Der alte liebe Freund, der mir sein Büchlein so arglos in die Hand gelegt, hatte nicht geahnt, welchen Sturm es erregen würde. Auch war es nicht das erstemal, daß ein Begriff der Unermeßlichkeit des Weltalls mir hätte aufsteigen können. Wenn Onkel Moritz uns in Zdißlawitz besuchte, stellte er an hellen Abenden ein Fernrohr auf, das sonst wohlverwahrt in Papas Zimmer ein nutzloses Dasein führte, und ließ uns den Mond betrachten, den Saturn mit seinem Ringe, den Jupiter mit seinen Satelliten. Er hatte uns auch gesagt, daß unsere Erde an der Sonne und am Monde Bilder ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft vor sich habe. War ich damals noch zu kindisch, um mir über diesen Ausspruch Gedanken zu machen? Habe ich nicht gefragt, hat mein Vetter mir nicht Rede gestanden? Ich wußte es nicht mehr, klar wurde mir nur: Wenn ich mich seiner Worte auch entsann, ihre Bedeutung begriff ich erst jetzt. Die Erde wird sterben, wie der Mond gestorben ist. War sie denn nicht dein Lieblingskind, mein Gott, weil du deinen eingeborenen Sohn geschickt hast, um die Menschen zu erlösen … Die Menschen? was sind die? Dasselbe jeder, was ich bin: ein Hauch, über ein Stäubchen geweht, ein Nichts in der Unendlichkeit. Wie hatte ich mich gefühlt, als ich noch zum gestirnten Himmel emporsah und dachte: Auch mir zur Erquickung und Freude hat euch Gott der Herr ans Firmament gesetzt, ihr blinkenden Lichter, Edelsteine aus seiner Krone, himmlische Smaragde, Rubine und Diamanten! Und jetzt kreisten sie dort oben, in Zahlen nicht auszudenken, in unermeßlichen Fernen und furchtbarer Größe – kalt, hoffärtig und fremd. Ihn aber, der dies Unermeßliche geschaffen hatte, wie durfte ich wagen, ihn Vater zu nennen? Er war mir entrückt, und mitten im Gebet bedrängte mich die Frage: Gelangt meine Stimme bis zu ihm? Weiß er von mir? Habe ich einen allmächtigen, gütigen Vater, der die Haare auf meinem Haupte gezählt hat, der meine Leiden kennt, dem ich danken darf für jede Freude? … Danken, das ist das Schönste … Wie oft, wie oft hatte ich innegehalten, mitten im Spiele, mitten im Jagen und Tollen, um, erfüllt von einem unaussprechlichen Glücksgefühl, wortlos Gott zu danken für dieses Glücksgefühl, für die Bäume, die Blumen, den Sonnenschein, für alle Schönheit, alles Licht, das er über seine Welt, meine Welt ergossen hatte … Und nun sollte es aus sein? – Kein Dank mehr! Mein Dank drang ja nicht zu ihm – er wußte nicht von mir … Bei Tage wurde ich Herr über meine schweren Gedanken, zu schwer für einen Kinderkopf. Wenn ich aber des Nachts erwachte und sie kamen, da war ich ihre Beute. Oft konnte ich mir nicht helfen und schrie laut im Schmerze meiner Zweifel. Meine Schwester, aus dem Schlafe gerissen, fuhr erschrocken auf und wollte wissen, was mir sei. Und ich beruhigte sie: »Nichts, gar nichts – ich habe nur von etwas Schrecklichem geträumt.« Da wußte ich im voraus: gleich wird meine geliebte Furchtsame den Kopf unter die Decke stecken und rufen: Erzähl mir’s nicht! Erzähl mir’s nicht!

Am Morgen sah ich dann blaß und elend aus, und Fritzi sagte: »Sie hat wieder einen so bösen Traum gehabt.«

Nicht bei ihr und bei keinem konnte ich Hilfe holen in meiner Seelenqual. Ich glaubte jedes Wort zu hören, das sie, das jeder der Meinen mir entgegnen würde, wenn ich versuchen wollte auszusprechen, was mich beängstigte und verwirrte. Und den Brief, den ich von meiner Marie bekäme, nachdem ich sie eingeweiht hätte in meine Bekümmernisse, den meinte ich auch ungeschrieben lesen zu können.

So blieb denn nur mein geistlicher Führer – Pater Borek.

Zu ihm kam das Kind, das ihm schon von der ersten Beichte an Sorge bereitet hatte. Nicht losgestürmt kam es. Leise und zagend kam es heran. Hohe Röte stieg ihm in die Wangen, und die Zunge klebte ihm am Gaumen, als es fragte, ob Hochwürden auch wisse, daß Gott die Erde nicht in sechs Tagen geschaffen, sondern dazu ungeheuer lange Perioden gebraucht habe.

Nein, wirklich, davon wußte Hochwürden nichts; aber woher mir diese Kenntnis kam, hätte er gern erfahren.

Ich holte den Quell herbei, aus dem ich meine Gelehrsamkeit geschöpft hatte, Fladungs Leitfaden der Astronomie. Pater Borek las nur den Titel und sagte lächelnd, dieses Buch hätte ein Mensch geschrieben; es sei besser, sich statt an menschliche an die göttliche Weisheit zu halten. Was wir zu wissen und zu glauben haben, hat uns Gott durch seine Propheten in den heiligen Schriften geoffenbart. Daß er sich einem Gelehrten geoffenbart hätte, war dem geistlichen Herrn nicht bekannt, und ihm auf diesem Wege beizukommen unmöglich. Er glaubte an die Heilige Schrift, nicht an die Astronomie, und er tat sie ab mit dem einen Worte: »Menschenwerk.« Nun hatten sich zu meinen Zweifeln an der biblischen Schöpfungsgeschichte noch andere gesellt. Ach sie kamen in Scharen! Außer den Nouvelles heures à l’usage des enfants besaß ich jetzt auch einen kleinen, bilinguenen Paroissien Romain, der mich instand setzte, unserem Pater Borek, wenn er uns die Bedeutung der einzelnen Vorgänge bei der heiligen Messe rekapitulieren ließ, die betreffenden Stellen in der majestätischen und melodischen Sprache der Kirche herzusagen.

Da waren viele, die mir zu denken gaben, vor allem die Worte bei der Konsekration: »Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti …« Ich konnte es nicht verstehen. Wenn die ersten Menschen wirklich vorzüglich gewesen wären, wie hätten sie sündigen können, wie hätten sie den unbegreiflichen, unentschuldbaren Ungehorsam gegen Gott begehen können? Er hatte ihnen das Paradies geschenkt, war zu ihnen gekommen, die Glückseligen hatten sein Angesicht gesehen und seine Stimme gehört … Und mehr als dem, was diese göttliche und liebevolle Stimme ihnen sagte, hatten sie dem Gezisch einer elenden Schlange geglaubt und über ihrem scheußlichen Anblick den des Allgütigen vergessen? Die das vermochten, die waren nicht in einem Zustande der Vollkommenheit geschaffen worden; das war ein Widerspruch, über den ich nicht hinwegkam, so dringend Pater Borek mich auch beschwor, das unselige Grübeln aufzugeben. Ich aber hatte gar nicht das Bewußtsein, daß ich grübelte. Ich dachte ja nur nach, und dann kamen die Zweifel von selbst; sie fielen mich an, ich empfand einen physischen Schmerz dabei, wie neulich während der Wandlung … Da war es entsetzlich gewesen, da hatte es mich ergriffen: Bist du bei uns, mein Heiland? Es sind auf der Erde Millionen Kirchen, und in hunderttausend wird vielleicht in diesem Augenblick zur Wandlung geläutet, und überall sollst du in Brotgestalt erscheinen. Bist du auch bei uns? bist du da, mein Heiland? Und warum fühl ich’s nicht? warum fühle ich nicht deine Nähe?

Pater Borek hörte diese Bekenntnisse in stiller Ergebung an; er zürnte mir nicht, aber traurig hatte ich ihn wieder gemacht. Meistens nahm er dann seine Zuflucht zu dem Wunder und wiederholte eindringlich: »Mein Kind, wir sollen das Wunder verehren, an das Wunder glauben, aber nicht fragen: Wie kann das sein? Wäre es denn ein Wunder, wenn es sich erklären ließe?«

Nie ein hartes Wort, kaum je ein tadelndes. Nie eine Andeutung, daß es außer der guten Macht auch eine böse gebe, einen unheimlichen Versucher, der frevelhafte Gedanken in uns erwecke, unsere Andacht störe und irrezumachen suche in unserem Glauben – nie eine Warnung vor dem Teufel.

»Mein Kind, ich werde morgen in der heiligen Messe recht andächtig für Sie beten.«

So sah seine Strenge aus.

Wenn ich dann am Sonntag in die Kirche kam und ihn, der für mich beten wollte, an den Altar treten sah, war’s vorbei mit Grübeln und Zweifeln. Da war ich nichts anderes als ein demütiges kleines Geschöpf, das auf den Knien lag in Anbetung des Herrn der Welten. Ich freute mich der Kämpfe und Leiden, die der schönen Stunde vorangegangen waren, mit denen ich sie vielleicht hatte erkaufen müssen: Schick mir nur Leiden, ich will ja leiden, klang mein Gebet immer aus.

Daß meine angeborene und unverwüstliche Fröhlichkeit sich auch während jener Werdetage bei mir eingefunden hat, muß ich der getreuen nachsagen. Sie kam höchst überraschend, manchmal in ganz unpassenden Augenblicken, und sie ließ sich nicht verleugnen wie die Verzweiflungsanfälle. Und wenn meine Schwester mich erstaunt fragte, warum ich heute gar so lustig sei, konnte ich ihr keine Ursache dafür angeben. Ich hatte ein herrliches Gefühl von Glück – ich hatte es – »halt so«; es war das beste, das es gibt, das grundlose.

 

Ein Glück, das Grund hat,

Geht mit ihm zugrunde stündlich,

Und nur ein grundlos Glück

Ist tief und unergründlich.

 

sagt Hieronymus Lorm so weise wie schön.

Die Zeit der Schulferien war da und brachte uns unsere Brüder heim. Der ältere entwickelte sich zu dem, was man bei uns einen »Prachtbuben« nennt; der jüngere, immer gleich schmächtig und gleich kampffreudig, hatte an dem Erstgebornen einen Schutzengel, der ihn nie aus den Augen ließ, für ihn einstand, den kleinen hitzigen Angreifer auch im ungerechtesten Streite verteidigte. In diesem Jahre wurden die Knaben von einem alten Herrn begleitet, einem emeritierten Erzieher und großen Kinderfreund. Er war von hoher, hagerer Gestalt und zu gebrechlich, um an unseren Spielen teilzunehmen, bildete aber einen wohlwollenden Zuschauer und Kampfrichter. Sehr gern wohnte er auch dem Reitunterrichte bei, den Papa, der selbst ein vorzüglicher Reiter war, uns erteilte.

