn zugelaufen kam.