»Sie machen das gut, Sie machen das gut«, bekamen wir dann oft von ihm zu hören, und dabei bewegte er die langen Zeige- und Mittelfinger der längsten Hand, die ich je gesehen habe, vor unseren Gesichtern auf und ab. »Ja, wenn Sie alle Lektionen mit solchem Eifer nehmen würden, da hätten Ihre Lehrer bessere Zeiten.«

Unseres Fräuleins Karoline nahm er sich väterlich an, verwies mir meinen Übermut und ihr ihre Gereiztheit; während seiner Anwesenheit herrschte immer Frieden zwischen uns.

Traurig, daß die Tage, die unsere Brüder in Zdißlawitz zubrachten, nur – das war genau ausgerechnet! – nur zwölf Stunden hatten. Sie verflogen doppelt so schnell wie alle anderen Tage. Gar so bald war der Morgen wieder da, an dem die angehenden Gymnasiasten ins Institut zurückkehren mußten. Sie haben dort keine besonders guten Zeiten verlebt, aber nicht geklagt, denn sie waren tapfere kleine Buben. Trotzdem wußten Fritzi und ich genau, wie ihnen ums Herz war, wenn sie in den Wagen stiegen, der sie zur Bahnstation bringen sollte. Noch ein Händedruck, noch eine Umarmung, noch ein tröstendes Wort Papas: »Wir sehen uns bald wieder!« und fort waren sie … Wir standen noch eine Weile im Hofe und winkten mit den Taschentüchern, wenn der Wagen aus dem Tore fuhr, im Bogen am Gartengitter vorbei, und nun rasch auf der abwärts führenden Straße hinunterrollte. Dann liefen wir, und die kleine Sophie mit uns, in das Zimmer Großmamas, an das Fenster, an dem ihr Arbeitstischchen vor dem Bild der hingegangenen Levrette stand, und begleiteten die Reisenden in Gedanken. Jetzt sind sie am Ende des Schloßberges angelangt, jetzt geht es links eine Strecke auf ebenem Wege zwischen Feldern und Obstbäumen am Wassergraben vorbei, an dem die jungen Pappeln stehen, an der Wiese, auf der die vielen Gänse weiden. Und jetzt kann man den Wagen noch im Flug erblicken, und die Brüder sehen vielleicht gar uns am offenen Fenster. Die kleine Sophie meint, wenn sie uns sehen, können sie uns auch hören, und ruft: »Adieu, meine Brüder!« und schwenkt wieder ihr Tüchlein. Noch ein zweitesmal wird der Wagen sichtbar, ganz klein, ganz fern, wenn er den Berg hinauffährt, den letzten, auf dem wir eine Fahrstraße noch auszunehmen vermögen. Und die uns dort entschwinden in der Ferne, die beiden, die wenden sich jetzt gewiß noch einmal zurück und sagen zueinander: Da sieht man’s noch, das Schloß … Grüße fliegen hin und her durch die Luft, Grüße einer Liebe, die felsenfest gestanden hat in der verrinnenden Zeit, unwandelbar im wechselvollen Leben.

Es war eine epochemachende Neuerung, daß jeder, der in Zdißlawitz einen Brief erwartete, ihn täglich erhalten konnte. Erst seit wenigen Jahren befand sich ein Postamt in unserer Nähe. Früher mußte der Bote vier Stunden weit nach dem Städtchen Wischau pilgern, um die für das Dorf und das Schloß bestimmten Postsendungen abzuholen. Er setzte sich nur zweimal wöchentlich in Bewegung, und was er dann regelmäßig außer einem Räuschchen mitbrachte, das waren einige Nummern der Wiener und der Brünner Zeitung. Wenn auch Briefe eintrafen, galt das schon als ein kleines Ereignis. Papa öffnete sie nie vor Tische. Er muß das Lesen von Briefen als etwas Appetitverderbendes angesehen haben. Beim schwarzen Kaffee erst nahm er die Schriftstücke zur Kenntnis, nachdem er ihr Äußeres sorgfältig geprüft hatte. Einmal kam ein schmaler schwarzgesiegelter Brief auf dünnem Papier aus Paris. Die Adresse war mit einer feinen Perlschrift geschrieben, die dem Papa nicht ganz fremd schien; es konnte wohl die Madame Dufoulons sein. »Lies«, sagte er, reichte Mama den Brief, und sie las eine Weile schweigend. – »Nun, was schreibt sie?« – »Es wird euch traurig machen«, war die Antwort, »und tut auch mir sehr leid. Der arme Just, das arme Kind – und seine noch viel ärmere Mutter!«

Madame Dufoulon teilte die Nachricht vom Tode ihres lieben Sohnes mit. Ein Nervenfieber hatte ihn dahingerafft, wenige Monate, nachdem er so glücklich gewesen war, eine Stellung zu finden, die ihn instand gesetzt hätte, seiner Mutter und seiner Schwester eine kräftige Stütze zu sein … Das war eine grausame Verschärfung der Bitternis dieses Verlustes. – Ich kam von der Frage nicht fort: Was wird geschehen, was wird man tun?

Es wird geschehen, man wird tun, was in solchen Fällen das Gewöhnliche ist. Man wird, von Mitleid erfüllt, einen ungemein warmen und herzlichen Brief schreiben, man wird noch einige Male sagen: Der arme Just, seine arme Mutter, was wird sie jetzt wohl anfangen? und dann – vergessen. Man wird … ich werde! Mit peinlichem Selbstvorwurf ergriff mich der Gedanke an Frau Krähmer. Wie lange hatte ich mich ihrer nicht mehr erinnert, die dasselbe Schicksal gehabt wie Madame Dufoulon. Auch sie hatte alle ihre Hoffnung auf den Sohn gesetzt, der ihr weggestorben war, bevor sein verheißungsreiches Leben sich zur Blüte entfalten konnte.

Es war Spätherbst geworden, und vor unserer Abreise wollten wir noch etwas ausführen, was meiner Schwester als eine Pflicht gegen unseren Freund und Spielgefährten erschien.

Eine Viertelstunde weit vom Schlosse, aber schon zum angrenzenden Dorf gehörend, befand sich eine Schlucht. Sie war von einem dünnen Wasserfaden durchzogen und mit Buschwerk dicht überwachsen, aus dem einzelne schlanke Bäume hoch emporschossen. In ihrer Eile, der niedrigen Umgebung zu entragen, hatten sie sich nicht Zeit genommen, unterwegs Zweige auszusetzen; all ihren Blätterschmuck entfalteten sie erst in der Krone, und die wurde ihnen manchmal zu schwer. Wenn ich sie ansah, mußte ich an meinen Schiller denken mit seinem Kranz. Ganz gerade stand keiner von ihnen; nach verschiedenen Richtungen hin hatte der Wind sie gebogen. Mitten in der Schlucht ist ein kleiner freier Platz, und da befindet sich ein kapellenartig übermauertes Brünnlein. Zwei steinere Stufen führen durch den schmalen Eingang zu seinem Wasserspiegel. Im Dunkel sieht das Wasser so schwarz wie Tinte aus; ins Glas geschöpft, ist es kristallklar, und ihm wird die Kraft zugeschrieben, Augenleiden zu heilen.

Einige Schritte von dem Fußsteig entfernt, auf dem man vom Felde aus steilab zum Brünnlein gelangt, steht eine Buche …

Du alte Königin, weißt du von dem munteren Zeug, das grünt und lebt und sich vermehrt und nichts verlangt, als seines Daseins froh zu werden zu deinen Füßen und unter deinem Schutze? Weißt du von den Emporstrebenden, die der Ehrgeiz treibt, dir in deinen erhabenen Wipfel zu schauen und seine Geheimnisse auszuspähen? – Du alte Königin, du Herrscherin, wie du dastehst vor meinem geistigen Auge in deiner Schönheit, deinem Stolze, deiner Kraft, so könnte dich mir zu Dank kein Maler malen, kein Dichter beschreiben. Vor dir, zwischen zweien deiner mächtigen Wurzeln, haben kleine Menschen ein kleines hölzernes Standbild aufgerichtet: die heilige Anna, die ihr Töchterchen lesen lehrt. Kein Kunstwerk und – mehr als ein Kunstwerk für die Armen, die Betrübten, die hierher beten, die Glücklichen, die Genesenden, die danken kommen.

Die Schlucht, in der der wundertätige Quell sich befindet und die herrliche alte Buche sich einst befand, hatte ihren Namen von dem kleinen Standbilde erhalten. Zur »Svatá Anna« wanderten wir als Kinder oft, brachten dort manchen Sommernachmittag zu, und einmal schnitt Monsieur Just seinen Namen in den Stamm der Buche ein. Mit großen Buchstaben, tief durch die dicke Rinde bis aufs Lebendige. Von weitem konnte man lesen, gelbweis herausleuchtend aus dunkler Umrahmung: Just.

Das dürfe man nicht so lassen, meinte Fritzi; jetzt, weil er tot sei, müsse ein Kreuz über den lieben Namen gesetzt werden. Wir bewaffneten uns mit unseren schärfsten Taschenmessern und begaben uns eines trüben Novembermorgens zu der Buche bei der »Svatá Anna«. Eifrig mühten und streckten wir uns, soviel wir konnten, um zu der Höhe hinaufzureichen, in der unser Kreuz angebracht werden sollte. Es war vergeblich, wir mußten uns bequemen, das Zeichen des ewigen Friedens unter den Namen unseres entschlafenen Freundes einzuschneiden.

Heute steht die kleine »Svatá Anna« nicht mehr unter dem Schutze der Buche. Sie haben die Herrliche gefällt und auch die schlanken Bäume in ihrer Nähe und alles Gebüsch fortgeputzt, um mehr Platz zu schaffen für Rüben und Getreide. Gewiß wird bei dem Standbild der Heiligen noch immer fromm gebetet, gewiß noch an die Heilkraft des Wassers im Brünnlein geglaubt. Ich aber meide diese Stelle und habe sie nicht mehr betreten, seitdem die alte Riesin ihren noch grünen Wipfel, der wonneschauernd das erste Morgengrauen begrüßte, der feierlich den letzten Sonnenkuß empfing, zu Boden senken mußte.

Nachdem Fräulein Karoline uns verlassen hatte, fand man Fritzi und mich alt genug, um fortan in Freiheit dressiert zu werden; nur für die kleine Sophie wurde eine Gouvernante aufgenommen: Madame Vaxelaire, die weibliche Hälfte eines Ehepaares, das sich dem Erzieherfache gewidmet hatte. Zu der Zeit, als die Gattin unserem Schwesterchen ihre Sorgfalt widmete, was sie treu und redlich tat, war der Gatte Hofmeister eines Knaben, von dem er stets erzählte, dessen ungewöhnliche Begabung und edle Eigenschaften er rühmte und dem er eine glänzende Zukunft vorhersagte. Er hat recht behalten, denn dieser Knabe hieß: Graf Hans Wilczeck.

An Madame Vaxelaire hatten wir eine äußerst angenehme Hausgenossin. Sie war eine kräftige, wohlwollende Frau, im Besitze des unschätzbaren Vorzuges einer immer gleichmäßig guten Laune. Sehr gesund, nicht mehr jung, machte sie mit ihren roten Wangen und dem gelbbraunen Teint den erfrischenden Eindruck eines schönen Oktobertages. Sie hatte unsere kleine Sophie sehr lieb und nahm sich auch unser freundlich an, obwohl sie gegen Fritzi und mich keine andere Verpflichtung hatte als die, uns täglich auf dem Spaziergang zu begleiten.

Das Stadtleben ging den gewohnten Gang, unsere Lehrer und Lehrerinnen fanden sich wieder ein; nur trat ein neuer Zeichenmeister an den Platz des früheren. Dieser hatte sich leider zu einer kleinen Taktlosigkeit hinreißen lassen. Er wartete eines Vormittags wie gewöhnlich auf uns im Speisezimmer, das während der Zeichenstunde unser Atelier vorstellte. Wir erschienen – ebenfalls wie gewöhnlich – in Begleitung von Mamas Musterkammerjungfer, Fräulein Josefine. Sie hatte die Aufgabe, den Herrn Lehrer zu beaufsichtigen, und nahm die Sache sehr ernst. Als wir an jenem verhängnisvollen Vormittage eintraten und ihn grüßten, kam er uns entgegen, blieb vor meiner Schwester stehen, stemmte den Arm in die Seite und sprach: »Sakerlot, Komteß Fritzi, was haben Sie für Augen! Nein wirklich, mirakulös schöne Augen!«

Wir hätten dem biederen Oberösterreicher diesen Ausdruck einer gerechten Bewunderung verziehen. Die Kammerjungfer hielt es für ihre Pflicht, ihn höheren Ortes anzuzeigen, und wir erhielten einen Zeichenlehrer, noch um ein Jahrzehnt älter als der frühere, der auch kein Jüngling war. Der Nachfolger hatte einen Beethovenkopf. Ich lernte in ihm eines der größten Originale kennen, die mir im Leben begegnet sind. Ein ganz ungelehrter Mensch, der sich in den Wunsch verrannt hatte, Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiete zu machen, und nicht die geringste Freude an der Ausübung des braven Malertalents fand, mit dem er begnadet war. Er überließ seine kleinen Ölgemälde – treffliche Genrebildchen – zu guten Preisen einem Kunsthändler, der sie zu noch viel besseren nach England verkaufte. Der Mann quälte ihn mit seinen Bestellungen, er aber ließ die Arbeit stehen und beschäftigte sich mit abenteuerlichen Entdeckungen. Von ernsten Studien war er ein Feind, er las wenig. »Die Bücher«, war eine seiner Lieblingsbehauptungen, »bringen uns um die Originalität. Auch verdirbt es mir ja die Freude an einem eigenen Einfall, wenn ich erfahre, daß ein anderer ihn vor mir gehabt. Oder vielleicht nicht? was?«

Es war komisch, unseren Zeichenlehrer, während er eine Aufgabe korrigierte, sagen zu hören, daß wir nichts anderes seien als lebendige Leydener Flaschen. Wir meinten, das müsse in irgendeiner Beziehung zur Zeichenkunst stehen; es stand aber in Beziehung zur Physik. »Ja, der Cunäus«, pflegte er seinen Vortrag zu eröffnen, »ein großer Mann – aber er ist bei der Flaschenelektrizität stehengeblieben, bis zur menschlichen nicht vorgedrungen. Und wir sind mit Elektrizität doch ebenso angefüllt wie seine stanniolbeklebten Glasgefäße, und was die Entladung betrifft, für die ist gesorgt. Wenn der Mensch zum Beispiel erschrickt oder wenn er sich zum Beispiel plötzlich verliebt.« Bei dem Worte spitzte Fräulein Josefine die Ohren und ließ ein deutliches Räuspern vernehmen. Er bemerkte es nicht und fuhr fort: »Das wären jähe Entladungen. Allmähliche finden ununterbrochen statt. Sie können sich davon selbst überzeugen. Gehen Sie spazieren durch mehrere Tage nacheinander immer auf demselben Weg. An jedem Tage wird er Ihnen kürzer vorkommen als am vorhergehenden. Warum? Sie haben am ersten am meisten Elektrizität abgegeben an die Erde, die ein mittelmäßiger Leiter ist; am zweiten finden Sie den größten Teil abgegebener Elektrizität auf dem Wege wieder, verbrauchen also weniger von der Ihren, werden also weniger müde, der Weg kommt Ihnen also kürzer vor. Ist das richtig? Oder vielleicht nicht – was?«

Er sah uns dabei so streng an, daß wir es immer richtig fanden.

Ein zweites Steckenpferd bestieg er auch fürs Leben gern. Er schrieb sich – gewiß ohne je eine Zeile von oder über E.T.A. Hoffmann gelesen zu haben – die Fähigkeit zu, Farben zu riechen und zu hören. Blau klingt wie ein Mollton, Rot ist Dur. Farbenempfindung, Tonempfindung werden durch den gleichen Reiz erregt, einfache Farben, einfache Töne. Mit halben Farben, mit allerlei Schattierungen lassen sich Terzen, Quarten, Quinten darstellen. Eines Tages brachte er uns ein gemaltes Farbenklavier mit mehreren Oktaven. Ich war geblendet und freute mich, demnächst vor meinem Vetter Moritz mit den physikalischen Kenntnissen zu prunken, die ich bei der Zeichenlektion erworben hatte. Sie machten aber keinen besonderen Eindruck, und ich erfuhr den Schmerz zu hören, daß die vermeinte Entdeckung des Künstlers, der sich führerlos auf wissenschaftlichen Pfaden umhertrieb, keine sei. »Ein Farbenklavier ist schon zusammengestellt worden«, sagte mein Vetter.

»Schon zusammengestellt – und durch wen?«

»Durch Castel.«

»Und wann?«

»Vor mehr als hundert Jahren.«

Vor so langer Zeit! eine so alte Geschichte hat das Farbenklavier? O Gott! der arme Herr Lehrer wird arg enttäuscht sein, wenn er hört, daß er nicht der alleinige Entdecker dieses mysteriösen Instrumentes ist … Ich versetzte mich in seine Lage und machte im voraus alle Qualen der Beschämung mit ihm durch – zum Glück unnötigerweise; denn er war viel zusehr beschäftigt mit seinen eigenen wissenschaftlichen Leistungen, um von denen anderer Notiz zu nehmen.

Einige Tage später fragte mich mein Vetter, ob es mich interessieren würde, etwas zu hören von den Versuchen, die gemacht worden sind, um die Harmonie zwischen Farben und Tönen nachzuweisen. In seiner klaren und anschaulichen Art beschrieb er den Apparat, den Ruete zusammengestellt hat, um den Eindruck von Farbenakkorden hervorzubringen. Er sprach von Kontrastharmonien, von den Farben, die nur stimmen, wenn sie durch Grau oder Weiß eine Unterbrechung erlitten haben. Solange er sprach, war ich überzeugt, alles gut zu verstehen, was er mir erklärte. Als ich aber darüber nachdachte und es mir zurechtlegen wollte in meinem Kopfe, da merkte ich, daß die neuen Erkenntnisse nicht hineingedrungen waren. Draußen schwebten sie umher als klang – und farbenreiche undeutliche Gebilde.

Mein Zeichenmeister hatte es besser; ihm tönte, wenn er den großen, mit bunten Streifen bedeckten Bogen betrachtete, den er sein Farbenklavier nannte, das Gott erhalte entgegen.

 

In den Briefen meiner treuen Mentorin finde ich einen recht trüben Reflex des Glanzes, in dem ich mich ihr als angehender Shakespeare des 19. Jahrhunderts vorstellte. Sie begann ernstlich besorgt um mich zu werden und schlug einen strengen Ton an. In Bücher gebunden liegen alle ihre Briefe vor mir; wohlverwahrt und ungelesen sind sie jahrelang im Schranke geblieben. Ich habe sie erst wieder hervorgesucht, um sie dem Freunde zur Verfügung zu stellen, der die Geschichte meines Werdegangs mit feiner und liebevoller Hand aufgezeichnet hat.

Jetzt blättere ich oft in den inhaltreichen Bänden, und was mich dabei mit schmerzvoller Wehmut erfüllt, ist das Schicksal ihrer Verfasserin, von dem sie Zeugnis geben.

Marie Kittl ist die erste der vielen gewesen, die mir, je weiter ich fortschritt auf meinem Lebenswege, desto öfter begegnen sollten – der Opfer eines eingebildeten Schriftstellerberufes. Es wurde allmählich meine ständige Qual, mit ansehen zu müssen, wie diese Bedauernswerten, von ihren Aspirationen getrieben und genarrt, taub werden für die dringendste Bitte, den ehrlichsten Rat und wie sie dem widerwilligen Verzichten, mit einem anderen Wort: – der Verzweiflung entgegengehen.

Ich kenne ihre Sehnsucht und weiß, daß sie ebenso unüberwindlich ist wie die der echten Begabung, mit der die ihre noch manche andere Ähnlichkeit und wahrscheinlich denselben Ursprung hat; aber sie leidet an Unzulänglichkeit. Denn nur von Unzulänglichkeit kann die Rede sein. Etwas Talent ist immer vorhanden, ohne Talent macht man gar nichts, nicht einmal etwas Miserables. Aber das vorhandene Fünkchen, ja sogar der Funke wird noch lange nicht genügen, ein Licht daran zu entzünden, das über den Tag hinausleuchten kann. Und nun steht vor mir der ganze Jammer, der sich da vorbereitet, der wachsen und wuchern und traurige Früchte reifen wird. Das peinvoll hastige Streben der Ohnmacht, die mit jeder neuen Arbeit neu aufflackernde Hoffnung, die blutige Enttäuschung nach langem Warten und Harren, endlich die Trostlosigkeit und Erbitterung. Die Menschenliebe erlischt; wie soll man die lieben, die uns nicht gelten lassen? Das Interesse und das Wohlwollen für Mitstrebende verwandeln sich in Gleichgültigkeit und, wenn ihnen ein Glückssternchen aufblinkt, in Mißgunst. Da ist der, und da ist jener, die haben Minderwertiges geleistet und Anerkennung gefunden. Man wägt und vergleicht und legt einen seltsamen Maßstab an; nicht am Großen mißt man sich, nein – am Kleinen. Hat man einmal einen anderen Kleinen oder – wenn ein besonders glücklicher Zufall es fügt – einen Großen scheitern gesehen, dann erwacht die Bettlerin unter den Freuden – die Schadenfreude. Kein wirklicher Balsam und Trost, denn sie entspringt dem Giftquell des Neides, dieses moralischen Gebrechens, dessen fressender Qual sogar der »fanfaron du vice« sich nicht rühmen mag. Lächelnd verbeißt ihn jeder, den er foltert, wie der Spartanerknabe seine Schmerzen verbiß, als ihm der gestohlene Fuchs, den er unter dem Mantel verbarg, die Brust zerfleischte.

Marie Kittl hat allerdings weder Erbitterung noch Neid gekannt, aber unglücklich machten sie ihre immer gescheiterten Versuche, sich schriftstellerisch zu betätigen. Sie stand in reifen Jahren, hatte die Erziehung der jungen, mütterlicherseits verwaisten Fürstin Arenberg vollendet und ihren geliebten Zögling noch zum Altar geleitet. Bald darauf war sie einer Einladung nach Brüssel gefolgt und hatte dort die Stellung einer Gouvernante bei der hochbegabten Tochter König Leopolds, der Prinzessin Charlotte, eingenommen und später die der Vorleserin der Herzogin von Brabant. Es waren sonnige und schöne Jahre, die sie am belgischen Hofe verlebte. Der Wirkungskreis, der sich ihr eröffnet hatte, sagte ihr in jeder Weise zu; er brachte äußere Ehren, für die sie nicht ganz unempfänglich war, und bot ihr Befriedigung ihres innigen Herzensbedürfnisses, die Anhänglichkeit und Liebe ihrer Umgebung zu gewinnen. Auch ihr lang genährter Wunsch, weite Reisen zu unternehmen, erfüllte sich unter den denkbar angenehmsten Verhältnissen. All das Gute erfuhr sie bei der Ausübung ihres wirklichen Berufes, und sie fand ihr Glück in ihm, bis der falsche sein Lügenhaupt erhob und sie umstrickte mit allen Zaubern und Lockungen, über die das Blendwerk verfügt.

Sie begann nach Freiheit zu lechzen, um schreiben zu können, soviel sie wollte. »Meine Flügel«, teilte sie mir mit, »haben sich geregt.« Und sie kamen nicht wieder zur Ruhe, die verhängnisvollen Flügel, deren kümmerlicher Schlag gerade genügte, um ihre Besitzerin hinzuschleifen über Dornen und Gestein. Ihre Geschwister und ich bewunderten, was sie schrieb, weil sie es geschrieben hatte – alle übrigen schwiegen. In ihrem Kreise entstand, wie wir hörten, Verlegenheit, wenn sie kam, der oder jener Hoheit ein neues Werk zu überreichen. Auf eigene Kosten war es gedruckt und prächtig eingebunden und wurde mit höflichem Lächeln hingenommen, denn man achtete Madame Kittl zu hoch, um ihr Lobsprüche über Arbeiten zu erteilen, die ihrer so wenig würdig waren. Sie hat es mir nie gesagt, doch vermute ich, daß der Mangel an Anerkennung für ihre Reisebeschreibungen und Novellen sie bestimmte, den Hof zu verlassen. Diesen Entschluß führte sie unerwartet rasch aus, um den Einwendungen zu entgehen, die sich gegen ihr Scheiden erhoben hätten. In London, wo sie ihren Wohnsitz nahm, erhielt sie den Beweis der treuen Gesinnung, die man ihr am belgischen Hofe bewahrte. König Leopold setzte der Erzieherin seiner Tochter aus eigener Initiative ein ansehnliches Jahresgehalt aus. Marie Kittl befand sich in behaglichen Verhältnissen und konnte leicht einen Teil ihrer Ersparnisse daran wenden, von Zeit zu Zeit einen neuen, hübsch ausgestatteten Band in kleiner Auflage erscheinen zu lassen und einige Exemplare an Freunde zu verschenken. Der Rest stapelte sich auf in den Magazinen ihres Verlegers, und oft klagte sie: »Er tut zu wenig für meine Bücher. Ich finde sie nirgends angezeigt.« So ging es fort, bis die Ersparnisse aufgezehrt waren. In schonendster Weise bemühten sich die ehrlichen unter den Freunden und Verehrern der unermüdlich Strebenden, sie zu bewegen, die Schriftstellerei nur noch als Hausindustrie zu betreiben. Davon jedoch wollte sie nichts hören. Manuskripte gehen mit der Zeit verloren, Bücher, die lange unbeachtet blieben, kommen manches Mal doch ans Licht, und dann wundern sich die Menschen, daß dieser Schatz erst so spät gehoben wurde.

So dachte sie vielleicht im stillen, ich aber hatte die Erkenntnis gewonnen: Für diese Werke gibt es so wenig ein Morgen wie ein Heute. Es ist mir ein Rätsel geblieben, wie meine Freundin, die soviel Lebensweisheit besaß, die ein so richtiges Urteil für fremde literarische Leistungen hatte, über ihre eigenen mit völliger Blindheit geschlagen sein konnte. Sie erzählte vortrefflich, sobald sie aber ans Niederschreiben des Erzählten ging, zerflossen die Begebenheiten, Gestalten, Landschaften wie feuchte Flecke auf Löschpapier. Von ihrer Sprache sagte sie selbst: »Ich weiß, sie ist international.« Daß sich eine kleine Kur vornehmen ließe, davon wollte sie nichts hören. Man hat seinen Stil, wie man seinen Buckel hat, schien sie anzunehmen und wollte Ruhe haben vor der Orthopädie. Das Ende war Entmutigung und doch auch – und darüber kann ich nicht hinwegkommen – ein Zweifel an meiner Hilfstätigkeit. Er hat ihre Freundschaft und Liebe zu mir nicht verringert; aber er war da, ich fühlte ihn. Sie brachte die letzten Jahre ihres Lebens in Wien zu und nahm oft meine Vermittlung bei Redakteuren und Verlegern in Anspruch. Alle Briefe, mit denen ich ihre Manuskripte zurückerhielt, konnte ich ihr nicht zeigen, und doch wollte sie jeden sehen. – Ich wußte oft nicht, welche Notlüge ersinnen, um zu erklären, warum es mir unmöglich sei, ihr die Zuschrift mitzuteilen, die ich in Begleitung einer wieder abgelehnten Einsendung erhalten hatte. Immer schwerer entschloß ich mich, die Botin des abermaligen Scheiterns einer frohen Erwartung zu sein.

»Nicht angenommen? Auch das nicht? Und ich hielt es doch für mein Bestes.«

Mehr sagte sie nicht – aber ich ermaß den Schmerz, den diese heroisch kühlen Worte verbargen.

Und ich sah mich im Zimmer um – und ich war anwesend bei ihrem Mittagessen, und ich wußte, sie empfindet bitter die Dürftigkeit, die aus jedem Winkel dieses Raumes schreit, aus jedem Schüsselchen, das ihr die Hausmagd auf den Tisch stellt. Durch Jahrzehnte hat sie in königlichen Schlössern gewohnt und an königlicher Tafel gespeist. Sie mußte ja leiden, sie mußte! unter dem Kontrast zwischen einst und jetzt …

Nun, sie verriet es nie. – Die Übergütige, die sich zu einem strengen Wort gegen mich nie hatte aufraffen können, wies jede Andeutung an das Glück, das es mir gewähren würde, ihr Dasein behaglicher gestalten zu dürfen, energisch zurück.

»Ich bin ganz zufrieden, ich brauche nichts, schicke mein Manuskript jetzt nur an einen anderen Verleger.«

Und sobald es eine neue Reise angetreten hatte, stiegen die Hoffnungen wieder empor. Eines ihrer Bücher würde ja doch einmal »einschlagen« und dann alle übrigen zu Ehren bringen. »Denke nur, wie lange du gerungen hast um deinen ersten Sieg!«

Sieg! Mir war leicht, ihr zu beweisen, daß es nicht weit her sei mit diesem »Sieg«. Sie hatte hundert Einwendungen, aber ein bißchen wohl tat es ihrem wunden Herzen doch zu hören, daß ihre Schülerin sich nicht in ungetrübtem Ruhmesglanze sonnte.

Sie hat das Bitterste erlitten, das ich weiß: sie hat einen brennenden und unerfüllbaren Wunsch in der Seele getragen. Und noch einen zweiten, einen weniger heißen, aber sehnlichen, hatte sie und betete täglich um dessen Gewährung, die ihr auch zuteil wurde. Ihr Tod war sanft und schmerzlos. Ohne vorhergegangene Krankheit ist sie eines Nachts, nachdem sie sich am Abend zuvor wohlauf und gesund zur Ruhe begeben hatte, aus dem zeitlichen in den ewigen Schlaf gesunken. – Im Traume, im schönen, lichtverklärten Traume, so hoffe ich, du gute Träumerin!

 

Es war wieder Frühling geworden. Die Kastanienbäume im Prater standen im hellsten Flor, auf den Wiesen, die grünten und dufteten, fanden reiche und arme Kinder sich beim Blumenpflücken ein, die einen zum Vergnügen, die anderen zum Erwerb. Es war hauptsächlich auf Veilchen abgesehen. Von denen banden die Mütter der armen Kinder einige Dutzend an einen kleinen Stab, legten ihnen ein Efeublatt als Stehkragen um und boten die Sträußchen zum Preise von drei Kreuzern Konventionsmünze in den Straßen der Stadt aus. Der aufmerksame Gatte brachte der Frau ein »Büscherl« heim, der Bräutigam legte es der Braut zu Füßen, das Kind den Eltern, und welche Freude bereitete das bescheidene Geschenk! – Ihren beliebtesten Standort hatten die Verkäuferinnen am Graben vor dem Trattnerhof, und dieser Alte, mein Gegenüber, mit dem ich von meinem Fenster aus gern Zwiesprache pflege, versichert mir, die kleinen »Praterveigerln« hätten bis zu seinem zweiten Stock hinauf geduftet. Die großen »wällischen Veilchen« hingegen könnten haufenweise an ihm vorbeigetragen werden, er röche nichts davon.

Ich möchte das Körbchen einer Blumenfrau von einst gar zu gern neben dem tragbaren Blumenmagazin einer ihrer Kolleginnen von heute stehen sehen! In dem einen kleine dunkle Urbilder der Lieblichkeit, des Segens, den sie ausströmen, unbewußt, in dem andern alle Farbenglut und Formenpracht südlicher Flora in Glanz und Reichtum prangend. Was hätten die einander zu sagen, die beiden! Kulturgeschichte würden sie reden.

Die Zeit verfloß, die Tage wuchsen und mit ihnen unsere Sehnsucht nach der Rückkehr auf das Land. Sie war für Mitte Mai festgesetzt und allmählich in so nahe Aussicht gekommen, daß man begann, die Koffer vom Boden herunterzuschaffen. Auch die unseren erschienen, und wir machten uns an die köstliche Arbeit des Einpackens und sangen dazu aus vollem Halse nach der Melodie des Volksliedes Da droben auf dem Bergerl mein selbstverfaßtes Reiselied:

 

Adieu nun, du Wien,

Wir fahren hinaus,

Nicht weit in die Fremde,

O nein, nach Zuhaus.

 

Dort steht’s auf dem Bergel

So traurig und denkt:

Wann werden die Kinder

Mir wiedergeschenkt?

 

Sei froh jetzt, mein altes,

Sie sind schon ganz nah,

Gott grüß dich, sie kommen,

Die Kinder sind da!

 

Wohl hatte Fritzi gefunden, das Liedchen passe nicht mehr für uns, und so hatte ich eins für erwachsene Mädchen gedichtet. Das war aber ohne Schwung und sang sich nicht von selbst wie das erste. So blieben wir bei dem.

Unser Festjubel erfuhr eine jähe Störung, die Abreise mußte verschoben werden, denn Großmama war plötzlich erkrankt.

»Nichts von Bedeutung«, versicherte der Arzt, ein Homöopath, der damals in Wien großes Ansehen genoß. »Eine leichte Lungenentzündung; in vierzehn Tagen ist die alte Frau wieder gesund, und dann fahren Sie mit ihr, je eher, je besser, aufs Land!«

In vierzehn Tagen! in vierzehn Tagen erst? – das ist ja so lang, nicht auszudenken, wie lang, das ist ja nicht zu erleben, das Ende dieser vierzehn Tage. Wir waren über diese Verzögerung unserer Abreise so unglücklich, daß wir ihre Veranlassung im ersten Augenblick kaum erwogen. Als aber zwei Tage vergingen, an denen wir die Großmama nicht sehen durften, als es noch am dritten hieß: »Sie hat Fieber, sie hustet und muß Ruhe haben«, begann uns angst zu werden. Auch Papa war besorgt und äußerte Zweifel an der Unfehlbarkeit des berühmten Arztes. Am vierten Tage hatten wir beim Nachhausekommen vom Spaziergang angeläutet an Großmamas Wohnungstür, waren, als sie geöffnet wurde, ins Vorzimmer gedrungen und bestürmten die Kammerjungfer mit Bitten, uns zu melden. Sie brauche nur zu sagen, daß wir da seien, sonst gar nichts. Vielleicht, man könne ja nicht wissen, vielleicht würden wir doch vorgelassen.

Die Kammerjungfer mahnte zur Geduld. Unsere Eltern und der Arzt, die sich schon eine Weile bei Großmama befänden, würden gleich kommen und dann bestimmen, was zu geschehen habe. Als sie eintraten und wir unser Anliegen vorbrachten, wies der Doktor uns barsch ab. Er war in schlechter Laune und fuhr ungeduldig heraus, als Papa Besorgnisse um die Kranke äußerte: »Sehen Sie denn nicht? Es geht ja besser. Ganz gesund wird man in dem Alter doch nicht von einem Tag zum andern!«

Beide Eltern fragten noch: »Also wirklich keine Gefahr?«

»Wenn ich Ihnen sage: nicht die geringste.«

Das war denn schön und beruhigend. Von den vierzehn Tagen, die überstanden werden sollten, bevor Großmama reisen durfte, waren vier vorbei. Zehn noch dazu, und wir sind wieder in unserem lieben alten Neste … Die Lindenbäume wiegen ihre blühenden, duftenden Zweige und die Fichten ihre in die Wolken strebenden Wipfel; wie von einer unsichtbaren Riesenhand gestreichelt, wallen und schmiegen sich wohlig die Millionen Ähren auf den Feldern, die mütterliche Heimaterde qualmt, die Sonne leuchtet, freundliche Augen lachen, und alle, alle sagen: »Grüß euch Gott!«

Nun war der fünfte Tag gekommen – ein Maitag mit Sommertemperatur, auf dem Lande wonnig, in der Stadt für mich ein Kopfschmerzenausbrüter. Sie hatten sich heftig eingestellt, und als die Eltern am Vormittage mit uns ausfahren wollten, bat ich, zu Hause bleiben zu dürfen.

Die Meinen waren kaum fort, als Madame Vaxelaire herbeigeeilt kam, um mir zu sagen, daß Großmama heraufgeschickt habe … Sie wollte Fritzi und mich sehen … und schrecklich – schrecklich – jetzt sei Fritzi nicht da! –

Die Erregung, mit der die gute Frau sprach, entsetzte mich. Was hat das zu bedeuten? Was gab es denn? Ich war aufgesprungen, ich rannte auf den Gang. Dort stand der alte Josef, der gekommen war, uns abzuholen, uns beide, und jetzt mich allein über die Stiege geleitete.

»Nestesti, Nestesti!« war alles, was er auf meine hastigen und angstvollen Fragen erwiderte.

Die Kammerjungfer erwartete mich – tief bekümmert, von Zweifeln und Sorgen zerquält. Sie wußte nicht, ob es recht von ihr sei, mich zur Großmama zu führen. In der Früh, als der Arzt dagewesen war, hatte er unsere Bitten um Einlaß grimmig abgewiesen. Aber die Frau Baronin wolle uns sehen, habe den Befehl, uns zu holen, so bestimmt gegeben – da müsse man ihr doch gehorchen.

Wir gingen in das Speisezimmer und leise auf den Fußspitzen zur Tür des Schlafzimmers. Sie war nur angelehnt und gab meinem zaghaften Drucke nach.

Ich blieb auf der Schwelle stehen.

Die zwei Fenster rechts, die in das Rotgäßchen sahen und zwischen denen am breiten Pfeiler das Bild meiner Mutter hing, waren ganz, das Fenster der Tür gegenüber bis zur halben Höhe verhängt. So konnte die Kranke ein Stückchen Himmel sehen von ihrem Bette aus, das die Mitte der Längswand zur Linken des Eingangs einnahm. Nie anders als eilig und freudig war ich in dieses stille Gemach getreten, und nun bannte eine schwere, beklemmende Bangigkeit mich auf meinen Platz. Von ihm aus sah ich die hochgetürmten Polster, deren Stickereien das Kopfende des Bettes überragten, sich ein wenig bewegen, und nun hörte ich die Stimme Großmamas. Sie fragte: »Die Kinder – kommen sie?«

Da faßte ich mir ein Herz, da lief ich zu ihr, und plötzlich und wonnig ergriff mich die Freude des Wiedersehens. Ganz ungetrübt. Großmama machte mir nicht den Eindruck einer Kranken. Sie saß fast aufrecht in ihrem Bette, an ihre Schultern schmiegte sich ihr weicher, feiner Schal mit den bunten Blümchen, den sie so gern hatte. Sie war auch frisiert wie gewöhnlich, trug eine reich garnierte weiße Haube und an jeder Seite der Stirn drei braune Seidenlocken.

Was liegt einem Kinde an der Schönheit alter Leute? Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob meine greise Großmutter schön sei oder nicht. Jetzt aber sagte ich mir und war sehr glücklich und stolz darüber: Sie ist ebenso schön, wie sie lieb ist und gut!

Sie hatte mir zugenickt. »Fritzi?« fragte sie, und ihre Stimme war arm und heiser.

Ich versicherte, daß Fritzi gleich kommen werde, und begann, ohne selbst zu wissen warum, eine lebhafte Beredsamkeit zu entfalten. Genau entsinne ich mich, wie jeder Einzelheit dieser letzten mit meiner Großmutter verlebten Stunde, daß ich von Zdißlawitz erzählte, und wie mich’s freue, daß sie wieder fast gesund sei, weil wir jetzt bald abreisen könnten.

Sie lächelte – sehr traurig, kam mir vor – und machte mir ein Zeichen, mich auf einen Sessel zu setzen, der an ihrem Bette stand, mit der Lehne gegen das Fenster. Ich gehorchte, war aber durch Großmamas Schweigen und durch ihr trauriges Lächeln aus meiner zuversichtlichen Stimmung und in Verlegenheit geraten. So verhielt ich mich denn ganz ruhig und wagte nicht mehr, mich zu rühren. Großmama hatte die Augen geschlossen, und ihrem schweren und hörbaren Atem glaubte ich zu entnehmen, daß sie schliefe.

Alles still rings um uns. Manchmal nur rollte ein Wagen durch das Gäßchen und über den Rabenplatz. Die Sonne mußte nun im Zenit stehen, der Himmel leuchtete in purpurner Bläue. Durch den unverhangen gebliebenen Teil der Fenster fiel goldiges Licht in das Zimmer und bildete einen breiten hellen Streifen an den Wänden. Sie waren glatt, mit grüner Farbe bemalt. Von meinem Platze aus sah ich gerade auf die Stelle hin, an der, vor nun auch schon acht Jahren, mein Kinderbett durch längere Zeit gestanden hatte. Meine Schwester war an den Masern erkrankt, wir wurden getrennt, und Großmama nahm mich in ihre Obhut. Mein kleines Lager war in ihrem Schlafzimmer aufgeschlagen, und wenn ich früher als sie erwachte, stellte ich mich sachte auf und begann die Farbe von der Wand loszulösen. Eine angenehme Morgenbeschäftigung. Die Farbe, die sehr dick aufgetragen war, bildete hie und da Blasen, und wenn man sie eindrückte, sprangen sie ab wie Glas, und wie Glas ließ sich auch ihre nächste Umgebung vom lichten Grund abheben. Ein wenig weiter kam dann wieder ein Bläschen, und wieder wurde es eingedrückt, und nach ein paar Wochen war mitten im Grün ein weißer, vielfach ausgebuchteter Fleck zu sehen, der sich wie ein Ozean auf einer Landkarte ausnahm. Die Kammerjungfer hatte zu dem Unfug länger geschwiegen, als ihr leicht wurde, und machte ihren Bedenklichkeiten endlich Luft. Sie stellte sich mit gerungenen Händen vor den Ozean und gab die bestimmtesten Versicherungen ab, daß sie nicht ahne, was jetzt mit der so übel zugerichteten Wand anzufangen sei. Großmama, die mir eben Unterricht im Häkeln gab, antwortete gleichmütig: »Man wird sie frisch anstreichen lassen.«

Ich hatte nie wieder daran gedacht – jetzt fiel es mir ein, und dem leisen Anstoß folgend, stieg nach und nach ein Zeichen ihrer still waltenden Liebe ums andere vor mir auf, eine unendliche Reihe, die sich im Unbewußtsein der Kindheit verlor … Und diese Liebe, die immer gab, sich nie erschöpfte, hatte ich besessen und hingenommen wie etwas ganz Selbstverständliches, das mir gebührte, mich nie besonnen, daß ich ein göttliches Geschenk genoß, und noch weniger, daß es mir je genommen werden könnte … Immer würde ich sie haben, die mir jede Freude bereitet hatte, die sie mir bereiten konnte, immer eine Entschuldigung für mich gewußt, mir alles verziehen hatte, zuletzt sogar die Dichterei. Und wie wird es erst sein, wenn ich Großes geleistet haben werde und sie stolz auf mich sein wird? … Als ich, diese stumme Frage auf dem Herzen, zu ihr emporsah, begegnete mein Blick ihren weit geöffneten Augen, die mit unsagbarer Zärtlichkeit auf mir ruhten. Es glitt wie ein lichter Schein über ihr Gesicht, und sie wies nach einem Tisch, den man in die Nähe ihres Bettes gerückt hatte. Dort standen allerlei Schächtelchen mit Hustenbonbons, die ich sonst sehr zu würdigen wußte.

»Nimm dir«, sagte sie.

Mir aber war auf einmal jäh und schrecklich die Ahnung einer grausamen Möglichkeit aufgegangen: Wenn sie stürbe! Wenn wir unsere Großmutter nicht mehr hätten! … Ich sprang auf, ich stürzte mich über ihre Hand und küßte sie viel-, vielmals …

Sie zog diese liebe Hand zurück, legte sie auf meinen Kopf, als ich aufschluchzend mein Gesicht in die Decke preßte, und sprach: »Nur gescheit! Nur gescheit!«

 

Am nächsten Tage knieten meine Schwester und ich am Bett der toten Großmutter mit tief gesenkten Häuptern. Wir wagten nicht, emporzusehen. Eine Leiche – das muß etwas furchtbar Trauriges sein. Man hätte uns sonst, als unser kleines Schwesterchen starb, nicht so ängstlich von ihm ferngehalten und es nicht so rasch fortgetragen. Nach langem Gebete stand Fritzi auf und ließ einen scheuen Blick über das Angesicht der Toten gleiten … »Oh!« sagte sie plötzlich und faltete die Hände in frommer, freudiger Überraschung: »Oh – schau!« Nun stand auch ich auf, und meine Augen folgten der Richtung der ihren, und auch meine Hände falteten sich … Wie heilig war unsere Großmutter, wie herrlich und heilig! Der schwermütige Zug um den Mund, den wir an ihr gekannt hatten, war verschwunden, die stummen Lippen, deren Sprache ich immer verstanden hatte, sagten: Jetzt ist alles gut. Ein unaussprechlicher, unendlicher Frieden lag auf ihren stillen Zügen und wehte uns entgegen, eine himmlische Tröstung und Erhebung, ein letzter Gruß ihrer Liebe. Wir konnten uns von ihr nicht losreißen und – weinten nicht. Man soll nicht weinen in der Nähe von Toten, es tut ihnen weh. Ich weiß nicht, wieso wir zu dieser Überzeugung gelangt waren. Erst als Tante Helene und Vetter Moritz kamen, sie laut klagend, er von tiefstem Leid erfüllt, brach meine Schwester in Schluchzen aus und vermochte ihren Schmerz nicht mehr zu bemeistern. Am Abend fieberte sie, und nachdem man sie zu Bette gebracht hatte, schluchzte sie noch im Schlafe.

 

Es wurde uns nicht erlaubt, das Sterbezimmer ein zweitesmal zu betreten. Wir sollten die Tote nicht mehr sehen, es griff uns zu sehr an. Bei der Einsegnung nur waren wir zugegen, als unsere Großmutter im geschlossenen Sarge lag, bereit zur letzten Reise nach unserem »Zuhause«.

Wie irrten alle, die glaubten, daß ich sie jetzt nicht sähe, daß die Wände ihrer metallenen Behausung für mich nicht durchsichtig wären!

Die Verstorbene hatte unseren Vater zum Vollstrecker ihrer letztwilligen Anordnungen bestellt, und dadurch wurde unser Aufenthalt in Wien neuerdings verlängert. Ich erhielt den Auftrag, diese Zeit zu benützen, um einen Katalog der Bücher meiner Großmutter anzufertigen. Sie waren mein und meiner Schwester Eigentum geworden und sollten im Sommer verpackt und nach Zdißlawitz geschickt werden. Ich ging mit Eifer an meine Arbeit, hatte keine Ahnung davon, was das heißt: »einen Katalog anzufertigen«, meinte aber diese Aufgabe zu lösen, indem ich ein Buch nach dem andern aus dem Schranke holte, den Titel desselben in ein Heft eintrug und es dann wieder an seinen früheren Platz stellte.

Das Zimmer, in dem die kleine Bibliothek Großmamas sich befand, war ihr Toilettezimmer gewesen, stieß an das Schlafgemach und hatte wie dieses die Aussicht auf das sogenannte »Rabenplatzl«. Die Wand zunächst am Fenster nahm der Bücherschrank ein, und wenn ich seine Flügel öffnete, breitete sich das helle Licht sonniger Junivormittage über eine auserlesene Gesellschaft.

Sie bewohnte fünf Geschosse und bildete in jedem eine stattliche Reihe von vornehm in braunen, roten und grünen Saffian gekleideten Buchpersönlichkeiten. Ihre Anführerin war die Bibel. Ich kannte den Band; er hatte meinem Großvater gehört, und es waren viele Zeichen von seiner Hand darin eingelegt. An einer Stelle befand sich außer dem Zeichen ein Bleistiftstrich. Die Stelle lautete: »Und ich hörete eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Schreibe: Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach.«

Oh, das verstand ich! Der Anblick meiner entschlafenen Großmutter hatte es mich gelehrt: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben.« Und wo hatte ich diese Stelle gefunden, die mir so hell einleuchtete? In der Offenbarung Johannis, der heiligen, rätselhaft verschleierten Schrift, deren Geheimnisse noch niemand durchdrungen hat. Nicht einmal der große Newton, der, wie mein Vetter mir unlängst erzählt, die letzten Jahre seines Lebens dem Studium und der Erklärung der Apokalypse gewidmet hatte … Und ich – es mutete mich an wie ein Wunder –, ich verstand sie! Mir war’s gegeben, mir, einem Kinde! … In unaussprechlichem Jubel schwoll mein Herz, ich glaubte, daß eine himmlische Erleuchtung mir zuteil geworden sei.

Mit zitternden Fingern blätterte ich zurück vom vierzehnten zum ersten Kapitel, und was ich las, Vers um Vers, war ein schönes, seltsames Gedicht. Aber je weiter ich kam, je dunkler wurde mir der Sinn des Gelesenen. Da half kein Kopfzerbrechen. Einzelne Bilder nur schwebten vor mir, sehr klar und in großer Pracht, so wie der Heilige sie geschaut hatte, als er »war im Geiste«. Blendend die Vision von dem Einen, den er nicht nennt und der anzusehen war wie Jaspis und Sardis und vor dessen von einem Regenbogen wie Smaragd umgebenen Thron die Ältesten ihre goldenen Kronen niederlegten. Ich sah die vier Lebendigen und sah das Buch mit den Sieben Siegeln in der Rechten des Einen und glaubte, eine Ahnung davon zu haben, was für ein Buch das war, und die Namen der vier Lebendigen nennen zu können. Damit ging meine Weisheit zu Ende. Von nun an gab es keinen Lichtschein mehr, der mir einen Pfad zu neuem Begreifen und Erkennen gewiesen hätte … Nein, ich war das gottbegnadete Kind nicht, das in Einfalt findet, »was kein Verstand des Verständigen sieht«.

Enttäuscht und beschämt brachte ich das Buch der Bücher wieder an seinen Platz und bemerkte jetzt: außer an der einen Stelle, die ich zuerst aufgeschlagen hatte, war in der ganzen Apokalypse kein Zeichen eingelegt.

Zunächst an die Heilige Schrift schmiegte sich das Werk ihres frommen und milden Apostels, Thomas a Kempis, und er hatte Herder zum Nachbarn, und dann kam Lessing. Neben seinen Werken stand seine Biographie in drei Bänden, von K.G. Lessing. Ich las die ersten Kapitel und wurde dabei in meinen eigenen Augen so klein, wie ich nicht einmal als Auslegerin der Offenbarung Johannis geworden war. Meine hohe Meinung von meiner Begabung, meinem Lerneifer, meinem Wissensdrang erfuhr eine jämmerliche Einschränkung durch den Vergleich zwischen mir und dem Kinde Gotthold Ephraim. Wie kam ich mir vor, ich Dreizehnjährige, von Zweifeln Gequälte, wenn ich las: »Im vierten und fünften Jahre wußte er schon, warum und wie er glauben sollte.« Und weiter: »Als ein Maler ihn im fünften Jahre mit einem Bauer, in dem ein Vogel saß, malen wollte, erfuhr dieser Vorschlag seine ganze kindische Mißbilligung. ›Mit einem großen, großen Haufen Bücher‹, sagte er, ›müssen Sie mich malen, oder ich mag lieber gar nicht gemalt sein.‹« Und da er auf die Fürstenschule nach Meißen gebracht wurde, »mußte man ihn um ein Jahr älter machen, weil keiner unter dem dreizehnten Jahre angenommen werden soll.« Auf der Schule studierte er sogar in den freien Stunden, und Klassiker, deren Namen ich nicht einmal hatte aussprechen hören, »waren seine Welt«.

So sind die Kinder beschaffen, aus denen große Menschen werden – so war ich nicht. Ich konnte mir nicht einmal recht vorstellen, wie dem beneidenswerten Gotthold Ephraim zumute gewesen sein mußte im Besitze seines großen Reichtums. Alles gäbe ich darum, nur einen Tag, nur eine Stunde lang so zu sein wie er, umgehen zu dürfen mit unsterblichen Menschen wie mit Freunden und einzudringen in ihre leuchtende Gedankenwelt.

Es war eine bittere Zeit der Selbsterkenntnis, voll Sehnsucht und Kümmernis, diese erste, die ich Aug in Auge mit den Bewohnern des Bücherschrankes meiner Großmutter zubrachte.

Zur Unterstützung meines Gedächtnisses habe ich Lessings Biographie, die seitdem in meinem Besitze ist, zur Hand genommen und finde auf dem Schutzblatte des ersten Bandes die Zeilen eingeschrieben:

 

Ich bin ein Nichts für meinen Gott,

Für meinen Nächsten bin ich klein,

Mir selber dien ich nur zum Spott,

Wie könnt ein Mensch noch ärmer sein?

 

Allmählich trat Erholung von dieser Depression ein. Wenn auch nicht ein Lessing, konnte doch etwas anderes Gutes aus mir werden. Nur lernen mußte ich zuerst, alles kennenlernen, was es Schönes gab in diesen Büchern, die nun ich zu meiner Welt machen wollte. So feierte ich wahre Leseorgien und fand die Vormittage, die vermeintlich mit Katalogisieren ausgefüllt wurden, immer zu kurz. Voll Heißhunger verschlang ich, was ich vorfand an Dramen von Shakespeare, Racine, Corneille, Goethe, Kleist, und bedauerte nur, daß meine arme Großmutter nicht ein einziges Werk der Klassiker besessen hatte, in die Lessing sich versenkte, als er in meinem Alter stand. Er freilich, er lernte sie in ihrer Sprache kennen, der Glückliche. Weil er ein Bub war, durfte er das, er mußte sogar Griechisch lernen und Latein. Von seinen Lippen tönte die Sprache, in der Themistokles, Demosthenes, Cäsar, Titus geredet haben. Zum Ruhme gereichte ihm sein Glück … Wofür würde ich angesehen werden, wenn ich anfangen wollte, Griechisch und Latein zu lernen? Ganz einfach für verrückt. Ich war ja nur ein Mädchen. Was gehört sich alles nicht, schickt sich alles nicht für ein Mädchen! Himmelhoch türmten sich die Mauern vor mir empor, zwischen denen mein Dichten und Trachten sich zu bewegen hatte, die Mauern, die mich – umfriedeten.

Kein gutes Wort in dieser Anwendung! »Umfrieden« paßt nur für den Kirchhof, in dem die Toten liegen; die Lebendigen kommen um den Frieden, wenn man ihnen enge Grenzen setzt … Sie werden fortwährend suchen, sie zu durchbrechen, immer gegen sie anrennen und glauben: Dieses Mal weichen sie mir!

Das dürften ungefähr die Gedanken gewesen sein, die damals meinen jungen Kopf durchschwirrten und denen ich in zahllosen Gedichten Worte gab; es ist von den stürmischen und hoffärtigen, deren ich mich später schämte, nichts übriggeblieben. Nur einige friedliche Verslein ließ ich bestehen. Als den letzten aus den Kinderjahren möge ihnen hier Unterkunft gewährt sein.

 

Was hör ich in der Dämmerung?

Wie Glöcklein hell es klinget.

‘s ist wohl der Tag, der licht und jung

Ein goldnes Liedchen singet.

 

Wenn ich als Kind zum Himmel geschaut,

Hat drohen mein Land geblinkt und geblaut.

Jetzt ist der Himmel geworden so leer,

Ich sehe mein Land, mein liebes, nicht mehr.

 

Der sogenannte Katalog war fertig; ich hatte nun angefangen ihn abzuschreiben, weil ich einen Grund haben mußte, um meine Vormittage noch immer in der Wohnung Großmamas zubringen zu dürfen. Da herrschte jetzt Grabesstille; die Küche sowie das »Frauenzimmer« waren leer. Die Köchin und die Kammerjungfer hatten sich in ihre Heimat begeben, um dort ihren Ruhestand und ihr Ruhegehalt zu genießen. Nur der alte Josef war noch anwesend und sollte, bevor er uns auf das Land nachfolgte, die Verpackung der Möbel überwachen. Mit treuer Liebe zu seiner langjährigen Tätigkeit hielt er die Zimmer der verstorbenen Herrin so nett und blank wie je. Doch standen jetzt alle Türen weit offen, und ich konnte, ohne eine Klinke zu berühren, von der Küche aus bis in den großen Salon gehen. Daß auch seine Tür offenstand, mutete mich besonders fremdartig an. Wir Kinder hatten ihn nie betreten; er wurde auch nur benutzt, wenn unsere Großmutter eine Gesellschaft gab, was selten geschah. Immer nur verstohlen hatten wir hineingeguckt, wenn Josef darin gravitätisch seines Amtes waltete mit Staubbesen und Flederwisch. Der Salon machte uns einen feierlichen Eindruck. Seine weiß lackierten, durch vergoldete Stäbe in Felder eingeteilten Wände verbreiteten einen majestätischen Glanz, und die Mahagonimöbel mit Intarsien und Beschlägen aus Bronze hatten jedes eine eigene noble Physiognomie. Der hellgelbe Seidenstoff, mit dem die Polsterung des Kanapees, der Stühle und Sessel überzogen war, schimmerte so prächtig, wie ich nie wieder einen hellgelben Seidenstoff habe schimmern gesehen.

Und dieses imposante, mit dem Reiz des Geheimnisvollen umkleidete Gelaß, da stand es nun erschlossen, jedem zugänglich, und war eben nur ein Zimmer wie ein anderes.

Wie merkwürdig kamen meine Wanderungen mir vor durch die Räume, denen die zurückgeschlagenen Türflügel das Gepräge grenzenloser Ödigkeit verliehen. Ich wollte sie mir beleben, wollte mir einbilden, daß der Schatten der Entschlafenen vor mir herschwebe und Gestalt annehme und daß ich sie sehen werde, an ihrer Toilette sitzend oder am Fenster im Schlafzimmer; und wenn da nicht, im nächsten, vielleicht im Speisezimmer, an dem Tische, an dem wir so oft ihre Gäste gewesen waren. Ich ging von Tür zu Tür, ganz sachte, voll Sehnsucht und doch ein wenig bange, schloß die Augen und öffnete sie plötzlich und hoffte: Jetzt – jetzt muß sie dir erscheinen … Aber da war nichts. Ihr Platz blieb unbesetzt; die Stuben blieben leer …

Der Tag vor der Abreise von Wien und vor dem Scheiden von den lieben Räumen, die mir mit jeder in ihnen verlebten Stunde teurer und heiliger geworden, war gekommen, und ich veranstaltete eine kleine Abschiedsfeier. Ich holte zwei Bücher aus dem Schranke, nahm Platz am Arbeitstische meiner Großmutter und überdachte innig und ließ durch meinen Kopf und durch mein Herz ziehen, was diese beiden Bücher mir geschenkt hatten. Es war soviel!

Das eine, der erste Band der Mémoires pour servir à l’histoire d’Anne d’Autriche, épouse de Louis XIII, roi de France, par Madame de Motteville, hatte mir einen herrlichen Dramenstoff geschenkt, den ich im Laufe der Zeit immer reicher ausgestaltete. Alles, was in mir lebte an Vergötterung des Schönen, an Verachtung und Haß des Schlechten und Gemeinen und nicht zum mindesten an übermütigem Humor, mit dem ich oft verletzte und Anstoß erregte, alles ließ sich da hineinschütten wie in eine eigens mir zu Lieb und Ehr geformte goldene Schale.

Cinq-Mars war mein Held, der junge, leichtsinnige, leichtgläubige Günstling Ludwigs XIII., der seinen Herrn von der erdrückenden Tyrannei des allmächtigen Ministers Richelieu befreien will, im tollkühn unternommenen Kampfe mit dem Riesen unterliegt und nach einem Augenblick des Verzagens prachtvoll stirbt.

Und was für Gestalten gruppieren sich um ihn! Ludwig XIII., den mit kühnen Strichen hinzuzeichnen die reine Wonne sein wird, der sich fühlbar unter die Hand des Bildners schmiegt. Eine königliche Erscheinung, von einer kleinen Seele belebt; treulos wie die Schwäche, hart wie die Engherzigkeit. In einem Gefühl nur bleibt er unwandelbar, im Hasse gegen den Gewaltigen, der sich rühmen darf: »Ich habe meinen König zu meinem Diener gemacht und diesen Diener zum größten Monarchen der Welt.«

Sein Herr verabscheut ihn und kann ihn nicht entbehren, sein Herr ist im geheimen das Haupt jeder Verschwörung gegen ihn, und sobald eine neue mißlingt, kriecht der »Herr« grollend und knirschend zu Kreuze und liefert, ein Kronzeuge, seine Mitschuldigen dem Sieger aus. Und endlich einmal bietet, ja bietet! er seine beiden Söhnchen dem triumphierenden Kardinal zum Pfande völliger Unterwerfung an. Aber da bäumt die Königin sich auf und bewahrt »die Kinder Frankreichs« vor der Schmach, die ihnen droht. Ich liebte Königin Anna von Österreich und wollte schon dafür sorgen, daß jeder, der sie durch mich kennenlernte, sie ebenfalls lieben müßte. Als die Heldin sollte sie geschildert werden, die kühn und stolz den verliebten Löwen abgewiesen hatte, da er sich vermaß, um ihre Frauengunst zu werben. In allen Stunden ihres Lebens litt sie unter seiner unersättlichen Rachgier, erlitt Demütigungen und Grausamkeiten ohne Zahl und unterwarf sich nicht … Und wie viele tauchten neben ihr auf und waren voll Kraft und voll Leben und mir in ihren geheimsten Regungen und verborgensten Motiven durchsichtig wie die Luft.

Aber die Krone des Ganzen sollte doch die Figur Richelieus werden. Der Reichtum, den sie der Phantasie bot, war unerschöpflich. Wo man antippte, gab’s Funken. Diese rätselhaften Kontraste! Der Mann, der sein Frankreich an die Spitze aller Staaten der Erde gestellt, die Hugenotten besiegt, den mächtigen, rebellischen Adel unterworfen hatte, der die Vertreter der Parlamente mit den Fingern seiner Rechten wie Marionetten an Drähtchen hüpfen ließ – buhlte um literarischen Ruhm. Es fraß ihm am Herzen, daß die Pariser den Tragödien des jungen Corneille zujauchzten und die ihres alten Ministers mit so wenig Geräusch als möglich zu Grabe – gähnten. Der Kirchenfürst und Heerführer, der den Purpurmantel des Kardinals über der Stahlrüstung trug, wollte auch als Tänzer glänzen. Die Bewunderung, die seine Größe der Königin nicht abgewann, versuchte er ihr durch seine Grazie abzugewinnen. Oh, die Sarabande, mit der er sich zweihundert Jahre früher vor der Majestät und ihrem Hofstaat lächerlich gemacht, wie oft hat er sie mir aufgeführt im Schlafzimmer meiner Großmutter! Und wie viele andere herrliche Szenen! Die letzte zum Beispiel des ersten Aufzuges: der König ist im Lager vor Perpignan, umringt von Feinden des Kardinals, und der liegt krank und gebrochen in Tarascon, weiß sich verraten und verkauft, weiß von dem Vertrag mit Spanien, der ihn stürzen soll, und vermag nicht, ihn in seine Hand zu bekommen.

Da plötzlich verwandelt sich seine Trostlosigkeit in wilden Triumph. Einer seiner Späher ist zurückgekehrt und legt einen ausgehöhlten Wanderstab vor ihn hin. Er enthält eine Rolle – den Vertrag. Nun hat er sie – da stehen sie, die ihn unterzeichnet haben: Gaston von Orleans, des schwachen Königs elender Bruder, der Herzog von Bouillon, der Großstallmeister Cinq-Mars. – Sie sind zu hoch emporgeschossen, Monsieur le Grand! Man wird Sie um einen Kopf kürzer machen. – Von neuer Lebenskraft beseelt, erhebt der kranke Kardinal sich vom Pfühl. Zu Pferde seine Garden! Das Gefolge rüste, ein Zug voll Glanz und Pracht ordne sich! Es geht zu Hof; es geht mit fürstlichem Gepränge ins königliche Lager nach Perpignan!

Dort sollte der zweite Aufzug spielen, und ich dachte ihn mir sehr bewegt. Wir lernen Cinq-Mars kennen in seinem liebenswürdigen und blinden Glauben an sein Glück und seinen Freund de Thou und Fontrailles, der die Verhandlungen mit Spanien geleitet hat. Gerüchte, der Kardinal sei sterbend, sind aufgetaucht; Gaston von Orleans meint, Katzen hätten ein zähes Leben, man solle nachhelfen.

»Seht den König an«, sagt er zu Cinq-Mars, »er macht mir Sorge, er war gestern wieder sehr krank. Wenn er vor seinem Minister stürbe, würde es euch schlecht ergehen.« Cinq-Mars weist den Gedanken an den nahen Tod seines Herrn mit Schaudern zurück. Wie kann man einen solchen Gedanken nur haben, nur fassen? – »Versucht’s!« erwidert Gaston, »und erinnert euch dann meines Mittels. Ich bleibe der Herzog von Orleans auch nach dem Tode meines Bruders. Ihr seid dann nur noch – der Feind des Kardinals.« Cinq-Mars schlägt den abscheulichen Rat des Herzogs und die Warnungen de Thous in den Wind. Er und seine Anhänger blicken mit seliger Zuversicht dem unausbleiblichen Sturze Richelieus und kommenden schönen, ruhmvollen Tagen entgegen. – Im Lager wird gespielt, getanzt, musiziert; es herrscht tolle Lustigkeit … Nun, auf einmal, tritt, als sei plötzlich etwas Unheimliches aufgetaucht, da und dort Stille ein; sie verbreitet sich weiter und weiter, auch die Kühnsten halten den Atem an; die sangen und schrien – sie lauschen. Zwei Worte erschüttern die Luft und erfüllen die fröhlichsten Herzen mit Grauen: »Seine Eminenz!« –

Richelieu betritt das Lager wie der Tod den Ballsaal.

Wundergut gefiel mir dieses Ende des zweiten Aufzugs, und im dritten sollte es noch viel schöner kommen. Da sollte im Zelte des Königs die Begegnung zwischen ihm und dem Kardinal stattfinden. Ganz unhistorisch, aber daran lag mir nichts. Ich sah es, deutlich zum Greifen – so war es denn!

Sie saßen einander gegenüber, und mit kaum bezähmtem Wohlgefallen spürte einer in den Zügen des andern jedem Zeichen schweren Siechtums nach. Den Blick in die Augen des Königs gesenkt, unverwandt, unerbittlich, berichtet sein treuer Diener dem Ahnungslosen, daß er schändlich hintergangen wird … Er legt ihm den Vertrag mit Spanien vor und ist voll Entsetzen über die Gefahr, in der das Land und der Monarch gestanden haben. Sein Herz blutet, eine Rührung ergreift ihn, wenn er sich fragt: »Wer sind diese Verräter?« und antworten muß: »Die Nächsten seinem Thron, seinem Vertrauen, seiner Liebe, es sind die, denen mein König im Begriffe war, seinen einzigen Getreuen zu opfern.« Kaum noch bewahrt Ludwig einen Schein der Fassung, kaum noch verbirgt der Kardinal seinen knirschenden Zorn hinter der Maske süßlicher Heuchelei und erlangt alles, was er will, wie er es will – demütig angeboten … Eine vortreffliche Szene, und genial würden Laroche und Löwe sie spielen.

Reiche Handlung stand mir auch für den vierten und fünften Akt zur Verfügung:

Die Auslieferung de Thous, den keine andere Schuld traf, als daß er der Freund eines Feindes Richelieus gewesen, an den Kardinal.

Cinq-Mars’ leichtsinniges Spielen mit dem Verhängnis, das über ihm schwebt.

Die Fahrt Richelieus auf der Rhône. In purpurumhangener Barke liegt der Sterbende, und von seinem stolzen Fahrzeug wird ein ärmlicher Kahn geschleppt. Seine Opfer befinden sich darin, zwei Menschen, kraftvoll und jung, in blühender Gesundheit. Und er, der vielleicht seinen alternden Schattenkönig nicht mehr überlebt, die beiden wird er überleben. Der Gedanke zaubert ein Lächeln auf sein düsteres Gesicht und legt ihm grauenvolle Worte auf die Lippen.

Den Tod meines jungen Helden. Seinen Abschied von der großen Prinzessin, die ihm ihr Herz geschenkt hatte, und von seiner berückenden Geliebten Marion Delorme … Wie mit dem Fuße stößt er dann ein Leben von sich, in dem seine ehrgeizigen Träume sich nicht erfüllen sollten.

Entsühnt durch den Priester, erbaut durch die Frömmigkeit des Freundes betritt er den Weg zur Richtstätte. Zu dem letzten Gang hat dieser Mann, dieses Kind sich schmücken lassen wie zu einem Gang nach Hofe. Diese heroische Eitelkeit war mir unaussprechlich rührend und kostete mich viele Tränen.

Lange Jahre hindurch sollte ich mich mit diesem Stoffe, von dem ich gemeint hatte, daß er sich von selbst zum Drama gestalten werde, herumschlagen. Zuletzt stand ich an der Spitze einer kleinen Armee von Manuskripten, von denen nur die ersten den Titel Cinq-Mars, die letzten aber den Titel Richelieu führten. Seine Gestalt wuchs und wuchs riesenhaft vor mir empor, bis sie mir – entwuchs und ich begriff, daß ich aus meiner Blindheit über ihre Größe den Mut geschöpft hatte, sie darzustellen. Allmählich waren die Augen mir aufgegangen, ich wußte: Mit all meiner Begeisterung, all meinem Fleiß habe ich nur ein Pfuschwerk zustande gebracht.

Durchaus nicht in einem Verzweiflungsanfall, ganz ruhig schichtete ich dann meine Cinq-Mars und Richelieus im Ofen sorgfältig und nett zu einem Scheiterhaufen zusammen und zündete ihn an.

Er rauchte erst sehr stark, dann lohten schöne Flammen auf. Die Blätter – viele von ihnen waren kalligraphiert und illustriert – wanden und krümmten sich wie in Schmerzen, Fünkchen – Klosterfrauen, die in ihre Zellen eilen, nennen sie die Kinder – huschten über den Zunder. Nun lag ein unförmiger Pack schwarzer, schmutziger Fetzen da – als Frucht so vieler Mühen. Hätte eine Vision mich dieses Ende sehen lassen, als ich in den ersten zärtlichen Verkehr mit dem vortrefflichen »Stoffe« trat, für den ich Madame de Motteville so dankbar segnete, würde ich die Arbeit, die zu diesem Resultate führte, unternommen haben?

Fast glaube ich: ja.

 

An jenem Junimorgen aber vor nun einundsechzig Jahren trübte nicht die leiseste Furcht vor der Möglichkeit eines Mißlingens meine freudige Zuversicht. »Mein Stück« leuchtete vor mir im reinen Glanze eines Phantasiegebildes, an das die gestaltende Hand noch nicht gelegt wurde. Noch war es geistiger Natur, noch haftete keine Werdequal und keine der Widrigkeiten ihm an, mit denen jede Geburt eines Lebendigen sich vollzieht.

Das zweite Buch, das ich mir zu meinem Abschiedsfeste eingeladen hatte, enthielt die Oden Klopstocks. Ich kannte von ihnen allen nur eine, diese aber kannte ich gut. Sie hieß Die Frühlingsfeier und war mir entgegengekommen, als ich ihre alte braune Behausung ein wenig durchmustern wollte. Immer öffnete sie sich da, wo die Frühlingsfeier stand. Wie oft mußten andere vor mir sie dort aufgesucht haben, und wer mochte es gewesen sein – meine Großmutter, mein Großvater oder vielleicht meine Mutter?

Vielleicht sind sie alle es gewesen, und diese noch sichtbare leise Spur führte ein Kind, dessen Dasein dem ihren entsprossen war, aus seinem bangen Tasten und Suchen auf den Weg, den sie gegangen waren.

 

Nicht in den Ozean der Welten alle

Will ich mich stürzen –…

 

Nur um den Tropfen am Eimer,

Um die Erde nur will ich schweben und anbeten –…

Wer sind die Tausendmaltausend, wer die Myriaden alle,

Welche den Tropfen bewohnen und bewohnten? Und wer bin ich?

… mehr wie die Erden, die quollen,

Mehr wie die Siebengestirne, die aus Strahlen zusammenströmten!

 

Mehr – weil ich weiß, wie wenig ich bin: – ein verwehender Hauch auf einem Stäubchen im All … Aber der Atem Gottes lebt in diesem Hauche. Um das zu begreifen, bedurfte ich einer Gnadengabe des Unendlichen, eines Lichtstrahls von seinem Geiste. Er hat ihn mir gespendet, seinem Geschöpf, und ich darf »mein Vater« zu ihm sagen.

 

Als ich auf der Schwelle stehenblieb und noch einmal zurückblickte in den stillen Raum, aus dem ein teures und köstliches Leben entschwunden und in dem ich so oft allein mit meinen Gedanken gewesen war, überkam es mich: Eine andere, als ich ihn betreten, verlasse ich ihn. Meine Sehnsucht, zu denken und zu leiden, sollte sich fortan nicht nur von dämmernden Träumen nähren, sie begann sich zu erfüllen. Eine kleine Vergangenheit lag schon hinter mir. Ich hatte gedacht und gelitten – ich war kein Kind mehr.